Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich.
Vor Aufruf der Tagesordnung habe ich einige Mitteilungen zu machen. Zunächst gibt es einige Geburtstage
zu würdigen: Der Kollege Ortwin Runde feiert heute
seinen 65. Geburtstag. Dazu möchte ich ihm die Glückwünsche des ganzen Hauses übermitteln.
({0})
Bereits am vergangenen Freitag haben die Kollegin Karin Roth und der Kollege Dr. Michael Fuchs ihre
60. Geburtstage begangen. Auch dazu die Glückwünsche des ganzen Hauses!
({1})
Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, dass der Kollege
Dr. Rainer Wend aus dem Beirat der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post
und Eisenbahnen austritt. Als Nachfolgerin wird die
Kollegin Ute Berg vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Kollegin Berg in den Beirat der Bundesnetzagentur
gewählt.
Der Kollege Arnold Vaatz hat sein Amt als stellvertretendes Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung zur
Aufarbeitung der SED-Diktatur niedergelegt. Als
Nachfolgerin schlägt die Fraktion der CDU/CSU die
Kollegin Maria Michalk vor. Darf ich auch dazu Einvernehmen feststellen? - Das ist offenkundig der Fall.
Dann ist die Kollegin Maria Michalk hiermit zum stellvertretenden Mitglied des Stiftungsrates gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Führungsverantwortung der Bundeskanzlerin in Zeiten der Wirtschaftskrise
({2})
ZP 2 Eidesleistung des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({3})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Datenschutz für Beschäftigte stärken
- Drucksache 16/11376 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion
Seib, Alexander Dobrindt, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Jörg Tauss, Willi Brase,
Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ausbauen
- Drucksache 16/11883 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Entwicklungschancen für den wissenschaftli-
chen Nachwuchs schaffen
- Drucksache 16/11880 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Jan Mücke, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Faires Nachversicherungsangebot zur Vereinheitlichung des Rentenrechts in Ost und West
- Drucksache 16/11236 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({6})
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Manuel Sarrazin, Jürgen Trittin, Rainder Steenblock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Arbeitszeitrichtlinie - Hohen
Arbeitnehmerschutz EU-weit sicherstellen
- Drucksachen 16/11758, 16/11894 Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Hennrich
ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Kerstin Müller ({9}), Winfried Nachtwei, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kontraproduktive US-Operationen in Pakistan sofort einstellen - Umfassende Strategie
zur Stabilisierung Pakistans entwickeln
- Drucksachen 16/10333, 16/11251 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Gert Weisskirchen ({10})
Dr. Werner Hoyer
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck ({11})
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner
Dreibus, Dr. Barbara Höll, Dr. Gesine Lötzsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Dividenden streichen - Gewinne in Arbeitsplätze investieren
- Drucksache 16/11877 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der bisher mit Aussprache vorgesehene Tagesordnungspunkt 24 - dabei geht es um die Westeuropäische
Union - soll bei den Ohne-Debatte-Punkten aufgerufen
werden.
Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 200. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales ({13}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und Modernisierung des Patentrechts
- Drucksache 16/11339 überwiesen:
Rechtsausschuss ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 auf:
Eidesleistung des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie
Es handelt sich dabei um Herrn Dr. Karl-Theodor
Freiherr zu Guttenberg. Dass er wesentlich mehr Vornamen hat, als ich vorgetragen habe, ist inzwischen allgemein bekannt,
({15})
wenn auch nicht ganz so viele, wie gelegentlich in Lexika zu lesen war. Wir setzen das für die Eidesleistung
als bekannt voraus.
({16})
Der Herr Bundespräsident hat mir mit Schreiben vom
10. Februar 2009 Folgendes mitgeteilt:
Gemäß Art. 64 Abs. 1 des Grundgesetzes für die
Bundesrepublik Deutschland habe ich heute auf
Vorschlag der Frau Bundeskanzlerin den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Herrn Michael Glos, auf seinen Antrag aus seinem Amt als
Bundesminister entlassen und Herrn Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, MdB, zum Bundesminister für Wirtschaft und Technologie ernannt.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein
Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56
vorgesehenen Eid.
Herr Kollege Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg, ich
darf Sie nun zur Eidesleistung zu mir bitten.
Ich darf Sie bitten, den im Grundgesetz vorgesehenen
Eid zu sprechen.
({17})
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde. So wahr mir Gott helfe.
({0})
Sehr geehrter Herr Minister, nachdem Sie den vom
Grundgesetz vorgeschriebenen Eid geleistet haben, darf
ich Ihnen auch im Namen all derjenigen Mitglieder des
Deutschen Bundestages, die Ihnen noch nicht persönlich
die Hand schütteln konnten, ganz herzlich zur Übernahme dieses Amtes gratulieren,
({0})
Freude an der Aufgabe wünschen und Gottes Segen für
die Wahrnehmung dieses Amtes.
Zugleich möchte ich dem ausgeschiedenen Bundesminister Michael Glos für seine Tätigkeit als Mitglied
der Bundesregierung danken.
({1})
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b
auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes
- Drucksache 16/10996 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2})
- Drucksache 16/11904 Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Schummer
Patrick Meinhardt
Volker Schneider ({3})
Priska Hinz ({4})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/11905 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Willsch
Ulrike Flach
Michael Leutert
Anna Lührmann
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker
Schneider ({7}), Dr. Lothar Bisky,
Cornelia Hirsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Verlässliche Bildungsförderung für Erwachsene noch in dieser Legislatur auf den Weg
bringen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
({8}), Kai Gehring, Krista Sager, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Förderung des lebenslangen Lernens unverzüglich entscheidend voranbringen
- Drucksachen 16/11374, 16/11202, 16/11904 Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Schummer
Patrick Meinhardt
Volker Schneider ({9})
Priska Hinz ({10})
Zur dritten Beratung des Gesetzentwurfs liegt ein
Entschließungsantrag der FDP-Fraktion vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
({11})
Herr Wirtschaftsminister, darf ich einen Verfahrensvorschlag machen? Wenn Sie sich am Ende des Ganges
aufbauen würden, könnten Sie die Gratulationscour der
ausziehenden Kollegen ohne Störung der weiteren Beratungen abnehmen. Diejenigen, die an der Beratung dieses Tagesordnungspunktes beteiligt sind, könnten sich
dann den damit verbundenen Themen widmen.
Das Wort erhält zunächst die Frau Bundesministerin
Annette Schavan.
({12})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Zur Qualifizierungsinitiative
der Bundesregierung gehören Impulse für eine konzeptionelle Weiterentwicklung von Bildung und Qualifizierung und Anreize für Weiterqualifizierung, also Anreize
dafür, Bildungschancen und Qualifizierungschancen
wahrzunehmen.
Wir haben dies im Hohen Hause auch deshalb beraten
und beschlossen, weil wir davon überzeugt sind, dass
das Thema Fachkräftebedarf in den nächsten Jahren
noch stärker als in den vergangenen Jahren auf der Tagesordnung stehen wird. Wir beschäftigen uns also nicht
allein mit der Sicherung von Beschäftigung, sondern immer stärker auch mit der Frage, wie es uns gelingt, am
Hochtechnologiestandort Deutschland genügend hochqualifizierte Fachkräfte zu haben.
Erste wichtige Schritte sind erfolgt. Dazu gehört zum
Beispiel, dass wir im Jahre 2008 mit rund 616 000 Ausbildungsverträgen ein Niveau des Ausbildungsumfangs
wie seit langem nicht mehr erreicht haben. Diesen jungen Menschen wird mit ihrer qualifizierten Ausbildung
eine Chance auf weitere Berufs- und Lebensperspektiven gegeben. Eine qualifizierte Ausbildung ist die Voraussetzung für den Aufstieg durch Bildung.
Bund und Länder haben in Dresden ihren Willen zum
Ausdruck gebracht, jeden zu unterstützen, der lernen
will. Diese Vereinbarung von Dresden setzen Bund und
Länder im AFBG, also mit dem sogenannten MeisterBAföG, jetzt konkret um. Die Förderung wird vom Bund
und den Ländern gemeinsam verantwortet und finanziert.
An zahlreichen Stellen sind in den letzten Wochen
und Monaten sowohl die Erfahrungen der Länder als
auch die Anregungen der Wirtschaftsverbände und
Sozialpartner in die Beratungen über die Novelle eingeflossen. Auch die Experten haben sich in der Anhörung
am 26. Januar 2009 positiv zu dem Gesetzentwurf und
den Veränderungen geäußert.
Die Koalitionsfraktionen - dafür möchte ich ausdrücklich danken - haben in einer sehr vertrauensvollen
und konstruktiven Weise und vor allen Dingen sehr
schnell zu einer Verständigung gefunden. Ich freue mich
auch, dass es in der Opposition in den letzten Tagen
positive Stellungnahmen hierzu gegeben hat.
({0})
- Jawohl, Frau Pieper, ich weiß, woher sie kommen. Ich
habe in der Opposition aber auch noch um weitere Zustimmung geworben.
Mit dem Meister-BAföG stärken wir das lebensbegleitende Lernen, das - davon sind wir alle überzeugt immer bedeutsamer werden wird, und zwar nicht nur,
wie es durch den Namen suggeriert wird, im Handwerk,
sondern in allen Berufsbereichen. Das ist ein entscheidender Punkt der Weiterentwicklung des Gesetzentwurfs.
({1})
Wir motivieren Berufstätige, sich beruflich weiterzuentwickeln und fortzubilden. Dabei stehen die Abschlüsse nach dem Berufsbildungsgesetz und der Handwerksordnung im Vordergrund des Gesetzentwurfs. Wir
übernehmen mit der Förderung von Abschlüssen im sozialen Bereich auch eine sozialpolitische Verantwortung. Es gibt einen breiten gesellschaftlichen Konsens
darüber, dass zum Beispiel die frühkindliche Bildung
und Erziehung verbessert werden muss.
Deshalb ist es wichtig gewesen - dies ist ein ganz
deutliches Signal an diese Berufsgruppe -, jetzt auch die
Aufstiegsfortbildungen der Erzieherinnen und Erzieher
ebenso wie die Aufstiegsfortbildungen in den Pflegeberufen zu fördern. Wir wissen, dass die Attraktivität dieser beiden Berufe darunter leidet, dass es weder Aufstiegschancen noch lebenslange Berufsbiografien gibt.
Eine Erzieherin scheidet in der Regel nach acht Berufsjahren aus dem Beruf aus. Das ist ein wichtiger Schritt
zur Modernisierung der Aufstiegsqualifikation für Erzieherinnen und Erzieher und für die Pflegeberufe.
({2})
Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt ganz deutlich
auf, dass es nach der Ausbildung weitergeht. Wir unterstützen die berufliche Weiterbildung. Mit dem neuen
Darlehensteilerlass bei Bestehen der Prüfung geben wir
das Signal, dass sich Leistung lohnt. Wir fördern die
Motivation, eine Fortbildung zu beginnen und erfolgreich zum Abschluss zu bringen. Damit wird eine Voraussetzung für die weitere Entwicklung der Berufsbiografie geschaffen.
Mit dem Meister-BAföG wird die zukünftige mittlere
Führungsebene in den Betrieben gefördert. Meister,
Techniker und Fachwirte leisten einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung von Innovationen in den Unternehmen. Sie erarbeiten Produkte und Dienstleistungen und
gestalten diese kundengerecht. In der Regel nehmen sie
Schlüsselfunktionen bei der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe wahr.
Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Weiterentwicklung dieses Gesetzes sind die besseren Perspektiven für
Fachkräfte mit Migrationshintergrund. Dies ist ein
besonderer Beitrag zur Förderung der Integration von
Ausländern. Wir wissen, dass sich nach wie vor gerade
diese Gruppe nur in sehr geringem Umfang an Weiterbildungsmaßnahmen beteiligt. Erst kürzlich hat eine Studie
des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung
gezeigt, dass gerade in dieser Bevölkerungsgruppe noch
ein großes Potenzial steckt.
Zugleich sollen diejenigen, die nach der Fortbildung
eine Existenz gründen, Auszubildende einstellen, Arbeitsplätze schaffen und in diesem Kontext weitere finanzielle Vergünstigungen erhalten.
Meine Damen und Herren, wir haben das AFBG breit
aufgestellt. Die Förderung beruflich Qualifizierter - davon bin ich überzeugt - darf nicht hinter der von Schülern und Studenten zurückstehen. Dies ist ein Prüfstein
für die Frage, ob wir es mit der Gleichwertigkeit von
beruflicher und allgemeiner Bildung ernst nehmen.
({3})
Deshalb folgt nach der Modernisierung und Weiterentwicklung des BAföG nun die Modernisierung und
Weiterentwicklung des Meister-BAföG. Damit sollen für
neue Berufsgruppen neue Anreize, mehr finanzielle
Leistungen und eine höhere Akzeptanz im öffentlichen
Bildungssystem geschaffen werden. Außerdem soll
deutlich gemacht werden, dass wir längst an lebenslangen Bildungsbiografien arbeiten. Das sind die Voraussetzungen dafür, den künftigen Fachkräftebedarf in
Deutschland zu decken.
Mit den vorgesehenen Leistungsverbesserungen von
zusätzlich 272 Millionen Euro in den nächsten vier Jahren werden Bund und Länder spürbare Anreize für die
Teilnehmerinnen und Teilnehmer an beruflichen Aufstiegsfortbildungen schaffen. Ich appelliere an dieser
Stelle ausdrücklich an die Länder, im Interesse der Fortbildungswilligen im Bundesrat den Weg freizumachen
für diese Verbesserungen. Wir brauchen bis zum Ende
den Schulterschluss.
({4})
Meine Damen und Herren, ich muss es nicht wirklich
betonen: In den nächsten Jahren werden uns in vielen
Bereichen von der frühkindlichen Bildung bis zum lebensbegleitenden Lernen die Fragen beschäftigen: Wie
kommen wir zu besserer Bildung? Wie kommen wir zu
mehr Qualifikation? Wie kommen wir zu einer höheren
Beteiligung an Weiterbildung?
Was wir heute beraten und beschließen, ist ein guter
nächster Schritt, es ist ein Meilenstein in der Akzeptanz
und der hohen Bewertung der beruflichen Bildung in
Deutschland. Damit wird Aufstieg durch Bildung noch
besser möglich.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Patrick Meinhardt,
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Verehrte Frau Ministerin, Politik - gerade
Bildungspolitik - darf nicht nach der Abgrenzungsschablone „Hier Opposition, dort Regierung“ erfolgen.
({0})
Wenn wir ins Detail gehen und das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz Punkt für Punkt genauer durchgehen, dann werden wir darin sicherlich eine ganze
Reihe von Einzelmaßnahmen finden, die uns Liberalen
nicht weit genug gehen. Wir würden auch sehr schnell
feststellen, wo jeweils der CDU/CSU und der SPD ihre
Handschrift zu undeutlich erscheint.
Wir als Liberale haben deswegen einen eigenen Entschließungsantrag vorgelegt. Das ändert aber nichts daran, dass dieser Gesetzentwurf genau in die richtige
Richtung geht. Das Meister-BAföG wird auf wichtige
Zielgruppen ausgedehnt. Dabei geht es nicht um Opposition oder Regierung, sondern es ist eine Frage der richtigen Zukunftspolitik dieses Parlamentes. Deswegen
stimmt die FDP-Bundestagsfraktion zu.
({1})
Wir stimmen auch deswegen zu, weil die Berufsgruppen der Altenpflegerinnen und Altenpfleger und Erzieherinnen und Erzieher diese Chance auf Fortbildung
brauchen. Die höchste Verantwortung in dieser Gesellschaft tragen zum einen die Menschen, die sich um die
Entwicklung der Kinder von Anfang an kümmern, ihre
Talente unterstützen und fördern sollen und mit Sprachstandserhebungen und der persönlichen Förderung jedes
einzelnen Kindes eine herausragende Aufgabe wahrnehmen, und zum anderen selbstverständlich auch diejenigen, die den letzten Abschnitt des Lebens fürsorglich
und mit viel Liebe begleiten.
Beide Berufe sind aus unserer Gesellschaft nicht wegzudenken. Beide Berufe verdienen nicht das, was sie gesellschaftlich verdienen sollten.
({2})
Auch deswegen ist heute für diese so wichtigen, zentralen Berufe ein guter Tag, wenn auch für sie das MeisterBAföG geöffnet wird. Denn damit wird ihre Arbeit stärker gewürdigt und ihnen die Möglichkeit zur aktiven
Weiterbildung gegeben. Das ist ein wichtiger Schritt zu
mehr Bildungsgerechtigkeit in Deutschland.
Aus unserem Entschließungsantrag darf ich zwei
Punkte herausgreifen, die uns wichtig sind. Erstens. Wir
sollten uns in der Frage des Meister-BAföG nicht so sehr
auf die Frage der starren Förderung für Kurse ab
400 Stunden Unterricht orientieren. Solche starren Regelungen bringen in der Bildungsdebatte nichts. Viel wichtiger ist es, Qualitätskriterien zu schaffen. Auch für einen freien Träger, der einen Kurs mit 380 Stunden in der
gleichen Qualität anbietet, sollte die Förderung gelten.
Wir brauchen mehr Flexibilität. Qualität muss beim
Meister-BAföG vor Quantität stehen.
({3})
Wir brauchen Systeme des intelligenten Bildungssparens. Notwendig ist auch die Stärkung der bestehenden
Maßnahmen wie die nach dem AFBG. Aber wir sagen
als Liberale ganz klar: Wir brauchen kein neues Mammutgesetz für die Erwachsenenbildung in der Bundesrepublik Deutschland. Wir brauchen kein Gesetz, das von
der Wiege bis zur Bahre alles allumfassend in seinen engen Rahmen hineinpressen will. Wir brauchen kein
neues Bürokratiemonster, das in den Anhörungen nur
von Gewerkschaftsvertretern gewünscht wurde, sondern
eine gute und offensive Weiterbildungspolitik. Deswegen positionieren wir uns an dieser Stelle klar: Wir wol22092
len kein neues Gesetzeswerk. Wir wollen kein neues Bürokratiemonster.
({4})
Ich glaube, wir werden heute insoweit ein gutes Zeichen setzen. Wir brauchen ein großes Paket für den Aufbruch in der Weiterbildung. Davon sind wir noch viele
Schritte entfernt. Notwendig ist auch eine Stärkung der
Weiterbildungsfinanzierung, aber nicht in Form einer
Weiterbildungsprämie von 154 Euro als Kernstück einer Offensive in der Weiterbildung, wie Sie es sich seitens der Regierungsfraktionen vorstellen. Eine Weiterbildungsprämie in Höhe von 154 Euro pro Person und
Jahr wird nie den qualitativen Aufbruch in der Weiterbildung bringen, den wir in der Bundesrepublik Deutschland brauchen. Wir Liberale wollen nicht, dass die Statistik verbessert wird, sondern wir wollen, dass die
Weiterbildungsqualität in der Bundesrepublik Deutschland verbessert wird.
({5})
Umso wichtiger ist es, dass die Gesamtkonzeption der
Weiterbildung vorangebracht wird. Hier brauchen wir
mehr Anstrengungen und mehr Initiativen. Zum Schluss
meiner Rede darf ich Bundespräsident Horst Köhler zum
Thema Weiterbildung zitieren:
Wie also schaffen wir es, in einer alternden Gesellschaft die richtigen Anreize für Weiterbildung und
lebenslanges Lernen zu setzen? Das ist nicht nur
eine Frage von Strukturen. Dass Weiterbildung bei
uns so selten stattfindet, dürfte auch damit zusammenhängen, dass wir uns angewöhnt haben und immer noch glauben, es sei der normale Rhythmus,
das Leben in drei Abschnitte einzuteilen … Dieses
Phasenmodell … entspricht jedoch nicht mehr unserer Lebenswirklichkeit, denn immer mehr Ältere
sind länger aktiv, und Lernen ist längst von der Jugend- zur Lebensaufgabe geworden.
Heute schaffen wir mit der vorliegenden Novelle für Erzieherinnen und Erzieher sowie für Altenpflegerinnen
und Altenpfleger mehr Bildungsgerechtigkeit und mehr
Aufstiegschancen; das ist überfällig. Die FDP-Fraktion
unterstützt diesen Gesetzentwurf.
Herzlichen Dank.
({6})
Der Kollege Ernst Dieter Rossmann hat nun für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute haben wir eine breite Übereinstimmung, was die
Förderung von Erwachsenenweiter- und Erwachsenenfortbildung angeht. Daher ist es gut, den Dreischritt,
den wir im deutschen Parlament vollzogen haben, in
Erinnerung zu rufen. Der erste Schritt ist 1996 durch
den damaligen Bildungsminister Rüttgers vollzogen
worden. Er hat damals - nicht unumstritten - mit dem
Meister-BAföG eine steuerfinanzierte Erwachsenenbildungsförderungsleistung in das Gesetzeswerk
hineingebracht. Das war wichtig, obwohl es sicherlich
kritisch zu sehen ist, dass es aus dem damaligen Arbeitsförderungsgesetz ausgekoppelt wurde. Das Ergebnis
war: 60 000 bis 70 000 Menschen in der anspruchsvollen
Aufstiegsfortbildung bekamen Förderung. Das war ein
erster guter Schritt.
Der zweite gute Schritt erfolgte dann im Jahr 2001,
als wir unter der rot-grünen Regierung mit Herrn Schröder und Frau Bulmahn das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz tatkräftig und energisch erweitert haben. Die
Zahl der Geförderten stieg so auf 140 000; denn es wurden nicht nur Vollzeitmaßnahmen, sondern auch Teilzeitmaßnahmen durch den Maßnahmebeitrag gefördert.
Ich darf an dieser Stelle Kollegin Aigner, die nun Ministerin ist, sozusagen eine Blume überreichen. Damals hat
sie für die konservative Seite eingefordert: Fördert die
Maßnahme, damit jeder, der in der Aufstiegsfortbildung
ist und nicht viel Geld hat, Unterstützung bekommt!
Edelgard Bulmahn hat es dann umgesetzt. Das ist ein
ganz wichtiger Schritt gewesen.
({0})
Der dritte Schritt wird heute vollzogen. Dass wir ihn
tun können, ist in erster Linie eine Leistung des Parlaments. Wenn Sie sich die Koalitionsvereinbarung anschauen, dann stellen Sie fest, dass dort weder eine Verbesserung des BAföG noch eine Verbesserung des
Meister-BAföG vorgesehen ist. Es sind bestimmte Abgeordnete, auf die diese Novelle zurückgeht. Die Fraktionen
haben aufbegehrt und sind initiativ geworden. Wenn ich
nun einzelne Abgeordnete aufzählte, wären andere sicherlich enttäuscht. Jedenfalls handelt es sich um eine
Parlamentsinitiative.
({1})
Es ist sicherlich nicht falsch, wenn das Parlament Probleme aufgreift, Perspektiven aufzeigt und dann entsprechende Initiativen in enger Zusammenarbeit mit der Regierung umsetzt. Ich sage an dieser Stelle Staatssekretär
Storm ein Dankeschön für die gute Zusammenarbeit auf
fachlicher Ebene.
({2})
Wir haben damals analysiert und uns die Entwicklung
der Gefördertenzahl genau angeschaut; denn diese Zahl
ist auch ein Abbild der Dynamik in der Aufstiegsfortbildung. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein paar
Zahlen nennen. Jährlich machen rund 400 000 Menschen einen Berufsbildungsabschluss. 200 000 erlangen
einen akademischen Abschluss. Aber nur ein Fünftel
derjenigen mit einem Berufsbildungsabschluss kommt
aktuell in eine Aufstiegsfortbildung; das ist nicht gut.
Wenn wir die Balance bzw. die Gleichwertigkeit von anspruchsvoller beruflicher und akademischer Bildung
wollen, dann müssen wir die Gefördertenzahl im beruflichen Bereich steigern. Das Ziel könnten ja auch für dieDr. Ernst Dieter Rossmann
sen Bereich 200 000 Geförderte sein. Wenn wir es erreichen, die Zahl von 80 000 Geförderten auf 100 000 oder
120 000 zu steigern, dann hätten wir in allen wirtschaftlichen Bereichen einen ganz wichtigen Beitrag zur Qualifizierung geleistet.
({3})
Als man angesichts dieser Perspektive allerdings festgestellt hat, dass die Zahl derjenigen, die eine Aufstiegsfortbildung absolviert haben, und auch die Zahl der Geförderten erstmals wieder rückläufig war - das war im
Jahr 2006 -, war das ein Anlass, parlamentarisch initiativ zu werden und auf eine grundsätzliche Leistungsverbesserung zu dringen, damit die Zahl wieder steigen
kann. Das ist der erste Punkt. Die Analyse der Situation
führte zur politischen Schlussfolgerung, die heute in
dem Reformgesetz aufgenommen wird.
Ein zweiter Punkt. Wenn wir feststellen, dass 68 Prozent derjenigen, die eine Aufstiegsfortbildung absolvieren bzw. sich überhaupt im Rahmen der beruflichen Bildung qualifizieren, Männer und 32 Prozent Frauen sind
und die meisten in der Altersgruppe zwischen 20 und
35 Jahren sind, dann müssen wir erkennen, dass die Vereinbarkeit von Aufstiegsfortbildung und Familie ein
Problem darstellt. Schätzungsweise haben nur 10 Prozent derjenigen, die in einer Aufstiegsfortbildung sind,
Kinder. Dass uns dies nicht ruhen lassen kann, dass man
im Gegenteil schauen muss, wie man speziell die Familien, in denen sich jemand intensiv anstrengt, eine Aufstiegsfortbildung zu absolvieren, und gleichzeitig Kinder
erzieht, fördern kann, ist klar. Das ist ein wichtiges Anliegen.
({4})
Wir haben das analysiert und eine Verbesserung durchgesetzt. Der Kinderzuschlag wird nämlich jetzt um fast
40 Euro erhöht, und er wird nur zu 50 Prozent als Darlehen gegeben. Das ist eine wichtige Konsequenz. Wir
hoffen, dass sich die Aufstiegsfortbildung in Zukunft mit
der Kindererziehung besser vereinbaren lässt.
({5})
Ein dritter Punkt der Analyse. 20 Prozent derjenigen,
die eine Aufstiegsfortbildung machen, brechen sie ab,
nur 80 Prozent bestehen beim ersten Versuch die Prüfung. Auch daraus muss man Schlussfolgerungen ziehen
und fragen, ob man helfen kann. Man kann natürlich insofern helfen, als man den Anreiz verstärkt, eine Aufstiegsfortbildung wirklich bis zum erfolgreichen Ende
durchzuführen. Das heißt, man kann einen Bonus gewähren, wenn die Aufstiegsfortbildung erfolgreich abgeschlossen wird. Man kann auch helfen, indem man die
schwierige Prüfungsphase - Werkstücke entstehen oft
hinterher, und die intensive Vorbereitung erfolgt ebenfalls oft nach dem Zeitraum, für den man eine Dauerförderung bekommt - durch eine Verbesserung der Förderung erleichtert. Auch dies tun wir. Wir hoffen, dass
dadurch die Aufstiegsfortbildung für all diejenigen, die
sich darauf einlassen, erfolgreich wird.
Vierter Punkt der Analyse. Es gibt zu wenige Menschen aus Einwandererfamilien, die unser Bildungssystem erfolgreich für sich nutzen können. Wenn wir auch
bei der Aufstiegsfortbildung Migranten erleichtern, mit
einem festen Aufenthaltstitel ohne lange Vorlaufzeiten
dieses Bildungsrecht in Anspruch nehmen zu können,
dann ist das ein Zeichen für die Zukunft.
Fünfter und letzter Punkt. Die Ministerin hat schon
angesprochen, dass wir den Förderkreis deutlich erweitern. Es wird in Zukunft nicht mehr nur und ausschließlich die erste Fortbildung gefördert werden, sondern es
kann auch eine weitere Fortbildung gefördert werden.
Damit wird die Bildungsförderung zu einem kontinuierlichen Prozess. Wir nennen das, über das wir reden,
Meister-BAföG, aber in Wirklichkeit ist es ein Fachkräfte-BAföG. Nur 36 Prozent der Abschlüsse kommen
aus dem Handwerk, 46 Prozent kommen aus der Industrie und dem Dienstleistungsbereich, der Rest aus dem
Gesundheitssektor und anderen Bereichen. Wenn wir
dies aufgreifen und die Aufstiegsfortbildung auf die Bereiche der Altenpflege und Kindererziehung ausdehnen,
dann eröffnen wir den Menschen in diesen Zukunftsbranchen die Chance zur Qualifizierung.
Das ist ein Gesetz, das aus der Analyse der bestehenden Verhältnisse notwendige Konsequenzen zieht. Festzustellen ist, dass die bereitgestellten Mittel einen Zuwachs von 60 Prozent darstellen. In welchem Bereich
haben wir das schon, wenn es nicht gerade um den
Schutzschirm für Banken oder konjunkturpolitische
Maßnahmen geht?
({6})
Hier geht es um einen Schirm für die Bildung, den wir
aufspannen müssen, damit in Zukunft möglichst viele
davon profitieren können.
Es bleibt eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund und
Ländern. Wir stehen nachdrücklich dazu, dass sich dieses gemeinsame Anliegen auch materiell niederschlagen
muss. Es bleibt auch entwicklungsfähig - um auf die
Anträge der Linken und der Grünen einzugehen. Sie fordern natürlich von diesem Parlament ein, es dabei nicht
bewenden zu lassen und eine längere Perspektive ins
Auge zu fassen. Ich will angesichts der Tatsache, dass
wir in der Koalition uns darüber noch nicht so einigen
konnten, wie es für die Zukunft wünschenswert gewesen
wäre, wenigstens den sozialdemokratischen Standpunkt
erläutern.
Wir sind für ein Erwachsenenbildungsförderungsgesetz.
({7})
Wir sind dafür, dass wir die Bildungskette vom SchülerBAföG über das Studenten-BAföG bis zum MeisterBAföG erweitern. Wenn es ein Meister-BAföG für die
beruflich Hochqualifizierten gibt, dann brauchen wir in
der Struktur von Bachelor und Master - das haben wir
gelernt - ein Master-BAföG und auch eine Differenzierung der einzelnen Bildungswege.
Herr Meinhardt, das, was Sie in Bezug auf die Stundenzahl gesagt haben, soll man so verstehen, dass wir
differenzierter hinschauen sollen. Angesichts der Bildungsförderungsgesetzeskette - vom Schüler-BAföG über
das BAföG und das Meister-BAföG bis hin zu einem Erwachsenenbildungs-BAföG - verstehe ich Ihre Volte
nicht, das als bürokratisch zu denunzieren.
({8})
Schließlich machen Sie an anderer Stelle mit: Sie beschließen heute hier ein Leistungsgesetz hinsichtlich
ganz wichtiger Anliegen für ganz viele Menschen mit.
Es geht darum, Vorschläge zu machen, wie dieses Gesetz
verbessert werden kann. Lassen Sie uns dieses Bildungsförderungsgesetz zu dem gemeinsamen Anliegen dieses
Parlamentes machen! Das wird eine Aufgabe der nächsten Legislaturperiode werden.
Auch in dieser Regierung dürfen wir selbstbewusst
sagen, dass wir mit dem heutigen Parlamentsbeschluss
nicht nur bei den steuerfinanzierten Leistungen für die
Weiterbildung Gutes bewirken; auch dort, wo es um Sozialversicherungsbeiträge geht, haben wir über den Arbeitsminister und Bildungsminister Scholz mit dem
Rechtsanspruch auf die Förderung für den Hauptschulabschluss Positives bewirkt. Auch beim Kurzarbeitergeld gibt es notwendigerweise eine Verbindung zur Qualifizierung. In dieser Zeit ist es nämlich sehr wichtig, im
Kampf gegen die Arbeitslosigkeit nicht nur an Absicherung, sondern auch an Qualifizierung zu denken.
({9})
Die Große Koalition hat die Perspektive, gemeinsam
den Dualismus - das steuerfinanzierte Erwachsenenbildungsförderungsgesetz und das über die Sozialversicherung finanzierte Arbeitssicherungsgesetz und damit die
Arbeitsversicherung bzw. die Arbeitsversicherung weiterzuentwickeln. Das ist die sozialdemokratische
Perspektive. Heute machen wir einen großen Schritt in
diese Richtung.
Wir bedanken uns und freuen uns.
({10})
Das Wort erhält nun der Kollege Volker Schneider,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So ganz kann ich
in die vielen Lobeshymnen, die hier gesungen werden,
nicht einstimmen.
({0})
Wenn Sie einem Kind die Hoffnung gemacht haben,
dass es zu Weihnachten endlich das lange versprochene
Fahrrad erhält, und es unter dem Weihnachtsbaum ein
Taschenbuch findet, dann wird die Enttäuschung groß
sein, egal wie schön Sie den Raum geschmückt haben,
egal wie groß der Weihnachtsbaum ist und egal wie toll
das Taschenbuch ist.
({1})
Das Fahrrad, das Sie versprochen haben, heißt: Integration der Weiterbildung als vierte Säule unseres Bildungssystems. Das, was Sie heute hier weitergeben - die
Änderung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes,
AFBG -, hat, befürchte ich, noch nicht einmal das Zeug
zu einem Taschenbuch. Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag versprochen - Zitat -:
Wir wollen mittelfristig die Weiterbildung zur
4. Säule des Bildungssystems machen und mit bundeseinheitlichen Rahmenbedingungen eine Weiterbildung mit System etablieren.
Nun neigt sich diese Legislaturperiode ihrem Ende
zu. Es ist daher nicht falsch, anzunehmen, dass Sie mit
dem heute vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung des
Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes Ihre Initiativen zur Stärkung der Weiterbildung abschließen und
krönen wollen. Für Sie ist dieser Gesetzentwurf ein ganz
großer Wurf. Sie wollen - man kann das in Ihrem Gesetzentwurf nachlesen - nicht weniger, als dem Fachkräftemangel durch individuelle und kontinuierliche Höherqualifizierung begegnen, die Wettbewerbsfähigkeit
der Wirtschaft sichern und die Qualifikation der Bevölkerung auf Dauer erhalten. Damit dies gebührend gefeiert werden kann, haben wir heute die Ehre, das zur allerbesten Debattenzeit diskutieren zu dürfen.
Es ist schon bezeichnend, dass Sie aus so wenig einen
so großen Anlass machen. Sicher, das ist kein schlechter
Gesetzentwurf.
({2})
Das will auch ich zugestehen. Was positiv zu bewerten
ist, ist hier ausführlich dargestellt worden. Ich will das
nicht alles wiederholen. Ich will nur einen Punkt herausgreifen: Auch wir Linke sind der Meinung, dass die Förderung von Migrantinnen und Migranten ein wichtiger
Fortschritt ist, insbesondere weil Menschen mit Migrationshintergrund in unserem Beschäftigungssystem erheblich benachteiligt sind. Das ist nicht zuletzt darauf
zurückzuführen, dass unser Bildungssystem und unsere
Bildungsförderung diese Menschen vielfach eher aussortiert als gezielt fördert. Ich betone noch einmal: Das ist
ein wichtiger Schritt.
({3})
Es gibt auch kritische Anmerkungen zu Ihrem Gesetzesentwurf; das betrifft Punkte, auf die bis jetzt noch
nicht eingegangen worden ist. So sind die Förderbedingungen im AFBG weiter schlechter als im BAföG - und
das, obwohl Sie selbst angeben, dass mit Strukturverbesserungen in der beruflichen Bildung der angestrebten
Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung
Rechnung getragen werden soll. Man muss schon sagen:
ein merkwürdiges Verständnis von Gleichwertigkeit.
Volker Schneider ({4})
Den Veränderungen durch den Bologna-Prozess wird
in dem Entwurf in keiner Weise Rechnung getragen. Wer
sein Studium mit einem Bachelor beendet und sich entschließt, sofort in die berufliche Praxis zu gehen, um
später eine theoretische Vertiefung in Form eines Master-Abschlusses draufzusetzen - ein Szenario, das im
Rahmen der Hochschulreform übrigens ausdrücklich gewünscht war -, der schaut bei der Förderung schlicht in
die Röhre. Ab 30 gibt es kein BAföG mehr, und das
AFBG ist für diesen Personenkreis auch weiter nicht zuständig.
Bei aller Freude über die Einbeziehung der Pflegeberufe sowie der Erzieher und Erzieherinnen: Seit Jahren
diskutieren wir über veränderte Qualifikationsbedarfe.
Seit Jahren stellt sich dabei die Frage, welche Bildungswege - auch und gerade in Erziehung und Pflege - an
die Hochschulen gehören. Längst ist klar, wo die bisherige berufliche Qualifizierung an Grenzen stößt und Berührungspunkte mit der akademischen Bildung entstanden sind. Mit der beruflichen Qualifizierung allein
werden Sie diese Probleme nicht lösen können. Bis
heute ist kaum zu erkennen, dass Sie auf diese Entwicklungen politisch reagieren. Schon gar nicht haben Sie
über die Instrumente der Bildungsförderung hierfür gezielte Anreize geschaffen.
Frau Ministerin, wenn Erzieher und Erzieherinnen bereits nach acht Jahren aus dem Berufsleben ausscheiden,
dann sollte man sich vielleicht einmal überlegen, ob das
nicht auch etwas mit der beschämend niedrigen Bezahlung für eine so anspruchsvolle Tätigkeit zu tun hat.
({5})
Ein letzter Punkt: Qualitätssicherung findet allenfalls auf dem Papier statt. Nach dem Entwurf müssen die
Träger ein - das heißt wohl: irgendein - Qualitätssicherungssystem vorweisen. Ich habe mich beim Lesen gefragt, ob auch jene Tante Käthe die Qualität überwachen
kann, die durch die Reden einer Kollegin aus dem Haushaltsausschuss geistert. Das alles ließe sich noch fortsetzen, aber ich will hier nicht Erbsen zählen.
Es bleibt dabei: Dieser Gesetzesentwurf ist nicht der
schlechteste.
({6})
Aber ist es auch der große Wurf? Können Sie so - das ist
Ihr Anspruch - wirklich dem Fachkräftemangel begegnen, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft sichern
und die Qualifikation der Bevölkerung auf Dauer erhalten?
Sie selbst rechnen mit einem Anstieg - das muss ich
schon fast in Anführungszeichen setzen - der Zahl der
Geförderten von 134 000 im Jahr 2007 auf 160 000 im
Jahr 2012.
({7})
Selbst wenn ich nicht 50 Millionen Menschen zwischen
20 und 65 Jahren als potenzielle Adressaten lebenslangen Lernens sehe, sondern nur 27 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte,
({8})
geht es hier nicht einmal um einen Anstieg von 0,5 auf
0,6 Prozent oder - exakter - um einen Anstieg von etwas mehr als 0,9 Promille. Damit verliert man sicher den
Führerschein, aber damit werden Sie mit Sicherheit nicht
dem Fachkräftemangel begegnen, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft sichern und die Qualifikation der
Bevölkerung auf Dauer erhalten.
({9})
Viel Lärm um verdammt wenig! Da graut mir nur noch
davor, dass die Finanzkrise massiv auf den Arbeitsmarkt
durchschlägt.
Schließlich zu Ihrem eigenen Anspruch, die Weiterbildung zur vierten Säule des Bildungssystems auszubauen und mit bundeseinheitlichen Rahmenbedingungen
eine Weiterbildung mit System zu etablieren: Außer starken Worten in der ganzen Legislaturperiode wenig gewesen, allenfalls Trostpflästerchen - und die oft noch an
den falschen Stellen!
Seit den 70er-Jahren, verstärkt seit Beginn der 80erJahre, wird über die Notwendigkeit lebenslangen Lernens diskutiert. Seit Anfang der 80er-Jahre ist es eine
politische Forderung, Weiterbildung zu einem Bestandteil des Bildungssystems zu machen. Nichts Wirksames
in dieser Richtung ist in dieser Legislaturperiode geschehen. Die Weiterbildungsförderung bildet auch nach der
vorliegenden Gesetzesänderung einen Flickenteppich
unübersichtlicher Einzelmaßnahmen: von WeGebAU bis
zum Meister-BAföG - und das mit riesigen Lücken. Ein
konsistentes System der Förderung ist nicht erkennbar.
So können Bildungsbarrieren nicht überwunden werden.
So wird lebenslanges Lernen für die Mehrheit der Bevölkerung keine tatsächlich erfahrbare Realität.
Dabei liegen die Reformvorschläge seit Jahren auf
dem Tisch. Die Bundesregierung selbst hat eine Expertenkommission „Finanzierung Lebenslangen Lernens“
ins Leben gerufen, die umfassende Konzepte für eine
Stärkung der Weiterbildung vorgelegt hat. So forderte
die Kommission nicht nur eine Ausweitung bestehender
Leistungen, sondern ausdrücklich auch die Schaffung eines gemeinsamen Rahmens, unter dem diese Leistungen
vereint werden. Das waren wichtige Vorschläge für einen ganzheitlichen Ansatz in der Bildungsförderung.
Nur dafür, dass diese Vorschläge jetzt im Papierkorb verschwinden, haben Sie doch wohl nicht so viel Geld bezahlt?
Die Linke hält die Umsetzung dieser Vorschläge nach
wie vor für elementar. Auch hier und heute wiederhole
ich unsere Forderung, nicht länger bei Flick- und Stückwerk zu verharren, sondern mit einem Erwachsenenbildungsförderungsgesetz verlässliche Rahmenbedingungen für Nachfrager und Anbieter der Weiterbildung zu
schaffen.
({10})
So viel Mut werden Sie schon brauchen, damit Sie die
bislang doch recht hohle Formel vom lebenslangen Lernen mit Leben erfüllen können.
Volker Schneider ({11})
Ein letztes Wort zur FDP: Ihre Angst vor Bürokratiemonstern macht Sie blind für die Erkenntnis, dass
kaum ein Markt so sehr versagt hat wie der Weiterbildungsmarkt.
({12})
Dort herrscht in hohem Maße Intransparenz, da finden
Angebot und Nachfrage nur in seltenen Fällen zueinander. Viel schlimmer als jedes noch so schlimme Bürokratiemonster ist ein krebsartig wuchernder Wildwuchs in
diesem Bereich.
({13})
Um dem abzuhelfen, braucht es Strukturen und ein
Erwachsenenbildungsförderungsgesetz.
Danke schön.
({14})
Priska Hinz ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich
muss Wasser in den Wein gießen.
({0})
Denn was heute als großer Schritt der Koalition gefeiert
wird, ist in Wahrheit nur ein Trippelschritt im Bereich
des lebenslangen Lernens. Herr Schneider hat ja schon
angeführt, was im Koalitionsvertrag steht. Da heißt es,
dass die Weiterbildung „mit bundeseinheitlichen Rahmenbedingungen“ zu einer „Weiterbildung mit System“
zu etablieren ist. Davon ist gegen Ende der Wahlperiode
wirklich nichts übrig geblieben.
({1})
Dass das Meister-BAföG fortentwickelt wird, ist
({2})
ein sinnvoller Trippelschritt. Natürlich ist es auch sinnvoll, im entsprechenden Gesetzentwurf dieses auch auf
zukunftsträchtige Berufsfelder wie Altenpfleger und Altenpflegerinnen sowie Erzieherinnen und Erzieher auszudehnen. Der Effekt, den Sie damit erzielen, nämlich
Weiterbildung für 26 000 Menschen mehr zu ermöglichen, ist zwar im Hinblick auf diesen Personenkreis gut
und sinnvoll,
({3})
aber in Bezug auf Ihr Vorhaben, die Weiterbildungsquote
von jetzt 43 Prozent auf 50 Prozent im Jahre 2015 zu
steigern,
({4})
ist das einfach nichts. Das müssen Sie doch heute auch
zur Kenntnis nehmen.
({5})
Ihre Sonntagsreden und Ihr Alltagshandeln klaffen hier
weit auseinander.
Meine Damen und Herren, auch die Weiterbildungsprämie, über die ja immer wieder diskutiert wird und
die gerade von der Ministerin gerne ins Feld geführt
wird, bewahrt Sie nicht davor, dass Sie sich eingestehen
müssen, dass Sie Ihre eigenen Ansprüche nicht einlösen
können.
({6})
Eine Weiterbildungsprämie von 154 Euro kann nämlich
Individuen nicht dazu verführen, zusätzlich viel Aufwand und Zeit in Weiterbildung zu investieren und tatsächlich an formalisierten Weiterbildungsangeboten teilzunehmen. Mit den beiden jetzt von mir angesprochenen
Instrumentarien erreichen Sie die Weiterbildungsquote
von 50 Prozent nicht. Das muss heute klar und deutlich
gesagt werden.
({7})
Auch innerhalb des Systems entstehen durch die Reform des Meister-BAföG Probleme. Warum wird der
Kinderzuschlag teilweise nur als Darlehen gezahlt und
nicht generell als Vollzuschuss? Warum werden die Unterhaltszuschüsse im AFBG nicht in gleicher Weise geregelt wie im BAföG? Warum sehen Sie einen Darlehensteilerlass für bestandene Prüfungen vor, obwohl Sie
die dafür nötigen Mittel zur Gewährung des Kinderzuschlages als Vollzuschuss einsetzen könnten?
Gerade wenn man Frauen für die Weiterbildung zur
Altenpflegerin oder zur Erzieherin interessieren will,
dann muss man wissen, dass diese Frauen in aller Regel
ganz wenig Geld haben, dass sie aber Kinder haben. Sie
brauchen einen Vollzuschuss. Die Menschen, die eine
Weiterbildung machen, brauchen keinen Darlehensteilerlass für das Bestehen einer Prüfung. Wer sich nach drei
Jahren Weiterbildung auf eine Prüfung vorbereitet, will
diese auch bestehen. Von daher setzen Sie innerhalb dieser Reform eine falsche Gewichtung. Wir sagen: Der
Trippelschritt ist in Ordnung. Aber wir enthalten uns,
weil noch nicht einmal dieser Schritt richtig ausgefeilt
ist.
({8})
Wissen Sie, was das Hauptproblem ist? Das Hauptproblem ist, dass Sie mit dem AFBG immer noch von
der klassischen Bildungsbiografie ausgehen: Man erlernt
einen Beruf, arbeitet ein paar Jahre und macht dann den
Meister, den Techniker oder eine Ausbildung zur Erzieherin oder Altenpflegerin. Das läuft aber der heutigen
Alltagsrealität und den heutigen Lebens- und Lernbiografien völlig hinterher. Viele Menschen haben weder einen Schulabschluss noch einen Berufsabschluss. Sie arbeiten seit Jahren und wollen eine Weiterbildung
machen. Dafür brauchen sie aber einen Unterhaltszuschuss, weil sie oft schon eine Familie haben und aus ihrem Beruf nicht völlig aussteigen können. Diese MenPriska Hinz ({9})
schen stehen aber heute vor dem Nichts, wenn sie eine
Weiterbildung machen wollen, um den Berufsabschluss
nachzuholen.
Viele Menschen gehen nach dem Bachelor in den Beruf und wollen später den Master nachholen. Darauf sind
diese Studiengänge im Sinne eines lebenslangen Lernens
schließlich ausgerichtet worden. Diese Menschen erhalten aber wegen ihres Alters kein BAföG. Auch das Meister-BAföG bekommen sie nicht, weil sie eine akademische Laufbahn eingeschlagen haben.
Viele Menschen wollen im Sinne des lebenslangen
Lernens - man soll es kaum glauben - mehrere Weiterbildungen machen. Auch diese Menschen haben keine
Chance auf Förderung. Insofern ist das AFBG tatsächlich nicht der große Wurf, als den Sie es heute feiern.
Wir legen Ihnen einen echten Alternativvorschlag
vor, der auf Rot-Grün und die Ergebnisse der Expertenkommission „Finanzierung Lebenslanges Lernen“ zurückgeht. Wir wollen ein Erwachsenenbildungsförderungsgesetz.
({10})
Wir wollen ein Erwachsenen-BAföG. Die verschiedenen
Instrumente sollen transparent, verständlich und klar geordnet sein. Dann wird das kein Bürokratiemonster,
Herr Meinhardt. Die Instrumentarien müssen so aufeinander abgestimmt werden, dass lebenslanges Lernen
auch für die Menschen möglich wird, die gebrochene
Biografien haben, die schon eine Familie haben und teilweise aus dem Beruf aussteigen wollen, um eine Weiterbildung zu machen.
Unser Erwachsenen-BAföG kennt keine Altersgrenzen und auch keine Beschränkung auf Berufsgruppen
wie Meister, Techniker, Altenpfleger oder Erzieher. Unser Erwachsenen-BAföG ist so ausgestaltet, dass alle
Menschen, die eine formale Weiterqualifikation anstreben, die Möglichkeit erhalten, dies durch Zuschüsse,
Darlehen oder Bildungskredite zu erreichen, im wahrsten Sinne des Wortes: je nach eigenem Vermögen. Das
ist ein modernes Instrument der Weiterbildung.
({11})
Wir wollen, dass es einen Rechtsanspruch auf Förderung von zertifizierter Weiterbildung gibt. Wir brauchen
flankierende Maßnahmen, und zwar in Form von Beratung, Beratung, Beratung. Wir brauchen individuelle Beratung für die verschiedenen Formen der Weiterbildung,
die heutzutage möglich sind. Wir brauchen Beratung für
die Finanzierungsmöglichkeiten, die es gibt. Diese Beratung muss niedrigschwellig sein. Das ist ein ganz wesentliches Moment. Auch da haben Sie bis heute versagt.
Auf diesem Gebiet hat es schon viele Versprechungen
gegeben: beim Bildungsgipfel und entsprechende Forderungen in der Koalitionsvereinbarung. Im Rahmen der
Weiterbildungsprämie wurde ebenfalls beschlossen: Wir
schaffen Beratungsstrukturen. - Geschehen ist bislang
nichts.
Nötig sind aber Beratungsstrukturen, die so niedrigschwellig sind, dass die Menschen zu diesen Beratungsstellen tatsächlich hingehen und die notwendige individuelle Förderung und Unterstützung erhalten. Wir
plädieren nach wie vor dafür, Kooperationsstrukturen zu
nutzen, um die Beratung in den Verbraucherberatungsstellen anzusiedeln.
Notwendig ist Beratung für die KMU; denn gerade
Fachkräfte in den kleinen und mittleren Betrieben sind
heute zu wenig in der Weiterbildung präsent. Es reicht
nicht, ein Programm wie WeGebAU aufzulegen und
BA-Mitarbeiter in die Betriebe zu schicken. Das ist verfehlt.
({12})
Wir brauchen Beratungsstrukturen für die KMU, die
es ermöglichen, dass die einzelnen Betriebe dahin gehend beraten werden, wie sie sich selber weiterentwickeln können und welche angepassten Weiterbildungsstrukturen sie etablieren können. Da liegen Sie weit
hinter dem zurück, was selbst in Großbritannien möglich
ist.
({13})
Außerdem brauchen wir ein Bildungssparprojekt,
das nicht nur auf eine Weiterbildungsprämie in Höhe
von 154 Euro setzt, sondern Bildungssparkonten für alle
erwachsenen Menschen möglich macht. Wir brauchen
eine Förderung für das Bildungssparen, das besonders
die Geringqualifizierten begünstigt, die eben auch Geringverdiener sind. Dieses Instrument des Bildungssparens soll wie die steuerlichen Anreize wirken, die den
Hochqualifizierten und Gutverdienenden zugutekommen. Wer mit einer guten Qualifikation und einem hohen
Einkommen eine Weiterbildung macht, erhält steuerliche
Anreize durch Anrechnung auf das zu versteuernde Einkommen. Wer hingegen nur ein geringes Einkommen
hat, hat diese steuerlichen Anreize nicht. Insofern ist ein
Bildungssparkonto mit einer besonders hohen Prämie
wichtig für diejenigen, die geringqualifiziert und geringverdienend sind. Darauf haben Sie mit Ihrem Weiterbildungssparmodell überhaupt nicht geachtet.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss. - Deswegen wird es in die
Leere laufen.
Meine Damen und Herren -
Nein, Sie können jetzt wirklich nicht zu einem weiteren Abschnitt kommen.
Nein, das ist kein weiterer Abschnitt, sondern der
letzte Satz.
Sie wollten also nur noch ein Schlusswort sprechen;
das ist schön.
Das ist der letzte Satz, Herr Präsident. - Weil die
Große Koalition sich mit Kleinigkeiten zufrieden gibt,
ist es eben kein großer Tag für die Weiterbildung. Es
wird erst ein großer Tag, wenn wir das Erwachsenenbildungsgesetz im Bundestag beschlossen haben.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Michael Kretschmer
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In dieser Legislaturperiode wird ein deutlicher
Schwerpunkt auf Innovation und Fortschritt gesetzt.
Keine Bundesregierung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat so viel wie diese für Forschung
und Entwicklung getan. Denn wir alle wissen, dass wir
nur mit den besten Produkten und mit Innovation unseren Lebensstandard in Deutschland halten können.
Wir haben uns in einer ganz umfassenden Weise für
Bildung und Forschung eingesetzt: Wir haben die Exzellenzinitiative auf den Weg gebracht, um Spitzenwissenschaftler und den Nachwuchs in den Naturwissenschaften zu fördern. Wir haben das BAföG erhöht, um den
akademischen Nachwuchs zu fördern.
({0})
Wir haben den Bildungsgipfel auf den Weg gebracht,
Frau Kollegin, um in einem nationalen Kraftakt zwischen Ländern und Bund etwas für die Bildung zu tun,
und zwar von den Gymnasiasten bis hin zu den Kindern
in der vorschulischen Bildung. 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung ausgeben zu
wollen, das ist eine gewaltige Aufgabe, die wir gemeinsam angehen. Damit setzen wir ein deutliches Zeichen.
Was wir heute tun, ist nicht minder wichtig. Es ist die
Fortführung dieser Politik für Bildung, die das Versprechen beinhaltet, dass Aufstieg und Wohlstand durch Bildung erreicht werden können. Die ganze Welt ist voller
Anerkennung für die deutschen Meister, Techniker und
Fachwirte. Sie sind unsere Praxiselite. Ihr Fachwissen,
ihre Führungskompetenz sind der Schlüssel zum Erfolg.
Sie sind die Basis für die Qualität „Made in Germany“,
den größten Wettbewerbsvorteil, den Deutschland hat.
Aus diesem Grund setzen wir in diesem Bereich ganz
konsequent eine Politik fort, die wir 1996 mit dem damaligen Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers begonnen haben, der das Meister-BAföG eingeführt hat. Im
Jahr 2007 wurden damit insgesamt 134 000 Personen
gefördert. Allein diese Zahl zeigt, zu welch großem Erfolg die Politik von Jürgen Rüttgers geführt hat.
({1})
Wir wollen, dass es noch mehr werden. Deswegen
werden wir gemeinsam in der Koalition die Ausgaben
für das Meister-BAföG deutlich erhöhen und die Förderkonditionen verbessern. Wir werden den Kreis der Förderberechtigten deutlich ausweiten und mehr Geld in
diesem Bereich ausgeben.
Wir wollen, dass auch die in Deutschland lebenden
Ausländer, die hier ausgebildet wurden, in Zukunft von
diesen Möglichkeiten profitieren können; denn wir brauchen auch diese Fachkräfte und wollen sie mobilisieren.
Wir wollen dieser Gruppe in unserer Bevölkerung eine
Chance geben und sie mitnehmen.
Meine Damen und Herren, die Fortbildung soll auch
in einem anderen Bereich, nämlich in der Altenpflege,
in Zukunft gefördert werden. Dies ist ein wichtiger Bereich. Gerade hier ist Qualität notwendig. Wir wollen
denjenigen, die in Pflegeheimen arbeiten, die Chance geben, sich weiterzuqualifizieren und ein höheres Einkommen zu erzielen. Auch hier gilt: Aufstieg durch Bildung.
Wir wollen den beruflichen Aufstieg bzw. die Höherqualifizierung des Einzelnen erreichen. Dafür setzen wir
klare Leistungsanreize. Beim Bestehen der Fortbildungsprüfung gibt es einen Erlass von 25 Prozent auf die
Restdarlehensschuld. Wir wollen damit die Abbrecherquote von 20 Prozent, die im Vergleich zu der im Studium eher gering ist, weiter senken.
Wir wollen und werden für Unternehmensgründungen etwas tun: Diejenigen, die nach der Qualifizierung
ein Unternehmen gründen und ausbilden, sollen stärker
davon profitieren. Wir werden einen Anreiz für Ausbildung in diesem Bereich schaffen. Diejenigen, die ausbilden, werden noch stärker gefördert.
Dieser Gesetzentwurf zum Meister-BAföG, der Entwurf eines Aufstiegsqualifizierungsgesetzes, ist ein
wichtiger Schritt. Wir lassen ihn uns nicht kleinreden.
Im Gegenteil: Wir sind stolz darauf. Wir glauben, dass
wir damit Aufstieg durch Bildung und Wohlstand durch
Qualifikation erreichen. Das gilt für jeden Einzelnen;
das gilt aber vor allen Dingen für unseren Wirtschaftsstandort Deutschland. Das Meister-BAföG leistet dazu
einen wichtigen Beitrag. Deswegen werben wir für eine
breite Zustimmung.
Vielen Dank.
({2})
Cornelia Pieper ist die nächste Rednerin für die Fraktion der FDP.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Kretschmer,
bei aller berechtigten Zustimmung, die Sie von der FDP
zur Änderung des AFBG erhalten, sollte man doch bei
der Wahrheit bleiben. Wir alle wissen, dass Deutschland
mehr Bildungsinvestitionen braucht, dass wir im internationalen Vergleich hinterherhinken und dass wir bei den
Bildungsinvestitionen immer noch unter dem OECDDurchschnitt liegen. Dass Deutschland inzwischen
10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und
Forschung ausgibt, ist immer noch eine Mär. Sie haben
dies auf dem Bildungsgipfel nicht beschlossen, sondern
angekündigt. Sie haben eine Arbeitsgruppe eingesetzt.
Wir wissen natürlich, dass wir mehr in Bildung investieren müssen. Wir wollen auch mehr in Bildung investieren. Wir können Ihnen aber nur sagen: Machen Sie es
und reden Sie nicht nur darüber! Das wäre eine Politik,
die glaubwürdig ist und nicht auf Märchen beruht.
({0})
Ich will meinem Kollegen Schneider von den Linken
sagen: Ich halte das, was Sie zu den Weiterbildungsunternehmen gesagt haben, für einen Skandal. 84 Prozent der Weiterbildungsunternehmen leisten eine gute
Bildungsarbeit und behaupten sich auf dem Bildungsmarkt mit qualitativ hohen Standards. Ich finde, das
sollte man einmal anerkennen. Sie haben die freien Weiterbildungsträger hier diffamiert. Dies unterstützen wir
auf keinen Fall. Wir sind für eine verantwortungsvolle
Politik und sind dagegen, dass man Bildungsunternehmen in ein Licht stellt, das ihnen nicht gerecht wird,
bzw. ihr Licht unter den Scheffel stellt. Ihre Behauptung
möchte ich, auch im Namen der Bildungsunternehmen,
zurückweisen.
({1})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schneider?
Nein. Das, was er hier gesagt hat, kann durch eine
Zwischenfrage nicht besser werden.
({0})
Die größte soziale Herausforderung, vor der wir in
diesem Land stehen, ist, bessere Bildungschancen für
junge Menschen zu schaffen. Aufstieg durch Bildung,
hat der Bundespräsident dazu zu Recht gesagt. Heute
können wir sagen: Aufstieg durch Aufstiegsfortbildung.
Das ist das beste Konjunkturprogramm. Das ist die beste
Versicherung gegen Arbeitslosigkeit und natürlich auch
gegen Perspektivlosigkeit im Leben.
Uns allen ist bewusst, dass die Arbeitslosenquote bei
Akademikern sehr niedrig ist. Sie liegt bei 3 Prozent. Ich
glaube nicht nur, dass wir mit dem Gesetz, das wir heute
verabschieden, dem Ziel, eine Gleichwertigkeit von akademischer und beruflicher Bildung herzustellen, näherkommen, sondern auch, dass wir mit diesem Gesetz
gewährleisten können, dass bei Personen, die durch Qualifikation aufsteigen, die Arbeitslosenquote sinkt. Das ist
uns wichtig.
({1})
Je höher die Qualifizierung, desto niedriger die Arbeitslosenquote; das wissen wir. Deswegen unterstützen wir
die Novelle des AFBG nachdrücklich.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wissen, dass wir bereits im Winter 2007 die BAföGReform mitgetragen und damit die Situation der Studierenden mit BAföG-Anspruch verbessert haben. Auch das
war uns wichtig. Es ging uns darum, einen größeren Teil
des Nachwuchses auf ein möglichst hohes Qualifikations- und Kompetenzniveau zu bringen. Das ist das Ziel,
das wir in diesem Land verfolgen sollten. Deswegen begrüßen wir, dass mit diesem Gesetzentwurf Änderungen
vorgenommen werden, die zu einer Verbreiterung der
Zielgruppe und zur Senkung der Zugangshürden führen.
Natürlich muss - auch das sagen wir ganz deutlich noch mehr getan werden. Deswegen hat die FDP einen
Entschließungsantrag vorgelegt. Wir sehen die Notwendigkeit, die Förderfähigkeit mittelfristig auf mehr als
eine Maßnahme der Aufstiegsfortbildung auszuweiten.
({2})
Gerade in der Wissensgesellschaft brauchen wir eine
stärkere Orientierung auf lebenslanges Lernen. Nach unserer Auffassung ist die Förderung mehrerer Aufstiegsfortbildungen genauso wichtig wie die Anerkennung von
Fortbildungsmodulen.
Ferner meinen wir, dass wir unseren Blick - das hat
Herr Rossmann zu Recht angesprochen - insbesondere
auf die Frauen richten müssen, die Maßnahmen nach
dem AFBG nutzen können. 34 Prozent nutzten diese
Maßnahmen im Berichtsjahr 2007. Während die Frauen
die akademische Bildung förmlich erobert haben - die
Mehrheit der Hochschulabgänger ist weiblich, wie wir
wissen -, ist es im Bereich der beruflichen Bildung, bei
der Aufstiegsfortbildung nicht so. Durch die Aufnahme
des Altenpflege- und des Erzieherberufs in den Katalog
wird sich eine Verbesserung ergeben; das ist klar. Wir
meinen, dass man auch bei den Gesundheitsberufen einen Schritt voran hätte gehen können, indem man auch
die Gesundheitsberufe - also Ergotherapeuten, Physiotherapeuten und Logopäden - in den Katalog aufgenommen hätte. Das wäre gut gewesen, gerade für die Frauen
in diesem Land.
({3})
Frau Ministerin, schließlich will ich Ihnen mit auf den
Weg geben: Sie haben zu Recht gesagt, dass wir mit der
Novelle des AFBG einen wichtigen Schritt seitens des
Bundes tun, aber viele Länder noch nachziehen müssen.
Das wissen wir. Wir müssen darauf drängen, dass die
notwendigen landesrechtlichen Regelungen geschaffen
werden, damit das AFBG gerade im Bereich der Altenpflege- und der Erzieherberufe bundesweit Wirksamkeit
entfalten kann. Bis heute ist das AFBG in zehn Bundesländern noch nicht anerkannt. Das ist die Mehrheit der
Bundesländer in Deutschland. Ich denke, angesichts dessen muss man als Bundesministerin Druck auf die Bundesländer ausüben, damit es umgesetzt wird.
({4})
- Es sind viele, Herr Tauss.
({5})
Ich weiß, dass Ihnen das Sorge bereitet, aber das ist jetzt
nicht das Thema.
Frau Kollegin.
Herr Präsident, ich komme zum Ende meiner Rede. Sorgen Sie dafür, dass insbesondere bei der Erzieherinnen- und Erzieherausbildung die Qualität zunimmt. Das,
was die Ministerin geleistet hat, das Internetportal, trägt
sicher nicht zu einer Steigerung der Qualität der Erzieherausbildung bei. Wir erwarten eine Weiterbildungsoffensive, die diesen Namen wirklich verdient, insbesondere für den Erzieherberuf in Deutschland.
Vielen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Volker
Schneider das Wort.
Frau Kollegin Pieper, als jemand, der 16 Jahre lang
als Dozent in der beruflichen Weiterbildung gearbeitet
hat,
({0})
bin ich sicherlich der Allerletzte, der in irgendeiner
Form Weiterbildungsunternehmen und die Kolleginnen
und Kollegen in diesen Weiterbildungsunternehmen beleidigt.
({1})
Im Gegenteil, ich halte es, nachdem wir im Weiterbildungsbereich jetzt Mindestlöhne haben, nach wie vor für
einen Skandal, dass man Akademikern zumutet, für
1 800 Euro in solchen Unternehmen zu arbeiten. Es ist
fantastisch, dass sie dennoch eine so hervorragende Arbeit leisten.
({2})
Ich empfehle Ihnen, nachzulesen, was ich in meiner
Rede gesagt habe. Ich habe gesagt, dass dieser Markt
versagt - das sind nicht die Unternehmen -; denn auf
diesem Markt herrscht ein erschreckendes Maß an Intransparenz. Jeder dort oben auf den Tribünen, der schon
einmal versucht hat, irgendwo an einer Weiterbildungsmaßnahme teilzunehmen
({3})
- ja, auch hier unten -, wird die Erfahrung gemacht haben, wie schwierig es ist, das passende Angebot zu finden. Das ist das Problem: Dieser Markt ist intransparent,
und Angebot und Nachfrage finden nicht zueinander.
Dies allerdings erkennen Sie in Ihrer bornierten Sicht auf
den Markt überhaupt nicht an.
({4})
Vor lauter Schrecken über angebliche Bürokratiemonster
begreifen Sie noch immer nicht, dass die wahre Gefahr
auf diesem Markt das wie ein Krebsgeschwür wuchernde Angebot ist.
({5})
Frau Pieper zur Erwiderung.
Herr Schneider, ich glaube nicht, dass wir durch solche polemischen Diskussionen dazu beitragen werden,
dass wir in Deutschland eine bessere Qualität im Bereich
der beruflichen Weiterbildung und Fortbildung erreichen
werden. Deswegen will ich diese polemische Form der
Auseinandersetzung auch nicht fortführen.
({0})
Für die Freien Demokraten mache ich noch einmal
deutlich, dass es uns darum geht, dass Angebot und
Nachfrage auf dem Bildungsmarkt funktionieren. Das
heißt aber auch, dass man Wettbewerb zwischen den
Bildungsträgern zulassen muss
({1})
und diesen Markt nicht überregulieren und durch neue
Gesetze blockieren darf. Ich erinnere Sie daran, dass
viele freie Weiterbildungsunternehmer gerade auch
durch Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit daran
gehindert wurden, ihre Angebote zu machen, sodass sie
letztendlich ihre Angebote nicht unterbreiten konnten.
Dann ist es für solche Bildungsunternehmen auch
schwer, sich auf dem Markt zu behaupten. Zu viel Staat,
zu viele Gesetze sind für diesen Markt nicht gut. Wir
müssen den Rahmen setzen und dafür sorgen, dass die
Qualität der Bildungsunternehmen gut ist, dass bei ihnen
die Qualität und die Zertifizierung stimmen.
({2})
Es ist aber nicht Aufgabe des Staates, zu verhindern,
dass Angebot und Nachfrage auf dem Bildungsmarkt
funktionieren.
({3})
Nun hat der Kollege Dieter Grasedieck für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wer die Zukunft gewinnen will, darf an der Bildung nicht sparen. Genau dies ist das Ziel dieses Gesetzes. Auch deshalb begrüßen die Gewerkschaften, die Industrie und das Handwerk dieses Gesetz. Eine solche
Kombination gibt es ja selten. Insgesamt geht es hier um
eine Steigerung von 60 Prozent. Jeder Jugendliche hat
eine Chance und bekommt eine Möglichkeit der Weiterbildung. Ältere Menschen können sich fit machen und
die Herausforderungen des Marktes annehmen. Die eigentliche Botschaft des Gesetzes lautet: Macht mit, eure
Qualifikation wird gefördert! Damit führt die Koalition
jetzt das fort, was Edelgard Bulmahn damals eingeführt
hat. Wir wollen durch solche Initiativen auch unseren
Status als Exportweltmeister erhalten.
({0})
Handwerk und Industrie suchen heute schon Facharbeiter, sie suchen händeringend Ingenieure und andere
Akademiker. Eine weitere Herausforderung, die man natürlich berücksichtigen muss, stellen die sinkenden Geburtenzahlen dar, was man in Deutschland besonders
deutlich sieht. Das bedeutet, dass es wesentlich mehr ältere und weniger jüngere Menschen gibt. Dies führt
dazu, dass wir unbedingt qualifizieren müssen. Auf der
anderen Seite gehen ältere Menschen natürlich auch in
Pension. Wir brauchen eine langfristige Planung. Für die
Qualifizierung ermöglichen wir durch diesen Gesetzentwurf eine langfristige Planung. Auch Betriebe und der
öffentliche Dienst müssen dies bieten. Es fehlt an der einen oder anderen Stelle, ist aber unbedingt erforderlich.
Unsere Betriebe brauchen qualifizierte Facharbeiter,
und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen
Qualifizierungsmöglichkeiten. Denn der Wissensstand
steigt. Tagtäglich kommen neue Patente hinzu. Die Arbeitsprozesse verändern sich dramatisch. Im Bereich der
kaufmännischen Arbeit sieht man das besonders deutlich. Der Informationsfluss ist heute wesentlich schneller. Schauen Sie sich einmal die Technik an. Vergleichen
Sie einmal den Beruf des Drehers von vor 15 Jahren mit
dem des Zerspanungsmechanikers von heute. Hier sieht
man besonders deutlich, dass man eine Qualifizierung
benötigt. Der Dreher hat eine handwerkliche Arbeit verrichtet, während der Zerspaner mehr und mehr eine theoretische Arbeit durchzuführen hat. Auch dieses Beispiel
zeigt: Wir brauchen eine kontinuierliche Weiterbildung.
Der Gesetzentwurf der Koalition bietet viele Qualifizierungsmöglichkeiten. Da kann man nicht von Stückwerk oder von Trippelschritten sprechen.
({1})
Das ist ein Gesamtkonzept. Ist es kein Gesamtkonzept,
wenn man die eigentlichen Probleme aufgreift, zum Beispiel den Mangel an Ausbildungsplätzen? Ausbildungsplätze für Jugendliche und für Altbewerber werden auch
dadurch gefördert, dass man die Existenzförderung mit
berücksichtigt. Das ist ein wichtiger Punkt. Ist es kein
Gesamtkonzept, wenn man die frühkindliche Erziehung
in den kommenden Jahren für entscheidend hält und deshalb eine bessere Qualifizierung der Erzieherinnen und
der Erzieher erreichen möchte? Ist es kein Gesamtkonzept, wenn man die Migranten berücksichtigt, wenn man
zum Beispiel den ausländischen Jugendlichen, die länger
in Deutschland leben, eine Weiterbildungschance, eine
Ausbildungschance bietet? Ist es kein Gesamtkonzept,
wenn die Seniorenbetreuung in den Blick genommen
wird?
({2})
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Hospizpflege muss
verbessert werden. Wir brauchen auch eine Verbesserung der Pflege der Senioren. Auch das ist in diesem Gesetzentwurf berücksichtigt.
Ein Punkt ist besonders entscheidend: Unsere Leistungsträger, unsere Stützen der Industrie und des Handwerks werden weiterqualifiziert. Die Ausbildung der
Meister, Techniker und Fachwirte wird ganz besonders
gefördert. Wir benötigen mehr Meister.
({3})
Denn eines muss man sehen: Meistermangel ist gleichzeitig Fachkräftemangel, und zwar aus dem einfachen
Grund, weil eine Ausbildung im Handwerk nur durch einen Meister durchgeführt werden kann. Deshalb brauchen wir in der Zukunft mehr Meister. Unsere Ausbildung wird in der Welt anerkannt. Unsere Meister werden
zum Beispiel in England, in Frankreich und auch in Österreich gesucht. Ist es kein Gesamtkonzept, wenn man
bei allen Weiterbildungsmaßnahmen die Familienkomponente berücksichtigt? Kinder werden unterstützt.
Ich meine, dass dies ein gelungener Gesetzentwurf
ist. Wir von der CDU/CSU und SPD haben ihn gemeinsam erarbeitet. Die Wissensexplosion, die eigentliche
Herausforderung des Jahrhunderts, erfordert lebenslanges Lernen. Dafür brauchen wir mehr Ausbildungsplätze. Die schleichende Dequalifizierung muss verhindert werden. Wir können das nur durch solche
Maßnahmen verhindern, wie sie hier aufgeführt wurden.
({4})
Nur so ist ein Wissensvorsprung erreichbar und erhaltbar.
Um Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit in der Welt zu erhalten, müssen wir unsere Facharbeiter und Ingenieure
qualifizieren. Deshalb brauchen wir dieses Gesetz.
Zusammenfassend kann man feststellen: Deutschland braucht auch in der Zukunft kreative, innovative
Fachkräfte. In der Vergangenheit haben unsere Facharbeiter, Ingenieure, Fachwirte, Techniker und Akademiker ihr Können längst bewiesen. Das Können und die
Fähigkeiten müssen weiterentwickelt werden. Das können wir durch die Qualifizierungsmaßnahmen, die wir
eingeführt haben. Nur so gewinnen wir die Zukunft.
Glück auf!
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Uwe Schummer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Liebe Frau Hinz, ich mag Sie. Ich muss Ihnen
aber sagen: Ihre Reden haben immer den Dreiklang:
Man sollte, man könnte, man müsste.
({0})
Der Punkt ist, dass die Große Koalition konkret und
Schritt für Schritt etwas im Sinne der beruflichen Bildung bewegt. Dafür steht auch die Reform der Aufstiegsförderung bzw. des alten Meister-BAföG.
Wenn man solche Reden hält wie Sie, Frau Hinz,
dann sollte man auch einmal in den Rückspiegel
schauen. Das erste Problem, das die Große Koalition zu
lösen hatte, war, dass Sie damals die agenturgeförderte
Weiterbildung, die Berufsorientierung und die Berufsberatung - teilweise durch die Hartz-Gesetze - in Grund
und Boden geschossen haben.
({1})
Das haben wir korrigiert. Das wird auch am Instrument
der Kurzarbeit deutlich. Wir wollen sie nicht nutzen, um
den Menschen eine Prämie dafür zu zahlen, dass sie zu
Hause bleiben; vielmehr wollen wir Kurzarbeit mit Qualifizierung und Förderung verbinden.
Ein weiterer Punkt. Ein Kernelement des MeisterBAföG ist der Meisterbrief. Im Rahmen der Handwerksnovelle 2004 konnte noch in letzter Minute, übrigens auch vonseiten der Union und des Handwerks,
durchgesetzt werden, dass neben der Gefahrengeneigtheit auch die Ausbildungsleistung im Handwerk für den
Erhalt des Meisterbriefes gewertet wird.
Herr Kollege Grasedieck hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Meisterbrief zur Lösung des Problems
des Facharbeitermangels beitragen kann; denn ein Meister bildet auch aus. Wir haben festgestellt: Dort, wo der
Meisterbrief weggefallen ist, beispielsweise bei den
Fliesenlegern oder bei den Parkettbodenlegern, hat die
Meisterkultur von 2005 bis zum letzten Jahr dahin gehend Schaden gelitten, dass nicht mehr 560 Meisterbriefe, sondern nur noch 90 Meisterbriefe pro Jahr ausgehändigt werden.
Das hat die Konsequenz, dass die Zahl der Betriebe in
diesen Bereichen um 342 Prozent gestiegen ist, dass aber
die Zahl der Ausbildungsplätze um 20 Prozent gesunken
ist. Fast alle diese Betriebe sind Ein-Mann-Unternehmen
bzw. Ein-Frau-Unternehmen, die in Konkurrenz zu Handwerksbetrieben mit sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen stehen. Über diesen Irrweg sollten wir miteinander und mit der Gruppe Wirtschaft im Sinne des
Meister-BAföG noch einmal diskutieren. Wir sollten
darüber nachdenken, ob wir an dieser Stelle eine Korrektur vornehmen können. Als es damals um diese Regelung ging, saßen die Grünen übrigens in der ersten Reihe
und waren an der Regierung beteiligt.
({2})
Sie haben Beifall geklatscht, als dieser Irrweg beschritten worden ist. Auch das gehört zur Wahrheit.
({3})
Im Handwerk gibt es mittlerweile 500 000 Auszubildende. Daran wird deutlich, dass es beim Handwerk nicht
nur um Wirtschaft geht - die FDP nickt freundlich -, sondern auch um eine Ausbildungskultur, die wir stärken
müssen und nicht schwächen dürfen. Das Potenzial unseres Landes ist nicht das Erdöl und sind nicht die Erze,
sondern qualifizierte und motivierte Menschen. Bildung
ist auch der Schlüssel zur Lösung sozialer und wirtschaftlicher Probleme. Weiterbildung bringt Beteiligungschancen für die Menschen, aber auch Beteiligungschancen für unsere Volkswirtschaft.
Schon heute wird uns vom Institut der deutschen
Wirtschaft prognostiziert, dass der deutschen Wirtschaft
aufgrund des Facharbeitermangels jährlich Aufträge in
einer Größenordnung von 18,5 Milliarden Euro verloren gehen. Dies zeigt, dass mangelnde Qualifikation bereits heute ein großes Wachstumshemmnis für die bundesdeutsche Wirtschaft ist. Hinzu kommt, dass der
Anteil der an unseren Hochschulen Studierenden, die
kein Abitur haben, bisher nur 2 Prozent beträgt. In den
skandinavischen Ländern liegt er bei über 20 Prozent.
Ich glaube, dass mehr Praktiker an den Hochschulen sowohl für die Universitäten als auch für unser Land gut
wären.
({4})
Im Übrigen ist die Aussage von Herrn Schneider, dass
ein 30-Jähriger, der aus der beruflichen Weiterbildung
kommt und im Anschluss daran eine Hochschule besuchen möchte, kein BAföG mehr bekommt - auch wenn
das in der Anhörung so gesagt worden ist -, falsch. Für
Studierende, die aus der beruflichen Weiterbildung kommen, gibt es Ausnahmeregelungen, sodass auch sie
BAföG beantragen können. Das ist ein wichtiger Punkt.
Er ist allerdings bereits Realität.
({5})
Bei dieser Reform geht es darum, das Meister-BAföG
weiter zu verbessern. Wir wollen konkrete Schritte nach
vorne machen, statt Fata Morganas aufzuzeigen. Wenn
durch die Verbesserung der Förderung die Zahl der Geförderten um 20 Prozent steigt, dann sind es mehrere
Zehntausend Menschen zusätzlich, die in den Genuss
von Meister-BAföG kommen.
({6})
Wenn wir statt der Darlehensleistung den Zuschuss bei
erfolgreichem Abschluss von bisher 30,5 Prozent auf
fast 48 Prozent verbessern, dann ist auch dies eine wichtige Hilfe für diejenigen, die diesen Weg beschreiten.
({7})
Ganz wichtig ist die Öffnung für Pflege- und Erziehungsberufe, ein Zukunftsfeld der Arbeit. Auch hier
schaffen wir Optionen. Erstmals können wir mit den
Ländern bundeseinheitliche Standards für Erziehungsund Pflegeberufe entwickeln.
Mut zum Risiko wird belohnt: Wenn ein Absolvent
zum Unternehmensgründer wird und ausbildet, sein
Wissen weitergibt, erhöht sich der Zuschuss, reduziert
sich der Darlehensanteil.
Dass nicht nur die erste, sondern eine Weiterbildung
gefördert wird, sorgt dafür, dass nicht derjenige bestraft
wird, diejenige bestraft wird, die aus eigenen Mitteln
oder mit einer anderen Finanzierung eine Weiterbildung
bereits absolviert hat.
Hinzu kommt die verbesserte Förderung von Familien und die Einbeziehung der Prüfungsphase.
Das Gesetz leitet also sehr konkrete, zielgerichtete
Schritte zur Verbesserung der Weiterbildung ein. Es ist
ein Beitrag der Großen Koalition zur Umsetzung der Beschlüsse des Bildungsgipfels mit den Ländern. Die nationale Bildungskonferenz, die in Dresden stattgefunden
hat und die sich die Aufgabe gestellt hat, darauf hinzuwirken, dass für Bildung und Forschung in den nächsten
Jahren öffentliche Mittel im Umfang von bis zu
10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes eingesetzt werden, sollte eine ständige Einrichtung werden,
({8})
weil damit die Koordination, das Zusammenwirken von
Bund und Ländern, sichergestellt werden kann.
({9})
- Ich sehe große Euphorie bei der SPD; das wird bei der
CDU/CSU sicher auch noch zunehmen.
({10})
Aufstiegsfortbildung ist ein Teil der vorhandenen
Instrumente, die wir, Christliche Demokraten und
Christlich-Soziale Demokraten und Sozialdemokraten,
miteinander geschaffen haben. Hinzu kommen die Stipendien für Berufsausbildungsabsolventen, die besonders exzellent sind; mehr als 15 000 Menschen werden
gefördert. Die Bildungsprämie ist mehrfach - auch kritisch - angesprochen worden; aber sie ist ein neues Instrument, ein Instrument, an dem wir weiter arbeiten
können. Hinzu kommt die Öffnung der Vermögensbildung - neben Bausparen und Produktivsparen - für das
Bildungssparen, hinzu kommen aber auch Weiterbildungsdarlehen und Langzeitkonten für Qualifizierungsphasen. Es gibt einen roten Faden.
Ich habe noch 0,3 Sekunden Zeit. Liebe Freunde, ich
möchte abschließen mit dem, was Ludwig Erhard in seinem Manifest ‘72 formulierte: Nicht Privilegien, sondern persönliche Leistungen legitimieren den beruflichen Aufstieg in der sozialen Marktwirtschaft. - Das ist
die Politik der Union.
({11})
In der gefühlten Zeit des Präsidiums hat der Kollege
Schummer die verbliebenen 0,3 Sekunden optimal genutzt.
({0})
Nun erhält als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Jörg Tauss das Wort.
({1})
Ihm stehen dafür sieben Minuten zur Verfügung.
Recht herzlichen Dank, Herr Präsident. - Meine lieben
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der SPD-Fraktionsvorsitzende hat diese Woche gefragt, ob uns nichts Schöneres
als „Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz“ eingefallen
sei. Wir haben darüber nachgedacht. Ich werde im Weiteren vom „Aufstiegs-BAföG“ reden. Ich glaube, dass
diese Formulierung, die analog zum Meister-BAföG ist,
dem Sachverhalt gerecht wird.
({0})
Was wir hier heute beschließen, ist, glaube ich, die
richtige Antwort auf die Krise, über die ja im Moment
viel diskutiert wird. Wir brauchen in Deutschland - das
ist festzustellen, egal wie tief das Tal ist oder in den
nächsten Jahren noch wird - Fachkräfte, mit denen wir
unseren wirtschaftlichen Erfolg - wir sind Exportnation
Nummer eins - fortsetzen können. Dieser wirtschaftliche Erfolg sichert erst die sozialen Leistungen. Insofern
ist das, was wir heute beschließen, in der Tat ein wichtiger Baustein.
({1})
Allen, die kritisieren, dass die Mittel nicht reichen
würden, will ich sagen: Auch die Maßnahmen, um die es
heute geht, stehen nicht für sich allein. Ich war letzte
Woche im Wahlkreis in Karlsruhe in einer Einrichtung
des Handwerks. 7 Millionen Euro wurden dort in den
Ausbau eines überbetrieblichen Ausbildungszentrums
investiert. Wir haben uns gestern in der Anhörung darüber unterhalten, wie wir im Rahmen des Konjunkturpakets etwas für Wohnungen für Studierende tun können,
die landauf, landab, insbesondere dort, wo viele Menschen studieren, gebraucht werden. Warum wird eigentlich gemäkelt? Wir haben die Leistungen des BAföG um
10 Prozent erhöht und die Freibeträge angehoben. Das
gibt vielen Menschen aus sozial schwächeren Familien
zusätzliche Chancen.
({2})
Lasst uns das einmal würdigen!
({3})
Vielleicht hat die schlechte Stimmung im Land, die wir
gelegentlich beklagen, auch damit zu tun, dass all das,
was wir hier tun, zerredet und nicht so rübergebracht
wird, wie es notwendig wäre.
154 Euro Prämie für die berufliche Weiterbildung!
Mein Gott, natürlich sind 154 Euro nicht furchtbar viel;
aber das ist ein bisschen mehr als 0 Euro, um das an dieser Stelle einmal deutlich zu sagen. Vorher gab es
0 Euro, jetzt gibt es 154 Euro.
({4})
Warum gibt es 154 Euro? Wir wollen damit ein Signal
setzen und den Menschen - beispielsweise den 20 Prozent der 6 Millionen Menschen, die zu den Volkshochschulen gehen, um sich dort beruflich fortzubilden - sagen: Leute, was ihr da tut, das ist nicht allein euer Privatvergnügen. Es ist toll, dass ihr das tut, und wir wollen
euch auch Anreize dazu geben. Wir zeigen, dass dieser
Staat, dieses Land, nicht nur darüber redet, dass wir qualifizierte Menschen brauchen, sondern wir wollen, dass
diejenigen, die etwas für ihre Fortbildung tun, auch etwas dafür bekommen, wenn es auch aus fiskalischen
Gründen noch nicht so viel ist, wie wir uns vorstellen
könnten.
({5})
Wir sollten hier etwas positiver über diese Dinge reden.
Das ist auch meine Bitte an Teile der Opposition.
Das gilt auch für den Rechtsanspruch auf einen berufsqualifizierenden Schulabschluss. Man kann fragen, warum jemand in hohem Alter eigentlich noch einen Schulabschluss nachholen soll. Das ist die
Voraussetzung dafür, dass so mancher einen Job bekommt. Das gilt gerade für die An- und Ungelernten, die
zum Teil keinen Schulabschluss haben. Sie können einem Arbeitgeber beweisen, dass sie noch in der Lage
sind, qualifiziert zu werden, etwas aufzunehmen, zu lernen und die betrieblichen Aufgaben zu bewältigen. Das
ist doch nicht nichts, sondern das ist im Grunde genommen eine zentrale Entscheidung für ein ganzes Leben,
die Chancen beinhaltet.
({6})
Heute haben wir in der Tat sehr viel über das Aufstiegs-BAföG geredet. Die Erzieherinnen und Erzieher
und die Pflege sind angesprochen worden. Christel
Humme, das ist eine gute Geschichte. Ich will noch einmal daran erinnern, dass ihr für diesen Bereich und dessen Verbesserung kämpft.
36 Prozent der Leistungen fließen weiterhin ins
Handwerk. Ich halte dies für richtig und wichtig. Kollege Schummer, was wir in diesem Bereich zusätzlich
tun, ist auch angesprochen worden: Wer diese Leistung
in Anspruch nimmt und einen zusätzlichen Ausbildungsplatz schafft - auch als Existenzgründer -, der bekommt
dies angerechnet und muss keine Leistungen zurückgewähren. Das ist also auch ein Anreiz, Ausbildungsplätze
zu schaffen. Sie geht also nicht nur darum, sich selber
weiterzubilden, sondern auch darum, das in der eigenen
Weiterbildung Gelernte an junge Menschen weiterzugeben. Auch das ist großartig.
({7})
Lieber Kollege Kretschmer, Sie haben hier schon ein
bisschen viel Wahlkampf betrieben. Das ist okay. Wir
beide sind ja Generalsekretäre unserer Parteien in unterschiedlichen Bundesländern. Insofern kann ich das nachvollziehen. Der Kollege Schummer hat mir aber besser
gefallen.
({8})
Ich habe Ihnen hoffentlich nicht geschadet, lieber Kollege Schummer. Sie haben ja gemerkt, dass wir auch bei
Ihnen geklatscht haben. Auch dem Kollegen Storm haben wir heute Beifall gezollt. Ich bedanke mich übrigens
beim gesamten Haus und bei allen, die dafür zuständig
waren, dieses Werk auf den Weg zu bringen.
Frau Kollegin Pieper, Ihnen wollte ich mich nun zuwenden. - Sie ist leider nicht mehr hier; das ist wirklich
jammerschade. Frau Flach, dann muss ich Sie anschauen.
({9})
Frau Kollegin Pieper hat heute kritisch gefragt, was
wir eigentlich mit den 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts tun. 7 Prozent wollen wir für Bildung ausgeben
und 3 Prozent für Forschung und Entwicklung. Das ist
doch ein tolles Ziel. Eines ist aber doch klar - das sollten
wir hier in aller Ehrlichkeit sagen, weil Sie gefragt haben, wie weit wir mit unserer Vereinbarung sind -: Das
bedeutet 50 Milliarden Euro mehr für den Bund pro Jahr,
hat also den Umfang des Konjunkturprogramms, das wir
gerade besprochen haben, und zwar jedes Jahr. Das
kommt doch nicht von irgendwo. Liebe Liberale, die ihr
euch so nennt, ihr müsst euch schon darüber im Klaren
sein, ob ihr diese 50 Milliarden Euro auf Pump finanzieren wollt - wenn dies gefordert wird, stimme ich zu oder ob ihr Steuersenkungen wollt. Ihr müsst mal sagen,
was ihr wollt.
({10})
Mit Steuersenkungen werden wir dieses 10-Prozent-Ziel
nie im Leben erreichen.
Liebe Kollegin Hinz, jetzt nehme ich Sie mir auch
noch ein bisschen vor. 52 Sekunden habe ich noch; der
Herr Präsident ist heute ganz großzügig. Bei Rot-Grün
war es nicht so, dass ihr Grünen bei der Weiterbildung
die Vorreiter wart. Ich sage das ganz zart und bedächtig.
Das können wir an anderer Stelle aber noch einmal ansprechen.
({11})
Wir wollen heute ja keine Schlechte-Laune-Beiträge abgeben.
Liebe FDP, Sie haben gesagt, wir würden mit der
Aufstiegsfortbildung etwas von der Wiege bis zur Bahre
fordern. Nein, das tun wir weiß Gott nicht. Für die
„Wiege“ brauchen wir keine Aufstiegsfortbildung und
auch keine Weiterbildung. Hierfür haben wir Maßnahmen ergriffen. Wir tun etwas für die Kindergärten und
für die Schulen. Wir wollen mit der Aufstiegsfortbildung
etwas für die Erwachsenen tun. Dies muss sinnvoll in ein
Erwachsenenbildungs- bzw. Erwachsenenfortbildungsförderungsgesetz eingebettet sein, egal wie es dann
heißt; dafür finden wir noch einen schönen Namen.
Heute wird mit unserem Aufstiegs-BAföG ein wichtiger
Schritt in diese Richtung gegangen. Wir sind stolz darauf, dass wir das hinbekommen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist ein wichtiges Signal, dass wir in diesem Lande etwas für die Weiterbildung tun, und zwar entgegen all denjenigen, die herummäkeln. Das dürfen sie zwar, aber ich mache dabei
nicht mit.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zunächst zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes.
({0})
- Sie haben nach unserer Geschäftsordnung die Möglichkeit, noch Anträge zur Veränderung des Titels dieses
Gesetzentwurfs zu stellen.
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf der Drucksache 16/11904,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/10996 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/
CSU, der SPD und der FDP bei Stimmenthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke mit breiter Mehrheit angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache
16/11914. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Entschließungsantrag abgelehnt.
Wir setzen die Abstimmungen mit der Beschlussempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 16/11904 zu
Tagesordnungspunkt 3 b fort. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11374 mit dem Titel „Verlässliche Bildungsförderung für Erwachsene noch in dieser Legislatur auf den
Weg bringen“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung
zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit breiter Mehrheit angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11202 mit dem Titel „Förderung des lebenslangen Lernens unverzüglich entscheidend voranbringen“.
Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Auch
diese Beschlussempfehlung ist mit breiter Mehrheit angenommen.
({1})
- Nachdem wir nun die Stimmenthaltung der Fraktion
Die Linke ordnungsgemäß ins Protokoll aufgenommen
haben, stelle ich Einvernehmen über meine Mitteilung
fest, dass auch diese Beschlussempfehlung mit breiter
Mehrheit angenommen worden ist.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel
Bahr ({2}), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad
Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Für ein einfaches, transparentes und leistungsgerechtes Gesundheitswesen
- Drucksache 16/11879 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Präsident Dr. Norbert Lammert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt 75 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Dann kann das als vereinbart gelten.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Heinz Lanfermann für die FDP-Fraktion das Wort.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fragt man die Bürger, wie sie unser Gesundheitssystem beurteilen, gibt es durchaus viel Lob, nämlich für
die vielen Menschen, die dort nicht nur ihre Pflicht tun,
sondern oft viel mehr und den Patienten helfen.
Die Gesundheitspolitik als solche wird jedoch kaum
gelobt und die zuständige Ministerin am allerwenigsten.
Das kann man auch gut verstehen: Für den höchsten
Zwangsbeitrag aller Zeiten gibt es immer schlechtere
Leistungen und längere Wartezeiten. In der Apotheke
gibt es mal dieses, mal jenes Medikament, je nachdem,
wer mit wem welchen Rabattvertrag geschlossen hat.
Bei den Hilfsmitteln gibt es große Probleme, und die
freie Arztwahl ist sehr gefährdet.
Vieles ist nur noch absurd.
({0})
Ein aktuelles Beispiel: SPD und Union haben gegen alle
Warnungen einen hoch komplizierten, morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich geschaffen und damit
bewusst die falschen Anreize gesetzt. Was ist das für ein
System, in dem Ärzte und Krankenkassen einen finanziellen Vorteil davon haben, dass die Menschen in den
Akten kranker als bisher eingestuft werden?
({1})
Das ist erstens eine Einladung zur Manipulation.
({2})
Zweitens stellt sich die Frage, ob Folgen für die Therapie - zum Beispiel bei einem Arztwechsel - wirklich
auszuschließen sind.
Oder denken Sie an die Honorarreform. Die Gesundheitsministerin verspricht 3 Milliarden Euro mehr
für ärztliche Behandlung, aber Tausende von Praxen bekommen erheblich weniger Geld. Frau Schmidt spielt
das Unschuldslamm und schiebt die Schuld auf Ärzte
und Krankenkassen. Die Selbstverwaltung soll schuld
sein. In Wahrheit macht sie ein schlechtes Gesetz und
mischt sich massiv in die Verhandlungen ein - das berichten alle, die dabei waren -, aber dann hat sie nichts
mehr damit zu tun. Nein, Verantwortung und Chaos haben einen Namen, Frau Schmidt.
({3})
Unser Gesundheitswesen ist krank. Es erstickt an der
Regulierungswut. Es gibt immer mehr Gesetze und Vorschriften, die keiner mehr versteht. Es ist alles viel zu
kompliziert. Im Gesundheitswesen hat sich Planwirtschaft breitgemacht: höhere Kosten, geringere Effizienz,
Dirigismus, Zuteilung und am Ende Mangel und Pleite.
Genau deswegen warten viele Menschen hoffnungsvoll
auf die nächste Bundestagswahl. Sie warten auf den Politikwechsel, auf die Umkehr weg von der Staatsmedizin.
Wir wollen den einzelnen Bürger, der jetzt Objekt eines aufgeblähten bürokratischen Systems ist, das seine
Beiträge verschlingt und verstreut, wieder in den Mittelpunkt stellen. Seine Bedürfnisse, seine Wünsche, seine
Wahlfreiheit als Kunde sind unser Maßstab für die Gesundheitspolitik.
({4})
Wir schützen seine Rechte, sehen aber auch seine Pflichten gegenüber den Mitbürgern. Er hat Rechte und Pflichten.
Die FDP sieht daher für alle Bürger eine gesetzlich
verankerte Pflicht zur Versicherung vor, die alles Notwendige abdeckt und gleichzeitig für jeden Bürger
Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet.
({5})
- Wenn Sie das lesen wollen, Frau Ferner, brauchen Sie
nur in den Antrag zu sehen, der hier diskutiert wird. - In
einem gesetzlichen Rahmen, der für alle gleich und fair
ist, können alle Krankenversicherungen ihre Erfahrungen und Kompetenzen einbringen und den Bürgern ihre
Angebote machen, unter denen dann jeder Bürger frei
wählen kann. An dieser klaren Ansage kann auch jeder
erkennen, dass die Behauptung, wir wollten die Krankenkassen abschaffen, wie hier und da zu lesen war,
schlichtweg falsch ist.
({6})
Sie erhalten vielmehr neue Möglichkeiten. Genauer gesagt: Wir befreien sie aus der Schmidt’schen Bevormundung.
Wir wollen selbstverständlich eine soziale Krankenversicherung, bei der denen geholfen wird, die ihren
Beitrag nicht oder nur teilweise aus eigener Kraft aufbringen können. Das ist vernünftige Sozialpolitik; sie
setzt dort an, wo Hilfe nötig ist, im Gegensatz zu der
angeblich sozialen Politik, bei der der Staat den Bürgern möglichst viel Geld abnimmt, um es dann wieder
höchst kompliziert zu verteilen. Wir wollen keine
Bürgerzwangsversicherung mit einer Einheitskasse à la
Schmidt.
({7})
Wir wollen drei Ziele erreichen. Erstens wollen wir
eine gesundheitliche Versorgung für alle Bürger, garantiert durch die Pflicht zur Versicherung und getragen
durch die Solidarität der Bürger.
({8})
Zweitens wollen wir die größtmögliche Freiheit für alle
Bürger mit einem Wahlrecht, zum Beispiel durch Eigenbeteiligungen selber Einfluss auf die Gestaltung ihrer
Krankenversicherung zu nehmen, und zwar stärker als
bisher. Damit erreichen wir drittens bessere Leistungen
für alle zu günstigeren Preisen;
({9})
denn es kann ein fairer Wettbewerb zwischen allen Anbietern stattfinden, die sich um den Gesundheitsbürger
als Kunden bemühen müssen.
Ich lade Sie zu dieser Diskussion ein und danke Ihnen
für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Zöller, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kollege Lanfermann, man kann mit einigen Zielen, die Sie angesprochen haben, einiggehen.
Aber die entscheidende Frage, wie Sie das alles finanzieren wollen, haben Sie nicht beantwortet.
({0})
Damit eines klar ist: Mit uns wird es eine Abschaffung
der gesetzlichen Krankenversicherung nicht geben.
({1})
Die deutsche Krankenversicherung ist ein Modell, das
aufgrund der Qualität, des Versorgungsgrades, des Ausmaßes der Leistungen sowie des Nebeneinanders von
gesetzlicher und privater Krankenversicherung weltweit
geachtet wird. Sie steht weltweit an erster Stelle. Nun
muss die Politik ihren Teil dazu beitragen, dass dies so
bleibt. Wenn jemand das System ändern will oder ein
neues System einführen will, muss er zuerst die Frage
beantworten: Welche medizinische Versorgung wollen
wir? Wollen wir rein wirtschaftlich vorgehen, oder
wollen wir mehr Menschlichkeit? Wollen wir mehr Freiberuflichkeit oder mehr Staatsmedizin? Wollen wir medizinischen Fortschritt für alle, oder wollen wir Ausgrenzung?
({2})
Um eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung zu gewährleisten, sind für uns grundlegende Elemente unverzichtbar. Dazu gehören an erster Stelle die
Solidarität und an zweiter Stelle die Freiberuflichkeit.
Letztere kann man durch Planungssicherheit, Beendigung
der Budgetierung - das haben wir bereits gemacht -, leistungsgerechtere Bezahlung, feste Preise und weniger
Bürokratie stärken. Aber alle müssen daran mitarbeiten.
Die freie Arztwahl ist für uns ein hohes Gut, genauso
wie die Beitragsfinanzierung. Man kann natürlich eine
Finanzierung allein über Beiträge als nicht zukunftsfähig
darstellen; das ist richtig. Aber eine Finanzierung ohne
Beiträge ist nicht krisenfest. Deshalb müssen wir zu einer vernünftigen Mischkalkulation kommen. Wir brauchen zudem mehr Transparenz. Wie ist der Geldfluss?
Wir treten dafür ein, dass die gesetzlich Krankenversicherten eine Rechnung bekommen, wenn sie zum Arzt
gehen. Auch das schafft mehr Transparenz. Schließlich
treten wir für die Selbstverwaltung ein. Allerdings
muss auch die Selbstverwaltung in schwierigen Zeiten
ihre Hausaufgaben erledigen.
({3})
Ich bestreite nicht, dass es innerhalb der gesetzlichen
Krankenversicherung eine Reihe von Problemen gibt.
Deshalb werden strukturelle Verbesserungen der Krankenversicherung sowie die Optimierung von Qualität
und Effizienz eine Daueraufgabe bleiben.
({4})
Ich halte es im Übrigen für eine Illusion, dass es bei der
Reform des deutschen Gesundheitswesens eine Wunderwaffe gäbe, die man nur realisieren müsste, um ein für
allemal Ruhe im System zu schaffen. Gestatten Sie mir
in diesem Zusammenhang eine Anmerkung: Wir können
uns in diesem System zu Tode reformieren. Wenn aber
die Moral der Beteiligten nicht stimmt, fahren wir alle
Sozialsysteme an die Wand.
({5})
Es ist ärgerlich, wenn zum Beispiel in einem Bundesland behauptet wird, ein Arzt bekomme im Quartal nur
30 Euro pro Patient. Die Ärzte sind dadurch verunsichert; das kann ich verstehen. Wenn man das aber auf
das Jahr hochrechnet und mit der Versichertenzahl multipliziert, dann kommt man auf einen Bedarf von
600 Millionen bzw. maximal 1 Milliarde Euro. Tatsächlich stehen dieser KV aber 2,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Angesichts dessen muss doch die Frage erlaubt
sein: Wo ist das Geld?
({6})
Es wird höchste Zeit, dass solche Widersprüche
schnellstens aufgeklärt werden, damit die Ärzte wieder
Planungssicherheit bekommen und damit die Verunsicherung der Patienten endlich aufhört.
({7})
Ich habe auch kein Verständnis dafür, wenn zum Beispiel Krankenkassen ihren Versicherten ein Wellnesswochenende anbieten und dafür mehr Geld erstatten, als
die Vergütung eines Arztes für die Behandlung über das
ganze Jahr beträgt. Das passt nicht zu einem solidarisch
finanzierten Gesundheitssystem.
({8})
Ich halte es ebenfalls für nicht richtig, wenn Ärzte
Krankenkassen drohen, ihre Versicherten niedriger einzustufen, wenn die Verträge nicht in ihrem Sinne abgeschlossen werden. Wir brauchen gerade in diesem
Gesundheitssystem mehr Ehrlichkeit und Ethik statt Monetik.
({9})
Ein weiterer Punkt. Pluralität ist für uns ein Garant
für Wettbewerb und Qualität; dies kommt bei den betroffenen Menschen an. Deshalb bekennen wir uns zu unserem System mit seiner Vielfalt und dem Nebeneinander
von gesetzlicher und privater Krankenversicherung. Die
zentrale Frage der Politik besteht doch darin, wie wir
Rahmenbedingungen so verändern können, dass die Akteure im Gesundheitswesen diesen Prozess möglichst
ohne ständige gesetzgeberische Begleitung gestalten
können. Die Diskussionen über die Finanzierung der
Krankenversicherung haben gezeigt, dass es ein Irrweg
ist, wenn man glaubt, ein System nur zentralistisch durch
den Gesetzgeber steuern zu können. Dies führt automatisch zu mehr Kontrolle, Bürokratie und immer neuen
Paragrafen. Die Politik sollte die Menschen nicht bevormunden und ihnen bis ins Detail vorschreiben, was sie
zu tun haben. Daraus ergibt sich nämlich eine falsche Sicherheit.
Die Menschen müssen allerdings auch mehr für ihre
eigene Gesundheit tun. Es gibt eine Fülle von Möglichkeiten und Angeboten zur Prävention von Krankheiten,
ob das die Krebsvorsorge ist, ob das die Zahnprophylaxe
ist oder ob das der Gesundheits-Check-up ist. Diese sollten und müssten mehr als bisher in Anspruch genommen
werden.
({10})
Wenn es stimmt, dass durch falsche Ernährung oder
durch mangelnde Bewegung ursächlich circa 30 Prozent
der Gesundheitsausgaben entstehen, dann brauchen wir
schnellstmöglich einen Bewusstseinswandel.
({11})
Jeder muss sich selbst fragen, wie gesundheitsschädigendes Verhalten eingeschränkt werden kann. Fehlende
Mundhygiene, Nikotinkonsum und mangelnde Bewegung sind nicht schicksalhaft. Hier kann jeder mehr für
sich tun. Dies kann aber kein Gesetzgeber vorschreiben;
er kann allenfalls finanzielle Anreize setzen.
Künftig wird es darauf ankommen, der Bevölkerung
die Alternativen aufzuzeigen: entweder die solidarische
Absicherung einer hochwertigen medizinischen Versorgung der großen Risiken und Übernahme von Eigenverantwortung bei kleinen Risiken und Selbstbeteiligung im
Gesundheitswesen oder eine Vollversorgung auf niedrigerem Niveau mit Leistungsausgrenzung und Reduzierung der medizinischen Versorgung; entweder ein freiheitliches Gesundheitswesen, in dem die Versicherten
ihre Krankenkassen, das Krankenhaus und ihren Arzt
frei wählen und sich für verschiedene Gestaltungsformen ihrer medizinischen Versorgung entscheiden können oder Bevormundung der Versicherten; entweder eine
flächendeckende und wohnortnahe ärztliche und fachärztliche Versorgung oder große Kliniken und zentrale
Versorgung.
Wenn alle am System Beteiligten ihr Handeln danach
ausrichten, wie man dem Patienten optimal helfen kann,
dann ist es mir um unser Gesundheitssystem nicht
bange.
({12})
Das Wort erhält nun der Kollege Frank Spieth für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Man kann der FDP-Bundestagsfraktion vorwerfen, was man will, aber eines mit Sicherheit nicht,
({0})
nämlich dass sie unehrlich in den Bundestagswahlkampf
geht und nicht klar ihre gesundheitspolitischen Vorstellungen für die nächste Legislaturperiode hier im Hause
auf den Tisch legt. Man kann sich bei ihr regelrecht dafür bedanken, dass sie heute mit diesem Antrag der Bevölkerung klar sagt: Wir wollen den Ausstieg aus der solidarischen gesetzlichen Krankenversicherung
({1})
und hinein in die Abdeckung der Gesundheitsrisiken
durch die Privatversicherung.
({2})
Allianz und Co. geben nicht nur Spenden, sondern lassen
hier auch grüßen. Sie verlassen mit Ihren Vorschlägen
nach unserer festen Überzeugung das Solidarprinzip im
Gesundheitswesen, in der gesetzlichen Krankenversicherung. Das wird von fast allen Akteuren, die sich mit
Ihren Vorschlägen in den letzten Tagen auseinandergesetzt haben, genauso gesehen.
Was mich dabei erstaunt, ist, dass Sie selbst - anscheinend aufgrund Ihrer guten Umfrageergebnisse mittlerweile soweit im Orbit gelandet sind, dass Sie jede
Bodenhaftung verloren haben, sogar zu Ihren eigenen
Wählerinnen und Wählern. 80 Prozent von diesen sagen
- nachzulesen im letzten Gesundheitsmonitor der
Bertelsmann-Stiftung -, dass Gesunde Kranke unterstützen müssen und dass Junge Alte in den Risiken unterstützen sollen. Außerdem sagen sie: Besserverdienende
sollen Schlechterverdienende unterstützen. Ich betone:
Für all diese Aussagen gibt es eine 80-prozentige Zustimmung, sogar bei den FDP-Wählerinnen und -Wählern.
({3})
Genau das missachten Sie mit Ihren Vorschlägen.
Damit Sie das nachvollziehen können - vielleicht
wissen Sie das selbst nicht -, möchte ich das einfach einmal an ausgewählten Punkten klarmachen.
Mit der von Ihnen geforderten Abschaffung der Krankenkassen als Körperschaften des öffentlichen Rechts
würde der Ausstieg aus der gesetzlichen Krankenversicherung herbeigeführt; die Risiken wollen Sie privat absichern lassen. Das ist Ihre eindeutige Botschaft. Das hat
mit Solidarität nichts mehr zu tun.
({4})
Sie wollen die Absicherung im Krankheitsfall über
leistungsgerechte Prämien. Sie sollten uns hier einmal
erklären - wir haben im weiteren Verfahren Gelegenheit
dazu -, was Sie mit „leistungsgerechten Prämien“ meinen. Meinen Sie das Kopfpauschalmodell der CDU mit
170 Euro für jeden Erwachsenen?
({5})
Oder meinen Sie, dass zwar im Mittel 170 Euro gezahlt
werden, dass die Versicherten aber pauschal einen risikobezogenen Vertrag abschließen? Das sollten Sie uns
und der Öffentlichkeit erklären. Ich meine, die Öffentlichkeit sollte wissen, was Sie vorhaben.
Tatsache ist: Wenn wir von jedem Erwachsenen eine
Prämie verlangen - ich will es einmal an dem alten
CDU-Modell klarmachen -, dann heißt das, dass in der
Krankenversicherung zukünftig pauschal für jeden Erwachsenen über 18 Jahre 170 Euro zu zahlen sind. Die
beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen
ohne eigenes Einkommen gibt es dann nicht mehr. Beispiel: Ein Kind in einem Dreipersonenhaushalt wird
nach Ihren Vorstellungen möglicherweise steuerfinanziert abgesichert, während ein bisher beitragsfrei mitversicherter Angehöriger, der kein eigenes Einkommen hat,
dann Krankenversicherungsbeiträge - 340 Euro - zahlen
muss. Das ist fast doppelt so viel, wie ein Krankenversicherter jetzt in der gesetzlichen Krankenversicherung zu
zahlen hat. Das ist die Realität hinter diesem Vorschlag.
Ich finde, das ist nicht nur unsozial, sondern asozial. Das
hat mit Solidarität nichts mehr zu tun.
({6})
Sie sagen, dass das Sachleistungsprinzip, das dem Patienten nach Zahlung der Krankenversicherungsbeiträge
einen freien Zugang zu den Gesundheitsleistungen bieten soll, durch das Kostenerstattungsprinzip ersetzt
werden soll. Das hört sich fantastisch an. Allerdings
weiß kaum jemand das vernünftig zu bewerten. Was
heißt das denn? Das heißt auf gut Deutsch: Wenn jemand
ein künstliches Hüftgelenk braucht, dann kostet das in
der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland
im Durchschnitt 15 000 Euro. Sie erwarten, dass ein Versicherter künftig diese 15 000 Euro vorlegt, also die
Rechnung des Leistungserbringers begleicht, und anschließend mit dieser Rechnung zur Krankenversicherung geht und sich dort diese Sachleistung erstatten lässt.
({7})
- So ist doch die Regel. Da können Sie reden, was Sie
wollen. Das steckt dahinter. Ihre Aufregung ist beredt,
meine Damen und Herren von der FDP.
({8})
Der Versicherte legt also vor und holt sich dann bei
der Krankenkasse einen Zuschuss. Der Versicherte weiß
in der Regel nicht, wie hoch dieser Zuschuss sein wird.
Das ist Abenteurertum. Das hat mit sozial verantwortlicher Politik überhaupt nichts mehr zu tun.
({9})
Ich könnte Ihnen eine Reihe weiterer Beispiele nennen.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die ja eher Ihr
Kampfblatt ist,
({10})
hat am 10. Februar sehr konkret und deutlich zu Ihrem
Antrag geschrieben: Man kann sich nur verwundert die
Augen reiben. Offenkundig hat die FDP nicht begriffen,
dass sie 2005 gemeinsam mit der CDU die Mehrheit verfehlt hat, weil sie schon damals mit derartig unsozialen
Konzepten in der sozialen Absicherung gestartet ist.
Ich glaube, das kapieren die Menschen in diesem
Land auch diesmal. Ich hoffe, dass Sie von Ihrem Höhenflug wieder auf den Boden kommen.
Danke.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Ferner, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Der Antrag, den Sie vorgelegt haben, sehr geehrte Herren und Damen von der FDP, zeigt, wes Geistes Kind Sie
sind. Sie wollen zurück zu einer Ellenbogengesellschaft, die wir eigentlich seit Bismarck überwunden haben, statt die elementaren Risiken, die wir in solidarischen Sozialversicherungssystemen abzusichern haben,
auch tatsächlich solidarisch abzusichern.
Was Sie hier vorlegen, ist eigentlich ein Zeugnis kollektiver Verantwortungslosigkeit.
({0})
Es ist im Übrigen - wenn man sich die Einzelpunkte anschaut, stellt man das fest; ich werde nachher noch darauf zu sprechen kommen - die Lizenz zum Gelddrucken für die Leistungserbringer.
({1})
Die Patienten und Patientinnen werden zum Spielball
der Leistungserbringer. Ihre Forderungen schaffen nicht
mehr, sondern weniger Transparenz.
({2})
Die Ausgaben für die Versicherten, insbesondere für die
Patienten und Patientinnen, werden mit Ihrem Konzept
in schwindelerregende Höhen steigen.
({3})
Sie wollen einen Sozialausgleich über das Steuerund Transfersystem. Das ist viel bürokratischer als das,
was wir schon heute zur Umverteilung im System der
gesetzlichen Krankenversicherung haben. Gleichzeitig
fordern Sie Steuersenkungen für die Spitzenverdiener.
Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses will Einsparungen bei den Ausgaben. Ich frage Sie ernsthaft: Wie
wollen Sie das finanzieren? Was Sie hier bieten, das sind
alles Luftnummern.
({4})
Sie verabschieden sich vom bisherigen gesellschaftlichen Konsens, nach dem im Krankheitsfall die Starken
für die Schwachen, die Gesunden für die Kranken, die
Jungen für die Alten und die Besserverdienenden für die
weniger gut Verdienenden einstehen. Ich glaube nicht,
dass Sie dafür hier irgendeinen Koalitionspartner finden
- zumindest war das aus den bisherigen Redebeiträgen
nicht zu ersehen - oder dass es dafür eine Mehrheit in
der Bevölkerung gibt.
({5})
Jetzt komme ich zu den einzelnen Punkten. In der
Nr. 1 des Antrags fordern Sie, dass die Krankenkassen
sich von Körperschaften öffentlichen Rechts zu Unternehmen mit sozialer Verantwortung wandeln.
({6})
Ich kenne keinen Rechtsbegriff, der da lautet „Unternehmen mit sozialer Verantwortung“. Die Krankenkassen
würden sofort dem normalen Insolvenzrecht unterliegen.
({7})
Was heißt das eigentlich für die Versicherten und für die
Leistungserbringer, Herr Bahr?
({8})
- Moment! Sie wissen ganz genau, dass es nicht das normale Insolvenzrecht ist,
({9})
sondern dass es durchaus Einschränkungen gibt,
({10})
sodass dann, wenn es um die Verteilung der Masse geht,
die Ansprüche der Versicherten und der Leistungserbringer absolut gesichert sind.
({11})
Das ist im normalen Insolvenzrecht nicht der Fall.
({12})
- Es scheint Sie sehr aufzuregen, dass ich auf die richtige Spur gekommen bin.
({13})
Außerdem frage ich mich: Wem sollen diese Unternehmen mit sozialer Verantwortung gehören, was passiert mit möglichen Gewinnen usw. usf.?
({14})
Was ist mit den Versicherten? Wer soll deren Rechte
wahrnehmen? Muss jeder Arzt dann mit jeder Kasse einen Vertrag schließen? Wie soll das praktisch funktionieren?
Sie fordern in der Nr. 1 auch, den RSA zu reduzieren.
Das heißt, Sie wollen weniger Gerechtigkeit im Gesundheitssystem, als wir mit dem Gesundheitsfonds geschaffen haben.
({15})
Das verzerrt die Wettbewerbsbedingungen und macht sie
nicht fairer.
({16})
Die Nr. 2 des Antrags betrifft das Thema „Verständlichkeit und Transparenz für alle Beteiligten“.
({17})
Sie wollen gesetzlich vorgegebene Budgets durch leistungsgerechte Preise ersetzen. Was heißt das? Das heißt
klipp und klar, dass die Ausgaben für die ärztliche Behandlung im ambulanten Bereich deutlich steigen werden. Wir reden dann locker von 4 bis 5 Milliarden Euro.
Sie wollen die Reduzierung der Zahl der Instrumente
im Arzneimittelbereich. Das bedeutet höhere Arzneimittelausgaben. Das bedeutet, dass wir noch einen Beitragssatzpunkt oder 1,5 Beitragssatzpunkte draufpacken müssen, damit die Ausgaben finanziert werden können.
Ich möchte an dieser Stelle auch noch etwas zu dem
sagen, was im Moment in den Praxen bezüglich der Bezahlung von Leistungen abläuft. Das Honorarsystem
und insbesondere die Verteilung des Honorars ist Sache
der Selbstverwaltung. Offensichtlich schafft es die
Selbstverwaltung in den einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen nicht, den Ärzten in den Praxen klarzumachen, wie viel sie am Jahresende wirklich aus dem Honorartopf zu erwarten haben. Von den Ärztinnen und
Ärzten, aber auch von den Krankenkassen erwarte ich,
dass dieser ganze Zoff nicht auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten ausgetragen wird.
({18})
Ich erwarte von den KVen, dass sie den Ärztinnen und
Ärzten, die in ihren Praxen Vorkasse verlangen oder die
behaupten, dass die Kassen bestimmte Behandlungen
nicht bezahlen, obwohl die Kassen sie natürlich bezahlen, aufs Eisen steigen. Von den Kassen erwarte ich, dass
sie für ihre Patienten eintreten und darauf achten, dass
die Verträge, die sie mit den KVen ausgehandelt haben,
auch eingehalten werden.
({19})
Frau Kollegin Ferner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lotter von der FDP-Fraktion?
Selbstverständlich.
Bitte schön.
Frau Kollegin Ferner, ist Ihnen bekannt, dass die
Selbstverwaltung gesetzliche Vorgaben erfüllen und umsetzen muss, also der Gesetzgeber den Rahmen schafft,
in dem die Selbstverwaltung tätig wird?
Sie sprachen auch von Gerechtigkeit. Finden Sie es
gerecht, dass zum Beispiel ein Augenarzt ein Regelleistungsvolumen von 17 Euro pro Quartal und Patienten
hat? Finden Sie es gerecht, dass Hausbesuche von mir
als Hausarzt grundsätzlich schon mit dem Regelleistungsvolumen abgegolten sind und nur Besuche außerhalb der Routine, also nur zu bestimmten Zeiten, extrabudgetär vergütet werden?
({0})
Zum einen ist in keinem Gesetz die Höhe dieser Vergütungen festgelegt. Zum anderen: Ja, wir haben den
Rahmen geschaffen, aber die Entscheidung darüber, wie
das ärztliche Honorar auf die einzelnen Arztgruppen verteilt wird - man kann ja durchaus auch fragen, ob es bisher gerecht verteilt worden ist -, obliegt allein den Kassenärztlichen Vereinigungen und der KBV.
({0})
Hierfür gibt es den Bewertungsausschuss; da wird über
all das diskutiert.
({1})
- Herr Lanfermann, Sie können gerne auch noch einmal
eine Zwischenfrage stellen, aber ich möchte Ihnen eines
sagen: Selbst Herr Köhler sagt durchaus - Sie kennen ja
wahrscheinlich den Brief von Herrn Köhler an die Ärzteschaft in Deutschland -, dass mehr Geld im System ist,
unabhängig davon, dass noch einige Probleme zu regeln
sind. Ich begreife nicht, dass die 3 Milliarden Euro, die
jetzt mehr im System sind, nirgendwo ankommen. Das
verstehe ich nicht, und das versteht auch niemand in der
Bevölkerung.
({2})
Weiterhin fordern Sie strikte Einhaltung der Subsidiarität. Sie sagen, Eigenverantwortung gehe vor Kollektivverantwortung und Unterstützung solle es nur für denjenigen geben, der nicht in der Lage ist, selbst für sich zu
sorgen. Das heißt übersetzt: Wenn jeder für sich selber
sorgt, ist für alle gesorgt. Das ist also das Motto der FDP.
({3})
Nächster Punkt: Beitragsgerechtigkeit. Die Einführung einer Kopfprämie - das haben wir im letzten Bundestagswahlkampf gesehen - wäre absolut ungerecht.
Die Leute akzeptieren das nicht, und zu Recht akzeptieren sie es nicht.
({4})
Das Beispiel, das Sie in diesem Zusammenhang anbringen, ist nun wirklich an Dümmlichkeit nicht mehr zu
überbieten.
({5})
Ich habe mir einfach einmal die Zahlen herausgesucht;
das liegt ja heute alles offen. Eine Bäckereifachverkäuferin im Westen zahlt bei einem Bruttoeinkommen von
1 399 Euro inklusive des Sonderbeitrags 114,72 Euro als
Krankenversicherungsbeitrag. Die Millionen von Generaldirektoren, die nach Ihrer Auffassung ja in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig versichert sein
sollen, würden monatlich inklusive Sonderbeitrag jeweils 301,35 Euro zahlen.
({6})
Selbst wenn die Ehegattin des Generaldirektors bei ihm
beitragsfrei mitversichert ist, ist es nach meiner Berechnung nicht so, dass die Bäckereifachverkäuferin die
Krankheitskosten des Generaldirektors mitfinanziert. Ich
weiß nicht, was Sie sich bei Ihrem Beispiel gedacht haben, aber auf jeden Fall ist es völlig daneben.
Weiterhin fordern Sie eine Kapitaldeckung. Das ist
eine alte Forderung.
({7})
Das hieße - das muss man den Menschen aber auch sagen -, dass jeder zusätzlich zu den Ausgaben und Aufwendungen für die Finanzierung der medizinischen
Leistungen noch etwas drauflegen muss, damit ein Kapitalstock gebildet werden kann.
({8})
Dass man sich traut, gerade in Zeiten einer Finanzkrise
({9})
den Aufbau von Kapitalstöcken zu fordern, ist irrwitzig.
Man sollte sich nur einmal vor Augen führen, dass verschiedene Pensionsfonds in ausgewählten OECD-Staaten im letzten Jahr nahezu 20 Prozent ihres Wertes verloren haben. Auch damit werden die Kosten nicht
verringert, sondern das ist eine zusätzliche Belastung.
Ich sage Ihnen: Die beste Absicherung ist, wenn Menschen für Menschen einstehen,
({10})
anstatt auf windige Kapitalstöcke zu setzen, die nicht
richtig kontrolliert werden und für kommende Generationen keine echte Vorsorge darstellen.
({11})
Dann kommt Ihr Lieblingsvorschlag: Planungssicherheit für Arbeitsplätze. Der Arbeitgeberanteil soll als
Lohnbestandteil ausgezahlt werden.
({12})
Das bedeutet, dass dieser Lohnbestandteil direkt der
Steuer- und Sozialversicherungspflicht unterliegt. Das
wiederum bedeutet, dass schon nach dem heutigen Modell für die Bezahlung des Krankenversicherungsbeitrages weniger Geld als bisher zur Verfügung steht
({13})
- natürlich stimmt das -,
({14})
es sei denn, Sie wollen - wie auch immer - die Steuern
senken.
({15})
Auf alle Fälle ist dieser Teil steuer- und sozialversicherungspflichtig.
({16})
Zur Sozialversicherung gehören nicht nur die Krankenversicherung, sondern auch die Arbeitslosenversicherung, die Rentenversicherung und die Pflegeversicherung, falls Ihnen das noch nicht bekannt ist. Das heißt
also: Es gibt nicht mehr Netto für alle, sondern weniger
Netto für alle.
({17})
Dann fordern Sie eine Zweckbindung für die Steuerzuschüsse. Man kann zwar Steuerzuschüsse politisch
binden, aber man kann sie nicht zweckbinden.
({18})
Das ist eben das System mit Steuern. Beiträge und Gebühren können Sie zweckbinden, aber keine Steuern. Da
gilt immer noch das Nonallokationsprinzip. Man kann
Steuerzuschüsse politisch binden. Aber Sie sind dabei
nicht davor gefeit, dass irgendwann andere Entscheidungen getroffen werden.
Ein anderer Punkt in Ihrem Antrag wird die Menschen zum Nachdenken bringen. Sie fordern die
Konzentration der obligatorisch durch die Solidargemeinschaft zu finanzierenden Leistungen auf das medizinisch wirklich Notwendige. Ich frage Sie: Was ist
denn medizinisch wirklich notwendig? Welche Leistungen der GKV sind denn heute nicht medizinisch wirklich
notwendig? Was heißt denn: Menschen sollen zunächst
einmal für sich selbst einstehen?
({19})
- Ich frage Sie: Welche Leistungen sind das? Das steht
nicht in Ihrem Antrag. Sie machen eine Politik nach dem
Motto: Jeder für sich und keiner für den anderen! Das ist
alles andere als solidarisch und wird nicht dazu führen,
den Zusammenhalt in der Gesellschaft wirklich zu stärken.
Unter dem Stichwort „Stärkung der Patientenautonomie“ wollen Sie eine gemeinsame Therapiefestlegung
zwischen Arzt und Patienten. Das ist schon heute so. Ich
kenne niemanden, der sich eine Therapie aufzwingen
lässt.
({20})
- Von Ärzten oder Patienten? In dem Fall sind Sie offenbar nicht da unterwegs, wo ich unterwegs bin. Aber was
Sie eigentlich meinen, ist, dass auch Therapien finanziert
werden sollen, deren Erfolg zumindest zweifelhaft oder
nicht wissenschaftlich erwiesen ist. Sie wollen solche
Therapien aus Geldern der Versichertengemeinschaft
teilfinanzieren und durch eine Eigenbeteiligung der
Patienten ergänzen. Das trägt aber nicht dazu bei, Geld
zu sparen, sondern das hat etwas mit zusätzlichen Kosten zu tun.
Ich frage Sie: Welcher Patient kann seinem Arzt wirklich auf Augenhöhe begegnen? Das, was wir in unseren
Bürgersprechstunden über IGeL-Praktiken hören, spricht
doch Bände.
({21})
Ich glaube, dass hinter dem Stichwort „Stärkung der
Patientenautonomie“ auf Ihrer Ebene etwas ganz anderes
steckt.
Sie fordern eine Stärkung des Verantwortungsbewusstseins auf allen Ebenen. Sie wollen, dass die Versicherten über die unbedingt notwendige Grundversorgung hinaus weitere Leistungen absichern. Sie können
aber schon heute weitere Leistungen absichern. Die
spannende Frage ist: Was ist die Grundversorgung? Die
heutige Grundversorgung umfasst das medizinisch Notwendige. Wenn Sie als Grundversorgung weniger als das
medizinisch Notwendige wollen, dann müssen Sie das
sagen. Was soll denn dann nicht mehr bezahlt werden?
Ist das die Hüftprothese für über 70-Jährige? Ist das die
Psychotherapie für misshandelte Kinder? Ist das die Entziehungskur für Drogenabhängige oder die Behandlung
von Freizeitunfällen? Was soll denn Ihrer Meinung nach
nicht mehr bezahlt werden?
Sie müssen auch erklären, wie die Menschen, die es
sich nicht leisten können, Zusatzversicherungen abzuschließen, diese Leistungen in Zukunft bezahlen sollen.
Sie wollen offenbar den Zugang zur Spitzenmedizin nur
noch denen ermöglichen, die dafür das Geld haben. Die
anderen können dann sehen, wie sie klarkommen. Das
ist aus meiner Sicht menschenverachtend.
({22})
Zum Sachleistungsprinzip und zum Kostenerstattungsprinzip ist eben schon etwas gesagt worden. Ich
sage dazu nur noch so viel: Man sollte sich einmal die
Verwaltungsausgaben bei der GKV und bei der PKV
anschauen.
({23})
Ausweislich der Zahlen des PKV-Bundesverbandes betrugen pro Versicherten die Verwaltungsausgaben im
Jahr 2007 370 Euro; in der GKV waren es 160 Euro. Das
hat auch etwas mit dem Kostenerstattungsprinzip zu tun.
Sie wollen intelligente Selbstbehalttarife. Das heißt
im Klartext: Jung und Gesund wählt den Selbstbehalttarif, Alt und Krank muss dafür mehr bezahlen. Das ist
wirklich intelligent, Herr Kollege Bahr.
Dann hatten Sie groß angekündigt: ohne Kontrahierungszwang,
({24})
ohne Altersprüfung, ohne Risikoprüfung und ohne Differenzierung nach dem Geschlecht.
({25})
Ausweislich Ihrer Homepage heißt es: „umlagefinanzierte Krankenversicherung abschaffen“. In Ihrem Antrag ist davon nichts zu lesen. Ich kann Ihnen nur sagen:
Mit diesem Vorschlag werden Sie mit Sicherheit keine
Unterstützung im Parlament oder bei den Bürgerinnen
und Bürgern finden.
({26})
Wir werden für die Bürgerversicherung kämpfen, damit wir ein solidarisch und zukunftsfähig finanziertes
Gesundheitswesen haben,
({27})
in dem Menschen für Menschen einstehen: die Jungen
für die Alten, die Gesunden für die Kranken und die, die
mehr Einkommen haben, für die, die weniger Einkommen haben. Ich wünsche Ihnen noch weitere vier Jahre
Spaß in der Opposition.
({28})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir blicken in dieser Republik auf 1,6 Billionen Euro Staatsverschuldung und auf 50 Milliarden Euro Neuverschuldung; weitere Kreditaufnahme ist nicht ausgeschlossen.
Und was macht die FDP? Sie fordert Steuersenkungen.
({0})
Aber das ist noch nicht alles. Heute legen Sie uns, Herr
Lanfermann, einen Antrag vor, dessen Realisierung für
den Bundeshaushalt zu Mehrausgaben weit im zweistelligen Milliardenbereich führen würde. Da fragt man
sich als Erstes: Haben Sie eigentlich den Verstand verloren?
({1})
Als Nächstes sagt man sich: Na ja, vielleicht doch nicht.
Die FDP wird sich schon etwas dabei denken. Sie denkt
an alle möglichen Gruppen im Gesundheitswesen. Sie
denkt an Ärzte, an Pharmaunternehmen, an private
Krankenversicherer und sicher auch an Arbeitgeber.
({2})
Versicherte tauchen bei Ihnen nur auf, wenn sie gut verdienen und gesund sind.
({3})
Menschen mit geringen Einkommen, Sozialleistungsempfänger und Kranke müssen Ihre Politik ausbaden,
denn sie interessieren Sie nicht.
({4})
Doch der Reihe nach. Die FDP will den sozialen
Ausgleich aus der gesetzlichen Krankenversicherung
herausschneiden. Statt einkommensabhängiger Beiträge
zahlt man dann - wie heißt es so schön? - „leistungsgerechte Prämien“. Die, die das nicht bezahlen können
- denn dass viele das nicht bezahlen können, wissen Sie -,
sollen „zielgerichtete Unterstützung“ erhalten. Was heißt
denn das? Das ist Prämiensubvention per Bundeshaushalt. Dazu allerdings, was das kostet, schweigen Sie sich
aus.
({5})
Aber es ist ja nicht so, als hätten wir nicht schon Erfahrung mit solchen Modellen und der Diskussion da22114
rüber. Blicken wir doch einmal zurück auf den letzten
Bundestagswahlkampf. Da waren es CDU und CSU, die
sich auf ein Kopfpauschalenmodell mit einem Steuermehraufwand von etwa 20 Milliarden Euro festgelegt
hatten. Das ist das Modell, das der Union jetzt wie Kaugummi unter der Schuhsohle klebt
({6})
und das sie verzweifelt loszuwerden versucht.
({7})
Aber was die FDP heute vorlegt, dürfte noch ein gutes
Stück teurer sein. Denn offenbar denken Sie nicht an den
Einheitsbeitrag, sondern an eine Prämie, wie sie derzeit
in der privaten Krankenversicherung üblich ist, eine sogenannte risikoadjustierte Prämie. Das heißt auf
Deutsch: Dort müssen Frauen, Alte und Kranke höhere
Beiträge zahlen als junge und gesunde Männer.
({8})
Weitet man diese Art der Beitragsfestsetzung auf die gesamte Bevölkerung aus, entsteht ein gigantischer Subventionsbedarf, sofern man gewährleisten will, dass alle
sich weiterhin eine Krankenversicherung leisten können.
Die genannten 20 Milliarden Euro für das Kopfpauschalenmodell der Union werden da bei weitem nicht ausreichen.
Hinzu kommt der ganze schöne Verwaltungsapparat,
der dadurch entsteht, dass alle, die diese Prämie nicht
zahlen können, Anträge stellen müssen. Es würden Anträge über Anträge gestellt. Dies wäre eine monströse
Bürokratie.
({9})
Gratuliere, FDP! Das ist wohl der Weg, den Sie wollen.
({10})
Tatsächlich ist es doch so: Angesichts der Rekordverschuldung wird jede Bundesregierung in den nächsten
Jahren die Aufgabe haben, die Konsolidierung des Bundeshaushalts ganz oben auf der Tagesordnung anzusiedeln. Wer aber in dieser Situation den Zugang weiter Bevölkerungsteile von ebendiesem Bundeshaushalt mit
Rekordverschuldung abhängig macht, stellt letztlich die
Gesundheitsversorgung von Millionen Menschen zur
Disposition. Wir hätten Jahr für Jahr im Bundestag darüber zu entscheiden, wie die Gesamtsumme der Subventionen ausfallen soll. Jedes Jahr würden wir wieder
überlegen, wie die steigenden Ausgaben für diese Zuschüsse im Bundeshaushalt unterzubringen sind. Das
würde natürlich ständig zu weiteren Leistungskürzungen
führen.
({11})
Es ist ja nicht so, dass die FDP gar nicht daran gedacht hätte; denn Sie wollen den Leistungskatalog in
der gesetzlichen Krankenversicherung auf das, wie es so
schön heißt, „medizinisch wirklich Notwendige“ begrenzen.
({12})
Was heißt das? Das medizinisch Notwendige entspricht
der Rechtslage in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Etwas anderes wird nicht bezahlt. Wenn Sie also vom
medizinisch „wirklich“ Notwendigen sprechen, dann
kann das nur als Drohung gemeint sein,
({13})
als Drohung nämlich, dass ganze Leistungsbereiche hinausfliegen werden.
Die FDP verschweigt lieber, welche das sein werden.
Man kann leicht ausrechnen, dass das mit dem Krankengeld anfängt. Dann geht es mit der gesamten Zahnmedizin weiter. Was als Nächstes kommt, darüber darf spekuliert werden. Das ist doch nichts anderes als ein riesiges
Abbruchunternehmen in der gesetzlichen Krankenversicherung.
({14})
Wer könnte so etwas nun attraktiv finden? Da gibt es
bestimmt welche. Zum einen die privaten Krankenversicherungsunternehmen. Ihnen erschließt sich auf einmal ganz umsonst ein großer Markt. Sie dürfen die
ganze Bevölkerung versichern, ohne irgendetwas an ihrem Geschäftsmodell ändern zu müssen. Für das, was
die Leute nicht bezahlen können, also die durch alte und
kranke Versicherte entstehenden Kosten, geht die Rechnung an den Bundeshaushalt.
Zudem freuen sich sicher die Arbeitgeber, wenn sie
an weiteren Steigerungen der Kosten im Gesundheitswesen nicht beteiligt werden, sondern dies nur zulasten der
Versicherten geht. Natürlich freuen sich auch solche
Ärztinnen und Ärzte, die in wohlhabenden Regionen
und Stadtteilen tätig sind; denn durch die Reduzierung
des Leistungskataloges auf das vermeintlich wirklich
Notwendige würde ja der Anteil der Leistungen wachsen, die man dann zu den höheren privatärztlichen
Gebührensätzen extra abrechnen kann.
Diesem Zweck dient ja auch Ihre Absicht, anstelle der
Sachleistung das Kostenerstattungsprinzip einzuführen und mit, wie Sie so schön sagen, „intelligent ausgestalteten Selbstbeteiligungslösungen“ zu verbinden. Das
lohnt sich für Ärztinnen und Ärzte mit zahlungskräftiger
Kundschaft. Nur die anderen schauen dann wiederum in
die Röhre.
({15})
Das heißt also: Die FDP umreißt in ihrem Antrag ein
Krankenversicherungssystem, in dem sich private Krankenversicherer, eine Ärztearistokratie und auch gutverBirgitt Bender
dienende und gesunde Versicherte so richtig wohlfühlen
können.
({16})
Das geschieht aber, Herr Lanfermann, zulasten derjenigen, für die die Krankenversicherung vor allem da sein
sollte:
({17})
für die Kranken, für die Geringverdienenden, für Menschen, die Sozialleistungen beziehen. Diese müssen bei
Ihnen nämlich damit rechnen, dass die Zuschüsse zu den
Krankenversicherungsbeiträgen gekürzt und ihre Leistungsansprüche ausgedünnt werden. In Zukunft müssten
sie sich vor jedem Arztbesuch überlegen, ob sie so viel
Geld haben, die Rechnungen vorab zu begleichen; denn
das Kostenerstattungsprinzip bedeutet ja nichts anderes.
Dazu kann ich nur sagen: Der derzeitige Zustand in USAmerika lässt grüßen. Das kann unser Weg nicht sein.
({18})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, hier
ein sehr ernsthaftes Wort: Sie fordern in Ihrem Antrag
die Abschaffung des Gesundheitsfonds.
({19})
Durch ihn werde die Krankenversicherung zu einem
Spielball wechselnder bundespolitischer Interessen.
Wohl wahr, Herr Kollege Bahr.
({20})
Was wird aber Ihr Antrag bewirken? Besteht Ihrer
Ansicht nach die einzige Alternative zum Gesundheitsfonds darin, das Solidarsystem vollständig abzuschaffen
und durch eine Privatversicherung zu ersetzen, die nur
für Teile der Ärzteschaft, für Versicherungskonzerne und
Gesunde attraktiv ist?
({21})
Das wäre eine Ewigkeitsgarantie für den Gesundheitsfonds; denn dann würde man sich für das kleinere Übel
entscheiden.
({22})
Machen wir uns doch nichts vor: Bei der Bevölkerung
in Deutschland genießt das Prinzip, dass man Beiträge
nach der eigenen Leistungsfähigkeit zahlt und man
Leistungen nach Bedarf bekommt - je nachdem, wie
stark krank man ist -, eine große Akzeptanz. Was wir tun
müssen, ist Folgendes: Wir müssen das Solidarprinzip
durch eine Ausweitung auf die jetzige Privatversicherung stärken und nicht schwächen. Die Bürgerversicherung ist die Alternative, nicht Ihr Modell.
({23})
Es wäre doch aberwitzig, wenn wir unser Krankenversicherungssystem ausgerechnet jetzt schleifen würden, wo
in den USA Barack Obama nicht zuletzt deswegen gewählt wurde, weil er eine Krankenversicherung für alle
versprochen hat.
({24})
Lassen Sie uns die Stärken des jetzigen Systems ausbauen und seine Schwächen abschaffen, indem wir uns
von der Zweiklassenmedizin, von der Trennung in gesetzliche und private Krankenversicherung, abwenden,
indem wir die Bürgerversicherung und damit gleiche
Spielregeln für alle einführen und das Ganze nachhaltig
finanzieren. Was wir nicht brauchen, ist Luxusmedizin
für wenige und Schrumpfmedizin für viele. Das ist nicht
unser Weg.
({25})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette WidmannMauz von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beschäftigen uns heute mit einem Antrag der FDP, mit
dem sie die Bundesregierung auffordert, das Fünfte
Buch Sozialgesetzbuch komplett neu zu fassen.
({0})
Im Grunde will die FDP also die gesetzliche Krankenversicherung in ihrem Kern abschaffen. Dazu sage ich
Ihnen: Das brauchen wir ganz bestimmt nicht.
({1})
Die Menschen in unserem Land haben die jüngste Reform in weiten Teilen noch nicht einmal richtig angenommen. Sie ist bei vielen auch noch nicht wirklich angekommen.
({2})
Die ersten Kinderkrankheiten sind noch nicht einmal
überstanden, da wollen Sie schon wieder alles umkrempeln, alles durchschütteln und erneut auf Weltreise gehen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Menschen
sind keine Objekte, die sich von Jahr zu Jahr, beliebig
oft, von der einen in die andere Ecke stellen lassen. Das
geht nicht. Die im Gesundheitswesen beschäftigten
Menschen und die Versicherten, die Patientinnen und
Patienten, haben eine Phase der Konsolidierung und der
Verlässlichkeit verdient. Auf dieser Grundlage muss das
System weiterentwickelt werden. Darum muss es gehen.
Wir dürfen nicht für Verunsicherung in unserem System
sorgen.
({3})
Sie reden zwar viel über Transparenz - darüber steht
auch viel in Ihrem Antrag -, aber Sie werden diesem Anspruch noch nicht einmal in Ihrem eigenen Antrag gerecht. Sie wollen die GKV abschaffen, das Gesundheitswesen komplett privatisieren und vereinheitlichen, Sie
wollen eine Bürgerversicherung mit einer Bürgerprämie, aber Sie trauen sich noch nicht einmal, das auszusprechen. Das kann ich mir erklären: Sie wollen allen
gefallen. Darum wählen Sie schöne Worte und reichen
das Kleingedruckte später nach. Vielleicht wollen Sie
auch nur kräftig wedeln, weil Sie wissen, dass die verantwortungsbewussten Menschen in diesem Land das
am Ende wieder austarieren und korrigieren werden.
Sie wollen die Privatisierung der Krankenkassen, einen einheitlichen Versicherungsmarkt, einkommensunabhängige Beiträge, und Sie sprechen von Kontrahierungszwang. Sie haben aber überhaupt nichts zur
Risikoeinstufung bei der Prämienkalkulation gesagt.
Für die Bürgerinnen und Bürger ist das aber eine entscheidende Frage; denn hier geht es darum, ob man trotz
Vorerkrankungen einen bezahlbaren Versicherungsschutz erhalten kann oder nicht. Oder habe ich Sie missverstanden?
({4})
Vielleicht wollen Sie ja gar keine Risikoeinstufung.
Dann wollen Sie also den PKV-Basistarif für alle? Den
haben Sie in letzter Zeit aber immer kritisiert. Was wollen Sie jetzt eigentlich?
({5})
Ich kann auch über andere Themen sprechen. Sie wollen einen Risikostrukturausgleich mit einfacheren Kriterien.
({6})
Die Morbiditätsorientierung kritisieren Sie. Jetzt sagen
Sie mir aber einmal, lieber Herr Bahr, welche Ausgleichskriterien Sie wollen. Wollen Sie nur Alter und
Geschlecht? Wollen Sie auf die Aufnahme von Krankheitskosten verzichten? Was schlagen Sie denn vor? Das
alte System hat doch gerade dazu geführt, dass der Run
auf die Jungen, gut Verdienenden und Gesunden ausgebrochen ist. Das führte am Ende dazu, dass mehr für
Wellnesswochenenden als für medizinische Behandlungen ausgegeben wird. Genau diese Themen waren also
falsch angesprochen. Morbiditätsorientierung ist richtig;
ein paar Krankheiten weniger tun es auch. Aber Sie bleiben jede Antwort schuldig, wie Sie es besser machen
wollen.
({7})
Sie reden zu Recht von mehr Kapitaldeckung;
({8})
aber Sie sagen überhaupt nichts dazu, wie und in welchem Umfang sie aufgebaut werden soll: kollektiv, individuell, im Bestand oder nur für die Neuzugänge, mit
welcher zusätzlichen Beitragsbelastung? Wir würden
gern von Ihnen einfach einmal hören, was bei Ihrem
Konzept auf die Menschen zukommen soll.
Sie sagen an einer anderen Stelle, Sie wollten das
Sachleistungsprinzip aufheben und über das Rechnungslegungsprinzip zum Kostenerstattungsprinzip kommen. Das hört sich wunderbar an. Sie sagen aber nicht,
dass damit jede Rechnung für alle Versicherten in unserem Land nach der privatärztlichen Gebührenordnung
gestellt wird. Sie sagen nichts darüber aus, was dies für
die Beiträge bedeutete, und Sie sagen schon gar nicht,
wie Sie die Kostenentwicklung im Griff halten wollen.
({9})
Sie wissen es eigentlich besser. Die Prämiensteigerungen im privatärztlichen System betrugen in den letzten
Jahren im Durchschnitt 10 Prozent pro Jahr. Wie wollen
Sie das finanzieren, wo sind Ihre Antworten an dieser
Stelle?
Es kann natürlich auch sein, dass Sie dies nicht wollen, weil Sie sagen, die Kostensteigerungen seien sonst
viel zu hoch. Aber dann müssen Sie hier schon eine ehrliche Antwort auf die Frage geben, ob Sie für die Öffnungsklausel in den Gebührenordnungen für Ärzte
und Zahnärzte sind. Dazu schweigen Sie sich aus. Schaffen Sie Klarheit; dann wissen auch Ihre Wählerinnen
und Wähler, was auf sie zukommt. Das aber tun Sie wieder einmal nicht.
({10})
Sie haben eine Hilfe für die sozial Schwachen vorgesehen, die die Prämien nicht mehr zahlen können.
Aber Sie sagen natürlich nichts darüber aus, bei welchem Eurobetrag die Zumutbarkeit endet und die Unzumutbarkeit beginnt. An welchem Prozentsatz des Einkommens wollen Sie das festmachen? Sie sagen hier
schon zum zweiten Mal nicht, woher Sie das Geld nehmen wollen und welche Milliardensummen Sie brauchen, und das in der größten Wirtschaftskrise, die unser
Land seit dem Zweiten Weltkrieg überhaupt erlebt.
Sie haben sich natürlich viele Gedanken darüber gemacht, woher das Geld kommen kann, und sprechen von
der Auszahlung und Festschreibung des Arbeitgeberbeitrags. Sie bleiben uns aber auch hier eine Antwort
auf die entscheidende Frage schuldig. Die Frage der Versteuerung ist aus meiner Sicht nicht entscheidend. Viel
entscheidender ist doch, wie Sie diese Beträge auch bei
neuen Verträgen und beim Arbeitgeberwechsel sichern
wollen. Wollen Sie, die Sie doch sonst die Vertragsfreiheit so hoch einschätzen, in die Tarifautonomie eingreifen? Wie wollen Sie denn dieses Niveau dauerhaft sichern? - Keine Antworten auf entscheidende Fragen, die
bei einem solchen Konzept gestellt werden müssen.
({11})
Ein weiteres Lieblingsthema der FDP ist der Leistungskatalog. Ich kann es wirklich langsam nicht mehr
hören. Sie reden - Frau Kollegin Bender hat schon darauf hingewiesen - wieder einmal von der Reduzierung
auf das „medizinisch wirklich Notwendige“. Was verstehen Sie denn darunter? Ist die palliativmedizinische Versorgung in den letzten Lebenstagen medizinisch wirklich
notwendig oder nicht? Ist die geriatrische Rehabilitation
medizinisch wirklich notwendig oder nicht? Ist die Behandlung von psychiatrischen Erkrankungen medizinisch wirklich notwendig oder nicht? Sagen Sie es uns!
Sie schlagen die Reduzierung des Leistungskatalogs vor.
Wir wollen wissen, wo und für welche Betroffenen.
({12})
Sie reden unter der Überschrift „Subsidiarität“, ein
wichtiges Prinzip, vor allen Dingen von der Eigenverantwortung der Patientinnen und Patienten, der Versicherten. Das Wort Selbstverwaltung im Gesundheitswesen habe ich in Ihrem gesamten Antrag nicht ein
einziges Mal gelesen. Haben Sie sie mittlerweile abgeschrieben?
({13})
Oder passt sie mittlerweile schon gar nicht mehr in Ihr
System, in dem nach Ihrer Vorstellung der freie Markt
und das freie Spiel der Kräfte alles regeln werden? Wir
wollen nicht, dass Krankenkassen in Zukunft den medizinischen Bedarf bestimmen. Wir wollen kein Herauskaufen, keine Rosinenpickerei, sondern wir wollen eine
flächendeckende Versorgung durch freiberuflich tätige
Fachärzte und durch Krankenhäuser. Ihre Vorstellungen,
Ihre Rosinenpickerei lehnen wir schlichtweg ab.
({14})
Ich will zum Schluss ein letztes Prinzip, das Ihnen
und uns wichtig ist - in vielen Zielen sind wir uns einig -,
herausgreifen.
({15})
Sie wollen mehr Vertrauen in das System bringen. Da
haben Sie recht. Das Misstrauen unter den Beteiligten ist
der Humus, auf dem die Bürokratie gedeiht. Das ist die
schwierigste Aufgabe. Denn Vertrauen in das System
können Sie weder durch Anträge noch per Gesetz verordnen, sondern es muss gegenseitig erarbeitet werden.
Darin besteht die große Bewährungsprobe für alle Verantwortlichen im Gesundheitswesen: für uns Politiker,
für Ärzte, für alle Leistungserbringer, für die Krankenkassen, für die Patientinnen und Patienten und Versicherten. Daran zu arbeiten, lohnt sich im Interesse der
Menschen in unserem Land.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Daniel Bahr von der
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und
Kollegen! Die Bürger verstehen nicht mehr, was im Gesundheitswesen vor sich geht.
({0})
Sie merken, dass die gewohnt gute Qualität der medizinischen Versorgung nachlässt.
({1})
In ihrer Apotheke erhalten sie einmal dieses, einmal jenes Arzneimittel, je nachdem mit welchen Firmen Rabattverträge abgeschlossen worden sind.
({2})
In den Krankenhäusern müssen sie zum Teil lange warten, bis jemand kommt, um ihnen zu helfen. Bei Hilfsmitteln dürfen sie nicht mehr zum Belieferer ihrer Wahl
gehen, sondern die Krankenkassen bestimmen, auf wen
sie zurückgreifen dürfen.
({3})
Die Patienten werden durch die Politik der schwarz-roten Bundesregierung gegängelt. Sie werden zunehmend
in eine standardisierte Schablone gepresst.
({4})
Die aktuelle Gesundheitspolitik raubt ihnen mehr und
mehr ihre Selbstbestimmung, gemeinsam mit ihrem
Therapeuten eine Behandlung zu vereinbaren, die bei ihnen den besten Erfolg verspricht. Das deutsche Krankenversicherungssystem ist durch die letzten Reformen der
schwarz-roten Bundesregierung, aber auch der rot-grünen Bundesregierung deutlich in Richtung eines zentralistischen staatsgesteuerten Einheitskassensystems verschoben worden.
({5})
Das letzte Reformgesetz hieß Wettbewerbsstärkungsgesetz. Da dachte man, dass mehr Wettbewerb das Ziel
war. Schauen wir uns einmal an, wie der Wettbewerb jetzt
aussieht. Sie haben einen Einheitsbeitragssatz für alle
Krankenkassen beschlossen. Den Wettbewerb um die Beitragsautonomie, um den Zusammenhang zwischen Beitrag und Leistung einer Versicherung, haben Sie kaputt
gemacht. Wir haben jetzt auf der Beitragsseite eine Einheitskasse, und auf der Leistungsseite ist es ähnlich.
({6})
Daniel Bahr ({7})
Denn was ist denn durch den Fonds passiert? Die
Krankenkassen haben Zusatzleistungen gestrichen:
Auslandsschutzimpfungen wurden gestrichen, Sozialpsychiatrievereinbarungen, Hausarztverträge und Onkologievereinbarungen wurden gekündigt. Das heißt, in
Wahrheit bringen Sie hier die Umsetzung der sogenannten Bürgerversicherung auf den Weg, also nichts anderes
als eine staatlich gelenkte Einheitskasse. Das ist die Politik, die Sie als Ministerin machen.
({8})
Hier wird gesagt, die FDP wolle unfairen Wettbewerb. Schauen wir uns einmal an, wie der Wettbewerb
aussieht, den Sie gestalten. Sie bewirken einen Wettbewerb, bei dem Krankenhäuser, Krankenkassen und Ärzte
ein Interesse daran haben, dass Deutschland - zumindest
statistisch gesehen - kränker wird. Denn dann bekommen sie mehr Geld. Das ist das perverse System, das Sie
geschaffen haben.
({9})
Es kommt nicht mehr Geld in der Versorgung an.
Heute lesen wir in der Zeitung - Sie sagen ja, dass Sie
mit dem Fonds einen Wettbewerb der Krankenkassen
geschaffen haben -, dass die Berliner jetzt ein Schreiben
der AOK Berlin bekommen, das ein schönes Angebot
enthält. Sie wollten ja einen Wettbewerb der Krankenkassen, eine bessere Versorgung erreichen.
({10})
In dem Schreiben heißt es, dass AOK-Versicherte in
Berlin vier Erholungstage im Viersternehotel Ramada
Wismar für nur 199 Euro buchen können; dabei würden
sie 100 Euro sparen. Die Barmer Ersatzkasse hatte für
ihre Versicherten - Sie wollten ja Wettbewerb der Krankenkassen untereinander - eine Angebotsaktion im Programm, in dessen Rahmen sie bei Karstadt satte Rabatte
auf Einkäufe bekamen.
({11})
Das hat nichts mit einem Wettbewerb um bessere Versorgung, günstigere Tarife und um innovative Lösungen
zu tun; in Wahrheit bereiten Sie hier die Einheitskasse
vor.
({12})
Das ist doch kein Wettbewerb um bessere Versorgung.
({13})
Dass Sie alle hier über die Auswirkungen der
Reform gar nicht sprechen wollen, dass Sie sich nur mit
unseren Ideen auseinandersetzen, zeigt, dass Sie ein
schlechtes Gewissen haben. Sechs Wochen nach der
Umsetzung des Gesundheitsfonds wollen Sie gar nicht
über die Fehler der Reform sprechen. Das spüren die
Leute. Warum gibt es denn Massendemonstrationen in
Bayern, Herr Zöller? Warum gibt es Unruhe in den Praxen, weil bestimmte Patienten nicht mehr das bekommen, was sie bisher bekommen haben, oder Zuzahlungen verlangt werden?
({14})
Das sind die Folgen der Politik, die Sie gemacht haben.
Davon wollen Sie ablenken.
({15})
Wir, die FDP, wollen ein Gesundheitssystem, bei dem
die Versicherten im Mittelpunkt stehen. Die Bürger müssen weitgehende Wahlfreiheit haben, wie sie ihren
Versicherungsschutz gestalten. Vertragsfreiheit, Therapiefreiheit und freie Arztwahl sollten selbstverständlich
sein.
({16})
Wir wollen ein leistungsfähiges Gesundheitswesen mit
mehr Wahlfreiheit, Wettbewerb und Eigenverantwortung.
({17})
Wir wollen nicht, dass die Verantwortung dafür an zentralistische staatliche Organisationen abgegeben wird.
Wir appellieren an die Eigenverantwortung der Versicherten. Dafür wollen wir die richtigen Anreize geben.
({18})
Frau Ferner, Sie haben viel über Solidarität gesprochen.
({19})
Auch für uns Liberale ist Solidarität eine wichtige Kategorie und eine Voraussetzung für ein leistungsfähiges
Gesundheitswesen.
({20})
Frau Ferner, wissen Sie eigentlich, dass Sie ein verkürztes Verständnis von Solidarität haben?
({21})
Eine Versicherung ist eine Solidargemeinschaft. Es ist
die Aufgabe einer Versicherung, zwischen den Kranken
und den Gesunden, die für die Kranken einstehen, einen
Ausgleich zu schaffen. Das tut jede Versicherung. Das
Solidarprinzip, das dem zugrunde liegt, und den solidariDaniel Bahr ({22})
schen Ausgleich zwischen Jung und Alt wollen wir natürlich beibehalten. Genau diese Solidarität machen Sie
kaputt.
({23})
Die Politik, die Sie betreiben, ist eine Politik zulasten
der kommenden Generationen. Sie schieben die Lasten
auf die kommenden Generationen und versprechen
mehr, als Sie halten können. Ich frage Sie: Wer soll das
in Zukunft bezahlen? Wenn Sie so vorgehen, wird es zu
Konflikten kommen.
({24})
Wenn die Beitragszahler in Zukunft vor der Entscheidung stehen, entweder Beiträge in Höhe von 25 Prozent
zu zahlen oder ihren Leistungsanspruch rationieren zu
lassen, werden sie die Solidarität aufkündigen. Frau Ferner, wer wird unter einer Politik, die diesem Verständnis
von Solidarität folgt, leiden? Wer wird unter einem Umlagesystem, das zur Folge hat, dass die Menschen von
der Hand in den Mund leben müssen, und mit dem die
Lasten auf die kommenden Generationen geschoben
werden, leiden?
({25})
Herr Kollege Bahr.
Lassen Sie mich diesen Gedanken bitte noch kurz zu
Ende führen. - Unter einem solchen staatlichen Einheitskassensystem werden nicht die Reichen leiden.
({0})
Sehen Sie sich einmal die Situation in Großbritannien
oder Spanien an.
({1})
Dort kann man beobachten, dass sich die Reichen eine
bessere Versorgung leisten können. Unter einer solchen
staatlichen Einheitskasse leiden die sozial Schwachen
und die Mittelschicht. Diese Menschen haben nämlich
keinen hinreichenden finanziellen Spielraum, um sich
eine Zusatzversorgung zu leisten.
({2})
Herr Kollege Bahr, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Bender?
Wenn Sie die Uhr anhalten, gerne.
Bitte, Frau Bender.
Herr Kollege Bahr, Sie sagten, die FDP wolle am
Solidaritätsprinzip festhalten.
({0})
Diese Aussage verträgt sich nicht mit dem Inhalt Ihres
Antrags.
({1})
Klären Sie mich bitte auf, wo die Solidarität bleibt,
wenn Sie den Ausgleich zwischen Gesunden und Kranken im Rahmen des Krankenversicherungssystems abschaffen! Das fordern Sie ja ausdrücklich. Sie wollen,
dass die Höhe der Prämien je nach Krankheit variiert.
({2})
Klären Sie mich bitte auch auf, wo die Solidarität
bleibt, wenn der Ausgleich zwischen Gering- und Besserverdienenden aus dem Krankenversicherungssystem
herausgenommen und auf die Ebene der steuerlichen
Subventionen verlagert wird!
Klären Sie mich bitte auch auf, was Sie im Generationenmaßstab unter Solidarität verstehen, wenn Sie angesichts der Rekordverschuldung des Bundes ein solch gigantisches Subventionsprogramm fordern!
({3})
Frau Kollegin Bender, vielen Dank für Ihre Fragen.
Sie geben mir nämlich die Möglichkeit, meine kurze Redezeit etwas zu verlängern, indem ich auf Ihre Fragen
eingehe.
Wir von der FDP wollen die Solidarität zwischen
Kranken und Gesunden, zwischen Jungen und Alten und
zwischen Einkommensstarken und Einkommensschwachen.
({0})
Aber die Frage ist: Muss diese Solidarität durch prozentuale Krankenversicherungsbeiträge gewährleistet werden? Ich frage Sie: Ist die Finanzierung der gesetzlichen
Daniel Bahr ({1})
Krankenversicherung bzw. ist der Einkommensausgleich gerecht?
Die Bäckereifachverkäuferin, von der Frau Ferner gesprochen hat,
({2})
zahlt mit ihrem prozentualen Beitrag zur gesetzlichen
Krankenversicherung - sie hat keine Wahlmöglichkeit,
sondern ist in der GKV zwangsversichert - für die Familie des Generaldirektors mit, der davon profitiert, dass
seine Familie mit mehreren Kindern kostenlos in der gesetzlichen Krankenversicherung mitversichert ist.
({3})
Der Einkommensausgleich, den Sie vorschlagen, ist
auf ein Lohneinkommen in Höhe von etwa 3 500 Euro
begrenzt.
({4})
Wir haben allerdings schon ein System, das für den Ausgleich zwischen Einkommensstarken und Einkommensschwachen da ist: das Steuer- und Transfersystem.
({5})
Wir brauchen keine neuen Systeme. Frau Bender, der
Gesundheitsfonds darf nicht zu einem neuen Finanzamt
werden, das die Mittel noch mehr als bisher umverteilt.
Dafür gibt es bereits Systeme. Beim Wohngeld zum Beispiel wurde bewusst ein System geschaffen, das dafür
sorgt, dass diejenigen, die die Unterstützung der Gesellschaft brauchen, diese Unterstützung auch erhalten. Jeder Einzelne trägt dazu in Abhängigkeit von der eigenen
Leistungsfähigkeit bei.
({6})
Das ist der Unterschied zwischen dem, was Sie wollen,
und dem, was wir wollen. Sie verfolgen mit Blick auf
die gesetzliche Krankenversicherung nicht das Ziel einer
gerechteren Einkommensumverteilung.
({7})
Gerechter ist unser Modell: Trennung von Beiträgen und
Versicherungsleistungen, Einrichtung eines Prämiensystems und Umverteilung von Einkommensstarken zu Einkommensschwachen dort, wo es treffsicher ist, nämlich
über das Steuer- und Transfersystem.
({8})
Sie haben im Zusammenhang mit der Solidarität zwischen Jungen und Älteren auch nach der Kapitaldeckung gefragt. Was die Kapitaldeckung angeht, Frau
Kollegin Bender, muss ich Ihnen ein Lob aussprechen.
Mit der Riester-Rente haben Sie in der Altersvorsorge
den Einstieg in die Kapitaldeckung gemacht. Die Frage,
die Sie mir stellen, ist nun: Wie kann diese Solidarität
zwischen den Generationen auf die Gesundheitsversorgung übertragen werden?
({9})
Was für die Altersvorsorge nicht falsch war - auf Kapitaldeckung zu setzen, weil wir eine alternde Bevölkerung haben -, kann doch auch für die Gesundheitsversorgung nicht falsch sein. Warum schaffen Sie nicht den
Erkenntnisgewinn, das auch auf die Gesundheitsversorgung zu übertragen?
({10})
Auch im Gesundheitssystem brauchen wir eine Kapitaldeckung.
Hier wurde pauschal und diffamierend von Amerika
gesprochen. Als ob wir amerikanische Verhältnisse wollten! Wir schlagen eine Pflicht zur Versicherung vor.
Jeder muss Anspruch auf eine Krankenversicherung haben. Es darf eben nicht so sein wie in Amerika, dass
viele gar nicht versichert sind.
({11})
Schauen Sie in die Niederlande - die Niederlande
sind nicht dafür bekannt, unsozial zu sein -: In den Niederlanden gibt es eine Pflicht zur Versicherung; übrigens
nur bei privaten Versicherungen.
({12})
Ich lebe im Münsterland; eine Fluchtbewegung von den
Niederlanden nach Nordrhein-Westfalen, weil das System in den Niederlanden als unsozial wahrgenommen
würde, kann ich jedoch nicht feststellen. Diffamieren Sie
dieses System also nicht!
({13})
Herr Kollege Bahr, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ich habe nur noch eine Minute und würde gerne
meine Punkte zu Ende ausführen.
({0})
Daniel Bahr ({1})
Ich glaube, ich bin bei der Beantwortung der letzten
Frage auf viele Punkte eingegangen.
Sie haben das Thema Kostenerstattung angesprochen. An diesem Thema sieht man, dass wir hier auch
eine gesellschaftspolitische Debatte führen. Es geht
nämlich um die Frage, wie viel Mündigkeit wir den Bürgerinnen und Bürgern zutrauen.
({2})
70 Millionen gesetzlich Krankenversicherte in Deutschland erhalten keine Arztrechnung, für sie ist nicht transparent, was für Leistungen sie nachfragen und wie diese
Leistungen abgerechnet werden.
({3})
Diese 70 Millionen Menschen dürfen aber Kreditverträge abschließen, dürfen Lebensversicherungen abschließen, ja sie dürfen sogar Kinder auf die Welt bringen und die Verantwortung für sie übernehmen.
({4})
Eine Arztrechnung zu prüfen und sie bei der Krankenversicherung einzureichen, trauen Sie ihnen jedoch nicht
zu. Daran sieht man, dass Sie von einem anderen Gesellschaftsbild ausgehen als wir.
({5})
Zu einem Krankenversicherungssystem gehören natürlich intelligente Selbstbeteiligungen. Sie haben die
Praxisgebühr eingeführt. Ist die Praxisgebühr eine intelligente Selbstbeteiligung? Es weiß doch keiner, wofür er
diese 10 Euro zahlt. Das ist eine Abkassiergebühr. Da
sagen die Versicherten zu Recht: Ich habe eben 10 Euro
gezahlt. Was machen Sie damit? Dafür will ich wenigstens geröntgt werden. - Wir brauchen eine Selbstbeteiligung, die in einem Zusammenhang steht. Nur wenn die
Versicherten Transparenz haben im Hinblick auf die
Leistungen, die sie nachfragen, werden sie bereit sein,
die Beiträge zu zahlen.
({6})
Insofern glaube ich, dass Ihre Modelle - Praxisgebühr, Einheitskasse, Gängelung; vor allem, Lasten immer weiter auf die kommenden Jahre zu schieben; ausufernde Bürokratie, die den Versicherten die Wahl- und
Therapiefreiheit nimmt ({7})
angesichts der Herausforderungen einer alternden Bevölkerung nicht die Lösung sind. Die Lösung ist die Umstellung auf Kapitaldeckung, ist das Setzen auf Eigenverantwortung mit einem sozialen Ausgleich für die, die
die Unterstützung der Gesellschaft brauchen. Genau das
schlagen wir Liberale vor.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich erteile dem Kollegen Dr. Faust das Wort zu einer
Kurzintervention.
Lieber Herr Kollege Bahr, eine Frage bleibt auch
nach dem ausführlichen Studium Ihres Antrages offen.
({0})
- Es bleiben viele Fragen offen; aber ich habe nur Zeit
für eine entscheidende Frage.
Wie halten Sie es mit dem Krankheitsrisiko des Versicherten? Möchten Sie in die Versicherung einen Risikobezug aufnehmen oder nicht? Ohne einen Risikostrukturausgleich kommen Sie bei der gesamten Problematik
nicht weiter. Entscheidende Punkte fehlen also in Ihrem
Antrag. Ich bitte Sie um Aufklärung, ob ein mit Krankheit belasteter Versicherter einen höheren Beitrag zahlen
soll als ein gesunder und, wenn nein, wie Sie es dann mit
dem Risikostrukturausgleich halten wollen und ob nicht
am Ende bezüglich dieser wichtigen Frage der normale
Basistarif, den wir in der privaten Krankenversicherung
schon eingeführt haben, Modell gestanden hat.
({1})
Herr Kollege Bahr, zur Erwiderung. Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Faust, wenn Sie den Antrag lesen, dann werden Sie dort die Antwort auf Ihre Frage
finden.
({0})
Wir haben den Risikostrukturausgleich nicht abgeschafft, sondern wir haben gesagt, dass er auf das notwendige Maß reduziert werden muss.
({1})
Das genau ist die Kritik, die wir an dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich üben, den Sie eingeführt haben. Sie haben ja die Idee: Je mehr Krankheiten
wir dabei berücksichtigen, desto gerechter wird das System.
An der jetzigen Umsetzung dieser Reform sehen Sie,
wie neue Ungerechtigkeiten entstehen, weil nur eine bestimmte Anzahl von Krankheiten in diesem Risikostrukturausgleich berücksichtigt wird.
({2})
Damit gibt es Krankheiten erster und zweiter Klasse,
weil die Krankenkassen plötzlich ein Interesse daran haben, nur diese Krankheiten, für die sie mehr Geld bekommen, zu berücksichtigen.
({3})
Daniel Bahr ({4})
Daneben haben sie plötzlich ein Interesse daran, möglichst viele Versicherte diesen Krankheitsbildern zuzuordnen, um mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zu erhalten. Das ist ja mein Vorwurf: Statistisch gesehen
machen Sie Deutschland durch diese Reform in Wahrheit kränker.
({5})
Hinsichtlich der Prämien haben wir klar gesagt, dass
unser Modell der dritte Weg zwischen der heutigen gesetzlichen Krankenversicherung und der heutigen privaten
Krankenversicherung ist. Unser Modell ist der dritte Weg
zwischen der sogenannten Bürgerversicherung - letztlich
der Einheitskasse - und einer einheitlichen Kopfpauschale. Mit unserem Modell sehen wir eine Pflicht zur
Versicherung vor, und jeder, auch derjenige mit einer
Vorerkrankung, hat einen Anspruch auf einen Versicherungsschutz zumindest im Umfang der Regelleistungen.
({6})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Ulla
Schmidt.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Bahr, ich hätte Ihnen gerne noch länger zugehört; denn je länger Sie reden, desto deutlicher
wird, was tatsächlich in dem Antrag steht. Zu Beginn
hatte ich schon befürchtet, Sie würden nicht über den
Antrag reden, weil Sie lieber darüber schweigen, was damit im Einzelnen verursacht wird.
({0})
Auch Ihre letzte Antwort ist sehr bezeichnend. Sie sagen, jeder werde versichert, aber auf die Frage des Kollegen Faust, ob es risikoadjustierte Prämien gibt, haben Sie geschwiegen.
({1})
Wohin risikoadjustierte Prämien führen, die für Menschen, die eine Vorerkrankung haben, nicht mehr bezahlbar sind, kann ich Ihnen überall auf der ganzen Welt zeigen.
({2})
Herr Kollege, dadurch wird deutlich, was die FDP will
- das hat sie klar gesagt -,
({3})
nämlich eine Spitzenmedizin für Wohlhabende und eine
Armenversorgung für das Volk. Das ist und bleibt Ihre
Devise in der Gesundheitspolitik.
({4})
Gelernt haben Sie auch nichts. In der Vorbereitung zu
dieser Debatte fiel mir ein Interview Ihres Vorsitzenden
vom 11. Dezember 2008 im Stern ein. Dort wurde Herr
Kollege Westerwelle gefragt:
Ist Ihr Weltbild durch die Finanzkrise auf den Kopf
gestellt worden?
Antwort: „Nein“. - Es wurde weiter gefragt:
Die freien Finanzmärkte kollabieren - und für den
Marktanhänger Westerwelle ändert sich nichts?
Antwort: „Nein“.
Mit Ihrem Antrag, einen Angriff auf die gesetzliche
Krankenversicherung zu starten und die gesamte Gesundheitsversorgung in ein kapitalgedecktes System zu
überführen, zeigen Sie, dass Sie nichts gelernt haben,
nicht einmal in Zeiten, in denen alle Menschen merken,
dass man dem Kapitalmarkt nicht alles anvertrauen
kann.
({5})
Das, was Sie hier vorlegen, ist ein Angriff auf das Herzstück unseres Sozialstaates;
({6})
denn die medizinische Versorgung für alle, also unabhängig vom Einkommen, zeichnet unseren Sozialstaat
und auch das europäische Modell aus. Sie wollen hier
das bisherige amerikanische Modell einführen. Ich
bleibe dabei.
({7})
Frau Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bahr?
Nein.
({0})
Wenn man Sie fragt, was Sie eigentlich dazu treibt,
dann müssten Sie sagen, dass das die Interessen Ihrer
Klientel und derjenigen sind, die Sie wählen. Die Sorge
um die Patientinnen und Patienten kann das aber nicht
sein. Dabei geht es auch nicht um Kostenerstattung oder
um Rechnungslegung. Wir alle haben nichts gegen
Rechnungslegung. Wir haben ein neues, transparentes
System eingeführt
({1})
und wollen auch, dass die Versicherten wissen, was eine
Leistung kostet. Das bewirken wir im Moment durch die
Umstellung des Honorarsystems. Wir wollen aber nicht
das Kostenerstattungsprinzip, Herr Kollege.
({2})
Liebe Kollegen von der FDP, eines ist auch klar:
Heute hat jeder Bürger und hat jede Bürgerin in
Deutschland Zugang zu einer medizinischen Versorgung
auf der Höhe des medizinischen Fortschritts, und zwar
durch die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung.
Wenn Sie das Kostenerstattungsprinzip wollen, dann
sagen Sie den Menschen doch auch, was das bedeutet.
Das heißt, die Kreditkarte zu zücken, wenn man zum
Arzt geht. Etwas anderes ist das nicht.
({3})
Man muss die Rechnung bezahlen und sich dann mit der
Versicherung darüber streiten, was erstattet wird und
was nicht erstattet wird. Deshalb wird zu Recht von denen, die gegen Ihre Vorschläge sind, die Frage aufgeworfen, wie denn ein Durchschnittsverdiener in Deutschland, dessen Verdienst bei rund 1 700 Euro netto liegt,
eine Transplantation bezahlen soll. Soll er mit bis zu
30 000 Euro für einen Herzschrittmacher in Vorleistung
treten? Muss man erst bezahlen, bevor man ins Krankenhaus gehen darf? Was alles muss sonst noch vorgelegt
werden?
Nein, die Spitzenmedizin und die medizinische Versorgung für alle in Deutschland funktioniert nur deshalb,
weil Menschen diese Leistungen erhalten, ohne dass sie
in Vorleistung treten müssen.
({4})
Sie von der FDP wollen ein bewährtes System zerschlagen. Gleichzeitig gehen Sie in der derzeitigen
Situation einen weiteren Schritt, indem Sie den Bereich
der Gesundheitsversorgung den Risiken der Finanzkrise
aussetzen wollen. Wir sind sehr froh darum, dass unser
Gesundheitssystem sehr unanfällig für diese Krise ist.
Sie hingegen holen die Krise rein. Wir könnten dann in
eine Situation wie in den USA kommen, wo heute Rentnerinnen und Rentner um ihre Rentenansprüche aus der
Kapitaldeckung bangen müssen.
Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir
werden mit dem ganzen Herzblut kämpfen, das wir haben: Menschen für Menschen. Das hat nichts damit zu
tun, dass man von der Hand in den Mund lebt.
({5})
Sondern das hat etwas damit zu tun, dass nur die Solidarität aller, die Solidarität der Jungen mit den Alten, die
Solidarität der Gesunden mit den Kranken, die Solidarität derer, die mehr haben, mit denen, die weniger haben,
dafür sorgt, dass die Frage, wo man eine gute Versorgung bekommt, wenn man krank ist, nicht davon abhängt, ob man viel Geld oder wenig Geld hat. Das werden wir nicht zulassen. Wir werden dafür streiten, dass
dieses System in unserem Land erhalten bleibt, weil es
das Kernstück ist.
({6})
Frau Ministerin, erlauben Sie jetzt eine Zwischenfrage?
Lassen Sie mich jetzt weiter zur Sache sprechen.
Wenn Sie die Kollegen persönlich ansprechen, dann
sollten Sie ihnen auch eine Zwischenfrage erlauben.
Gut. Das ist Ihr Kollege. Ich verstehe das, Herr Präsident.
({0})
Vielleicht darf man aber auch eine Rede zu Ende halten. - Bitte schön.
({1})
Das hat damit nichts zu tun, Frau Kollegin.
({0})
Sie wissen das. Wenn Sie persönlich ansprechen, sollten
Sie auch eine Zwischenfrage erlauben.
Ich hatte die FDP angesprochen. Aber bitte.
({0})
Herr Kollege Lanfermann.
({0})
Frau Ministerin, stimmen Sie mir zu, dass es in
Deutschland circa 8 Millionen Menschen, darunter circa
4 Millionen Beamte, gibt, die privat versichert sind, von
denen die meisten keineswegs Großverdiener sind, sondern Menschen mit ganz normalem oder oft sogar geringem Einkommen, die alle nicht nach dem Sachleistungsprinzip, sondern nach dem Kostenerstattungsprinzip
behandelt werden? Das heißt, diese Menschen bekommen Rechnungen, die sie prüfen und einreichen können.
Ist Ihnen bekannt, dass diese Menschen vor teuren
Behandlungen, deren Kosten sie schlecht verauslagen
können, eine entsprechende Anfrage bei ihrer Versiche22124
rung einreichen können und die Versicherung dann Kostendeckung zusagt und die Kosten übernimmt, sodass
keineswegs - wie es vorhin schon falsch behauptet worden ist - Menschen über ihre Leistungsfähigkeit hinaus
in Vorleistung treten müssen?
({0})
Sind Sie deswegen etwa der Meinung, dass diese Millionen von Bürgern in Deutschland jetzt in Armut verfallen oder geknebelt sind durch ein System, das Sie den
anderen 70 Millionen Menschen vorenthalten wollen?
({1})
Herr Kollege Lanfermann, bevor ich Ihnen antworte,
möchte ich mich zunächst bei dem Herrn Präsidenten
entschuldigen. Das war vorhin nicht in Ordnung.
Herr Kollege Lanfermann, sicher werden auch Sie in
Ihrer Eigenschaft als Abgeordneter deswegen angeschrieben. Ist Ihnen bekannt, dass es viele Menschen
gibt, die privat versichert sind, ihre Rechnungen einreichen und dann feststellen, dass das eine oder andere
nicht von der Versicherung bezahlt wird? Das nimmt immer mehr zu.
({0})
Wie wäre denn die Situation, wenn wir das flächendeckend einführen würden? Wie viele Menschen würden
erst gar nicht zum Arzt gehen, weil sie die Rechnung bezahlen und anschließend einreichen müssen, aber nicht
wissen, was sie zurückbekommen?
Ein System, wie wir es haben, ist wirklich ideal. Dabei geht es nicht darum, dass wir nicht die Transparenz
haben, dass der Versicherte weiß, welche Kosten entstehen. Mit der Transparenz habe ich kein Problem. Ich will
sie, und auch die Menschen wollen sie. Es geht darum,
dass man nicht in Vorleistung treten muss, sondern sicher sein kann, nach einer Krankenhausbehandlung
nicht anschließend eine Rechnung seiner Krankenkasse
oder des Krankenhauses zu bekommen, weil die Krankenkasse sie nicht bezahlt hat. Das ist ein Herzstück der
gesetzlichen Krankenversicherung. Daran wollen wir
nichts ändern; denn es ist die Voraussetzung dafür, dass
wir die nötige Infrastruktur und eine medizinische Versorgung haben, an der jeder unabhängig vom Alter teilhaben kann.
({1})
- Denn sonst muss man die Kreditkarte zücken.
({2})
Wie sähe es denn bei den Ärzten aus, wenn nicht nur
10 Prozent der Patientinnen und Patienten, sondern
100 Prozent privat versichert wären? Wie sähe es dann
mit der Vorkasse aus, wenn man schon jetzt glaubt, Vorkasse einführen zu können? Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie das aussähe. Dafür brauche ich nicht viel Fantasie. Dann würde von Kunden, von denen ein Arzt
befürchtet, sie könnten das Geld für die Behandlung
nicht aufbringen oder das Geld von der Versicherung
würde nicht beim Arzt ankommen, Vorkasse verlangt,
ehe die Behandlung stattfinden kann. Das wollen wir
nicht.
({3})
Wir werden mit unserer ganzen Kraft dagegen kämpfen,
dass so etwas in diesem Land eine Mehrheit findet. Denn
das wäre das Ende unseres Sozialstaats.
({4})
- Das ist die Antwort auf Ihre Frage.
({5})
- Für die Beamten gilt das auch. Bekommen Sie solche
Briefe nicht? Die Beamten haben aber zumindest die Sicherheit, dass sie die Beihilfe bekommen.
Sie wollen ein ganzes Land privat mit risikoadjustierten Prämien versichern. Sie wollen Kapitaldeckung
einführen. Rechnen Sie das einmal hoch! Heute hat die
PKV für 10 Prozent der Versicherten Altersrückstellungen in Höhe von 130 Milliarden Euro. Das muss man
auf 82 Millionen Menschen hochrechnen. Dann kommt
man bis auf zu 2 Billionen Euro. Wo sollen die 2 Billionen Euro denn angelegt werden? In Deutschland, bei
Lehman Brothers, oder was schlagen Sie vor?
({6})
Wo soll das Geld denn hin? Nach Island? Ich kann das
noch weiter ausführen. Wenn Sie mit diesem Geld die
deutsche Industrie aufkaufen wollen, so könnten Sie damit alle Dax-Unternehmen fünfmal bezahlen. Kommen
Sie auf den Boden der Tatsache zurück! Die Kapitaldeckung können wir in der Gesundheitsversorgung nicht
gebrauchen. Klar ist auch: Selbst in den USA kommt
keiner - nicht einmal die Republikaner - auf die Idee,
die Kapitaldeckung in der Gesundheitsversorgung einzuführen. Das sollte Ihnen zu denken geben.
({7})
Ein anderer Punkt: Unsere gesetzliche Krankenversicherung, die bald 126 Jahre alt wird, ist gegründet worden, um Menschen gegen Lohnausfall bei Krankheit
abzusichern und eine gute Versorgung der Versicherten einschließlich der Familien für den Fall, dass ihr Ernährer krank wird, im Krankheitsfall sicherzustellen. Die
gesetzliche Krankenversicherung hat sich bewährt. Sie
hat zwei Kriege überstanden.
Die gesetzliche Krankenversicherung hat auch bei der
deutschen Wiedervereinigung dafür gesorgt, dass die
Menschen über Nacht versichert waren. Was glauben
Sie, wie die privaten Krankenversicherungen dies geschafft hätten, wenn sie für 15 Millionen Menschen private Versicherungsverträge hätten abschließen müssen?
Was wäre dann mit der Kapitaldeckung gewesen? Was
hätten Sie gemacht, um dies zu finanzieren? In Ihrer Regierungsverantwortung sind auch die Gelder der Sozialkassen dazu herangezogen worden, die deutsche Einheit
zu finanzieren. Man kann vieles glauben. Aber dass Sie
damals die Rücklagen der privaten Krankenversicherung
für die Finanzierung eingesetzt hätten, wie man es bei
den sozialen Sicherungssystemen gemacht hat, glaube
ich Ihnen nicht.
({8})
Ich bin sehr froh über Ihren Antrag, weil damit noch
einmal deutlich wird, worin wir uns unterscheiden.
({9})
Unsere Politik setzt auf Solidarität statt auf Ausgrenzung. Wir wollen, dass Menschen füreinander einstehen,
statt dass jeder für seine individuellen Lebensrisiken privat einstehen soll. Wir wollen nicht, dass das Guthaben
auf der Bank entscheidend dafür ist, ob man eine gute
medizinische Versorgung erhält. Was Sie in Ihrem Antrag fordern, führt - es wurde bereits angesprochen weg von dem, was unseren Sozialstaat auszeichnet, und
was ihn für die Menschen in der ganzen Welt - auch für
Gesundheitsökonomen und Mediziner - so attraktiv
macht, die sich anschauen, wie es die Deutschen schaffen, dass wir eine gute medizinische Versorgung haben.
Es handelt sich um eine einzigartige Infrastruktur, die es
nur deshalb gibt, weil die gesetzliche Krankenversicherung mit ihren Verträgen dafür sorgt.
({10})
Unser Weg ist anders als Ihrer. Wir wollen keine Umstellung auf sogenannte leistungsgerechte Prämien. Darüber haben wir bereits 2005 debattiert. Drei Viertel der
Versicherten würden dann zu Antragstellern auf Sozialleistungen.
({11})
Es hat für mich etwas mit der Würde des Menschen zu
tun, wenn künftig drei Viertel unserer Bürgerinnen und
Bürger Zuschüsse beantragen müssten. Ich habe dazu
noch andere Fragen an Sie, meine Damen und Herren
von der FDP. Wie passt das alles denn zu Ihrer Steuersenkungsideologie?
({12})
Sie geben vor, die Partei der Steuersenkungen zu sein,
und brauchen dann 35 Milliarden Euro oder noch mehr
für das Gesundheitswesen.
({13})
Nein, wir beschreiten einen anderen Weg. Wir behalten
das bei, was die Bundesrepublik Deutschland 60 Jahre
als demokratischen und sozialen Bundesstaat ausgezeichnet hat und was in Art. 20 des Grundgesetzes steht.
Das ist für uns eine Verpflichtung. Daran werden wir
nicht rütteln.
Die gesetzliche Krankenversicherung muss sicherlich ständig weiterentwickelt werden. Wir brauchen Reformen und eine Antwort auf die Herausforderungen.
Unser Gesundheitswesen ist in all den Jahren unserer
Republik von sozialdemokratischen, konservativen und
manchmal auch von liberalen Politikern mitgetragen
worden. Meine Damen und Herren von der FDP, Sie hatten Parlamentarier wie Dieter-Julius Cronenberg in Ihren
Reihen, die auch als Liberale wussten, dass der Sozialstaat einen Wert an sich hat. Ich bin davon überzeugt:
Jeder, der glaubt, dass man an dieses bewährte System
die Axt anlegen kann, wird sich in diesem Land warm
anziehen müssen.
({14})
Die Menschen mögen über das eine oder das andere
schimpfen, protestieren oder verärgert sein. Aber eines
möchten sie nicht - darin bin ich mir ganz sicher -:
({15})
das bewährte Umlageprinzip aufgeben; denn sie haben
erfahren, dass das Prinzip „Menschen für Menschen“ sozialer, besser und gerechter ist, als sich den Risiken des
Kapitalmarktes auszusetzen.
({16})
Die Absicherung des sozialen Risikos Krankheit ist
für uns Sozialdemokraten eine wesentliche Voraussetzung für Freiheit, und zwar nicht irgendwann, sondern
jetzt. Dabei ist Freiheit zugleich Weg und Ziel. Wir wollen Freiheit, die durch soziale Gerechtigkeit ermöglicht
wird und in Solidarität mündet. Deshalb werden wir das
bestehende Gesundheitswesen verteidigen. Wir werden
es zu einer Bürgerversicherung weiterentwickeln, in der
alle Menschen zu gleichen Bedingungen einzahlen und
ihre Krankenkasse frei wählen können, jede Krankenkasse jeden ohne Berücksichtigung des jeweiligen Risikos versichern muss und es keine risikoadjustierten Prämien gibt.
({17})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Gesundheitsversorgung ist gegen die Krise gut geschützt. Für Experimente à la FDP sollte uns die gesetzliche Krankenversicherung zu schade sein. Ich bin mir jedenfalls mit
dem Vorstandsvorsitzenden der Barmer Ersatzkasse, Johannes Vöcking - und mit ihm bin ich durchaus nicht
immer einer Meinung -, in einem Punkt einig. Er hat gesagt - andere Vorstandsvorsitzende von Krankenkassen
haben das ähnlich ausgedrückt -, die FDP-Pläne seien
„ein Programm gegen den sozialen Frieden in unserem
Land“.
({18})
Herr Vöcking, der in Ihrer Regierungszeit eine hohe
Funktion im Kanzleramt innehatte, hofft, dass „die Wählerinnen und Wähler bei der nächsten Wahl solche Vorstellungen gründlich abstrafen“. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Vielen Dank.
({19})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Martina Bunge von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Antrag zeigt sehr deutlich, wes Geistes Kind die FDP ist.
Der Antrag trägt meines Erachtens nicht unbedingt zu einer ernsthaften Debatte über ein zukunftsfähiges, gerechtes und bezahlbares Gesundheitssystem bei. Die Debatte zeigt: Wir alle fechten hier Abwehrkämpfe aus, es
ist aber dringend notwendig, sich über die Zukunft des
Gesundheitssystems den Kopf zu zerbrechen.
({0})
Im Grunde zeigt Ihr Antrag vor allem, worum es Ihnen nicht geht: Ihnen geht es nicht um die Gesundheit
der Bürgerinnen und Bürger. Ihnen geht es darum, die
viel beschworene Eigenverantwortung hervorzuheben.
Sie soll auch bei Krankheit greifen. Besonders hier zeigt
sich, wie absurd diese Vorstellung - an falscher Stelle
gedacht - ist. Diese Vorstellung blendet völlig aus, dass
Menschen bereits unterschiedlich gesund und mit unterschiedlichen Möglichkeiten auf die Welt kommen. Diese
Vorstellung blendet aus, dass Menschen in diesem Land
nicht im luftleeren Raum leben; sie leben in ganz realen
gesellschaftlichen Verhältnissen. Wir wissen: Menschen
mit geringerer Bildung leben kürzer als Menschen mit
höherer Bildung, Ärmere leben kürzer als Reichere, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer leben kürzer als Arbeitgeber. Krankheit hat in den seltensten Fällen etwas
mit Schuld zu tun, für die man Verantwortung übernehmen könnte. Sie hat aber viel mit der sozialen Lage der
Menschen zu tun, und die haben sich die Menschen zumeist nicht ausgesucht.
({1})
Nach Ihrer Ansicht sollen die Menschen die Verantwortung dafür übernehmen, dass sie arm, krank oder beides sind. Menschen für etwas zur Verantwortung heranzuziehen, worauf sie keinen oder kaum Einfluss haben,
ist einfach zynisch.
({2})
Es ist ein Glück, gesund zu sein. Es sollte dazu
verpflichten, mit denen, die weniger Glück haben,
solidarisch zu sein. Wir brauchen eine gemeinsame Verantwortung für soziale Risiken. Wir brauchen kein unsolidarisches Privatversicherungssystem, sondern eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung.
({3})
Wir brauchen ein präventives Gesundheitssystem
- das ist die Herausforderung der Zukunft, von der ich
anfangs sprach -, und wir brauchen unbedingt eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik. Den Blick dafür hat
meines Erachtens das ganze Haus noch nicht.
({4})
Ein Gesundheitssystem darf die sozial Benachteiligten
nicht von einer umfassenden Gesundheitsversorgung
ausschließen. Dabei knüpfe ich an die Debatte über das,
was wirklich medizinisch notwendig ist, an. Ich denke,
hier haben wir den Ausschluss von umfassender Gesundheitsversorgung.
({5})
Im Gegenteil: Wir müssen gerade den Menschen, die sozial benachteiligt sind, die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen und einen Ausgleich für die Benachteiligung
schaffen.
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP,
erwähnen in Ihrem Antrag mit keiner Silbe Prävention
oder Gesundheitsförderung. Sie haben offensichtlich deren Bedeutung noch nicht wirklich - jetzt benutze auch
ich dieses Wort - erkannt.
({6})
Dabei besteht nach Ansicht aller Fachleute akuter Handlungsbedarf. Schlimm ist, dass auch die Koalition in dieser Frage versagt. Uns in der Bundesrepublik fehlt dringender denn je ein Präventionsgesetz. Wir alle wissen
auch - deshalb mein Blick zur SPD -, woran das in diesem Haus liegt.
Ebenso scheinen die wissenschaftlichen Erkenntnisse
zur sozialen Ungleichheit und zu ungleich verteilter Gesundheit vollends an der FDP vorübergegangen zu sein.
Ansonsten hätten Sie bemerkt, dass Sie mit Ihrer unsozialen Politik sogar gegen die Interessen Ihrer eigenen
Wählerschaft verstoßen;
({7})
denn in Ländern mit besonders großen sozialen Ungleichheiten ist die Gesundheit aller schlechter, also
auch derer, denen es finanziell besser geht. Sie verwenden andauernd die sinnentleerte Phrase, Solidarität sei
keine Einbahnstraße, und verweisen auf die Eigenverantwortung. Übersetzt heißt das für mich nichts anderes,
als die Solidarität aufzulösen.
Aber: Solidarität hält die Gesellschaft zusammen.
Deshalb gelten für die Linke in der Gesundheitspolitik
weiterhin die Grundsätze: Gesundheit ist ein MenschenDr. Martina Bunge
recht. Jeder gibt nach seinen Möglichkeiten, und jeder
erhält nach seinem Bedarf. Das wäre gelebte Solidarität.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rolf Koschorrek
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! In der vergangenen Woche wurde uns in
der Presse ein großes gesundheitspolitisches Konzept
der FDP in Aussicht gestellt. Dieses Konzept sollen wir
nun heute hier im Bundestag empfangen.
({0})
Um es kurzzufassen: Ich bin sehr erstaunt - um nicht
zu sagen: enttäuscht - darüber, dass der FDP nichts Besseres, vor allen Dingen nichts Konkreteres zur Gesundheitspolitik einfällt.
({1})
- Das steht hier heute nicht zur Debatte.
({2})
Was die FDP uns hier vorlegt, ist kein gesundheitspolitisches Programm und schon gar kein Konzept; es ist
vielmehr eine Zusammenstellung von Allgemeinplätzen
und banalen Feststellungen. Es ist ein Wunschkonzert,
das Forderungen nahezu aller am System Beteiligten zu
erfüllen versucht. Es gibt vor, dass bei seiner Umsetzung
alle Wünsche und Erwartungen von allen am System Beteiligten - von Patienten, Ärzten, Heilberuflern - erfüllt
werden können.
({3})
Dieses vermeintliche Konzept ist allseits gefällig. Es
hat nur einen entscheidenden Fehler: Sie stellen es nicht
auf den Boden der Realität.
({4})
Wer gute Ideen verkündet, sollte sich auch Gedanken
darüber machen, wie sie zu verwirklichen sind, sollte einen Plan haben, welche Maßnahmen in welcher Reihenfolge zur Realisierung zu ergreifen sind. Vor allem scheinen Sie überhaupt keinen Ansatz zu haben, wie das
rundherum perfekte System, das Sie sich hier vorstellen,
finanziert werden soll. Sie scheinen auch keinen Ansatzpunkt dafür zu haben, welche Kosten aufgeworfen werden, welche Finanzierungsverschiebungen entstehen. Ich
finde kein Wort zur Überwindung der erheblichen rechtlichen Hürden, die Ihren Weg sicherlich noch behindern
werden.
Dabei kann ich der Kritik, die Sie Ihren Ausführungen voranstellen, zumindest teilweise durchaus zustimmen. Sie beschreiben die Schwächen und Probleme unseres jetzigen Systems weitgehend richtig und geben
eine nicht ganz unzutreffende Analyse. Die Konsequenzen, die Sie daraus ziehen, sind aber leider nur plakativ
und populistisch.
Tatsächlich bestreitet doch kaum jemand, dass unser
Gesundheitswesen weiterer Reformen bedarf. Unterschiedliche und teilweise konträre Auffassungen bestehen sicherlich nur darüber, in welche Richtung diese
Strukturen geändert werden sollen. Weil die Notwendigkeit struktureller Veränderungen allgemein bekannt und
akzeptiert ist, beinhaltet die von uns in der Großen
Koalition in dieser Legislaturperiode beschlossene Gesundheitsreform auch Strukturveränderungen, während
es in den vorausgegangenen Reformjahren eigentlich
immer nur um verschiedene Varianten der Kostenbegrenzung ging.
Das GKV-WSG führte den Wettbewerb unter den
Krankenkassen ein und stellte die gesamte Finanzierung
- die Einnahme- wie die Ausgabenseite unseres Gesundheitssystems - auf eine solidere, zukunftsfestere Basis.
({5})
Die Union will diese Strukturen durch konkrete, sauber
kalkulierte und rechtlich einwandfreie Maßnahmen nach
der Bundestagswahl mit einer neuen Mehrheit der bürgerlichen Mitte sicherlich weiterentwickeln. Neben aller
Kritik an Ihren grundsätzlichen Ausführungen, die sich
bisher allem Konkreten verweigern, finden sich doch einige Punkte, die wir seitens der Union durchaus teilen.
Zwei Beispiele möchte ich dafür nennen:
Da ist zum einen das Prinzip der Subsidiarität. Es
stellt eine der fundamentalen Grundüberzeugungen auch
der Union dar und lautet: Die individuelle Verantwortung hat Vorrang vor staatlichem Handeln. Für das Gesundheitswesen heißt dies, dass der Einzelne wieder
mehr Eigenverantwortung übernehmen muss,
({6})
sowohl hinsichtlich der Prävention als auch der finanziellen Beteiligung und der Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der medizinischen Leistungen. Allerdings finde ich
in Ihrem Antrag kein Wort zu den Bedingungen, die dafür erforderlich sind: die nötige Förderung von Transparenz, von Übersichtlichkeit in diesem System. Wenn ich
Eigenverantwortung in einem System einfordere, dann
muss ich dafür sorgen, dass diejenigen, die ich in diese
Eigenverantwortung stellen will, auch in der Lage sind,
das System zu verstehen. Dazu schweigen Sie sich völlig
aus.
({7})
Eine weitere Gemeinsamkeit - zumindest nach der
Überschrift - betrifft die Wertschätzung für den freiberuflichen Heilberufler. Auch nach unserer Überzeugung
- so steht es auch im Grundsatzprogramm der Union gehören die freie Arztwahl und die freien Gesundheits22128
berufe zum Kern eines freiheitlichen Gesundheitswesens, wie wir es in Deutschland haben wollen. Da besteht zwischen uns sicherlich Einigkeit.
Was Sie allerdings zur Finanzierung des ganzen Systems vorschlagen, ist Ausdruck von Realitätsverlust. Sie
haben kein Wort dazu gesagt, wie Sie die Prämien kalkulieren wollen. Mehrere Nachfragen zur Risikoadjustierung haben Sie unbeantwortet gelassen. Für mich ist
eindeutig: Bei Ihrem System - das als Zusammenfassung - steht der Basistarif für die gesamte Bevölkerung
im Raum. Das ist ein Weg, den wir als Union mitzugehen nicht bereit sind.
({8})
Zur Erschließung von Wirtschaftlichkeitsreserven
brauchen wir mehr Wettbewerb der Anbieter im Gesundheitswesen. Mit unserer Gesetzgebung der letzten
Jahre haben wir eindeutig diesen Weg eingeschlagen.
Gleichzeitig kann es nicht darum gehen, den Kräften
des Marktes durch Angebot und Nachfrage freies Spiel
zu gewähren. Es ist klar, dass wir seitens der Gesundheitspolitik lenkend und regulierend eingreifen müssen,
um die Qualität der Gesundheitsversorgung in unserem
Land zu gewährleisten. Für den Patienten, den Versicherten und den Kunden muss die Wahlmöglichkeit zwischen Ärzten und Anbietern auf dem Gesundheitsmarkt
gewährleistet bleiben. Wir verhindern, dass unser Gesundheitssystem in die Hand von Konzernen fällt, wo,
losgelöst von den Verpflichtungen und vom Ethos der
Heilberufler, rein kommerzielle Interessen zählen.
Wenn Sie nach der Wahl tatsächlich Regierungsverantwortung übernehmen wollen
({9})
und auch in der Gesundheitspolitik ein Wörtchen mitreden möchten, müssen Sie mehr bieten und können nicht
nach Art reiner Opportunisten nur Fundamentalkritik
vorbringen. Es reicht nicht, dass die Abschaffung des
Gesundheitsfonds die zentrale Forderung der FDP in den
Koalitionsverhandlungen sein soll, so wie Sie als gesundheitspolitischer Sprecher es in der letzten Woche im
Handelsblatt verkünden ließen.
({10})
Da gehören schon konkretere Pläne und Vorstellungen
auf den Tisch. Es reicht nicht, eine Reihe guter Ideen zu
haben; Sie müssen auch sagen, wie diese Ideen in die
Realität umgesetzt werden können.
({11})
Wir und die Wähler haben ein begründetes Interesse
daran, etwas genauer zu erfahren, was die FDP will, was
sie für realistisch hält und vor allem was es kostet.
Vielen Dank.
({12})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Jens Spahn von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines finde ich schon bemerkenswert, Herr Kollege Bahr:
Sie beantragen eineinhalb Stunden Debatte zu Ihrem Antrag und wundern sich fortwährend darüber, dass wir Ihren Antrag und alles, was an Unschärfe darin enthalten
ist, in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung stellen.
({0})
Dann hätten Sie nicht beantragen dürfen, ihn heute zu
behandeln, schon gar nicht in dieser Länge.
({1})
Die Debatte über einen solchen Antrag beinhaltet natürlich die Chance, Schnittmengen - der Kollege Koschorrek hatte schon auf einige hingewiesen -, aber auch
Trennendes aufzuzeigen, wenn es etwa darum geht, das
Wettbewerbs- und Kartellrecht auch im Gesundheitsbereich konsequent anzuwenden oder eine Kapitalrücklage
einzuführen.
({2})
Frau Ferner, „Kapitalrücklage“ heißt per definitionem:
sparen, um für die Kosten in der Zukunft vorzusorgen.
({3})
Herr Kollege Koschorrek hat gerade gesagt, dass es auch
darum geht, die Freiberuflichkeit in den Mittelpunkt zu
stellen.
({4})
Denn das wollen wir: freiberuflich tätige Ärzte - nicht
Ärzte, die als Angestellte Dienst nach Vorschrift machen, von 8 bis 16 Uhr -, wie sie heute mit großem
Engagement im Land unterwegs sind. Es gibt also viele
Chancen, Gemeinsamkeiten zu finden.
({5})
Wenn ich gerade beim Thema Ärzte bin - Sie haben
das auch im Zusammenhang mit den Vergütungen angesprochen -: Es gibt in diesem Jahr mit 30 Milliarden
Euro einen enormen Zuwachs bei der ärztlichen Versorgung. Gleichzeitig ist überall das Gefühl vorhanden,
dass für die Versorgung weniger zur Verfügung steht.
Wir müssen in diesem Hause deutlich machen, dass wir
die Selbstverwaltung in der Verantwortung sehen,
({6})
wenn es darum geht, Verteilungsprobleme in den Griff
zu bekommen, aber auch die Bundesregierung in der
Verantwortung sehen, Frau Ministerin, wenn es darum
geht, das, was wir als Gesetzgeber zur Honorarordnung
gewollt haben, gemeinsam mit den Selbstverwaltungsgremien jetzt auch auf den Weg zu bringen.
({7})
Es geht aber auch darum, Herr Kollege Bahr, zu
schauen, wo es nicht ganz so passt im Antrag. Darin
heißt es sinngemäß, man solle mit mehr Kreativität Effizienzreserven heben. Das klingt gut. Gleichzeitig sagen
Sie: Rabattverträge sind furchtbar. Ausschreibungen und
Wettbewerb zwischen den Ärzten, das geht gar nicht. Da
muss man sich schon entscheiden. Wenn man ein bisschen mehr Kreativität fordert, muss man das auch irgendwie ausfüllen. Gleichzeitig lehnen Sie aber alles ab,
was wir in den letzten Jahren an neuen Strukturelementen in der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt
haben. Diese hatten gerade das Ziel, Effizienzreserven
zu heben, und zu erreichen, dass man im Arzneimittelbereich, etwa im Generikamarkt, im Sinne der Patienten
und für die Versorgung der Patienten noch Geld herausholt.
Beim Wettbewerb muss man immer einen Spagat
machen. Wettbewerb ist immer unübersichtlich, eben
weil es verschiedene Angebote gibt, zwischen denen
man wählen muss. Die Krankenkassen haben nämlich
nun die Möglichkeit, Verträge mit unterschiedlichen Rabatten abzuschließen und unterschiedliche Ausschreibungen zu machen. Ein Gesundheitssystem mit Wettbewerb ist natürlich unübersichtlicher als eines mit einer
Einheitskasse. Trotzdem wollen wir Wettbewerb. Es ist
aber völlig diffus, wenn Sie einerseits Uneinheitlichkeit
ablehnen, aber andererseits fordern, Effizienzreserven zu
heben. Beides zusammen geht in diesem Bereich nicht.
({8})
Ich verstehe ehrlich gesagt auch nicht, warum Sie sich
weigern, im Rahmen dieser Diskussion klar zu sagen, in
welcher Form und Höhe Prämien erhoben werden sollen. Ich unterstelle Ihnen gar nicht, dass Sie eine risikoäquivalente Prämie wie in der privaten Krankenversicherung fordern, dass also der Kranke mehr als der Gesunde
zahlen muss. Aber wenn Sie das nicht wollen, bleibt als
Ihr Konzept nur noch die Bürgerprämie à la Rürup und
anderer übrig.
({9})
Das kann man wollen. Das ist okay. Ich sehe darin sogar
eine gute Basis für eine Diskussion.
({10})
Aber das Problem ist, dass Sie das nicht klar sagen. Dadurch, dass Sie so diffus und unpräzise in Ihren Aussagen bleiben, liefern Sie denjenigen im Hause, die etwas
ganz anderes wollen, eine ideale Vorlage. Das haben Sie
ja an den heutigen Reden gesehen. Das hat den Tenor der
Debatte heute bestimmt. Dass das in Ihrem Antrag nicht
klarer dargestellt wird, finde ich schade.
({11})
Herr Spahn, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bahr?
Ja, klar. Immer.
Bitte schön.
Herr Kollege Spahn, Sie haben der FDP vorgeworfen,
im Diffusen zu bleiben. In der Ärzte Zeitung werden allerdings Sie, Herr Kollege Spahn, mit der Aussage zitiert,
dass der Union momentan eine „Leitidee“ in der
Gesundheitspolitik fehle.
({0})
Sie haben in schönen Worten gesagt, was Sie sich
vorstellen. Gleichzeitig lesen wir an vielen Stellen, dass
Sie sich von der Prämienfinanzierung der gesetzlichen
Krankenversicherung verabschieden wollen. Können Sie
mir einmal erklären, wie jetzt der Stand der Dinge bei
der Union ist?
Ich kann Ihnen erstens erklären - das wissen Sie aus
eigener Erfahrung -, dass das mit Zitaten in Zeitungen
immer so eine Sache ist.
({0})
Zum Zweiten möchte ich festhalten: Sie stellen sich hier
hin und behaupten, Sie hätten das Konzept für die Zukunft. Sie beantragen dazu eine Debatte über anderthalb
Stunden im Deutschen Bundestag und füllen seit Tagen
die Zeitungen mit dem „Gegenmodell der FDP“. Fragt
man dann aber, nachdem man sich das genauer angeschaut hat, hier konkret nach, wie das genau aussehen
soll, kommt nichts. Hier liegen Anspruch und Wirklichkeit einfach nicht nahe genug beieinander.
({1})
Außerdem habe ich bei der Veranstaltung zum
Gesundheitsfonds im Übrigen auch gesagt, dass es
darum gehen muss, den Gesundheitsfonds weiterzuentwickeln. Allerdings zu behaupten, der Gesundheitsfonds
an sich würde in den nächsten zwei bis drei Jahren wieder abgeschafft, ist unrealistisch; das wissen Sie selber,
auch wenn Sie in Ihren Reden etwas anderes fordern.
({2})
Sicher ist nicht alles perfekt. Bei einer Weiter- und
Fortentwicklung geht es deshalb zum Beispiel um die
Fragen, ob die Begrenzung des Zusatzbeitrages auf
1 Prozent sinnvoll ist, wie der Risikostrukturausgleich
weiterentwickelt werden kann und wie das Verhältnis
zwischen Steuergeldern und Gesundheitssystem grundsätzlich aussehen soll. Insofern bin ich für eine Weiterentwicklung des Fonds. Diese ist auf jeden Fall nötig.
Ich halte es auch für eine gute Diskussionsgrundlage,
das alles unter dem Ziel der Einführung einer Bürgerprämie zu diskutieren. Das eigentliche Problem ist aber,
dass Sie jetzt sofort den Totalumbau fordern, ohne genau
zu benennen, wie das vonstatten gehen soll. Mit solchen
Forderungen verunsichern Sie - das tun Sie ja mittlerweile fast schon im Jahresrhythmus - 70 Millionen Versicherte und die Menschen, die im Gesundheitswesen tätig sind. Es ist also unrealistisch, in den nächsten zwei
bis drei Jahren eine Totalreform zu machen. Man muss
nämlich erst einmal die Dinge, die man beschlossen hat,
entsprechend wirken lassen.
Schließlich auch noch etwas zu Ihrer Aussage, Herr
Lanfermann, dass Patienten Kunden seien. Man kann sicherlich Teilaspekte des Patientendaseins auch unter
dem Kundenaspekt betrachten, aber zu sagen, Patienten
seien Kunden
({3})
- haben Sie mehrfach gesagt, auch auf entsprechende
Nachfragen -,
({4})
im Sinne eines Marktteilnehmers, der nachfragt, ist eine
zu radikale Formulierung,
({5})
die auch leider nicht konsequent zu Ende gedacht ist.
Das taugt vielleicht für einen momentanen Höhenflug,
aber das taugt mit Sicherheit nicht dazu, zu einer Volkspartei zu werden.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11879 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 d, 24
sowie Zusatzpunkte 3 a bis 3 d auf:
33 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Christian Ahrendt, Gisela
Piltz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Nationale Küstenwache schaffen
- Drucksache 16/8543 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Verbraucherfreundliche und praxistaugliche
Lebensmittelkennzeichnung durchsetzen Verbots- und Bevormundungspolitik verhindern
- Drucksache 16/11671 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Ausschuss für Gesundheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansKurt Hill, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Anreizregulierung im Strom- und Gassektor
nachbessern - Benachteiligung von städtischen Versorgern verhindern
- Drucksache 16/11878 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({3}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({4})
TA-Projekt: Gendoping
- Drucksache 16/9552 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
24 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Omid Nouripour, Winfried Nachtwei, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Westeuropäische Union als überholtes
Konstrukt auflösen
- Drucksache 16/11765 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({7})
Verteidigungsausschuss
Federführung strittig
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Datenschutz für Beschäftigte stärken
- Drucksache 16/11376 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion
Seib, Alexander Dobrindt, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Jörg Tauss, Willi Brase,
Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ausbauen
- Drucksache 16/11883 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({9})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Entwicklungschancen für den wissenschaft-
lichen Nachwuchs schaffen
- Drucksache 16/11880 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Jan Mücke, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Faires Nachversicherungsangebot zur Vereinheitlichung des Rentenrechts in Ost und West
- Drucksache 16/11236 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überweisungen: Das sind die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 d sowie
Zusatzpunkte 3 a bis 3 d. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse zu überweisen, wobei die Vorlage auf Drucksache 16/11376 - das ist der Zusatzpunkt 3 a - federführend
bei dem Ausschuss für Arbeit und Soziales beraten werden
soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu einer Überweisung, bei der die
Federführung strittig ist: Tagesordnungspunkt 24. Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen betreffend die Westeuropäische
Union auf Drucksache 16/11765 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung
beim Auswärtigen Ausschuss, die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für
die Angelegenheiten der Europäischen Union.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union. Wer ist für diesen Vorschlag von
Bündnis 90/Die Grünen? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung
von Bündnis 90/Die Grünen und Ablehnung aller anderen Fraktionen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und SPD, Federführung beim
Auswärtigen Ausschuss, abstimmen. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 k sowie
Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Zunächst einmal Tagesordnungspunkt 34 a:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Bau und den Betrieb von Versuchsanlagen zur Erprobung von
Techniken für den spurgeführten Verkehr
- Drucksache 16/9899 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({10})
- Drucksache 16/11304 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich ({11})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11304, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/9899 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von FDP und den Linken abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 34 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({12})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Götz,
Dirk Fischer ({13}), Dr. Klaus W. Lippold,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Petra Weis, Klaas
Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Die integrierte Stadtentwicklung weiter ausbauen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Patrick Döring, Gisela Piltz, Horst Friedrich ({14}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Innenstädte stärken - Kooperationen fördern - Städtebauförderung weiterentwickeln
- Drucksachen 16/11414, 16/8076, 16/11875 Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Weis
Peter Hettlich
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11875, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/11414 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung von FDP und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat in seine Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11875 den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/8076 zur Städtebauförderung miteinbezogen. Über die hierzu ergangene Beschlussempfehlung
soll jetzt ebenfalls abgestimmt werden. Sind Sie mit diesem Verfahren einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
machen wir das so.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11875 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache
16/8076 mit dem Titel „Innenstädte stärken - Kooperationen fördern - Städtebauförderung weiterentwickeln“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion
und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({15}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Einhundertsiebenundfünfzigste Verordnung
zur Änderung der Einfuhrliste
- Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 16/11614, 16/11718 Nr. 2.1,
16/11779 Berichterstattung:
Abgeordneter Ernst Burgbacher
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11779, die Aufhebung der Verordnung nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({16}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Änderung der Verordnung
zur Begrenzung der Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen beim Umfüllen und
Lagern von Ottokraftstoffen - 20. BImSchV
- Drucksachen 16/11719, 16/11818 Nr. 2,
16/11897 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({17})
Detlef Müller ({18})
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11897, der Verordnung zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnungspunkt 34 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 523 zu Petitionen
- Drucksache 16/11766 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 523 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 524 zu Petitionen
- Drucksache 16/11767 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 524 ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 525 zu Petitionen
- Drucksache 16/11768 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 525 ist bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 526 zu Petitionen
- Drucksache 16/11769 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 526 ist bei Gegenstimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen
aller übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 527 zu Petitionen
- Drucksache 16/11770 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 527 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 528 zu Petitionen
- Drucksache 16/11771 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 528 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und von Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen von FDP und der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 529 zu Petitionen
- Drucksache 16/11772 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 529 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Nun kommen wir zum Zusatzpunkt 4:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({26}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Manuel Sarrazin, Jürgen Trittin, Rainder Steenblock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Arbeitszeitrichtlinie - Hohen
Arbeitnehmerschutz EU-weit sicherstellen
- Drucksachen 16/11758, 16/11894 Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Hennrich
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11894, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11758 abzulehnen. Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDPFraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fortschrittsbericht 2008 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie
- Drucksache 16/10700 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({27})
Sportausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt
es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Ernst Kranz von der SPDFraktion.
({28})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor vier Jahren haben wir uns genau an dieser
Stelle mit dem ersten Fortschrittsbericht beschäftigt. Die
Bundesregierung hat in diesem Fortschrittsbericht ihre
Strategie der Nachhaltigkeit dargestellt. Wir haben damals nach kurzer Zeit - es war nach nur zwei Jahren;
denn erst im Jahre 2002 ist diese Strategie in die Politik
der Bundesregierung implementiert worden - über diesen Bericht beraten.
Wenn wir heute das Wort „Nachhaltigkeit“ hören, hat
es einen ganz anderen Klang. Es wird meiner Meinung
nach sogar inflationär gebraucht. Viele Begriffe wie zum
Beispiel „Ökologie“, „dauerhaft“ und „transparent“ werden unter dem Begriff „Nachhaltigkeit“ verstanden. Ich
bin der Meinung, es geht hier um viel mehr, und das ist
immer zu beachten. Es geht uns vor allem um eine vorausschauende und über den Tellerrand der Ressorts
hinausreichende Entscheidungspolitik.
Nachhaltigkeit umfasst drei Dimensionen: die ökologische, die soziale und die ökonomische Dimension. Auf
die soziale Dimension will ich etwas ausführlicher eingehen. Wir müssen uns bei jedem Gesetzentwurf, den
wir verabschieden, und bei jeder Maßnahme, die wir dadurch auslösen, fragen, ob wir damit sicherstellen, dass
die Teilhabe aller Teile der Gesellschaft gewährleistet
und verbessert wird oder ob wir dadurch nicht sogar einzelne Bürger und Gruppen ausgrenzen. Es ist wichtig,
dass wir mit all unseren Entscheidungen gleiche Chancen im persönlichen, sozialen und beruflichen Bereich
einräumen und dass die Kompetenzen all unserer Bürger
in allen Bereichen zur Verfügung stehen und eingesetzt
werden können.
Die soziale Dimension wird auch sichtbar, wenn wir
an die Auswirkungen der aktuellen Finanz- und Konjunkturkrise denken. Hier müssen wir jetzt alle Kräfte
bündeln, um einen Arbeitsplatzabbau in größerem Umfang zu verhindern. Schon die Konjunkturprogramme
zeigen die Notwendigkeit einer ressortübergreifenden
Zusammenarbeit. Meiner Meinung nach sollte genau
diese Zusammenarbeit, also das Denken über Ressortgrenzen hinaus und vorausschauendes Denken, viel stärkeres Gewicht in unserer Politik erhalten.
({0})
Nachhaltige Politik bedeutet, finanzielle Mittel möglichst effizient einzusetzen. Mit ökonomischen Stützungsmaßnahmen versuchen wir, die negativen Folgen
der Krise für die Bürger und damit für die Gesellschaft
möglichst gering zu halten. Wir müssen die anstehenden
Probleme heute und möglichst schnell lösen. Nur nachhaltiges Handeln im nationalen und internationalen Rahmen, wozu wir beitragen möchten, kann künftige Krisen
verhindern oder zumindest ihre Auswirkungen von Anfang an abschwächen. Zu Recht fordert der Vorsitzende
des Rates für Nachhaltige Entwicklung, Volker Hauff,
eine klare Weichenstellung für eine nachhaltige Wirtschaftsordnung, um deutliche Fortschritte bei der zukunftsfähigen Umgestaltung unserer Wirtschaft zu erreichen.
Werte Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, hinter
dem Begriff „Nachhaltigkeit“ verbirgt sich ein großes
Aufgabenspektrum.
Im Jahr 2002 hat sich die rot-grüne Bundesregierung
auf bestimmte Kriterien und innerhalb dieser Kriterien
auf Ziele festgelegt, um eine nachhaltige Entwicklung in
Deutschland messen zu können. Diese insgesamt 21 Indikatoren sind sozusagen eine Messlatte für uns, an der
wir ablesen können, ob und inwieweit wir uns auf den
jeweiligen Politikfeldern auf den Weg der Nachhaltigkeit begeben haben.
({1})
Es ist wichtig, dass die heutige Generation gut leben
kann - das ist klar -, es muss aber auch ganz deutlich gesagt werden, dass wir dadurch nicht die Möglichkeiten
nachfolgender Generationen schon heute einschränken
dürfen.
({2})
Das ist der Kern nachhaltiger Politik.
In dem nun vorliegenden „Fortschrittsbericht 2008
zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie“ zieht die Bundesregierung Bilanz. In einigen Bereichen gibt es positive Entwicklungen; das ist sehr zu begrüßen. Wir haben
uns ehrgeizige Ziele gesetzt. Ich glaube, ohne diese ehrgeizigen Ziele wären wir in vielen Bereichen nicht so
erfolgreich. Positives gibt es zum Beispiel aus den Bereichen Klimaschutz, regenerative Energien, Beschäftigung, Ganztagsbetreuung von Kindern und aus dem Bereich Staatsverschuldung - zumindest bis zum Zeitpunkt
der Finanzkrise - zu berichten. Es gibt jedoch leider
auch zahlreiche Indikatoren, die darauf hinweisen, dass
wir uns auf vielen Gebieten zu langsam in die richtige
Richtung bewegen. Das ist zum Beispiel im Bereich Mobilität der Fall. Genauso gilt das für den täglichen Flächenverbrauch. Auf diesen Gebieten müssen wir noch
einiges erreichen.
({3})
Wir haben es aber auch mit Entwicklungen zu tun, die
das angestrebte Nachhaltigkeitsziel in weite Ferne rücken lassen. Das gilt vor allem für die Bereiche Bildung,
Mobilität und Artenvielfalt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung hat zum Thema nachhaltige Entwicklung Stellung
bezogen. An dieser Stelle möchte ich meine Meinung zu
einem wesentlichen Thema äußern. Mir geht es um das
Politikfeld „Erhaltung und Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen“ und dabei insbesondere um die Elementarressource Wasser. Ich finde, es ist bedauernswert
und nicht zu verstehen, dass Wasser als essenzielle Ressource nicht als Indikator im System verankert ist, wie
das zum Beispiel bei der Luftqualität der Fall ist. Wasser
spielt zwar für die Politik in Deutschland eine große
Rolle, auf internationaler Ebene können wir aber viele
Missstände feststellen.
Wasser ist mehr als nur Trinkwasser. Die Ressource
Wasser ist Grundlage für das Leben. Wasser dient als Lebensraum, Lebensmittel und Rohstoff. Die Deutsche
Forschungsgemeinschaft bezeichnet Wasser als die
wichtigste natürliche Ressource des 21. Jahrhunderts.
Zwar sind 71 Prozent der Erdoberfläche von Wasser bedeckt, aber nur 2,5 bis 3 Prozent des Gesamtwasservolumens sind Süßwasser. Die meisten Süßwasservorkommen wiederum sind in den Polkappen gebunden. Wenn
wir uns das verdeutlichen, ist uns klar, wie effektiv bzw.
schonend wir mit dieser Ressource umgehen müssen.
Wasser bestimmt viele Bereiche unseres Lebens.
Klima: Für das Klima ist Wasser ein bestimmender Faktor. Ökosysteme: Wasser kennzeichnet sowohl die terrestrischen als auch die aquatischen Ökosysteme. Landwirtschaft: Wasser ist Rohstoff, letztendlich sogar
Lebensspender für alle Produkte der Landwirtschaft.
Anzumerken ist, dass 70 Prozent des Süßwasserverbrauchs durch die Landwirtschaft erfolgen. Für die Industrie ist Wasser ein wichtiger Rohstoff. Gesundheit:
Da können wir bei uns selbst anfangen; denn der Mensch
besteht zu circa 70 Prozent aus Wasser. Ohne genügend
Wasser und Nahrung kann die Körpertemperatur nicht
gehalten werden, und wir bekommen Probleme. Deshalb
an dieser Stelle noch einmal der Hinweis - letztendlich
ist das meine Forderung -: Wasser sollte als Indikator in
das System aufgenommen werden.
Ich möchte zum Abschluss erklären, wie unsere Arbeit im Beirat strukturiert ist. Es kommt uns darauf an,
unsere Themen im Beirat konsensorientiert zu behandeln. Sie sind uns zu wichtig, als dass wir bereit wären,
am Ende Papiere herauszugeben, die nur Anmerkungen
einzelner Fraktionen enthalten und ansonsten strittig gestellt sind.
Der Beirat muss im Hinblick auf das Thema Nachhaltigkeit als Vorbild wirken.
Herr Kollege Kranz, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mein letzter Satz: Damit versuchen wir, auch für
künftige Koalitionen und künftige Legislaturperioden
grundlegende Voraussetzungen zu schaffen, auf denen
einheitlich aufgebaut werden kann.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachhaltigkeit ist kein Luxusthema für Schönwetterzeiten. Gerade in der Krise brauchen wir eine klare Orientierung,
an welchem Leitbild sich Politik ausrichten soll. Wir
brauchen eine soziale Marktwirtschaft, die langfristig
tragfähig ist. Dazu gehören ökologische Verantwortung,
wirtschaftliche Freiheit, Innovationskraft und soziale
Stabilität. Es geht um politische Rahmenbedingungen,
aber auch um die Haltung von Akteuren in der Wirtschaft und in der Gesellschaft.
Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie soll einen Leitfaden für eine möglichst parteiübergreifende Perspektive
für die Zukunft unseres Landes bieten. Die Nachhaltigkeitsstrategie soll dem Denken in Wahlperioden eine
Absage erteilen und über den Wechsel der Regierungen
hinaus Orientierung geben. Deshalb ist es erfreulich,
dass wir im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige
Entwicklung den Parteienstreit auf ein Mindestmaß begrenzen und versuchen, wo immer möglich einen Konsens zu finden.
({0})
Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie hat durch die
Verknüpfung strategischer Ziele mit nachprüfbaren Indikatoren eine wichtige Wirkung für die Tagespolitik. Dadurch wird deutlich, ob man sich auf Schönwetterreden,
auf Sonntagsreden beschränkt, sich aber ansonsten leider
nichts ändert. Wir Liberale unterstützen eine solche Strategie. Wir sagen aber zugleich: Der Kern der Debatte um
Nachhaltigkeit müssen die Chancen kommender Generationen sein. Nachhaltigkeit darf nicht für alles und jedes missbraucht werden, was man tagesaktuell als gut,
effizient oder gerecht empfindet. Die Themen müssen
einen Zukunftsbezug haben; denn es geht hier vor allem
um eines: um Generationengerechtigkeit.
({1})
Meine Damen und Herren, Folgendes ist schon bemerkenswert - ich habe gerade das Thema Sonntagsreden angesprochen -: Es geht hier um einen Bericht, den
die Bundesregierung einmal in dieser Wahlperiode vorlegt. Es ist die Strategie der Bundesregierung; federführend ist das Kanzleramt. Ich hätte erwartet, dass eine Regierung dann, wenn sie eine solche Strategie ernst
nimmt, in der ersten Lesung eines Berichtes in die Debatte einführt, dass also der Kanzleramtsminister von
dieser Stelle aus erklärt, was die Politik der Bundesregierung ist.
({2})
Gerade war noch ein Staatsminister des Kanzleramtes
kurz anwesend. Ich dachte: Wenigstens ein Staatsminister. Aber pünktlich zu Beginn dieser Debatte nahm er
seine Akten und verschwand. So kann man mit der
nationalen Nachhaltigkeitsstrategie wirklich nicht umgehen.
({3})
Im Bereich der finanziellen Nachhaltigkeit gibt es
derzeit viel Bewegung. Einerseits werden angesichts der
Wirtschaftskrise die größten Verschuldungsprogramme
beschlossen, die die Republik je gesehen hat, und andererseits hat die Föderalismuskommission II zumindest
eine Skizze für die Aufnahme einer Schuldenbremse ins
Grundgesetz aufgelegt. Letzteres ist aus Nachhaltigkeitssicht zu begrüßen. Ob diese Schuldenbremse dazu
ausreichen wird, Generationengerechtigkeit zu schaffen,
wird sich erst entscheiden, wenn der Text vorliegt und
wir sehen, welche Hintertüren es möglicherweise wieder
für die Verschuldung gibt.
Sinnvoll wäre es aus unserer Sicht, darüber hinaus
Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit in die
Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes aufzunehmen; denn anders als geborene Kinder werden kommende Generationen bisher vom Grundgesetz nicht geschützt. Es freut mich, dass der Parlamentarische Beirat
für nachhaltige Entwicklung auf seiner gestrigen Sitzung
- mit Ausnahme der Vertreter der Linken - dieses Ziel
unterstützt hat. Es freut mich auch, dass der Bundespräsident nach der heutigen Debatte die Initiatoren des Berichts empfängt und sich mit dieser wichtigen Frage auseinandersetzt.
({4})
Wir brauchen endlich mehr Transparenz in der Politik. Es ist bemerkenswert, dass wir in der Gesetzesfolgenabschätzung alles Mögliche abprüfen: die Auswirkungen eines geplanten Gesetzes auf das Preisniveau,
auf den Mittelstand und die Geschlechtergerechtigkeit.
Aber die möglichen Auswirkungen unserer geplanten
Gesetze auf künftige Generationen überprüfen wir nicht.
Das sollte sich in der nächsten Wahlperiode ändern.
Um eine solche Nachhaltigkeitsprüfung durchzuführen, brauchen wir allerdings klare und transparente
Instrumente. Dazu gehören Generationenbilanzen, die
die finanziellen Ströme zwischen den Generationen abbilden, die zeigen, welche Leistungen wir für künftige
Generationen erbringen, zum Beispiel bei Infrastruktur
und Bildung. Sie müssen aber auch die Lasten ausweisen, die es neben der Staatsverschuldung gibt, zum Beispiel durch die Rentenversicherung, die Krankenversicherung und die Beamtenbesoldung. All diese Lasten
werden auf künftige Generationen verschoben. Das wird
heute in den Büchern nicht ausgewiesen. Aus meiner
Sicht ist das ein reformbedürftiges Feld.
({5})
Meine Damen und Herren, schließlich braucht eine
bessere Nachhaltigkeitsprüfung eine bessere Verankerung des Parlamentarischen Beirats in der Geschäftsordnung des Bundestages; denn es muss eine parlamentarische Begleitung der Gesetzesfolgenabschätzung geben.
Generationengerechtigkeit ist mehr als die Frage, wie
viel Schulden wir kommenden Generationen hinterlassen. Es geht auch um die Fragen, was wir investieren
statt konsumieren, ob wir langfristig tragfähige Sozialversicherungssysteme bauen, und nicht zuletzt darum,
ob wir kommenden Generationen eine lebenswerte Umwelt hinterlassen. Biologische Vielfalt und Klimaschutz
müssen zentrale Bestandteile einer Strategie für Generationengerechtigkeit sein.
Abschließend möchte ich meiner Hoffnung Ausdruck
verleihen, dass wir nicht wieder vier Jahre warten müssen, bis wir über den nächsten Fortschrittsbericht diskutieren. Die frühere Bundesregierung hatte sich zum Ziel
gesetzt, alle zwei Jahre einen solchen Bericht vorzulegen. Schwarz-Rot hat sich - wie bei vielen anderen Themen auch - viel zu viel Zeit gelassen. Das muss sich in
der nächsten Wahlperiode ändern. Wir Liberale werden
das ändern.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Scheuer von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Kauch, ich werde mich bemühen, keine
Schönwetterrede zu halten, sondern auf die Inhalte des
Fortschrittsberichtes einzugehen. Ich möchte mich vorneweg bei allen Kolleginnen und Kollegen des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung bedanken. Ich glaube, wir haben eine Arbeitsweise
gefunden, die sehr kollegial ist. Über viele Themen besteht Konsens, obgleich es, Herr Kollege Heilmann, bei
verschiedenen Themen manchmal Ausreißer und Ausnahmen gibt.
({0})
Ich glaube, das Klima in diesem Parlamentarischen Beirat ist sehr gut. Die deutsche Öffentlichkeit soll wissen,
dass Politik nicht nur aus Streit und beinhartem Ringen
besteht, sondern vor allem auch an Kollegialität geknüpft ist.
({1})
Der Fortschrittsbericht zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie bietet eine breit gefächerte Grundlage, eine
zukunftsfähige Politik für Deutschland über verschiedene Themenfelder zu machen. Dies wurde in einer anderen Regierungskonstellation begonnen und wird jetzt
weitergeführt. Ich glaube, es ist ein Fortschritt, dass wir
politisches Handeln viel transparenter und vor allem für
die Bürgerinnen und Bürger nachprüfbar machen.
Es gibt 21 Schlüsselindikatoren, die in verschiedene
Unterkategorien unterteilt sind. Dies ist ein Beitrag für
eine bessere politische Kultur in Deutschland, vor allem
um die Politik langfristig fit für die Zukunft zu machen.
Ich glaube, mit einem Image von Politik muss man generell aufräumen - das richte ich auch an die Medienvertreter -: Politik denkt nicht nur bis zum nächsten Wahltermin. Wir befassen uns im Parlamentarischen Beirat
mit Themen, die weit über die nächsten Jahre hinausgehen. Die Ziele, die im Fortschrittsbericht formuliert sind,
reichen bis ins Jahr 2015 oder sogar bis ins Jahr 2020.
Nachhaltigkeitspolitik ist eine Querschnittsaufgabe.
Später werden noch Mitglieder des Umweltausschusses
zu diesem Thema sprechen. Als Verkehrspolitiker
möchte ich an dieser Stelle nur sagen: Über Nachhaltigkeitspolitik sollte in jedem einzelnen Fachbereich umfassend diskutiert werden. Sie sollte zum Leitprinzip der
Politik insgesamt gemacht werden.
Der Kollege Kranz hat bereits darauf hingewiesen,
dass der Begriff „Nachhaltigkeit“ sehr oft strapaziert
wird, von der Finanzpolitik über die Umweltpolitik bis
hin zur Verkehrspolitik. Es ist richtig, dass wir diesen
Begriff nicht inflationär verwenden sollten. Allerdings
müssen wir es in die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger
bekommen, dass die deutsche Politik ein Interesse daran
hat, über den nächsten Wahltag hinauszudenken.
Meine Damen und Herren, natürlich gibt es auch
Rückschläge. Wenn man die drei großen Bereiche Wirtschaft, Umwelt und Soziales - sie bilden die Grundlage
der Nachhaltigkeitsstrategie - betrachtet, so lässt sich im
Hinblick auf die Schlüsselindikatoren bzw. die Messgrößen für politisches Handeln feststellen, dass im vorliegenden Fortschrittsbericht natürlich auch Indikatoren zu
finden sind, die uns nicht zufrieden stimmen.
Der Fortschrittsbericht ist noch vor Beginn der
Finanzkrise fertiggestellt worden. Ich möchte diese
Krise nicht noch krisenhafter beschreiben, als sie in
Wirklichkeit ist. Aber sie hat uns vor Augen geführt,
dass wir uns im Parlamentarischen Beirat bei der Erarbeitung des nächsten Fortschrittsberichts bzw. eines Indikatorenberichts mehr Gedanken als bisher über die
Prinzipien der Finanzpolitik, der Haushaltsführung und
der Staatsverschuldung machen müssen.
Ich bin der gleichen Meinung wie meine Vorredner,
dass wir ein krisenfestes Nachhaltigkeitsmanagement
entwickeln müssen, das bei globalen Krisen weniger anfällig ist. Außerdem müssen wir Indikatoren kreieren,
die es ermöglichen, Krisensituationen im Rahmen der
Analyse zu berücksichtigen. Unser Managementkonzept besteht aus Managementregeln, Indikatoren, Zielen
und Monitoring. Die Bundesregierung sollte sich sehr
intensiv mit dem Fortschrittsbericht 2008 befassen und
ihn bei der Erarbeitung eines krisenfesten Nachhaltigkeitsmanagements als Orientierungsrahmen verwenden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich als Beispiel auf den Indikator der Gütertransportintensität zu
sprechen kommen. Das im Fortschrittsbericht formulierte Ziel zur Gütertransportintensität wurde verfehlt.
Das liegt allerdings auch daran, dass wir in den letzten
Jahren einen Aufschwung und demzufolge eine große
Intensität in Bezug auf Mobilität und Güter erlebt haben.
Die Bundesregierung hat die Nachhaltigkeitsstrategie
zum Anlass genommen, bestimmte Leitplanken in politisches Handeln umzusetzen. Was die Gütertransportintensität angeht, hat die Bundesregierung die Mittel für
den Lärmschutz erhöht und verschiedene Masterpläne
im Hinblick auf Logistik und Güterverkehr erstellen lassen. Außerdem ging es um die Entwicklung alternativer
Möglichkeiten, Güter zu transportieren, und um einen
Mix verschiedener Verkehrsträger, um auf diesem Wege
die Klimabilanz Deutschlands zu verbessern.
Die Forschungsintensität im Bereich alternativer Antriebstechniken macht deutlich, dass die Bundesregierung auf diese Indikatoren reagiert hat. Das möchte ich
als Beispiel dafür anführen, dass all diese Indikatoren in
einem globalen Kontext zu sehen sind. Insbesondere in
Anbetracht der Finanzmarktkrise brauchen wir solche
globalen Indikatoren, um nachzusteuern.
Der Parlamentarische Beirat hat sich Gedanken gemacht, wie die soziale Teilhabe zu verbessern ist. Es
wurden Anhörungen durchgeführt und Konzepte entwickelt. Dabei ging es unter anderem um die Themen Demografie und Infrastruktur. Unser Hauptaugenmerk lag
auf der sozialen Komponente, gerade im ländlichen
Raum. Trotz des Bevölkerungsrückgangs und des zum
Teil stattfindenden Aussterbens der ländlichen Räume
müssen wir die Probleme unserer Bürgerinnen und Bürger im Hinblick auf die sozialen Infrastrukturen, die
Teilhabe und die Mobilität lösen. Unser Ziel darf nicht
sein, nur die Situation in den Ballungszentren zu verbessern, sondern wir müssen auch die Lage in den ländlichen Räumen im Blick haben, sowohl im Interesse der
dort lebenden älteren Menschen als auch im Interesse
der jungen Generation.
Meine Damen und Herren, der Parlamentarische Beirat ist auch ein Kontrollorgan. Wir haben aktiv daran
mitgearbeitet, diesen Fortschrittsbericht zu verbessern.
Wir haben der Bundesregierung geholfen, die Indikatoren anzupassen, sie modern auszugestalten. Denn natürlich ist dieser Fortschrittsbericht ein dynamischer Prozess. Die Indikatoren sollen nicht in Stein gemeißelt
sein. Beispielsweise wollen wir bei der Gesundheitspolitik einen zusätzlichen Schwerpunkt auf Prävention setzen. Da müssen wir auch einmal den Mut haben, den
Fortschrittsbericht zu überarbeiten und die Indikatoren
anzupassen.
({2})
Ich denke, dass der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung immer imstande ist, der Bundesregierung unterstützend zur Seite zu stehen. Ich bedanke
mich beim Bundeskanzleramt und beim Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung explizit für die
gute Kommunikation zwischen den verschiedenen Gremien. Ich möchte gern, dass es dabei bleibt, dass an den
Sitzungen im Parlamentarischen Beirat Beamte aus dem
Bundeskanzleramt zugegen sind; diese Verzahnung
sollte weitergeführt werden. In diesem Sinne arbeiten
wir konstruktiv weiter. Die Bürgerinnen und Bürger können sich sicher sein, dass sich alle Politiker, die ganze
Mannschaft in diesem Hohen Haus - die Frauschaft natürlich auch - Gedanken macht, wie es in Zukunft mit
Deutschland weitergeht. Dieser Fortschrittsbericht ist
eine gute Grundlage dafür.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt Lutz Heilmann für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste! „Für ein nachhaltiges Deutschland“, heißt
es im Titel des Fortschrittsberichts 2008 zur nationalen
Nachhaltigkeitsstrategie. Was heißt „ein nachhaltiges
Deutschland“? Für die Linke bedeutet ein nachhaltiges
Deutschland, dass erstens soziale Gerechtigkeit, zweitens der Erhalt der Umwelt und drittens eine wirtschaftliche Entwicklung verwirklicht wird. Wenn diese drei
Punkte erfüllt sind, bei allen Entscheidungen der Politik
beachtet werden, dann werden die Interessen heutiger
und künftiger Generationen gewahrt.
Gerade soziale Gerechtigkeit ist ein wichtiger Punkt,
für heutige und künftige Generationen. Meine Frage an
die Bundesregierung lautet deshalb: Ist Ihre Politik in
diesem Sinne nachhaltig? - Ich würde mich freuen,
wenn die anwesenden Staatssekretäre das den Ministern
und der Kanzlerin mit auf den Weg geben.
({0})
Schon der Titel „Für ein nachhaltiges Deutschland“
zeigt, dass es um einen Wunsch geht, dass Nachhaltigkeit noch nicht Realität ist. Schon mit der Überschrift
dieses Berichts stellt sich die Bundesregierung ein Armutszeugnis aus. Aber schauen wir uns die Politik der
Bundesregierung einmal konkret an!
Hat die Politik der Bundesregierung irgendetwas mit
Nachhaltigkeit zu tun? Wie steht es mit sozialer Gerechtigkeit für alle? In Deutschland leben ungefähr 2,5 Millionen Kinder in Armut. 7,5 Millionen Menschen in
Deutschland leben von Hartz IV. Millionen müssen, obwohl sie vierzig Stunden in der Woche arbeiten, am Monatsende zum Amt gehen, damit das Geld zum Leben
reicht. Altersarmut von Rentnerinnen und Rentnern ist
an der Tagesordnung. Ein besonderer Skandal: Frauen
bekommen für die gleiche Arbeit sage und schreibe
23 Prozent weniger Lohn, und das 60 Jahre nach Einführung des Grundgesetzes. Sinkenden Realeinkommen für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steht ein Rettungsschirm für sogenannte notleidende Banken gegenüber, mit dem Sie den Zockern von der Hypo Real Estate
und anderen Banken das Leben versüßen.
({1})
Soziale Gerechtigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen,
werte Bundesregierung, sieht anders aus. Was Sie tun,
hat damit nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Ich komme zum zweiten Punkt, dem Erhalt der Umwelt für alle. Tun Sie genug, um für uns und für unsere
Kinder eine lebenswerte Umwelt zu erhalten? Die Antwort ist klipp und klar Nein.
Die Bundesregierung ist 2005 mit dem Ziel gestartet,
ein Umweltgesetzbuch zu schaffen. Vor knapp zwei Wochen teilte uns Umweltminister Gabriel mit: Pustekuchen. - Der bayerische Löwe hat hier der Bundesregierung einen kräftigen Strich durch die Rechnung
gemacht. Damit haben Sie die Chance verspielt, ein gutes, ambitioniertes Umweltrecht zu schaffen.
Die Kfz-Steuerreform. Es ist richtig: So schlimm, wie
sie am Anfang angedacht war, wird sie doch nicht, aber
wirksame Anreize für den Ausstoß von weniger Schadstoffen setzen Sie wirklich nicht. Spritfresser werden
weitestgehend verschont. Da wir von Generationengerechtigkeit und Schulden sprechen: Durch diese KfzSteuerreform lassen Sie sich glattweg 1,8 Milliarden
Euro entgehen. Sonst schauen Sie auf jeden Euro, wenn
es aber um die Schonung der Eigentümer großer Autos
geht, dann sind Sie relativ großzügig.
({2})
Ein weiterer Punkt ist die Abwrackprämie. Diese als
Umweltprämie zu bezeichnen, ist schon fast dreist. Zum
Teil werden völlig funktionsfähige Pkw in der Presse
verschrottet. Dazu besteht noch die Möglichkeit zum
staatlich subventionierten Betrug. Ja, Sie haben richtig
gehört: Da alles so schnell wie möglich und unbürokratisch ablaufen soll, kann Mann oder Frau mit etwas gutem Willen nicht nur 2 500 Euro vom Staat abkassieren,
sondern das alte Auto auch noch gut nach Polen oder
Übersee verkaufen.
({3})
Ich sage: Gut so. Dann stinkt der deutsche Schrott wenigstens in der übrigen Welt weiter!
Zum Thema unbürokratische Handhabung habe ich
einmal eine Frage an die Bundesregierung: Wissen Sie,
wie viele Formulare jemand ausfüllen muss, um
Hartz IV zu beantragen und zu bekommen?
({4})
Ich empfehle Ihnen, sich einmal zu einer Arbeitsgemeinschaft zu bewegen. Dort können Sie etwas zum Thema
unbürokratische Verwaltung lernen.
Als Letztes hierzu möchte ich auf das Engagement
der Bundesregierung hinsichtlich der CO2-Werte bei
Pkw verweisen.
({5})
Von Klimaschutz ist dort weit und breit nichts zu sehen.
Ich komme zum dritten Punkt, nämlich zur wirtschaftlichen Entwicklung für alle.
({6})
Auch hier: Fehlanzeige! Sie legen Konjunkturprogramme auf, die den Namen nicht verdienen. Nehmen
wir ganz einfach einmal das Konjunkturpaket II: 50 Milliarden Euro für zwei Jahre. Demgegenüber stehen
480 Milliarden Euro für einen Bankenrettungsschirm.
({7})
Ich glaube, die Zahlen sprechen für sich.
Mit der beabsichtigten Schuldenbremse wird noch eines draufgesetzt und der öffentlichen Hand der Gestaltungsspielraum für soziale und ökologische Aufgaben
genommen. Dabei von Generationengerechtigkeit zu
sprechen, ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten. Es hilft
unseren Kindern und Enkeln nichts, wenn sie sich vielleicht schuldenfrei wähnen können, aber vor Schulen,
Krankenhäusern und Straßen stehen, die sprichwörtlich
einem Trümmerhaufen gleichen.
Was ist nach Auffassung der Linken erforderlich? Wir
brauchen erstens eine konsequente Abkehr vom Neoliberalismus, zweitens eine Abkehr vom Sozialraub,
drittens eine Abkehr von der Umweltzerstörung und
viertens eine Abkehr von der wirtschaftlichen Deregulierung.
Zur sozialen Gerechtigkeit. Wir, die Linken, fordern
einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,71 Euro.
({8})
Wir brauchen die sofortige Anhebung der Regelsätze bei
Hartz IV auf 435 Euro. Das Bundessozialgericht hat Ihnen das vor zwei Wochen um die Ohren gehauen: Für
Kinder brauchen wir bei Hartz IV eigene Regelsätze
nach Altersstufen. Wir brauchen die sofortige Anhebung
der Renten um 4 Prozent, und es muss endlich Schluss
mit der Diskriminierung von Frauen sein. Gleicher Lohn
für gleiche Arbeit! Demgemäß muss sich die Bundesregierung ihrer Verantwortung stellen und endlich handeln.
Zum Erhalt der Umwelt. Wir brauchen ein Umweltrecht, mit dem wir den Anforderungen der Zukunft gerecht werden. Es reicht nicht aus, da stehen zu bleiben,
wo wir jetzt sind. Wir brauchen eine Kfz-Steuerreform,
die diesen Titel verdient. Die Abwrackprämie gehört
abgeschafft. Wir brauchen mehr Verkehr auf der Schiene
und andere umweltverträgliche Verkehrsträger. Wir
brauchen eine Energiewende. Wir brauchen ein Schutzgebietsnetz anstelle von Schutzgebietsinseln für den
Stopp des Artensterbens. Wir brauchen hohe Umweltstandards für alle und nicht nur für eine Handvoll.
Wirtschaftliches Wachstum für alle. Ja, das ist richtig,
bedeutet aber, dass wir eine Demokratisierung der Wirtschaft durch mehr Mitbestimmung der Belegschaften
brauchen.
Was wir zuallerletzt brauchen, ist eine Schuldenbremse.
({9})
Eine Schuldenbremse ist eine Investitionsbremse. Eine
Schuldenbremse verschärft die Auswirkungen der jetzigen Wirtschaftskrise. Eine Schuldenbremse wird zur
weiteren Privatisierung der Daseinsvorsorge führen.
Stattdessen fordern wir die Einführung einer Bundesschuldenverwaltung, die einen Teil der Altschulden von
Bund, Ländern und Gemeinden übernimmt, sowie die
Umsetzung der vorhandenen Pläne zur Einführung einer
zentralen Bundessteuerverwaltung. Wir brauchen zudem
eine zentrale Börsenaufsicht. Wir brauchen vor allen
Dingen die Reform der Bildungsfinanzierung durch die
Einführung einer neuen Gemeinschaftsaufgabe und die
Aufhebung des Kooperationsverbotes.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fasse zusammen: Die Bundesregierung muss in ihrer Politik radikal
umlenken, um ihrer Politik das Attribut „nachhaltig“
verleihen zu können. Davon sind Sie leider meilenweit
entfernt. Deshalb kann ich Sie nur auffordern, endlich
umzudenken und Ihren Worten Taten folgen zu lassen.
Danke schön.
({10})
Nun hat der Kollege Winfried Hermann von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als wir vor rund zehn Jahren aus dem Parlament
heraus die Nachhaltigkeitsstrategie angestoßen haben,
war uns wichtig, dass die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit - soziale Gerechtigkeit, ökologische Verträglichkeit und Wirtschaftlichkeit - dynamisch und eng
miteinander verbunden, aber nicht als drei Säulen nebeneinander gestellt werden. Ein dynamisches Denk- und
Entwicklungskonzept war eine wesentliche Voraussetzung für diesen Ansatz.
Herr Kollege Heilmann hat uns gerade deutlich gemacht, was die Linke unter Nachhaltigkeit versteht,
nämlich erstens soziale Gerechtigkeit, zweitens Aufstockung von Hartz IV und drittens Mindestlohn für alle.
Das ist eine unverhältnismäßige und einseitige Interpretation dieses Begriffs und führt meines Erachtens völlig
in die Irre.
({0})
Damals hatten wir den Anspruch, mit diesem neuen
politischen Ansatz zu versuchen, eine neue Diskurskultur im Parlament zu entwickeln. Das heißt unter anderem, dass man die anderen differenziert kritisiert - auch
scharf -, aber nicht pauschal alle anderen nur schlecht
macht und platt kritisiert. Das habe ich vorhin jedoch
verärgert zur Kenntnis genommen. Die Linke hat an diesem Diskurs nicht differenziert teilgenommen.
({1})
Wir haben damals zu Recht versucht, aus einem wolkigen Begriff einen strategischen politischen Ansatz zu
machen, und zwar mit Zielen, mit Konzepten für bestimmte Bereiche, mit Zeitangaben, Maßnahmen, Methoden und Gesetzen, mit denen wir vorankommen können.
Diesen Anspruch haben wir damals erhoben. Nach
rund zehn Jahren und mehreren Fortschrittsberichten
kann man sagen, dass es sich gelohnt hat, in diesem Bereich Politik strategisch zu formulieren und wegzukommen von der allgemeinen Wolkigkeit, hinter der sich
jeder verstecken kann, wobei aber nichts herauskommt.
({2})
Daraus ist eine Strategie der Bundesregierung entwickelt worden. Ich finde es wirklich positiv, dass diese
Strategie den Regierungswechsel überlebt hat und dass
die Strategie, mit der man das Land langfristig im Sinne
der Nachhaltigkeit voranbringen will, im Kern gleichgeblieben ist. Das ist ein Erfolg all derer, die im Parlament
für nachhaltige Entwicklung gestritten haben.
({3})
Der Fortschrittsbericht ist an den sogenannten Ampelbericht des Rats für nachhaltige Entwicklung gekoppelt. Wir messen also, ob wir in Richtung Zielerreichung
gekommen sind oder uns gar davon entfernen. Dieser
Bericht zeigt klar auf, in welchen Bereichen wir auf dem
falschen Dampfer sind, in welchen Bereichen wir viel zu
langsam in Richtung Nachhaltigkeit unterwegs sind und
in welchen Bereichen wir wirklich gut sind.
Wenn Sie diesen Ampelbericht durchblättern und ein
bisschen aktualisieren, dann stellen Sie fest, dass es einige Felder gibt, bei denen wir tatsächlich auf dem richtigen Weg sind und sagen können, dass wir etwas
erreicht haben. Die Förderung erneuerbarer Energien
beispielsweise ist wirklich gelungen. Dabei haben wir
das Ziel sogar übererfüllt.
({4})
In anderen Bereichen haben wir die Ziele nur teilweise erreicht, oder die Kluft ist ziemlich groß.
Ein wirkliches Grundproblem nicht nur dieser Regierung, sondern auch der Vorgängerregierung ist, dass die
Regierung von der eigenen Administration im Austausch
mit dem Parlament zwar eine ambitionierte nationale
Nachhaltigkeitsstrategie erarbeiten lässt, dass aber die
praktische Politik manchmal meilenweit davon entfernt
ist. Das ist der einzige Punkt, in dem ich der Kritik der
Linken recht gebe.
Es stellt sich immer wieder die Frage, ob die kurzfristig verfolgte Politik ins langfristige Konzept passt. Wir
sehen an dieser Stelle eine große Lücke. Es ist aber die
Aufgabe des Parlaments und des Parlamentarischen Beirats, darauf hinzuweisen und immer wieder darauf zu
pochen. Ich meine, es hat sich gelohnt, dass wir den Parlamentarischen Beirat eingerichtet haben. Wir Grünen
sind sehr dafür, dass dieses Gremium verstetigt und auch
in der Geschäftsordnung gut verankert wird, damit auch
das nächste Parlament als Anwalt nachhaltiger Entwicklung dieses Projekt aus der Gesellschaft heraus weiter
verfolgt.
({5})
Es hat sich übrigens bewährt, dass innerhalb der Regierung das Green Cabinet gestärkt wurde, dass es Mitarbeiternetzwerke zwischen den verschiedenen Ressorts
gibt und dass es gelingt, die Ressorts zu vernetzen und
einen ganzheitlichen Politikansatz zustande zu bringen.
Aber wir haben, wie gesagt, auch einen großen Nachholbedarf. Ich will einige Beispiele aufzählen, von denen
ich glaube, dass man sie endlich angehen muss.
Beim Flächenverbrauch haben wir ein ambitioniertes
Ziel, mit dem wir seit Jahren nicht vorankommen. Der
Flächenverbrauch ist unerhört hoch, obwohl die Bevölkerungszahl nicht mehr steigt.
({6})
Wir haben kein Konzept gefunden, um den Flächenverbrauch von 120 Hektar pro Tag auf die angestrebten
30 Hektar pro Tag zu senken.
Der ökologische Landbau war uns immer ein wichtiges Anliegen. Dabei sind wir weit von dem Ziel entfernt,
das wir erreichen wollten. Wir bedauern, dass dabei der
Eindruck entsteht, dass wir, wenn wir das Ziel nicht erreichen können, es lieber ganz sein lassen. Wir hielten
das für einen kapitalen Fehler. Wir müssen in der Zielsetzung nachsteuern, aber auch in der Politik, um Verbesserungen zu erreichen.
({7})
Die Verkehrspolitik ist insofern interessant, als alle
Dimensionen der Nachhaltigkeit - sozial, wirtschaftlich
und ökologisch - in diesem Bereich gebündelt auftreten.
Man kann feststellen, dass wir in Teilbereichen etwas erreicht haben. So hat sich zum Beispiel die Energieproduktivität - also das Ausnutzen der Energie - im Transportsektor deutlich verbessert.
In der Summe stellt sich der Energieverbrauch aber
nicht so gut dar. Wenn man das mit dem wirtschaftlichen
Wohlstand nach dem Bruttoinlandsprodukt ins Verhältnis setzt, dann müssen wir feststellen, dass das angestrebte Ziel mitnichten erreicht wurde - weder im Personenverkehr noch im Güterverkehr -, obwohl wir das
klare Ziel haben, mehr Wohlstand ohne eine ständige
Zunahme des Verkehrs zu erreichen.
({8})
Warum wurde das Ziel nicht erreicht? Die größten
Probleme bestehen im Güterverkehr. Ich glaube, dass
sich die Politik zu sehr darauf verlässt, dass man gegen
manche Trends nichts machen kann, statt ambitioniert
genug das Konzept des Umsteuerns und Verlagerns zu
verfolgen. Das angestrebte Ziel, 25 Prozent des Güterverkehrs auf die Schiene zu verlagern, ist über die Jahre
beibehalten worden. Der Anteil schwankt zwischen
16 und 18 Prozent; wir kommen nicht weiter voran. Wir
können Fortschritte erzielen, wenn wir konsequent in
den kombinierten Schienengüterverkehr investieren.
Wenn wir dabei am Ball bleiben und uns stärker anstrengen als bisher, dann können wir dieses Ziel erreichen.
Aber es muss auch der Wille vorhanden sein, zu handeln.
Beim Personenverkehr haben wir zwar die richtige
Richtung eingeschlagen, sind aber weit von dem eigenen
Anspruch entfernt. Das hat meines Erachtens damit zu
tun - damit komme ich noch einmal zu dem Grundgedanken meiner Rede -, dass Politik in Krisensituationen
dazu neigt, kurzfristige Lösungen anzubieten. Die Automobilindustrie kommt in die Krise, und kurzfristig wird
eine Abwrackprämie für nötig gehalten, und wir müssen
schnell etwas tun, um den Verlust von Arbeitsplätzen zu
verhindern. Ich glaube, an dieser Stelle wird derzeit ein
großer Fehler gemacht. Wir sollten dafür sorgen, dass er
korrigiert wird. Denn die Krise der Automobilindustrie
ist nicht durch die Finanzkrise zustande gekommen, sondern sie hat sich schon lange angebahnt. Gerade das Beispiel der amerikanischen Automobilindustrie macht das
deutlich. Die Politik hat über Jahre hinweg die Automobilindustrie nicht gefordert. Sie hat sie ineffiziente Fahrzeuge produzieren und in die Krise rutschen lassen.
({9})
Aus unserer Sicht ist es absolut zwingend, dass man
aus der Krise heraus eine Chance entwickelt, indem innovative Ansätze gefördert und andere Antriebstechnologien, Kraftstoffe und andere Formen von Energienutzung und Verkehrssystemen entwickelt werden. Das
wäre der richtige, der nachhaltige Ausweg aus der Krise.
Darin liegt eine gute Chance. Das ist zwar Bestandteil
der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung und
anderer Konzepte, aber die Praxis ist durch kurzfristiges
Handeln geprägt. Wir meinen, dass die beschlossenen
Vorschläge den langfristigen Perspektiven nachhaltiger
Entwicklung glatt widersprechen.
({10})
Eine gute nachhaltige Politik würde die Krise als
Chance begreifen. Eine gute nachhaltige Politik würde
in einer Krise die Nachhaltigkeitsstrategie nicht beiseitelegen, gewissermaßen als Buch für schöne Zeiten, in das
man später wieder hineinschaut. Vielmehr müsste man
jetzt schauen, welche Ansätze wir in den letzten Jahren
zusammen mit unseren Experten in den Bereichen Verkehr, Landwirtschaft, Soziales und Bildung entwickelt
haben und welche geeignet sind, uns aus der Krise herauszuführen. Eine Krise bietet eine Chance für eine
nachhaltige Entwicklung. Wir, die wir hier im Parlament
für eine nachhaltige Entwicklung kämpfen und streiten,
sollten nicht aufgeben, sondern unsere Stimme erheben
und für nachhaltige strategische Konzepte plädieren.
Vielen Dank.
({11})
Der Kollege Dr. Matthias Miersch spricht jetzt für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist genau richtig, sich an diesem Tag und zu dieser
Stunde, an so exponierter Stelle, mit dem Thema nachhaltige Entwicklung zu befassen; denn die Zeit, in der
wir leben, schreit förmlich nach einem neuen Denken,
nach einem neuen Bewusstsein. Herr Kauch, Sie haben
die mangelnde Präsenz der Regierung moniert. Ich bin
froh und stolz, dass auf der Regierungsbank mit dem
Parlamentarischen Staatssekretär Michael Müller jemand sitzt, der schon vor 30 Jahren den Begriff der
nachhaltigen Entwicklung als möglichen Schlüssel zur
Bewältigung vieler Krisen etabliert hat. Man sieht heute,
dass er recht hatte, das zu problematisieren.
({0})
Die Debatte zeigt sehr deutlich, dass es genau richtig
war, dass die rot-grüne Regierung 2002 dem Begriff der
nachhaltigen Entwicklung Substanz verliehen hat, und
zwar dadurch, dass man Indikatoren aufgestellt hat, die
überprüfbar sind, an denen man eine Regierung messen
kann, Indikatoren, die es ermöglichen, Fehler einzugestehen, und anhand derer man erklären kann, warum etwas nicht funktioniert. Das Problem, dass der Begriff der
nachhaltigen Entwicklung häufig missbraucht wird, haben wir auch in dieser Debatte feststellen können. Was
der Kollege Heilmann - leider ist er nicht mehr da - zu
diesem Begriff gesagt hat, ist aus meiner Sicht genauso
fehlerhaft gewesen wie der Gebrauch des Begriffs der
nachhaltigen Entwicklung von einigen Managern in den
letzten Wochen. Sie machen keinen Unterschied und
missbrauchen den Begriff der nachhaltigen Entwicklung.
Die Menschen sind es leid, wenn Politik etwas suggeriert, das sie letztlich nicht halten kann. Auch hier Grenzen aufzuzeigen, heißt für mich, nachhaltig zu handeln.
({1})
Die Zeit macht deutlich, dass wir einen neuen Wachstumsbegriff brauchen. Bislang haben wir ihn nur im
Kontext von „immer höher, immer weiter, immer schneller“ verwendet. Wir brauchen aber einen Begriff, der
Wachstum als „immer besser“ definiert. Wir konnten erleben, dass die Kurssprünge bestimmter Unternehmen
nicht dazu führten, dass es den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern der betreffenden Unternehmen besser ging.
Wir konnten sehen, dass kurzfristige Kurssprünge nicht
dazu führten, dass die Substanz der Unternehmen verbessert wurde. Wir konnten erleben, dass es höchst fatal
ist, wenn sich die Gehälter der Manager an Kurssprüngen orientieren.
({2})
Wir sind aufgerufen, die Konsequenzen aus diesen
Beobachtungen zu ziehen und zu fragen, wie wir dieses
Denken verändern können. Auch dazu sind wir in einer
solchen Stunde aufgerufen, und zwar in allen Ressorts
und interdisziplinär, wie es der Begriff der nachhaltigen
Entwicklung nahelegt.
Wir müssen überlegen, was es heißt, wenn die natürlichen Ressourcen immer geringer werden und parallel zu
dieser Entwicklung immer mehr Menschen auf diese
Ressourcen zugreifen wollen. Nachhaltige Entwicklung
heißt, dort anzusetzen.
Ich bin dem Kollegen Hermann dankbar, dass er das
Thema der erneuerbaren Energien hier angesprochen
hat. Gerade an diesem Thema zeigt sich doch, dass Energie nicht nur ökologische Aspekte beinhaltet, sondern
dass Energie in Zukunft ein ursoziales und ein ökonomisches Thema sein wird. Es stellt sich die Frage, wer
künftig noch mobil sein wird, wer künftig noch ein Auto
fahren kann, sich einen Kühlschrank leisten bzw. am sozialen Leben teilhaben kann. Es stellt sich außerdem die
Frage, wie Deutschland in der globalen Welt seinen
Stammplatz als Exportweltmeister verteidigen kann. Die
Entwicklung der erneuerbaren Energien zeigt doch, dass
wir mit diesem Thema genau auf das richtige Pferd gesetzt haben, als wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz
unter Rot-Grün auf den Weg gebracht haben.
({3})
Wir sind dabei, auf Energien zu setzen, die endlose
Ressourcen haben. Wir sind dabei, auf eine Technologie
zu setzen - gemäß dem Motto: Die Sonne schickt keine
Rechnung -, die es erlaubt, eine immer größer werdende
Anzahl von Menschen mit dem Luxusgut Energie versorgen zu können. Das ist ein Beispiel gelebter nachhaltiger Politik.
Allerdings müssen wir uns die Frage stellen, wie wir
mit dem Begriff der Nachhaltigkeit auch im parlamentarischen Verfahren und im Kontext mit der Regierung
umgehen wollen. Ich bin dankbar, dass wir Vertreter des
Rats für Nachhaltige Entwicklung unter uns haben, die
in den vergangenen drei Jahren bei diesem Thema sehr
eng mit uns zusammengearbeitet haben. Ich finde es
richtig, dass wir an allen Stellen die Frage aufgeworfen
haben, wie wir es schaffen, bereits während der Gesetzesberatung den Begriff der nachhaltigen Entwicklung
zu etablieren. Wenn wir Technikfolgenabschätzung betreiben, dann muss es auch möglich sein, Ministerien zu
zwingen, Farbe in Bezug auf die Frage zu bekennen, wie
nachhaltig Gesetze sind.
({4})
Dass alles unterschiedlich interpretierbar ist, ist uns
allen klar. Das hat auch die Diskussion heute gezeigt.
Aber wenn wir im Gesetzesberatungsverfahren zu klaren
Nachhaltigkeitschecks kommen, dann sorgen wir für die
notwendige Transparenz. Dann sieht man, warum ein
Gesetz auf den Weg gebracht wird und welche Schwächen und welche Stärken es hat.
Damit bin ich bei den großen Themen, die uns sicherlich auch in diesem Parlament noch in sehr unterschiedlicher Weise beschäftigen werden. Es geht um die großen Zukunftsfragen, die wir hier, aber auch an anderer
Stelle diskutieren. Wie halten wir es mit der Energieversorgung? Wir werden die Debatte „Atomkraft - ja oder
nein?“ erleben. Ich glaube, das ist ein gutes Beispiel, an
dem man zeigen kann, dass es falsch wäre, in diese
Technologie zu investieren. Sie ist eben nicht nachhaltig,
jedenfalls nicht aus der Sicht der SPD-Fraktion, weil den
nachfolgenden Generationen Müll unerträglichen Ausmaßes hinterlassen wird, von dem wir nicht wissen, welche Gefahren für nachfolgende Generationen von ihm
ausgehen.
({5})
Das zweite große Thema betrifft die Frage, wie jemand gestellt werden soll, der Vollzeit in Deutschland
arbeitet. In der Diskussion über den Mindestlohn geht es
nicht nur um die Würde von Arbeit. Man muss vielmehr
gleichzeitig bedenken, dass ausreichender Lohn auch zukünftig dazu führen wird, dass Menschen ausreichend in
die Sozialversicherungssysteme einzahlen werden. Gelebte nachhaltige Politik ist auch, dass man an die Zukunft und an spätere Rentenansprüche etc. denkt. Das
können aber diejenigen nicht, die nicht einzahlen können, weil sie zu wenig verdienen.
({6})
Der dritte Punkt, der augenblicklich intensiv diskutiert wird, betrifft die Schuldenbremse. Kollegen von der
Linken, ich glaube, es ist wichtig, dass man im Interesse
der nachfolgenden Generationen die Schuldenaufnahme
eindämmt. Denn was könnte man alles mit dem Geld,
das man für die Zinszahlungen aufwendet, tun, was
könnten wir beispielsweise für die Bildung tun, wenn
wir diese Lasten nicht tragen müssten?
Insofern ist es aus meiner Sicht richtig, dies zumindest im Blick zu haben. Man sollte aber auch im Blick
haben - das ist an die Adresse der FDP gerichtet -, wie
die Einnahmen des Staates garantiert werden können.
Beides ist wichtig, und für beides werden wir uns einsetzen.
Ich habe drei Beispiele für nachhaltige Politik genannt. Wir freuen uns auf die Beratung des Fortschrittsberichts in den Ausschüssen. Wir freuen uns, an dem
Thema „nachhaltige Politik“ zusammen mit allen in diesem Hause arbeiten zu können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Für die Fraktion der FDP spricht jetzt der Kollege Patrick Döring.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Debatte über die Nachhaltigkeitsstrategie zeigt sehr
deutlich, dass sich jeder gern diejenigen Indikatoren heraussucht, die ihm gefallen. Besonders bei der Rede des
Kollegen Heilmann ist aufgefallen, wie weit man sich
vom eigentlichen Thema entfernen kann, nur um in seiner Redezeit die üblichen Stichworte des Wahlprogramms unterzubringen.
({0})
Ich will versuchen, mich auf drei Teile dieses Berichts
zu konzentrieren.
Erstens. Wir stellen fest - auch der Kollege Hermann
hat es angedeutet -, dass wir beim Thema „Güterverkehrsintensität und Verkehrsentwicklung insgesamt“
nicht in allen Punkten diejenigen Ziele erreicht haben,
die wir angestrebt haben. Wir sollten auch darüber diskutieren, dass man das relative Wachstum der Gesamtmenge und die Intensität weiterhin auseinanderhalten
muss. Ich persönlich bin der festen Überzeugung, Kollege Hermann: Wenn wir unsere Position als Exportnation - unser Außenhandel hat ein Volumen von
1 250 Milliarden Euro - nicht verschlechtern wollen, sollten wir nachhaltige Politik nicht über eine Beschränkung
der Gesamtmenge von Verkehrsbewegungen betreiben.
({1})
Das ist einfach die lautere Wahrheit. Wir werden unsere
Ökonomie nicht innerhalb von wenigen Jahren zu einer
binnenmarktorientierten Ökonomie umbauen können.
Ich glaube auch nicht, dass das vernünftig wäre.
Vernünftig ist es, eine Politik zu machen, die dazu
führt, dass wir die vorhandenen Verkehrswege und die
vorhandenen Kapazitäten besser nutzen. Wir sollten mit
den Schienenverkehrsunternehmen am Potsdamer Platz
und der DB Netz diskutieren, wie wir das vorhandene
Schienennetz so nutzen können, dass mehr Züge auf diesen Gleisen fahren können. Anders als beim Lkw-Verkehr brauchen Züge relativ große Mindestabstände. Daher stellt sich die Frage: Wie kann man die
Sicherheitsabstände durch intelligente technische Investitionen verkürzen, damit es zu mehr Intensität auf dem
vorhandenen Netz kommt. Dadurch würde auch die Problematik des Bodenverbrauchs weiter in den Blickpunkt
rücken.
({2})
Zweitens. Ich warne davor, die Bundesregierung jetzt
zu sehr aufzufordern, kleine und kleinste Programme
aufzulegen. Ein Beispiel sind die Aktivitäten im Bereich
des nachhaltigen Bauens. Ich bin sehr dafür, dass wir mit
der deutschen Bauwirtschaft, mit dem deutschen Handwerk auf dem Gebiet „Energieverbrauch, Ökobilanz und
Lebenszeit eines Gebäudes“ allergrößte Anstrengungen
unternehmen. Die Bauforschung in unserem Land ist da
wirklich schon weit fortgeschritten. Allerdings sind mittlerweile 60 Kategorien mit zahlreichen Unterkategorien
für nachhaltiges Bauen gefunden worden. Das Ganze
ging bis hin zu den Fragen, welche Wandfarbe verwendet wurde, welche Art von Kacheln in den Bädern verlegt wurde und ob ein oder zwei Waschbecken in dem
Hauptbad untergebracht sind. Das alles wird unter dem
Begriff „nachhaltiges Bauen“ subsumiert. Dazu kann ich
nur sagen: Damit werden wir die Menschen in unserem
Land für dieses Thema nicht begeistern können.
({3})
Deshalb sollten wir im Parlament diese Verästelungen in
Einzelprogramme und die damit verbundenen Verwirrungen am besten stoppen.
Ich will noch auf einen Punkt eingehen, der mir in einigen Reden aufgefallen ist, zu meiner Überraschung
auch in der, die eben mein geschätzter Kollege Miersch
gehalten hat. Es geht um das Thema Wirtschaftsordnung
und Wirtschaftskrise. Die Mehrheit der Menschen in
Deutschland ist nicht in börsennotierten Unternehmen
beschäftigt. Die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer ist nicht in Unternehmen mit wie auch immer bezahlten Vorständen beschäftigt. Die Mittelständler, die Handwerker, die Gewerbetreibenden und die
Freiberufler in unserem Land sind erfreulicherweise viel
weniger kurzfristig orientiert, als Sie es gelegentlich in
den ökonomistischen Zerrbildern, die Sie in manchen Ihrer Reden zeichnen, darstellen.
({4})
In der deutschen Wirtschaft wird überwiegend nachhaltig gehandelt. Das sollten wir an dieser Stelle anerkennen.
Vielen Dank.
({5})
Andreas Jung hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst möchte ich mich jenen Vorrednern anschließen, die in den Mittelpunkt gestellt haben, dass es gut ist,
ein Gremium wie den Parlamentarischen Beirat für
nachhaltige Entwicklung zu haben, und die hervorgehoben haben, dass es, von wenigen Ausnahmen abgesehen,
eine Freude ist, in diesem Gremium zu arbeiten, weil
dort in der Regel das gemeinsame Ringen um die Sache
und nicht die parteipolitische Polemik oder der parteipolitische Streit im Mittelpunkt steht.
({0})
Durch die konstruktive Arbeit haben wir gemeinsam
Erfolge erzielt, auf die wir ein Stück weit stolz sein können. Das betrifft inhaltliche Fragen, aber auch eine formale Frage. Wir haben erreicht, dass die Bundesregierung unsere Anregung aufgenommen hat, die
Nachhaltigkeitsprüfung in die Gesetzesfolgenabschätzung einzubeziehen. Das ist ein wichtiger Punkt. So wird
in den ganz normalen Lauf eines jeden Gesetzes der Tagespolitik der Gedanke der Nachhaltigkeit hineingebracht. Das ist sicher ein Erfolg unserer Arbeit.
({1})
Es ist unser gemeinsames Bemühen - das wurde zu
Recht schon gesagt -, den Beirat weiter zu stärken, auch
formal weiter zu stärken. Wir treten dafür ein, dass in der
nächsten Legislaturperiode dieser Beirat - parallel zu anderen Ausschüssen - mit stärkeren Rechten und stärkeren Befugnissen ausgestattet wird, weil das die formale
Fundierung unseres inhaltlichen Bemühens um mehr
Nachhaltigkeit wäre.
Nun zu den Inhalten, zu dem materiellen Gehalt der
Nachhaltigkeit. Letztlich geht es uns darum, Nachhaltigkeit in allen Bereichen zu verankern, Deutschland insgesamt nachhaltiger zu machen und dafür zu sorgen, dass
wir in Zukunft weniger auf Kosten kommender Generationen leben, dass wir heute nicht auf Kosten von morgen leben, so wie das in der Vergangenheit in unterschiedlichsten Bereichen leider zu oft der Fall war.
Die wichtigen Bereiche, um die es hier geht, sind angesprochen worden: erstens wirtschaftliche und soziale
Nachhaltigkeit - dies ist durch die Wirtschafts- und Finanzkrise noch mehr in den Mittelpunkt gerückt - und
zweitens - das zu betonen ist mir wichtig - finanzielle
Nachhaltigkeit. Dabei geht es um das Bemühen, den
künftigen Generationen nicht immer mehr Schulden zu
hinterlassen, von denen sie irgendwann erdrückt werden
würden. Deshalb ist es jetzt umso richtiger und wichtiger, gemeinsam für eine wirksame, für eine harte Schuldenbremse einzutreten.
({2})
Wir sind in einer Krise. Da ist es richtig, zu investieren und mehr Geld auszugeben, als ursprünglich vorgesehen war. Die andere Seite der Medaille ist: Wenn es
wieder besser geht, dann müssen die Schulden, die jetzt
aufgenommen werden, wieder abgezahlt werden. Dafür
brauchen wir die Schuldenbremse im Grundgesetz.
Ich komme zum dritten Bereich, zur ökologischen
Nachhaltigkeit und zum Umweltschutz, sozusagen zur
Geburtsstätte des nachhaltigen Denkens überhaupt. Im
Hinblick auf das, was kritisch diskutiert wurde und was
anhand der einen oder anderen Entscheidung auch problematisiert wurde, ist mir schon wichtig, zu fragen: Wie
steht es um unseren Fortschritt? Da will ich den Bereich
Klimaschutz herausgreifen. Ich gebe zu, dass es richtig
ist, zu fordern, dass die Berichte zur Strategie in kürzeren Zeitabständen vorgelegt werden. Andererseits finde
ich es aber auch spannend, über einen Zeitraum von einigen Jahren zu betrachten: Wie haben wir uns entwickelt?
Wie werden wir unserem Anspruch, Vorreiter im Klimaschutz zu sein, gerecht?
Die Zahlen, die im Bericht zur Nachhaltigkeitsstrategie enthalten sind, zeigen uns, dass wir in der langfristigen Perspektive unserem Anspruch gerecht werden. Das
gilt für die Formulierung der zukünftigen Ziele. Wir vertreten jetzt nämlich ehrgeizigere Ziele als noch vor wenigen Jahren. So bekennt sich die Bundesregierung zu dem
Ziel, dass bis zum Jahre 2020 40 Prozent der Treibhausgase eingespart werden sollen.
Das gilt aber auch für das Erreichen der Ziele, die wir
uns in der Vergangenheit gesetzt haben. Wir können dem
Bericht entnehmen - es handelt sich um den Stand von
2007; wir sind jetzt sogar einen Schritt weiter und haben
die Zahlen von 2008 -, dass wir die Ziele, die wir laut
unserer Selbstverpflichtung im Kioto-Abkommen erst
im Jahre 2012 hätten erreichen sollen, bereits jetzt erreicht haben. Wenn wir uns weiter anstrengen - das sollten wir machen -, dürften wir diese Ziele sogar übererfüllen.
({3})
Was für die Ziele im Allgemeinen gilt, gilt auch für
einzelne Bereiche. Diese sind schon von den Kollegen
Hermann und Miersch angesprochen worden.
Im Bereich der erneuerbaren Energien haben wir
schon jetzt die Ziele, die wir für uns 2012 gesetzt haben,
nicht nur erreicht, sondern übererfüllt. Ich denke, das
sollte uns ermutigen, diesen Weg weiterzugehen. Das
zeigt uns auch, dass man, wenn man gemeinsam für
Nachhaltigkeit streitet, Ziele nicht nur erreichen, sondern manchmal sogar mehr erreichen kann, als man vorher glaubte.
Auch im Bereich der Energieproduktivität und im Bereich der Energieeffizienz gilt das Gleiche. Wir alle wissen, dass wir hier noch Spielräume haben. Es ist aber
doch eine wichtige Wegmarke, dass, wie wir dem BeAndreas Jung ({4})
richt entnehmen können, die Energieproduktivität in
Deutschland seit 1990 um 40 Prozent gestiegen ist. Wir
wollen daran weiterarbeiten und wollen gerade auch die
Krise nutzen, auf diesem Weg fortzuschreiten.
Ich möchte betonen - das halte ich für ganz wichtig -,
dass die Krise in der Wirtschaft nicht dazu führen darf,
dass die ökologischen Ziele hintangestellt werden. Eine
Lehre aus dieser Krise ist ja gerade, dass es richtig ist,
für nachhaltige Investitionen in allen Bereichen zu sorgen. Das tun wir etwa mit den zusätzlich bereitgestellten
Milliarden für das Gebäudesanierungsprogramm. Mit
diesem Geld leisten wir einen Beitrag zur nachhaltigen
Entwicklung im Umweltschutz sowie zur Nachhaltigkeit
bei den Finanzen der öffentlichen und privaten Haushalte; denn beide werden zukünftig von Verbrauchskosten entlastet. Auch im Bereich Arbeit und Soziales trägt
das zur Nachhaltigkeit bei; denn durch diese Maßnahmen werden Aufträge ausgelöst, die ganz konkret Arbeitsplätze im Handwerk erhalten bzw. schaffen.
Damit können wir feststellen, dass wir in diesem Bereich auf einem guten Weg sind. Sicherlich bleibt auch
hier noch einiges zu tun. Es wurde kritisch angemerkt,
dass noch nicht ganz konkret und verbindlich festgezurrt
wurde, wie es langfristig weitergehen soll. Ich denke, es
ist unsere gemeinsame Aufgabe, im Parlament und im
Parlamentarischen Beirat für Nachhaltigkeit daran zu arbeiten. Dieser Bereich ist aber ein gutes Beispiel dafür
- deshalb habe ich ihn herausgegriffen -, um zu zeigen,
dass wir auf einem guten Weg sind. All das stellt auch
eine Ermunterung für unser Eintreten für mehr Nachhaltigkeit in Deutschland dar.
Herzlichen Dank.
({5})
Ulrich Kelber hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Etwas Negatives zu Beginn: Wir müssen, wie
ich denke, bilanzieren, dass unsere Debatten darüber,
wie Nachhaltigkeit und nachhaltige Politik zu bewerkstelligen sind, noch nicht an die breite Öffentlichkeit
durchgedrungen sind. Würde man fragen, welche Themen die deutsche Innen- und Außenpolitik sowie andere
Politikfelder beherrschen, würde der Begriff der Nachhaltigkeit in einer Aufzählung nicht an vorderer Stelle
stehen. Würde man in der Öffentlichkeit, in den Medien
oder auch in einer Runde von Abgeordneten fragen:
„Wie definieren Sie für sich Nachhaltigkeit?“, würde
man vielfach auf Ratlosigkeit treffen.
({0})
Parallel zu dieser Debatte erleben wir fast schon eine
Trivialisierung des Begriffs Nachhaltigkeit. Er verkommt zu einem überhäufig verwendeten Füllwort. Es
gibt zwei Ursachen für diesen Zustand, der auch schon
von einigen Kolleginnen und Kollegen angesprochen
wurde.
Erstens. Es gibt einen Missbrauch des Begriffs. Den
findet man natürlich vor allem im Bereich von Lobbyverbänden, von Unternehmen und Interessengruppen,
die bestimmte Dinge durchsetzen bzw. für ihr Handeln
werben wollen. Diesen Missbrauch, auch „green
washing“ genannt, kann man relativ leicht auf einen
Punkt bringen: Man macht so weiter, wie man bisher gearbeitet hat; man bezeichnet das aber ab sofort als nachhaltig. Man verändert also die Begründung für das, was
man tut. Früher, als es noch keinen interessierte, ob etwas nachhaltig ist oder nicht, hat man die Leute, die für
nachhaltige Politik eingetreten sind, veräppelt. Heute, da
sich die Mehrheit der Leute dafür interessiert, behauptet
man einfach, dass das, was getan wird, nachhaltig ist. Diesem Missbrauch muss man natürlich entgegentreten.
Es wäre gut, wenn wir das als Politiker relativ geschlossen täten.
({1})
Zweitens. Darüber hinaus beinhaltet dieser Begriff
eine gewisse Sperrigkeit. Wir müssen einen neuen Begriff mit Leben füllen und klarstellen, wie wir ihn verwenden wollen. Ein wichtiger Schritt, um das zu erreichen, wäre, die Vorteile nachhaltiger Politik deutlicher
zu machen: der Erhalt von Chancen; der Wunsch, in einigen Jahren den kommenden Generationen die gleichen
Chancen, die gleichen Handlungsspielräume und die
gleiche Qualität von öffentlichen Gütern einzuräumen.
Ein anderes Beispiel ist die Möglichkeit zur Kooperation. Wir merken das zum Beispiel in Klimaschutzverhandlungen. Wir können andere Länder nur dann überzeugen, mitzuziehen, wenn diese das Gefühl haben: Die
westliche Welt und die industrialisierten Staaten sind bereit, eine nachhaltige Politik zu machen, mit der uns die
gleichen Chancen, die gleichen Partizipationsmöglichkeiten und die gleichen Anteile am weltweiten Wohlstand eingeräumt werden.
Nachhaltigkeit gibt die Chance für dauerhafte Lösungen. Es geht nicht nur um Lösungen, mit denen ich für
drei, vier oder fünf Jahre ein Problem behoben habe.
Vielmehr muss der Ansatz sein, dass das Problem dauerhaft gelöst wird. Das muss man den Menschen deutlich
machen. Dafür gibt es eine gute Methode: Wir sollten
nicht nur darüber sprechen, was wir an Instrumenten einsetzen wollen, sondern wir müssen die Menschen überzeugen, welchen Vorteil eine Welt beispielsweise im
Jahr 2020 hätte, wenn wir die Ziele mit Blick auf die Indikatoren erreicht hätten. Das muss einmal dargestellt
werden, auch in der Öffentlichkeitsarbeit.
Stellen Sie sich einmal vor, wie die Tagesthemen im
Jahr 2020 in einer Gesellschaft aussehen, die die Ziele
erreicht hat, die wir im Fortschrittsbericht für eine nachhaltige Politik beschreiben. Das wäre eine andere, eine
bessere Gesellschaft mit mehr Lebensqualität als die
heutige. Für solche Ziele kann man vor allem bei jungen
Menschen werben. Wir müssen die Zielvorstellungen
und nicht die Instrumentendebatte nach vorne stellen.
Dabei bietet die Breite der Nachhaltigkeitspolitik eine
große Chance. Als jemand, der in der Umweltpolitik zu
Hause ist, nenne ich diesen Punkt bewusst an erster
Stelle. Ich mache das auch deswegen, weil man dann,
wenn man von den drei Säulen der Nachhaltigkeit
spricht, eines nicht vergessen darf: Die verletzlichste
dieser Säulen ist die uns umgebende Umwelt, die Ökologie. Sie kann am leichtesten unwiederbringlich verloren
gehen. Daher darf sie bei der Verfolgung unserer Ziele
nicht relativiert werden, sondern sie muss immer mitgedacht werden. Sie bildet klare Grenzen für all das, was
man in der Politik machen kann.
Wir debattieren natürlich auch über die Bildungsziele.
Ein Land wie Deutschland muss sich fragen: Sind wir
richtig aufgestellt, um die Empfehlungen der internationalen Organisationen wie der OECD umzusetzen, nämlich die Anzahl der Menschen mit einem Hochschulabschluss, den sie zum Beispiel für die Jobs der Zukunft
benötigen, zu erhöhen? Ist unser System, mit dem wir
Bildung vermitteln, und sind die Investitionen in die verschiedenen Stufen der Bildung richtig ausgerichtet, um
dieses Ziel zu erreichen?
Wir sehen, dass führende Länder wie Finnland bei
Bildungsvergleichen besser abschneiden, weil dort
90 Prozent eines Jahrgangs einen Schulabschluss machen, der den Zugang zur Hochschule erlaubt. Um es auf
unsere Verhältnisse zu übertragen: 90 Prozent eines
Jahrgangs machen dort Abitur. Wenn in Debatten Bildungspolitiker erklären, es könne nicht das Ziel sein,
dass die Mehrheit eines Jahrgangs Abitur macht, dann
muss man sagen: Diese Politiker sind in ihrem Lösungsansatz nicht nachhaltig. Sie müssen entweder dazulernen
oder abgelöst werden.
({2})
Angesichts der Tatsache, dass in der Bundesrepublik
Deutschland die Hälfte aller Kinder in den Ballungsgebieten aus Familien mit Migrationshintergrund kommt,
muss die sprachliche Integration weit über das Maß der
Verbesserung in den letzten Jahren - die Situation hat
sich hinsichtlich der Bemühungen um Integration schon
verbessert - fortgesetzt werden. Das sind so einfach ablesbare Größenordnungen, dass die Debatten der Vergangenheit über die Instrumente leicht überwunden werden
können.
Wie auch andere Staaten in Europa - wir haben diese
Debatte etwas früher begonnen - stellt uns natürlich die
demografische Veränderung, also die Tatsache, dass das
Durchschnittsalter der Menschen steigt und es immer
mehr ältere Menschen gibt, vor entsprechende Herausforderungen. Wir müssen uns fragen: Wie muss eine Infrastruktur ausgerichtet werden, die eventuell später von
weniger Menschen genutzt wird? Wie werden die
Sozialsysteme gestützt?
Wenn wir wissen, dass in Zukunft mehr Menschen
durch ihr Alter auf Solidarität in den Sozialsystem angewiesen sind, dann stellt sich die Frage, ob wir es uns erlauben können, die Sozialsysteme aufzuteilen in einen
Teil von Niedrig- und Mittelverdienern, die in das Solidarsystem einzahlen müssen, und in einen Teil von Besserverdienenden, denen es freigestellt wird, ob sie in das
Solidarsystem einsteigen oder nur unter sich für Solidarität sorgen. Diese Frage muss man erneut stellen, weil
man ansonsten viele Menschen ihrer Zukunftschancen
beraubt.
Deswegen müssen wir uns wirklich überlegen: Welche Methoden haben wir eigentlich, nachhaltig zu arbeiten? Im Rahmen einer Nachhaltigkeitsprüfung jedes Gesetzes wäre es nötig, eine Debatte über die Frage zu
führen: Machen wir ein Gesetz, mit dem wir notdürftig
etwas flicken? Machen wir ein Gesetz, mit dem wir einen ersten Baustein für eine Lösung schaffen, was ja
auch in Ordnung ist? Oder machen wir ein Gesetz, mit
dem wir nachhaltig etwas verändern? Letzteres führt
möglicherweise dazu, dass die heutige Generation mehr
tragen muss, zumindest so viel, wie sie selber davon profitiert; aber das wäre im Sinne der nächsten Generation,
und die Probleme wären in zehn Jahren umso geringer.
Diese Debatte sollten wir jedes Mal auf der Grundlage
von Expertisen ausführlich führen; das ist die Anstrengung wert.
Wenn wir diese Debatte im Zusammenhang mit einer
Nachhaltigkeitsprüfung für jedes neue Gesetz führen, sollten wir eines noch ergänzen - das wäre meine Bitte -: Wir
sollten auch darüber nachdenken, ob wir nicht für die
Gesetze, die keine nachhaltigen Subventionen betreffen,
die Selbstverpflichtung einführen, sämtliche Subventionen - wir haben ja den Subventionsbericht - noch einmal auf ihre Nachhaltigkeit hin zu überprüfen, und wir
sollten überlegen, ob wir nicht zumindest die Subventionen, die nicht nachhaltig wirken, in der Gesamtsumme - nicht jede einzelne; sonst kommt immer eine
neue dazu - um 10 Prozent jedes Jahr reduzieren. Auch
das wäre ein wichtiger Schritt hin zu einer nachhaltigen
Politik.
Vielen Dank.
({3})
Der letzte Redner in der Debatte ist der Kollege
Dr. Günter Krings für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Ich möchte, auch meiner Rolle als
Vorsitzender des Parlamentarischen Beirats gemäß, die
letzte Rede in dieser Debatte zunächst dazu nutzen, mich
zu bedanken: bei allen Kolleginnen und Kollegen im
Beirat für die Arbeit, die wir im Zusammenhang mit der
Erarbeitung unserer Stellungnahme zu diesem Fortschrittsbericht, die kurz vor der Vollendung steht, bereits
geleistet haben, sowie bei der Bundesregierung für die
Erstellung des Berichts. Ich darf auch meiner Freude
Ausdruck verleihen, dass nicht nur der Staatsminister
aus dem Kanzleramt, Bernd Neumann, in dieser Debatte
anwesend ist, sondern - jedenfalls auf dem Höhepunkt
der Debatte und ich nehme es nicht persönlich, dass der
Höhepunkt in der Wahrnehmung einiger schon vorbei zu
sein scheint - auch über ein halbes Dutzend Ministerien
vertreten waren. Daran zeigt sich, dass die Bundesregierung begriffen hat, dass es sich um eine Querschnittsaufgabe handelt. Allerdings muss die Ausdauer mancher
Ressorts noch gesteigert werden.
({0})
Aber der Grad der Anwesenheit war auf jeden Fall ein
gutes Zeichen.
Der Bericht selber weist Licht und Schatten auf. Das
wird mit den schönen Symbolen für Sonne über Wolken
bis hin zu Gewitter dargestellt. Zwölfmal scheint die
Sonne über Indikatoren; deutlich weniger - nur siebenmal - sind Gewitterwolken zu sehen. Das zeigt, dass wir
in vielen Punkten - wenn auch nicht in allen - auf einem
guten Wege sind. Stichworte wurden genannt: Reduzierung der Treibhausgase, die Übererfüllung der Ziele bei
den erneuerbaren Energien, eine stärkere Berücksichtigung älterer Erwerbstätiger im Erwerbsleben, Ausbau
der Ganztagsbetreuung - insbesondere aufgrund der letzten Initiativen aus dem von-der-Leyen-Ministerium - für
die Drei- bis Fünfjährigen. Insofern sind zu Recht einige
Sonnen zu sehen.
Aber das Wetter kann sich manchmal schnell ändern.
Das sehen wir etwa beim Indikator Staatsverschuldung.
Vor der Finanzmarktkrise sah das noch alles sehr gut
aus. Es war wichtig, dass wir die Anstrengungen zur
Konsolidierung unternommen haben; denn sonst hätten
wir es noch schwerer, in dieser Krise zu reagieren.
Dass Nachhaltigkeit ein Thema ist, das - Herr Kollege Kelber, da stimme ich Ihnen zu - von den Medien
und in der Öffentlichkeit noch nicht ausreichend wahrgenommen worden ist, ist sicherlich richtig. Aber das
liegt auch daran, dass unsere mediale Öffentlichkeit in
erster Linie Probleme wahrnimmt und beschreibt. So
sind die Nachrichten im Fernsehen und in den Zeitungen
aufgebaut. Nachhaltigkeit ist aber keine Problembeschreibung, sondern ein Lösungsansatz. Deshalb ist es
gerade jetzt, in der Zeit der Finanzmarktkrise, wichtig,
dass wir dieses Thema gemeinsam nach vorne bringen.
In Teilen der Wirtschaft - nicht in allen Bereichen der
Wirtschaft -, die übrigens auch von Ihrer Partei, Herr
Kollege Döring, als besonders modern, wegweisend und
dynamisch dargestellt worden sind, war und ist vielleicht
noch heute oft zu kurzfristiges, zu kurzatmiges Denken
und Handeln an der Tagesordnung. Es wurde mehr auf
Quartalsberichte und weniger auf langfristige Erfolge,
mehr auf Tageskurse als auf bleibende Werte geachtet.
({1})
- Da gab es zugegebenermaßen falsche Wegweisungen,
teilweise auch durch den Gesetzgeber.
Es gibt einen zweiten aktuellen Anlass, warum dies
heute eine besonders wichtige Debatte ist. Ich habe in einer guten Stunde das Vergnügen, den Beratungen in der
Endphase der Föderalismuskommission II beizuwohnen.
Hier versuchen wir, mit den Folgen eines nicht nachhaltigen politischen Denkens, mit dem Marsch in den
Schuldenstaat seit über vier Jahrzehnten aufzuräumen.
Die Instrumente wurden genannt: Schuldenbremse, Stabilitätsrat. Es soll ferner ein Frühwarnsystem gegen neue
Schulden eingeführt werden. Es ist allerdings ein bisschen gewöhnungsbedürftig, wenn man nach vier Jahrzehnten des Schuldenmachens jetzt von einem Frühwarnsystem spricht. In der Sache kommen wir dadurch
aber weiter. Die Nachhaltigkeitsstrategie und der Grundsatz der Nachhaltigkeit müssen stärker in der Tagespolitik ankommen. Daran werden wir gemeinsam arbeiten.
({2})
Um das zu erreichen, ist das Management von Nachhaltigkeit ein ganz entscheidender Punkt. Wir begrüßen
es daher sehr, dass die Bundesregierung sich bereit erklärt hat, diesen Punkt in die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien - das klingt sehr langweilig,
ist aber ganz wichtig - aufzunehmen und zu sagen: Teil
der Gesetzesfolgenabschätzung, die sich in der Praxis
leider seit Jahren in einem Dornröschenschlaf befindet,
soll jetzt die Nachhaltigkeitsprüfung werden. - Dies ist
die große Chance, die Gesetzesfolgenabschätzung endlich zu reaktivieren. Ich war vor einigen Monaten sehr
erfreut, als wir sehr kurzfristig und sehr rasch von Bundesinnenminister Schäuble in dieser Frage grünes Licht
bekommen haben und er sich sehr klar hinter diese Forderungen des Nachhaltigkeitsbeirates gestellt hat.
Wir brauchen also ein stärkeres Langfristdenken - das
bedeutet auch mehr Generationengerechtigkeit - in der
Politik. Es ist gut, dass die Regierung jetzt ihren Teil
dazu beitragen will. Es ist genauso wichtig, dass das Parlament in dieser Frage aktiv und führend bleibt. Dies ist
eine Querschnittsaufgabe. Deswegen ist es unverzichtbar, dass wir vom Nachhaltigkeitsbeirat diese Frage weiter behandeln und daran mitwirken, bei der Fortschreibung der Nachhaltigkeitsstrategie die richtigen Weichen
zu stellen, aber auch die Regierung da kontrollieren, wo
sie ihre Ziele nicht erreicht hat, oder ihr Hilfestellung geben, sie besser zu erreichen. Aus diesem Grunde wird sicherlich, ohne große hellseherische Fähigkeiten zu haben, am Ende der Wahlperiode ein Vorschlag unseres
Gremiums sein, diesen Beirat dauerhaft zu verankern
und für uns eine aktive Rolle vor allem bei der Durchführung von Nachhaltigkeitsprüfungen vorzusehen. Wir
wollen einfordern, dass Gesetze im Hinblick auf ihre
Nachhaltigkeit geprüft werden.
In der Regierung macht das federführend das Kanzleramt. Das ist eine gute Sache. Wir würden uns wünschen - mehr können wir nicht tun -, dass dies im Kanzleramt weiter aufgewertet wird, zum Beispiel in Form
eines eigenen Referates. Es sollte darüber hinaus in jedem Ministerium ein eigenes Referat für diese Aufgabe
geben. Das wäre sicher ein richtiges Signal.
({3})
- Es kann auch über ein Referat hinausgehen. Wir fangen mal klein an, Herr Kollege Kelber.
Das Herzstück der Nachhaltigkeitsstrategie sind die
Indikatoren. Das ist ein fast revolutionärer Politikansatz,
der in anderen Bereichen Schule machen sollte. Wir gehen nicht von Instrumenten aus und sagen nicht, wie viel
Geld wir für ein bestimmtes Thema ausgeben wollen,
sondern sagen, was wir erreichen wollen. Wir haben in
der Nachhaltigkeitsstrategie definierte, klare Ziele verbunden mit messbaren Zahlen. Jeder, der sich in Wirtschaftsfragen etwas auskennt, weiß: Nur das, was ich
messen kann, kann ich letztlich auch managen. Es ist eigentlich ein bisschen traurig, dass man in der Politik diesem Grundsatz außerhalb des Bereichs der Nachhaltigkeitsstrategie noch zu wenig Beachtung schenkt.
Wenn Indikatoren aber so wichtig sind, dann ist es natürlich logisch, dass Kontinuität gewahrt bleiben muss.
Wir können nicht in dem einen Jahr Äpfel und im anderen Jahr Birnen zählen; es muss bei den Indikatoren
Kontinuität geben. Trotz allem sind behutsame Anpassungen und Lehren aus der Entwicklung richtig und notwendig. Als Mitglied des Rechtsausschusses in diesem
Hause möchte ich einen Punkt herausgreifen: Der Indikator „Zahl der Wohnungseinbrüche“ hat eine gegen null
tendierende Aussagekraft für das Thema Nachhaltigkeit.
({4})
Wir sollten den Mut haben, solche Indikatoren auch zu
streichen. Wenn alles nachhaltig ist, ist eben leider bald
nichts mehr nachhaltig. Der Begriff benötigt Konturen.
Dabei sollte man sich auf die wesentlichen Punkte konzentrieren.
Ein wesentlicher Punkt etwa ist all das, was mit dem
demografischen Wandel zu tun hat. Ich finde es gut, dass
ein Indikator der Ausbau der Ganztagsbetreuung ist. Warum gibt es keinen Indikator zur Entwicklung der Geburtenrate insgesamt? Das wäre sicherlich ein sinnvoller
Punkt für künftige Fortschreibungen.
Mein letzter Punkt - ich komme zum Schluss -: Ich
glaube, dass wir in diesem Land gemeinsam dafür sorgen müssen - dieses Ziel ist noch nicht erreicht -, dass
Nachhaltigkeit zu einem echten Leitprinzip der Politik
wird, dass sich auch die Tagespolitik aus der Nachhaltigkeitsstrategie heraus entwickelt. Die Beiratsmitglieder
sind der Überzeugung - ich hoffe, das gilt auch über unseren Beirat hinaus -, dass der Nachhaltigkeitsgrundsatz
insbesondere in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten
sowohl eine Stabilitätsgarantie als auch ein Innovationsmotor für unser Land sein kann. In diesem Sinne erhoffe
ich mir für den nächsten Fortschrittsbericht: noch mehr
Sonne und noch weniger Wolken.
Herzlichen Dank.
({5})
Damit ist die Aussprache beendet.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/10700 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. - Damit
sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Fortentwicklung des Pfandbriefrechts
- Drucksachen 16/11130, 16/11195 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksachen 16/11886, 16/11929 Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Carl-Ludwig Thiele
Es ist vorgesehen, hierüber eine Dreiviertelstunde zu
debattieren. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Als Erster hat das Wort der Kollege Bernd Scheelen
für die SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Sind Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken
eigentlich langweilige Institute?
({0})
Sind Bausparverträge langweilige Verträge?
({1})
Sind Pfandbriefe eigentlich langweilige Wertpapiere?
({2})
Es mag sein, dass manch einer in dieser Republik das
glaubt oder in der Vergangenheit geglaubt hat und diese
Fragen alle mit Ja beantwortet hätte;
({3})
möglicherweise, weil wir Menschen dazu neigen, all
das, was wir lange kennen, was sich bewährt hat und uns
vertraut ist, als nicht besonders aufregend zu empfinden,
sondern als langweilig, jedenfalls nicht als in irgendeiner
Weise sexy. Die Menschen wissen aber auch, dass ein
vielleicht nicht besonders aufregendes Image für Zuverlässigkeit, für Vertrauen und für Sicherheit steht.
Hätten wir in der derzeitigen Krise die Stabilitätsanker Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken nicht,
hätten wir diese Institutionen nicht jahrelang gegen AnBernd Scheelen
griffe von allen möglichen Seiten verteidigt, hätten wir
sie nicht gestärkt, dann sähe es, so glaube ich, auf dem
Finanzsektor in Deutschland schlimmer aus, als es jetzt
der Fall ist.
({4})
Es zeigt sich, dass es richtig war, das Dreisäulenmodell
zu verteidigen und zu erhalten.
Die Älteren unter Ihnen, zu denen auch ich mich
zähle, werden sich vielleicht noch daran erinnern, dass
die Pfandbriefbanken in den 70er-Jahren im Fernsehen
- Sie erinnern sich: mit der Schwurhand - für Pfandbriefe und Kommunalobligationen mit dem Spruch „sicher ist sicher“ geworben haben. Die Bausparkassen
haben in jüngster Zeit mit ihrem vermeintlichen Spießerimage geworben. Sie erinnern sich an den Spot - Ingo
Naujoks gab den Hippie -, in dem der Vater gegenüber
seiner Tochter diejenigen, die in eigenen Immobilien
wohnen, als Spießer bezeichnet. Die Tochter hat dann
gesagt: Du Papa, wenn ich groß bin, möchte ich auch
mal Spießer werden!
({5})
- Ich sage ja: Die Bausparkassen und die Pfandbriefbanken haben so geworben.
Als meine drei Kinder 18 Jahre alt wurden, bekamen
sie die Gelegenheit, über sieben Jahre einen festen, kleinen Betrag monatlich anzulegen. Zwei von den dreien
haben sich für einen Bausparvertrag entschieden.
({6})
Ein Kind hat sich damals für den sogenannten Neuen
Markt entschieden. Nach den sieben Jahren waren alle
drei reicher: zwei an Geld, einer an Erfahrung.
Anleger müssen Entscheidungen treffen. Sie müssen
sich fragen: Was will ich? Will ich Sicherheit oder eine
hohe Rendite? Da stellt man fest, dass es sich dabei wie
bei kommunizierenden Röhren verhält: Wenn ich ein höheres Risiko habe, dann habe ich auch die Chance, mehr
Rendite zu erwirtschaften. Aber es kann eben auch sein,
dass die Rendite am Ende, weil das Risiko zu groß ist,
negativ ist.
Viele Anleger haben sich in der Vergangenheit für Sicherheit und Qualität entschieden. Sie haben sich für den
deutschen Pfandbrief entschieden. Hauptsächlich handelt es sich dabei um institutionelle Anleger wie Banken,
Fonds und Versicherungen. Das wissen die meisten
nicht. Allen, denen ich gesagt habe, dass ich zum Thema
Pfandbrief rede, meinten: spannendes Thema. - Auch sie
hielten das für langweilig. Aber wenn ich dann erkläre,
dass sich das Umlaufvolumen deutscher Pfandbriefe auf
900 Milliarden Euro beläuft und wir sie zur Staatsfinanzierung aller Ebenen brauchen, dann schlucken sie, weil
sie das nicht wussten. Wenn man dann noch nachschiebt,
dass sich das Gesamtvolumen solcher gedeckter Schuldverschreibungen auf der Welt auf rund 2,1 Billionen
Euro beläuft, dann stellt man fest, dass der deutsche
Pfandbrief eine starke Stellung hat.
({7})
- Er ist der sicherste von allen. - Deswegen hat er so
eine starke Stellung. Er deckt 42 Prozent des Weltmarktes ab. Das unterstreicht auf der einen Seite seine Bedeutung und seine Qualität. Auf der anderen Seite unterstreicht es aber auch die Notwendigkeit - deswegen
sitzen wir heute zusammen -, das Pfandbriefrecht weiterzuentwickeln.
({8})
Diejenigen, die zu diesem Gesetzentwurf die Berichterstatter für ihre Fraktionen sind, sind zum großen Teil
auch im Februar 2005 dabei gewesen, als wir das Gesetz
zur Neuordnung des Pfandbriefrechts aus Anlass des
Wegfalls der Gewährträgerhaftung verabschiedet haben.
Wir haben damals einstimmig ein gutes Gesetz gemacht.
Aber Märkte und Notwendigkeiten entwickeln sich weiter.
({9})
Man muss auch als Gesetzgeber darauf achten, dass man
bei solchen Gesetzesvorhaben auf der Höhe der Zeit
bleibt. Wir müssen also den Pfandbrief weiterentwickeln.
Die ersten Überlegungen zur Weiterentwicklung des
Pfandbriefes sind schon etwas älter als die akute Krise.
Ein Teilnehmer der Anhörung hat das so formuliert: Die
ersten Überlegungen fanden zu Schönwetterzeiten statt. Jetzt haben wir Hagel und Sturm. Es war klar, dass sich
der Regierungsentwurf dieser Situation anpassen musste
und wir darauf reagieren mussten. Deshalb hat sich das
Gesetz, das jetzt verabschiedet wird, gegenüber dem Kabinettsentwurf deutlich verändert.
Der Schwerpunkt des Kabinettsentwurfs lag auf der
Ausdehnung des Geschäftsfeldes für Pfandbriefe, zum
Beispiel durch die Einführung des Flugzeugpfandbriefes, die wir 2005 bewusst noch nicht in die Wege geleitet
haben. Sie ist aber jetzt vorgesehen. Wir bilden ihn dem
seit über 75 Jahren bewährten Schiffspfandbrief nach. Er
stellt eine Bezugsgröße dar, von der wir wissen, dass sie
sehr verlässlich ist.
Nun haben wir den Fokus auf weitere Qualitätsverbesserungen des Pfandbriefes gelenkt. Qualitätsverbesserung heißt im Wesentlichen Verbesserung von Transparenz für den Anleger. Insofern war die Anhörung sehr
wichtig. Wir haben Anregungen des Zentralen Kreditausschusses und auch der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht aufgegriffen, zum Beispiel indem wir
erstens den Zeithorizont für die Darstellung des kurzzeitigen Liquiditätsbedarfs im Falle einer möglichen Insolvenz von 90 auf 180 Tage verdoppelt haben. Das heißt,
ein im Falle einer solchen Insolvenz einzusetzender
Sachwalter - einen solchen Fall hat es noch nie gegeben,
und es wird ihn sehr wahrscheinlich auch nicht geben hat ein halbes Jahr Zeit, seine Tätigkeit vorzubereiten.
Zweitens haben wir Veränderungen bei den sogenannten Laufzeitenbändern vorgenommen. Sie werden
enger gefasst. Bei der Darstellung der Laufzeitenstruktur
und der Zinsbindungsfristen für die Deckungswerte, die
veröffentlicht werden, gibt es in Zukunft nicht mehr vier
Stufen wie bisher. Das schien einigen Anlegern zu wenig
zu sein. Wir haben das nachvollziehen können. Es wird
demnächst sieben Stufen geben. Das wird zu deutlich
mehr Transparenz, insbesondere bei den kurz- und mittelfristigen Fälligkeiten, führen. Das ist im Interesse der
Anleger, schafft mehr Durchsichtigkeit und damit auch
mehr Vertrauen. Wir brauchen Vertrauen auf den Finanzmärkten. Der Markt der Pfandbriefe ist ein besonders
wichtiger Bereich des Finanzmarktes.
({10})
Drittens erleichtern wir mit dem vorgelegten Gesetzentwurf die Konsortialfinanzierung. Das heißt, wir ermöglichen es auch kleineren Banken, sich durch Zusammenschlüsse auf dem Pfandbriefmarkt zu betätigen. Das
wiederum stärkt die Sicherheit; denn eine Konsortialfinanzierung ist ein Beitrag zur Risikostreuung. Das bringt
auch dem Anleger Vorteile, weil die Risiken breiter gestreut werden.
Der Pfandbrief - das wissen alle, die hier sind und
sich mit dem Thema beschäftigen - hat in den letzten
vier Monaten nach dem Zusammenbruch von Lehman
Brothers gelitten - wie wir wissen, zu Unrecht, weil er
mit den inkriminierten Papieren, den Subprime-Papieren
oder vergifteten Papieren - oder welchen Namen man
sich mittlerweile noch hat einfallen lassen -, überhaupt
nichts zu tun hat. Pfandbriefe sind absolut sichere Produkte, weil hinter ihnen reale Werte stecken, die sehr,
sehr konservativ geschätzt sind. Der Pfandbrief ist sozusagen in Sippenhaft genommen worden, obwohl er ja
kein Subprime-Papier, sondern ein Premiumpapier ist.
Für Pfandbriefe brauchen wir keine Bad Bank; Pfandbriefe sind sozusagen eine Best Bank.
({11})
- Ich finde, das kann man beklatschen.
In ihrer über 200-jährigen Geschichte hat es keinen
einzigen Ausfall bei Pfandbriefen gegeben. Es wird auch
in dieser Finanzkrise zu keinem Ausfall kommen, weil
reale Werte dahinterstecken.
Allerdings müssen wir feststellen, dass die Sensibilität der Anleger gestiegen ist. Dem haben wir mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf Rechnung getragen. Es
handelt sich dabei um ein Artikelgesetz, durch das wir
eben nicht nur das Pfandbriefrecht weiterentwickeln,
sondern auch Änderungen im Kreditwesengesetz vereinbaren. Zum Beispiel war ursprünglich vorgesehen, es
den Finanzholding-Gesellschaften zu ermöglichen, auf
eigenen Wunsch unter die Aufsicht der Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht, der BaFin, zu kommen. In der Anhörung wurde deutlich, dass es Sinn hat,
der BaFin die Möglichkeit zu geben, selber den Antrag
zu stellen, einen Finanzdienstleister unter Aufsicht zu
stellen. Das war ein Punkt, den der Kollege Carl-Ludwig
Thiele besonders unterstrichen hat.
({12})
- Ja, ich bestreite das ja gar nicht. Zum Lob komme ich
gleich noch; das mache ich am Schluss. Dann werdet ihr
alle pauschal gelobt; das ist keine Frage.
Wir sind diesem Wunsch gefolgt. Es ist jetzt Bestandteil des vorgelegten Gesetzentwurfes.
Bezüglich der Erlaubnispflicht im Bereich der Anlagen gab es den Wunsch des Kollegen Dr. Schick, sich in
diesem Zusammenhang mit dem grauen Kapitalmarkt zu
beschäftigen. Dieses Anliegen hat er schon länger vorgetragen. Dem sind wir gefolgt. Wir werden - so ist es,
glaube ich, gestern vereinbart worden - eine Anhörung
dazu durchführen. Das BMF wird für einen Bericht sorgen.
Weil der Kollege Dr. Axel Troost - er ist gerade nicht
anwesend - sich sehr konstruktiv an den Beratungen beteiligt hat, möchte ich auch ihn hier namentlich erwähnen, genauso wie den Kollegen Leo Dautzenberg.
({13})
- Ja, aber an den Beratungen, die wir als Berichterstatter
durchgeführt haben, war im Wesentlichen Kollege Troost beteiligt.
Ich nenne alle fünf namentlich, weil wir heute einen
seltenen Fall erleben werden: Wir werden diesen Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Pfandbriefrechts einstimmig in diesem Hohen Haus beschließen.
Das kommt nicht allzu oft vor.
({14})
Das ist allerdings eine Tradition. Auch 2005 haben wir
das Gesetz einstimmig beschlossen. Es ist ja so: Wenn
man zweimal dasselbe macht, ist es Tradition; wenn wir
es das nächste Mal machen, ist es schon Brauchtum. Ich
glaube, es ist wichtig, dass wir dieses Gesetz einstimmig
beschließen, weil das ein Signal nach draußen ist,
({15})
dass der Deutsche Bundestag die Qualität des Pfandbriefes unterstreicht und dass er sagt: Habt Vertrauen in dieses Instrument. Es ist ein Instrument, das das absolute
Vertrauen der Anleger verdient.
Herzlichen Dank an alle Beteiligten in den Fraktionen!
Mein Dank gilt auch dem Ministerium, das unsere
Beratungen sehr konstruktiv begleitet hat. Ich glaube,
das heutige einstimmige Votum zeigt einmal mehr, dass
die Demokratie auch in Zeiten der Krise handlungsfähig
ist. Heute machen wir, wenn auch im Kleinen, ein Stück
weit die gleiche Erfahrung, die wir im Zusammenhang
mit dem Rettungsschirm für die Banken gemacht haben:
In diesem Fall hat die Demokratie ebenfalls gezeigt, dass
sie auch in schwierigen Zeiten in der Lage ist, zusammenzustehen. Das stärkt nicht nur das Vertrauen in den
deutschen Pfandbrief, sondern auch das Vertrauen in die
deutsche Politik. - Wie ich sehe, habe ich es tatsächlich
in exakt 14 Minuten geschafft.
Ich danke herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Der Kollege Carl-Ludwig Thiele spricht jetzt für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Scheelen, ich kann Ihrem Lob für den deutschen Pfandbrief
zustimmen. Die FDP beurteilt das genauso. Es ist gut,
dass wir heute eine Fortentwicklung des im Jahre 2005
in Kraft getretenen Gesetzes zur Neuordnung des Pfandbriefrechts beschließen. Damals ging es darum, öffentliche und private Pfandbriefe zusammenzuführen. Mit
dem heutigen Gesetz erweitern wir den Pfandbrief um
eine wesentliche Komponente.
Bislang gab es Schiffspfandbriefe zur Schiffsfinanzierung. Dieses bewährte Institut übernehmen wir jetzt
auch für den Bereich der Flugzeuge, weil dort ähnliche
Regeln gelten. Dieses Vorhaben haben wir schon im
Jahre 2005 erörtert. Ich bin froh darüber, dass das Ergebnis unserer Beratungen jetzt spruchreif ist und wir endlich beginnen können.
({0})
Herr Kollege Scheelen, auch Ihren Ausführungen
zum Dreisäulensystem stimme ich ausdrücklich zu.
Trotz aller Probleme, die es auf dem Finanzmarkt derzeit
gibt, muss man festhalten, dass es nicht in allen Bereichen solche Probleme gibt. Man sollte einmal deutlich
machen, dass es gerade bei den Pfandbriefen keine derartigen Probleme gibt.
Sie haben erwähnt, dass wir mit diesem Gesetzgebungsvorhaben, was die Situation im Finanzsektor angeht, angefangen haben, als schönes Wetter herrschte.
Inzwischen stehen die Zeichen aber auf Sturm. Insofern
muss man sich fragen: Was ist verbessert worden? Wo
sind Fehlentwicklungen festzustellen? Wo ist in der Vergangenheit etwas falsch gelaufen? Bei den Pfandbriefen
sind wir Weltmarktführer, und das wollen wir bleiben.
Insofern begrüßt die FDP die Änderungen, die mit diesem Gesetzentwurf verbunden sind.
Sie haben auch angesprochen, dass es sich bei diesem
Gesetz um ein Artikelgesetz handelt. In diesem Artikelgesetz ist das KWG, das Gesetz für die Kreditwirtschaft,
enthalten. Im KWG sind die Sicherungsmaßnahmen für
Finanzinstitute geregelt. Nun wurde im Hinblick auf die
Aufsicht von Finanzholding-Gesellschaften eine neue
Regelung getroffen. Der konkrete Anlass für diese Regelung besteht darin, dass wir, was die Aufsicht betrifft,
vor kurzem ein komplettes Versagen erleben mussten,
nämlich bei der Hypo Real Estate.
({1})
Die Hypo Real Estate hat eine irische Bank übernommen. Die Mitglieder des Finanzausschusses haben zu ihrer Überraschung erst im Herbst letzten Jahres erfahren,
dass die Hypo Real Estate, eine Finanzholding, die immerhin ein DAX-Wert war, nicht der Bankenaufsicht unterliegt. Das kann nicht richtig sein, und das konnte nicht
richtig sein. Hier ist die Frage zu stellen: Wann war das
den Verantwortlichen bekannt?
({2})
In einem aktuellen Bericht des Spiegel heißt es, dass
die Finanzaufsicht das Bundesfinanzministerium schon
Anfang 2007 auf diese Regelungslücke bezüglich der
Aufsicht hingewiesen hat. Diesem Vorgang muss weiterhin nachgegangen werden.
({3})
Der Gesetzentwurf sieht für die Zukunft die Prüfungsmöglichkeit vor. Diese Regelung wurde im Finanzausschuss auf Initiative der FDP im Vergleich zum Regierungsentwurf verschärft. Dort hieß es nur, dass „auf
Antrag“ des jeweiligen Instituts geprüft werden darf.
Was ist bei der Hypo Real Estate eigentlich geschehen? Ein deutsches Finanzinstitut, ein DAX-Wert, hat
eine ausländische Beteiligung erworben. Die Bankenaufsicht hatte überhaupt keine rechtliche Möglichkeit,
dieses Institut zu überprüfen. Die Probleme dieses Instituts gingen auf die Mutter und von der Mutter auch auf
die Töchter über. Im Ergebnis hat das dazu geführt, dass
der deutsche Steuerzahler bis heute mit 102 Milliarden Euro dafür haftet, dass unsauber operiert und der
Aufsichtspflicht nicht nachgekommen wurde. Wenn ich
mir das vor Augen halte, muss ich feststellen: Das sind
Vorkommnisse, mit denen sich das Parlament, auch über
diesen konkreten Gesetzentwurf hinaus, noch sehr intensiv beschäftigen muss.
({4})
An dieser Stelle ist zu sagen: Das KWG ist nicht irgendein Gesetz. Wir haben keinen Bereich unserer Wirtschaft so stark reglementiert und mit Aufsichtsvorschriften versehen wie den Finanzsektor. Wir haben in § 11
KWG sichergestellt, dass ein Finanzinstitut über Liquidität verfügen muss. Das wird bei jedem deutschen Finanzinstitut von der Aufsicht, der BaFin, überprüft, und
auch von der Deutschen Bundesbank.
Insofern ist es erstaunlich, dass der Chef der Aufsicht,
Herr Sanio, erklärt hat, das System sei zwar geprüft worden, aber die Liquidität habe man nicht prüfen können.
Wenn man sich klarmacht, welche Probleme in Finanzinstituten entstehen können, weiß man diese Stellen im
KWG zu schätzen. Auch das KWG als Rechtsrahmen
für die Finanzaufsicht ist nämlich im Grundsatz einvernehmlich beschlossen worden. Keiner von uns wusste
allerdings, dass, wenn die Konstruktion einer Finanzholding, die selbst keine Bankgeschäfte betreibt, gewählt
wird, die Holding von der Aufsicht nicht überprüft wird.
({5})
- Das ist nicht ausgeschlossen. Denn bei der HRE handelt es sich um eine Neugründung; diese Bank ist noch
nicht allzu alt. Ich vermute, dass bei der Neugründung
bestimmte Kriterien gewählt wurden, um eine solche
Konstruktion zu ermöglichen.
Als die HRE die Bank im Ausland erworben hat, hat
die Aufsicht von vornherein gesehen, dass Probleme
kommen können. Sie hat an das BMF geschrieben; doch
das BMF ist untätig geblieben. Dass das BMF an dieser
Stelle untätig geblieben ist, ist aus meiner Sicht unentschuldbar.
({6})
In wie vielen Bereichen, bei wie vielen Gesetzen wendet
sich die Regierung in den Ausschüssen an uns und weist
auf Regelungslücken hin! Wenn es vernünftig war, haben wir als FDP immer zugestimmt, andere auch. Doch
dieser Punkt ist nicht auf den Tisch gelegt worden. Da
kann ich nur sagen: Eine Regierung haftet auch dafür,
wenn sie etwas unterlässt. Auch für Unterlassen bei
Kenntnis muss sie die Verantwortung übernehmen. Das
Unterlassen bestand darin, dass sie die Aufsicht nicht
durchgesetzt hat. Denn dass die Probleme der einen ausländischen Tochter über die Mutter auch bei den anderen
Töchtern und damit im Gesamtinstitut landen, ist inzwischen offensichtlich.
Das ist nicht mehr nur ein Problem der Hypo Real Estate. Das ist zwischenzeitlich ein Problem des deutschen
Steuerzahlers geworden. Von den 480 Milliarden Euro,
die das Paket umfasst, ist ein Großteil, nämlich
102 Milliarden Euro, für die der Steuerzahler haftet, nur
zur Sicherung dieses einen Institutes aufgewandt worden. Eine der Ursachen dafür liegt in Irland.
Insofern sage ich: Die Gesetzesänderung begrüßen
wir; aber den Finanzminister entlassen wir noch lange
nicht aus seiner Verantwortung für das Fehlverhalten
durch Unterlassen an dieser Stelle.
Herzlichen Dank.
({7})
Als Nächster spricht der Kollege Leo Dautzenberg für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Geschichte des deutschen Pfandbriefs ist - darauf ist schon hingewiesen
worden - eine Erfolgsgeschichte. Der Pfandbrief hat
mehrere Finanzkrisen überstanden. Er ist zum Vorbild
für zahlreiche Schuldverschreibungen im Ausland geworden und hat sich damit zum größten Segment des
globalen Marktes gedeckter Schuldverschreibungen entwickelt.
Es gibt dabei Qualitätsunterschiede. Wenn man sich
die Covered Bonds im Ausland anschaut, muss man feststellen, dass es sich zwar auch um gedeckte Schuldverschreibungen handelt; aber vom Deckungsstock her
steckt nicht die Qualität dahinter, die wir beim deutschen
Pfandbrief kennen. Der deutsche Pfandbrief ist nach wie
vor ein Unikat. Wir sollten dafür werben, dass sich diese
Standards international durchsetzen.
Bisher hatten wir diese Qualitätsmerkmale vor allem
in zwei Segmenten, nämlich mit Hypotheken oder mit
Grundschulden als Deckungsmasse, wobei die Pfandbriefe, anders als es bei den Subprimes in den Vereinigten Staaten der Fall war, nur nach bestimmten Beleihungswerten vergeben werden konnten. Darüber hinaus
gab es schon einen Schiffspfandbrief. Deutsche Bankinstitute haben bereits eine hohe Expertise in der Finanzierung der Pfandbriefe, die auf Hypotheken, Grundschulden oder Schiffen basieren. Jetzt wird es auch einen
Flugzeugpfandbrief geben. Damit wird eine Lücke geschlossen. Über den Pfandbrief und die Verbriefung sollen sich diese Institute am Markt refinanzieren können.
Von daher ist das an hohe Standards gebunden.
Kollege Scheelen hat schon darauf hingewiesen, dass
es 2005 eine grundsätzliche Novelle gab, die wir einvernehmlich auf den Weg gebracht haben. Jetzt ging es darum, noch Verfeinerungen vorzunehmen. Dies wurde bereits vor Beginn der Finanzkrise angedacht und wird
jetzt hier im Deutschen Bundestag zum Abschluss gebracht, sodass die Fortentwicklung der Pfandbriefrechts
Platz greift. Es ist gut, dass wir diesen Gesetzentwurf im
Konsens, also über alle Fraktionsgrenzen hinweg, verabschieden werden. Es ist darauf hingewiesen worden,
dass dies für den Finanzmarkt ein wichtiges Zeichen ist.
Es zeigt, dass wir uns als Gesetzgeber bemühen, hier
einvernehmliche Regelungen zu finden.
Ein zentrales Element ist die Einführung des Flugzeugpfandbriefs. Daneben wird die Konsortialfinanzierung erleichtert. Zudem werden Qualitätsstandards
hinsichtlich der Deckungsfähigkeit von Forderungen gegenüber Drittstaaten aufgestellt, was ein zusätzliches
Qualitätsmerkmal darstellt. Das sind die Punkte, die im
Gesetzentwurf schon vorhanden waren.
Was wir nach der guten Anhörung auf dem Weg der
parlamentarischen Beratung eingefügt haben, ist die Anlageverwaltung, Herr Kollege Schick, und zwar mit der
Maßgabe, dass wir dies auch in Bezug auf den grauen
Kapitalmarkt weiter im Fokus behalten und dazu gemeinsam eine Anhörung durchführen wollen.
Kollege Thiele und Kollege Scheelen haben darauf
hingewiesen, dass wir auch hinsichtlich der Finanzholding-Gesellschaften eine Ergänzung im Vergleich zum
Regierungsentwurf vorgenommen haben. Ursprünglich
hieß es, dass sich diese Finanzholdings auf Antrag der
Aufsicht unterstellen können. Es war schwer nachvollziehbar, warum dies auf Antrag geschehen sollte. Wer
beantragt denn so etwas? Das Gegenteil wäre gewesen,
wir hätten es zur Pflicht gemacht. Das ging auch nicht,
weil dann zu viele Finanzdienstleister in die Aufsicht
einbezogen worden wären, für die sie im Grunde nicht
gedacht ist.
({0})
Deshalb war es unser gemeinsames Ziel, dass die Aufsicht das Recht erhält, von sich aus Finanzholdings unter
Aufsicht zu stellen und von daher eine hoheitliche Funktion ausüben zu können. - Darüber hinaus haben wir
noch Änderungen im Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz vorgenommen.
Daran sehen Sie, welche Verbesserungen im parlamentarischen Bereich erreicht wurden. Es sind weitere
Stichworte zu nennen: Der Zeithorizont für die Abdeckung des Liquiditätsbedarfs ist von 90 auf 180 Tage
ausgedehnt worden. Zur Transparenz der Laufzeitstruktur ist schon einiges gesagt worden ist. Daneben gibt es
weiterhin geografische Beschränkungen für die Staatsfinanzierung. Man kann nicht alle Staaten in die Staatsfinanzierung einbeziehen, wenn die Finanzierung in Form
von Anleihen und Kredite an diese Staaten pfandbrieffähig werden soll. Diese Beschränkung ist nochmals eine
Verstärkung des Qualitätsmerkmals. Es ist auch klargestellt worden, dass beispielsweise Hybridkapitalforderungen und Forderungen mit Nachrangvereinbarungen
nicht zur Deckung geeignet sind und damit auch nicht in
die Pfandbriefregelung einbezogen werden.
Der gemeinsame Dank geht an alle Berichterstatter
und Berichterstatterinnen und auch an das Finanzministerium, die uns hier gut zugearbeitet haben. Erlauben Sie
mir, abschließend noch einen Punkt zu nennen, den wir
auch beachten sollten, wenn wir heute eine weitere Novellierung des Pfandbriefrechts verabschieden, was wir
einvernehmlich tun werden und womit wir ein gutes Zeichen setzen: Es gibt Bestrebungen, die Garantiezeiten im
Finanzmarktstabilisierungsgesetz zu ändern. Bisher gilt
eine Garantiezeit von drei Jahren. Forderungen, diese
Garantiezeit von drei auf fünf, sechs oder mehr Jahre
auszudehnen, sollten wir nicht vorschnell nachkommen,
weil wir dem Pfandbrief damit einen Bärendienst erwiesen und Verwerfungen am Finanzmarkt für gut eingeführte Produkte herbeiführten. Wir dürfen diese kontraproduktiven Ansätze nicht übernehmen.
Ich danke für die Beratungen. Wir können hier gemeinsam etwas zum Wohle des Finanzmarktes Deutschland auf den Weg bringen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Finanzprodukte aller Art überschwemmen seit einigen
Jahren den Markt. Traumhafte Gewinne werden versprochen; in Banken, Sparkassen und Kreditinstituten werden und wurden den Kunden suspekte Produkte angedreht, die selbst die meisten Beraterinnen und Berater
kaum verstehen. Unkalkulierbare Risiken, wohin das
Auge reicht - genau das ist eine der Hauptursachen der
gegenwärtigen Finanzkrise.
Den größten Teil dieser hoch gelobten Finanzinnovationen stellen die Kreditverbriefungen dar, also die Umwandlung von Krediten in handelbare Wertpapiere. Zugegeben, auch der Pfandbrief ist eine Kreditverbriefung,
aber - wie bereits betont - eine bereits lange erprobte
und bewährte Form. So zeigt sich auch in der aktuellen
Finanzkrise, dass die mit Pfandbriefen verbundenen Risiken nicht nur gering, sondern auch für alle Beteiligten
gut überschaubar sind; denn im Unterschied zu den
neuen Kreditverbriefungen bieten Pfandbriefe hohe Sicherheiten für die Anlegerinnen und Anleger.
Klar ist: Pfandbriefe dürfen nur von extra zugelassenen und beaufsichtigten Banken ausgegeben werden.
Hinzu kommt, dass Pfandbriefe erstens zusätzlich abgesichert sind, entweder durch einen realen Vermögensgegenstand - wie Immobilien bei Hypothekenpfandbriefen
und Schiffen bei Schiffspfandbriefen - oder aber durch
die öffentliche Hand bei öffentlichen Pfandbriefen.
Zweitens ist festgelegt, dass die Wertermittlung von
Schiffen und Immobilien strengen Vorschriften unterliegt. Zudem dürfen sie nur bis zu 60 Prozent beliehen
werden. Drittens ist im Fall der Insolvenz der Pfandbriefbank gesichert, dass die Ansprüche der Pfandbriefinhaber bevorzugt behandelt werden.
Veränderungen des Pfandbriefrechts müssen diesen
hohen Sicherheitsstandard bewahren, auch und gerade
wegen der massiven Verunsicherung der Anlegerinnen
und Anleger durch die Finanzkrise. Diesem Anspruch
wird der vorliegende Gesetzentwurf gerecht. Deshalb
werden wir ihm zustimmen.
({0})
So wird die Sicherheit der Pfandbriefe erhöht, indem
die Banken jetzt für die in den nächsten 180 Tagen fällig
werdenden Pfandbriefe ausreichend Geldmittel vorhalten müssen. Außerdem können Pfandbriefe jetzt gemeinsam durch mehrere Banken herausgegeben werden. Damit bekommen auch kleinere Banken die Möglichkeit,
am Pfandbriefgeschäft teilzunehmen. Darüber hinaus
werden dadurch Kreditrisiken verringert. Dies alles ist
durchaus im Interesse der Anlegerinnen und Anleger.
Wir unterstützen ausdrücklich die Verbesserung der
Finanzaufsicht über Finanzholding-Gesellschaften à la
Hypo Real Estate; darauf ist Herr Thiele ausführlich eingegangen. Nunmehr können auf Verlangen der Bundes22154
anstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht die Risiken der
einzelnen Institute auf der Ebene der Holding zusammengefasst und dadurch verringert werden.
Ich kann Ihnen jedoch ein großes Aber nicht ersparen;
denn sowohl die rot-grüne Regierung als auch die Große
Koalition haben in den vergangenen Jahren massiv dazu
beigetragen, dass der deutsche Pfandbrief erhebliche
Konkurrenz bekommen hat.
({1})
Seine Bedeutung schwand nach und nach unter anderem
deshalb, weil die neuen spekulativen Formen der Kreditverbriefung durch Sie massiv gefördert wurden, zum
Beispiel durch steuerliche Begünstigungen: Anpassungen im Gewerbesteuerrecht, aber auch durch die letzte
Unternehmensteuerreform, nach der Verbriefungszweckgesellschaften unter bestimmten Bedingungen nicht der
Zinsschrankenregelung unterstellt sind. In der Folge
wurde den Anlegern und Anlegerinnen vorgegaukelt,
dass im Prinzip alle Arten der Verbriefungen sicher sind,
aber die neuen Kreditverbriefungen gegenüber den
Pfandbriefen angeblich einen großen Vorteil haben: Sie
würden riesige Renditen zwischen 10 und 20 Prozent
bringen. - Dadurch haben Sie den Pfandbrief entwertet.
({2})
Derzeit ist die Aufregung allerorts sehr hoch. Die angeschlagene Bundesregierung schwadroniert viel, handelt aber leider kaum. Wir meinen, wir brauchen unbedingt eine wirkliche Reform der Finanzmärkte bzw. des
Finanzsektors hin zu mehr Sicherheit und Stabilität, weniger Spekulation und zum Abbau von überzogenen
Renditeansprüchen. Hierbei vermissen wir Maßnahmen.
Zu Recht wurde festgestellt, dass wir die Novellierung
des Pfandbriefrechts schon vor der Finanzkrise in Angriff genommen haben. Aber Antworten auf die Finanzkrise haben Sie nicht. Der Gesetzentwurf, den wir heute
verabschieden, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Er
stellt aber noch keine Trendwende dar. Dafür müssen Sie
noch viel tun.
Wir erwarten von Ihnen, dass Sie die Vorschläge zur
Abkehr von der Liberalisierung der Finanzmärkte aufgreifen; denn das ist die Ursache für die Krise, in der wir
uns derzeit befinden. Wir als Linke lassen Ihnen nicht
durchgehen, dass die Bürgerinnen und Bürger die Zeche
für eine verfehlte Politik zahlen müssen, für die Sie die
Verantwortung tragen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Übereinstimmung bei einem wichtigen Finanzmarktgesetz mag angesichts der Rhetorik, die wir sonst
bei Finanzmarktthemen in den letzten Wochen häufig
betrieben haben, überraschen. Ich glaube, das hat einen
einfachen Grund. Es geht heute um einen Gesetzentwurf,
mit dem wir die Stabilität eines Finanzprodukts sicherstellen und auf eine hohe Qualität dieses Produkts setzen
statt auf eine schnelle Finanzmarktentwicklung, die
kurzfristig Vorteile verschafft, mit der man aber langfristig auf die Nase fällt. Diese Form der Finanzmarktpolitik
fordern wir als Grüne auch an anderer Stelle ein. Mit
dem Gesetzentwurf haben wir gemeinsam die richtige
Richtung eingeschlagen. Deswegen unterstützt Bündnis 90/Die Grünen den Gesetzentwurf zur Fortentwicklung des Pfandbriefrechts.
({0})
Der Markt hat eine große Bedeutung; die Zahlen wurden bereits genannt. Das Volumen, das am deutschen
Pfandbriefmarkt in Umlauf ist, beträgt 900 Milliarden
Euro. In der derzeitigen Finanzmarktkrise ist aufgrund
der Konkurrenz mit staatlich garantierten Anleihen allerdings eine gewisse Reduzierung der Neuemissionen zu
verzeichnen.
Auch die wichtigen Schritte, die wir jetzt vornehmen,
sind schon genannt worden: zum einen die Einführung
des Flugzeugpfandbriefs, zum anderen die Möglichkeit
der Konsortialfinanzierung. Des Weiteren ist die Ausweitung des Liquiditätspuffers für den Sachverwalter
von 90 Tagen auf 180 Tage vorgesehen. Das alles sind
Verbesserungen, die wir unterstützen und die wir mit Ihnen gemeinsam vornehmen wollen, damit der Pfandbrief
auch in Zukunft ein stabiles Produkt bleibt.
Richtig ist auch, bei der Finanzholding auf die
Schwächen der bisherigen Regulierung zu reagieren und
der BaFin die Möglichkeit zu geben, die Prüfung auch
auf der Ebene der Holding vorzunehmen. Für die Unternehmen kommt es zu Vereinfachungen, weil verschiedene Rechtsmaterien jetzt besser ineinandergreifen.
Ich will in dieser Debatte noch zwei Punkte ansprechen. Erstens steuern wir mit dem Pfandbriefgesetz, das
wir schon vor der Krise angegangen sind, jetzt in der
Krise nach. Ich glaube, wir müssen auch bei anderen
Produkten am Finanzmarkt prüfen, ob ein Nachsteuern
nötig ist. Ich denke, damit werden wir nicht bis zur
nächsten Legislaturperiode warten können. Zum Beispiel sollten wir uns noch einmal mit den offenen Immobilienfonds befassen. Wir haben bereits eine Novelle
durchgeführt, die aber nicht ausreicht. Ich glaube, wir
sollten die Stabilität auch in anderen Produktwelten ernst
nehmen.
Zweitens war es uns ein besonderes Anliegen - darauf ist bereits hingewiesen worden -, uns mit dem
grauen Kapitalmarkt, also dem Bereich, in dem Menschen direkte Anlagen in Unternehmensbeteiligungen
und häufig in geschlossene Fonds vornehmen, zu befassen. Mit dem Erlaubnistatbestand bei der Anlageverwaltung nach dem vorliegenden Gesetzentwurf wird nur ein
kleiner Bereich korrigiert, bei dem es durch die RechtDr. Gerhard Schick
sprechung für die BaFin unmöglich geworden ist, tätig
zu werden. Wenn man aber eine Gleichbehandlung über
verschiedene Produktwelten hinweg haben will, dann
kann es nicht sein, dass wir dieses Ansinnen nur für die
Finanzprodukte verfolgen, die auf dem grauen Kapitalmarkt angeboten werden. Vielmehr müssen wir das auf
den ganzen Bereich ausweiten.
Ich will Zahlen nennen. Schätzungen besagen, dass
jährlich 20 Milliarden bis 30 Milliarden Euro in schlechten Anlagemodellen versickern. Unsere Aufgabe ist es,
für einen seriösen Finanzmarkt zu sorgen, nicht nur im
Bereich des Pfandbriefs, sondern auch in allen anderen
Bereichen. Nur so können wir eine stabile Finanzmarktentwicklung über die verschiedenen Produktwelten hinweg hinbekommen. Wir müssen eine Struktur auf dem
Finanzmarkt herstellen, die Seriosität garantiert und es
den Verbraucherinnen und Verbrauchern ermöglicht, die
verschiedenen Finanzprodukte einzuschätzen.
Ich bin dankbar, dass unser Ansinnen, das Ganze
noch einmal in Gründlichkeit anzugehen, aufgegriffen
wurde. Ich hoffe, dass es gute Vorschläge geben wird
und dass wir dieses große Problem zügig angehen werden.
Danke schön.
({1})
Albert Rupprecht hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Finanzprodukte der Zukunft brauchen Transparenz, Solidität und Vertrauen. Der deutsche Pfandbrief hat diese
Eigenschaften. Deswegen ist er ein Finanzprodukt mit
Zukunft.
Mit der Weiterentwicklung des Pfandbriefrechts stellen wir heute die richtigen Weichen. Dabei war von Anfang an klar, dass der Maßstab für die Novelle Qualität
sein muss. Qualität heißt hier Transparenz, Sicherheit,
Solidität und dennoch eine angemessene Weiterentwicklung. Ich glaube, diese hohe Qualität ist gelungen. Qualität ist uns beim Flugzeugpfandbrief gelungen. Qualität
ist uns bei der Erleichterung der Konsortialfinanzierung
gelungen. Wir erreichen damit, dass kleinen Kreditinstituten entgegengekommen wird, die wesentlich zur Finanzierung unserer Wirtschaft beitragen. Wir steigern
zwar die Effizienz, lockern aber die Vorgaben beim Beleihungswert nicht und schützen auf diese Art und Weise
die Anleger.
({0})
Diese und weitere Maßnahmen sichern Qualität und
Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Pfandbriefes, und
das sichert zwingend notwendiges Vertrauen. Ohne
Zweifel gab es - insbesondere in der zweiten Hälfte
2008 - Nachfrageeinbußen. Das hat aber nicht das Produkt Pfandbrief zu verantworten. Der Pfandbrief war
vielmehr Opfer der Krise auf dem Gesamtmarkt.
Auf zweierlei haben wir in den nächsten Wochen besonders zu achten. Erstens. Mit jeder staatlichen Maßnahme zur Stützung von Banken greifen wir in den
Markt ein. Das führt auch zu Wettbewerbsverzerrungen.
SoFFin-garantierte Anleihen verdrängen andere Produkte vom Markt, auch den Pfandbrief. Deswegen müssen wir höllisch aufpassen, dass der SoFFin nur dort eingreift, wo es zur Stabilisierung des Finanzmarktes
unerlässlich ist. Anderenfalls schaden wir gesunden Produkten, gesunden Instituten und gesunden Märkten. Das
sage ich in aller Ernsthaftigkeit allen, die von „mehr
Staat“ - wie die Linken - oder von „intelligenter Verstaatlichung“ - wie die Grünen - reden. Ich sage aber
auch selbstkritisch der eigenen Regierung und dem
SoFFin: Mich konnte bis heute noch niemand davon
überzeugen, dass die Unterstützung von Autobanken
notwendig ist, um den Finanzmarkt zu stabilisieren.
({1})
Eine SoFFin-Unterstützung von Autobanken führt aber
zu Wettbewerbsverzerrungen und Ausfällen bei Tausenden Sparkassen und Genossenschaftsbanken.
({2})
Deswegen bin ich nach den Diskussionen in den letzten
Wochen und den Informationen, die uns vorliegen, der
Meinung, dass der SoFFin die Anträge der Autobanken
ablehnen sollte.
Zweitens. Man kann am 12. Februar 2009 nicht über
Pfandbriefe reden, ohne auch über die Hypo Real Estate
zu reden, immerhin der zweitgrößte deutsche Pfandbriefemittent. Es handelt sich um ein tolles Produkt in einer
vormals miserabel geführten Bank. Ohne Zweifel haben
wir es hier mit einer durch und durch systemrelevanten
Bank zu tun. Die achtgrößte deutsche Bank würde, wenn
sie stürzte, nicht nur Genossenschaften und Sparkassen
mit sich reißen, sondern auch Kommunen, Versorgungswerke und sogar europäische Staaten in Schwierigkeiten
bringen. Deswegen besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass die Hypo Real Estate gestützt werden muss.
Eine Enteignung kann nur die Ultima Ratio sein.
Von daher verwundert es mich schon ein Stück, dass
im Finanzministerium ein Enteignungsgesetz formuliert
wird, aber bis gestern noch kein Gespräch mit dem betroffenen Großinvestor Flowers stattgefunden hat.
({3})
Ich bin der Meinung, das ist die falsche Reihenfolge.
({4})
Nochmals: Wir wissen, dass wir die Hypo Real Estate
nicht fallen lassen können, aber wir als Unionsfraktion
erwarten, dass das zuständige Finanzministerium alle
Albert Rupprecht ({5})
Varianten sachlich prüft und vor allem auch ernsthaft
verhandelt.
({6})
Das ist eine sachliche und grundgesetzliche Notwendigkeit. Vom Übernahmeangebot über die Kapitalerhöhung
und den Kapitalschnitt bis hin zum von Michael Glos
vorgeschlagenen Modell einer eingeschränkten Insolvenz - alles muss geprüft werden.
Ich kann in diesem Zusammenhang die immer stärker
werdende Sehnsucht nach Verstaatlichung von Banken
überhaupt nicht teilen.
({7})
Hinter dieser Sehnsucht steckt der Gedanke, dass dann,
wenn der Staat schon mit Steuergeldern stabilisiert, der
Steuerzahler doch möglichst viel Eigentum an den Banken bekommen soll. Ich glaube, dass dies aus drei Gründen ein Irrweg ist.
Erstens. Je mehr Anteile der Staat an Banken hält,
desto größer wird das Risiko für den Steuerzahler. Aufgabe des SoFFin ist es, zu stabilisieren, aber mit möglichst wenig Risiko. Aktionär zu werden, ist aber ein
hohes Risiko. Das Risiko sollte jedoch bei den Alteigentümern bleiben.
Zweitens. Trotz aller Fehler von Bankenchefs in den
vergangenen Jahren: Politiker sind nicht die besseren
Banker. Ich zumindest kenne keinen Politiker, der die
Fachexpertise eines Bankkaufmanns, der über Jahrzehnte hinweg sein Handwerk gelernt hat, ersetzen kann.
Drittens. Je größer der Staatseinfluss ist, desto größer
ist die Gefahr, dass politische Interessen Fachentscheidungen ersetzen und der Wettbewerb um die beste Qualität ausgehebelt wird. Die bittere Folge wäre ein Verlust
von Wohlstand, Wirtschaftskraft und Arbeitsplätzen.
Der Fehler der vergangenen Jahre war nicht eine zu
geringe Staatsbeteiligung; der Fehler war, dass der Staat
seine originäre Aufgabe unzureichend wahrgenommen
hat. Diese ist: Ordnung schaffen, Regeln setzen, die Einhaltung der Regeln kontrollieren und Verstöße sanktionieren. Das ist die staatliche Aufgabe, und darauf sollten
wir uns konzentrieren.
({8})
Wir brauchen nicht Karl Marx, sondern vielmehr Ludwig Erhard. Das ist die richtige Antwort auf die
Finanzkrise.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Fortentwicklung des Pfandbriefrechts. Der Finanzaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den
Drucksachen 16/11886 und 16/11929, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 16/11130 und
16/11195 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthal-
tungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera-
tung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, aufzustehen. - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzent-
wurf auch in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b
auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Kersten Naumann, Wolfgang Nešković, Karin Binder,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Grundgesetzes ({0})
- Drucksache 16/10397 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({1})
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Kersten Naumann, Wolfgang Nešković, Karin Binder,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Behandlung von Petitionen und über
die Aufgaben und Befugnisse des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages
({2})
- Drucksache 16/10385 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({3})
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren, wobei die Linke fünf Minuten sprechen will und
auch soll. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Als erster Rednerin gebe ich der Kollegin Kersten
Naumann für die Fraktion Die Linke das Wort.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Petitionsrecht ist Bürgerrecht. Dieses Recht
muss so gestaltet werden, dass es von den Bürgerinnen
und Bürgern gut handhabbar ist. Das bestehende Petitionsrecht ist aber in fünf verschiedene, für die Bürgerinnen und Bürger nicht nachvollziehbare Vorschriften zersplittert: Das ist das Grundgesetz, das ist das Gesetz über
die Befugnisse des Petitionsausschusses, das ist die Geschäftsordnung des Bundestages, das sind die Grundsätze des Petitionsausschusses über die Behandlung von
Bitten und Beschwerden, und das sind die Richtlinien
für die Behandlung von öffentlichen Petitionen. Mit dem
vorliegenden Petitionsgesetzentwurf will die Fraktion
Die Linke diese Vorschriften zusammenführen, aber
auch das Petitionsrecht bürgernäher, transparenter, nachvollziehbarer und einklagbar machen.
({0})
Fest steht: Die Einführung elektronischer und öffentlicher Petitionen im Jahre 2005 war ein großer Schritt in
Richtung mehr Demokratie. Bürgerinnen und Bürger
können sich jetzt noch einfacher an den Petitionsausschuss wenden; die Nutzerzahlen steigen stetig. Dafür
wurde der Petitionsausschuss mit dem Politik-Award
ausgezeichnet.
Trotzdem bleibt noch viel zu tun; denn die Erfahrungen im Petitionsausschuss zeigen, dass das bisherige Petitionsrecht an seine Grenzen stößt: Beschwerden über
Verfahrensweisen, mangelnde Transparenz, mangelnden öffentlichen Zugang, nicht nachvollziehbare Auswahlkriterien und lange Bearbeitungszeiten häufen sich.
Auf diesen Erfahrungen basieren auch die Forderungen
nach mehr Transparenz und Verbindlichkeit, die seit den
70er-Jahren von Rechtsexperten und der Vereinigung zur
Förderung des Petitionsrechts in der Demokratie erhoben wurden.
Unser Petitionsgesetzentwurf fußt auf mehreren Ausarbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zu teilweise strittigen rechtlichen Themen.
Intensive und ausführliche Diskussionen mit Rechtsexperten und Wissenschaftlern sowie eine Expertenanhörung der Fraktion Die Linke bestätigten unsere im Gesetzentwurf verankerten Auffassungen in weiten Teilen,
gaben uns aber auch Anregungen zur weiteren Verbesserung unseres Entwurfes.
So ist ein Schwerpunkt unseres Entwurfes die Stärkung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger, das heißt
die Stärkung ihrer Informationsrechte und der demokratischen Teilhabe. Wichtig ist dabei:
Erstens. Sitzungen des Petitionsausschusses sind
grundsätzlich öffentlich,
({1})
sofern es sich - das betone ich hier - nicht um private,
individuelle Anliegen handelt.
Zweitens. Es muss möglich sein, Petitionen öffentlich
an den Petitionsausschuss zu übergeben.
Drittens. Es ist wichtig, dass es keine petitionsfreien
Zonen gibt. Auch Betriebsräte und Beamte müssen ihr
Anliegen als Petition einreichen können.
({2})
Viertens. Massen- und Sammelpetitionen sind zu stärken. Natürlich nehmen wir jede einzelne Petition ernst;
doch die Bürgerinnen und Bürger können gerade mit
Massen- und Sammelpetitionen verstärkt gegenüber dem
Gesetzgeber anregen, gesetzliche Veränderungen vorzunehmen.
Fünftens. Wir schlagen vor, das für eine öffentliche
Anhörung erforderliche Quorum von 50 000 Unterschriften auf 20 000 Unterschriften herabzusetzen, um
auch kleineren Interessengruppen der Bevölkerung eine
verbindliche Chance auf öffentliche Anhörung ihres Anliegens zu geben.
({3})
Ein zweiter Schwerpunkt unserer Vorlage ist die Stärkung der parlamentarischen Einwirkung und der Kontrolle; denn Petitionen müssen noch mehr Wirkung haben. Unter Achtung des Grundsatzes der Gewaltenteilung
ist es dennoch rechtlich möglich, in begründeten Fällen
behördliche Maßnahmen außer Vollzug zu setzen, solange das Petitionsverfahren läuft. Es ist rechtlich möglich, ein eingeschränktes Selbstbefassungsrecht festzuschreiben. Außerdem ist es rechtlich möglich, die
Bundesregierung zur besseren Umsetzung der Ausschussbeschlüsse anzuhalten. In fast jedem zweiten Fall
der Petitionen mit hohen Voten erklärt die Bundesregierung nach sechs Wochen oder nach einem Jahr, dem Anliegen nicht positiv zu entsprechen.
Zur Stärkung der parlamentarischen Kontrolle gehört
für die Fraktion Die Linke die Stärkung der Minderheitenrechte der Opposition. Das wurde bereits 1975 von
der damaligen Oppositionsfraktion, von der CDU/CSU,
gefordert; deshalb denke ich, dass Sie uns da vielleicht
unterstützen.
({4})
Uns ist bewusst, dass dieser Gesetzentwurf auch
Punkte enthält, die zwischen den Fraktionen strittig sind.
Trotzdem bitte ich Sie, die von meiner Fraktion unterbreiteten Vorschläge nicht einfach zu verwerfen. Lassen
Sie uns in der weiteren parlamentarischen Debatte gemeinsam um Verbesserungen im Interesse der Bürgerinnen und Bürger ringen und streiten. Für die Fraktion Die
Linke ist ein starkes Petitionsrecht wichtig; denn Bürgeranliegen sind auch ein Spiegel der Politik der Bundesregierung und der Arbeit der Volksvertreter.
Wir wollen mit unserem Petitionsgesetzentwurf das
Signal geben: Wir nehmen Demokratie ernst. Die Bürgerinnen und Bürger sehen ihr in Art. 17 des Grundgesetzes verankertes Grundrecht nicht nur als ein Recht, sich
mit Bitten und Beschwerden an die Volksvertretung zu
wenden; sie verstehen es auch als Chance und Möglichkeit, Hilfe zur Lösung ihrer Probleme zu erhalten.
Halten wir uns also gemeinsam an Christoph Lichtenberg, der sagte: Wenn etwas besser werden soll, muss es
anders werden. - In diesem Sinne freue ich mich auf die
Diskussion mit Ihnen.
Danke schön.
({5})
Der Kollege Günter Baumann hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zum wiederholten Male beschäftigen wir uns
heute mit einem Anliegen der Fraktion Die Linke - früher: Fraktion der PDS -, mit einem Petitionsgesetz. Sie
erwecken hier im Plenum und vor der Öffentlichkeit den
Eindruck, dass unser Petitionswesen mit seinen Regularien nicht ausreichend ist,
({0})
dass es einige Fehler hat und dass da nachgebessert werden muss. Dem möchte ich ganz klar widersprechen.
Unsere Tätigkeit im Petitionsausschuss beruht auf
einer ganzen Reihe von Regelungen. Es gibt den
Art. 17 Grundgesetz sowie eine Reihe von Paragrafen in
unserer Geschäftsordnung. Wir haben Verfahrensgrundsätze, die flexibel sind, die wir relativ einfach und
schnell verändern können. Das haben wir in der letzten
Zeit mehrmals getan. Das sind also Regularien, die aus
meiner Sicht sehr gut funktionieren.
Ich vertrete die Meinung - und die Statistik gibt mir
recht -, dass die Bürger im Land das Petitionswesen annehmen und damit zufrieden sind; da sind wir auf einem
guten Weg. Ich nenne ganz wenige Zahlen: Wir haben in
den letzten Jahren im Schnitt etwa 17 000 Petitionen im
Jahr zu bearbeiten gehabt. Wenn wir Massenpetitionen,
Sammelpetitionen und alle anderen Petitionen zusammen betrachten, haben sich in den letzten zwei Jahren
etwa 400 000 bis 500 000 Bürger mit Problemen an uns
gewandt. Das ist ein Zeichen dafür: Unser System wird
angenommen; es funktioniert.
Durch die flexiblen Verfahrensgrundsätze haben wir
in der letzten Zeit relativ einfach eine Reihe von Neuerungen einführen können. Sie alle kennen das: E-MailPetitionen, öffentliche Petitionen und dergleichen mehr.
Wir haben als Ausschuss eine Reihe ganz besonderer
Rechte, die andere Ausschüsse so nicht haben. Wir können zum Beispiel Ortstermine durchführen, Akteneinsicht nehmen und Regierungsvertreter laden.
Also: Die Regularien funktionieren insgesamt. Die
Bürger nehmen das System an.
Wir sind als Petitionsausschuss ein wichtiges Bindeglied zwischen den Bürgern im Land, dem Parlament
und der Regierung. Wir helfen mit, Politikverdrossenheit, von der oft gesprochen wird, ein Stück weit abzubauen. Wir helfen auch mit, Vertrauen in unsere Verwaltung, das manchmal verloren gegangen ist,
wiederherzustellen.
({1})
Unsere Hauptaufgabe sollte sein, unser funktionierendes Petitionswesen den Bürgern noch näher zu bringen.
Ein Mittel dazu ist, dass wir auf Messen auftreten und
für die Bürger direkt ansprechbar sind. Das funktioniert
sehr gut.
Eine grundgesetzliche Aufgabe wird also, denke ich,
gut wahrgenommen. Die Frage ist: Warum soll ein bewährtes Instrument verändert werden? Bei dem Entwurf
der Linksfraktion kommen wir schnell dahinter: Das Petitionssystem soll komplett umgestaltet werden. Es soll
instrumentalisiert werden. Sie wollen ein ganzes Stück
Parteipolemik hineinbringen. Das werden wir nicht mitmachen.
({2})
Sie haben Ihren Vorschlag in ähnlicher Form bereits
in der 14. Wahlperiode eingebracht, haben aber eigentlich wenig dazugelernt. Einige Beispiele dazu, wie Sie
Parteipolemik in unsere Arbeit hineinbringen wollen:
Sie wollen, dass der Petitionsausschuss Sachverhalte
selbst aufgreifen kann. In Ihrem Entwurf eines Petitionsgesetzes steht sogar: Der Petitionsausschuss muss von
diesem Recht Gebrauch machen, wenn 5 Prozent der
stimmberechtigten Mitglieder dies wollen. - Bei 25 Ausschussmitgliedern sind es 1,25 Abgeordnete, die erreichen können, dass wir uns mit bestimmten Themen der
Politik beschäftigen müssen. Das wollen wir nicht.
({3})
Wir alle können uns lebhaft vorstellen, was im Petitionsausschuss los wäre, wenn wir die politischen Diskussionen, die im Plenum nicht zu einem Erfolg geführt haben,
im Petitionsausschuss fortsetzen. Das kann nicht sein.
Das ist nicht Sinn unserer Demokratie.
In § 13 Ihres Entwurfs fordern Sie die grundsätzliche
Öffentlichkeit der Sitzungen. Das wollen wir nicht. Dagegen sprechen nicht nur datenschutzrechtliche Gründe.
Wo nach einer entsprechenden Prüfung Öffentlichkeit
möglich ist, gibt es bereits öffentliche Sitzungen, und
das wissen Sie auch ganz genau. Generelle Öffentlichkeit lehnen wir ab.
Ein besonderes Verfahren für Petitionen ab 20 000
Unterschriften lehnen wir ganz entschieden ab. Sie versuchen hier eine extensive Interpretation des Art. 17 Grundgesetz. Das geht in Richtung plebiszitärer Elemente wie
Volksbegehren, was wir in der Form nicht wollen.
Meine Damen und Herren, die Formulierung „Jedermann hat das Recht“ in Art. 17 des Grundgesetzes weist
eindeutig auf ein bürgerliches Grundrecht und nicht auf
ein staatsbürgerliches Grundrecht hin. Das ist ein entscheidender Unterschied, auf den wir Wert legen.
Ich möchte auch betonen, dass die Vorstellungen in
§ 10 „Beweiserhebung“ Ihres Gesetzentwurfes abenteuerlich sind. Sie wollen, dass wir im Ausschuss Zeugen vernehmen, Zeugen und Sachverständige vereidigen lassen
und Ordnungsstrafen verhängen können. Meine Damen
und Herren, wir sind kein Untersuchungsausschuss. Der
Petitionsausschuss behandelt Probleme der Bürger. Etwas
anderes wollen wir nicht, erst recht nicht in dieser Form.
({4})
Ich könnte noch eine ganze Reihe weiterer Beispiele
anführen. Meine Redezeit ist aber bereits zu Ende. Ich
komme deshalb zum Schluss: Uns liegen zum wiederholten Mal untaugliche Gesetzentwürfe der Linksfraktion vor, durch die das Petitionswesen verändert werden
soll. Sie wollen es instrumentalisieren. Das wollen wir
nicht. Unser Petitionswesen funktioniert. Die Bürgerinnen und Bürger im Land nehmen es an. Dafür sind wir
dankbar. Es besteht natürlich die Möglichkeit, über die
Verfahrensgrundsätze Änderungen einzubringen, wenn
es von einer Mehrheit gewollt ist.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Jens
Ackermann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Fraktion Die Linke hat den Vorschlag unterbreitet, unser Petitionswesen zu reformieren. Sie hat
einen umfassenden Gesetzentwurf auf den Tisch gelegt.
Sehr detailliert wird in Paragrafen darauf eingegangen,
wie sich die einzelnen Akteure, die an der Bearbeitung
eines Bürgeranliegens beteiligt sind, zu verhalten haben:
die Berichterstatter, die Fraktionen, die Bundesregierung
mit ihren Ministern, Staatssekretären usw. Nur an den
Menschen, der sich mit einer Bitte oder einer Beschwerde an uns wendet, haben Sie nicht gedacht.
Es ist doch so, dass die Bürgerinnen und Bürger,
wenn sie einen Brief an den Petitionsausschuss schreiben, schon eine Ochsentour durch viele Institutionen und
viele Behörden hinter sich haben. Sie sehen vor lauter
Bürokratie einfach nicht mehr durch. Unser Ausschuss
ist oft der letzte Hoffnungsschimmer, den die Menschen
haben. Nun kommen Sie mit weiteren Paragrafen. Ihr
Vorschlag bringt für die Menschen keine Verbesserung.
Im Gegenteil! Durch Ihren Vorschlag wird das Petitionsrecht in ein enges Korsett gezwängt, und uns als Berichterstattern wird die Möglichkeit genommen, flexible Lösungen für die Bürger zu finden, die sich an uns wenden.
Ein Beispiel möchte ich Ihnen nennen: Es wäre
unmöglich gewesen, einen runden Tisch für die Heimkinder der 50er- und 60er-Jahre einzurichten, wenn wir
uns nach Ihrem Vorschlag hätten richten müssen. Es
hätte unter der Präsidentin Antje Vollmer dann nicht
mehr die Möglichkeit gegeben, für diese Heimkinder
- die Verfahren waren ja abgeschlossen; die Dinge waren verjährt - einen runden Tisch einzurichten und nach
Lösungsmöglichkeiten zu suchen.
Ich komme auf die einzelnen Paragrafen zu sprechen.
In § 3 „Petitionsgegenstände“ schreiben Sie:
Rechtsprechung kann nicht Gegenstand von Petitionen sein.
Sehr richtig. Dann folgt aber ein weiterer Satz mit einem
Aber, obwohl es hier kein Aber geben darf. Gerichte
sind nämlich unabhängig, und niemand hat in die Rechtsprechung hineinzureden, auch nicht der Petitionsausschuss.
({0})
In § 6 Ihres Vorschlages schreiben Sie:
Der Petitionsausschuss kann Sachverhalte selbst
aufgreifen und sich mit ihnen befassen, … wenn
das 5 vom Hundert der stimmberechtigten Mitglieder des Petitionsausschusses verlangen.
Ich bin strikt dagegen. Wir sollten uns mit dem befassen,
was die Bürgerinnen und Bürger uns in ihren Briefen
schreiben. Wir sollten uns nicht mit Dingen befassen,
mit denen wir uns nach dem Willen eines einzelnen Abgeordneten befassen sollten. Das geht in die falsche
Richtung.
({1})
Sie sprechen in Ihrem Antrag auch davon, dass
Ermittlungen durchgeführt werden sollen. Hier sollen
Beweise gesichert, Zeugen vorgeladen und Vernehmungen durchgeführt werden. Dieser Duktus, der hier vorherrscht, erinnert mich sehr an ein Tribunal und nicht an
einen bürgerfreundlichen Ausschuss. Ich möchte das nicht.
§ 14 Ihres Gesetzentwurfs, „Einstweilige Regelungen“, finde ich sehr bedenklich. Dort schreiben Sie: Die
Bundesregierung oder andere staatliche Behörden sollen
maximal drei Monate lang Maßnahmen aussetzen, bis
der Petitionsausschuss entschieden hat. - Damit nehmen
Sie in das Petitionsrecht die Möglichkeit auf, bestimmte
Vorhaben der Bundesregierung oder einer Landesregierung bis zu drei Monate zu blockieren. Das ist ein massiver Eingriff in die Gewaltenteilung und überhaupt nicht
sachdienlich. Die FDP lehnt diesen Vorschlag ab.
({2})
Ich habe den Eindruck, Sie wollen den Ausschuss für
politische Spielchen missbrauchen.
({3})
Ich finde das schade; denn so bleibt der Hilfesuchende,
der einzelne Mensch auf der Strecke. Die FDP wird dabei nicht mitmachen. Wir stellen uns an die Seite der
Bürgerinnen und Bürger.
({4})
Das Wort hat der Kollege Klaus Hagemann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Alle Jahre wieder bringt die ARD zu Silvester
„Dinner for one“. Und alle Jahr wieder bringt die PDS,
Entschuldigung, die Linke einen Antrag ein, ein Petitionsgesetz einzuführen. Zumindest für „Dinner for one“ ist zu
sagen: Irgendwann ist das Bonbon abgelutscht. Auch
beim Gesetzentwurf wird das irgendwann so werden.
({0})
Ich erinnere mich, Frau Naumann, sehr geehrte Frau
Vorsitzende, dass Frau Lüth schon in der 14. Legislaturperiode ähnliche Reden wie Sie gehalten hat.
({1})
- Es kann natürlich auch sein, dass die Linke nichts dazugelernt hat.
Die Fragen sind jetzt - das wurde schon so dargelegt
und ich kann wenig Neues hinzufügen -: Brauchen wir
ein neues und erweitertes Petitionsgesetz, um unserer
Arbeit als Petitionsausschussmitglieder nachzukommen?
Reichen die bestehenden Regelungen aus oder nicht?
Brauchen wir ein Gesetz um des Gesetzes willen, oder
reichen, wie gesagt, die Verfahrensregeln und die anderen Bestimmungen aus?
Die Väter und Mütter des Grundgesetzes - wir feiern
dieses Jahr 60 Jahre Grundgesetz in der Bundesrepublik
Deutschland - haben dem Petitionswesen gerade nach
den Erfahrungen des Dritten Reiches eine starke Stellung gegeben. Es ist schon auf einiges hingewiesen worden: Art. 17 des Grundgesetzes sei erwähnt. Noch nicht
genannt wurden die Art. 45 ff. des Grundgesetzes, in
denen ausdrücklich hervorgehoben wird, dass der Petitionsausschuss neben den Ausschüssen für Außen-, Verteidigungs- und Europapolitik einer von vieren ist, die
gebildet werden müssen. Dies ist eine sehr starke Stellung. Entsprechend ist auch schon gesetzlich über die
Befugnisse entschieden worden.
Unsere Verfahrensgrundsätze - darauf haben meine
Vorredner hingewiesen - erlauben uns eine gewisse Flexibilität in der Behandlung von Petitionen. Frau Naumann, Sie haben auf Lichtenberg verwiesen. Ich möchte
hier nun herausstellen: Wir haben doch gerade in der
letzten Zeit sehr viel verändert. Ich komme darauf noch
einmal zu sprechen.
20 000 bis 25 000 Anliegen im Durchschnitt im Jahr
- mal mehr, mal weniger - und 1,3 oder 1,4 Millionen
Unterschriften für Petitionen zeigen: Das Petitionsrecht
wird wahrgenommen und genutzt. Da wir die Petitionen
zu bearbeiten haben, wissen wir, dass wir nicht unter
Arbeitsmangel leiden. Das wollen wir hier hervorheben.
Ich betone darüber hinaus, dass wir mit dem Ausschussdienst sehr gut zusammenarbeiten und dass wir auch die
Hinweise und Fingerzeige, die uns hier gegeben werden,
aufnehmen.
Wir müssen natürlich darüber nachdenken, ob nicht
das eine oder andere, was uns mitgeteilt wird, noch besser in die politische Arbeit der Fraktionen und der Fachausschüsse eingeführt werden muss. Wir haben zusammen darüber nachzudenken, wie wir das machen. Durch
das Petitionswesen ist uns ein Seismograf in die Hand
gegeben. Da ist noch Handlungsbedarf vorhanden. Aber
dafür brauchen wir kein Gesetz, sehr verehrte Frau Naumann.
Ich nehme immer wieder einmal Praktikanten mit in
den Petitionsausschuss. Diese stellen fest: In diesem
Ausschuss herrscht eine besondere Atmosphäre. - Wenn
ich meine Kolleginnen und Kollegen so anschaue, dann
stelle ich fest: Das ist so. Man geht aufeinander zu und
man nimmt Rücksicht. Das Ziel ist, das Anliegen des
Bürgers möglichst durchzusetzen. Das ist gut so. Dass es
hier weniger um parteipolitische Spielchen geht, sei hier
noch einmal erwähnt. Wir loten bei fast jeder Petition
aus, ob eine einstimmige Beschlussfassung möglich ist.
Dabei gibt jede Seite einmal nach; das sei gerade den
vielen Zuhörerinnen und Zuhörern hier gesagt. Gerade
deswegen sind wir im Petitionsausschuss so erfolgreich:
Weil wir nicht so starke gesetzliche Einschränkungen
haben und deshalb unsere Arbeit freier gestalten können.
Nicht jede Petition - auch das möchte ich sagen, denn
wir stehen kurz vor Wahlkampfzeiten - eignet sich für
parteipolitische Kampagnen in den Wahlkreisen. Diese
Bemerkung richtet sich sicherlich ein bisschen mehr an
die eine oder andere Seite, aber sie gilt für uns alle.
Meine Damen und Herren, auf die flexiblen Handlungsmöglichkeiten habe ich bereits hingewiesen. Die
bestehenden rechtlichen Bestimmungen reichen unserer
Ansicht nach aus. Das Gute ist, dass der Bundestag sie
alleine ausgestalten kann. Wenn wir eine spezielle gesetzliche Regelung einführen würden, müssten unter
Umständen andere Verfassungsorgane, beispielsweise
der Bundesrat oder der Bundespräsident, diese mit beschließen oder unterzeichnen. Damit würde Einfluss auf
unser Petitionsrecht genommen. Ob das sinnvoll und
hilfreich ist, möchte ich mit einem ganz dicken Fragezeichen versehen. Der Wissenschaftliche Dienst hat - einer
der Vorredner hat schon darauf hingewiesen - im Jahre
2007 ein Gutachten dazu vorgelegt, aus dem ich einen
Satz zitieren möchte:
Ein Gesetz eröffnet Mitwirkungsmöglichkeiten anderer Verfassungsorgane und beeinträchtigt die Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages.
Meine Damen und Herren, ich plädiere nicht für Stillstand. Vielmehr müssen wir unser Petitionswesen ständig weiterentwickeln. Wir bekommen genügend Hinweise. Kollege Winkler, Kollegin Pfeiffer und ich haben
beispielsweise vor vier Jahren bei einem Besuch des
schottischen Parlaments tiefschürfende Erkenntnisse gewonnen, auf deren Grundlage wir unser Petitionswesen
weiterentwickeln konnten. Wir haben unter anderem die
Möglichkeit elektronischer Petitionen eingeführt. Aufgrund von Art. 17 des Grundgesetzes war es in verfassungsrechtlicher Hinsicht gar nicht so leicht, das umzusetzen. Wir haben es aber getan, und die Bürgerinnen
und Bürger nehmen dieses Instrument sehr stark an. Ich
bin froh und dankbar, lieber Kollege Winkler, dass wir
das damals in der SPD-Grünen-Koalition massiv vorangetrieben haben. Der eine oder andere musste zum Jagen
getragen werden; aber heute sind alle froh, dass wir entsprechende Regelungen getroffen haben. Die Evaluationsberichte, die inzwischen vorliegen, machen deutlich, dass wir richtig gehandelt haben und den richtigen
Weg gegangen sind.
Die Verfahrensregeln, liebe Kollegin Naumann, machen auch deutlich, welche Werkzeuge uns an die Hand
gegeben worden sind. Auf die Vor-Ort-Termine hat der
Kollege Baumann bereits hingewiesen. Ich erinnere beispielsweise an die beeindruckenden Vor-Ort-Termine in
Ramstein, wo es um den Fluglärm ging, wo wir uns mit
Bürgerinitiativen unterhalten haben, und in Völklingen,
wo es um Senkungen von Häusern durch den Bergbau
ging. Bei diesen Terminen kümmern wir uns um die Interessen der Bürger und können dann auch etwas bewegen.
Ein anderes Werkzeug ist, Regierungsvertreter einzuladen. Hier verweise ich beispielsweise auf die große
Anhörung zum Thema „Generation Praktikum“, die wir
durchgeführt haben. Bei der letzten Beratung des Themas hat die Bundesregierung kein sehr gutes Bild abgegeben; ein Ministerium hat gute Vorschläge gemacht, ein
anderes blockiert diese. Auch das muss aufgegriffen
werden. Da streuen wir ab und zu Salz in die Wunden.
Dazu gehören auch die Berichterstattergespräche. Auf
der Tagesordnung des Obleutegesprächs standen diesmal
fünf, sechs Termine für Berichterstattergespräche mit
Regierungsvertretern. Aus den Ministerien wissen wir,
dass bei den Regierungsvertretern keine Freude aufkommt, wenn sie zu Berichterstattergesprächen kommen
müssen, weil wir immer wieder den Finger in die Wunde
legen.
Was die Akteneinsicht angeht, gibt es tolle Beispiele
dafür, wodurch wir Menschen helfen konnten. Auch da
kommt in den Ministerien keine Freude auf. Aber der
Petitionsausschuss ist ja nicht dazu da, für Freude zu sorgen, sondern er soll die Interessen der Bürgerinnen und
Bürger wahrnehmen. Denn das Petitionsrecht, liebe Kollegin Naumann, ist ja auch ein Individualrecht. Deswegen ist es auch gar nicht möglich, grundsätzlich öffentliche Petitionsausschusssitzungen durchzuführen. Dies
soll etwas Besonderes sein. Im Jahre 2005 haben wir
eingeführt, dass öffentliche Petitionsausschusssitzungen
stattfinden können. Dies wird auch angenommen; sie
finden Interesse.
Im Hinblick auf das Beispiel der Heimkinder der
40er-, 50er- und 60er-Jahre ist zu sagen - da schließe ich
mich Ihnen, Herr Ackermann, voll und ganz an -: Wir
haben durch ein kluges und rücksichtsvolles Vorgehen
viel erreicht. Es wäre schön, wenn Frau von der Leyen es
so umsetzen würde, wie es der Petitionsausschuss vorgeschlagen hat. Ich hoffe, dass wir zu entsprechenden Regelungen und Ausführungen kommen.
Meine Damen und Herren, ich darf zusammenfassen:
Wir haben genügend Handwerkszeug, um unsere Arbeit
als Petitionsausschuss im Interesse des einzelnen Bürgers und der einzelnen Bürgerin zu machen. Wir werden
deshalb Ihrem Gesetzentwurf, Frau Naumann, nicht zustimmen, obwohl das eine oder andere, was Sie vorgeschlagen haben, recht vernünftig ist, beispielsweise die
Aspekte unter dem Stichwort „Sprache“. Da muss noch
gehandelt werden. Wir müssen unsere Beschlussempfehlungen in einer verständlicheren Sprache abfassen. Das
sind aber Detailarbeiten; dafür brauchen wir keine gesetzliche Regelung.
Vielen Dank, dass ich meine Rede zu Ende führen
durfte.
({2})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Josef Winkler das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
„Das Petitionsrecht ist bürgerfern und zersplittert …“, so
steht es im Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke.
({0})
Die Fraktion Die Linke hält unser Petitionsrecht also für
bürgerfern. Aber es kommt noch besser - ich zitiere aus
einem anderen Teil des Gesetzentwurfs -:
Zuständig für die vom Petitionsausschuss zu beantragenden gerichtlichen Maßnahmen ist das Amtsgericht Berlin-Tiergarten.
Die Linke hält unser Petitionsrecht also für bürgerfern
und zersplittert und will daher die Gerichte bemühen,
damit diese die Aufgaben des Parlaments erfüllen. Eigentlich könnte man den Gesetzentwurf schon an dieser
Stelle wieder zuklappen und die Rede beenden.
({1})
Aber um 15.22 Uhr darf man noch ein bisschen weitersprechen. Mit der Realität unserer Arbeit im Petitionsausschuss hat das, was wir von Ihnen, Frau Naumann,
vorgetragen bekommen haben, meiner Meinung nach relativ wenig zu tun. Sie müssten es als Vorsitzende des
Ausschusses eigentlich besser wissen.
Der Petitionsausschuss ist eine der bürgerfreundlichsten staatlichen Institutionen in diesem Land, und das Petitionsrecht aus Art. 17 des Grundgesetzes ist eines unserer stärksten Bürgerrechte. Die Bürgerinnen und Bürger
wenden sich auch an das Parlament. Frau Naumann, Sie
argumentieren anlässlich der Jahresberichtsdebatte immer wieder: Wenn es mehr Petitionen gibt, dann hat die
Regierung schlechter gearbeitet. - So kann man nicht argumentieren. Ich freue mich, wenn es mehr Petitionen
gibt, auf die Mehrarbeit im Ausschuss; denn dann können wir uns um die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger auch mehr kümmern.
Während Sie drei Jahre lang an Ihrem Gesetzentwurf
gearbeitet haben, haben wir - zwar mit Ihrer Mithilfe;
heute habe ich aber den Eindruck, dass das eher unter Ihrer Duldung geschehen ist - die Möglichkeit öffentlicher
Petitionen und öffentlicher Ausschusssitzungen eingeführt. Wir haben im Ausschuss sogar einmal in öffentlicher Sitzung eine Petition beschlossen. Wir haben Massenpetitionen beraten, die von Zehntausenden Menschen
unterschrieben wurden. Das Einreichen von Petitionen
ist jetzt auch elektronisch möglich. Wir sind also schon
viele Schritte gegangen.
Im Hinblick auf das Selbstaufgriffsrecht bin ich nicht
gar so kritisch. Unsere Fraktion kann sich vorstellen - wir
hatten das schon einmal in der 11. und in der 13. Wahlperiode vorgeschlagen -: Wenn es ein Petitionsausschussmitglied im Zusammenhang mit der Sachaufklärung im Rahmen einer Petition für richtig hält, einen
Randaspekt oder einen anderen Aspekt, der mit dem Gegenstand der Petition zu tun hat, näher zu beleuchten,
dann wäre es sinnvoll, dies zu ermöglichen. Das aber,
was Sie dazu vorschlagen, geht weit darüber hinaus. Wir
können uns das nur in begrenzten Ausnahmefällen vorstellen. Man sollte das Petitionsrecht nicht überfrachten.
Sie haben gefordert - Kollege Baumann hat darauf
hingewiesen -, dass 1,25 Mitglieder des Ausschusses
Minderheitenrechte in Anspruch nehmen können sollten.
Dazu würde ich jedoch sagen: Das übliche Verfahren gemäß der Geschäftsordnung des Bundestages ist, dass je
nach parlamentarischem Vorgang eine Fraktion, fünf
vom Hundert oder ein Drittel bzw. ein Viertel der Mitglieder des ganzen Hauses mit über 600 Abgeordneten
bestimmte Rechte beanspruchen können.
Es wäre interessant, herauszufinden, wie Sie auf 5 Prozent des Ausschusses gekommen sind. Doch das würde
heute zu weit führen.
In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass öffentliche Übergaben von Petitionen durchgeführt werden können. Sie
wollen das normieren.
({2})
Ich nutze diese Gelegenheit, um die Öffentlichkeit darauf hinzuweisen - ich habe das an anderer Stelle schon
einmal getan -, dass die Linksfraktion schuld daran ist,
dass der Ausschuss zurzeit keine öffentlichen Petitionen
entgegennimmt.
({3})
Sie hat dieses Instrument nämlich mehrfach
({4})
für Kinkerlitzchen und kleinliche parteipolitische Spielchen genutzt.
({5})
Sie sind bis heute nicht bereit, uns zuzusichern, damit
aufzuhören. Wenn Sie uns das zusicherten, könnten die
Obleute aller Fraktionen schon morgen wieder gemeinsam öffentliche Petitionen entgegennehmen.
({6})
Sie haben diese Zusage bis heute nicht gegeben. Damit
haben Sie dem Petitionsrecht einen Schaden zugefügt.
Deswegen habe ich leider keine andere Möglichkeit, als
meiner Fraktion für die weitere Beratung die Ablehnung
Ihres Gesetzentwurfs zu empfehlen.
Herzlichen Dank.
({7})
Der Kollege Siegfried Kauder hat nun für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Petitionsrecht ist Bürgerrecht. Es bringt mehr
Transparenz und mehr Rechte für die Bürgerinnen und
Bürger. Das hören die Damen und Herren auf der Besuchertribüne, denen wir dafür danken, dass sie uns zuhören, gern. Das hören auch die Zuschauerinnen und Zuschauer an den Fernsehschirmen gern.
Doch das Ganze hat etwas Rattenfängerisches. Dass
das, was die Linken vorschlagen, nicht im Interesse des
Bürgers ist, sieht man sehr schnell daran, dass sie eine
öffentliche Beratung im Petitionsausschuss vorsehen.
Werden persönliche Belange eines Petenten berührt, soll
die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden - nicht: muss.
Wenn es um die Interessen des Bürgers geht, muss der
betroffene Bürger einen Anspruch darauf haben, dass die
Öffentlichkeit ausgeschlossen wird, und er muss angehört werden. Das sind elementare Rechte, die zu berücksichtigen sind. Sie haben diese Rechte nicht vergessen,
auf diese Rechte kommt es Ihnen nicht an, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken.
Sie wollen nicht nur eine öffentliche Erörterung von
Themen, die die Privatsphäre berühren. Sie wollen auch,
dass 5 Prozent der Mitglieder des Petitionsausschusses
den Ausschuss dominieren können. Zwei Mitglieder des
Petitionsausschusses können beantragen, dass eine Beweisaufnahme durchgeführt wird, so, als wären wir vor
Gericht. Derjenige, der als Zeuge gehört wird, soll auch
noch vereidigt werden können. Das gibt es nicht einmal
mehr im Strafprozess. Wer sich § 59 der Strafprozessordnung anschaut, der weiß, dass die Vereidigung die absolute Ausnahme ist.
Man könnte das alles ein bisschen abkürzen. Wenn
man die Rechte der Linken stärken wollte - das bezwecken Sie -, dann würde es genügen, wenn man in
Art. 45 c des Grundgesetzes aufnehmen würde: Der Petitionsausschuss hat die Rechte eines Untersuchungsausschusses. Genau diese Rechte wollen Sie haben.
Wenn Sie in das Gesetz zur Regelung des Rechts der
Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages
schauen, stellen Sie sehr schnell fest, dass dort zwar
Siegfried Kauder ({0})
Minderheitenrechte vorgesehen sind, entsprechende Anträge aber nicht von lediglich 5 Prozent der Mitglieder
des Ausschusses, sondern von 25 Prozent, also von einem Viertel der Mitglieder des Ausschusses gestellt werden müssen, damit sie umgesetzt werden können. Ich
finde es nicht fair, was Sie hier der Öffentlichkeit darzustellen versuchen.
({1})
Sie wollen mehr Rechte für die Linke und haben eiskalt
kalkulierend einen Gesetzentwurf vorgelegt, der nur Ihre
Rechte stärken soll.
Sie fordern ein Selbstbefassungsrecht. Zwei Mitglieder des Petitionsausschusses sollen entscheiden können,
womit sich der Petitionsausschuss befasst. Es sollen
nicht nur Beschwerden der Bürger, sondern ganz bewusst auch Bitten berücksichtigt werden. Beschwerden
reichen in die Vergangenheit hinein, Bitten zielen auf die
Zukunft ab. Sie wollen damit gesetzgeberische Initiativen über den Petitionsausschuss in das Parlament bringen und so deren Behandlung erzwingen.
Meine Damen und Herren, es ist schade, dass wir auf
diesem Niveau über Rechte der Bürgerinnen und Bürger
sprechen müssen. Auf einen groben Klotz gehört ein
grober Keil. Deswegen bin ich deutlich geworden. Die
Menschen, die uns zuhören und zuschauen, müssen wissen, dass man Rattenfängern nicht folgen soll. Diese beiden Gesetzentwürfe kann man nur ablehnen.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 16/10397 und 16/10385 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd
Siebert, Ulrich Adam, Ernst-Reinhard Beck
({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU,
der Abgeordneten Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter
Bartels, Petra Heß, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD,
der Abgeordneten Elke Hoff, Birgit Homburger,
Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten
Winfried Nachtwei, Omid Nouripour, Renate
Künast, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Betreuung bei posttraumatischen Belastungs-
störungen stärken und weiterentwickeln
- Drucksache 16/11882 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Bernd
Siebert, Ulrich Adam, Ernst-Reinhard Beck
({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Rainer Arnold,
Dr. Hans-Peter Bartels, Petra Heß, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD
Betreuung bei posttraumatischen Belastungs-
störungen stärken und weiterentwickeln
- Drucksachen 16/11410, 16/11842-
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Brüning
Elke Hoff
Dr. Hakki Keskin
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Elke Hoff,
Birgit Homburger, Dr. Rainer Stinner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Medizinische Versorgung der Bundeswehr
an die Einsatzrealitäten anpassen - Kompetenzzentrum für posttraumatische Belastungsstörungen einrichten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer
({4}), Inge Höger, Monika Knoche, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Adäquate Behandlungs- und Betreuungskapazitäten für an posttraumatischen Belastungsstörungen erkrankte Angehörige der
Bundeswehr
- Drucksachen 16/7176, 16/8383, 16/10024 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Siebert
Elke Hoff
Paul Schäfer ({5})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister Dr. Franz Josef Jung.
({6})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Bundeswehr ist zwischenzeitlich eine Armee im Einsatz für den Frieden. Sie ist gut ausgebildet,
ordentlich ausgerüstet und gut motiviert. Aber in diesen
Einsätzen sind die Soldatinnen und Soldaten besonderen
Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt.
Deshalb denke ich, dass es richtig ist, dass sich der
Deutsche Bundestag mit dieser Gefahrensituation, was
die psychische Belastung anbetrifft, konkret beschäftigt.
Denn ich finde, dass unsere Soldatinnen und Soldaten
gerade im Hinblick auf diese Herausforderung, die Gefahr für Leib und Leben, unsere allgemeine Unterstützung verdient haben.
({0})
Die seelischen Verwundungen sind aus meiner Sicht
genauso ernst zu nehmen wie körperliche Verwundungen. Deshalb ist es, wie ich finde, gut gewesen, dass beispielsweise die ARD mit dem Film Willkommen zu
Hause dieses Thema ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit gerückt hat.
({1})
Ich bin dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen dankbar,
dass dadurch die Problematik, die sich für unsere Soldatinnen und Soldaten ergibt, verstärkt ins Bewusstsein der
Öffentlichkeit gelangt.
({2})
Die Bundeswehr hat die Bedeutung der posttraumatischen Belastungsstörung - allgemein wird auch vom
Rückkehrertrauma gesprochen - erkannt und handelt im
Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten. Seit Beginn
der Auslandseinsätze hat die Bundeswehr die Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen ständig ausgebaut.
Unser derzeitiges Konzept lautet: Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von Einsätzen. Das Ziel ist
die frühzeitige Diagnostik und schnelle und gezielte
Hilfe - je früher, desto besser. Das gilt besonders mit
Blick auf unsere Soldatinnen und Soldaten, weil teilweise in der Öffentlichkeit, aber auch von den Betroffenen selbst eine solche Verwundung - wie ich sie bezeichne - immer noch als Schwäche empfunden wird.
Deshalb glaube ich, dass wir dagegen angehen und deutlich machen müssen: Je schneller sich unsere Soldatinnen und Soldaten in ärztliche Behandlung begeben,
umso größer ist die Chance auf Gesundung. Deshalb ist
das ein richtiger und wichtiger Schritt, um die Behandlung effektiver zu gestalten.
({3})
Wir haben unsere Vorsorge in drei Abschnitte gegliedert:
Erstens. Das Thema Psychotraumatologie ist fester
Bestandteil der vorbereitenden Ausbildung.
Zweitens. Im Einsatz bemühen wir uns ebenfalls um
die psychische Stabilisierung der Soldatinnen und Soldaten.
Drittens. Für die heimkehrenden Soldaten haben wir
ein psychosoziales Netzwerk aufgebaut: über den Sanitätsdienst, den psychologischen Dienst, den Sozialdienst, die Militärseelsorge und die Truppe. Dieses Netzwerk bietet standortnah allen Soldatinnen und Soldaten
rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr kompetente Hilfe
und Unterstützung an. Wir haben eine anonyme Onlineberatung unter www.angriff-auf-die-seele.de eingerichtet. Wir werden ebenfalls eine anonyme Telefonhotline
einrichten. Ich will auch darauf hinweisen, dass die Unterstützung der Familien besonders wichtig ist. In dem
Zusammenhang spielen die Familienbetreuungszentren
eine wichtige Rolle.
Im Krankheitsfall erfolgt eine effektive Behandlung
in unseren fünf Bundeswehrkrankenhäusern und den
14 fachärztlichen Untersuchungsstellen für Psychiatrie.
Wir kooperieren auch mit zivilen Kliniken; denn - darauf will ich hinweisen - dies ist kein Problem, das nur
Soldatinnen und Soldaten betrifft. Unter solchen psychischen Belastungen leiden auch Mitarbeiter der Polizei
und der Feuerwehr sowie Menschen, die aus Bürgerkriegsgebieten zu uns kommen.
Wir richten einen Arbeitsbereich „Psychische Gesundheit“ beim Institut für Medizinischen Arbeits- und
Umweltschutz der Bundeswehr hier in Berlin ein. Er soll
ab Mitte des Jahres die Forschung auf diesem Gebiet
stärken. Hierbei werden die Fachabteilungen für Psychiatrie an den Bundeswehrkrankenhäusern, der Psychologische Dienst der Bundeswehr und die zivilen Einrichtungen eingebunden. So entsteht ein Forschungs- und
Kompetenzzentrum der Bundeswehr.
Es trifft zu: Die Anzahl der Soldatinnen und Soldaten
mit einer posttraumatischen Belastungsstörung ist angestiegen. Im Jahre 2005 gab es 121 Fälle, im Jahre 2008
gab es 245 Fälle; diese sind im Wesentlichen auf Einsätze in Afghanistan zurückzuführen. Der Durchschnitt
liegt in etwa bei 1 Prozent. Damit liegen wir im internationalen Vergleich recht gut. Den Anstieg, den wir verzeichnen, nehmen wir sehr ernst. Natürlich liegt die steigende Zahl der Fälle an der Einsatzintensität, aber auch
- das ist unsere Erkenntnis - an der Zunahme der Bereitschaft unserer Soldatinnen und Soldaten, sich in ärztliche Behandlung zu begeben.
Ich kann unterstreichen, dass aus meiner Sicht - dazu
trägt auch diese Debatte bei - die Sensibilität für diese
Erkrankung spürbar zugenommen hat. Deshalb, denke
ich, ist es richtig und gut, unseren Soldatinnen und Soldaten diese Behandlungsmethoden anzubieten und zur
Verfügung zu stellen, aber auch alles zu tun, damit schon
erste erkannte Symptome sofort behandelt werden, weil
dies zur schnellstmöglichen Heilung beiträgt.
({4})
Unser Ziel ist es, ein Auftreten dieser seelischen Krankheit möglichst zu verhindern, aber im Krankheitsfall die
bestmögliche Behandlung und Versorgung unserer Soldatinnen und Soldaten sicherzustellen.
Insofern bin ich dem Deutschen Bundestag sehr dankbar, dass er sich mit diesem Thema beschäftigt. Es ist
wichtig, deutlich zu machen, dass wir alle Anstrengungen unternehmen, um unseren Soldatinnen und Soldaten
Hilfe zuteil werden zu lassen. Es ist ebenso wichtig,
diese Problematik in die Öffentlichkeit zu tragen. Denn
das, was unsere Soldatinnen und Soldaten leisten, ist
letztlich im Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen
und Bürger. Sie setzen sich Gefahren aus und riskieren
Leib und Leben. Deshalb haben sie unser aller Unterstützung verdient.
Haben Sie recht schönen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich kann nicht verhehlen, dass ich mich sehr
darüber freue, dass es uns im Deutschen Bundestag gelungen ist, einen fraktionsübergreifenden Antrag zu diesem wichtigen Thema auf den Weg zu bringen und heute
zu verabschieden. Ich glaube, damit senden wir ein starkes Signal an die Bundeswehr, dass wir am Schicksal,
das unsere Soldatinnen und Soldaten zu tragen haben,
Anteil nehmen. An dieser Stelle sollten wir auch ein
Dankeschön an die Soldaten richten, die den Mut hatten,
an die Öffentlichkeit zu gehen und sich dazu zu bekennen, dass es hier ein Problem gibt, mit dem sie sich
selbst, mit dem sich aber auch ihre Familien auseinandersetzen müssen, und das im Grunde auch ein Ergebnis
dessen ist, was wir hier beschließen.
({0})
Ich halte es für eine moralische Verpflichtung, dass
wir uns an dieser Stelle auch mit der Kehrseite der Medaille befassen. Wir müssen unseren Soldaten das Gefühl geben, dass wir sie ernst nehmen. Wir wissen, dass
sie in ihren Einsätzen die extremsten Erlebnisse machen,
die ein Mensch machen kann: dass ein Kamerad stirbt,
dass Kameraden verwundet werden, dass man selbst zu
Schaden kommt und dass daher auch die eigene Familie
unter Druck steht. Damit müssen wir uns im Deutschen
Bundestag gemeinsam befassen.
Herr Minister, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie heute
sehr deutliche Worte gefunden und die Bereitschaft Ihres
Hauses dokumentiert haben, sich dieses Themas anzunehmen. Sie können davon ausgehen, dass das Parlament diese Schritte begleiten wird. Die Einmütigkeit, die
im Deutschen Bundestag in dieser Angelegenheit
herrscht, finde ich beispielhaft. Wenn Sie sich intensiver
mit diesem Thema beschäftigen, sollten Sie auch die
Probleme berücksichtigen, die viele verbündete Nationen mit Rückkehrern, die unter Traumata leiden, haben,
und aus den teilweise gravierenden Fehlern, die in diesem Zusammenhang gemacht werden können und gemacht wurden, lernen.
Ich bin der Meinung, wir sollten uns besser schon
jetzt mit diesen Themen befassen, präventiv tätig sein
und die Erfahrungen, die bereits gemacht wurden, sammeln, als uns irgendwann den Vorwurf machen lassen zu
müssen, wir hätten zu spät gehandelt und das, was unsere Soldatinnen und Soldaten für uns leisten, nicht gewürdigt.
({1})
Ich finde es auch richtig, dass Sie, Herr Minister, besonders auf die Betroffenheiten der Familien hingewiesen haben. In den Zuschriften von Familienangehörigen,
die mich erreichen - viele meiner Kollegen sicherlich
auch -, lese ich sinngemäß immer wieder: Unsere Söhne
und Töchter gehen mit sehr viel Engagement und Motivation in den Einsatz. Wir allerdings sind zu Hause. Wir
werden tagtäglich mit den Bildern in der Presse konfrontiert, sind bedrückt und belastet. Wie es uns geht und
welche Ängste wir haben, das können nur die wenigsten
verstehen.
Insofern ist es wichtig, einen umfassenden Ansatz zu
verfolgen. Familienbetreuungszentren können dabei eine
herausgehobene Rolle spielen, das ist gut und richtig.
Wenn die Entscheidungen anstehen, Kompetenzzentren
aufzubauen und geeignete Angebote zu entwickeln, sollten wir die dafür erforderlichen finanziellen Mittel zur
Verfügung stellen.
({2})
Jetzt erwarten die Soldaten von uns, dass unseren
Worten und Beschlüssen auch Taten folgen. Herr Minister, Sie können sich der breiten Unterstützung des Deutschen Bundestages sicher sein. Alle Maßnahmen, die Sie
auf diesem Gebiet ergreifen, werden von uns unterstützt,
auch im Hinblick auf die Bereitstellung der finanziellen
Mittel.
An dieser Stelle möchte ich mich sehr herzlich bei
den Kolleginnen und Kollegen des Fachausschusses dafür bedanken, dass es uns gelungen ist, bei diesem
Thema Einigkeit zu erzielen, sodass wir heute gemeinsam ein starkes Signal an unsere Soldatinnen und Soldaten senden können. Ich hoffe sehr, dass das Angebot der
anonymen Hotline in Anspruch genommen wird. Sowohl die Kameraden, die sich bisher in der Öffentlichkeit geäußert haben, als auch die Entschlossenheit des
Deutschen Bundestages sollen die Soldatinnen und Soldaten motivieren, über Probleme, die sie haben, zu reden. Sie sollen wissen, dass sie professionell aufgefangen und aufgenommen werden. Mein herzlicher Dank
gilt allen, die daran mitgewirkt haben. Herr Minister,
viel Glück, alles Gute und „Toi, toi, toi!“ für die Umsetzung!
Danke schön.
({3})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Jörn
Thießen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als ich mich zum ersten Mal mit dem Thema „Posttraumatische Belastungsstörungen“ beschäftigt habe, habe
ich mich an ein Erlebnis erinnert, das ich als Kind hatte.
Damals hatte ich einen Onkel Hans. Auf dem Fernseher
in seinem Wohnzimmer stand das Foto eines jungen
Mannes mit Trauerflor. Ich habe Onkel Hans gefragt:
„Wer ist das?“ Er hat einsilbig geantwortet, das sei sein
Sohn gewesen; er wolle darüber nicht sprechen. Als
meine Mutter und ich das Haus verlassen hatten, hat sie
mich gebeten, Onkel Hans nicht noch einmal darauf anzusprechen. Er selbst sei im Krieg gewesen, sein Sohn
sei im Krieg gefallen, und er könne über keines dieser
Erlebnisse sprechen; ich möge ihn nicht mehr fragen.
Wir wissen, dass die Grauen, die Menschen aushalten
mussten, eine lange Geschichte haben. Die Menschen,
die darüber krank geworden sind, sind immer anders benannt worden. Das waren „Kriegszitterer“, die hatten
„Granatenfieber“, die sind mit einer „Schützengrabenneurose“ aus dem Krieg wiedergekommen. Diese Menschen sind zeitlebens verstummt, haben zeitlebens unter
diesem Schicksal gelitten. Aus „Kriegsneurose“ wurde
„Kriegsmüdigkeit“, dann „operative Erschöpfung“.
Heute sprechen wir von einer „posttraumatischen Belastungsstörung“. Das ist ein Weg der Erkenntnis, aber auch
ein Weg der Aufmerksamkeit.
Ich finde es gut, dass wir hier im Deutschen Bundestag in seltener Einigkeit das wichtige Signal eines gemeinsamen Antrages aussenden. Das sendet ein Signal
an die Betroffenen, an die bisher Schweigenden, an die,
die sich noch nicht gezeigt haben, es sendet aber auch
ein Signal an ihre Familien, an die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, an die Öffentlichkeit - dass es uns um
diese Menschen geht - und nicht zuletzt an die Verantwortlichen in der Bundeswehr selbst. Dem gesamten
Deutschen Bundestag liegt viel an einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema.
Herr Minister, wir begrüßen, dass sich das Bundesministerium der Verteidigung sichtbar bewegt hat. Was
man in den letzten Tagen auf der Internetseite der Bundeswehr erfreulicherweise hat lesen können, wäre noch
vor wenigen Monaten nicht recht denkbar gewesen. Dafür bedanke ich mich, und ich wünsche Ihnen auf dem
weiteren Wege viel Glück!
({0})
Wir danken auch denjenigen, die sich dieser Problematik intensiv angenommen haben, zum Beispiel
Oberstarzt Dr. Biesold aus Hamburg, der viel geforscht
hat und viele Anregungen gegeben hat.
Wir danken aber auch dem Bundeswehrverband, der
die Betroffenen aus der Anonymität herausgeholt hat,
uns Abgeordneten die Chance gegeben hat, mit ihnen zu
reden, sie kennenzulernen. Das hat uns allen, über die
Fraktionsgrenzen hinweg, viele Erkenntnisse ermöglicht.
Ich bedanke mich bei denjenigen in den Fraktionen,
die diesen Antrag mit vorbereitet haben, namentlich bei
meiner Kollegin Monika Brüning, aber auch bei allen
anderen, deren Forderungen wir in diesen Antrag haben
aufnehmen können.
Wir wissen, dass auch der Wehrbeauftragte eine wichtige Rolle gespielt hat, nämlich indem er immer wieder
auf dieses Thema hingewiesen hat. Ich ermutige Sie,
Herr Wehrbeauftragter, auch in Zukunft ihre Aufmerksamkeit genau darauf zu richten und zu verfolgen, welche Fortschritte wir gemeinsam machen.
Wir bekommen E-Mails, und wir bekommen Briefe;
Frau Kollegin Hoff, da geht es mir wie Ihnen und anderen. Schauen Sie sich auch den Chat an, den das Bundesministerium für Verteidigung im Internet veröffentlicht
hat! Was die Betroffenen schildern, das sind Schicksale,
da sind Menschen in großer Not.
Es ist für Soldatinnen und Soldaten angesichts des
Selbstbildes eines „starken Menschen“, das sie haben,
nicht leicht, sich im Vertrauen an Familienangehörige,
an Seelsorger, an Vorgesetzte zu wenden. Doch das ist
wichtig. Die Dunkelziffer, von der wir ausgehen müssen,
ist nämlich hoch. Deswegen ist die Studie, die wir anregen, richtig, und sie wird uns wichtige Erkenntnisse geben.
Der Einsatz der Streitkräfte ist in keiner Weise ein
Spiel, übrigens weder im Inland noch im Ausland. Keine
noch so gute Übung kann vorbereiten auf Gewaltsituationen, wie Menschen sie erleben und bei denen sie
Schaden nehmen müssen. PTBS ist an sich, im Beginn,
eine gesunde Reaktion auf einen Schock, auf ein Erlebnis, das jemand noch nie gehabt hat. Doch dieser Schock
kann sich in einer Krankheit manifestieren, die so
schnell wie möglich bekämpft werden muss. Manchmal
tritt PTBS erst Jahre nach dem entsprechenden Erlebnis
auf.
Sogenannten harten Männern und Frauen fällt es
nicht leicht, zuzugeben, wenn sie Probleme haben. Deswegen ist es richtig, dass Auslandseinsätze sorgfältig
vorbereitet werden. Wir brauchen genügend Psychologen und Seelsorger. Aber auch auf die Nachbereitung
müssen wir großen Wert legen. Die Familienbetreuungseinrichtungen müssen für dieses wichtige Thema sensibilisiert werden. Das gilt auch für die Vorgesetzten auf
allen Ebenen. Die Soldaten, die am Ende dauerhaft darunter leiden, müssen sich sicher sein, dass ihre Versorgung auf dem richtigen Niveau erfolgt.
In der Bundeswehr gibt es heute nach der Aktenlage,
die ich kenne, 42 Dienstposten für Psychiater. Davon
sind nur 21 besetzt. 5 von diesen 21 sind speziell in
Traumatherapie ausgebildet. Es gibt 14 Dienstposten für
Psychologen, wovon 12 besetzt sind. Von diesen ist die
Hälfte speziell ausgebildet. Herr Minister - ich spreche
gleichzeitig auch diejenigen an, die dafür eine Mitverantwortung tragen -, hier liegt noch ein Weg vor uns.
Wir wollen ein ernsthaftes und echtes Kompetenzund Forschungszentrum für die Behandlung von PTBS
in der Bundeswehr. Ich habe nichts dagegen, dass wir
dies zunächst beim Institut für den Medizinischen Arbeits- und Umweltschutz der Bundeswehr ansiedeln,
aber es darf dort nicht zum inhaltlichen Nebengelass
werden, sondern es muss dort im Zentrum der Arbeit
und der Aufmerksamkeit stehen. Ich hoffe sehr, dass das
unser gemeinsames Ziel ist.
({1})
Herr Minister, wir werden diese Entwicklung, für die
viele hier im Hause - ich denke, ich kann für alle oder
zumindest für fast alle sprechen - dankbar sind und für
die wir eine Menge gearbeitet haben, und die Umsetzung
der Forderungen sehr genau betrachten. Wir erwarten
von der Bundesregierung noch in dieser Legislaturperiode einen konkreten Zeit- und Handlungsplan, aus
dem hervorgeht, wie und wann sie diese Forderungen in
unserem Antrag umzusetzen gedenkt.
Wir wissen, dass es Schwierigkeiten damit geben
kann. Wir wissen auch, dass es Bedenken gibt, wir sind
uns aber gewiss, Herr Minister, dass Sie für einen Fortschritt offen sind, und wir werden Sie bei dieser Gelegenheit freundlich, hilfreich und sehr aufmerksam begleiten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat der Kollege Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass der Bundestag in Sachen posttraumatisches Belastungssyndrom einen Handlungsbedarf erkennt. Wir werden sehr darauf
achten müssen, dass das, was heute hier beschlossen
wird, auch tatsächlich umgesetzt wird.
Es ist leider immer wieder dieselbe Geschichte: Die
Betroffenen müssen sich zu Wort melden, sie müssen
sich zusammentun - wie im Verein Skarabäus in der
Bundeswehr -, sie müssen Interessensverbände gewinnen, Journalisten überzeugen, die Öffentlichkeit sensibilisieren, und aus dem Parlament heraus müssen Initiativen entwickelt werden. Erst dann wacht die Regierung
auf. Selbst dann noch haben wir es leider - auch in anderen Fällen - erlebt, dass der Regierungsapparat versucht,
zu mauern. Ein abschreckendes Beispiel sind nach wie
vor die durch Radarstrahlen Geschädigten aus der Bundeswehr und der NVA, die immer noch Klage über eine
hartherzige Bürokratie führen. Wir hoffen, dass das in
diesem Falle anders läuft.
Mit den Erkrankungen, um die es hier geht - das ist
auch schon gesagt worden -, wird in verschiedener Hinsicht an Tabus gerührt:
Am Selbstverständnis der Soldaten. Den harten Jungs
darf es doch nicht passieren, dass sie aus dem seelischen
Gleichgewicht geraten. Das hat leider dazu geführt, dass
man gesagt hat, die psychischen Probleme seien Privatsache, dass das Phänomen verdrängt und nicht rechtzeitig erkannt wurde, dass die Dunkelziffer hoch ist und
dass Betroffene isoliert sind oder sich selber isolieren.
Die Führung sieht durch dieses Phänomen die Moral
der Truppe allzu schnell gefährdet. Auch deshalb gibt es
den Hang, lieber den Mantel des Schweigens darüber
auszubreiten.
Schließlich fürchtet die staatliche Bürokratie nichts
mehr als Präzedenzfälle und Ansprüche auf Entschädigungszahlungen, die von denjenigen geltend gemacht
werden könnten, deren Wehrdienstfähigkeit nicht mehr
gegeben ist. Daher mussten sich die Betroffenen über einen längeren Zeitraum leider nicht nur um ihre medizinische Behandlung kümmern, sondern auch um ihre Anerkennung als Kranke ringen. Ich finde, das ist gänzlich
inakzeptabel. Ich hoffe, dass das jetzt wirklich Geschichte ist.
({0})
Es geht darum, die Sensibilität in diesem Bereich umfassend zu stärken und den Tabus entgegenzuarbeiten.
Die Betroffenen müssen schnell und jederzeit Ansprechstellen finden. Der Vorschlag der Einrichtung einer
anonymen Hotline wird hoffentlich aufgegriffen. Vor allem die Forschung muss vorangebracht werden, um damit die Möglichkeiten der Heilung zu verbessern. Das
Kompetenz- und Forschungszentrum der Bundeswehr ist
erwähnt worden. Wir brauchen einen großherzigen und
verständnisvollen Umgang mit den erkrankten Menschen. Es geht also um nicht mehr und nicht weniger als
um ein umfassendes Betreuungs- und Rehabilitationskonzept.
Meine Kolleginnen Pau und Lötzsch haben diese Problematik schon in der vergangenen Legislaturperiode
aufgegriffen. Meine Kollegin Katrin Kunert hat dies zu
Beginn dieser Legislaturperiode getan. Im März 2008
haben die Linken einen Antrag eingebracht, in dem wesentliche Forderungen des Bundeswehr-Verbandes aufgegriffen worden sind. Die Regierungsfraktionen haben
Ende vergangenen Jahres nachgezogen.
Ich sage das nicht, um historische Meriten für die Linken einzuheimsen. Das ist zu billig. FDP und Grüne waren präsent. Der Wehrbeauftragte hat sich dauernd engagiert. Dies gilt genauso für den Bundeswehr-Verband
und Abgeordnete der Koalitionsfraktionen.
An dieser Stelle möchte ich aber deutlich sagen, warum ich das erwähne. Mir geht es darum, der Verleumdung entgegenzutreten, die der Vorsitzende einer konkurrierenden Partei kürzlich in die Welt gesetzt hat,
Paul Schäfer ({1})
indem er gesagt hat, die Linke würde die Soldaten der
Bundeswehr als aggressive Krieger beschimpfen.
Wir haben politische Gründe für die Ablehnung der
Out-of-Area-Einsätze. Wir wollen generell vermeiden,
dass junge Menschen in eine Situation kommen, aufgrund derer sie an posttraumatischen Belastungsstörungen erkranken. Das ist richtig.
({2})
Das hat aber mit einer Beschimpfung von Soldatinnen
und Soldaten, die im Auftrag dieses Hauses ihren Dienst
tun, nichts zu tun. Im Gegenteil, wir haben den Anspruch, dass wir uns um diejenigen kümmern müssen,
die Opfer von Krieg und Gewalt werden können.
Wir fordern daher, dass das Parlament, das diese jungen Leute in Einsätze entsendet, dafür Sorge trägt, dass
ihnen eine angemessene medizinische Betreuung und
Versorgung zuteil wird. Wir unterstützen deshalb den
vorliegenden Antrag.
Wir haben auch im Ausschuss deutlich gemacht, dass
es möglich gewesen wäre, einen gemeinsamen Antrag
einzubringen. Die Union konnte aber leider nicht über
die Schatten des Kalten Krieges springen. Wir hoffen,
dass man in der nächsten Legislaturperiode diese ideologische Engführung und diesen Kleingeist überwindet.
({3})
Es würde dem Parlamentarismus gut tun und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in das Parlament
stärken, wenn sie erkennen, dass es nicht nur um Parteitaktik, sondern auch um Sachfragen geht.
Danke.
({4})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Winfried Nachtwei das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Vorbereitung von Bundeswehrsoldaten auf Auslandseinsätze ist nach meiner Erfahrung sehr fundiert und
hilfreich. Was es an Konzepten, an Begleitung und an
Strukturen gibt, das ist auch im Verhältnis zu manchen
anderen Armeen recht gut.
Noch im vorigen Jahr - so erinnere ich mich - hörte
ich von der Bundeswehrspitze die Beschreibung, der
Anteil der eingesetzten Soldaten mit posttraumatischen
Belastungsstörungen liege unter 1 Prozent, er steige
nicht, und man habe die Lage im Griff.
Einige von uns Verteidigungspolitikerinnen und -politikern haben inzwischen Begegnungen mit Betroffenen
gehabt. Dabei hat man fürchterliche Schicksale mitbekommen. Ich erinnere mich an das Beispiel eines Stabsunteroffizieres, der im Jahr 2003 im Rahmen des ABCBataillons in Kuwait eingesetzt worden ist. Dieser Einsatz ist inzwischen so ziemlich in Vergessenheit geraten.
Zu Beginn des Irakkrieges gab es ständig irakischen Raketenbeschuss. Dieser Stabsunteroffizier schied kurz danach aus der Bundeswehr aus.
Mehr als ein Jahr später zeigten sich dann diese Störungen. Es begann ein Kampf, ein Kampf nicht nur um
die Gesundung - das ist schon schwer genug -, sondern
auch ein Kampf mit dem Dienstherrn um die Anerkennung als Wehrdienstbeschädigung. Heute vor genau einem Jahr hat dieser Mann einen Bescheid von der Wehrbereichsverwaltung West bekommen. Darin heißt es:
Allgemeine Belastungen, unter Beschuss zu stehen
({0}), kann für einen Soldaten im Auslandseinsatz nicht als außergewöhnlich belastend
angesehen werden.
Ich glaube, das ist der Gipfel der Ignoranz.
({1})
Posttraumatische Belastungsstörungen können - das
ist die Erfahrung - jeden erwischen. Dies ist unberechenbar. Verschiedenste Stressfaktoren können dazu führen. Solche psychischen Verwundungen sind ausdrücklich kein Ausdruck menschlicher oder gar soldatischer
Schwäche, sondern das ist eher fast sogar eine menschlich normale Reaktion auf Situationen, die verrückt machen.
({2})
Wir müssen feststellen, dass die Dunkelziffer wahrscheinlich um einiges größer ist als die offizielle Zahl.
Wir müssen auch klarstellen, dass im Hinblick auf die
Dimension psychische Erkrankungen heutzutage der
häufigste gesundheitliche Folgeschaden von Einsätzen
sind.
Mit diesem Antrag, den wir glücklicherweise interfraktionell gemeinsam hinbekommen haben, formulieren wir die zentralen Notwendigkeiten. Ich will sie nicht
im Einzelnen wiederholen. Es geht um ein niedrigschwelliges Beratungsangebot und die Einrichtung einer
zentralen Ansprechstelle und eines Kompetenz- und Forschungszentrums, und zwar eines echten. Herr Minister,
passen Sie auf, was in dem Konzept zur psychischen Gesundheit vom Juni letzten Jahres vorgesehen ist! Das ist
allenfalls eine Arbeitsgruppe in diesem Institut, ausdrücklich ohne Mehrausstattung usw. Wir wollen im
Bundestag insgesamt ein echtes Kompetenz- und Forschungszentrum.
({3})
Des Weiteren sind in diesem Bereich die persönliche
Begleitung der Betroffenen und - das wurde bisher zu
wenig angesprochen - eine völlig andere BerücksichtiWinfried Nachtwei
gung der Veteranen von sehr großer Bedeutung. Ich
kenne Leute, die 1999 etwa im Kosovo oder in Bosnien
Fürchterliches erlebt haben. Diese Gruppe meldet sich
jetzt auch etwas stärker zu Wort.
Ich komme zum Schluss. Dieses Thema ist nicht nur
eine Herausforderung für die Bundeswehr und die Bundesverwaltung. Inzwischen gibt es eine enorme Kluft
zwischen der Einsatzerfahrung und dem zivilen Alltagsleben hierzulande. Sprachlosigkeit auf der einen Seite
und Gleichgültigkeit auf der anderen Seite wirken regelrecht als Stress- und Verwundungsverstärker.
Der Afghanistaneinsatz wird heute von großen Teilen
der Bevölkerung sehr kritisch gesehen. Unabhängig davon verdienen die vom Bundestag nach Afghanistan entsandten Frauen und Männer Interesse, Anteilnahme und
persönliche Unterstützung. Ich meine, auch das ist eine
Form von bürgerschaftlichem Engagement.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat der Kollege Gert Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren.
Der vorliegende Antrag zur Verbesserung der Situation
der von posttraumatischen Belastungsstörungen betroffenen aktiven und ausgeschiedenen Soldaten ist im Verteidigungsausschuss einstimmig angenommen worden.
Das begrüße ich ausdrücklich.
Gleichwohl komme ich nicht umhin, einige kritische
Anmerkungen grundsätzlicher Art zu machen. Denn dieses Thema beschäftigt den Bundestag, den Wehrbeauftragten und den Ausschuss bereits seit Jahren. Ich erinnere an die Kleinen Anfragen der Linksfraktion und der
FDP aus den Jahren 2006 und 2007. Gleichwohl war bisher nicht erkennbar, dass dem Verteidigungsministerium
die Gesundheit seiner Soldaten ebenso am Herzen liegt
wie die Ausrüstung der Bundeswehr mit immer moderneren Waffensystemen. Ich hoffe, dass sich dies nunmehr ändern wird und dass das Ministerium die Maßnahmen ergreift, die der ansteigenden Zahl von
Betroffenen gerecht wird.
Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sind nach bisheriger Lesart der Bundesregierung bis heute reine Samariterdienste. Ich würde sie hingegen als das konventionelle Gegenstück zur nuklearen Teilhabe bezeichnen,
als Mittel zur Machtteilhabe. Dafür gibt es auch einen
Kronzeugen: den früheren Bundeskanzler Schröder mit
seinem inzwischen geflügelten Wort der „Enttabuisierung des Militärischen“ als normalem Mittel der deutschen Politik. Diesen Ausspruch zitiere ich allein deswegen immer wieder gerne, weil er nicht die Position der
Linken ist.
Nun könnte ich es mir leicht machen und sagen, ohne
kriegerische Einsätze gäbe es keine nennenswerten posttraumatischen Belastungsstörungen und auch keine Debatte über das Thema in diesem Hause. Dies ginge allerdings am Kern vorbei, und zwar aus zwei Gründen.
Erstens besteht eine Verpflichtung des Parlaments insgesamt, die erkannten negativen Auswirkungen seiner Entscheidungen zu begrenzen, besonders wenn Menschen
davon betroffen sind. Dies gilt unabhängig vom Abstimmungsverhalten. Insofern haben wir alle eine gemeinsame Fürsorgepflicht für Soldaten in der Parlamentsarmee.
Zweitens muss an dieser Stelle auch gesagt werden,
warum die Bundesregierung das Thema immer wieder
heruntergespielt hat, warum sie auch der Frage nach der
Dunkelziffer nicht offensiv nachgegangen ist. Sie wird
bekanntlich von Fachleuten als weit höher geschätzt als
die Zahl der als erkrankt Erfassten; denn diese individuelle Verdrängung hängt ja unmittelbar mit den Bedingungen und Gruppenzwängen zusammen, denen junge
Soldaten in einer militärisch, überwiegend von Männern
geprägten Gemeinschaft ausgesetzt sind, nämlich: Keine
Schwächen zeigen! Sonst gilt man als Weichei und wird
verachtet. Unter kriegerischen Bedingungen wie in Afghanistan gilt dies ganz besonders. Aber die Bundesregierung hat den dortigen Einsatz aus durchsichtigen
Gründen jahrelang nicht als das bezeichnet, was er ist,
nämlich als einen Krieg. Ergo konnte sie das Problem
der Traumatisierten auch nicht angemessen behandeln,
ohne die eigene Argumentation infrage zu stellen, und
dies zulasten der Betroffenen. Studien aus anderen Armeen, in den USA und in Skandinavien, zeigen deutlich:
Mit Zahl, Dauer und Intensität der Kriegseinsätze steigt
der Prozentsatz der Traumatisierten in den zweistelligen
Bereich an. Auch dies ist für uns ein Grund, Nein zu
weiteren Kriegseinsätzen zu sagen.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/11882 mit dem Titel
„Betreuung bei posttraumatischen Belastungsstörungen
stärken und weiterentwickeln“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltun-
gen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Verteidigungsausschusses auf den Drucksachen 16/11842
und 16/10024 zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD auf Drucksache 16/11410 und dem An-
trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/7176. Es
ist interfraktionell vereinbart, beide Anträge wegen des
soeben unter Tagesordnungspunkt 8 a angenommenen
gemeinsamen Antrags der Fraktionen von CDU/CSU,
SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen für erledigt zu
erklären. Wer stimmt für diese Verfahrensweise? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Anträge sind
einstimmig für erledigt erklärt. Damit entfällt insoweit
die Behandlung der Beschlussempfehlungen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über Nr. 2 der Be-
schlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf
Vizepräsidentin Petra Pau
Drucksache 16/10024. Der Ausschuss empfiehlt die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 16/8383 mit dem Titel „Adäquate Behandlungs-
und Betreuungskapazitäten für an posttraumatischen Be-
lastungsstörungen erkrankte Angehörige der Bundes-
wehr“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfrak-
tionen, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Volker Beck ({0}), Monika Lazar, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
über die Entschädigung für Strafverfolgungs-
maßnahmen
- Drucksache 16/11434 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van
Essen, Mechthild Dyckmans, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Angemessene Haftentschädigung für Justizopfer sicherstellen
- Drucksache 16/10614 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre zu dieser Vereinbarung keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In Deutschland gibt es Menschen, die in Untersuchungshaft, manchmal sogar in Strafhaft kommen, obwohl sie
unschuldig sind, und die deswegen - man kann es so sagen - durch staatliche Maßnahmen und gerichtliche Urteile ihrer Freiheit beraubt worden sind.
Ich will an drei Fälle erinnern: Ein Säugling stirbt,
und der Vater kommt für neun Monate in Untersuchungshaft. Es stellt sich heraus, dass er völlig unschuldig ist. Ein Mann wird wegen einer Falschbelastung,
einer angeblichen Vergewaltigung, zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Er sitzt 1 523 Tage in Haft. Danach
stellt sich seine Unschuld heraus. Hier in Berlin ist eine
Arzthelferin wegen angeblicher Brandstiftung in Haft
genommen worden. Sie saß 888 Tage. Danach stellte
sich heraus, dass sie nicht schuldig war.
Unsere Rechtsordnung sieht eine Entschuldigung
staatlicherseits für diese Freiheitsberaubung nicht vor.
Dafür ist aber eine Entschädigung für diese Freiheitsentziehung vorgesehen. Die grundlegende Frage ist: Was ist
eigentlich die Freiheit einer Bürgerin oder eines Bürgers
wert? Wie viel sollen denn diejenigen erhalten, die unschuldig ihrer Freiheit beraubt worden sind? Dafür gibt
es keine festen Sätze, aber es gibt die Rechtslage in
Deutschland. Seit 1987 zahlen wir pro Tag unschuldig
erlittener Haft 20 DM bzw. jetzt 11 Euro. Dieser Betrag
ist seit über 20 Jahren nicht erhöht worden. Wir meinen,
dass dieser Betrag absolut unangemessen ist. Um eine
Relation zu erhalten, halte ich es für vernünftig, einmal
einen Blick ins europäische Ausland zu wagen. Ich will
Ihnen einige Zahlen nennen.
In Luxemburg werden für diese Fälle bis zu 200 Euro
pro Tag gezahlt, in Holland bei Polizeihaft 95 Euro, bei
Gerichtshaft 70 Euro pro Tag. In Österreich gibt es eine
Regelung ähnlich unserem Vorschlag, eine angemessene
Entschädigung zu zahlen. Die Gerichte gehen im Regelfall von 100 Euro pro Tag aus. Finnland zahlt 100 Euro
pro Tag. Die Gerichte legen dort aber auch wesentlich
höhere Beträge fest. Spanien zahlt 50 Euro pro Tag, Dänemark pro fünf Stunden 255 Euro, 615 Euro für zwei
Tage, danach pro Tag bis zu 108 Euro mit Aufschlägen
für besonders schwere Vorwürfe. Schweden zahlt für die
ersten zwei Tage unrechtmäßiger Haft 315 Euro, das
heißt 162 Euro pro Tag, danach 70 Euro pro Tag. Dies ist
verglichen mit den 11 Euro, die wir seit 20 Jahren zahlen, eine völlig andere Dimension.
Schauen wir nach Deutschland. Es gibt Fallgestaltungen, in denen die Gerichte nicht gezwungen sind, als
Entschädigung den festen Betrag von 11 Euro festzulegen, sondern nach eigenem Ermessen entscheiden dürfen: Bei einer unrechtmäßigen Freiheitsentziehung durch
einen Kaufhausdetektiv bekam der Unschuldige 127 Euro
für einige Stunden. Ein Mensch ist durch Anwaltsverschulden in Untersuchungshaft gekommen. Das Landgericht Berlin hat entschieden, dass das 92 Euro pro Tag
wert ist. Eine unrechtmäßige Freiheitsentziehung durch
einen Polizisten war dem Landgericht Karlsruhe pro Tag
255 Euro wert. Für eine unrechtmäßige Freiheitsentziehung in psychiatrischen Kliniken hat das OLG Oldenburg pro Tag 320 Euro festgelegt, das Landgericht Berlin 512 Euro pro Tag und das Oberlandesgericht
Stuttgart 219 Euro. Es gibt sogar Entscheidungen für
eine Entschädigung bei rechtmäßiger Haft. So hat das
Oberlandesgericht München bei einer rechtmäßigen Haft
in einer überbelegten Zelle 50 Euro pro Tag festgelegt.
Wenn wir uns diese Zahlen anschauen, dann merken wir,
wie jämmerlich die 11 Euro sind, die wir seit 20 Jahren
auszahlen.
({0})
Deswegen haben wir jetzt nicht mehr auf die Länder
gewartet, die sich angeblich geeinigt haben, die aber keinen Gesetzentwurf vorlegen. Wir warten auch nicht auf
die Koalition, die davon redet, dass man was machen
sollte. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir
fordern, dass endlich eine angemessene Entschädigung
gezahlt wird, mindestens 50 Euro am Tag. Wir bitten
ganz herzlich darum, dass man über diesen Gesetzentwurf schnell diskutiert, schnell entscheidet, damit dieser
Skandal - 11 Euro pro Tag - ein Ende hat.
({1})
Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir sind uns ja einig: 11 Euro pro Tag sind als Entschädigung für eine unrechtmäßige Haft zu wenig. Wenn
man über das Strafverfolgungsmaßnahmen-Entschädigungsgesetz spricht, sollte man sich nicht nur auf die
pauschalierte Haftentschädigung für immateriellen
Schaden beschränken. Wenn man zu Unrecht in Haft genommen ist, gibt es den Ersatz des materiellen Schadens: Verdienstausfall, Umzugskosten, Sachschäden und
Ähnliches. Erst seit dem Jahr 1970 gibt es für den immateriellen Schaden eine finanzielle Entschädigung: 1970
waren es 10 DM, später waren es 20 DM, und jetzt sind
es 11 Euro. Wir sollten insgesamt überlegen, ob und inwieweit wir das Strafverfolgungsmaßnahmen-Entschädigungsgesetz reformieren müssen.
Es gibt möglicherweise einen kleinen Webfehler.
Wird ein Beschuldigter nach verbüßter Untersuchungshaft freigesprochen, spricht das erkennende Gericht dem
Grunde nach einen Schadensersatz zu. Über die Höhe
des Schadens befinden genau die Behörden, die dafür
gesorgt haben, dass der Beschuldigte in Untersuchungshaft gekommen ist, nämlich die Landesjustizbehörde
und die Staatsanwaltschaft. Das ist vielleicht nicht die
günstigste Konstellation für einen Schadensersatzanspruch. Also sollten wir uns auch darüber Gedanken machen.
Es ist richtig, dass es im europäischen Ausland teilweise andere Regelungen gibt. Eine hat der Kollege
Montag zu Recht angesprochen, nämlich die österreichische. Man muss vor seinem geistigen Auge noch einmal
das vorbeiziehen lassen, was Sie, Kollege Montag, gesagt haben: Die Gerichte in Österreich sprechen in aller
Regel einen immateriellen Schaden von 100 Euro pro
Hafttag zu. Eigentlich wollen wir nicht, dass ein zu Unrecht in Haft Befindlicher vor ein Gericht ziehen muss,
um seinen Schadensersatzanspruch geltend machen zu
können. Deswegen bin ich ein vehementer Verfechter
von Pauschalen.
Mir ist es lieber, ein zu Unrecht Inhaftierter weiß, er
bekommt in der Zukunft 25 Euro je Hafttag, und kann
sich damit ausrechnen, was er insgesamt und relativ
schnell bekommt. Überlegen Sie sich einmal, wie nach
dem Strafverfolgungsmaßnahmen-Entschädigungsgesetz der Rechtsweg ist: Das Gericht erkennt den Grund
zu. Dann macht der Verurteilte oder Freigesprochene bei
den Justizbehörden seinen Schaden geltend. Kommt er
dort nicht zum Erfolg, was die Höhe des materiellen
Schadens anbelangt, muss er vor das Landgericht ziehen.
In einem langwierigen Verfahren muss er dort seinen
Anspruch geltend machen. Da gibt es auch noch Ausschlussgründe, über die wir auch einmal reden müssten.
Also ist die Pauschale doch wohl der bessere Weg.
Doch welche Höhe ist da gerecht? Versuchen Sie einmal, in einem österreichischen Urteil etwas dazu zu finden, warum man dort in aller Regel 100 Euro zuspricht!
Die Höhe dieses Betrages ist willkürlich. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, für den, der zu Unrecht verfolgt
worden und in Haft gekommen ist, ist es mit dem Ausgleich des materiellen Schadens und mit dem Ausgleich
des immateriellen Schadens doch gar nicht getan. Wer
zahlt beispielsweise die Kosten für den Anwalt, wenn
ein Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wird, weil sich ein Tatverdacht nicht erhärtet hat?
Der Bürger bleibt auf seinen Kosten für den Rechtsanwalt sitzen.
({0})
Ist das gerecht? Auch darüber könnte man durchaus einmal diskutieren.
Auch andere Aspekte im Haftrecht könnten sehr wohl
einmal durchleuchtet werden.
({1})
Ich habe Folgendes immer wieder angesprochen: Ein
Strafhäftling ist verpflichtet, zu arbeiten. Er ist aber nicht
sozialversichert. Er sitzt 17 Jahre in Haft, arbeitet jeden
Tag, kommt aus der Haft heraus und hat keinen Rentenanspruch. Die Allgemeinheit muss es ohnehin bezahlen.
Da wäre es doch viel besser, man würde für die Häftlingsarbeit Sozialversicherungsbeiträge leisten, sodass
er, wenn er aus der Haft herauskommt, ab einem bestimmten Alter einen Rentenanspruch hat.
({2})
Sie sehen also: In der Strafprozessordnung und im
Haftrecht gibt es die eine oder andere Ungerechtigkeit,
über die zu diskutieren sich lohnen würde.
({3})
Machen wir uns nichts vor! Herr Kollege Montag, wir
können über die Höhe des immateriellen Schadens bei
Haft und damit der Entschädigung befinden, können ein
Gesetz verabschieden, können dabei Ihre Lösung aufnehmen: mindestens 50 Euro, in aller Regel 100 Euro
pro Tag. Aber wer zahlt das? Die Länder. Die Länder
werden, weil eine solche Änderung ihrer Zustimmung
bedarf, gerade nicht zustimmen. Deswegen ist der andere Weg doch der viel geschicktere.
Ich habe damals die Bundesjustizministerin angeschrieben und gebeten, genau dieses Thema „Entschädigung des immateriellen Schadens“ zu regeln. Sie hat mir
zu Recht geantwortet, es sei vielleicht besser, wenn man
erst einmal die Länder anschreibe, sich mit denen
Siegfried Kauder ({4})
zusammensetze und versuche, gemeinsam eine Lösung
zu finden.
({5}): Es kommt ja
nichts!)
Eine solche Lösung zeichnet sich auch ab. In der
Herbstkonferenz haben sich die Landesjustizminister
darauf geeinigt, 25 Euro pro Hafttag für immateriellen
Schaden zuzusprechen. Jetzt kann man natürlich lange
darüber diskutieren, ob das gerecht ist oder ob das nicht
gerecht ist. Lassen Sie uns doch darangehen, für die
Haftentschädigung insgesamt eine gute Lösung zu finden und das Strafverfolgungsmaßnahmen-Entschädigungsgesetz auch auf andere Probleme hin durchzuarbeiten! Nehmen wir in Angriff, dass wir auch für
Häftlingsvergütungen Sozialversicherungsbeiträge leisten, und machen uns Gedanken darüber, ob derjenige,
der zu Unrecht mit einem Strafverfahren überzogen worden ist, einen Anspruch darauf haben soll, dass er für
seine Verteidigerkosten von der Staatskasse entschädigt
wird!
Auf diesem Wege mache ich gern mit. Darüber können wir im Rechtsausschuss in allen Verästelungen diskutieren. Aber auf die Schnelle, Kollege Montag, geht es
halt nicht.
({6})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Jörg
van Essen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe Ihnen, Herr Kollege Kauder, gerade aufmerksam zugehört. Sie haben zu Recht auf viele Baustellen
hingewiesen. Ich habe nach Ihren Schlussworten das Gefühl, dass Sie das deshalb getan haben, um deutlich zu
machen, dass Sie eine schnelle Änderung nicht wollen.
({0})
Wir als Liberale, als FDP-Bundestagsfraktion, wollen
genau diese Frage, nämlich: Wie entschädigen wir die
Menschen, die unberechtigt in Haft genommen worden
sind?, zu einer schnellen Lösung führen.
({1})
Deshalb machen wir Druck. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass Druck nicht nur von meiner Fraktion, sondern
auch - der Beitrag des Kollegen Montag hat es gezeigt von den Grünen gemacht wird.
({2})
- Herr Kollege Kauder.
({3})
Sie gestatten die Zwischenfrage. Damit hat der Kollege Kauder das Wort.
Frau Präsidentin, Sie haben es formgerecht gemacht.
Vielen Dank.
Herr Kollege van Essen, können wir uns darauf verständigen, dass ich schon vor vielen Monaten die Bundesjustizministerin angeschrieben und gebeten habe,
sich dieses Problems anzunehmen? Das war die erste
Stufe des Drucks. Die zweite Stufe des Drucks ist entstanden, indem wir mit den Ländern verhandeln. Wenn
wir uns noch darauf einigen können, dass nicht der Bund
zahlt, sondern die Länder, und dass deswegen eine konsensuale Lösung mit den Ländern die bessere ist, dann
sind wir uns schon ein Stückchen näher.
Ja, wir sind da nicht auseinander. Sie haben vollkommen recht: Die Länder müssen zahlen. Es gibt auch Justizminister aus meiner Partei, die das Problem haben.
Das darf uns aber nicht daran hindern, hier im Bundestag
die richtige Politik voranzutreiben.
({0})
Dass Sie dazu beigetragen haben - Sie haben es angesprochen -, will ich gar nicht verschweigen. Ich bin ganz
froh darüber, dass wir in dieser Frage hier eine relativ
breite Mehrheit haben. Es ist auch gut, dass es so ist.
Ich will sagen, warum ich das gut finde. Mich beschäftigt aus meiner früheren Tätigkeit als Oberstaatsanwalt immer noch ein Vorgang, mit dem ich nur am
Rande befasst war. Es handelt sich um einen britischen
Soldaten, der wegen Mordes nach der Vergewaltigung
einer jungen Frau verurteilt worden ist, mit seinen
Rechtsmitteln bis hin zum Bundesgerichtshof keinen Erfolg hatte und lange gesessen hat, bis durch die Fortschritte bei den DNA-Untersuchungen festgestellt werden konnte, dass er mit Sicherheit nicht der Täter war.
Ich habe sehr persönlich Verantwortung dafür gespürt,
dass wir einem jungen Menschen über zehn Jahre seines
Lebens von Staats wegen geraubt haben. Natürlich war
es für ihn als Engländer, der in Deutschland eine Haft
verbüßt hat, unglaublich schwierig, wieder sozial Fuß zu
fassen. Wenn man ein solches Einzelschicksal miterlebt
hat, wenn auch nur am Rande, fühlt man sich ganz besonders unwohl angesichts der Höhe der Entschädigung,
die zurzeit gezahlt wird.
In einem Punkt bin ich allerdings anderer Meinung
als Sie, Herr Kauder. Sie haben sich hier sehr intensiv
für eine Entschädigung in Form einer Pauschale eingesetzt und auch Argumente vorgetragen, die man ernst
nehmen muss. Sie sagten zum Beispiel, dass das zu Berechenbarkeit führt, dass keine lange Verfahren nötig
sind, dass möglicherweise schneller entschieden werden
kann. All das sind Argumente, die aus meiner Sicht für
Ihre Position sprechen.
Trotzdem will ich hier nicht verhehlen, dass ich persönlich wie offensichtlich auch der Kollege Montag dem
österreichischen Modell sehr viel abgewinnen kann.
Hier entscheidet nämlich ein Gericht, also nicht eine
Strafverfolgungsbehörde wie die Staatsanwaltschaft
- für die ich früher tätig war -, in einem objektiven Verfahren. Ich glaube, dass man damit auch den Besonderheiten der Einzelfälle besser gerecht werden kann. Wenn
man sich einmal die Fälle anschaut, stellt man fest, dass
sie sehr unterschiedlich sind und auch der Grad der Betroffenheit sehr unterschiedlich sein kann. Von daher
denke ich, dass es gerechter wäre, wenn jeder Einzelfall
betrachtet würde und erst dann entschieden würde, wie
viel Geld pro unberechtigt verbüßtem Hafttag bezahlt
wird. Ich glaube, dass wir uns auch mit diesem Modell
näher beschäftigen sollten. Wir sollten uns erkundigen,
welche Erfahrungen man in Österreich gesammelt hat.
Ich bekomme aus Österreich nur positive Rückmeldungen.
Auch die Höhe der durchschnittlich gezahlten Summen ist interessant. Die Justizminister wollen die Entschädigungssumme auf 25 Euro anheben; das gilt aber
noch nicht einmal. Dagegen liegt diese in Österreich bei
durchschnittlich 100 Euro. Es ist also ganz offensichtlich, dass dort die Menschen besser wegkommen, als es
im Augenblick bei uns in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist, und selbst dann noch besser wegkommen würden, wenn sich die Justizminister mit ihrem
Vorschlag von 25 Euro durchsetzen würden.
Lieber Herr Kauder, Sie haben gesagt, es sind noch
viele Fragen zu klären. Ich würde mir wünschen, dass
wir dieses Thema noch vor der Bundestagswahl voranbringen und vielleicht sogar eine Lösung präsentieren
könnten. Sie haben schon darauf hingewiesen, dass es
nicht leicht sein wird, mit den Ländern eine Lösung zu
finden. Ich würde mir aber wünschen, dass wir wenigstens den Versuch unternehmen. Deshalb sollten wir
schnell mit den Beratungen beginnen. Wir als FDP sind
jedenfalls dazu bereit. Ich persönlich mache auch Druck,
wie viele andere hier auch, weil Verbesserungen dringend nötig sind.
Vielen Dank.
({1})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege
Dr. Matthias Miersch das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, es bringt wenig, darüber zu philosophieren,
wem nun das Erstgeborenenrecht zukommt. Es bringt
aber viel, sich vor Augen zu führen, dass der 67. Deutsche Juristentag dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat, im weiteren Verlauf die Fraktionen der FDP
und der Grünen entsprechende Anträge eingebracht haben und die Bundesjustizministerin - auf Initiative des
Kollegen Kauder, wie er heute gesagt hat - die Länder
angeschrieben hat. Insofern befinden wir uns alle in einem Boot. Wir sollten jetzt den Schwerpunkt darauf legen, hier sehr schnell tatsächlich zu einer Lösung zu
kommen.
Bei der Beratung dieses Themas lohnt es sich, wie ich
glaube, auf drei weitere Gesichtspunkte hinzuweisen:
Als Erstes muss es darum gehen, unberechtigte Haft
zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund sind die Personaleinsparungen in den Ländern, die wir in den Justizapparaten, aber auch im Polizeidienst an vielen Stellen
feststellen können - darauf muss man an dieser Stelle
immer wieder aufmerksam machen -, ein Schritt in die
falsche Richtung. Dies im Blick müssen wir an die Länder appellieren, deutliche Personalaufstockungen vorzunehmen.
({0})
Zweitens geht es um die Frage - wir werden uns in diesem Haus heute noch mit diesem Thema beschäftigen -,
wie es mit den Rechten von Menschen bestellt ist, die in
Untersuchungshaft kommen. Ich bin froh, dass der von
den Koalitionsfraktionen vorgelegte Entwurf vieles Gute
beinhaltet und sicherlich dazu führen wird, dass die
Rechte von Beschuldigten besser wahrgenommen werden können. Ich will an dieser Stelle nur sagen, dass es
wichtig ist, zum Beispiel frühzeitig einen Verteidiger zur
Verfügung zu stellen und Akteneinsichtsrechte zu gewähren, um eine effektive und schnelle Verteidigung zu
gewährleisten.
({1})
Auch das gehört dazu, Herr Montag, wenn es darum gehen soll, ungerechtfertigte Haft möglichst zu vermeiden,
Mein dritter Punkt bezieht sich auf die Themen, die
der Kollege Kauder angesprochen hat. Ich meine, dass
wir sie nicht einfach zur Seite schieben sollten, auch
nicht vor dem Hintergrund, dass wir eine schnelle Regelung brauchen. Im Strafentschädigungsgesetz sind
durchaus Regeln enthalten, die wir uns einmal genauer
anschauen sollten: Warum beispielsweise kann eine Entschädigung versagt werden, wenn es sich um ein Verfahrenshindernis handelt? Dies ist eine Sache, die ein Beschuldigter nicht zu vertreten hat. Warum kann eine
Entschädigung in diesem Fall versagt werden? Auch
diese Punkte sollten wir in den Berichterstattergesprächen aufgreifen. Ich jedenfalls hielte das für sinnvoll.
Schließlich sollten wir uns daran orientieren - der
Kollege Montag hat bereits darauf hingewiesen -, wie es
andere Länder handhaben. Ich finde es interessant, dass
die skandinavischen Staaten teilweise sogar von Stundensätzen ausgehen. Dies zeigt nämlich, dass die Haft
das einschneidendste Erlebnis im Leben sein kann. Ich
finde es auch interessant, dass in Dänemark sogar der
Tatvorwurf eine Rolle bei der Entschädigung spielt.
Auch dieser Punkt gehört in unsere Beratungen.
Es ist natürlich schwierig, eine Angemessenheitsklausel zu finden. Allerdings könnte man bestimmte Dinge
an Vorwürfen festmachen. Es liegt ein Unterschied darin, ob ich einer schweren Sexualstraftat oder eines relativ einfachen Delikts beschuldigt werde. Ich halte es für
richtig, an dieser Stelle den Blick aufs Ausland zu richten. Auf diese Weise finden wir vielleicht - ich sage:
vielleicht - noch vor der Bundestagswahl eine Regelung
mit den Justizministern der Ländern.
Ich bin der Überzeugung - ich erkläre dies hier im
Namen der SPD-Fraktion -, dass wir uns an vielen Stellen durchaus an Vorbildern, auch im europäischen Ausland, orientieren könnten, sodass bei gutem Willen auch
in relativ kurzer Zeit etwas erreicht werden kann. Deswegen möchte ich meine Redezeit heute nicht ausschöpfen. Ich appelliere an Sie, schnell an die Arbeit zu gehen.
Vielleicht wird dann in dieser Wahlperiode noch etwas
daraus.
Ich freue mich auf die Beratungen und danke Ihnen
für die Aufmerksamkeit.
({2})
Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege
Wolfgang Nešković.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin Zypries! Haftentschädigung sollte keine Frage des politischen Standpunktes sein. Es geht hierbei nicht um
Grundsatzfragen zu Wirtschaft, Ökologie oder Sicherheit. Es geht auch nicht um Sozialpolitik. Es sind auch
keine spezifischen Wählergruppen betroffen. Es geht
noch nicht einmal um bedeutende finanzielle Belastungen in den Haushalten. Man könnte daher meinen, dass
wir relativ schnell zu einem Konsens gelangen könnten.
Ich darf einmal daran erinnern, worum es eigentlich
geht: Es soll eine angemessene Entschädigung für zu
Unrecht erlittene Haft festgesetzt werden. Schäden führen zu Schulden, und Schulden müssen ausgeglichen
werden. Das gilt insbesondere für das Verhältnis von
Staat und Bürger. Es gibt strafrechtliche Fehlentscheidungen, und es wird sie so lange geben, wie Menschen
über Menschen richten. Wir benötigen zweifellos ein
Strafrecht, und wir benötigen ebenfalls einen Strafvollzug. Wir sind auf beide angewiesen, obwohl wir Fehler
nicht sicher vermeiden können. Weil die Gesellschaft
das Strafrecht braucht, ist es unvermeidbar, dass einzelne
Menschen zu Unrecht eingesperrt werden. Das ist ein
gesellschaftliches und auch ein moralisches Dilemma.
Unschuldig Inhaftierte zahlen dafür ganz persönlich
den Preis. Sie schultern eine schwere Last für die Gesellschaft. Wenn wir aber über Haftentschädigung reden,
dann sprechen wir meist nicht über das Dilemma, das ich
eben beschrieben habe, sondern über ein anderes. Es
geht darum, den immateriellen Wert der verlorenen Freiheit materiell - also in Form von Geld - zu bestimmen.
Das ist ein Griff ins Dunkle. Weil die Menschen emotional verschieden sind, fällt auch der in der Haft erlittene
immaterielle Schaden ganz verschieden aus.
Dazu kommt die Verschiedenheit der einzelnen Haftsituationen. Der Wert der Freiheit lässt sich in Geld nicht
nachvollziehbar ermitteln. Das ist unser Problem, und
das ist auch unsere gesetzgeberische Hilflosigkeit. Wer
soll die Folgen dieser Hilflosigkeit tragen? Derzeit tragen diese Folgen ausgerechnet diejenigen, die bereits die
Bürde des nicht zu vermeidenden Justizirrtums tragen:
die unschuldig Inhaftierten. Nun sagt man ihnen: Weil
wir den Wert der Freiheit nicht gut ermitteln können, geben wir euch pro Hafttag einen pauschalierten, noch
dazu einen beschämend geringen Betrag in Höhe von
11 Euro. - Das ist ungerecht und kleinlich,
({0})
und zwar nicht nur wegen der geringen Höhe des Pauschalbetrages, sondern auch weil schon die Pauschalierung als solche ungerecht ist. Wenn der Wert der Freiheit
nur individuell zu bestimmen ist, dann muss auch seine
Bestimmung in Geld individuell erfolgen.
({1})
- Herr Kollege Wieland, ich verrate Ihnen gerne, wonach. Wir haben eine Rechtsprechung zu § 847 BGB.
Hierzu gibt es sogar Tabellen. All das lässt sich hier in
gleicher Weise etablieren.
({2})
Pauschal darf danach nur die Untergrenze der Bemessung sein. Genau so sieht es der Antrag vor. Der Antrag
der Grünen sieht eine Untergrenze von 50 Euro vor. Das
erscheint mir - das hat die Diskussion deutlich gemacht im europäischen Ländervergleich auch akzeptabel. Wer
meint, das sei zu viel, sollte sich probeweise einmal
selbst in den Strafvollzug begeben. Im Rahmen des Abgeordnetenmandats sollte ein solches Praktikum zur Erfahrungserweiterung durchaus möglich sein.
({3})
Der Antrag der Grünen hat demnach grundsätzlich die
Zustimmung aller Fraktionen verdient. Wir, die Linke,
jedenfalls stimmen diesem Antrag zu.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Petra Pau
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/11434 und 16/10614 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Strukturreform des Versorgungsausgleichs ({0})
- Drucksache 16/10144 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 16/11903 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Joachim Stünker
Jörn Wunderlich
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries.
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Die heute zu beschließende
Strukturreform des Versorgungsausgleichs ist ein weiterer Baustein für ein modernes Familienrecht. Das Unterhaltsrecht und das Verfahren bei den Familiengerichten
haben wir schon reformiert; das eheliche Güterrecht
wird noch folgen. Heute schaffen wir eine neue Grundlage für das wirtschaftlich bedeutendste Ausgleichssystem nach einer Scheidung, nämlich die Verteilung der
Rentenansprüche, die in der Ehezeit von den Partnern
gemeinsam erworben wurden.
Eines war für mich in der Debatte wichtig, und es war
auch die Voraussetzung für den Gesetzentwurf, den wir
vorgelegt haben: Grundsätzlich hat sich der Versorgungsausgleich bewährt. Es ist völlig richtig, dass die
Familiengerichte von Amts wegen bei einer Ehescheidung die Versorgungsansprüche der Ehegatten ausgleichen. Das ist noch immer vor allem für Frauen wichtig.
Denn sie verzichten nach wie vor häufiger als Männer
auf eine berufliche Karriere während der Ehezeit und
kümmern sich um die Kinder. Dementsprechend bauen
sie keine eigenen Rentenansprüche auf. Es ist daher ein
Gebot der Gerechtigkeit, dass die Versorgungsansprüche, die während der Ehezeit entstanden sind, gleichmäßig zwischen Mann und Frau geteilt werden.
Der Grundsatz stimmt also, und daran ändern wir deshalb auch nichts. Was wir mit diesem Gesetzentwurf ändern, ist das Verfahren. Eine Reform war insbesondere
aus drei Gründen notwendig:
Der am stärksten auf der Hand liegende Grund war,
dass die sogenannte Barwert-Verordnung in einer Weise
undurchsichtig war, dass nur noch wenige Experten in
Deutschland überhaupt gewusst haben, wie die entsprechenden Berechnungen vorzunehmen sind.
Der zweite Grund war, dass die komplizierte Umrechnungssystematik, die in dieser Barwert-Verordnung zugrunde lag, die gerechte Aufteilung der Rentenanwartschaften oft sehr schwer machte und dadurch zu falschen
Ergebnissen führte.
Der dritte Punkt ist, dass die Versorgungen zum Zeitpunkt der Scheidung nicht immer vollständig aufgeteilt
werden können. Weil die nachträglichen Korrekturmöglichkeiten selten genutzt werden, ist es so, dass vor allem
Frauen durch das geltende Recht benachteiligt werden.
Sie bekommen weniger, als ihnen eigentlich zusteht.
Deswegen haben wir gesagt: Wir müssen das ganze
System reformieren und uns etwas vollständig anderes
ausdenken. Wir haben deshalb die Realteilung innerhalb
der Versorgungssysteme vorgesehen. Das heißt beispielsweise, die Ansprüche aus der gesetzlichen Rente
werden innerhalb dieses Systems und die Ansprüche aus
Betriebsrenten werden innerhalb des Betriebsrentensystems geteilt. Dies gilt auch für Versicherungen usw. Innerhalb des jeweiligen Systems werden also neue Konten eingerichtet. Das bedeutet, dass direkt mit der
Scheidung eine vollständige Trennung erfolgt. Mann
und Frau können dann jeweils überblicken, wie hoch
ihre Rentenkonten bei den jeweiligen Versorgungsträgern sind. Der einzige Nachteil, wenn Sie so wollen
- wenn man das überhaupt als Nachteil begreifen will -,
ist die Tatsache, dass sie dann von mehreren Versorgungsträgern Gelder erhalten. Aber das summiert sich
auf ihrem Girokonto wieder zur vollen Summe. Diese
interne Teilung jeweils zur Hälfte führt - davon bin ich
überzeugt - zu gerechteren Ergebnissen und verhindert
die sogenannte schuldrechtliche Ausgleichsrente.
Wir haben nicht nur das Verfahren sehr vereinfacht,
sondern auch den Gesetzestext selber. Wir haben hierbei
von vornherein mit der Gesellschaft für deutsche Sprache zusammengearbeitet. Der Gesetzentwurf, der heute
beschlossen wird, ist deshalb ein Musterprojekt der
Reihe „Verständliche Gesetze“. Das neue Recht fasst
den Text für die Praktiker gut zusammen. Wir hoffen,
dass künftig auch Bürgerinnen und Bürger, die sich darüber informieren wollen, wie das Versorgungsausgleichsverfahren abläuft, beim Lesen des Gesetzestextes
verstehen, was passiert. Das ist ja nun keineswegs immer
so.
Ich bin davon überzeugt, dass diese Reform nicht nur
sprachlich, sondern auch inhaltlich geglückt ist. Schon
für den Entwurf haben wir breite Zustimmung erfahren.
Alle Sachverständigen haben das Konzept einhellig begrüßt. Aber selbstverständlich gilt auch hier: Kein Gesetzentwurf der Bundesregierung ist so gut, dass er nicht
durch das segensreiche Zutun des Parlaments noch besser werden könnte.
({0})
So ist es auch hier.
Auf Empfehlung des Rechtsausschusses haben wir
Änderungen vorgenommen: Erstens. Auch bei einer kurzen Ehezeit kann jetzt auf Antrag ein Versorgungsausgleich durchgeführt werden. Zweitens. Die Übergangszeit für Altfälle haben wir auf ein Jahr verkürzt. Das
heißt, die Praxis muss nicht lange mit zwei unterschiedlichen Systemen arbeiten. Drittens haben wir den elektronischen Datenaustausch zwischen den Versorgungsträgern und den Familiengerichten ermöglicht. Wir
haben auch - das hat mich gefreut; dafür danke ich dem
Parlament besonders - die vollständige Gleichstellung
von Lebenspartnerschaften und Ehegatten im Versorgungsausgleich erlangt.
({1})
Meine Damen und Herren, ich möchte all denen sehr
herzlich danken, die mit ihrem Engagement und ihrer
Arbeit dazu beigetragen haben, dass dieser Entwurf
heute verabschiedet werden kann. Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen im Parlament für ihre engagierte
Mitarbeit danken. Ich möchte den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern im Ministerium danken, die einen wirklich
harten Job gemacht haben.
({2})
Ich danke all jenen, die uns mit ihrem Sachverstand bei
diesem Projekt begleitet haben.
Wir haben immerhin mehr als zwei Jahrzehnte über
eine Reform des Versorgungsausgleichs diskutiert. Ich
persönlich betreibe dieses Projekt schon seit fünf Jahren
mit großem Nachdruck. Ich bin deshalb sehr froh, dass
es heute gelingt, diesen Gesetzentwurf in zweiter und
dritter Lesung zu verabschieden. Ich glaube, dies ist ein
Ergebnis, auf das dieses Haus, wir alle zu Recht stolz
sein können.
({3})
Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Versorgungsausgleich hat im Rahmen der
Scheidung eine extrem wichtige Aufgabe: Er trägt entscheidend zur eigenständigen Alterssicherung der geschiedenen Ehepartner bei. Er soll natürlich auch helfen,
Altersarmut zu verhindern, und eine gerechte Teilhabe
an den während der Ehe erworbenen Rentenrechten ermöglichen.
Ich möchte einige Zahlen nennen, um die Bedeutung
des Versorgungsausgleichs hervorzuheben. Die Zahl der
Scheidungen lag in Deutschland im Jahr 2007 bei
180 000. Bei den Folgesachen, die mit den Scheidungsurteilen entschieden wurden, liegt der Versorgungsausgleich mit circa 125 000 Verfahren klar an der Spitze.
Auch bei den Verfahren, die vor der Scheidung durch einen gerichtlichen Vergleich geregelt wurden, nimmt der
Versorgungsausgleich mit circa 27 000 Fällen den ersten
Rang ein. Alles in allem sehen sich jährlich rund
300 000 Bürgerinnen und Bürger mit Fragen des Versorgungsausgleichs konfrontiert; sie sind unmittelbar betroffen. Deshalb halten wir das Instrument des Versorgungsausgleichs - Frau Ministerin, auch Sie haben das
gesagt - für gut, richtig und unverzichtbar.
Wir haben im Gesetzgebungsverfahren die Bemühungen unterstützt, beim Versorgungsausgleich zu den notwendigen Strukturreformen zu kommen, über die die
Fachwelt schon seit vielen Jahren nachdenkt und wozu
sie auch Vorschläge unterbreitet hat. Wir stimmen diesem Gesetzentwurf zu, weil wir seine Zielrichtung für
richtig halten.
({0})
Die wichtigste Änderung ist die Einführung des
Grundsatzes der sogenannten internen Teilung. Dieser
Grundsatz führt dazu, dass es nun möglich ist, beim Versorgungsträger zu bleiben. Viele Unübersichtlichkeiten
werden mit diesem Gesetzentwurf beseitigt. Ich glaube,
soweit wir anwaltlich tätig sind, möchten wir alle die
Barwert-Verordnung nicht unbedingt weiterhin anwenden. Dieser Aufgabe werden wir mit diesem Gesetzentwurf enthoben.
Ganz wichtig ist die Vereinbarung, die auf der Zielgeraden ermöglicht wurde: Mit der Einrichtung einer privaten Versorgungsausgleichskasse, die mit Inkrafttreten
des Gesetzes erfolgen soll, muss sich nicht zwingend die
gesetzliche Rentenversicherung befassen; kein Versorgungsträger übernimmt die damit verbundene zusätzliche Arbeit gerne. Wir haben in der Beschlussempfehlung hervorgehoben, dass die Einrichtung einer privaten
Versorgungsausgleichskasse mit der Änderung des
Sozialgesetzbuches zum 1. September dieses Jahres
möglich wird. Mit der Schaffung eines eigenen Instituts
haben wir eine sachlich und fachlich gute Lösung gefunden, die allen am Versorgungsausgleich Beteiligten
nützt.
Neben denen, die Ansprüche geltend machen und
diese durchsetzen wollen - sie erfahren jetzt schon bei
der Scheidung, was sie zu erwarten haben -, dürfen wir
nicht die Situation der Versorgungsträger vergessen. Darum haben wir uns schon während der Beratungen darüber verständigt, wie wir mit Ehen von kurzer Dauer
umgehen. Wir haben ausdrücklich nicht die kurze Dauer
genannt, sondern drei Jahre Ehezeit. Wir haben nach der
Anhörung der Sachverständigen im Konsens eine gute
Lösung gefunden: Der Versorgungsausgleich findet auf
Antrag statt - dadurch werden wir der Situation der einzelnen Betroffenen am ehesten gerecht -; ansonsten findet kein Versorgungsausgleich statt. Dadurch verhindern
wir eine unnötige Arbeitsbelastung der Versorgungsträger, wenn am Ende nur ein geringfügiger Ertrag für den
Versorgungsausgleichsberechtigten steht.
In der Tat ist es gut - Frau Ministerin, Sie haben es
begrüßt -, dass das Parlament Änderungen vornimmt
und dass es uns kurz vor Abschluss der Beratungen und
Gespräche im Kreis der Berichterstatter gelungen ist, im
Versorgungsausgleichsgesetz eine Gleichstellung mit
den Lebenspartnern - nicht durch eine generelle Regelung für Lebenspartnerschaften über dieses Gesetz hinaus - zu erreichen.
Ich danke allen, die sich noch in letzter Sekunde dafür
eingesetzt haben, dass die Koalition zugestimmt hat. Wir
hatten Änderungsanträge vorgelegt, die Bestimmung
entsprechend anzupassen. Wir waren uns im Kreis der
Berichterstatter alle sehr schnell einig, dass es keine guten Gründe gibt, diese Anpassung nicht vorzunehmen.
Deshalb glaube ich, dass nach den Beratungen alles in
allem ein guter Gesetzentwurf gelungen ist. Deshalb
stimmen wir als FDP-Fraktion aus Überzeugung dieser
Strukturreform zu.
Vielen Dank.
({1})
Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin Ute
Granold.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Die Große Koalition hat im Bereich des Familienrechts
in dieser Legislaturperiode vieles erreicht, auf das wir
stolz sein können: die Unterhaltsreform, die FGG-Reform mit dem Familienverfahrensgesetz. Die Reform
des Güterrechts steht an. Wir hatten hierzu heute Morgen
ein erweitertes Berichterstattergespräch, sodass wir auf
einem guten Weg sind. Heute beraten wir die Strukturreform im Versorgungsausgleich. Das ist in der Tat eine
nicht einfache Materie, und die Praxis wird sich freuen,
wenn sie ab September mit einem neuen Recht - sowohl
im prozessualen als auch im materiellen Recht - arbeiten
kann.
Bei einer Scheidung - die Zahl der Scheidungen und
die Fälle, die zu regeln sind, hat die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger gerade eben angeführt - werden die
wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien durch das Unterhaltsrecht, das Güterrecht, aber auch durch den Versorgungsausgleich - und das möglichst in einem Verbundsystem - geregelt. Das ist gut so.
Wir haben 1977 eine große Familienrechtsreform
durchgeführt und das Institut des Versorgungsausgleichs
eingeführt und damit - das ist insbesondere für die
Frauen sehr gut - eine eigenständige Alterssicherung im
Falle einer Scheidung auf den Weg gebracht. Nach dem
jetzigen Gesetz ist es noch so, dass alle Anwartschaften
während der Ehezeit bilanziert werden, dynamische und
statische Anwartschaften vergleichbar gemacht und umgerechnet werden - die Barwert-Verordnung wurde angesprochen - und dann ein Ausgleich herbeigeführt
wird.
In der Vergangenheit und auch heute noch gibt es
viele Ungerechtigkeiten oder angestaute Verfahren, weil
eine Möglichkeit der Berechnung nicht gegeben war.
Eine Reihe von Verfahren wurde in den schuldrechtlichen Versorgungsausgleich verwiesen. Das ist in der Tat
ein schwieriges Kapitel. Viele Verfahren stauen sich, und
viele Jahre nach der Scheidung wird dann erst der
schuldrechtliche Versorgungsausgleich wiederum auf
Antrag einer Partei durchgeführt. Dann kann es, wenn
eine Scheidung nicht einvernehmlich erfolgt ist, erneut
zu Spannungen kommen, weil nicht geklärt ist, ob damals im Zuge der güterrechtlichen Auseinandersetzung
richtig gearbeitet wurde und man nicht doch noch einen
Anspruch hat. Es ist also ganz schwierig. Deshalb sollte
man dafür sorgen, dass mit der Scheidung alles geregelt
wird, was zu regeln ist.
Wir haben in den letzten Jahren einen Ausbau der Altersversorgung herbeigeführt. Das ist der Wille der Politik gewesen. Wir haben die betriebliche Altersversorgung, aber auch die private Altersversorgung ausgebaut.
Bei uns besteht Einigkeit, dass der Grundsatz der Halbteilung beim Ausgleich der Anwartschaften während der
Ehezeit nur aufrechterhalten werden kann, wenn wir einen Wechsel in der Berechnung und im System vornehmen. Das ist uns, denke ich, mit dem jetzigen Gesetzentwurf gelungen.
Der BGH hat - die Frau Ministerin hat darauf hingewiesen - bereits 2001 angemahnt, dass das Gesetz für
die Praxis nicht mehr verständlich ist, sondern nur noch
Insider mit der Materie umgehen können. Anwälte und
Richter haben ihre Probleme, und die Menschen, für die
es eigentlich gemacht wurde, haben mehr denn je ein
Problem, das, was für ihr weiteres Leben entscheidend
ist, zu verstehen.
Es gab eine Expertenkommission, der dann ein Referentenentwurf folgte. Es hat lange Zeit gedauert, bis dieser Gesetzentwurf endlich beraten und verabschiedet
werden konnte. Der Grundsatz dieses Gesetzentwurfes
ist, eine gerechte Teilung und vor allen Dingen Anwenderfreundlichkeit zu gewährleisten.
In der Sachverständigenanhörung - es war eine sehr
gute Sachverständigenanhörung, auf hohem Niveau wurde ein breites Spektrum von Sachverständigen aus
den verschiedensten Sparten gehört. Wir haben gute Anregungen vom Bundesrat und eine Vielzahl von Anregungen aus der Fachwelt erhalten, sodass wir heute feststellen können, dass wir ein fachlich fundiertes Gesetz
auf den Weg bringen.
Es wurde eine Reihe von Neuerungen angesprochen.
Wesentlich ist die interne Teilung, das heißt, jede Anwartschaft, die in der Ehezeit erwirtschaftet wurde, wird
im jeweiligen Versorgungssystem geteilt. Jeder bekommt einen direkten Anspruch gegenüber dem jeweiligen Versorgungsträger. Das gilt übrigens auch für die
Versorgung der Bundesbeamten; für Landesbeamte liegt
die Gesetzgebungskompetenz aufgrund der Föderalismusreform bei den Ländern.
Die Vorteile: Eine gerechte Teilhabe wird garantiert,
es muss keine Verrechnung mehr stattfinden, Prognoserechnungen, die nicht ganz zuverlässig sind, werden entbehrlich. Zum Zeitpunkt der Scheidung erfolgt einfach
eine Teilung. Dann weiß jeder zum Zeitpunkt der Schei22178
dung, woran er ist und welche Anwartschaften für ihn
begründet werden. Es gibt auch die Möglichkeit der
externen Teilung, und zwar dann, wenn der ausgleichsberechtigte Ehegatte dies wünscht oder wenn kleinere
Anwartschaften auszugleichen sind und der Versorgungsträger dies beantragt. Das ist in Ordnung. Zur Ausgleichskasse komme ich gleich.
Es gibt einen Ausschluss des Versorgungsausgleichs
bei einer Ehe von kurzer Dauer. Wir haben in den Beratungen einen Zeitraum von drei Jahren festgelegt; das ist
angemessen. Nach einer Ehe, die nicht länger als drei
Jahre bestanden hat, kann auf Antrag der Versorgungsausgleich durchgeführt werden. Es ist mir ganz wichtig,
an dieser Stelle zu sagen, dass dafür kein Anwaltszwang
besteht, sodass für den Antragsteller keine Kosten entstehen; er ist nicht verpflichtet, hierfür einen Anwalt zu
beauftragen.
Das Instrumentarium Ausschluss bei Geringfügigkeit
bzw. bei grober Unbilligkeit ist nach wie vor im Gesetz
verankert. Das ist auch gut so.
Über den Wegfall des Rentnerprivilegs haben wir
lange diskutiert. Es gibt derzeit die Möglichkeit, wenn
jemand schon in Rente ist und dann das Scheidungsverfahren durchgeführt wird, dass die Kürzung erst erfolgt,
wenn auch der Ausgleichsberechtigte in Rente geht. Das
soll abgeschafft werden, weil es eine Regelung zulasten
der Versichertengemeinschaft und zulasten derer, bei denen kurz vor dem Renteneintritt über den Versorgungsausgleich entschieden wird, ist. In der Anhörung war
einhellige Meinung, dies abzuschaffen.
Nun ist es so, dass es Berufsgruppen mit besonderen
Dienstzeiten und Altersgrenzen gibt, zum Beispiel - ich
möchte es an dieser Stelle ansprechen - die Soldaten, die
für uns eine ganz wichtige Personengruppe sind. Hierüber gab es viele Gespräche mit den Verteidigungspolitikern, mit dem Bundeswehr-Verband und mit dem
Reservistenverband. Es wurden sogar Anregungen vorgetragen, wie der Gesetzentwurf formuliert werden
könnte. Wir haben es uns nicht einfach gemacht; wir haben lange darüber diskutiert. Aber es gibt keine Möglichkeit, die Berufsgruppe der Soldaten herauszustellen
und ihnen ein Privileg einzuräumen. Das wäre eine Ungleichbehandlung gegenüber all denen, die einer Berufsgruppe mit einer besonderen Altersgrenze angehören.
Wir haben letztendlich im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 Grundgesetz, Gleichbehandlung, gesagt: Wir müssen dabei bleiben. Allerdings
gibt es eine Abmilderung durch § 35 Versorgungsausgleichgesetz. Dort steht, dass eine Kürzung bis zur
Höhe des mit der besonderen Altersgrenze verbundenen
Nachteils ausgesetzt wird. Das ist eine sehr komplizierte
Materie. Dies ist eine Möglichkeit der Abmilderung.
Die Kollegin von der FDP hat die Ausgleichskasse
angesprochen. Es war uns ein sehr großes Anliegen, dass
man, wenn es eine externe Teilung gibt und die Deutsche
Rentenversicherung nicht eingeschaltet werden soll, einen Auffangversorgungsträger als Zielversorgung findet.
Hier haben wir durch den Druck aus dem Parlament erreicht, dass es eine Ausgleichskasse gibt, die zum
1. September 2009 installiert wird. Dies geschieht
gleichzeitig mit der Änderung des SGB IV, wobei noch
einige technische Fragen zu klären sind. Es wird eine
Pensionskasse in der Rechtsform eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit sein. Das war im Übrigen
auch ein Anliegen der Sozialpartner, das heißt der Arbeitgeber und der Gewerkschaften.
Die Übergangsvorschriften wurden angesprochen.
Wie auch beim FamFG haben wir darüber in der Anhörung sehr intensiv diskutiert. Uns war wichtig, dass eine
Harmonisierung zwischen FamFG und Versorgungsausgleich stattfindet. Ich denke, das haben wir mit den
Sachverständigen gut auf den Weg gebracht.
Es laufen viele Scheidungsverfahren, bei denen der
Versorgungsausgleich bereits abgetrennt oder ausgesetzt
wurde oder ruht. Es gibt aber auch Verfahren, bei denen
jetzt die Scheidung durchgeführt wird und aufgrund des
Ruhens etc. erst nach dem 1. September 2009 über den
Versorgungsausgleich entschieden wird. Wir haben gesagt: Alle diese Verfahren sollen eingebunden werden.
Wir wollen damit erreichen, dass es keine Verfahren
gibt, bei denen altes und neues Recht jahrelang parallel
angewandt werden.
Wichtig ist auch, dass mehr denn je für die Ehepartner
die Möglichkeit besteht, Vereinbarungen im Rahmen der
Scheidung zu treffen. Das heißt, es gibt die Möglichkeit,
Regelungen zum Unterhalt, zum Güterrecht, aber auch
zum Versorgungsausgleich über notarielle Vereinbarungen zu finden und damit viele individuelle Freiheiten zu
lassen. Allerdings muss geprüft werden, ob diese Vereinbarungen interessengerecht sind. Im Verfahren muss also
eine Prüfung erfolgen. Allerdings bedarf dies nicht wie
bislang einer Genehmigung des Familiengerichts, wenn
innerhalb eines Jahres nach Beurkundung die Scheidung
eingereicht wird.
Lassen Sie mich noch etwas zum Unterhaltsprivileg
sagen. Auf Antrag unterbleibt eine Rentenkürzung,
wenn der ausgleichspflichtige Rentenbezieher Unterhaltsleistungen erbringt.
Im geltenden Recht ist es so, dass die Versorgung der
ausgleichspflichtigen Person in voller Höhe gekürzt
wird, nach neuem Recht nur noch in Höhe des Unterhaltsanspruchs, der bei ungekürzter Versorgung bestehen
würde. Wir haben entschieden - das wurde bereits angesprochen -, das Unterhaltsprivileg auch auf die Lebenspartner auszudehnen. Diese Regelung war in der bisherigen Fassung des Gesetzentwurfes nicht enthalten. Auch
im derzeitigen Lebenspartnerschaftsgesetz galt das Unterhaltsprivileg nicht. Für die Union kann ich Ihnen an
dieser Stelle sagen: Jetzt ändern wir das.
Mit Blick auf Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes, der
auch Versichertenrenten und Rentenanwartschaften, die
ein Eigentumsrecht darstellen, umfasst, gibt es nach unserem Dafürhalten keinen Grund, diese Personengruppe
weiterhin vom Unterhaltsprivileg auszuschließen.
Lassen Sie mich zum Schluss dem Justizministerium
für die sehr konstruktiven Beratungen und die Zuarbeit
Dank sagen. An dieser Stelle möchte ich ausnahmsweise
eine Person herausgreifen, und zwar den Referatsleiter
Herrn Schmid, der, wie ich sehe, auch hier ist. Er ist derUte Granold
jenige, der dafür federführend verantwortlich war. Ohne
die Arbeit des Staatssekretärs schmälern zu wollen,
muss ich sagen: Herr Schmid ist der leibhaftige Versorgungsausgleich, und er hat seine Arbeit hervorragend
gemacht.
({0})
- Genau, der fleischgewordene Versorgungsausgleich.
Ich freue mich sehr, dass alle Fraktionen nach den abschließenden Beratungen im Rechtsausschuss signalisiert haben, dem Gesetzentwurf heute zustimmen zu
wollen, sodass zum 1. September 2009 ein neuer Versorgungsausgleich in Kraft treten kann. Wir haben im Interesse der Menschen ein gutes Gesetz auf den Weg gebracht.
Herzlichen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Jörn Wunderlich für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Szenen aus dem Gerichtssaal, die das Fernsehen nicht
zeigt - ich habe das auch schon im Ausschuss vorgetragen -: Beim Scheidungstermin übergibt der Richter den
noch verheirateten Ehepartnern ein dreiseitiges Rechenwerk, an dessen Ende steht, wie viele Rentenanwartschaften von dem einen Ehegatten auf den anderen übertragen werden. Dann sagt der Richter: Fragen Sie mich
nicht, wie sich diese Berechnung zusammensetzt. Das
werden Ihnen Ihre Anwälte erklären. Daraufhin werden
die Anwälte bleich. - Das ist der Normalfall. Solche
Szenen dürften bald der Geschichte angehören.
({0})
- Ja, hoffentlich.
Die bislang geltenden Regelungen zum Versorgungsausgleich - das ist schon angesprochen worden - wurden
von Wissenschaft und Praxis einheitlich als kaum beherrschbar, undurchschaubar und im Ergebnis ungerecht
empfunden. Leidtragende waren in der Regel Frauen.
Eine Rechtsmaterie, die selbst von Experten als kaum
beherrschbar bezeichnet wird, führt letztlich an die
Grenzen der Grundsätze des Rechtsstaatsprinzips, nämlich des Bestimmtheitsgebots. Somit war eine grundlegende Änderung dieser Vorschrift überfällig und geboten.
In der endgültigen Fassung des Gesetzentwurfes
wurde eines der möglichen Reformkonzepte aufgegriffen, und dieses wurde - so weit ist sich die überwiegende Mehrheit der Fachwelt einig - schlüssig und klar
formuliert und gut strukturiert umgesetzt. Es handelt
sich also um einen guten Gesetzentwurf.
({1})
Dem ursprünglichen Gesetzentwurf hätten wir nicht
zustimmen können. Es gab zu viele kritikwürdige
Punkte, die unter anderem auch von den Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung aufgegriffen wurden.
Im Laufe der sich daran anschließenden Debatten - an
dieser Stelle möchte auch ich mich bei den Berichterstattern für die sachliche Arbeit in den Gesprächsrunden bedanken - wurden nahezu alle diese Kritikpunkte ausgeräumt, sodass der Gesetzentwurf nun stimmig ist und
auch besonderen Fallkonstellationen angemessen Rechnung trägt.
Der Gesetzentwurf stellt eine erhebliche Verbesserung und Vereinfachung der Rechtslage dar, nicht nur für
Anwälte und Gerichte, sondern auch für den Rechtsunkundigen; er ist nämlich besser zu durchschauen. Ein
wesentlicher Vorteil ist, dass keine Vergleichbarmachung an sich nicht vergleichbarer Ansprüche stattfindet.
Die Barwertverordnung - auch dieses Stichwort ist
schon gefallen - gehört der Geschichte an. Bestehende
Ansprüche werden dort ausgeglichen, wo sie tatsächlich
bestehen, also innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung, innerhalb der betrieblichen Altersversorgung.
Auch wenn dies insbesondere den privaten Versorgungsträgern ein gewisses Mehr an bürokratischem Aufwand
abverlangt - später wird er ein wenig ausgeglichen -, ist
dies im Ergebnis für alle Beteiligten, insbesondere für
die rechtsunkundigen scheidungswilligen Bürgerinnen
und Bürger, nachvollziehbar und verständlich.
Soweit eine externe Teilung mit Zustimmung des Berechtigten erfolgt - auch das ist bereits angesprochen
worden -, haben wir uns selbst die Aufgabe gestellt - so
steht es auch in der Beschlussempfehlung -, bis zum Inkrafttreten am 1. September 2009 eine entsprechende
Ausgleichskasse gesetzlich zu verankern, damit auch insoweit Rechtssicherheit herrscht.
Geblieben ist die Ungleichbehandlung im Rahmen
der nachträglichen Anpassung von Anwartschaftsübertragungen. Dort werden nur die Regelsicherungssysteme
erfasst. Warum nicht auch betriebliche und private Altersversorgungen? Oder sollte die nachträgliche Anpassung vielleicht nicht in Gänze entfallen?
Unter dem Strich sind die Gründe, welche bei der Abstimmung zu einer Enthaltung geführt hätten, letztlich
doch noch, vorgestern Abend, entfallen, nachdem die
Opposition - das ist im Zusammenhang mit den entsprechenden Anträgen angesprochen worden - noch einmal
darauf gedrängt hatte, dass die eingetragenen Lebenspartnerschaften genauso behandelt werden wie Eheschließungen. Vorgestern hat sich die Große Koalition
auf Art. 14 Grundgesetz besonnen und dem Ansinnen
der Opposition Folge geleistet. So kann das Gesetz doch
noch mit den Stimmen des ganzen Hauses verabschiedet
werden.
({2})
Es bleibt die Frage der Renten der geschiedenen
Frauen aus der DDR; aber das ist an anderer Stelle zu
klären.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Nun hat das Wort die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Das Gesetz zur Strukturreform des Versorgungsausgleichs ist ein wichtiges familienrechtliches Reformprojekt. Wir haben damit schon unter Rot-Grün begonnen,
und wäre uns nicht der Kanzler abhandengekommen,
({0})
hätten wir es unter Rot-Grün wahrscheinlich auch beendet. Nun kommt dieses Projekt zum Abschluss, und das
ist gut so.
Der Versorgungsausgleich bei einer Scheidung ist vor
allem für die Alterssicherung von Frauen von erheblicher Bedeutung. So profitierten 2005 mehr als 2 Millionen Versicherte davon. Ich begrüße sehr, dass wir beim
Familienrecht erneut einen fraktionsübergreifenden
Konsens gefunden haben. Die Reform des viel zu komplizierten Versorgungsausgleichsrechts war ein Mammutprojekt. Ein neues System war aber auch deswegen
erforderlich, weil die Bedeutung betrieblicher und privater Altersvorsorge zugenommen hat.
Beim Versorgungsausgleich nach Scheidung der Ehe
bzw. Aufhebung der Lebenspartnerschaft werden die Altersversorgung bzw. die entsprechenden Anwartschaften
aufgeteilt. Im bisherigen System ist nur bei der gesetzlichen Rentenversicherung ein Ausgleich vorgesehen. Das
ist kompliziert und führte zu Ungerechtigkeiten, gerade
im Hinblick auf die Frauen; denn meist sind ja die
Frauen ausgleichsberechtigt. Die hohe Zahl der eingereichten Petitionen hat deutlich gemacht, dass die Idee
der gleichen Teilhabe an der Versorgung nicht durchgehend umgesetzt wurde und viele Menschen unter den
Unzulänglichkeiten des bisherigen Rechts zu leiden hatten. Das werden wir jetzt ändern.
({1})
- Danke schön, Herr Kollege.
({2})
- Der könnte auch klatschen. - So ließ sich das Problem
der Vergleichbarmachung der verschiedenen Ansprüche
nicht befriedigend lösen. Frauen hatten häufig keinen
gerechten Anteil, insbesondere nicht an den Betriebsrenten des geschiedenen Ehegatten.
Das Thema hat darüber hinaus eine Ost-West-Relevanz. Der Versorgungsausgleich ist gerade für die Alterssicherung geschiedener Frauen in Westdeutschland
bedeutsam. Aufgrund des Fortbestehens des Alleinernährermodells stammten 2005 mehr als ein Drittel ihrer Rentenansprüche, immerhin 260 Euro im Monat, aus
dem Versorgungsausgleich. Bei den Frauen in Ostdeutschland - die überwiegend durchgängig erwerbstätig waren - ist es nur etwas mehr als halb so viel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alte System war
selbst für Spezialistinnen und Spezialisten nicht mehr
durchschaubar. Herr Gehb hat es, wie er mir vorhin gesagt hat, auch nicht verstanden.
({3})
Das neue System ist gerechter, und der Gesetzentwurf
ist verständlicher und transparenter. Statt eines Einmalausgleichs über die gesetzliche Rentenversicherung wird
die Teilung eines jeden einzelnen Anrechts, innerhalb
des jeweiligen Systems, eingeführt. So werden auch
Leistungen bzw. Ansprüche aus Betriebsrenten hälftig
geteilt, wofür die ausgleichsberechtigte Person ein eigenes Konto beim jeweiligen Träger erhält. Jede Einzelversorgung wird also zwischen den Ehegatten entsprechend
der Ehezeit geteilt und innerhalb des gleichen Systems
saldiert. Dadurch entfallen Transferverluste und Prognosefehler. Durch diese Regelung schaffen wir echte Teilhabegerechtigkeit.
Nach der Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss wurden weitere Verbesserungen in den Gesetzentwurf übernommen, die auch unsere Anliegen waren.
Ich nenne nur die Antragslösung bei kurzer Ehedauer,
also bei weniger als drei Jahren, und die Erweiterung des
Ausgleichs in Bagatellfällen und bei nicht abgeschlossenen Altfällen.
Im Bericht des Rechtsausschusses ist im Übrigen auf
Wunsch der Grünen eine Klarstellung vorgenommen
worden. Darin kommt die Absicht des Gesetzgebers zum
Ausdruck, die Kosten für die Betroffenen in bestimmten
Fällen zu begrenzen.
Abschließend möchte ich eine Änderung besonders
hervorheben. Ich bin sehr froh darüber, dass wir uns
doch noch darauf verständigen konnten, die Lebenspartnerschaften nahezu vollständig gleichzustellen und die
Ausnahmen von den Härtefallregelungen zu streichen.
Die CDU/CSU war ja bis kurz vor Schluss der Meinung,
ein bisschen Diskriminierung dürfe bei eingetragenen
Partnerschaften schon sein.
({4})
Ich freue mich, dass sich hier die Kraft unserer Argumente durchgesetzt hat. Ich danke auch Ihnen, Frau Granold, für Ihre Intervention. Es ist Ihnen vielleicht doch
ein bisschen peinlich; denn in Ihrer Pressemitteilung
stand davon gar nichts. Ich glaube, die Kraft der Argumente hat sich durchgesetzt, und ich denke auch, dass
die von Ihnen ursprünglich bevorzugte Regelung vor
dem Bundesverfassungsgericht möglicherweise keinen
Bestand gehabt hätte.
({5})
Es gibt wirklich keine rechtlichen und sachlichen
Gründe für einen solchen Anachronismus. Darum danke
ich Ihnen für die Beratungen. Wir sind froh, dass wir
dieses Gesetz jetzt so einvernehmlich beschließen können.
Recht herzlichen Dank.
({6})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Christine Lambrecht für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Schewe-Gerigk, unser
Kanzler ist uns nicht aus Furcht vor dem Versorgungsausgleich abhandengekommen. Dafür hätten wir ihn unter Umständen sogar als Sachverständigen benennen
können.
({0})
Meine Damen und Herren, das gesamte Haus wird
heute der Strukturreform des Versorgungsausgleichs zustimmen: die Koalitionsfraktionen, die FDP, die Grünen
und die Linke. Bei so viel Harmonie könnte man fast fragen, ob denn schon wieder Weihnachten ist. Ich glaube
aber, das hat damit etwas zu tun, dass wir in diesem
Fachbereich - wir haben in den letzten Wochen und Monaten ja nicht nur dieses komplexe Thema bearbeitet,
sondern auch die FGG-Reform und das Unterhaltsrecht,
und wir widmen uns jetzt noch dem Zugewinnausgleich sehr sachorientiert und ohne Scheuklappen arbeiten und
uns - die Ministerin hat das ja schon aufgeführt - eben
auch von Sachargumenten von außen leiten lassen. Das
merkt man ganz deutlich an diesem Gesetzentwurf.
({1})
Wir haben uns Zeit gelassen und uns die Ausführungen in den Anhörungen nicht nur angehört, sondern die
einzelnen Punkte auch angenommen und umgesetzt.
Deswegen ist dieser runde Gesetzentwurf zustande gekommen.
Warum mussten wir das aber überhaupt tun? Der Versorgungsausgleich ist immerhin ein bisschen älter als
30 Jahre. Er hat sich bewährt und ist auch keineswegs
obsolet geworden. Das ist vereinzelt schon ausgeführt
worden, weswegen ich das alles jetzt auch nicht wiederholen will.
Es hat sich in dieser Zeit sehr viel verändert. Mittlerweile haben wir eben nicht mehr nur die gesetzliche
Rentenversicherung, wie das vor 30 Jahren vielleicht
noch die Regel war, sondern es haben sich viele Altersversorgungssysteme daneben entwickelt. Die betriebliche Altersversorgung und die private Altersversorgung
wurden gestärkt. In all diesen Systemen musste es eben
auch einen Ausgleich geben.
Dieser erfolgte bisher im Rahmen der gesetzlichen
Rentenversicherung durch sehr komplizierte Umrechnungsmethoden. Deswegen haben die Rechtsprechung
und diejenigen, die dieses Recht anwenden müssen, gesagt, dass sich dort etwas verändern muss und dass wir
auf die Veränderungen, die sich in der Altersversorgung
ergeben haben, Antworten geben müssen.
Mit dieser Strukturreform geben wir die Antwort.
Rein materiell wird sich nichts ändern. Man muss auch
ganz klar sagen, dass wir dort auch gar nichts ändern
wollen. Es muss diesen Ausgleich, wie er im Moment
besteht, geben. Es ist richtig, dass es diesen Ausgleich
gibt. Wie gesagt: Ich bin froh, dass wir uns in einigen
Punkten dann doch bewegt haben.
Das gilt insbesondere dafür - darin waren wir alle uns
schon bei der ersten Lesung einig -, dass wir die starre
Regelung, nach der bei Ehen von kurzer Dauer ein Versorgungsausgleich ausgeschlossen ist, nicht wollen, sodass wir dort mehr auf den Einzelfall eingehen können.
Wir haben uns dabei jetzt auch an dem orientiert, was die
Rechtsprechung als Ehe von kurzer Dauer ansieht, nämlich eine Ehe von maximal drei Jahren. Von daher ist das
alles auch in der Systematik geblieben. Das ist richtig
und gut.
Besonders richtig und gut ist, dass es ein Antragsrecht
gibt, weil es natürlich auch bei Ehen von kurzer Dauer
teilweise die Situation gibt, dass dennoch entsprechende
Versorgungsansprüche erworben wurden und es sich
rentiert, diese aufzuteilen. Deswegen gibt es nicht diese
starre Regelung bzw. diesen starren Ausschluss, sondern
ein Antragsrecht.
Meine Damen und Herren, es ist alles gesagt worden,
nur nicht von mir. Deshalb möchte ich das jetzt nicht
überstrapazieren. Vielmehr möchte ich mich bei allen für
das angenehme Klima bedanken, bei allen Berichterstattern, bei den Damen und Herren des BMJ und bei der
Justizministerin. Ich wünsche mir, dass wir beim nächsten großen Thema, beim Zugewinnausgleich, auch entsprechend zusammenarbeiten werden.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Strukturreform des Versorgungsausgleichs. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11903, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/10144 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen
aller Fraktionen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ist
jemand dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Agrardieselbesteuerung senken - Wettbewerbsnachteile der deutschen Landwirtschaft
abbauen
- Drucksache 16/11670 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP eine Redezeit von sechs Minuten erhalten soll. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Edmund Geisen für die FDP-Fraktion das
Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Damen und Herren! Verehrte Gäste! Landwirtschaft dient allen. - Dieser Slogan gilt auch heute noch.
Bei der jetzigen Regierungskoalition - auch in dieser
Zeit der Krise - ist die Landwirtschaft jedoch das letzte
Stiefkind der Nation.
({0})
Wir von der FDP-Fraktion fordern seit Jahren eine
Kostenentlastung für die Landwirtschaft in den Bereichen, in denen die Politik verantwortlich ist. Die mitregierende CDU/CSU redet nur, zeigt sich aber handlungsunfähig.
({1})
Sie kann mit der SPD keine vernünftige Agrarpolitik
machen.
({2})
Die FDP-Fraktion war die einzige Fraktion, die die Entlastung bei Agrardiesel und Ökosteuer seit Anfang der
Legislaturperiode nicht nur gefordert, sondern auch immer wieder in die parlamentarische Debatte eingebracht
hat. Wir haben Wort gehalten.
Den Ankündigungen der Union hingegen ist noch
nicht ein Antrag gefolgt. Im Gegenteil, die von uns eingebrachten Anträge sind bislang alle nicht nur von der
SPD, sondern von der gesamten Koalition abgelehnt
worden.
Ich rufe kurz in Erinnerung: Anfang 2007 übernahm
Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft und hätte mit
einem Vorstoß zur Harmonisierung bei der Agrardieselbesteuerung punkten können. Deshalb hat die FDP-Bundestagsfraktion ihren ersten Antrag zu diesem Thema
gestellt. Dieser wurde von der CDU/CSU-Fraktion und
von allen anderen Fraktionen in Bausch und Bogen abgelehnt.
Trotzdem folgten von der Union in kurzen Zeitabständen immer wieder Forderungen nach einer Harmonisierung, zunächst vom damaligen bayerischen Landwirtschaftsminister Josef Miller, dann vom Europaabgeordneten Albert Deß. Es ist natürlich nichts passiert. Ein Jahr später, kurz vor der bayerischen Landtagswahl, forderte Herr Deß erneut eine steuerliche Entlastung. Viele Agrarpolitiker von CDU und CSU wie Peter
Bleser und Herr Miller
({3})
forderten die Absenkung der Agrardieselbesteuerung
und eine Harmonisierung innerhalb Europas.
Herr Brunner, der bayerische Agrarminister, wollte
über den Bundesrat den Selbstbehalt bei der Agrardieselbesteuerung kippen. Passiert ist allerdings nichts. Stattdessen wurde fünf Tage später ein Antrag der FDP zur
Streichung des Selbstbehalts im Agrarausschuss mit den
Stimmen der CDU/CSU und der SPD abgelehnt.
Nichtsdestotrotz hat CSU-Landesgruppenchef Peter
Ramsauer das Thema vor zwei Wochen noch einmal medienwirksam in der Berliner Zeitung aufgegriffen, nachdem klar war, dass die FDP erneut einen Antrag in den
Bundestag einbringen wird. Passiert ist allerdings nichts.
Nun schwenkt sogar unsere Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner auf die Unionsforderung nach einer Senkung der Agrardieselsteuer ein, und heute hat Minister
Brunner von der CSU in München ebenfalls die Senkung
im Rahmen des Konjunkturpakets II gefordert.
Passiert jetzt endlich etwas? Ich frage Sie: Was soll
das? Seit zwei Jahren erleben wir immer nur leere Worthülsen. Wenn sich die Union und Ministerin Aigner geDr. Edmund Peter Geisen
genüber ihren SPD-Kollegen nicht durchsetzen können,
dann sollten sie bitte schön auch nicht so tun als ob. Wo
bleibt da die Glaubwürdigkeit?
({4})
Übrigens wird, Frau Wolff und meine Damen und
Herren von der SPD, bei dem gesamten Thema wieder
einmal der Stellenwert deutlich, den die Land- und
Forstwirtschaft in der Großen Koalition genießt.
({5})
Während die SPD bei der letzten Novelle des Mineralölsteuergesetzes durchsetzen konnte, dass der Dieseleinsatz in Hafenbetrieben aus Wettbewerbsgründen von der
Steuer befreit wird, verweigert sie den Landwirten beim
Agrardiesel jede noch so kleine Kostenerleichterung,
und sei es nur die Aufhebung des Selbstbehalts von
350 Euro. Was ist das für eine Politik?
Die Landwirte sind von der Großen Koalition im Regen stehen gelassen worden.
({6})
Das Konjunkturpaket II enthält so gut wie nichts für die
Agrarbereiche. Die FDP will statt staatlicher Stützungsprogramme die Rahmenbedingungen für die heimische
Landwirtschaft verbessern und so ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten und stärken. Dazu ist eine Kostenentlastung notwendig.
({7})
Die deutschen landwirtschaftlichen Betriebe zahlen
nach wie vor die mit Abstand höchsten Agrardieselsteuern in der EU. Während sie durchschnittlich 40 Cent
Steuern pro Liter zahlen müssen, liegt der Steueranteil
bei unseren Nachbarn in Dänemark bei 3,2 Cent und in
Frankreich bei 6,6 Cent pro Liter. Hinzu kommt in
Deutschland noch die Ökosteuer, die den Treibstoff um
weitere 200 Millionen Euro pro Jahr verteuert. Dieser
extreme Steuernachteil der deutschen Landwirte beim
Agrardiesel und bei der Ökosteuer ist Gift für die Wettbewerbsfähigkeit dieser Branche.
Ist Ihnen, meine Damen und Herren von der Großen
Koalition, eigentlich klar, dass einem durchschnittlichen
bäuerlichen Familienbetrieb in Deutschland durch die
dreijährige Verzögerungstaktik beim Agrardiesel ein
Schaden von circa 20 000 Euro entstanden ist? Sie haben
eindeutig eine im wahrsten Sinne lebensnotwendige
Wirtschaftsbranche vernachlässigt.
({8})
Wir von der FDP fordern dagegen: runter mit der Belastung durch die Ökosteuer, weg mit dem unsozialen
Selbstbehalt und hin zur EU-weiten Harmonisierung der
Steuern auf Agrardiesel!
Ich hoffe, wir finden im Interesse der Landwirtschaft
Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Norbert Schindler für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Gäste auf den Tribünen! Verehrte Damen und Herren im Plenum! Eigentlich ist Ihr
Antrag nur die halbe Miete, lieber Herr Dr. Geisen.
Wenn ihr von der FDP einen Antrag stellt, dann solltet
ihr das richtig und gescheit machen.
({0})
Was soll eine Teillösung wie die in Ihrem Antrag vorgeschlagenen Maßnahmen der Dieselölverbilligung zur
Wettbewerbsangleichung auf europäischer Ebene? Ich
könnte zynisch feststellen, dass ihr aus der Sicht der
deutschen Landwirtschaft in eurem Antrag bescheiden
seid. Wenn man den Selbstbehalt von 350 Euro streicht,
wie es in eurem Antrag gefordert wird, stellt sich die
Frage, was den Betrieben bleibt, die bei einer Größe von
150 bis 160 Hektar im Durchschnitt 16 000 Liter Gasöl
verbrauchen. Bleiben diese Betriebe außen vor?
Wir haben in diesen Tagen keine Regelung hinbekommen. Ich rede jetzt für die Union. Zwei Kollegen
von der SPD werden sich noch zu diesem Thema äußern.
Otto Bernhardt, Peter Bleser und andere haben versucht,
im Rahmen des Konjunkturpakets II seitens der Union
noch eine entsprechende Regelung aufzunehmen. Das ist
eine klare Feststellung.
({1})
Mir tut es leid, dass wir dies innerhalb der Koalition
nicht zusammen mit der SPD geschafft haben. Die
Gründe dafür werden mit Sicherheit nachher dargelegt.
Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Wahlaussage der Union zum Agrarbereich - diese wurde von Peter Bleser entscheidend mitformuliert -, wonach die
Streichung dieser Steuer im Hinblick auf den europäischen Wettbewerb in der kommenden Legislaturperiode
vorgesehen ist. Wenn es der liebe Herrgott so will und
wir dann mit der FDP koalieren - das wünschen sich
manche - oder wenn es wieder zu einer Großen Koalition kommt - in diesem Staat ist alles möglich ({2})
- ich vergesse nicht die Partner in der jetzigen Verantwortung -, dann muss es ein erklärtes Ziel sein, diese
Wettbewerbsverzerrung innerhalb des europäischen
Wirtschaftsraums zu beseitigen, selbst wenn sich die
Balken biegen sollten.
({3})
Herr Dr. Geisen, damals ist unter Frau Künast und
Herrn Eichel mit der Ökosteuer eine weitere Belastung
hinzugekommen. Das haben wir massiv bekämpft. Aber
Sie sagen, diese Koalition habe für die Landwirtschaft
nichts getan.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollege Dr. Geisen?
Ja, gern.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Selbst wenn Sie mit uns nicht koalieren sollten, interessiert mich, ob Sie dann einen ähnlichen Antrag einbringen und im Rahmen einer anderen Koalition die
Harmonisierung der Agrardieselbesteuerung vornehmen
werden.
Ich biete Ihnen eine Wette an. Sie spenden mir einen
Mosel-Riesling, wenn wir es hinbekommen. Ich besorge
Ihnen einen Pfälzer Riesling, wenn wir es nicht hinbekommen, Herr Dr. Geisen. Einverstanden? - Ich habe
übrigens vor vier Jahren schon eine Wette mit Frau Künast abgeschlossen. Ich sagte damals, dass sie in drei Jahren keine Ministerin mehr sei. Ich habe meine Wette gewonnen. Sie hat sie aber noch nicht eingelöst. Ich
verspreche aber, dass ich meine Wette einlösen werde.
Ich weiß, dass Sie das auch tun werden. - Sie dürfen sich
wieder setzen, Herr Kollege.
Zurück zu dem Vorwurf, wir hätten in der Großen Koalition nichts getan. Wenn man sich die Stabilisierung
der Berufsgenossenschaftsbeiträge anschaut und sich vor
Augen führt, dass wir im Konjunkturpaket II die Verbilligung der Krankenversicherungsbeiträge berücksichtigen, muss man diesen Vorwurf mit allem Ernst zurückweisen, Herr Dr. Geisen. Ich verweise zudem darauf,
dass es ein großer Kampf war - und das war kein großer
Streitpunkt mit der SPD in der Koalition -, die pauschale
Umsatzsteuer in Höhe von 10,7 Prozent beizubehalten
und wirksam werden zu lassen.
Zur Erbschaftsteuerreform. Natürlich kann man fragen, warum es überhaupt eine gibt. Schließlich wollten
wir, jedenfalls viele in der Union, diese Steuer am liebsten abschaffen. Aber Sie kennen die Zwänge einer
Koalition. Ich kann mir lebhaft die Neiddebatten vorstellen, die vor allem von der Linken, die für diesen Staat
noch nichts gemacht haben, außer intelligente oder weniger intelligente Zwischenrufe hier im Parlament zu
machen, geführt worden wären. Als es aber darum ging,
Verantwortung zu tragen, ist der Oskar fortgerannt, genauso wie der Gregor in Berlin. Das zeigt die staatpolitische Verantwortung der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag. Wenn es an das Arbeiten und um das
konkrete Umsetzen geht, ist mit denen absolut nicht zu
rechnen.
Herr Dr. Geisen, die Leistungen, die diese Große Koalition im Hinblick auf das Image und das erfolgreiche
Wirken unserer Betriebe vollbracht hat - der Getreidepreis spiegelt das nicht richtig wider; die Grundstimmung ist sicherlich von Zweifeln geprägt -, sind unstrittig. - Herr Goldmann, ich komme noch auf Sie zu
sprechen. Sie können ruhig eine Zwischenfrage stellen.
({0})
Herr Dr. Geisen, wenn wir Ihrem Antrag folgten,
dann würden wir nicht nur die 125 Millionen Euro unten
im Sockel streichen, sondern auch die 170 Millionen
Euro für die Betriebe, die in Zukunft im Rahmen des
Konjunkturprogramms investieren. Deswegen ist Ihr
Antrag im Hinblick auf das Konjunkturprogramm absolut fehlgeleitet. Natürlich sollen die unteren Sockel beseitigt werden. Aber die Betriebe, die investieren - das sind
sowohl Familienbetriebe als auch größere Betriebe -, sollen ein deutliches Entlastungssignal bekommen; denn
das Geld, das hier investiert wird, kommt direkt der
Wirtschaft zugute. Ich persönlich würde Ihrem Antrag
gern zustimmen. Aber es geht hier noch nicht einmal um
die Hälfte, sondern nur um ein Viertel des Vermögens.
Abschließend sage ich zu den Kollegen der SPDFraktion: Mit uns könnte man reden. Es gibt viel Streit
über das Umweltgesetzbuch, aber eigentlich sind wir
nahe beieinander. Trotzdem hatten wir starke Bedenken,
gerade was Vorkaufsrechte und Grenzabstände betrifft.
({1})
- Frau Wolff, regen Sie sich doch nicht so auf; auch ich
rege mich nicht so gerne auf, wenn Sie reden.
({2})
- Dann müssen Sie eine Zwischenfrage stellen. Wenn
ich rede, kann ich Ihnen schlecht zuhören. - Die Umweltgesetzgebung auf Bundesebene hat den Charme,
dass wir in Zukunft nicht unterschiedliche Länderregelungen haben. Wenn sich die SPD etwas bewegen würde
und wir uns etwas beim Dieselöl bewegen würden, dann
könnten wir eine Kompromisslösung erreichen.
({3})
- Lieber Herr Goldmann, Sie lachen so schön. Wie kommen Sie dazu, das Karlsruher Urteil so zu loben? Ich
kann Sie zitieren. Sie wollen jetzt die freie Marktwirtschaft. ({4})
- Ich will jetzt nicht eine halbe Seite vorlesen. - Sie haben das Karlsruher Urteil begrüßt, obwohl die Aktivitäten der CMA, sowohl was den Export als auch was die
Werbung für die deutsche Landwirtschaft in der Bundesrepublik betroffen hat, gut waren.
({5})
Ich kann den Karlsruher Urteilsspruch nicht verstehen.
Die Karlsruher Richter entlassen uns mit diesem Urteil
in den freien Markt. Das Urteil bedeutet nichts anderes,
als dass denjenigen die Unterstützung genommen wird,
die erfolgreich waren. Das wird Auswirkungen auf den
Fremdenverkehr, auf den Rundfunk und auf die Weinwerbung haben. Deshalb halte ich es für zu kurz gegriffen, wenn die FDP jubelt und glaubt, dass jetzt der
Markt alles regelt.
({6})
- Ich will diese halbe Seite jetzt wirklich nicht vorlesen.
Du weißt doch, was du geredet hast. Hier steht, dass von
Herrn Goldmann begrüßt worden ist, dass der Karlsruher
Urteilsspruch in die richtige Richtung geht.
Jetzt müssen wir die Gesamtverantwortung den
Egoisten überlassen. Das kann doch nicht der richtige
Ansatz sein. Jetzt stellt sich die Frage, wie wir eine gute
Idee, von der sowohl der in- als auch der ausländische
Markt profitiert hat, auf Dauer aufrechterhalten. Deswegen sollten wir in den nächsten Tagen und Wochen unsere
Kraft darauf verwenden - das sage ich zum Schluss -,
dieses neue Problem zum Nutzen aller in der Agrarwirtschaft Tätigen zu lösen.
Herr Kollege, Sie haben noch eine Minute Redezeit.
({0})
Ich habe eigentlich alles dazu gesagt.
Sie müssen die Redezeit nicht ausschöpfen. - Herr
Goldmann hat eine Zwischenfrage, die der Redner, wie
ich sehe, zulässt. Herr Kollege Goldmann, bitte sehr.
Herr Kollege Schindler, machen wir es einmal ganz
einfach. Gestern war Ausschusssitzung. Sie werden sich
erinnern, dass es einen Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz gibt. Sie gehen
manchmal dorthin. In diesem Ausschuss ist gestern ein
relativ umfangreicher Bericht vom Staatssekretär, der
jetzt hier anwesend ist und der gestern von Fachleuten
begleitet war, über die Auswirkung des Urteils von
Karlsruhe auf den Absatzfonds und die angegliederten
Gesellschaften gegeben worden. Sagen Sie mir doch einmal den Grund, warum Sie gestern nicht da waren.
({0})
Herr Goldmann, ich war bei der Debatte dabei, aber
Sie wissen, dass ich auch Mitglied des Finanzausschusses bin. So weit ist die Gentechnik noch nicht, auch
wenn die FDP das gerne hätte, dass ich mich zweiteilen
und in beide Ausschüsse gleichzeitig gehen könnte. Das
geht beim besten Willen nicht.
({0})
Ich habe aber Ihre Äußerung gefunden, die in AGRAEUROPE zitiert wird: Für die FDP-Bundestagsfraktion
erklärten deren agrarpolitische Sprecher Goldmann und
Dr. Edmund Geisen, die Bundesverfassungsrichter hätten die ungenügende demokratische Legitimation und
die Zwangsabgabe jetzt völlig zu Recht zum Anlass genommen, das Absatzfondsgesetz in weiten Teilen als
verfassungswidrig und nichtig zu erklären. - Sie begrüßen das, ich bedaure es.
({1})
- Haben Sie nicht zugehört? Muss ich das jetzt noch
kommentieren? - Wir sollten uns die Frage stellen, ob
wir den Mut haben, eine gute Idee beizubehalten, die erfolgreich war. Bisher wurden die Egoisten nicht berücksichtigt.
({2})
- Wenn Sie das nicht wollen, dann bringen Sie einen Antrag in den Bundestag ein und sagen Sie uns, wie wir den
Mangel schnell beheben. Uns brechen jetzt nämlich
Strukturen weg, die absolut gut gearbeitet haben.
Danke schön.
({3})
Nun hat das Wort die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Kommen wir doch zurück zum eigentlichen Thema dieser Debatte, zum Agrardiesel. CMA ist
ein anderes Thema. Ich sollte auch darauf verweisen,
dass es da durchaus berechtigte Kritik gab und noch gibt.
Richtig ist, dass es bei der Agrardieselbesteuerung
zwischen den EU-Mitgliedstaaten trotz gemeinschaftlicher Agrarpolitik wirklich große Unterschiede gibt; das
ist klar. Richtig ist auch, dass es dabei um viel Geld geht.
Der Raiffeisenverband hat ausgerechnet, dass eine
durchschnittliche deutsche Agrargenossenschaft mit
1 400 Hektar bewirtschafteter Fläche einen Kostennachteil von 55 600 Euro pro Jahr gegenüber einem französischen Betrieb von derselben Größe hätte, der quasi keine
Dieselsteuer zahlt.
Aber Diesel ist eben nicht alles, was ein Bauer
braucht. Pflanzenschutzmittelsteuer, Düngemittelsteuer
und Mehrwertsteuer belasten Landwirtschaftsbetriebe in
anderen Mitgliedstaaten zusätzlich. Nur wenn alle anderen Wettbewerbsbedingungen in der EU gleich wären,
wäre die Agrardieselbesteuerung ein klarer Wettbewerbsnachteil für die einheimischen Betriebe. Wenn wir
ehrlich sind, müssen wir feststellen: So simpel ist es
eben nicht, zumal wir uns in einer Übergangsphase befinden, in der die Harmonisierung im Agrarsektor Schritt
für Schritt vollzogen wird. Deshalb ist aus Sicht der Linken die Debatte über die Ungerechtigkeit innerhalb des
deutschen Agrardieselbesteuerungssystems viel wichtiger.
Unser System diskriminiert zwei verschiedene Kategorien von Betrieben - es ist schon angeklungen -: Erstens: Betriebe, die größere Flächen bewirtschaften; denn
sie bekommen ab der Kappungsgrenze 10 000 Liter Diesel keine Steuerrückerstattung mehr. Zweitens. Bis zu einem Selbstbehalt von 350 Euro muss ebenfalls die volle
Dieselsteuer bezahlt werden. Das diskriminiert wiederum Klein- und Nebenerwerbsbetriebe, die oft gleich
mehrfach durch das Netz der Agrarförderung fallen. Wer
eine flächendeckende Landbewirtschaftung möchte,
muss auch diese Betriebe fördern.
Daher ist unsere Forderung: erstens mehr Gerechtigkeit im System und zweitens eine Entlastung der Betriebe von Energiekosten durch eine bessere Förderung
des Umstiegs auf alternative Energieversorgungsquellen.
({0})
Eine einfache Steuerrückzahlung in voller Höhe erscheint auf den ersten Blick attraktiv. Es ist aber eine
rückwärtsgewandte Lösung für das real existierende Problem. Aus unserer Sicht ist ein konsequentes Umsteuern
notwendig. Für eine nachhaltige Landwirtschaft in
Deutschland und Europa ist es sinnvoll, Agrarbetriebe
dabei zu unterstützen, die Landmaschinenflotte umzustellen: auf dezentral erzeugte Agrotreibstoffe wie Biodiesel, reines Pflanzenöl oder demnächst sogar Biogas.
Das ist kein ganz einfacher und auch kein kurzer Weg;
aber er führt in die Zukunft. Dazu müssen die Rahmenbedingungen natürlich so gestaltet sein, dass die Kraftstoffkosten der Betriebe real sinken und ihre technischen
Umstellungsrisiken minimiert werden.
Das Kuratorium für Technik und Bauwesen in der
Landwirtschaft hat bereits vor Jahren ausgerechnet, dass
das erstens technisch geht und dass zweitens circa
2 Millionen Hektar landwirtschaftliche Fläche ausreichen, um eine vollständige Eigenenergieversorgung der
Landwirtschaft zu sichern. Es ist also machbar. Es fehlen
offensichtlich nur die Anreize. Pflanzenöl und Biodiesel
können bereits jetzt in Landmaschinen verwendet werden, und sie sind für die Landwirtschaft bereits steuerbefreit.
Trotzdem ist für die Agrarbetriebe unter dem berühmten Strich die Nutzung des fossilen Diesels unter den jetzigen Besteuerungsbedingungen immer noch günstiger.
Die von der FDP vorgeschlagene umfassende Steuersenkung würde die strukturelle Abhängigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe von fossilem Diesel noch zementieren. Und das schlägt ausgerechnet die FDP vor, die
sich doch sonst immer für Biokraftstoffe einsetzt! Damit
würde man aus unserer Sicht sogar eine wichtige Chance
für eine sinnvolle Nutzung von Agrotreibstoffen verpassen. Die Linke streitet deswegen weiter für politische
Rahmenbedingungen, die die Agrarbetriebe bei der Bewältigung der Herausforderungen der Zukunft unterstützen und sie nicht davon abhalten.
Vielen Dank.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid ArndtBrauer für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Schon der Titel des FDP-Antrags „Agrardieselbesteuerung senken - Wettbewerbsnachteile der deutschen Landwirtschaft abbauen“ enthält die Unterstellung, dass es Wettbewerbsnachteile gibt. Der Redner der
FDP, Herr Dr. Geisen, hat die zweite Unterstellung
gleich hinterhergeschoben: Die SPD-Fraktion behandele die Landwirtschaft wie ein Stiefkind der Nation.
({0})
Ich möchte beide Unterstellungen aufs Schärfste zurückweisen.
({1})
Ich persönlich komme aus einem dörflichen Bereich
des Münsterlandes. Wir haben dort keine kolchosenartigen Betriebe wie im Osten,
({2})
sondern eher mittelgroße Betriebe, die weder vom
Selbstbehalt noch von der Kappungsgrenze betroffen
sind. Meine Großeltern kommen aus dem landwirtschaftlichen Bereich; insofern habe ich keine Vorbehalte
gegenüber der Landwirtschaft.
({3})
- Nein, ich habe keine Pferdekoppel.
({4})
Wir führen allerdings in der Landwirtschaft bei mir zu
Hause große Diskussionen über die Haushaltsberatungen
und die Wirtschaftswege. Einerseits sagen mir die Landwirte immer, die Agrardieselbesteuerung sei ein Problem; man benutze die Landmaschinen eigentlich nur
auf dem Acker, deshalb brauche man eine Sonderregelung. Bei den Diskussionen über die Haushaltsberatungen erlebe ich aber immer wieder, dass die Landwirte
vor Ort sagen, der Zustand der Wirtschaftswege sei ein
großes Problem für die Landwirtschaft; man brauche
diese Wirtschaftswege. Dazu sage ich immer, dass sich
die Landwirte schon festlegen müssen: Entweder sie fahren auf den Äckern oder sie benutzen die Wirtschaftswege.
({5})
Solange die Landwirte auf den Wirtschaftswegen fahren,
brauchen sie keine Sonderregelung, und wenn sie nur
auf den Äckern fahren, brauchen sie keine Wirtschaftswege.
({6})
Grundsätzlich möchte ich Ihnen zur Kenntnis geben,
dass die Landwirtschaft in meinem Wahlkreis robust ist;
ihr geht es gut. Die Landwirte meinen, sie seien von der
Wirtschaftskrise nicht betroffen. Das macht Sinn; denn
die Lebensmittelproduzenten erzielen weiterhin gute
Absätze. Deshalb finden die Landwirte keine ausdrückliche Erwähnung im Konjunkturpaket II. Die Landwirte
werden wie alle anderen Bürger entlastet; aber der
Agrarbereich bedarf keiner besonderen Entlastung im
Konjunkturpaket. Deswegen war es auch überhaupt
nicht einsichtig, Regelungen zum Agrardiesel in irgendeiner Form in das Konjunkturpaket aufzunehmen.
Ich weise das Ansinnen des Kollegen Schindler aufs
Schärfste zurück, im Zusammenhang mit dem Umweltgesetzbuch über den Agrardiesel zu verhandeln.
({7})
Wenn wir uns auf eine solche Basartaktik einlassen,
dann verfehlen wir unser Ziel, eine vernünftige und zukunftsweisende Politik zu machen.
({8})
Ich möchte auf den Antrag der FDP zurückkommen.
Er gliedert sich in drei Bereiche: Der erste Bereich behandelt den Selbstbehalt, der zweite die Ökosteuer und
der dritte die EU-Initiative.
Der Selbstbehalt von 350 Euro macht Sinn, weil wir
durch eine Abschaffung den Verwaltungsaufwand immens aufblähen würden. Ich denke, eine gewisse Eigenbeteiligung in diesem Bereich ist, weil es - auch für die
Kleinbetriebe - immer die Alternative Biodiesel gibt,
durchaus zu verantworten.
Die Ökosteuer greift im landwirtschaftlichen Bereich
nicht stärker als in anderen Bereichen. Ich musste erst
vorgestern erfahren, dass zum Beispiel die Bahn im
Fernverkehr riesige Wettbewerbsnachteile hat, weil die
Ökosteuer im Bahnbereich komplett draufgesattelt wird.
({9})
Hingegen werden andere Bereiche völlig ausgenommen.
({10})
Wenn wir sagen, dass es keine Wettbewerbsverzerrung
gibt - das haben wir hier einvernehmlich festgestellt -,
dann gilt dies auch für die Bauern.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Geisen?
Ja.
Herr Kollege, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Verehrte Frau Kollegin, ich möchte gerne von Ihnen konkret wissen: Sind
Sie für eine Harmonisierung der Agrardieselbesteuerung
in Europa - ja oder nein?
Ich darf Ihnen sagen, dass ich von der belgischen
Grenze komme; wir haben dort einen landwirtschaftlichen Betrieb. Ein Betrieb der gleichen Größe und der
gleichen Produktionsrichtung zahlt in Belgien im Vergleich zu Deutschland jährlich 7 000 Euro weniger
Agrardieselsteuer. Halten Sie das für richtig?
Ein anderes Beispiel: In Ihrer Heimat, an der holländischen Grenze, zahlen die Münsterländer Bauern
10 000 Euro Agrardieselsteuer mehr als der niederländische Bauer. Halten Sie das für korrekt?
({0})
Das halte ich nicht für korrekt. Das hätte ich Ihnen
auch noch unter Punkt drei gesagt. Ich war ja erst bei den
Punkten eins und zwei. Sie können sich also ruhig wieder hinsetzen.
Ich komme jetzt zu Punkt drei. Ich möchte gerne, dass
es zu einer europaweiten Regelung kommt. Es wäre mir
wirklich ein großes Anliegen, wenn eine Harmonisierung erreicht werden könnte. Sie wissen, dass es schon
häufig Vorstöße gab. Wir können aber für eine Harmonisierung auf europäischer Ebene nicht alleine sorgen. Es
gibt aber immer wieder entsprechende Ansätze. Es gibt
auch eine Initiative unserer Bundesregierung; das hätten
Sie auch nachlesen können. Sie steht auf der Tagesordnung für die Kommissionssitzung am 1. April 2009. Es
ist nicht klar, wie die Verhandlungen ausgehen werden.
Ich hoffe aber, dass man bei den Vorverhandlungen, die
es jetzt schon gibt, bis zum 1. April 2009 ein Stück weiterkommt.
Auch ich finde, dass es nicht in Ordnung ist, dass in
Europa unterschiedliche Regelungen bestehen.
({0})
Das habe ich nie in Abrede gestellt. Ich möchte hier aber
ganz eindeutig Folgendes festhalten: Wir wollen die
Landwirtschaft nicht als Stiefkind behandeln und sie erst
recht nicht benachteiligen; wir wollen aber auch nicht,
dass das Thema Agrardiesel immer wieder mit anderen
wichtigen Themen sozusagen gedealt wird. Das Problem
der Besteuerung des Agrardiesels können wir nämlich
hier prinzipiell nicht vor Ort lösen.
({1})
- Nein. - Mit einer einheitlichen Agrardieselbesteuerung
auf europäischer Ebene habe ich überhaupt keine Probleme, aber eine Subventionierung aus Mitteln des Bundeshaushaltes lehne ich ausdrücklich ab.
({2})
- Die Bauern gehen nicht kaputt. Das ist Quatsch.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
({0})
Ich kann Ihre Frage nicht mehr zulassen; ich bin am
Ende meiner Redezeit. Vielleicht können wir es noch bilateral regeln.
Ich danke Ihnen.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Behm für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die FDP fordert in ihrem Antrag zwei wesentliche
Dinge, nämlich die Senkung der Agrardieselsteuer und
die Streichung des Selbstbehaltes. Damit zeigt die FDP
ganz deutlich, dass sie verschiedene Punkte nicht begriffen hat,
({0})
nämlich zum Beispiel den Zusammenhang zwischen
Energieverbrauch und Klimawandel, dass sie das Problem der Ressourcenverknappung ignoriert und dass sie
offensichtlich ihren stetigen Ruf nach Entbürokratisierung, den sie wie eine Monstranz vor sich her trägt, selber nicht wirklich ernst nimmt. Denn der Selbstbehalt
senkt die Zahl der Begünstigten. Auf diese Weise entstehen eindeutig weniger Bürokratiekosten aufseiten der
Landwirte wie der Verwaltung. Hier geht es also um die
Frage, ob es mehr Gerechtigkeit oder mehr Bürokratie
geben soll. Ich denke, wie es derzeit läuft, ist es schon
ganz sinnvoll.
Sie ziehen lediglich ein einziges Argument für Ihren
Antrag heran, nämlich die niedrigeren Steuersätze in anderen europäischen Ländern, und versuchen, daran vermeintliche Wettbewerbsnachteile festzumachen. Das ist
- das werden Ihnen andere Kollegen auch noch sagen ziemlicher Unsinn.
({1})
Sie fordern eine Harmonisierung der Steuern - eine Harmonisierung wäre okay; da bin ich ganz dicht bei Ihnen -,
aber keine Beseitigung der Ausnahmetatbestände für
große Energieverbraucher.
({2})
Dabei sollte man sich doch um eine Harmonisierung der
Preise für Energie, die ja der Motor unserer Wirtschaft
ist, auf einem vernünftigen Niveau und um einen effizienten Umgang mit Energie auf europäischer Ebene
kümmern.
({3})
Die Diskussion um die Agrardieselbesteuerung zeigt
auch die Scheinheiligkeit der Union. Staatssekretär Müller hat noch beim II. Klimaforum des Deutschen Bauernverbandes gesagt, eine Verringerung der Energieeinsätze
in der Landwirtschaft um 20 Prozent in den nächsten
10 Jahren sei unbedingt nötig; daran müsse sich die
Landwirtschaft auch beteiligen. Das ist ein wunderbares
Ziel. Das tragen wir mit. Da sind wir dabei.
({4})
Doch nur wenige Tage später forderte Ministerin Aigner
in Passau - es war am 2. Februar, wenn ich richtig informiert bin - eine niedrigere Agrardieselsteuer, um Wettbewerbsnachteile zu vermeiden.
({5})
Daran sieht man doch: Die Union hat noch weniger als
die FDP begriffen, dass das Öl knapper wird und die
Landwirtschaft beim Klimaschutz nicht außen vor bleiben darf.
({6})
Interessant ist auch - das kann ja nun alle Welt im
Spiegel nachlesen -, dass die CSU das ohnehin schon
von der Union ausgehöhlte UGB nur blockiert hat, um
für eine Zustimmung hierzu eine Senkung der Agrardieselsteuer einzutauschen. Meine lieben Kolleginnen und
Kollegen von der Union: Das ist kein verantwortliches
Regierungshandeln, sondern das ist eindeutig Klientelpolitik.
({7})
Die Argumentation mit der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit läuft dabei vollkommen ins Leere. Der
Umfang der Agrarexporte steigt seit Jahren. Der Herr
Staatssekretär Müller hat im Juni 2008 gesagt, dass bei
den Agrarexporten Rekordzuwächse von 17 Prozent verzeichnet wurden. Noch im Januar haben Sie ganz stolz
und froh gesagt: Die Agrarexporte sind stabil. Wo ist
denn da bitte schön der Bedarf?
Ich komme noch einmal auf den Agrardiesel zu sprechen. Ich denke, es ist höchste Zeit, das Märchen vom
„Zurück zur billigen Energie“ zu beerdigen. Es wird nie
wieder billige fossile Energie geben.
Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Der Herr
Kollege Bleser würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Wunderbar, denn damit verlängert er meine Redezeit.
Herr Kollege Bleser, bitte.
Danke, Frau Präsidentin! - Liebe Frau Kollegin
Behm, sind Sie wirklich der Meinung, dass die Landwirte mehr Diesel verbrauchen würden, wenn er etwas
billiger wäre? Er ist doch der große Kostenfaktor in der
Produktion. Meinen Sie nicht auch, dass es sich wegen
der landwirtschaftlichen Produktion auf den Ackerflächen beim Agrardiesel um Prozessenergie handelt, die in
anderen Bereichen auch steuerbefreit ist? Hier wäre eine
Gleichbehandlung angebracht; das ist sicher auch Ihre
Meinung.
Lieber Kollege, ich bezweifle überhaupt nicht, dass
Diesel ein sehr wichtiges Betriebsmittel für die Landwirtschaft ist. Aber die Landwirte haben Alternativen.
Es ist bereits erwähnt worden, dass Biodiesel bzw. -öle
steuerbefreit sind. Ich muss Ihnen einmal Folgendes sagen: Wenn die Bundesregierung die Landwirte unterstützen will, dann sollte sie nicht den fossilen Diesel billiger
machen. Sie sollte stattdessen die Umrüstung der alten
Traktoren und die Anschaffung neuer Traktoren fördern,
({0})
damit Pflanzenöl und Biodiesel eingesetzt werden können. Damit kann man kleine Kreisläufe schließen. Damit
bleibt die Wertschöpfung erhalten.
({1})
- Ja, eben. - Warum kaufen die Landwirte es nicht? Da
muss man doch Anreize schaffen. An dieser Stelle ist das
Geld doch richtig angelegt.
Was macht aber die Bundesregierung stattdessen? Sie
legt ein Programm für Energieeffizienz in der Landwirtschaft in Höhe von 7 Millionen Euro jährlich auf. Diese
Größenordnung ist lächerlich; denn gleichzeitig gibt sie
1,5 Milliarden Euro für die Abwrackprämie aus. Das ist
eine Investition in alte Technologie. Das ist die Politik
des „Weiter so“.
Hier zeigt sich ganz eindeutig, was Ihnen die Landwirtschaft wert ist. Anstatt nach der Senkung von Energiesteuern zu rufen und alte Technologien zu unterstützen, sollten Sie in Innovation investieren, solange neue
Technologien nicht wettbewerbsfähig sind. Dort ist das
Geld richtig angelegt. Da müssen Sie finanziell unterstützen. Das hält die Wertschöpfung in der Region. Das
hilft der Landwirtschaft, und das hilft dem Mittelstand
dieses Sektors, den Sie mit Ihrer Biotreibstoffpolitik ohnehin kaputtgemacht haben.
Vielen Dank fürs Zuhören, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({2})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! 1973 gab es
neun Staaten in der Europäischen Gemeinschaft. Seit
2007 haben wir die EU-27. Und was passiert heute? Im
Jahre 2009 legt die FDP einen Antrag vor, in dem ein
EU-Vergleich von acht europäischen Ländern zu einer
Aussage für die gesamte EU führt. Meine Damen und
Herren von der FDP, nehmen Sie es eigentlich immer so
genau?
({0})
Sie berichten in Ihrem Antrag von erheblichen Belastungen für die kleinen Betriebe. Ist Ihnen schon einmal
aufgefallen, dass es nicht nur den Selbstbehalt, sondern
auch eine Kappungsgrenze bei 10 000 Litern gibt?
({1})
- So weit sind sie nicht gekommen; das ist klar.
In einem Punkt Ihres Antrages gebe ich Ihnen recht:
Die Belastung für Dieselkraftstoff ist in Deutschland im
Vergleich zu anderen europäischen Ländern hoch. Aber
deshalb kann man doch nicht automatisch auf schlechte
Wettbewerbsbedingungen für deutsche Landwirte
schließen. Das ist ein falscher Schluss, und das wird der
Situation der Landwirtschaft überhaupt nicht gerecht.
({2})
Sie stützen sich in Ihrem Antrag auf ein Gutachten
des Ifo-Instituts. Das Ifo-Institut kommt in seiner Gesamtbetrachtung der Steuern auf alle Produktionsmittel
zu dem Ergebnis, dass Deutschland gemeinsam mit Österreich und den Niederlanden im Mittelfeld liegt. Das
ist richtig; Sie haben selber darauf hingewiesen. Dänemark - das haben Sie zufällig vergessen; vorhin haben
Sie jedoch davon gesprochen, dass Dänemark eine ganz
niedrige Agrardieselbesteuerung habe - ist ein wichtiger
Konkurrent Deutschlands und weist nach dieser Gesamtbetrachtung die höchste Belastung auf. Da stimmt Ihre
Argumentation also nicht.
In der Ifo-Studie, die Sie zugrunde legen, fehlen wesentliche Faktoren, zum einen die soziale Absicherung
der Bauern und zum anderen die Ertragsteuern. Ich gebe
zu, dass ein Vergleich gerade dieser Positionen sehr
schwierig ist. Aber Sie können nicht außer Acht lassen,
dass der Bund sehr tief in die Tasche greift, wenn es um
die soziale Absicherung der Bauern geht. Rund 3,7 Milliarden Euro geben wir dafür aus.
({3})
Wenn wir, die Bundesrepublik Deutschland, in diesem
Segment nicht gut aufgestellt sind, dann weiß ich es
auch nicht.
Frau Kollegin Wolff, darf ich Sie unterbrechen? Herr
Kollege Dr. Geisen hätte auch bei Ihnen eine Zwischenfrage.
Gerne, Herr Dr. Geisen.
Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, dass diese Zuschüsse zu den Sozialversicherungen die Folge eines gesamtgesellschaftlichen Problems und damit ein Altlastenproblem sind? Diese Altlasten betreffen, was den
Ursprung angeht, fast jede Familie. Das muss man deutlich machen. Dann kann man auch erkennen, weshalb
dieser Zuschuss begründet und notwendig ist.
Sind Sie angesichts der Begründung für diese sozialen Zuschüsse des Bundes sicher, dass es richtig ist, dass
die deutschen Landwirte pro Familienbetrieb 7 000 Euro
mehr Agrardieselsteuern zahlen als die Betriebe in den
Nachbarländern? Landwirte aus zwei benachbarten Ländern fahren mit ihren Maschinen nebeneinander; die Felder sind zum Teil sogar grenzübergreifend. Können Sie
überhaupt begreifen, was es heißt, wenn die Bauern in
Belgien und Frankreich einen Riesenvorteil durch eine
niedrige Agrardieselbesteuerung haben? Sie plädieren,
wenn ich Sie richtig verstanden habe, für eine eher noch
höhere Agrardieselbesteuerung. Oder wie soll ich das sehen?
({0})
Herr Dr. Geisen, ich habe gerade versucht, Ihnen zu
erklären, dass man eine Gesamtbetrachtung der steuerlichen Belastung vornehmen muss - auf die Gesamtbetrachtung des Ifo-Instituts stützt sich ja auch Ihr Antrag -,
in die alles einbezogen werden muss. Ich sage voller
Stolz, dass wir als Bund diese Verantwortung wahrnehmen und fast 4 Milliarden Euro in die Hand nehmen.
Das ist auch richtig. Aber das ist eine Entlastung, lieber
Herr Geisen, die die Bauern in anderen Staaten nicht haben. Auch das muss man in diesem Zusammenhang sehen.
({0})
Ich bin nicht für eine höhere Besteuerung, Herr Geisen,
sondern ich bin dafür, dass wir zukunftsorientiert arbeiten.
Wenn wir die Wettbewerbssituation betrachten, müssen wir auch die Marktanteile sehen. Da will ich nur einmal den Deutschen Bauernverband zitieren, der - Herr
Kollege Schindler kann das sicherlich bestätigen - in
seinem Situationsbericht 2009 schreibt:
Im Zehnjahresvergleich hat Deutschland seinen
Marktanteil bei den meisten Produkten halten oder
sogar ausbauen können.
Ehrlich gesagt, hört sich das für mich nicht nach einem
gravierenden Wettbewerbsnachteil an. Wettbewerbssituationen zu verbessern, ist gut. Dass die Landwirtschaft so gut dasteht, ist auch in Ordnung. Die gesetzliche Krankenversicherung der Landwirte wurde im
Konjunkturprogramm nicht außen vor gelassen. Sie profitieren zudem von den Steuersenkungen.
Uns geht es darum, in die Zukunft zu investieren. Uns
geht es darum, die Notwendigkeit der Steigerung der
Energieeffizienz in den Mittelpunkt zu stellen.
({1})
Da kann man Kosten sparen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Es tut mir zutiefst leid, dass unser Koalitionspartner
in der vergangenen Woche nicht zugestimmt hat, als es
um den Verzicht auf Besteuerung der Biokraftstoffe für
den öffentlichen Personennahverkehr ging.
({2})
Sie haben dem eine Absage erteilt. Das wäre eine Investition in die Zukunft gewesen. Damit hätten wir den
Landwirten geholfen und etwas Gutes für die Zukunft
getan.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11670 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der
Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereinsvorständen
- Drucksache 16/10120 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist dafür
eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe, Sie sind damit
einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort für die Bundesregierung Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrter Herr Ministerpräsident Müller!
Bürgerschaftliches Engagement ist wichtig für unsere
Gesellschaft. Eine vitale Bürgergesellschaft lebt davon,
dass ihre Mitglieder sich aktiv einbringen und vor allem
dort für Ausgleich und Fürsorge sorgen, wo der Staat
dies nicht leisten kann.
Bürgerschaftliches Engagement muss weiter gefördert werden. Dazu gehört es, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Menschen sich gemeinsam
engagieren können. In Deutschland wird vor allem in
Vereinen, aber auch in Stiftungen beispielhafte gesellschaftliche Arbeit geleistet. Das Ehrenamt spielt dabei
eine besonders wichtige Rolle. Viele kleine Vereine können nur deshalb effektiv wirken, weil die Vereinsämter
ehrenamtlich wahrgenommen werden. Es wird allerdings immer wieder berichtet, dass Vereinsmitglieder
zögern, Vereinsämter zu übernehmen - nicht etwa, weil
sie die damit verbundene Arbeit scheuen, sondern aus
Furcht vor eventuell unüberschaubaren Haftungsrisiken.
({0})
Zwar gibt es bereits nach geltendem Recht die Möglichkeit, die Haftung der Vorstände gegenüber dem Verein und seinen Mitgliedern durch Satzungsregelungen zu
beschränken. Doch wissen viele dies nicht. Deshalb hat
der Bundesrat in seinem Entwurf eines Gesetzes zur Begrenzung der Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereinsvorständen eine gesetzliche Haftungsbeschränkung gegenüber dem Verein und den Vereinsmitgliedern
vorgesehen. Ich begrüße dies ausdrücklich als wichtigen
Beitrag zur Förderung des bürgerschaftlichen ehrenamtlichen Engagements.
Dabei muss allerdings das Risiko des Vereinsvorstandes sorgfältig mit den eventuellen Risiken Dritter abgewogen werden. Deshalb ist es in diesem Spannungsfeld
gegenläufiger Interessen sinnvoll, zwischen den Ansprüchen Außenstehender und den Ansprüchen des Vereins
sowie einzelner Vereinsmitglieder zu unterscheiden. Es
ist durchaus angemessen, die Haftung des ehrenamtlich
tätigen Vereinsvorstandes gegenüber dem Verein sowie
gegenüber einzelnen Vereinsmitgliedern auf Vorsatz und
grobe Fahrlässigkeit zu beschränken. Nach außen hin,
also gegenüber Dritten, ist dagegen eine volle Haftung
nach wie vor unabdingbar. Der Verein kann hierfür
durch Abschluss einer Risikoversicherung allerdings
Vorsorge treffen.
({1})
Zur Unterscheidung, ob ein Vorstand tatsächlich ehrenamtlich oder gegen Gehalt tätig wird, schlagen wir vor,
die Regelung des § 3 Nr. 26 Einkommensteuergesetz
einzuführen. Das Haftungsprivileg wollen wir auf die
Personen erstrecken, die für ihre Tätigkeit als Vereinsvorstand eine Vergütung von nicht mehr als 500 Euro
pro Jahr erhalten.
Bei ehrenamtlich tätigen Vorständen von Stiftungen
- dieser Punkt ist im Bundesratsentwurf nicht enthalten besteht eine mit den ehrenamtlichen Vereinsvorständen
vergleichbare Haftungssituation. Auch sie sollten gegenüber der Stiftung nicht für Schäden haften, die durch einfache Fahrlässigkeit verursacht wurden. Die Stiftung
sollte ihre ehrenamtlichen Vorstände außerdem in gleicher Weise wie die Vereine von der Haftung für leichte
Fahrlässigkeit gegenüber Dritten freistellen. Wir können
eine Erstreckung des Haftungsprivilegs auf die Verletzung steuerlicher oder sozialrechtlicher Pflichten nicht
gutheißen, und zwar auch deshalb nicht, weil die bisher
geltenden Risikobegrenzungen insoweit ausreichend
sind.
Die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements
war und ist auch für die Bundesregierung von herausragender Bedeutung. Wir haben schon vieles zur Förderung des Ehrenamtes getan, und wir sind auch weiterhin
aktiv. Zurzeit wird im Bundesministerium der Justiz ein
umfassender und gut verständlicher Leitfaden für Vereine erstellt, den wir demnächst über das Internet allgemein zugänglich machen. Darin werden alle wesentlichen Fragen zum Vereinsrecht beantwortet.
Den vorliegenden Gesetzesvorschlag unterstützen wir
mit den eben von mir vorgetragenen Ergänzungen. Die
ehrenamtlich Tätigen leisten einen unschätzbaren, wertvollen Beitrag für unser gesellschaftliches Zusammenleben. Wir sollten diesen Beitrag auch für die Zukunft erhalten.
Vielen Dank.
({2})
Nächste Rednerin ist für die FDP-Fraktion die Kollegin Mechthild Dyckmans.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gehört: Der Gesetzentwurf soll das
bürgerschaftliche Engagement in Vereinen fördern. Das
begrüßen wir von der FDP ausdrücklich.
Ich freue mich, dass dieser Gesetzentwurf, der auf
eine Initiative des Saarlandes und Baden-Württembergs
zurückgeht, nunmehr auch im Bundestag beraten wird.
Der Gesetzentwurf sieht - der Herr Staatssekretär hat
das schon ausgeführt - eine Begrenzung des Haftungsrisikos von ehrenamtlich tätigen Vereinsvorstandsmitgliedern vor. Auch das unterstützen wir ausdrücklich. Es ist
ja beinahe schon ein Wunder, dass sich überhaupt noch
Menschen finden lassen, die bereit sind, Vorstandsfunktionen zu übernehmen. Man muss bedenken: Für Vereinsvorstände gelten die gleichen Haftungsrisiken wie
zum Beispiel bei GmbH-Geschäftsführern. Ich meine,
hier ist eine Unterscheidung nicht nur erlaubt, sondern
sogar geboten.
({0})
Natürlich macht es einen Unterschied, ob jemand von
Berufs wegen - in der Regel gegen gutes Gehalt - solch
eine Arbeit übernimmt, oder ob er solche Verpflichtungen ehrenamtlich in seiner Freizeit, neben seiner beruflichen Tätigkeit, in Sportvereinen, in sozialen Einrichtungen, in Einrichtungen der Kulturpflege, beim Roten
Kreuz, bei der Freiwilligen Feuerwehr oder sonst wo
übernimmt.
Ich freue mich, dass die Bundesregierung diesen Gesetzentwurf jetzt offensichtlich unterstützt. Das hat bei
der Stellungnahme zu diesem Gesetzentwurf noch ganz
anders ausgesehen.
({1})
Auch im Dezember des letzten Jahres war die Bundesregierung noch nicht so weit. Auf eine Anfrage meines
Kollegen Burgbacher hat sie zu dem Zeitpunkt geantwortet, dass man noch nicht weiß, wie man damit umgehen soll. Es ist schön, dass man jetzt offensichtlich auch
in der Bundesregierung zur Einsicht gekommen ist und,
wie im Entwurf vorgesehen, einen § 31 a BGB einführen
will.
Gleichwohl glaube ich auch, dass es einige Punkte
gibt, über die wir noch einmal sprechen sollten. Zum einen gibt es den angesprochenen Vorschlag, ob man auch
das Haftungsrisiko für Vorstände von Stiftungen begrenzen soll. In diesem Zusammenhang muss man prüfen, ob die Haftungsrisiken tatsächlich vergleichbar sind.
Falls das so ist, sehen ich und meine Fraktion keinen
Grund, dass man nicht auch den Vorstand einer Stiftung
in den Genuss einer gesetzlichen Haftungsbegrenzung
kommen lassen soll.
Beim zweiten Punkt geht es um das Kriterium der
Unentgeltlichkeit. Dazu wurde im Gesetzentwurf, allerdings nur in der Begründung, ausgeführt, dass die Tatsache, dass man für eine Tätigkeit lediglich eine Aufwandsentschädigung oder ein geringes Entgelt bekommt, der
Unentgeltlichkeit nicht entgegenstehen soll. Der Vorschlag aus dem Justizministerium, der eine Konkretisierung des Unentgeltlichkeitskriteriums vorsieht, scheint
mir zielführend zu sein, sodass man diesen Punkt noch
einmal besprechen sollte.
({2})
Ich bin auch froh, dass man im Ministerium offensichtlich wieder davon abgekommen ist, eine Verpflichtung der Vereine zum Abschluss einer entsprechenden
Versicherung vorzuschlagen. Gut, dass man sich davon
gelöst hat. Es war gut, dass Sie bis zum Februar gewartet
und heute Ihre Presseerklärung herausgegeben haben, in
der Sie mitteilen, dass Sie allem in der jetzigen Form zustimmen.
Ich würde mich also freuen, wenn wir ohne größere
parteipolitische Auseinandersetzungen diesen Gesetzesvorschlag schnell verabschieden könnten; denn das liegt
im Interesse Tausender Frauen und Männer, die sich ehrenamtlich in Vereinen engagieren und jeden Tag aufs
Neue einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung einer aktiven und lebenswerten Bürgergesellschaft leisten.
Schönen Dank.
({3})
Für den Bundesrat hat nun das Wort der Ministerpräsident des Saarlandes, Peter Müller.
({0})
Peter Müller, Ministerpräsident ({1}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dass bürgerschaftliches Engagement einen unschätzbaren Wert für unsere Gesellschaft hat und es wesentlicher Teil des Kitts ist, der diese Gesellschaft zusammenhält, ist eine Tatsache, die in diesem Hause
bekannt ist und die deshalb nicht weiter vertieft werden
muss.
Folglich ist es unsere Aufgabe, Rahmenbedingungen
zu schaffen, die ehrenamtliches Engagement unterstützen und Anreize schaffen, dieses Engagement zu erbringen, und dort, wo ehrenamtliches Engagement behindert
wird, gemeinsam dafür zu sorgen, dass die Hürden beseitigt werden. Das war immer ein Ziel der Arbeit in diesem Haus. Das wurde auch beim Gesetz zur weiteren
Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements, das
wichtige Verbesserungen für bürgerschaftliches Engagement gebracht hat, deutlich.
Die Frage der Haftung von ehrenamtlich und unentgeltlich tätigen Mitgliedern in den Vereinsvorständen ist
dort nicht geregelt worden. Diese Frage wurde bei den
Beratungen jenes Gesetzentwurfs im Bundesrat angesprochen. Der Diskussionsbedarf wurde bestätigt, und
auf dieser Grundlage beruht der jetzt vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates, der auf saarländische Initiative hin zustande gekommen ist.
({2})
Ich freue mich, dass dieser Gesetzentwurf des Bundesrates dieses Stadium im Hohen Haus erreicht hat.
Nicht allen Entwürfen des Bundesrates ist dieses Schicksal beschieden.
({3})
Umso mehr freue ich mich, dass dies heute der Fall ist,
({4})
und zwar auch deshalb, weil wir heute über eine regelungsbedürftige Angelegenheit sprechen. Frau Dyckmans hat es eben gesagt: Durch die Rechtsprechung ist
die Haftung der ehrenamtlich tätigen Vereinsvorstände
derjenigen eines GmbH-Geschäftsführers angenähert
worden. Das ist mit Sicherheit nicht sachgerecht.
Ich will es ganz kurz an einem Beispiel erläutern
- der Fall hat sich in dem von mir vertretenen BundesMinisterpräsident Peter Müller ({5})
land zugetragen -: Es geht um einen großen Sportverein,
in dem ein ehrenamtlicher Jugendleiter für die Jugendarbeit zuständig ist. Daneben gibt es eine Vertragsspielerabteilung mit einem Geschäftsführer, der Steuern
nicht zahlt und Sozialversicherungsbeiträge nicht abführt. Irgendwann fällt dies auf. Die Ansprüche werden
geltend gemacht. Der Geschäftsführer ist weg. Der Verein kann die Forderungen aus dem Vereinsvermögen
nicht befriedigen. Plötzlich sieht sich der ehrenamtlich
tätige Jugendleiter einem Haftungsbescheid in der Größenordnung von 35 000 Euro gegenüber. Das kann nicht
richtig sein.
({6})
- Wenn Sie dazwischenrufen, da habe der Ministerpräsident nicht aufgepasst, sage ich an dieser Stelle: Im Saarland ist das einfacher als in Nordrhein-Westfalen, aber
um alles kann sich auch der saarländische Ministerpräsident nicht kümmern.
({7})
- Das ist richtig.
Ich glaube, dass die Notwendigkeit besteht, in diesem
Bereich eine faire Verteilung der Haftungsrisiken herbeizuführen. Eine faire Verteilung heißt: Natürlich hat jeder
für das einzustehen, was er selber tut. Natürlich hat jeder
für vorsätzliches Handeln und für grobe Fahrlässigkeit
einzustehen. Aber in Fällen des bloßen Nichtwissens, in
Fällen einfacher Fahrlässigkeit muss nach meinem Dafürhalten - und das ist auch die Sprache dieses Gesetzentwurfes, der im Grundsatz breite Unterstützung findet - eine Haftungsfreistellung gegeben sein.
Ich halte die Bedenken in der ursprünglichen Stellungnahme der Bundesregierung für nicht begründet.
Auf den Hinweis, dass wir vergleichbare Situationen bei
Stiftungen, bei Pflegepersonen und Betreuern haben,
kann mit dem Argument geantwortet werden, dass diese
Personengruppen in die Regelungen einbezogen werden.
Im Übrigen besteht schon ein Unterschied: Bei Vereinen
handelt es sich in der Regel um immateriell orientierte
Tätigkeiten, während die anderen Gruppen, die angesprochen worden sind, typischerweise mit Fragen der
Vermögenssorge befasst sind.
Auch den Hinweis, dass bei einer Haftungsfreistellung das Risiko besteht, dass die Haftung des Vereins
verschärft wird, halte ich für falsch. Es geht meist um
diejenigen Fälle, in denen der Verein nicht haften kann,
weil er nicht leistungsfähig ist, weil das Vereinsvermögen nicht ausreicht. Ich glaube auch, dass der Hinweis
darauf, damit sei das Risiko verbunden, dass Sozialversicherungsbeiträge oder Steuern ausfallen, am Ende nicht
tragen kann. Wir müssen beachten, dass wir über Beträge reden, die mit Blick auf das Gesamtsteueraufkommen oder das Gesamtaufkommen im Bereich der Sozialversicherung von absolut vernachlässigbarer Größe sind.
({8})
Wir müssen auch beachten, dass es hier um Tatbestände
geht, die dazu führen können, dass ehrenamtliches
Engagement, dass die Bereitschaft, sich in Vereinen einzubringen, breitflächig zurückgeht. Vor diesem Hintergrund hat, glaube ich, das fiskalische Interesse zurückzustehen.
Ich bitte herzlich darum, diesen Gesetzentwurf aus
dem Bundesrat zu unterstützen und zielführend zu beraten.
({9})
Ich verbinde dies mit der Bitte um Verständnis dafür,
dass ich die Debatte gleich verlasse, weil parallel die Föderalismuskommission tagt und meine Anwesenheit dort
erforderlich ist.
({10})
Es ist keine Missachtung des Hohen Hauses. Unterstützen Sie bitte diesen Gesetzentwurf im Interesse des
ehrenamtlichen Engagements in unserem Land! Wir
brauchen bürgerschaftliches Engagement. Es macht die
Menschlichkeit dieser Gesellschaft aus.
Ich bitte um Unterstützung.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ilja Seifert für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der vorliegende
Gesetzentwurf ist durchaus vernünftig. Ich denke, wir
werden ihm zustimmen. Über seinen Inhalt gibt es vermutlich nur wenig Streit. Aber worüber reden wir eigentlich? Die wirklichen Probleme werden mit diesem
Gesetz nämlich nicht gelöst.
Auch ich möchte ein Beispiel anführen: Ein Verein
mit 20 Mitgliedern sammelt seit über 20 Jahren Spenden
für die Kinder und jetzt erwachsenen Opfer von Tschernobyl. Das gesamte Geld, das dieser Verein jemals gesammelt hat, wurde gespendet und nach Weißrussland
oder in die Ukraine geschickt. Man hat also geholfen
und gute Arbeit getan.
Einmal im Jahr führt der Verein, weil das Vorschrift
ist, seinen Vereinstag durch, bestätigt seinen Vorstand
oder wählt ihn neu. An diesem Tag entsteht ein Brand
- aus welchen Gründen, lässt sich hinterher nicht mehr
ermitteln -, und die Räumlichkeit, in der der Verein gerade tagt, brennt ab. Es entsteht ein Schaden in Höhe von
25 000 Euro. Das Vereinsvermögen beträgt 38,50 Euro;
das ist das Geld, das der Verein für Briefmarken ausgibt.
Das gesamte übrige Geld wird schließlich, wie gesagt,
gespendet und zum Beispiel nach Belarus geschickt.
Nun fordert der Besitzer der Räumlichkeit, die abgebrannt ist, Schadensersatz. Der Verein zahlt seine
38,50 Euro und ist damit bankrott. Wer muss jetzt zahlen? Am Ende müssen die Vereinsvorstände zahlen. Das
kann doch nicht sein. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir nicht wollen.
({0})
- Dann klären Sie mich nachher bitte auf. Ich kann Ihnen
sagen: Das ist die Rechtslage. Das können wir aber nicht
wollen.
Wir müssen dafür sorgen, dass diejenigen, die ehrenamtlich tätig sind, keine Angst haben müssen, dass auf
ihr Privatvermögen zurückgegriffen wird. Dafür gibt es
verschiedene Möglichkeiten. Man könnte zum Beispiel
eine Haftungsbegrenzung vornehmen. Man könnte für
Vereine auch eine staatliche Garantie abgeben und die
Kosten für Vereinsschutzbriefe übernehmen, natürlich
nur für die der untersten Kategorie; das ist klar. Das wäre
eine Möglichkeit, Vereine, die nicht das nötige Geld haben, um eine Versicherung abzuschließen, nicht einmal
eine Versicherung für eine Vereinsveranstaltung, von
diesen Belastungen zu befreien. Das wäre wichtig.
In eine solche Regelung könnten wir auch die anderen
Zielgruppen, von denen immer die Rede ist, einbeziehen. Wie sieht es denn mit amtlich bestellten Pflegerinnen und Pflegern oder Betreuerinnen und Betreuern aus?
Auch sie haben ein Haftungsrisiko. Auch diesen Personen müssen wir helfen. Insofern besteht durchaus Handlungsbedarf.
Dass der Staatssekretär diesen Gesetzentwurf jetzt unterstützt, finde ich sehr erfreulich. Aber das Schauspiel,
das Sie uns geliefert haben, indem Sie den vorliegenden
Gesetzentwurf des Bundesrates sechs Monate lang verschleppt haben, ist ziemlich beschämend. Ich finde, dafür hätten Sie zumindest ein Wort der Entschuldigung
sagen können.
({1})
Noch eines: Wenn wir Politikerinnen und Politiker einen Fehler machen, sind unsere Diäten, also unsere Gehälter, und unsere Pensionen genauso sicher wie unsere
Vermögen, solange wir nicht ehrenamtliche Vorsitzenden eines Vereins sind, von dem ich gerade sprach. Dass
auch Spitzenmanager von Banken und großen Unternehmen solchen Haftungsrisiken nicht ausgesetzt sind, erleben wir in letzter Zeit Tag für Tag. Lassen Sie uns dafür
sorgen, dass diejenigen, die von allen und immer wieder
für ihre unverzichtbare ehrenamtliche Arbeit gelobt werden - Sie haben sie sogar als „Kitt der Gesellschaft“ bezeichnet -, nicht solchen Risiken ausgesetzt sind.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({2})
Der Kollege Hans-Christian Ströbele hat seine Rede
zu Protokoll gegeben,1) sodass nun als letzter Redner in
dieser Debatte der Kollege Dr. Peter Danckert für die
SPD-Fraktion das Wort hat.
1) Anlage 2
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, ich muss sagen: Es
gefällt mir, dass Sie diesen Gesetzentwurf des Bundesrates persönlich vertreten. Das zeigt Ihr großes Engagement. Ich bin Ihnen sehr dankbar - ich sage das ganz
freimütig über Parteigrenzen hinweg -, dass hier eine
Minireform - das muss man so sagen, wenn man sich
vor Augen hält, was wir zum Abbau von Bürokratie in
diesem Bereich eigentlich alles regeln müssten - angestoßen wurde. Dass Sie heute Abend hier sind, ist wirklich verdienstvoll.
({0})
Ich hoffe, dass wir Ihre Anwesenheit nicht nur der Koinzidenz mit einem anderen Termin verdanken, sondern
dass Sie auch gekommen wären, wenn Sie hier keine anderen Verpflichtungen gehabt hätten. Ich würde Sie
gerne einladen, noch ein bisschen zu bleiben; denn auch
wenn wir nachher über die Reform des Untersuchungshaftrechts reden, könnten wir Ihre Unterstützung brauchen. Ich weiß allerdings, dass Sie nicht so lange bleiben
können.
Im Prinzip ist zu der großen Rolle der ehrenamtlich
Tätigen alles gesagt worden. Im Sportbereich - diesem
Bereich, Herr Ministerpräsident, sind wir ja beide verbunden - sind mehr als 1 Million Menschen als Vereinsvorsitzende ehrenamtlich tätig. Die bisherigen Regelungen im Bürgerlichen Gesetzbuch sind defizitär, sie
müssen geändert werden. Insofern - ich habe es eben
schon gesagt -: Danke für die Anregung und den Anstoß
zu dieser Gesetzesinitiative!
Was uns besorgt hat - das will ich freimütig sagen -,
ist der Umstand, dass dieser Gesetzentwurf zu scheitern
drohte. Es ist der Initiative vieler Mitglieder des Sportausschusses und des Rechtsausschusses zu verdanken,
dass es zu einem Gespräch kam, in dem wir zusammen
mit dem Generaldirektor des Deutschen Olympischen
Sportbundes unsere Bedenken geschildert und deutlich
gemacht haben, dass wir eine gesetzliche Regelung in
dieser Richtung wollen.
Von einer Sternstunde zu sprechen, ist vielleicht übertrieben; aber ein Erfolg ist es, dass aus dieser parlamentarischen Initiative - was ja nicht allzu häufig ist - mit
der Formulierungshilfe, die die Bundesregierung geleistet hat, ein Gesetz geworden ist, das wir hier beraten
können. Das eine oder andere wird im Rahmen eines
Feintunings noch modifiziert werden müssen; aber die
Richtung stimmt, das Gesetz findet ja jetzt Zustimmung.
Ehrenamtliche Tätigkeit muss in der Form, wie es
jetzt vorgesehen ist, ein Stück weit geschützt werden.
Wir wissen von den Vorsitzenden vieler Vereine, dass
die Frage der Haftung sie sehr bedrückt. Das von Ihnen,
Herr Ministerpräsident, genannte Beispiel mit den
35 000 Euro war ja noch relativ harmlos. Als Anwalt
habe ich vor zehn, zwölf Jahren selber erlebt, wie ein
Vereinsvorsitzender einen Haftungsbescheid über 1 Million DM bekam - was nicht nur familiär katastrophale
Auswirkungen hatte. Die Forderung konnte aus dem
Vereinsvermögen - indem ein Teil des Geländes verkauft wurde - bezahlt werden.
Die Haftung ist ein kritischer Punkt, es ist kritisch,
wenn sich der Vorsitzende darauf verlassen muss, dass
im größeren Umfeld alles seine Ordnung hat. Von daher
ist die Haftungsbegrenzung, die wir mit diesem Gesetz
vorsehen, notwendig. Auch die Form, in der wir das machen, ist richtig.
Nachdenken müssen wir vielleicht noch darüber, ob
die unentgeltliche Tätigkeit mit 500 Euro richtig angesetzt ist. Klaus Riegert, ich habe das so verstanden, dass
wir darüber in den Gremien noch einmal diskutieren
werden. Ich halte diesen Maßstab für durchaus angemessen; aber man kann darüber diskutieren, ob wir das noch
etwas ausweiten sollten.
Herzlichen Dank noch einmal an Sie, Herr Ministerpräsident Müller. Dank auch an alle anderen, die dazu
beigetragen haben, dass wir in dieser Legislaturperiode
mit der Schaffung eines § 31 a BGB eine seit langem ins
Auge gefasste Änderung des § 31 BGB herbeiführen
können.
Ich glaube, dass diese Änderung draußen akzeptiert
wird und ankommt, weil die ehrenamtlichen Vorsitzenden der Sportvereine unter der bisherigen Regelung in
der Tat gelitten haben. Sie mussten besorgt sein, weil sie
nicht genau wissen konnten, was auf sie zukommt.
Durch die Beschränkung der Haftung setzen wir ein
deutliches Zeichen.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/10120 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Nešković, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Abschiebungen in das Kosovo
- Drucksachen 16/9143, 16/11370 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Werner Kammer
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff ({1})
Ulla Jelpke
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hans-
Werner Kammer, Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff, Ulla Jel-
pke und Josef Philip Winkler.1)
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11370, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/9143 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDPFraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Antje
Blumenthal, Hubert Hüppe, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
sowie der Abgeordneten Marlene Rupprecht ({2}), Renate Gradistanac, Angelika Graf
({3}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Frauen und Mädchen mit Behinderungen
wirksam vor Gewalt schützen und Hilfsangebote verbessern
- Drucksache 16/11775 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Auch hier wurde vereinbart, dass die Reden zu Proto-
koll gegeben werden. Es handelt sich um die Reden fol-
gender Kolleginnen und Kollegen: Antje Blumenthal,
Michaela Noll, Marlene Rupprecht, Ina Lenke, Dr. Ilja
Seifert und Markus Kurth.2)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11775 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Alexander Bonde, Christine Scheel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kontrollrechte aus Bundesbeteiligungen strategisch nutzen
- Drucksache 16/11761 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Finanzausschuss
Federführung strittig
Auch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben,
und zwar von folgenden Kolleginnen und Kollegen:
1) Anlage 3
2) Anlage 4
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Klaus-Peter Willsch, Bernhard Brinkmann, Ulrike Flach,
Roland Claus und Dr. Thea Dückert.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11761 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
allerdings strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen Federführung beim Haushaltsausschuss,
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Federführung beim
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie - abstimmen.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist damit abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD - Federführung
beim Haushaltsausschuss - abstimmen. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? - Ist jemand dagegen? Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist damit
mit großer Mehrheit angenommen. Das heißt, die Federführung liegt beim Haushaltsausschuss.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts
- Drucksache 16/11644 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann wird so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort für die Bundesregierung.
({8})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr van Essen, bis zwei kann ich zäh-
len. Ich habe die richtige Rede.
Die Untersuchungshaft ist eine besonders schwerwie-
gende Beschränkung der Freiheit und mit weitreichen-
den Grundrechtseingriffen verbunden. Ich sehe es des-
halb als eine positive Entwicklung an, dass die Zahl der
Untersuchungshäftlinge trotz einer effektiven Strafver-
folgung seit Jahren sinkt. 2006 gab es insgesamt etwa
24 000 Untersuchungsgefangene. Das ist sicherlich noch
immer eine hohe Zahl; aber 30 Jahre zuvor, 1976, also
weit vor der deutschen Einheit, waren es noch über
42 000. Das ist ein Rückgang um 43 Prozent. Ich glaube,
1) Anlage 5
wir verdanken dies nicht zuletzt den Maßnahmen zur
Haftvermeidung und der Justiz, die diese anwendet.
Trotzdem bleibt die Untersuchungshaft eine besondere Herausforderung für den Rechtsstaat. Mit diesem
Gesetzentwurf der Bundesregierung wollen wir deshalb
klar regeln, unter welchen Voraussetzungen welche Beschränkungen der Freiheit zulässig sind. Wir wollen
auch die Rechte der Festgenommenen stärken.
Wenn U-Haft angeordnet wird, geht es nicht nur um
die Freiheitsentziehung selbst, sondern auch um begleitende Maßnahmen wie die Postkontrolle oder Besuchsbeschränkungen. Im Gesetz war bislang weder geregelt,
welche Beschränkungen zulässig sind, noch, unter welchen Voraussetzungen diese erfolgen können. Es existierte lediglich eine gemeinsame Verwaltungsvorschrift
der Länder. Infolge der Föderalismusreform regelt nun
der Bund das Ob der Untersuchungshaft und das gerichtliche Verfahren, während die Regelungskompetenz für
das Wie des Vollzugs bei den Ländern liegt.
Lassen Sie mich die wesentlichen Änderungen vorstellen, die der Entwurf der Bundesregierung vorsieht.
Zu den Beschränkungen, die Untersuchungsgefangenen über die Freiheitsentziehung als solche hinaus zur
Abwehr von Flucht-, Verdunklungs- und Wiederholungsgefahr auferlegt werden können, gehören vor allem
die Überwachung der sogenannten Außenkontakte: Besuche, Telekommunikation und Briefverkehr sowie die
Trennung von anderen Gefangenen, die an derselben Tat
beteiligt waren. Alle diese Eingriffe müssen im Hinblick
auf die Unschuldsvermutung und das Freiheitsrecht des
Beschuldigten sorgfältig abgewogen werden. Dafür
schafft unser Entwurf transparente und klare gesetzliche
Regeln. Nicht ausreichend sind künftig rein standardmäßige, unabhängig von den konkreten Umständen des
Einzelfalls angeordnete Beschränkungen. Die zuständigen Stellen müssen in jedem Einzelfall prüfen, ob solche
Beschränkungen wirklich erforderlich sind. Damit tragen wir der Unschuldsvermutung in Zukunft noch sehr
viel besser Rechnung.
Im Gesetz wollen wir außerdem den Rechtsschutz
klarer regeln. Damit wird für die Inhaftierten künftig
deutlicher, dass und mit welchen Rechtsmitteln sie sich
gegen Beschränkungen in der U-Haft rechtlich zur Wehr
setzen können. Das schafft mehr Klarheit für die Vollzugspraxis, stärkt die Rechte der Betroffenen und ist ein
Zugewinn an Rechtsstaatlichkeit.
Eine zweite wichtige Neuerung geht auf eine Anregung zurück, die wir den europäischen Institutionen zum
Schutz der Menschenrechte verdanken. Es geht darum,
dass Verhaftete über ihre Rechte möglichst frühzeitig
und umfassend belehrt werden. Wir regeln in diesem Gesetz, dass Beschuldigte in Zukunft bereits bei ihrer Festnahme und zudem schriftlich belehrt werden. Das bedeutet, dass sie nicht nur einen mündlichen Hinweis,
sondern auch ein Papier bekommen, auf dem zum Beispiel steht, dass sie spätestens am nächsten Tag einem
Richter vorgeführt werden, dass sie das Recht haben,
keine Aussage zu machen, und dass sie Zugang zu einem
Verteidiger und einem Arzt bekommen können.
Des Weiteren verbessern wir das Recht der Inhaftierten, ihre Akten einzusehen. Es gibt natürlich Fälle, in denen die Gewährung von Akteneinsicht die Ermittlungen
und damit den Zweck der Untersuchungshaft gefährden
würde. In solchen Fällen kann die Staatsanwaltschaft die
Akteneinsicht verweigern. Trotzdem muss der Untersuchungsgefangene oder sein Verteidiger jedenfalls die Informationen bekommen, die notwendig sind, um die
Rechtmäßigkeit der Inhaftierung beurteilen zu können.
Das ist auch ein Gebot der Waffengleichheit; denn wenn
man über die Gründe nicht Bescheid weiß, kann man gegen eine Inhaftierung keine gezielten Rechtsmittel ergreifen.
Ich denke, es wird deutlich, dass dieser Gesetzentwurf ein echter Gewinn an Rechtsstaatlichkeit ist. Wir
stärken die Rechte der Betroffenen und stellen klare und
praxistaugliche Regeln auf. Wir schaffen damit eine gute
Balance zwischen der Unschuldsvermutung, die für Untersuchungsgefangene gilt, und dem Bedürfnis des Staates nach einer wirksamen Strafverfolgung.
Ich danke Ihnen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich, dass die Bundesregierung diesen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Trotzdem will ich daran erinnern,
dass ich bei meiner grundsätzlichen Kritik bleibe. Die
Entscheidung im Rahmen der ersten Föderalismusreform, wonach die Gesetzgebung für den Strafvollzug auf
die Länder übergegangen ist und nur noch das Ob nach
Bundesrecht entschieden wird, halte ich weiter für
falsch.
({0})
Das ändert aber nichts daran, dass das, was die Bundesregierung jetzt vorgelegt hat, ein Schritt in die richtige Richtung ist; er wird von uns ganz außerordentlich
begrüßt. Herr Staatssekretär, ich sehe das genauso wie
Sie. Es ist gut, dass diejenigen, die in Untersuchungshaft
kommen und für die weiter die Unschuldsvermutung
gilt, über das unterrichtet werden, was ihnen vorgeworfen wird, dass sie Anspruch darauf haben, dass ihnen ein
Exemplar des Haftbefehls ausgehändigt wird, und
- auch das ist sehr wichtig - dass dies dem Häftling,
wenn er der deutschen Sprache nicht mächtig ist, in seiner Heimatsprache oder einer ihm verständlichen Sprache vorgetragen werden muss.
({1})
Ich glaube, dass das ein wichtiger und richtiger Schritt
ist.
Ein zweiter Punkt gefällt mir ebenfalls sehr gut. In
den ursprünglichen Entwürfen, die zur Diskussion standen, waren sehr starke Einschränkungen der Außenkontakte des Häftlings vorgesehen. Sie sind in dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf zu einer Vorgehensweise
zurückgekehrt, die mir sehr gut gefällt, nämlich dass im
Einzelnen geprüft wird, ob eine Notwendigkeit zur Beschränkung der Außenkontakte besteht. Das muss dann
auch ausdrücklich angeordnet werden. Das entspricht
meines Erachtens dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, das
auch bei der Untersuchungshaft zu gelten hat.
({2})
Es gibt einen Punkt, zu dem sich der Gesetzentwurf
nicht verhält, auf den ich aber gerne eingehen möchte,
weil er immer wieder Gegenstand von Entscheidungen
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wie
auch des Bundesverfassungsgerichts ist: die Länge der
Untersuchungshaft. Das muss einem tatsächlich Sorge
machen. Ich will nicht verhehlen, dass hier durchaus
zwei Seelen in meiner Brust wohnen. Wenn man wie ich
aus der staatsanwaltschaftlichen Praxis kommt, dann
weiß man, dass die Länge der Untersuchungshaft
manchmal gar nicht von der Justiz beeinflusst werden
kann. Wenn man als die Ermittlung führender Staatsanwalt oder Oberstaatsanwalt immer wieder den Gutachter
mahnt, endlich sein Gutachten vorzulegen - das Gutachten ist für eine Anklageerhebung dringend erforderlich -,
({3})
- richtig - und wenn man alles unternommen hat, statt
die Hände in den Schoß zu legen, es aber trotzdem zu einer langen Untersuchungshaftzeit gekommen ist, fällt es
einem manchmal schwer, einzusehen, wenn das Oberlandesgericht feststellt - wie es mir passiert ist -, dass
das nicht akzeptabel ist.
({4})
- Dazu komme ich noch. Deswegen habe ich darauf hingewiesen, dass das am Anfang, wenn man die Ermittlung führt, schwer einzusehen ist, vor allen Dingen,
wenn der Beschuldigte - beispielsweise weil er weiß,
dass ihn eine lebenslange Haft erwartet - schon alles organisiert und gar keine Unterkunft mehr hat. Aber ich
teile das, was Sie gesagt haben, völlig. Wenn man das
Ganze nicht mehr mit professioneller Betroffenheit, sondern mit etwas Abstand sieht - insofern bin ich für Ihren
Einwand dankbar -, wird deutlich, dass der Betroffene
nichts dafür kann. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass
die Gerichte, insbesondere die Obergerichte, in diesem
Punkt sehr streng sind.
Ich hätte mir gewünscht - vielleicht können wir das in
den Berichterstattergesprächen tun -, dass wir uns, wenn
es schon zu einer Reform des Untersuchungshaftrechts
kommt, auch damit befassen, wie wir dem Problem der
zu langen Untersuchungshaftzeit in unserem Land, die
häufig und auch zu Recht kritisiert worden ist, begegnen
können.
({5})
Das werden wir als FDP-Bundestagsfraktion in die Beratungen einbringen.
Insgesamt halten wir - das möchte ich abschließend
als Fazit festhalten - diesen Gesetzentwurf für einen
Schritt in die richtige Richtung. Ich habe das Gefühl,
dass alle Fraktionen gemeinsam etwas verbessern wollen. Wenn der Wille da ist, sollten wir das auch nutzen,
um zu einem Ergebnis zu kommen, das dem Rechtsstaat
Bundesrepublik Deutschland dient.
Vielen Dank.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Siegfried Kauder das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Untersuchungshaft ist Freiheitsberaubung gegenüber einem Unschuldigen.
Das ist kein Ausspruch von mir - auch wenn er von mir
sein könnte -, sondern eine Schlussfolgerung des ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hassemer, im Strafverteidiger 1984, Seite 38 ff.
Untersuchungshaft ist die einschneidendste strafprozessuale Maßnahme, die man sich vorstellen kann. Völlig unvorbereitet wird ein Tatverdächtiger, für den die
Unschuldsvermutung gilt, in Haft genommen. Sich aus
der Haft heraus zu wehren, ist außerordentlich schwierig. Deswegen nimmt jemand, der es sich leisten kann,
einen Anwalt. Der Anwalt muss aber rechtzeitig Informationen haben. Nach geltendem Recht konnte man
dem Strafverteidiger, der unmittelbar nach der Verhaftung mandatiert wurde, Akteneinsicht verwehren, weil
der Ermittlungszweck dem entgegenstand. Hier hilft das
neue Gesetz deutlich. Danach müssen dem Strafverteidiger die Aktenteile sofort zur Verfügung gestellt werden,
die er benötigt, um die Rechtmäßigkeit der Anordnung
der U-Haft zu beurteilen.
({0})
- Genau das steht drin, Herr Kollege.
An dem, was ich gerade geschildert habe, merkt man
aber, dass wir im Bereich des Untersuchungshaftrechtes
ein Zweiklassenwahlrecht haben. Derjenige, der es sich
wirtschaftlich leisten kann, nimmt sich einen versierten
Verteidiger. Nach dem in Diskussion stehenden Gesetz
bekommt der Verteidiger sofort Akteneinsicht und kann
sich für seinen Mandaten gegen die Inhaftierung zur
Wehr setzen. Aber was macht derjenige, der das Geld für
einen Verteidiger nicht hat? Nach geltendem Recht bekommt er in aller Regel bei nicht allzu schweren Delikten nach drei Monaten verbüßter Untersuchungshaft einen Verteidiger. Ich habe genügend Erfahrung damit:
Nach drei Monaten braucht der Verteidiger gar nicht
mehr anzutreten. Die sozialen Kontakte und das Arbeitsverhältnis sind weg. Das Mietverhältnis ist aufgelöst.
Daher ist in der ersten Sekunde der Festnahme die Verteidigung das Allerwichtigste.
({1})
Wir müssen den Gesetzentwurf, was diesen Bereich
angeht, kritisch betrachten. Der Gesetzgeber hat im Gesetzentwurf versucht, dieses Problem zu lösen. § 147
Abs. 7 der neuen Fassung der Strafprozessordnung sieht
vor, dass der nicht durch einen Verteidiger vertretene Inhaftierte über seine Rechte angemessen informiert wird.
Diese Krücke wird nicht helfen; denn mancher wird
nicht am Wohnort, sondern zum Beispiel irgendwo in
Norddeutschland - weil er sich dort gerade aufhält - in
Haft genommen, obwohl er in Süddeutschland lebt. Auf
dem sogenannten Schubweg braucht er etwa 14 Tage,
bis er an seinem Wohnortgefängnis angekommen ist.
Wer will ihn dabei informieren? Das heißt, wir müssen
genau diese Lücke im Gesetz schließen. Ich danke dem
Kollegen Danckert. Wir beide unterstützen das Anliegen, dass dort, wo U-Haft angeordnet wird, ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist, und zwar sofort, nicht erst
nach drei Monaten.
({2})
Die Freiheitsentziehung beginnt aber nicht erst mit
der Anordnung von Untersuchungshaft. Nach § 128 der
Strafprozessordnung kann die Polizei nach vorläufiger
Festnahme einen Bürger, gegen den Tatverdacht besteht,
bis zu 48 Stunden in Polizeigewahrsam halten. Auch
dort muss schon interveniert werden. Nach geltendem
Recht mussten die Familienangehörigen erst ab der Anordnung von Untersuchungshaft informiert werden. Das
wird im neuen Gesetz anders geregelt. Sofort nach der
vorläufigen Festnahme sind die Familienangehörigen zu
informieren. Sie leben also nicht 48 Stunden im Ungewissen.
Wir müssen aber nicht nur regeln, dass der Festgenommene sofort nach der vorläufigen Festnahme belehrt
wird, dass er einen Verteidiger in Anspruch nehmen
kann. Vielmehr soll all das, was Kollege Danckert und
ich uns wünschen, schon für den Bereich der vorläufigen
Festnahme gelten. Auch dann soll der Bürger einen Anspruch auf einen Pflichtverteidiger haben, der angemessen informiert werden muss.
({3})
Der Kollege Montag nickt gefällig. - Das ist eine Forderung, die Strafverteidiger seit langem erheben. Wir wissen, dass das den Ländern Kosten verursachen wird.
Aber es steht in Diskussion, die Tagessatzhöhen bei
Geldstrafen, die bisher nach § 40 Abs. 2 des Strafgesetzbuches bei 5 000 Euro enden, deutlich anzuheben. Man
denkt darüber nach, die bisherige Obergrenze von 5 000
Siegfried Kauder ({4})
Euro auf 30 000 Euro anzuheben. Das ergibt für die Länder die Möglichkeit finanzieller Mehreinnahmen, die
man sehr wohl für eine Pflichtverteidigerbestellung einsetzen kann.
({5})
Vielleicht kann man von diesen Mehreinnahmen noch
eine Forderung der Opfer erfüllen, deren Erfüllung bisher am Widerstand der Länder gescheitert ist: 10 Prozent
der Geldstrafen für opferschützende Organisationen.
Sie sehen also: Wenn man will, dann ist einiges machbar. Ich würde mich auf eine weitere Unterstützung unseres Anliegens einer vorgelagerten Pflichtverteidigerbestellung freuen. Wir werden das im Rechtsausschuss
debattieren können.
Ich habe Ihnen zwei Minuten und 57 Sekunden Redezeit erspart.
Vielen Dank.
({6})
Herr Kollege Nešković hat seine Rede zu Protokoll
gegeben1).
Damit hat der Kollege Jerzy Montag für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bedingungen und Grenzen der Beschneidung der Frei-
heit im Rahmen der Untersuchungshaft aufzeigen - das
ist das, was ein Gesetz zur Reform der Untersuchungs-
haft leisten müsste. Dabei - ich stimme Ihnen völlig zu,
Herr Kollege Kauder - streitet für den nicht rechtskräftig
verurteilten Beschuldigten die Unschuldsvermutung.
Beschränkungen der Freiheit sind nur dann, wenn sie
unerlässlich sind, nur dann, wenn sie auf gesetzlicher
Grundlage erfolgen, und nur dann, wenn sie aufgrund
richterlicher Anordnung und richterlicher Durchführung
erfolgen, zulässig. Wir haben aber stattdessen seit Jahr-
zehnten nur § 119 Abs. 3 und Abs. 6 StPO und eine Ver-
waltungsfiktion in der Untersuchungshaftvollzugsord-
nung, wonach jeder Ermittlungsrichter, der sich zu den
Haftbedingungen der Untersuchungshaft nicht äußert, in
jedem einzelnen Fall fingiert alle Bestimmungen der Un-
tersuchungshaftvollzugsordnung für diesen Beschuldig-
ten anordnet.
In der Praxis ist seit Jahrzehnten über diese immer am
Rande der Verfassungswidrigkeit schrammende Praxis
diskutiert worden. Wir haben seit Jahrzehnten Vor-
schläge zur Reform der Untersuchungshaft von Verbän-
den, von Professoren und aus der wissenschaftlichen De-
batte. Ich finde, dass ein Gesetz zur Reform der
Untersuchungshaft den Stand und das Niveau dieser
1) Anlage 6
jahrzehntealten Debatte widerspiegeln müsste. Aber der
Entwurf greift diese Vorschläge mit keinem einzigen
Wort auf. Er beschäftigt sich nicht mit ihnen; sie werden
schlicht ignoriert. Stattdessen - das lesen wir in der Begründung - wird krampfhaft ausgeführt und beteuert,
dass die Regierung und die Koalition nicht mehr kodifizieren möchten, als seit Jahrzehnten in der Untersuchungshaftvollzugsordnung sowieso schon stehe. Dazu
kommt noch das Eingeständnis, dass man nachvollziehen will, wozu die Bundesrepublik Deutschland inzwischen von internationalen Organisationen gezwungen
wird. Sie, Herr Staatssekretär, haben die Entscheidungen
des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter
und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung
oder Bestrafung zitiert. Es gibt auch Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Das,
was von diesen Organisationen von Deutschland verlangt wird, wird mit diesem Gesetzentwurf implementiert - auch da nicht vollständig -, aber nichts mehr. Es
fehlt unendlich viel.
Ich will kurz das Wichtigste nennen. Wir brauchen
eine feste Begrenzung der Dauer der Untersuchungshaft.
Herr Kollege van Essen, Sie haben das angedeutet. Wir
brauchen eine Beiordnung der Verteidigung ab dem ersten Tag der U-Haft; Herr Kollege Kauder, darin sind wir
uns einig. Ich hoffe, dass das Parlament die Kraft haben
wird, das tatsächlich durchzusetzen. Wir brauchen die
volle Akteneinsicht in den Fällen der U-Haft. Herr
Staatssekretär Hartenbach meinte, dass nach der jetzt
vorgeschlagenen Regelung die Akten zur Verfügung zu
stellen sind, die die U-Haft begründen.
({0})
Im Text des Gesetzentwurfs heißt es, es seien der Verteidigung „die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der
Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen in geeigneter Weise zugänglich zu machen“. Das ist eine Karikatur des Rechts auf Akteneinsicht und eine Karikatur
der unabhängigen Verteidigung.
({1})
Die Anordnungen der Freiheitsbeschränkungen müssen
schriftlich und begründet erfolgen. Ihre Ausführung
durch die Staatsanwaltschaft wie auch die Polizei und
die Justizvollzugsanstalt bedarf der Zustimmung der Betroffenen.
Herr Kollege, ich möchte Sie ungern unterbrechen,
aber der Kollege Hartenbach hat eine Zwischenfrage.
Gestatten Sie diese?
Gerne.
Herr Kollege Montag, würden Sie als Jurist zur
Kenntnis nehmen, dass das Recht auf Akteneinsicht seit
etwa 100 Jahren in § 147 Abs. 1 StPO normiert ist?
Würden Sie weiter zur Kenntnis nehmen, dass ich nur
darauf hingewiesen habe? Würden Sie außerdem zur
Kenntnis nehmen, dass die Beschränkung der Akteneinsicht ebenfalls seit langem - ich weiß jetzt nicht, ob auch
seit 100 Jahren - in § 147 Abs. 2 StPO normiert ist und
dass dieser Gesetzentwurf den Schritt vollzieht, dass
dem Inhaftierten und seinem Verteidiger auf jeden Fall
ausreichende Informationen zur Verfügung gestellt werden, damit sie wissen, warum er in U-Haft sitzt, welche
Gründe dazu geführt haben?
Lieber Herr Kollege und Staatssekretär Hartenbach,
ich nehme als Allererstes zur Kenntnis, dass Sie in Ihrer
Rede davon gesprochen haben, dass dem Verteidiger im
Falle einer Inhaftierung seines Mandanten diejenigen
Aktenteile zur Verfügung gestellt werden
({0})
- doch; wortwörtlich haben Sie dies in Ihrer Rede gesagt -,
die die Untersuchungshaft begründen.
({1})
Jetzt hingegen reden Sie davon, dass lediglich Informationen in geeigneter Art und Weise zugänglich zu machen sind.
Ich bleibe bei meiner Einschätzung, da in dem Gesetzentwurf überhaupt nicht klargestellt wird, in welcher
Form dies zu geschehen hat, was geeignet und was wesentlich ist; das wird nicht normiert.
({2})
- Natürlich. - All dies bleibt in den Händen der Staatsanwaltschaft. Deswegen ist dieser Gesetzentwurf sogar
ein Rückschritt gegenüber der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. In der Praxis
wird es zurzeit so gehandhabt, dass diejenigen Aktenteile, die die Haftgründe beinhalten, vorgelegt werden.
Die Formulierung des Gesetzentwurfs fällt dahinter zurück.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Kauder?
Aber sehr gerne. Danke.
Herr Kollege Montag, könnten wir uns auf eine differenziertere Betrachtungsweise einigen? Es gibt den verteidigten Inhaftierten, und es gibt den nicht verteidigten
Inhaftierten. Eines ist schon nach altem Recht so: Das
Recht auf Akteneinsichtnahme steht nicht dem Beschuldigten persönlich zu, und zwar aus gutem Grund - es
kann ja passieren, dass er Aktenteile entnimmt -, sondern nur dem Verteidiger.
Im Gesetzentwurf ist es wie folgt geregelt: Wird der
Inhaftierte verteidigt, hat der Verteidiger ab der vorläufigen Festnahme einen Anspruch auf Einsicht in die wesentlichen Aktenteile, die es ihm ermöglichen, die
Rechtmäßigkeit der Haftanordnung zu beurteilen. Was
Sie zitiert haben, betrifft den nicht verteidigten Inhaftierten. Ihm kann man keine Aktenteile zur Verfügung stellen; ich habe es in meiner Rede erwähnt. Deswegen behilft man sich mit einer Krücke. Man sagt: Der nicht
verteidigte Inhaftierte erhält Informationen, die ihm die
Möglichkeit geben, die Rechtmäßigkeit der Verhaftung
zu beurteilen. Da stellt sich die Frage, wie man ihm
diese Informationen erteilt, wenn er 14 Tage „auf
Schub“ ist. Deswegen sage ich: Für ihn muss man einen
Pflichtverteidiger bestellen.
Bitte, bringen Sie diese beiden Fallvarianten nicht
durcheinander. - Wie ich sehe, nickt der Kollege. Also
können wir uns auf diese Diktion einigen.
({0})
Ich will Ihre Frage nicht nonverbal, sondern verbal
beantworten.
({0})
Ich bin sehr wohl bereit, mit Ihnen jede differenzierte
sachliche Betrachtung nachzuvollziehen.
({1})
Wenn es so ist, wie Sie es jetzt geschildert haben - dass
der verteidigte Angeklagte über den Verteidiger und zu
Händen des Verteidigers die Aktenteile bekommt, in denen die Untersuchungshaft begründet ist -, dann wäre
der Gesetzentwurf die Wiedergabe der Mindestanforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Leider ist in dem Gesetzentwurf bisher noch davon die
Rede, dass die Verteidigung für die Beurteilung der
Rechtmäßigkeit nur Informationen erhalten soll.
Ich schlage vor, dass wir darüber im Rechtsausschuss
diskutieren. Dann können wir uns gegenseitig die Texte
vorhalten und uns überlegen, ob wir vielleicht gemeinsam zu der Überzeugung kommen, dass es, wenn sich
ein Beschuldigter schon in Untersuchungshaft befindet,
überhaupt keinen Grund mehr geben kann, dem Verteidiger nicht die volle Akteneinsicht zu gewähren, weil dann
eine Konterkarierung des Verfolgungszwecks aufseiten
des Verteidigers überhaupt nicht möglich ist.
Wir sehen es so: Dieser Gesetzentwurf ist - bisher jedenfalls - nicht der große Wurf. Er enthält nur das Allermindeste dessen, was notwendig ist. Er reflektiert nicht
die jahrzehntelange Diskussion über eine Reform des
Untersuchungshaftrechts. Er muss in Zusammenarbeit
aller Kolleginnen und Kollegen im Rechtsausschuss
noch erheblich verbessert werden.
Danke.
({2})
Nun hat für die SPD-Fraktion das Wort der Kollege
Dr. Peter Danckert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf bietet uns eine Diskussionsgrundlage. Er nimmt in einigen Bereichen Korrekturen vor, die aus meiner Sicht - man muss es einfach
so sagen - überfällig waren.
Die Norm des § 119 StPO, der bisher die Umstände
der Untersuchungshaft regelt, weist Defizite auf. Jetzt
wird eine neue Rechtsgrundlage geschaffen, die dem in
Untersuchungshaft Befindlichen rechtliche Möglichkeiten eröffnet, sich gegen einzelne Maßnahmen zur Wehr
zu setzen. Das ist überfällig.
Es ist notwendig, dass die Angehörigen rechtzeitig informiert werden und nicht erst nach Wochen genau erfahren, was Sache ist. Auch das ist überfällig; es soll
jetzt geregelt werden.
Ich bin dem Kollegen Kauder sehr dankbar, dass er
zusammen mit mir eine Initiative gestartet hat. - Herr
Kollege Kauder, ich habe das Bedürfnis, auch zu Ihnen
zu reden.
({0})
- Dann schicken Sie ihn auf die Oppositionsbank. Was
macht der eigentlich bei der CDU/CSU?
({1})
- Macht das doch an anderer Stelle. - In einigen Bereichen besteht die Notwendigkeit, Defizite zu beseitigen,
die seit langem vorhanden sind. Lieber Kollege Kauder,
Sie haben davon gesprochen, dass wir im Bereich des
Untersuchungshaftrechtes ein Zweiklassenhaftrecht haben. Das haben wir in der Tat: Einerseits haben wir den
Beschuldigten, der sich von der ersten Minute an einen
Verteidiger leisten kann, welcher sich für ihn einsetzt
und ihn möglicherweise vor der Untersuchungshaft bewahrt; andererseits haben wir den nichtverteidigten Beschuldigten, der festgenommen wird, in Untersuchungshaft wandert und nach drei Monaten - das ist die jetzige
gesetzliche Regelung - möglicherweise Anspruch auf einen Verteidiger hat. Das müssen wir dringend ändern.
Es ist nicht so - das war vielleicht ein kleines Missverständnis -, dass sich nur Unschuldige in Untersuchungshaft befinden. Untersuchungshäftlinge gelten als
unschuldig; das ist ein kleiner Unterschied. Es kann
durchaus sein, dass Personen, die in Untersuchungshaft
kommen, am Ende zu Recht bestraft werden; aber in der
Zeit, in der das noch nicht geklärt ist, gelten sie als unschuldig. In dieser Situation müssen sie maximale
Rechte erhalten. Dazu gehört auch - der Kollege
Dr. Miersch ist, glaube ich, derselben Auffassung -, dass
die Betroffenen von der ersten Minute ihrer vorläufigen
Festnahme an - spätestens jedoch, wenn ihnen ein Haftbefehl ausgestellt wird - Anspruch auf einen Pflichtverteidiger haben. Das ist unverzichtbar. Das gehört sozusagen zum rechtsstaatlichen Standard, den wir gesetzlich
normieren müssen.
Wir schaffen in § 147 StPO eine neue Regelung. Hier
wird jetzt endlich etwas festgelegt, was uns das Bundesverfassungsgericht schon vor Jahren vorgeschrieben hat.
Ich wundere mich sehr, dass das bisher noch nicht Eingang ins Gesetz gefunden hat. Man könnte ja meinen,
dass sich die Untergerichte, wenn das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung zu der Frage trifft, was
dem Anwalt des Beschuldigten bzw. dem Beschuldigten
selbst zur Verfügung gestellt werden muss - dazu sind
grundlegende Entscheidungen getroffen worden -, danach richteten; sie tun es aber leider nicht. Deshalb ist es
richtig, dass wir das jetzt im Gesetz genau regeln.
Lieber Kollege Kauder - ich könnte noch viele andere
ansprechen -, auch hier legen wir viel Wert darauf, dass
es zu einer Gleichbehandlung des Verteidigten und des
Nichtverteidigten kommt. Das kann man nur erreichen,
indem man dem Beschuldigten von der ersten Minute an
einen Verteidiger an die Seite stellt.
({2})
Dazu sind wir, die Gesellschaft, gegenüber jemandem,
der als unschuldig gilt, verpflichtet. Erst wenn man im
Umfeld, vielleicht bei einem Bekannten, miterlebt, dass
es in einer ganz speziellen Situation keine Möglichkeit
zur Verteidigung gibt, versteht man, wie unerlässlich es
ist, verteidigt zu werden. Ansonsten weiß man nämlich
gar nicht, wie man sich wehren kann und welche Rechte
man hat.
Ich halte es an dieser Stelle auch für unverzichtbar
- das müssen wir im Rahmen der Ausschussberatungen
regeln -, dass die Informationen über das, was zur Verhaftung geführt hat, auch dem nichtverteidigten
Beschuldigten gegeben werden - wir plädieren für Verteidigung von der ersten Minute an - und damit Gleichstellung erfolgt. Schon als Strafverteidiger habe ich nicht
verstanden, warum der unverteidigte Beschuldigte bisher darauf verwiesen wird, dass er die Akten erst erhält,
wenn er einen Verteidiger hat.
Herr Kollege, darf ich Sie an die Redezeit erinnern?
Ja, die Redezeit. Ich nehme die Redezeit des Kollegen
Nešković mit in Anspruch.
({0})
So einfach geht es leider nicht.
Liebe Frau Präsidentin, es ist ja die letzte Rede für
heute. Unsere Gäste hier würden sich wundern, wenn
wir schon um 19.06 Uhr Feierabend machten.
({0})
Für all das habe ich Verständnis. Ich muss Sie trotzdem darauf hinweisen.
Ich denke, es ist richtig, dass der Beschuldigte jederzeit weiß, was ihm konkret vorgeworfen wird und worauf er sich einzustellen hat. Die bisherige Regelung
weist ja starke Defizite auf und wird im Übrigen häufig
auch missbraucht, weil nach § 147 Abs. 2 der Strafprozessordnung eine Akteneinsicht verwehrt werden kann,
wenn der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Eine
Entscheidung hierüber unterliegt in der Regel der subjektiven Brille des Staatsanwalts. Sie ist dann nicht einmal
anfechtbar, sie kann selbst gerichtlich nicht überprüft werden. Es kann allenfalls eine Dienstaufsichtsbeschwerde
erhoben werden. Das ist aber meistens fruchtlos. Auch
hier müssen wir also für mehr Rechtsstaatlichkeit sorgen.
Ich glaube, die unserer Beratung zugrunde liegende
Vorlage sollte von uns dafür genutzt werden, eingehender über das Untersuchungshaftrecht nachzudenken.
({0})
Den Kollegen, die das vertieft tun wollen, empfehle ich
meine grundlegenden Ausführungen in den Mitteilungen
der Bundesrechtsanwaltskammer aus dem Jahre 1988,
({1})
die ich als Mitglied des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer gemacht habe.
({2})
Herr Kollege, wir werden das alles nachlesen.
Wir sollten diese Ausführungen im Übrigen in unsere
Beratungen einbeziehen.
Ich bedanke mich für Ihre Geduld, nicht zuletzt bei
den Schriftführerinnen.
({0})
- Selbstverständlich auch bei Ihnen, liebe Kolleginnen
und Kollegen. - Ich hoffe auf eine fruchtbare, intensive
und weiterführende Beratung sowie dann eine gute Entscheidung des deutschen Parlaments.
Vielen Dank.
({1})
Damit ist die Aussprache zu diesem Punkt geschlossen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/11644 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Die
Überweisung ist damit so beschlossen. Dann können Sie
alle das noch schön vertiefen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Entschädigungsregelung für durch Blutprodukte mit HCV infizierte Bluter schaffen
- Drucksache 16/11685 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Haushaltsausschuss
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben: Jens Spahn, Christian Kleiminger, Dr. Konrad Schily, Frank Spieth, Dr. Harald
Terpe und Parlamentarischer Staatssekretär Rolf Schwanitz.
Die Infektionen mit dem Hepatitis-C-Virus ({0}) in
den 1980er-Jahren, die durch die Anwendung von Blutprodukten ausgelöst wurden, haben vor allem die Gruppe
der Hämophilen betroffen, die aufgrund ihrer Erkrankung regelmäßig auf die Gabe von Blutplasmaprodukten
angewiesen sind. Aber auch andere Patienten sind durch
Blutprodukte mit dem HCV infiziert worden. Uns ist die
Tragik dieser Infektionen für die Betroffenen sehr bewusst
und unser Mitgefühl gilt den Menschen, die mit dem HCVirus infiziert wurden. Sie und ihre Angehörige hatten
und haben eine große gesundheitliche und psychische Belastung zu tragen.
Einen Grund für eine staatliche Entschädigungsregelung, wie sie nun im vorliegenden Antrag gefordert wird,
sehe ich jedoch nicht. Eine Entschädigungsregelung des
Bundes kann es nur geben, wenn staatliche Rechts- oder
Prüfungsaufsichten verletzt wurden. Eine staatliche Verantwortung für die HCV-Infektionen, die haftungsrechtlich relevant wäre oder die Verpflichtung zu einer Entschädigung auslösen würde, trifft die Bundesrepublik
Deutschland aber nicht. Im Ergebnis wird meine Ansicht
auch von der Rechtsprechung geteilt, welche in den bisherigen Verfahren die Entschädigungsansprüche gegen
den Bund unter anderem aufgrund mangelnder Kausalitätsnachweise ablehnt.
Ein Staatsversagen lässt sich auch deshalb nicht eindeutig feststellen, da es sich bei dem Infektionsgeschehen
zum damaligen Zeitpunkt wohl - so hart das klingt - um
unvermeidbare Ereignisse handelte. Schließlich ließ sich
bis weit in die 80er-Jahre kein Verfahren finden, welches
eine Infizierung von Blutprodukten mit HC-Viren vollständig ausschließen konnte. Auch die häufig angeführte
sogenannte ALT-Testung und andere damals bekannte
Verfahren waren nicht hinreichend spezifiziert, um eine
sichere Aussage über die Durchseuchung mit HCV zu
treffen. Darüber hinaus war die seit 1976 in Deutschland
vorgeschriebene ALT-Testung ohne nennenswerten Einfluss
auf das Infektionsgeschehen bei Hämophilen, da diese
Patientengruppe mit Plasmapräparaten behandelt wird,
bei deren Herstellung tausende Einzelspenden gepoolt
werden. Der unvermeidliche HCV-Eintrag in Plasmapools basiert hauptsächlich auf chronisch HCV-infizierten Personen, die meist nur sporadisch ALT-Erhöhungen
aufweisen. Erst durch den spezifischen Anti-HCV-Test
konnten endlich die HCV-positiven Spenden identifiziert
werden.
Die häufige Bezugnahme in der Argumentation für
eine Entschädigungsregelung auf die finanzielle Hilfe für
die durch Blutprodukte HIV-infizierten Personen, wie sie
auch im vorliegenden Antrag genommen wird, führt im
Zusammenhang mit der Entschädigungsforderung für
HCV-Infizierte zu Verwirrung. Der vom Deutschen Bundestag eingesetzte 3. Untersuchungsausschuss „HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte“ in der 12. Legislaturperiode erhob die Forderung nach einer finanziellen
Unterstützung für die durch Blutprodukte HIV-Infizierten, welche der Bund auch direkt erfüllte. Eine Entschädigungsregelung oder humanitäre Hilfe für die durch
Blutprodukte mit Hepatitiserregern infizierten Personen
forderte er jedoch nicht. Insofern stellt sich die Sachlage
bei den HIV-Infektionen anders dar. Es wurde eindeutig
eine seinerzeitige Verantwortung des Staates durch den
Untersuchungsausschuss zugewiesen. Zudem ist eine
HIV-Infektion trotz aller Fortschritte in der medizinischen Behandlung im Gegensatz zur HCV-Infektion noch
immer in jedem Fall ein Todesurteil. Auch dies muss zu
einer anderen Bewertung führen. Wichtig ist es, in jedem
Fall sicherzustellen - und das ist bei uns in Deutschland
auch sichergestellt -, dass die HCV-Infizierten Zugang zu
einer flächendeckenden, hochwertigen Versorgung haben.
Bei Verweisen auf Entschädigungsregelungen anderer
Länder muss dieser Punkt differenziert betrachtet werden. Diese Länder weisen eine im Vergleich zur Bundesrepublik abweichende staatliche Verantwortung für das
Gesundheitswesen und die Versorgung von Patienten auf.
Anbieter der Blutprodukte sind innerhalb Deutschlands
weitgehend private Unternehmen oder Einrichtungen,
welche nach der Rechtsverordnung der Bundesrepublik
Deutschland grundsätzlich eigenverantwortlich handeln
und zivil- und strafrechtlich verantwortlich sind. Auch die
stationäre und ambulante Versorgung der Bevölkerung
ist in der Bundesrepublik weitgehend nicht staatlich organisiert.
Zu erwähnen ist aber auch, dass die Bundesregierung
wiederholt um eine gemeinsame Initiative für humanitäre
Hilfe für durch Blutprodukte HCV-infizierte Personen bei
den Unternehmen der pharmazeutischen Industrie, den
Blutspendediensten des Deutschen Roten Kreuzes und
den Ländern bemüht war, jedoch bei diesen auf Ablehnung stieß. Es ist zu wünschen, dass die Bundesregierung
die Gespräche mit den genannten Partnern, darunter natürlich auch den betroffenen Patientenverbänden, fortsetzt und vertieft.
Wir sprechen heute über den Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Entschädigungsregelung für durch
Blutprodukte mit HCV infizierte Bluter schaffen“. Auch
wenn das Schicksal der von einer durch Blutprodukte verursachten Hepatitis-C-Infektion betroffenen Patientengruppe bislang in dieser Legislaturperiode noch nicht
Gegenstand einer Plenardebatte war, so haben wir uns
doch auch als Parlamentarier zu verschiedenen Gelegenheiten - im Ausschuss und auch im Berichterstattergespräch und ich auch persönlich in Gesprächen mit Betroffenen - ausführlich mit der Problematik befasst. Ich
will ausdrücklich sagen, dass es sich hier jenseits aller
fachlichen und juristischen Erwägungen auch menschlich um eine außerordentlich schwierige Materie handelt.
Ich meine allerdings, dass die Linke mit ihrem Antrag der
Komplexität der mit einer Entschädigungsregelung verbundenen Fragen und der Verantwortung gegenüber den
betroffenen Menschen nicht gerecht wird. Auch die Begründung ihres Antrages weist unzulässige Verkürzungen
auf.
Um es aber deutlich zu sagen: Keiner möchte das Leid,
das den Betroffenen durch eine Infizierung mit Hepatitis C entstanden ist, leugnen: HCV ist eine - meist chronisch verlaufende - Krankheit, die auch zu schwerwiegenden Erkrankungen wie Leberzirrhosen oder auch Leberkarzinomen führen kann. Der Leidensweg vieler
Erkrankter macht mich persönlich betroffen. Dennoch ist
es nicht korrekt, wenn man die von Hepatitis C betroffene
Patientengruppe undifferenziert mit derjenigen Gruppe
gleichsetzt, die mit dem HI-Virus infiziert wurde, aufgrund dessen 1995 die „Stiftung Humanitäre Hilfe für
durch Blutprodukte infizierte Menschen“ eingerichtet
wurde. Denn bei Aids handelte es sich damals, als die Stiftung gegen den anfänglichen Widerstand unter anderem
der Pharmaindustrie eingerichtet wurde, um eine in jedem Falle tödlich verlaufende Krankheit. Allein deshalb
war eine schnelle, unbürokratische Hilfe durch die Stiftung, an der sich Bund, Länder, die Pharmaindustrie und
die Blutspendedienste beteiligten, so wichtig. Und auch
heute, wo der Krankheitsverlauf bei Aids mehr und mehr
chronisch wird, sind die modernen Therapien weiterhin
mit ganz erheblichen Nebenwirkungen und hierdurch
auch mit einer Beeinträchtigung in der Lebensqualität
verbunden.
Entgegen der Behauptung der Fraktion Die Linke gibt
es auch keinen zwingenden Nachweis dafür, dass im fraglichen Zeitraum in den 70er- und 80er-Jahren nach dem
damaligen allgemeinen Kenntnisstand tatsächlich und
nachweisbar eine Infizierung mit HCV tatsächlich hätte
verhindert werden können. Insoweit macht man es sich
auch zu einfach, diese Problematik allein aus der heutigen Sicht zu betrachten, mit dem Wissen, den Möglichkeiten und der Medizin von heute.
Um die Betroffenen nicht mit ihrem Schicksal allein zu
lassen, haben wir in der Vergangenheit die Bemühungen
Zu Protokoll gegebene Reden
der Bundesregierung für eine humanitäre Hilfe unterstützt. Alle Bemühungen, mit dem Roten Kreuz, der pharmazeutischen Industrie und den Ländern zu einer gemeinsamen freiwilligen Regelung zu kommen, scheiterten
jedoch, und dies bereits zu Zeiten, als die Grünen die
Bundesgesundheitsministerin stellten.
Mir ist übrigens trotz intensiver Recherche keine Initiative aus jenen Jahren bekannt, in denen die PDS das
Gesundheitsressort in meinem Bundesland MecklenburgVorpommern innehatte. Dazu wäre damals doch ausreichend Gelegenheit gewesen.
Der Antrag der Fraktion Die Linke ist deshalb wohl
dem bevorstehenden Wahlkampf geschuldet. Dafür ist
mir allerdings die Sache zu ernst. Im Interesse der Betroffenen sollten wir nicht weiter Hoffnungen schüren, die in
Form von Entschädigungszahlungen - durch den Bund
allein - nicht erfüllt werden können.
Die FDP-Bundestagsfraktion bedauert sehr, dass es im
Rahmen der lebensnotwendigen Therapie von überwiegend an Hämophilie erkrankten Patientinnen und Patienten durch die Anwendung von mit HCV-Viren verseuchtem
Blut bzw. verseuchten Blutprodukten zu HCV-Infektionen
gekommen ist. Je nach Ausprägungsgrad der Krankheit ist
für die Betroffenen hieraus zum Teil großes Leid entstanden,
und sie müssen zahlreiche Einschränkungen ihres Lebens in
Kauf nehmen.
Die immer wieder diskutierte Frage, ob diese Infektionen zum damaligen Zeitpunkt hätten vermieden werden
können, darf nicht anhand der heute vorhandenen Erkenntnisse beantwortet werden. Vielmehr müssen die damalige
Situation und die damaligen Erkenntnisse berücksichtigt
werden. Hier geht der Antrag der Linken fehl. Eine staatliche Verantwortung, die zu haftungsrechtlichen Entschädigungsansprüchen führen würde, ist nach Angaben des
Bundesgesundheitsministeriums nicht gegeben. Gerichtsverfahren haben in dieser Hinsicht nichts anderes ergeben.
Der 3. Untersuchungsausschuss in der 12. Legislaturperiode „HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte“ hat in
seinem Schlussbericht im Gegensatz zu den HIV-Infizierten
für die HVC-Infizierten keine konkreten Forderungen für
eine Entschädigung oder humanitäre Hilfen aufgestellt. Aus
Anteilnahme an dem Schicksal der Betroffenen ist dennoch
auch auf Betreiben der FDP wiederholt der Versuch unternommen worden, in Analogie zu dem HIV-Hilfefonds zusammen mit den pharmazeutischen Unternehmen, den Blutspendediensten des Deutschen Roten Kreuzes und den Ländern
zu einer einvernehmlichen Lösung im Sinne der Betroffenen
zu kommen. Dies ist jedoch leider nicht gelungen. Es ist auch
nicht zu erwarten, dass sich an dieser Haltung im Hinblick
auf die Beurteilung der Situation etwas ändern wird. Insofern werden mit dem Antrag falsche Hoffnungen geweckt.
In den 1980er-Jahren wurden einige Tausend Menschen durch einen Arzneimittelskandal mit dem Hepatitis-C-Virus, HCV, der zu schweren Krankheiten führt, infiziert. Verantwortlich für diesen Skandal waren in der
Bundesrepublik Deutschland das Bundesgesundheitsamt,
die Pharmaindustrie, die Behandler und die Blutspendedienste. Das behauptet nicht die Linke, sondern das hat
der Bundestag bereits 1994 durch einen Untersuchungsausschuss festgestellt. Dennoch haben die Bundesregierungen Kohl, Schröder und Merkel bisher diesen Menschen eine Entschädigungsregelung verweigert.
Wie kam es dazu? Blutern fehlt ein Gerinnungsstoff,
sodass sie bei geringsten Verletzungen verbluten können.
Seit den 1960er-Jahren kann man ein Gerinnungsmittel
aus Blutspenden gewinnen und als Medikament einsetzen. Dieses Medikament hatte aber die Folge, dass sich
Bluter mit Krankheiten der Blutspender infizierten. Seit
1977 gab es aber ein funktionierendes Verfahren, mit dem
man Spenderblut behandeln konnte und gefährliche Viren
wie das Hepatitis-C-Virus oder auch HIV abtöten konnte.
Nach Tests und Arzneimittelzulassungsverfahren hätten
die alten, verseuchten Medikamente ab 1982, 1983 nicht
mehr verabreicht werden dürfen. Aber die betroffenen
Bluter wurden teils in den Praxen und in den Krankenhäusern bis 1987 weiter damit behandelt. Erst 1989
wurde die Virusinaktivierung zur Auflage gemacht.
Bis dahin infizierten sich mehrere Tausend Menschen
mit HIV und HCV - oder beiden Viren. Für die mit HIV
infizierten Menschen wurde infolge des Untersuchungsberichts völlig zu Recht das HIV-Hilfegesetz auf den Weg
gebracht. Für diese Gruppe gab es nun eine Entschädigungsregelung. Nicht jedoch für die mit HCV Infizierten.
Die Linke hat dieses Thema im Gesundheitsausschuss
schon mehrfach zur Sprache gebracht und fordert für die
Betroffenen eine Lösung. Dafür gab es auch durchaus
Sympathien bei den anderen Oppositionsfraktionen.
CDU/CSU und SPD und die Bundesregierung wehren
sich jedoch dagegen. Es bestehe keine haftungsrechtliche
Verpflichtung für eine Entschädigung, außerdem sei die
Pharmaindustrie nicht bereit, etwas zu zahlen. Die einzige Schlussfolgerung, die das SPD-geführte Gesundheitsministerium daraus gezogen hat: Die Betroffenen
wurden eingeladen. Es wurde ihnen aber lediglich erklärt, warum Koalition und Regierung keine Entschädigungslösung beabsichtigen.
Es drängt sich der Eindruck auf: Hier wird auf Zeit gespielt und auf die biologische Lösung des Problems. Denn
nach einer österreichischen Studie verkürzt eine HCV-Infektion das Leben um etwa 18 Jahre. In meinen Augen ist
die Untätigkeit der Bundesregierung ein Skandal.
Nicht nur in Deutschland gab es diese Infektionen,
sondern in vielen Ländern. Diese gehen anders mit der
Situation um, zum Beispiel Irland, Großbritannien, Italien, Spanien, Schweden und Ungarn. Dort wurden Entschädigungsregelungen eingeführt. Anfang 2008 ist auch
Japan nachgezogen. Dort hat die Regierung ihre Verantwortung für die Infektionen ausdrücklich anerkannt, bei
den Betroffenen um Entschuldigung gebeten und eine
Einmalzahlung von bis zu etwa 250 000 Euro beschlossen. Und vor wenigen Wochen hat auch Frankreich eine
Entschädigung beschlossen.
Die Fraktion Die Linke fordert deshalb erstens eine
umfassende Entschädigungslösung, zweitens an dieser
Entschädigungslösung die Pharmaindustrie zu beteiliZu Protokoll gegebene Reden
gen, drittens die Entschädigung rückwirkend zu zahlen.
Viertens. Alternativ zu monatlichen Zahlungen könnten
auch einmalige Abfindungen gezahlt werden.
Kurz: Die Linke fordert die Bundesregierung auf, umgehend zu handeln und dem japanischen und den europäischen Beispielen zu folgen.
Man muss sich fragen, warum wir heute - 25 Jahre
nachdem sich hunderte Bluter durch ein staatliches Versäumnis mit Hepatitis C infizierten - noch darüber debattieren müssen, ob diesen Betroffenen eine Entschädigung
gewährt werden sollte oder nicht. Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand. Ich begrüße, dass sich die Linke
nunmehr der Forderung der Grünen anschließt, eine humanitäre Entschädigung für durch Blutprodukte mit HCV
infizierte Bluter durchzusetzen. Unsere Fraktion hat bereits im letzten Jahr einen entsprechenden Antrag eingebracht, der sich weitgehend mit den Forderungen des
heute zur Debatte stehenden Antrags deckt.
Die Auffassung der Bundesregierung, bei diesen Infektionen handele es sich um ein „unvermeidbares Ereignis“, ist nicht haltbar. Dies hat der Bericht des Untersuchungsausschusses „HIV-Infektionen durch Blut und
Blutprodukte“ eindeutig gezeigt.
Seit spätestens Anfang der 70er-Jahre wusste das Bundesgesundheitsamt von der Gefahr, dass eine virale ({0})Hepatitis durch infizierte Blutspenden und Blutprodukte übertragen werden konnte. Spätestens ab 1981
standen alternativ virusinaktivierte Präparate zur Verfügung, bei denen eine solche Gefahr nicht bestand. Dennoch wurden bis 1985 auch weiterhin nicht inaktivierte
Produkte zugelassen, obwohl beispielsweise Faktor-VIIIHochkonzentrate spätestens ab 1983 als bedenkliche Arzneimittel hätten eingestuft und ihre Verkehrsfähigkeit verlieren müssen.
Das Bundesgesundheitsamt ist damals auf dieses Risiko wiederholt hingewiesen worden. Dennoch verharrte
es in seiner Untätigkeit - fast wie jetzt die Bundesregierung im Hinblick auf die Schaffung einer angemessenen
Entschädigungsregelung. Das Bundesgesundheitsamt
hat es damals weder für notwendig erachtet, die Zulassung solcher Risikoprodukte zu widerrufen oder ruhen zu
lassen, noch die Auflage erteilt, derartige Produkte zukünftig nur noch nach einer Inaktivierung auf den Markt
zu bringen. In diesem Zusammenhang ist es auch völlig
unerheblich, ob damals bereits ein entsprechender Antikörpertest zur Verfügung stand oder nicht. Zu Recht hat
der Untersuchungsausschuss zu HIV und Aids diese Untätigkeit auch im Falle der Infektionen mit Hepatitis C als
schuldhafte Amtspflichtverletzung gewertet.
Die Entschädigung der Menschen, die in diesem Zeitraum infiziert wurden, ist dringend notwendig. Das Leid,
dass diese Menschen durch ihre Infektion erfahren haben,
kann nicht rückgängig gemacht werden. Aber angesichts
der bislang von der Bundesregierung gezeigten Verweigerungshaltung wäre der Einsatz für eine solche Entschädigung auch und in erster Linie ein Zeichen politischer
Reife, weil sie die staatliche Mitverantwortung für das
Geschehene nicht mehr kategorisch leugnet, und ein
überfälliger Ausdruck des Bedauerns.
Der Untersuchungsausschuss zu HIV und Aids hat
1995 klare Versäumnisse des damaligen Bundesgesundheitsamtes festgestellt. Auf dieser Grundlage wurde eine
Entschädigungsregelung für diejenigen Menschen geschaffen, die sich durch verseuchte Blutprodukte mit HIV
infiziert hatten. Ursache dieser Infektionen waren exakt
dieselben Versäumnisse, die zur Infektion der Hämophilieerkrankten mit Hepatitis C führten.
Es ist eine Missachtung des Parlaments, dass die Bundesregierung die Erkenntnisse dieses parlamentarischen
Untersuchungsausschusses ignoriert. Und es ist eine
Missachtung des Parlaments, dass die Bundesregierung
seit Jahren versucht, den Sachverhalt immer weiter zu
vernebeln, statt eine gerechte Entschädigungslösung zu
schaffen. Es ist vor allem aber eine Ungeheuerlichkeit,
wie die Bundesregierung Tatsachen leugnet und diesen
Menschen Gerechtigkeit verwehrt. Fiskalische Erwägungen vermögen dieses sture Beharren nicht zu erklären
ebenso wenig wie die Angst vor weiteren juristischen
Auseinandersetzungen. Mir drängt sich der Eindruck auf,
dass es sich hier in erster Linie um einen verzweifelten
Versuch der Gesichtswahrung handelt, die ein vor
25 Jahren stattgefundenes staatliches Versagen einfach
negieren will. Verlierer sind dabei die Betroffenen.
Es ist an der Zeit, eine gerechte Entschädigungsregelung zu schaffen und dabei alle damals beteiligten Akteure - den Bund, die Länder, pharmazeutische Unternehmen und Blutspendedienste - einzubeziehen. Ein Vorbild
gibt es dafür bereits: das 1995 beschlossene HIV-Hilfegesetz. Ich fordere daher die Kollegen von den Koalitionsfraktionen auf, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen und
sich schnellstmöglich für eine humanitäre Entschädigung
der Erkrankten einzusetzen.
Die Bundesregierung bedauert es sehr, dass in den
70er- und 80er-Jahren durch Blutprodukte Patientinnen
und Patienten mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert worden
sind. Betroffen sind vor allem Bluter, die zu dieser Zeit mit
Gerinnungsfaktoren behandelt wurden. Es ist uns bewusst, dass die Hepatitis C eine sehr schwerwiegende
Krankheit sein und sich auch lebensbedrohlich auswirken
kann.
Die Infektionsgeschehen sind in der Vergangenheit
wiederholt erörtert worden, insbesondere im Untersuchungsausschuss „HIV-Infektionen durch Blut und
Blutprodukte“ in der 12. Legislaturperiode, im Ausschuss
für Gesundheit des Deutschen Bundestages - zuletzt im
Frühjahr 2008 - sowie anlässlich verschiedener parlamentarischer Anfragen und Anträge.
Die Bundesregierung ist mit den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD der Meinung, dass die HCV-Infektionen
durch Blutprodukte tragische, aber unvermeidliche Ereignisse gewesen sind. Eine staatliche Verpflichtung zu einer
Entschädigung oder humanitären Hilfe besteht nicht. Das
haben Gerichtsentscheidungen bestätigt. Und auch der
Zu Protokoll gegebene Reden
Bericht des damaligen Untersuchungsausschusses des
Deutschen Bundestages „HIV-Infektionen durch Blut und
Blutprodukte“ hat letztlich keine rechtlich zwingenden
Feststellungen getroffen. Deshalb hatte der Untersuchungsausschuss auch nicht die Forderung nach einer
Entschädigung oder humanitären Hilfe für HCV-infizierte Personen erhoben.
Die Bundesregierung hat großes Verständnis für die betroffenen Patientinnen und Patienten. Sie sind unverschuldet in diese Situation geraten und erwarten Hilfe. Deshalb
hatte sich das Bundesministerium für Gesundheit schon
unter Minister Seehofer und später durch Ministerin Fischer an die Gesundheitsminister der Länder gewandt, um
eine weitere gemeinsame Hilfeaktion auf freiwilliger Basis
zu vereinbaren. Die Länder haben das klar und deutlich
abgelehnt. Auch die betroffenen pharmazeutischen Unternehmen und die Blutspendedienste des Deutschen Roten
Kreuzes haben eine solche gemeinsame Aktion mehrfach
zurückgewiesen.
Die Bundesregierung sieht keine Möglichkeit, dass der
Bund diese Hilfe alleine finanziert. Diese Einschätzung
wird von den Fraktionen von CDU/CSU und SPD im Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages geteilt.
Diese Position ist auch mit den Vertretern der Patientenverbände Ende letztes Jahr erörtert worden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11685 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 18:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung der Bundesnotarordnung ({0})
- Drucksache 16/4972 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 16/11906 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Hans-Christian Ströbele
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
hier die Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Michael Grosse-Brömer, Christoph Strässer, Mechthild Dyckmans, Wolfgang Nešković, Jerzy Montag, Parlamentarischer Staatssekretär Alfred Hartenbach.
Heute wollen wir in zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf zur Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnotariat beschließen. Dies begrüße ich aus mehreren
Gründen ausdrücklich. Zunächst wird durch die geplante
Anpassung der Bundesnotarordnung dem Regelungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts vom 20. April 2004
entsprochen. Damals hat das Verfassungsgericht dem
Gesetzgeber eine Novellierung des Zugangs zum Anwaltsnotariat aufgegeben, die dem Prinzip der Bestenauslese eine höhere Gewichtung einräumt. Dieser Auftrag wird heute erfüllt.
Wir beschließen die notwendig gewordene Anpassung
heute in diesem Hohen Hause, damit das Anwaltsnotariat
sein hohes Ansehen in der Bevölkerung beibehält. Der Institution des Anwaltsnotariats wird durch den Gesetzentwurf gedient, weil die Novelle eine stärkere Berücksichtigung notarspezifischer Fachkenntnisse und damit ein
durchgehend hohes fachliches Niveau sicherstellt. Der
Entwurf dient aber auch den einzelnen Notaranwärtern,
weil er ihnen größere Rechts- und Planungssicherheit
verschafft. Letzteres halte ich, der ich selbst viele Jahre
als Anwaltsnotar tätig war, für einen in seiner Bedeutung
nicht zu unterschätzenden Aspekt. Anwältinnen und Anwälte, die beschließen, das Amt des Anwaltsnotars bekleiden zu wollen, müssen wissen, worauf sie sich einlassen
und wie ihre Chancen auf eine Zulassung stehen. Diese
Berechenbarkeit eines Lebensentwurfs ist für die Betroffenen von großer Wichtigkeit. Das habe ich aus vielen
Schreiben und Telefonaten erfahren, die mich seit der
Einbringung der Initiative und verstärkt seit der ersten
Lesung in diesem Hohen Hause im Mai letzten Jahres erreicht haben.
Der heute unter Tagesordnungspunkt 18 gegenständliche Gesetzentwurf verdient also bereits deshalb Zustimmung, weil er einen Regelungsauftrag des höchsten deutschen Gerichts umsetzt und für die Beteiligten Planungsund Rechtssicherheit schafft. Ich halte den Entwurf aber
auch wegen seines materiellen Regelungsgehalts für
überzeugend. Dies möchte ich nachfolgend anhand
dreier Punkte näher darlegen.
Erstens bewirkt der Entwurf, dass künftig nur diejenigen als Anwaltsnotare zugelassen werden, die für diesen
Beruf und diese Berufung objektiv die beste Eignung mitbringen. Wer das von mehreren Bewerbern im Einzelfall
ist, wird de lege ferenda anhand einer Punktzahl zu ermitteln sein, die sich zu 40 Prozent nach dem Ergebnis des
zweiten juristischen Staatsexamens und zu 60 Prozent
nach dem Ergebnis einer notariellen Fachprüfung bemisst. Die Einführung dieser notariellen Fachprüfung
stellt gewissermaßen das Kernstück der hier maßgebenden Bundesnotarordnungsnovelle dar. In vier schriftlichen Aufsichtsarbeiten sowie in einer mündlichen Prüfung müssen Notaranwärter vor einem eigens dafür bei
der Bundesnotarkammer einzurichtenden Prüfungsamt
ihre Fachkenntnisse unter Beweis stellen. Der Prüfungsumfang wurde dabei im Vergleich zum Ursprungsentwurf
abgespeckt. Das wird der Bestenauswahl keinen Abbruch
tun.
Der zweite Grund, weshalb ich für eine breite Zustimmung zu dem uns vorliegenden Entwurf werben möchte,
ist dessen Festhalten am Leitbild des Notars als Träger
eines öffentlichen Amtes. Wer sich unter dem Berufsbild
des Notars lediglich einen „Urkundenvorleser“ vorstellt,
hat weit gefehlt. Als Mittler zwischen den Interessen sorgen Notare in dem für jede Gesellschaft so elementar
wichtigen Bereich des außergerichtlichen Rechts für einen adäquaten Ausgleich unterschiedlicher Interessen.
Diese Hoheitsaufgabe verdeutlicht übrigens ganz plastisch das Amtsschild des Notars mit dem entsprechenden
Landeswappen.
Um die unbedingt erforderliche Unabhängigkeit und
Überparteilichkeit auch künftig zu gewährleisten, muss
der zu bestellende Notar - wie bereits de lege lata - seit
mindestens drei Jahren ununterbrochen in dem in Aussicht genommenen Amtsbereich als Anwalt tätig gewesen
sein. Insgesamt muss ein Bewerber mindestens fünf Jahre
in nicht unerheblichem Umfang die Tätigkeit des Rechtsanwalts ausgeübt haben. Diese Voraussetzungen sollen
sicherstellen, dass ein Notar über hinreichende Kenntnis
der örtlichen Gegebenheiten, über notwendige Kontakte
und über jene finanzielle Unabhängigkeit verfügt, die von
einem Träger eines öffentlichen Amtes zwingend einzufordern ist.
Als dritten Punkt möchte ich schließlich auf eine durch
die Novelle zu erzielende Verbesserung der Rechtslage
eingehen, die vor allem den am Anwaltsnotariat interessierten Rechtsanwältinnen und deren Familien zugutekommen dürfte. Bereits anlässlich der ersten Lesung des
Entwurfs am 8. Mai 2008 habe ich auf das Problem des
geringen Anteils der Frauen bei den Anwaltsnotaren hingewiesen. Dieser bedauerliche Umstand war und ist
maßgeblich auf den derzeit noch bestehenden „Zwang
zum Scheinesammeln“ zurückzuführen. Bislang gestaltete sich die faktische Situation nämlich so, dass Notaraspiranten ihre Chancen auf Zulassung durch ein Anhäufen
von Fortbildungsnachweisen verbessern konnten. Da allerdings die entsprechenden Fortbildungsveranstaltungen hauptsächlich an Wochenenden stattfanden, hatten es
Anwältinnen und vor allem Anwältinnen mit Kindern
häufig schwerer als andere. Hier sorgt die Neuregelung
des Zugangs zum Anwaltsnotariat für Abhilfe. Wie beschrieben, soll es künftig mit der notariellen Fachprüfung
maßgeblich auf die Qualität und nicht mehr auf die Quantität der Fachkenntnisse ankommen. Obgleich von den
Bewerbern umfassende Kenntnisse verlangt werden, wird
künftig eine berufsbegleitende Vorbereitung eher möglich
sein, als dies bislang der Fall war. Wenn Juristinnen, wie
in der öffentlichen Anhörung mehrfach vorgetragen
wurde, im zweiten juristischen Staatsexamen eine höhere
Durchschnittsnote erzielen als ihre männlichen Kollegen,
dürfte dies zusammen mit der notariellen Fachprüfung zu
einem insgesamt höheren Frauenanteil bei den Anwaltsnotaren führen.
Des Weiteren möchte ich positiv hervorheben, dass die
im Entwurf bestimmte Übergangsfrist von 24 Monaten
allen Beteiligten hinreichend Zeit einräumt, sich auf die
geänderten Zugangsvoraussetzungen einzustellen.
Abschließend möchte ich einen Punkt ansprechen, der
nicht Gegenstand dieses Gesetzentwurfs ist, aber im direkten Zusammenhang damit steht. Es handelt sich um die
angemessene Vergütung der Notare in Deutschland. Das
Notarkostenrecht soll mittelfristig angepasst werden. Dafür ist es auch höchste Zeit. Das Bundesjustizministerium
hat am 10. Februar 2009 ein entsprechendes Expertengutachten vorgestellt und angekündigt, die Ergebnisse
der eingesetzten Kommission mit Blick auf einen möglichen Referentenentwurf eingehend zu prüfen. Ziel muss
es sein, die Kostenordnung nach oben anzupassen. Das
Recht der Notare wird sich somit weiterentwickeln.
Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs zur Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnotariat einen wichtigen
Beitrag für ein unverändert hohes Niveau der deutschen
Rechtspflege darstellt.
Ich freue mich, dass wir mit dem vorliegenden, in zweiter und dritter Lesung zu verabschiedenden Gesetzentwurf
zur Neuregelung des Zugangs des Anwaltsnotariats ein
Gesetz verabschieden werden, das auf ganz überwiegende
Zustimmung sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch bei
den Sachverständigen in der Anhörung des Rechtsausschusses und bei meinen Kolleginnen und Kollegen der
anderen Fraktionen stößt.
Das Gesetzgebungsverfahren wurde nötig, da die jetzige Verwaltungspraxis dem Grundrecht auf freie Berufswahl nicht hinreichend Rechnung trage, wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung feststellte.
Letztlich beschränkte sich die Verwaltungspraxis beim
Auswahlverfahren auf das Ergebnis des zweiten Staatsexamens und auf eine formalisierte Auswahl nach eher
quantitativ bestimmten Kriterien. Es fehlte beim Zugang
zum Anwaltsnotariat vor allem an einer konkreten und
einzelfallbezogenen Bewertung der fachlichen Leistung
des Bewerbers. Dazu gehört unserer Ansicht nach auch
eine stärkere und differenziertere Gewichtung notarspezifischer Leistungen gegenüber dem Ergebnis des meist
zum Zeitpunkt der Bewerbung länger zurückliegenden
Staatsexamens.
Der unseren Beratungen zugrundeliegende Bundesratsentwurf, den wir heute mit einigen Änderungen verabschieden werden, hat sich als im Wesentlichen sachgerechte Lösung für die Einführung eines bewerteten
Leistungsnachweises in Form einer notarspezifischen
schriftlichen und mündlichen Fachprüfung erwiesen. Das
ist das Kernstück der Neuregelung. Daneben muss der
Notariatsbewerber eine fünfjährige Tätigkeit als Rechtsanwalt nachweisen. Bisher galt sein Zulassungsnachweis
als ausreichend. Als weitere und nach geltendem Recht
bereits bestehende Voraussetzung muss die Tätigkeit als
Rechtsanwalt mindestens drei Jahre ohne Unterbrechung
in dem in Aussicht genommenen Amtsbereich ausgeübt
werden.
Angesichts der vom Bundesverfassungsgericht umrissenen Mängel an der bisherigen Verwaltungspraxis halten
wir die beabsichtigte Neuregelung für eine sachgerechte
und rechtssichere Lösung. Sie ist transparenter, objektiver,
leistungsbezogener und damit in der Summe geeigneter,
die fachliche Eignung der einzelnen Bewerber festzustellen.
Gleichwohl hatten sich in der ersten Lesung des Gesetzentwurfes sowohl von den Kolleginnen und Kollegen der
Zu Protokoll gegebene Reden
anderen Fraktionen als auch von mir und meiner Fraktion
einige Änderungswünsche am Bundesratsentwurf angedeutet. Die Sachverständigenanhörung hat uns in unserem
Beschluss bestärkt, den Bundesratsentwurf in einigen
Punkten zu ändern. Ich freue mich, dass die wesentlichen
Punkte letztlich im Konsens aller Fraktionen beschlossen
werden konnten. Im Wesentlichen handelt es sich um fünf
Änderungen im Vergleich zum ursprünglichen Gesetzentwurf, die ich kurz erläutern möchte.
Erstens. Wir haben uns dafür entschieden, den Terminus
der „Hauptberuflichkeit“ in § 6 Abs. 2 Nr. 1 BNotO zu
streichen. Die Formulierung, dass die Tätigkeit als Rechtsanwältin oder Rechtsanwalt in nicht unerheblichem Umfang für verschiedene Auftraggeber ausgeübt werden
muss, ist ausreichend. Gleichzeitig verdeutlichen wir damit
im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf,
dass auch bei einer Teilzeittätigkeit die notwendigen
Voraussetzungen erfüllt werden können.
Zweitens. An gleicher Stelle regeln wir, dass die Tätigkeit drei Jahre ohne Unterbrechung in dem in Aussicht
genommenen Amtsbereich ausgeübt werden muss. Damit
behalten wir die bisherige Regelung zur örtlichen Wartezeit bei. In der Literatur scheiden sich zugegebenermaßen
die Geister an der örtlichen Wartezeit. Doch diese wurde
in der jüngeren Rechtsprechung nicht beanstandet. In der
Anhörung und auch in den Berichterstattergesprächen
hat sich die Mehrheit der Sachverständigen und Abgeordneten für die Beibehaltung der bisherigen Regelung ausgesprochen, ebenso wie schon zuvor die Bund-LänderArbeitsgruppe. Verfassungspolitisch sind sicherlich noch
andere Lösungen denkbar, verfassungsrechtlich geboten
sind sie allerdings nicht.
Es obliegt der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber ist der Ansicht, dass die örtliche
Wartezeit geeignet ist, die Funktionsfähigkeit des Anwaltsnotariats zu sichern und auch bewährte örtliche und regionale Strukturen zu erhalten. Die Gewähr ist hoch, dass ein
Bewerber, der drei Jahre vor Ort tätig war und eine örtliche
Kanzlei aufgebaut hat, als wirtschaftlich unabhängig gelten
kann. Die Aufnahme des Notaramts erfordert das Vorhandensein einer personellen und organisatorischen Infrastruktur, die so sichergestellt werden kann. Gleichzeitig
kann er sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut
machen. Dieses Argument gilt noch immer, auch wenn es
sicherlich im Zeitalter modernster Kommunikationstechniken an Bedeutung verloren hat.
Einerseits gewährleistet die erfolgreiche Teilnahme
an der Fachprüfung die hinreichende Qualifikation der
Notare, andererseits ermöglicht die örtliche Wartezeit einen chancengleichen Zugang zum Notaramt für ortsansässige Bewerber. Durch die Ausgestaltung als Sollvorschrift wird gleichzeitig sichergestellt, dass in
Einzelfällen Bewerber auch ohne Einhaltung der örtlichen Wartezeit in dem von ihnen anvisierten Amtsbereich
zum Notar bestellt werden können.
Drittens. Wir führen gegenüber dem Bundesratsentwurf eine dreijährige Wartefrist nach der Zulassung zur
Anwaltschaft ein, bevor die notarielle Fachprüfung abgelegt werden kann. Damit stellen wir sicher, dass die Prüfung
nicht quasi auf Vorrat direkt im Anschluss an das zweite
Staatsexamen abgelegt wird. Damit entkoppeln wir bewusst
die notarielle Fachprüfung vom Staatsexamen, verdeutlichen deren eigenständige Bedeutung und stellen sicher,
dass der Bewerber zunächst ausreichend anwaltliche
Berufserfahrung sammeln kann und soll.
Viertens. Wir reduzieren die Anzahl der schriftlichen
Aufsichtsarbeiten um zwei und begrenzen diese damit
insgesamt auf vier Klausuren. In den parlamentarischen
Beratungen hatte sich angedeutet, zu hinterfragen, ob die
Prüfungsanforderungen nach dem Bundesratsentwurf, die
doch eine erhebliche Zusatzbelastung für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte darstellen, über das anvisierte Ziel
der Qualifizierung und Bestenauslese hinausschießen.
Ich bin der Auffassung, dass vier Klausuren ausreichen,
um alle relevanten Tätigkeitsfelder eines Notars in den
Prüfungen abdecken und ein differenziertes Leistungsbild
erstellen zu können.
Gleichzeitig möchte ich an dieser Stelle festhalten, dass
der Gesetzgeber darauf verzichtet, Bewerbern vorzugeben,
wie sie sich auf die Prüfungen vorzubereiten haben. Wir
wollen den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten einen
Quasirückfall in studentische Zeiten ersparen, innerhalb
einer bestimmten Zeit oder Reihenfolge Fortbildungsnachweise anzusammeln. Wir streben damit die Möglichkeit einer flexiblen Berufs- und Prüfungsvorbereitung an,
auch unter dem Gesichtspunkt, dass die Vorbereitung und
Ablegung der notariellen Fachprüfung berufsbegleitend
erfolgen können soll.
Fünftens. Aus den gleichen Gründen haben wir uns dafür
entschieden, den Prüfungsstoff durch das Bundesjustizministerium mit Zustimmung des Bundesrates in einer
Rechtsverordnung regeln zu lassen. In einer Rechtsverordnung lassen sich die einzelnen Prüfungsgebiete im
Sinne der Transparenz für den Prüfling konkreter und detaillierter umreißen mit dem Ziel, insgesamt den Umfang
des Prüfungsstoffes sachlich zu begrenzen. Zu diesem
Zwecke engt das Gesetz den Prüfungsstoff bereits auf den
notarspezifischen Tätigkeitsbereich ein. Wir wollen eine
notarielle Fachprüfung und kein drittes Staatsexamen.
Zudem kann mit einer Rechtsverordnung flexibler als mit
einem Gesetz auf notarspezifische Veränderungen reagiert werden.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf bewahren wir die
Grundstruktur des Anwaltsnotariats, die sich in den letzten Jahrzehnten bewährt hat. Mit dem neuen Prüfungsverfahren erfüllen wir die Kriterien einer transparenten
und praktikablen Bestenauslese. Gleichzeitig scheint der
Gesetzentwurf durch seine Ausgestaltung geeignet zu
sein, Frauen einen besseren Zugang zum Anwaltsnotariat
zu ermöglichen. Dazu zählen unter anderem die Berücksichtigung von Teilzeittätigkeiten und die flexiblen Vorbereitungsmöglichkeiten auf die Prüfungen, sodass diese
berufs- und familienbegleitend möglich erscheinen.
Ich denke, dass wir auch im Sinne der Länder ein gutes
Gesetz auf den Weg bringen.
Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute mit der großen
Mehrheit des Hauses beschließen werden, beenden wir
Zu Protokoll gegebene Reden
die derzeitige unklare Rechtslage hinsichtlich des Zugangs zum Anwaltsnotariat. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 20. April 2004 festgestellt, dass die Auslegung und Anwendung der Normen
der Bundesnotarordnung, die den Zugang zum Anwaltsnotariat regeln, nicht den verfassungsrechtlichen Erfordernissen genügen. Bei der Auswahl der Bewerber für
das Amt des Anwaltnotars sei nicht der Vorrang desjenigen mit der besten fachlichen Eignung gewährleistet.
Der Gesetzentwurf nimmt den Handlungsauftrag des
Bundesverfassungsgerichts auf und etabliert ein neues,
transparentes System für den Zugang zum Anwaltsnotariat. Der Gesetzentwurf enthält eine Kombination aus einer neuen notariellen Fachprüfung, einer praktischen
Ausbildung im Notariat und der Beibehaltung der allgemeinen und örtlichen Wartezeiten als Voraussetzung für
die Bestellung von Anwaltsnotaren. Die Fraktionen des
Deutschen Bundestages gehen übereinstimmend davon
aus, dass die Neuregelung geeignet ist, den Zugang zum
Anwaltsnotariat künftig schneller zu ermöglichen und
durch die Fokussierung auf die fachlichen Leistungen der
Bewerber insgesamt eine Qualitätssicherheit und Stärkung des Anwaltsnotariats zu erreichen.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates hat sich als sehr
sachgerechte Beratungsgrundlage herausgestellt. Auch
in der Anhörung haben die Sachverständigen die Grundzüge und die Richtung des Entwurfs übereinstimmend gelobt. Im weiteren Verfahren ist es gelungen, die Hinweise
der Sachverständigen und die Vorschläge der Bundesregierung aufzunehmen und damit im Ergebnis den Entwurf
noch weiter zu verbessern.
Vorgesehen ist eine örtliche Wartezeit, die sicherstellt,
dass der Rechtsanwalt vor Ort eine anwaltliche Praxis
aufgebaut hat, bevor er zum Notar bestellt wird. Wir haben uns darauf geeinigt, das Bezugsgebiet der örtlichen
Wartezeit auf den Amtsgerichtsbezirk zu begrenzen. Gerade durch die Einführung der notariellen Fachprüfung
wird es auch künftig gelingen, in den Amtsgerichtsbezirken eine Besetzung der Stellen mit qualifizierten Bewerbern sicherzustellen. Darüber hinaus sieht der Entwurf
nun eine Wartefrist von drei Jahren nach der Zulassung
zur Rechtsanwaltschaft vor, bevor die notarielle Fachprüfung abgelegt werden kann. Diese Regelung erschien
notwendig, um sicherzustellen, dass die Bewerber die
praxisbezogene Fachprüfung nicht unmittelbar im Anschluss an das zweite Staatsexamen ablegen, ohne dass
sie zuvor anwaltliche Berufserfahrung erworben haben.
Wichtig zu erwähnen ist auch, dass Wert darauf gelegt wurde, die Fachprüfung nicht zu einem dritten
Staatsexamen ausufern zu lassen. Daher wird die schriftliche Prüfung auf vier Aufsichtsarbeiten beschränkt.
Hinweisen möchte ich darauf, dass der Gesetzentwurf
ein wichtiges Signal zur Frauenförderung setzt. Wir haben in dem Gesetzentwurf sichergestellt, dass auch
Frauen, die aufgrund der Erziehung ihrer Kinder der Tätigkeit als Rechtsanwältin nicht hauptberuflich nachgehen können, beim Zugang zum Anwaltsnotariat nicht
schlechter gestellt werden als Kollegen, die sich vollumfänglich ihrer Rechtsanwaltstätigkeit widmen können.
Es ist mir wichtig darauf hinzuweisen, dass wir mit
dem Gesetzentwurf ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen Bundesrat und Bundestag im Rahmen der
Gesetzgebung geben können. Der Bundesrat hat die Initiative ergriffen und einen Gesetzentwurf zur Neuregelung des Anwaltsnotariats vorgelegt, der im weiteren parlamentarischen Verfahren im Deutschen Bundestag noch
an entscheidenden Stellen verbessert werden konnte.
Bundestag und Bundesrat haben hier in vorbildlicher
Weise zusammengearbeitet. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.
Ich bin davon überzeugt, dass mit dem Gesetzentwurf,
den wir heute verabschieden, ein transparentes Auswahlverfahren sichergestellt werden kann, das sowohl Chancengleichheit zwischen den Bewerbern herstellt als auch
dazu geeignet ist, die Qualitätssicherung des Anwaltsnotariats zu garantieren.
Lassen Sie mich etwas Grundsätzliches vorab anmerken: Ausweislich der Gesetzesbegründung soll mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf im Interesse der Rechtsuchenden auch eine hohe und umfassende Qualifikation
der Anwaltsnotare gewährleistet werden. Wenn man die
Rechtsprechung zur Haftung der Notare einmal genau
analysiert, dann kann man aber das Ziel, den Rechtsuchenden eine von hoher und umfassender Qualität gekennzeichnete Beratung zukommen zu lassen, selbst
durch eine noch so gute Bewerberauswahl nur schwerlich
erreichen.
Die Haftungsrechtsprechung gewährt einen guten Einblick in die zwei signifikanten berufstypischen Schwachstellen der Anwaltsnotare: Zum einen üben diese den
Notarberuf lediglich im Nebenamt aus und verfügen naturgemäß in den allermeisten Fällen - auch nach jahrelanger Tätigkeit - über weniger Erfahrung als ein hauptberuflicher Notar. Zum anderen ist es für Anwaltsnotare
nicht selten schwierig, ihre beiden Berufe strikt voneinander zu trennen. Gegenüber einem aus jahrelanger anwaltlicher Betreuung bekannten Mandanten ist es schon psychologisch schwer vermittelbar, dass man bei der
Notartätigkeit auf einmal auch die Interessen des „Gegners“ zu wahren hat.
Der Schutz des Bürgers vor unqualifizierter Beratung
ließe sich daher am besten und konsequentesten mit der
Abschaffung des Anwaltsnotariats verwirklichen. Dies
war jedoch von vornherein nicht die Zielrichtung des vorliegenden Gesetzentwurfes. Anlass war vielmehr eine
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der dieses die Auslegung und Anwendung der Normen der Bundesnotarordnung in der Verwaltungspraxis der Länder
bemängelt hat. In der Debatte zur ersten Lesung habe ich
deshalb drei Fragen in den Mittelpunkt gestellt. Erstens:
Wollen wir überhaupt eine bundesrechtliche Lösung?
Zweitens: Ist es sinnvoll, eine notarielle Fachprüfung als
einziges Auswahlkriterium neben dem Ergebnis des zweiten juristischen Staatsexamens einzuführen? Und drittens: Wenn eine notarielle Fachprüfung eingeführt wird,
soll dies in der vorgesehenen Ausgestaltung geschehen?
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch unter Berücksichtigung der Sachverständigenanhörung sind für mich die ersten beiden Fragen zu verneinen. Der Bund ist nicht die Gouvernante der Länder.
Wenn die Länder ihre Hausaufgaben nicht machen, dann
ist es nicht Aufgabe des Bundes, dies für sie zu erledigen.
Der Gesetzentwurf ist unter diesem Gesichtspunkt schon
überflüssig. Auch die Einführung einer weiteren theoretischen Prüfung als alleiniges Auswahlkriterium zwischen
den Bewerbern ist abzulehnen. Die Anforderungen, die
ein zukünftiger Anwaltsnotar erfüllen und die bei der Bewerberauswahl im Vordergrund stehen sollten, hat der
Parlamentarische Staatssekretär Herr Hartenbach in seiner Rede zur ersten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfes zutreffend folgendermaßen benannt: „Wir wollen
Leute, die in der Praxis erfahren sind und gute Arbeit leisten, und wir müssen darauf achten, dass wir nicht diejenigen bevorzugen, die es sich leisten können, sich mit viel
Zeit und Geld auf theoretische Prüfungsfragen vorzubereiten.“ Für meine Fraktion birgt der eingeschlagene
Weg eines „dritten juristischen Staatsexamens“ jedoch in
ganz besonderer Weise die Gefahr, genau solche Bewerber zum Zuge kommen zu lassen, die Staatssekretär Hartenbach eigentlich nicht wollte. Es ist deshalb auch bedauerlich, wenn der Rechtsausschuss die zuvor schon eng
gefasste „Öffnungsklausel“ in § 6 Abs.3 des Entwurfes
für die Berücksichtigung anderer Kriterien als die Ergebnisse der notariellen Fachprüfung beziehungsweise des
zweiten Staatsexamens weiter begrenzt und zukünftig
diese Möglichkeit nur noch bei einem Bewerber, der
schon Notar ist oder in der Vergangenheit war, angewandt werden kann.
Die Frage, ob die Einführung der notariellen Fachprüfung in der vorgesehenen Ausgestaltung erfolgen
sollte, hat auch die Mehrheit des Rechtsausschusses mit
Nein beantwortet. Die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses geht hier auf einige - wenngleich nicht alle Einwände der Sachverständigen aus der Anhörung ein
und sieht entsprechende Veränderungen vor. So ist die
Anzahl der zu absolvierenden Prüfungen, die mit sechs
verlangten Leistungsnachweisen überdimensioniert war,
auf angemessene vier reduziert worden. Auch die Tatsache, dass die Festlegung des Prüfungsstoffes nicht mehr
unmittelbar im Gesetz erfolgt, sondern auf den Verordnungsgeber delegiert wird, ist zu begrüßen. Damit ist es
besser möglich, den Prüfungsstoff auf die für die notarielle Amtstätigkeit bedeutsamen Bereiche zu begrenzen.
Zwei weitere positive Änderungen, die Ergebnis der
Ausschussberatungen waren, sollen nicht unerwähnt
bleiben. Dass es nun nicht mehr möglich ist, die notarielle
Fachprüfung unmittelbar nach dem zweiten juristischen
Staatsexamen abzulegen, sondern dass zuvor eine dreijährige Wartezeit nach Zulassung zur Rechtsanwaltschaft
abgewartet werden muss, sorgt zumindest für eine gewisse Berufserfahrung der Prüflinge und zukünftigen Bewerber. Ebenfalls richtig ist die Ersetzung des Wortes
„hauptberuflich“ durch die Formulierung „in nicht unerheblichem Umfang“ in dem neuen § 6 Abs. 2 der Bundesnotarordnung. Das Kriterium der Hauptberuflichkeit
barg die Gefahr, diejenigen weiter zu benachteiligen, die
neben der Anwaltstätigkeit Erziehungsaufgaben wahrnehmen und lediglich einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen. Derzeit sind dies noch immer vornehmlich
Frauen.
Wegen der angesprochenen grundsätzlichen Einwände wird meine Fraktion den vorliegenden Gesetzentwurf jedoch ablehnen.
In meiner Rede zur ersten Lesung habe ich bereits gesagt, dass der Gesetzentwurf im Grundsatz in die richtige
Richtung geht. Ich habe Fragen aufgeworfen, ob der Umfang des schriftlichen Teils der Fachprüfung angemessen
ausgestaltet worden ist. Es war auf den ersten Blick nicht
unbedingt nachvollziehbar, warum es hierbei sechs fünfstündiger Prüfungsklausuren bedürfen soll, in denen zudem thematisch über die notarspezifischen Bereiche
hinaus zum Beispiel auch Wissen zum Bürgerlichen, zum
Handels- und zu unterschiedlichen Prozessrechten geprüft werden soll. Ist es wirklich gewollt, dass die schriftliche Fachprüfung zum Anwaltsnotariat - das ja immerhin im Nebenberuf ausgeübt wird - den Umfang eines
dritten juristischen Staatexamens erhält?
Wo stehen wir heute? Nach einer hilfreichen Anhörung
und sehr konstruktiver Auswertung der Stellungnahmen
sind wichtige Verbesserungen vorgenommen worden. So
können wir jetzt sagen: Wir haben ein gutes Gesetz.
Der Bestenauslese wird nun besser Rechnung getragen, und gleichzeitig wird der Zugang zum Anwaltsnotariat erleichtert. Es wird eine neue Prüfung eingeführt, die
spezifisch auf den Notarberuf ausgerichtet ist. Die Note
des Staatsexamens fällt geringer ins Gewicht. Die notarielle Fachprüfung wird gegenüber dem Entwurf in vernünftiger Weise abgespeckt und konkretisiert. Wir werden
also kein drittes Staatsexamen mehr haben. Es ist auch
sinnvoll, die Einzelheiten in eine Verordnung auszulagern.
Das übertriebene System von zahllosen teuren Wochenendkursen zur Punktejagd, das sich in der Praxis
etabliert hat, wird eingedämmt. Der Praxisnachweis wird
für breitere Kreise zugänglich und kann teilweise durch
notariatsspezifische Praxislehrgänge ersetzt werden.
Das bisherige System hat größere und große Kanzleien
begünstigt, weil diese die immensen Kosten von bis zu
40 000 Euro eher aufbringen und häufiger Notarvertretungen zum Praxisnachweis zur Verfügung stellen können. Die Reform kommt damit besonders Frauen zugute,
die überwiegend in kleineren oder Einzelkanzleien arbeiten. Sie hatten dadurch weniger Chancen, als Notarvertreterin bestellt zu werden sowie die Kosten und den Verdienstausfall zu stemmen.
Wichtig ist, dass die Voraussetzungen für die Bestellung zum Notar oder zur Notarin gegenüber dem ursprünglichen Gesetzentwurf so geändert werden, dass die
vorherige fünfjährige Anwaltstätigkeit nicht hauptberuflich ausgeübt worden sein muss. Das wäre eine Benachteiligung für alle gewesen, die aus Gründen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Teilzeit arbeiten, also
besonders für Frauen. Das zu korrigieren war uns ein besonderes Anliegen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wolfgang NeškoviæWolfgang Nešković
Das Konzept des Gesetzes, so wie wir es heute verabschieden, legt die Grundlage dafür, dass sich der Anteil
von Anwaltsnotarinnen endlich deutlich erhöht. Dieser
Anteil liegt nämlich immer noch unter 10 Prozent, obwohl der Anteil von Rechtsanwältinnen an der Rechtsanwaltschaft immerhin etwa 30 erreicht hat.
Abschließend möchte ich noch einmal betonen: Die
Zusammenarbeit der Berichterstatter - und auch mit dem
Bundesjustizministerium - nach der Anhörung war sehr
konstruktiv und hat ein gutes Gesetz in mehreren Punkten
weiter verbessert. Wir werden ihm deshalb zustimmen.
Fast 8 000 Anwaltsnotarinnen und Anwaltsnotare
üben in Deutschland neben ihrem Rechtsanwaltsberuf
das Amt des Notars aus. Als unabhängige Träger eines öffentlichen Amtes ist es ihre Aufgabe, Beurkundungen vorzunehmen und weitere Aufgaben auf dem Gebiet der vorsorgenden Rechtspflege wahrzunehmen. Sie tun dies in
guter und bewährter Weise. Nun kann allerdings nicht
jede Anwältin und nicht jeder Anwalt auch Notarin oder
Notar werden. Im räumlichen Bereich eines Anwaltsnotariats sind rund 60 000 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte tätig. Der Zugang zum Anwaltsnotariat ist also
ein Nadelöhr.
Die letzten Jahre haben gezeigt, dass das bisher geltende Zugangssystem an seine Grenzen stößt: Das geltende Punktesystem, das in großem Umfang auf lediglich
quantitativ messbare Kriterien wie die Dauer der Anwaltstätigkeit, die Zahl vertretungsweise vorgenommener Beurkundungen und die Zahl besuchter Fortbildungsveranstaltungen zurückgreift, um eine Auswahl unter den
Bewerbern für eine ausgeschriebene Notarstelle zu treffen, ist streitanfällig. Es verheißt eine Objektivität und
Transparenz im Verfahren der Bestenauslese beim Zugang zum Anwaltsnotariat, die in der Praxis nicht eingelöst werden kann. Die vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages angehörten Sachverständigen haben
die Mängel des geltenden Rechts, die nicht erst seit dem
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 20. April
2004 offenbar sind, einmütig bestätigt.
Bestätigt haben sie auch, dass eine notarielle Fachprüfung der einzig gangbare Weg ist, um die Mängel des
geltenden Rechts zu beseitigen. Ich begrüße es daher
sehr, dass wir heute mit der gesetzlichen Neuregelung des
Zugangs zum Anwaltsnotariat ein von Bund und Ländern
lange und intensiv vorbereitetes Gesetzgebungsverfahren
abschließen. Die Zugangsvoraussetzungen werden klar
und eindeutig geregelt. Das schafft Rechtssicherheit und
vermeidet Streitigkeiten. Eine neue notarielle Fachprüfung sichert den erforderlichen Qualitätsstandard. Sie
schafft einheitliche Standards. Das ist Voraussetzung dafür, dass Anwaltsnotarinnen und Anwaltsnotare auch
künftig ihre Aufgaben in der vorsorgenden Rechtspflege
erfolgreich für die Bürgerinnen und Bürger wahrnehmen
können. Zugleich ermöglicht die notarielle Fachprüfung
eine faire und gerechte Bestenauslese. Sie ermöglicht einen chancengleichen Zugang von Rechtsanwältinnen und
Rechtsanwälten zum Notarberuf. Und die vorgesehene
praktische Ausbildung im Notariat, die bewusst flexibel
ausgestaltet ist, wird sicherstellen, dass die ausgewählten
Bewerberinnen und Bewerber mit der notariellen Berufspraxis so gut vertraut sind, dass sie die Amtstätigkeit sofort auf hohem Niveau beginnen können.
Die neuen Zugangsregelungen zum Anwaltsnotariat
stellen sowohl im Interesse der Qualitätssicherung als
auch der Bestenauslese hohe Anforderungen. Die neue
notarielle Fachprüfung erstreckt sich auf den gesamten
Bereich der notariellen Amtstätigkeit. Über eine schriftliche und mündliche Fachprüfung, die bei dem bei der
Bundesnotarkammer zu errichtenden neuen Prüfungsamt
durchgeführt wird, müssen Bewerberinnen und Bewerber
beweisen, dass sie fit sind, das Amt einer Notarin oder eines Notars auszuüben. Ich weiß, dass die Prüfung Lasten
mit sich bringt, und ich weiß, dass die erforderliche Prüfungsvorbereitung parallel zur Anwaltstätigkeit erfolgen
muss. Deshalb haben wir besonderen Wert darauf gelegt,
die neue notarielle Fachprüfung so auszugestalten, dass
sie machbar ist. Vier Punkte möchte ich hierzu kurz ansprechen.
Es gibt erstens keine gesetzlichen Vorgaben dazu, wie
die Prüfungsvorbereitung erfolgt. Insbesondere gibt es
keine Pflichtkurse für die Bewerber. Die wissen nämlich
selbst am besten, wie sie sich gut und effektiv auf eine
Prüfung vorbereiten. Vorgaben sind daher entbehrlich.
Die mit dem Verzicht auf bürokratische Vorgaben beabsichtigte Flexibilität liegt gerade auch im Interesse der
Rechtsanwältinnen. Ich hoffe sehr, dass künftig mehr Anwältinnen den Weg in das Amt der Notarin finden werden.
Das Potenzial, das die vielen hervorragend qualifizierten
Rechtsanwältinnen haben, muss künftig auch im Notarbereich genutzt werden. Ich bin zuversichtlich, dass das
neue Zugangssystem mit der Stärkung der individuellen
fachlichen Prüfung der Bewerber dazu führen wird, dass
mehr Rechtsanwältinnen als bisher Notarin werden und
dass ihr Anteil an den Anwaltsnotaren, der bisher unter
zehn Prozent liegt, deutlich ansteigen wird.
Zweitens soll der Prüfungsstoff nicht im Gesetz, sondern in einer Rechtsverordnung geregelt werden. Das
dient - neben der damit eröffneten Flexibilität - dazu, den
Prüfungsstoff einzugrenzen und diese Begrenzung für die
Bewerberinnen und Bewerber transparent zu gestalten.
Was nicht konkret als Prüfungsgegenstand benannt wird,
wird auch nicht geprüft.
Drittens haben wir nach den Erörterungen im Rechtsausschuss entschieden, dass auch vier statt der im Gesetzentwurf vorgesehenen sechs Klausuren genügen, um
die fachliche Eignung der Bewerber festzustellen.
Schließlich haben wir viertens - Sie sehen, wir haben
uns auch um kleine, aber nicht unwichtige Details gekümmert - festgelegt, dass entschuldigt versäumte Klausuren
einzeln nachgeholt werden können, dass also nicht alle
Klausuren nochmals geschrieben werden müssen, wenn
nur einzelne Klausuren versäumt wurden.
Insgesamt wird mit der Reform des Zugangs zum Anwaltsnotariat die leistungsbezogene Bestenauslese betont. Ziel ist es, denjenigen Rechtsanwältinnen und
Rechtsanwälten den Zugang zum Notarberuf zu eröffnen,
die dafür am besten geeignet sind. Die Reform sichert und
stärkt damit das Anwaltsnotariat.
Zu Protokoll gegebene Reden
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11906, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/4972 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vertragstreue Abschaltung alter Atomkraftwerke in Osteuropa
- Drucksache 16/11764 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Christian Hirte, Christoph
Pries, Angelika Brunkhorst, Hans-Kurt Hill und HansJosef Fell.
Auf eines kann man sich bei den Grünen immer verlassen: Fällt das Wort „Kernkraftwerk“, kommt es sofort zu
einem Pawlow’schen Reflex, bei dem gebetsmühlenartig
der Ausstieg gefordert wird - ungeachtet bestehender
Verträge und Gesetze. Jetzt bläst die Fraktion der Grünen
zum Kreuzzug wider die slawische Gefahr vom Reaktorunfall oder dem Super-GAU, um sich vorbei an aller Realität als Retter nicht nur Deutschlands, sondern ganz
Europas aufzuspielen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, es gehört zur Realität, dass auch und gerade die Union die
Frage der Sicherheit von Kernkraftwerken in Osteuropa
sehr ernst nimmt. Nicht erst das Reaktorunglück von
Tschernobyl hat uns deutlich vor Augen geführt, welche
Konsequenzen ein nachlässiger Umgang mit der Kernenergie haben kann. Zur Realität gehört weiterhin: Die
EU-Beitrittsverträge regeln klar die Abschaltung der unsicheren Reaktoren. Die von Ihnen im Antrag erwähnten
Länder können also nicht einfach mal so ein Formular
ausfüllen, einen Antrag auf Laufzeitverlängerung stellen,
und irgendein Amt entscheidet dann nach Gutdünken.
Dazu müssten nämlich erst neue völkerrechtliche Verträge geschlossen werden.
Die Position sowohl der europäischen als auch der
christlichen Union ist klar: Wir wollen keine unsicheren
Reaktoren bei unseren Nachbarn. Das ist auch die Position unserer Regierung. Da gibt es gar keine Diskussion.
Sie führen also wieder einmal eine presseheischende
„Hätte-wäre-wenn“-Debatte mit Blick auf Ihre Klientel,
jedoch ohne jede praktische Konsequenz.
Was dabei auch immer wieder gern vergessen wird:
Man kann nicht immer nur aufgeregt „Ausstieg, Ausstieg“ fordern und Fragen von Versorgungssicherheit
und Klimaschutz ignorieren. Gleichzeitig, neben dem
Ausstieg aus der Kernenergie, wollen Sie ja die Kohlekraftwerke beseitigen. Wo die Energie dann kurzfristig
herkommt, ist dabei scheinbar egal. Liebe Opposition,
hören Sie auf, zu polemisieren!
Alle Zukunftsszenarien gehen davon aus, dass der Bedarf an Strom in Zukunft stärker wachsen wird als der an
anderen Energieformen. Damit müssen wir umgehen. Ein
Drittel der Stromerzeugung in der EU erfolgt heute mittels Kernkraft. Derzeit sind in der EU 152 Kernkraftwerke in Betrieb. Der Bedarf, den diese Kraftwerke decken, kann nicht einfach wegdiskutiert werden.
Gleichzeitig darf man auch nicht vergessen, dass wir bereits 64 alte Reaktoren stillgelegt haben. Ein deutliches
Signal gerade für eine sichere Energieversorgung.
Es lässt sich aber auch nicht wegdiskutieren, dass Bulgarien gefroren hat, als Russland und die Ukraine über
Gas stritten. Ich glaube, dass die Bulgaren in einer solchen Situation mehr von ihren Freunden in der EU hören
wollen als: „Und nicht vergessen: Reaktor aus!“ Wir
schulden unseren osteuropäischen EU-Freunden mehr
als nur den erhobenen Zeigefinger. Wir müssen ihnen dabei helfen, Energiesicherheit zu erreichen: sichere Versorgung und sichere Energiegewinnung. Nur dann brauchen wir auch nicht zu befürchten, dass alte Kraftwerke
eventuell wieder ans Netz gehen.
Aber auch den baltischen Staaten kann man nicht einfach mal ein paar Windmühlen schicken, und das wars.
Da braucht es schon mehr Unterstützung und Strategien.
Ein einfaches Nein zu fossilen und nuklearen Energieträgern ist noch lange keine realistische Strategie.
Ich bin skeptisch, dass wir Versorgungssicherheit in
Europa in den nächsten Jahren ohne Kernenergie erreichen können. Es wäre geradezu töricht, den osteuropäischen Ländern vorschreiben zu wollen, wie sie sichere
Energie realisieren - ganz davon abgesehen, dass sich
die Grünen hier über geltendes EU-Recht hinwegsetzen
möchten. Der Energiemix ist nämlich strikt nationale Sache.
Wenn man zu der realistischen Einschätzung kommt,
dass ein Staat nicht ohne Kernenergie auskommt, dann
müssen wir das berücksichtigen. Deutschland kann mit
seinem Know-how dabei Unterstützung leisten, klimafreundliche und sichere Lösungen zu finden und umzusetzen.
Kernenergie gehört nach wie vor zum umweltfreundlichen Energiemix in Deutschland und in Europa. Sicher
gibt es CO2-ärmere Energieerzeugungsmethoden. Aber
für die Erzeugung der Grundlast und vor allem für bezahlbare Energie sind Kernkraftwerke derzeit noch unerlässlich. Regenerative Energieträger, die das leisten
könnten, sind noch nicht zu wirtschaftlich vertretbaren
Kosten in Sicht. Deswegen haben nicht nur die Schweden
den Ausstieg aus dem Ausstieg beschlossen, sondern in
mehreren europäischen Nachbarländern befinden sich
neue Kernkraftwerke in Bau oder in Planung.
Europa und Deutschland können es sich im Moment
nicht leisten, Kernkraftwerke und Kohlekraftwerke
gleichzeitig vom Netz zu nehmen. Lassen Sie uns also daran arbeiten, wie wir die Energieversorgung in Europa
sichern können - mit sicheren, umweltfreundlichen Kraftwerken und ohne Ideologie!
Die nukleare Sicherheit spielte eine zentrale Rolle bei
den Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit
den osteuropäischen Staaten. Die alten Atomkraftwerke
sowjetischer Bauart sollten entweder mit westlicher
Technik nachgerüstet oder - wo dies nicht möglich war schnellstmöglich abgeschaltet werden. Die Beitrittskandidaten haben diesem Verfahren - trotz ihrer immer wieder geäußerten Kritik - zugestimmt.
Folgende Vereinbarungen wurden in den Beitrittsverträgen festgeschrieben:
In Litauen wurde der Reaktor Ignalina 1 am 31. Dezember 2004 abgeschaltet. Der Reaktor Ignalina 2 muss
laut Betrittsvertrag spätestens Ende 2009 vom Netz genommen werden.
Die Slowakei schaltete die Reaktoren Bohunice 1
und 2 zum 31. Dezember 2006 und 2008 ab.
In Bulgarien wurden die Reaktoren Kozloduj 1 bis 4
bis zum 31. Dezember 2006 schrittweise stillgelegt.
Im Gegenzug erhalten die Beitrittsländer für die Stilllegung umfangreiche finanzielle Unterstützung durch die
Europäische Union. Ich denke, wir alle hier im Hause
sind uns einig, dass dieser Schritt für die Sicherheit von
Mensch und Umwelt wichtig und richtig war.
Nun hat der Gasstreit zwischen Russland und der
Ukraine in Bulgarien und der Slowakei die Diskussion
über die Abschaltung der Atomkraftwerke neu entfacht.
Die slowakische Regierung hatte Anfang Januar angekündigt, aufgrund des Gaslieferstopps den gerade erst
abgeschalteten Reaktor Bohunice 2 wieder anzufahren auch um den Preis eines EU-Vertragsverletzungsverfahrens. Nach Beendigung der Krise hat die slowakische Regierung am 23. Januar allerdings entschieden, auf die
Wiederinbetriebnahme des umstrittenen Reaktors zu verzichten. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt diese Entscheidung ausdrücklich.
In Bulgarien hat das Parlament am 23. Januar einen
Antrag verabschiedet, der die Regierung auffordert, die
Europäische Kommission um eine Überprüfung der Abschaltung der Reaktoren Kozloduj 3 und 4 zu bitten. Dabei beruft man sich auf Art. 36 des Protokolls über die Bedingungen für die Aufnahme Bulgariens und Rumäniens
in die Europäische Union. Dieser Artikel sieht für die
Jahre 2007 bis 2009 vor, dass die Beitrittsländer bei
Schwierigkeiten, welche einen Wirtschaftszweig erheblich und voraussichtlich anhaltend treffen oder welche
die wirtschaftliche Lage eines bestimmten Gebiets beträchtlich verschlechtern können, die Genehmigung zur
Anwendung von Schutzmaßnahmen beantragen können,
um diese Lage wieder auszugleichen. Die Wiederinbetriebnahme von Kozloduj soll Bulgarien bei der Bewältigung seiner schwierigen wirtschaftlichen Lage helfen.
Grundsätzlich möchte ich sagen: Die Menschen in
Osteuropa haben Anspruch auf eine sichere Energieversorgung. Diese muss durch die Einhaltung eingegangener Verpflichtungen durch die Lieferländer gewährleistet
werden. Es ist deshalb zu hoffen, dass die jetzt erzielte Einigung zwischen Russland und der Ukraine eine langfristige Versorgungssicherheit gewährleistet.
Anderseits zeigen die Beispiele Bulgarien und Slowakei auch, dass man nach dem Beitritt in die Europäische
Union schnell gelernt hat. Insbesondere die Debatte über
die Atomenergie hierzulande wird offenbar aufmerksam
verfolgt. Von der deutschen Energiewirtschaft hat man
gelernt: Unterschreibe Verträge, wenn du deine Ziele
nicht anders erreichen kannst. Versuche anschließend,
die Verträge zu deinen Gunsten zu ändern.
Wer die Forderungen der Bulgaren und Slowaken als
Vertragsverletzung kritisiert, der muss auch das Abrücken der deutschen Energiewirtschaft vom Atomkonsens
kritisieren. Ich bin hier schon sehr auf die Ausführungen
der Union und der FDP in den Ausschussberatungen gespannt.
Auch von Teilen der deutschen Politik haben Bulgaren
und Slowaken sich etwas abgeschaut: Nutze jede Energiekrise, um auf die Unverzichtbarkeit der Atomenergie
hinzuweisen. Ob damit das eigentliche Problem gelöst
wird, ist egal. - Beim ersten Gasstreit im Januar 2006 hat
es der damalige Wirtschaftsminister Glos vorgemacht.
Als die Gaslieferungen schrumpften, forderte er vehement, nun müsse man aber endlich die Laufzeiten der
deutschen Atomkraftwerke verlängern. Dass zwischen
Strom aus Atomkraftwerken und Wärme aus gasbetriebenen Heizkraftwerken kein Zusammenhang besteht, war
dem Minister offenbar nicht bewusst.
Das Gleiche gilt auch für Bulgarien und die Slowakei.
Nach den Zahlen der Internationalen Energieagentur betrug 2006 in Bulgarien der Anteil der Atomkraft an der
Erzeugung von Heizwärme gerade einmal 1,16 Prozent.
Gas hingegen hatte einen Anteil von 53,5 Prozent. Bei der
Stromproduktion sind die Gewichte umgekehrt.
Auch in der Slowakei betrug der Anteil von Gas an der
Stromproduktion 2006 gerade einmal 6,1 Prozent. Der
Anteil von Atomenergie an der Wärmeenergieerzeugung
lag bei bescheidenen 5 Prozent.
Fazit: Mit Atomkraft lässt sich das Problem der Wärmeenergieerzeugung nicht beheben. Auch glühende
Atomstromleitungen heizen keine Wohnung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dass Heizen mit Strom ein Irrweg ist, zeigt uns Frankreich in jedem kalten Winter. Dann können selbst 58 französische Reaktoren den Strombedarf der Elektroheizungen nicht decken - von der Ineffizienz und
Klimaschädlichkeit einer Stromheizung ganz zu schweigen.
Bisher liegt der EU-Kommission kein Antrag der bulgarischen Regierung vor. Die Erfolgsaussichten eines potenziellen Antrags auf Wiederaufnahme des Betriebs der
Reaktoren Kozloduj 3 und 4 werden von der EU-Kommission sehr zurückhaltend kommentiert. Zudem müsste der
EU-Rat bei einer positiven Entscheidung der EU-Kommission einbezogen werden.
Was Litauen betrifft: Ein Referendum, das Atomkraftwerk Ignalina - entgegen den Zusagen Litauens im Beitrittsvertrag - bis 2015 am Netz zu lassen, ist im Oktober
2008 gescheitert. Das notwendige Quorum - eine Wahlbeteiligung von 50 Prozent - wurde verfehlt. Insofern ist
der vorliegende Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen bereits vor der Beratung im Ausschuss überholt.
Darüber hinaus erweckt der Antrag den Eindruck, als
habe sich die Bundesregierung bisher nicht in ausreichendem Maße auf europäischer und bilateraler Ebene
für eine vertragsgetreue Abschaltung der Atomkraftwerke in Osteuropa eingesetzt. Dies ist nicht so, und das
werden wir in den Ausschussberatungen klarstellen.
Unabhängig davon möchte ich für die SPD-Bundestagsfraktion betonen, dass wir selbstverständlich auf einer vertragsgetreuen Abschaltung der Atomkraftwerke in
Osteuropa bestehen. „Pacta sunt servanda“ - Verträge
müssen eingehalten werden. Das gilt für die EU-Beitrittsverträge ebenso wie für den Atomkonsens mit den Energiekonzernen in Deutschland.
Für die SPD ist Atomenergie eine Energieform des
letzten Jahrhunderts. Gemessen an den hochfliegenden
Erwartungen der 1950er- und 60er-Jahre ist die Atomenergie immer „Ankündigungsenergie“ geblieben. Zwei
Beispiele:
Erstens. Die Internationale Atomenergie-Agentur prognostizierte in ihrem Jahresbericht von 1974, im Jahr
2000 würden weltweit Atomkraftwerke mit einer Leistung
von 4500 Gigawatt installiert sein. Die Realität im Jahr
2008: 372 Gigawatt. Die weltweit 436 Reaktoren decken
nur rund 15 Prozent des weltweiten Strom- und circa
2,5 Prozent des Endenergieverbrauchs. Das Fazit: Die
Erwartungen wurden enttäuscht, die Risiken unterschätzt.
Zweitens. Seit Jahren eilt die Atomlobby von Renaissance-Ankündigung zu Renaissance-Ankündigung.
Glaubt man den PR-Strategen und den Hochglanzbroschüren, schießen überall auf der Welt Atomkraftwerke
wie Pilze aus dem Boden. Die Realität: Im Jahr 2008 ging
zum ersten Mal seit 42 Jahren kein einziges Atomkraftwerk ans Netz.
Die Bedeutung der Atomenergie wird weiter abnehmen. Im „World Energy Outlook 2008“ kommt die Internationale Energieagentur zu dem Ergebnis, dass bis 2030
der Anteil der Atomenergie an der weltweiten Stromproduktion von 15 auf 10 Prozent sinken wird. Auch ein Vertreter der Internationalen Atomenergie-Agentur kommt in
der „Süddeutschen Zeitung“ zu dem Schluss, es gebe bei
der Atomkraft lediglich eine Renaissance beim theoretischen Interesse.
Wie so ein theoretisches Interesse aussieht, konnte
man in den letzten beiden Jahren in Südafrika verfolgen.
Im August 2007 brach dort laut n-tv die Atom-Ära an.
15 Milliarden Euro sollten in fünf Jahren in die Atomenergie investiert werden. Die gute Hoffnung der Atomlobby auf fette Aufträge am Kap erlitt dann aber schnell
Schiffbruch. Bereits im Dezember 2008 erklärte der
staatliche Energiekonzern Eskom, der geplante Neubau
eines Druckwasserreaktors werde aus finanziellen Gründen aufgegeben.
Dieses Schicksal könnte vor dem Hintergrund der Finanzkrise auch noch die eine oder andere Neubauankündigung in Europa ereilen. In Polen ist keineswegs klar, wo
das Land 16 bis 18 Milliarden Euro für seine geplanten
Atomkraftwerke hernehmen soll. Ob in Schweden wirklich neue Atomkraftwerke als Ersatz für Altanlagen entstehen, bleibt abzuwarten. Denn die Anlagen müssen
komplett privatwirtschaftlich finanziert werden. Derartige Bedingungen haben bisher noch jedem hochfliegenden Atomprogramm zur Bruchlandung verholfen.
Es bleibt auch abzuwarten, wie viele AKW-Neubauten
sich die Hersteller noch leisten können. Der Bau des
Atomkraftwerks in Finnland beschert Areva-Siemens bereits einen satten Verlust von mindestens 500 Millionen
Euro. Daher hat das Konsortium Ende 2008 ein Schiedsgerichtsverfahren angestrengt, um den zugesagten Festpreis von 3,2 Milliarden für den Reaktor mit dem finnischen Energiekonzern TVO nachzuverhandeln. Die
Finnen zeigten sich hiervon wenig begeistert und überlegen stattdessen, Areva-Siemens auf 2,4 Milliarden Euro
Schadensersatz wegen der dreijährigen Bauverzögerung
zu verklagen.
Wir sind nicht die isolierten Nachzügler einer weltweiten Atom-Renaissance. Deutschland ist vielmehr der Vorreiter beim Aufbau einer modernen Energieversorgung.
Die Zukunft der Energieversorgung in Deutschland und
auch in Europa liegt im Ausbau der erneuerbaren Energien, der Energieeffizienz und der Energieeinsparung.
Dafür steht die SPD-Bundestagsfraktion.
2004 sind Polen, Litauen, die Slowakei und Slowenien,
2007 Bulgarien und Rumänien der EU beigetreten. Ihr
Beitritt war an verschiedene Bedingungen geknüpft, die
vertraglich festgehalten wurden. An diese Verträge müssen sich die betreffenden Länder selbstverständlich halten.
Dementsprechend ist es richtig, dass die EU-Kommission mit einem EU-Vertragsverletzungsverfahren droht,
sollte die Slowakei zwei Reaktoren in Bohunice wieder in
Betrieb nehmen. Gleiches gilt für Bulgarien. Staatspräsident Parwanow hat angekündigt, einen Reaktor des
Atomkraftwerks Kozloduj wieder in Betrieb zu nehmen,
was Bulgarien laut EU-Beitrittsvertrag nicht gestattet ist.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch in diesem Fall muss die EU rechtliche Schritte dagegen unternehmen. Die deutsche Bundesregierung muss
der EU bei diesen Schritten Rückendeckung geben.
Hinter den Bestrebungen der betreffenden osteuropäischen Länder verbirgt sich deren Wunsch, energiepolitisch unabhängig von Russland zu sein. Welche fatalen
Folgen die alleinige Energieabhängigkeit von Moskau
haben kann, hat der zurückliegende Gasstreit überdeutlich gemacht. Dass das Baltikum, Polen, die Ukraine und
alle anderen Staaten - Deutschland eingeschlossen Energieunabhängigkeit von Russland anstreben, ist überaus verständlich. Einen Vertragsbruch rechtfertigt dieses
Bestreben jedoch nicht. Wir stimmen hier mit den Grünen
überein. Auf eines weisen wir jedoch ausdrücklich hin:
Die Debatte um die vertragsgemäße Abschaltung von osteuropäischen Reaktoren darf keinesfalls mit der Diskussion über eine Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke vermengt oder verwechselt werden. Erst letzte
Woche hat sich das Europäische Parlament klar für die
europaweite Förderung der Kernenergie ausgesprochen.
Das Parlament forderte die Kommission auf, einen konkreten Fahrplan für Investitionen in Kernenergie vorzulegen und unverzüglich einheitliche rechtliche und wirtschaftliche Bedingungen für die friedliche Nutzung der
Kernenergie zu schaffen. Gut so! Denn mit Kernenergie
lässt sich der Energiemix umweltschonend, wirtschaftlich
und auf Versorgungssicherheit bedacht gestalten. Sich ihrer nicht zu bedienen, bis alternative Energien die gleichen Möglichkeiten bieten, ist verantwortungsloser Unsinn.
Viele europäische Länder haben das erkannt. In Bulgarien, Finnland, Frankreich und in der Slowakei sind
neue Reaktoren im Bau. Pläne für den Neubau schmieden
derzeit Bulgarien, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Litauen, die Niederlande, Polen, Rumänien,
Schweden, die Schweiz, die Slowakei, Slowenien, die
Ukraine und Weißrussland.
Länder, die auf technisch sichere Kernkraftwerke setzen, haben einige Sorgen weniger. Wir in Deutschland
hingegen schlafen weiterhin den rot-grün-ideologisierten
Dornröschenschlaf und stehen ohne jedes Konzept da,
wie wir unsere Energieversorgung klimafreundlich, versorgungssicher, bezahlbar und unabhängiger von Importen gestalten wollen. Auch in Deutschland sollte es Maßstab der Vernunft sein, zunächst weiter auf die friedliche
Nutzung der Kernenergie zu setzen.
In einigen osteuropäischen Staaten planen die Regierungen das Wiederanfahren von alten, maroden Atomkraftwerken. Dass dieses Vorgehen gegen EU-Beitrittsvereinbarungen verstößt, schert diese Länder herzlich
wenig. Warum auch? Schließlich lebt Deutschland derartige Rechtswidersprüche vor. Zu besichtigen ist der politische Atom-GAU: Die CDU wirbt mit freundlicher Unterstützung der Atomkonzerne für die Abschaffung des
Ausstiegsgesetzes, die Bundesregierung wird unglaubwürdig, und Deutschland macht sich zum EU-weiten Gespött.
Was viel schlimmer ist, meine werten Kolleginnen und
Kollegen von der Union: Sie setzen die Gesundheit der
Menschen in Europa aufs Spiel. Die Wiederbelebung der
radioaktiven Leichen ist mit extrem hohen Gefahren bis
hin zur Kernschmelze verbunden. Die Unbeherrschbarkeit der Urantechnik ist der Grund, warum die maroden
Anlagen in Deutschland vom Netz müssen. Wer hier jetzt
die Rolle rückwärts macht, hat sicherlich nicht das Recht,
Bulgarien Vorschläge in der Atomfrage zu machen - ob
dies nun EU-konform ist oder nicht. Das heißt: Der Ausstieg aus dem Ausstieg ist der europaweite Einstieg in die
Gefahrenwirtschaft.
Doch wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass einige
Osteuropäer nun laut über Atomstrom nachdenken? Da
ist zum einen das Engagement vor allem deutscher Konzerne wie RWE und Siemens zu nennen. Die wollen gern
in Osteuropa neue Atomkraftwerke bauen - gern auch
mitten in Erdbebengebieten. Zum anderen ist der Gasstreit zwischen Russland und Ukraine wieder einmal
pünktlich zum neuen Jahr aufgeflammt. Der Lieferkonflikt fiel diesmal heftiger aus und legte über zwei Wochen
den Gasfluss nach Westen lahm. Länder wie die Slowakei
und Bulgarien, die in der Energiewirtschaft fast ausschließlich von russischem Gas abhängig sind, saßen
plötzlich im Dunkeln. Von der EU, die energiepolitisch
aus einzelstaatlichen Egoisten besteht, war nicht viel zu
erwarten - außer fehlendem Verhandlungsgeschick.
Noch weniger konnten die Osteuropäer auf Deutschland hoffen. Wir verfügen zwar über riesige Gasspeicher,
die weiter ausgebaut werden. Doch wir denken gar nicht
daran, dieses Know-how mit unseren Nachbarn zu teilen.
Und mit der Ostseepipeline haben wir schon gegenüber
Polen, Litauen und Lettland gezeigt, dass wir kein Interesse an einer gemeinsamen Gasstrategie mit unseren
osteuropäischen Partnern haben.
Statt acht Milliarden Euro in der Ostsee zu versenken,
müssen wir Osteuropa endlich wirksam in die Gasbevorratung einbinden. Und wir müssen die Energieeffizienz
und den Ausbau erneuerbarer Energien schneller voranbringen.
Wir werden aber kein Gehör finden, solange Deutschland seine Nachbarn vor den Kopf stößt und mit schlechtem Beispiel vorangeht. Wer jetzt effiziente und erneuerbare Energien ausbremst und die gefährliche Atomkraft
bewirbt, wie CDU/CSU und FDP es machen, bleibt unglaubwürdig. Deshalb ist der erste Schritt: schnellstmöglicher Ausstieg aus der Urannutzung.
Der Antrag der Grünen ist deshalb zu unterstützen.
Um wenigstens die größten Risiken von Atomreaktoren
zu verringern, gehören all jene Atomreaktoren, die schon
aufgrund ihrer Konstruktion hochgefährlich sind, abgeschaltet. Das sieht auch die ansonsten atomfreundliche
EU-Kommission so. Sie hat deshalb in den Beitrittsverträgen von Bulgarien, der Slowakei und Litauen festgeschrieben, dass hier überalterte Reaktoren zu einem jeweils festgelegten Zeitpunkt aus Sicherheitsgründen
abgeschaltet werden müssen. In Bulgarien und der SloZu Protokoll gegebene Reden
wakei ist dies bereits geschehen, in Litauen steht die Stilllegung noch für dieses Jahr an.
Im Zusammenhang mit der jüngsten Erdgaskrise wurden in den betreffenden Ländern Forderungen laut, die
veralteten Atomkraftwerke vertragswidrig wieder in Betrieb zu nehmen bzw. noch in Betrieb befindliche nicht
zum vereinbarten Zeitpunkt abzuschalten. Trotz einiger
Nachrüstungen in den vergangenen beiden Jahrzehnten
sind sie weiterhin ein großes Sicherheitsrisiko. Ein längerer Betrieb wäre unverantwortbar. Um dieses Sicherheitsrisiko auszuschließen, muss der fortgesetzte Betrieb
verhindert werden.
Teilweise rudern die Regierungen wieder zurück, doch
hat sich das Problem deswegen noch lange nicht erledigt.
Im Gegenteil: Angesichts der Abhängigkeit Osteuropas
von russischen Energieimporten wird die Forderung
schon bei der nächsten Erdgaskrise wieder aufflammen.
Der Argumentation dieser Länder, dass ein Weiterbetrieb
unter bestimmten Voraussetzungen rechtlich möglich sei
und diese Voraussetzungen jetzt gegeben seien, muss sowohl juristisch als auch inhaltlich widersprochen werden juristisch, weil diese Ausnahmeregelungen nicht für die
erneute Betriebsaufnahme gelten, sondern lediglich für
einen Weiterbetrieb. In der Slowakei und in Bulgarien hat
sich dies mit dem bereits erfolgten Abschalten bereits erledigt. Aber es muss auch inhaltlich widersprochen werden; denn die Erdgaskrise ist nicht durch den Fortbetrieb
hochgefährlicher Schrottmeiler zu lösen, sondern nur
durch eine Energiewende in den Ländern selbst und ein
solidarisches Handeln in der EU. Die Bundesregierung
sollte sich hier als Vorreiter betätigen. Sollte zusätzlich
Strom benötigt werden, dann kann und muss dieser künftig aus anderen Staaten der EU geliefert werden. Möglich
ist das heute schon. Es bedarf aber sicher auch neuer Abkommen und eines Ausbaus von Kuppelstellen.
Aber auch den betreffenden Ländern selbst steht eine
Fülle von Instrumentarien zur Verfügung, um die Gefahr
zukünftiger Erdgasverknappungen zu vermindern. Dazu
gehören eine höhere Energieeffizienz, der Ausbau der erneuerbaren Energien, eine bessere Anbindung an das
Erdgasnetz der EU sowie der Bau von Biogasanlagen.
Hier muss ein Schwerpunkt der immer enger zusammenwachsenden europäischen Energiepolitik liegen, um die
berechtigten Sorgen der osteuropäischen Staaten vor
künftigen Energieengpässen in Krisenzeiten zu mindern.
Gerade angesichts der Erfüllung des 20-Prozent-EUZiels im Hinblick auf die erneuerbaren Energien sowie
des 20-Prozent-EU-Ziels im Hinblick auf die Effizienz
sind auch die osteuropäischen Länder in der Pflicht. Ein
Weiterbetrieb der bereits abgeschalteten Reaktoren würde
den Ausbau der erneuerbaren Energien sowie Effizienzanreize verhindern.
Von der Bundesregierung haben wir zu diesem Thema
bislang nichts gehört. Wir fordern sie deshalb auf, jetzt
endlich zu handeln und sich auf EU-Ebene und bilateral für
die vertragstreue Abschaltung der betreffenden Altmeiler in
Ost- und Südosteuroapa einsetzt. Aber es müssen auch
Alternativen geboten werden, um die Abhängigkeit von
fossilen und nuklearen Energieimporten zu verringern.
Europa muss alles daransetzen, dass in diesen Staaten die
EU-Ziele erfüllt werden und sich erneuerbare Energien
aus Sonne, Wind, aber auch aus Biogas durchsetzen und
Energieeffizienz vorankommt. Wir fordern deshalb die
Bundesregierung auf, jetzt zu handeln und nicht bis zur
nächsten Erdgaskrise zu warten.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11764 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 20:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie, des zivilrechtlichen Teils der Zahlungsdiensterichtlinie
sowie zur Neuordnung der Vorschriften über
das Widerrufs- und Rückgaberecht
- Drucksache 16/11643 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Marco Wanderwitz, Dirk
Manzewski, Mechthild Dyckmans, Karin Binder, Nicole
Maisch, Parlamentarischer Staatssekretär Alfred Hartenbach.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die EURichtlinie zu Verbraucherkrediten und der zivilrechtliche
Teil der Zahlungsdiensterichtlinie umgesetzt sowie die
Vorschriften über das Widerrufs- und Rückgaberecht neu
geordnet. Damit einher geht eine tiefgreifende Weiterentwicklung dieser Rechtsgebiete.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt den Gesetzentwurf grundsätzlich. Es ist unser Ziel, entsprechend
der Brüsseler Vorgaben eine Umsetzung in das deutsche
Zivilrecht rechtzeitig bis zum 31. Oktober 2009 zu leisten.
Wegen der besonderen Bedeutung für die Wettbewerbsfähigkeit der Zahlungsdiensteanbieter auf der einen Seite
und für den Verbraucherschutz auf der anderen Seite wird
im Laufe der weiteren Beratung sorgfältig zu prüfen sein,
inwieweit die beteiligten Interessen bereits angemessen
berücksichtigt und zu einem vernünftigen Ausgleich geführt werden konnten bzw. inwieweit und an welchen Stellen eine Nachsteuerung des Entwurfs erforderlich ist. Wir
dürfen nicht, wie leider bereits so manches Mal, eine über
die Richtlinien hinausgehende Umsetzung anstreben,
wenn dadurch nicht eine Verbesserung der Wettbewerbsposition im europäischen Vergleich bzw. substanzielle
Verbesserungen im Bereich des Verbraucherschutzes erreicht werden können.
Mit der zur Umsetzung in nationales Recht anstehenden Zahlungsdiensterichtlinie wird das positive Ziel angestrebt, grenzüberschreitende Zahlungen so einfach,
effizient und sicher zu gestalten wie rein nationale Zahlungen innerhalb eines Mitgliedstaates. Darüber hinaus
soll der Wettbewerb dadurch erhöht werden, dass durch
die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes neue
Anbieter in den Zahlungsverkehrsmarkt eintreten können, was zur höheren Effizienz und im Ergebnis geringeren Kosten für die Kunden führen soll. Dafür sind gleiche
Wettbewerbsbedingungen für alle Anbieter im EU-weiten
Zahlungsverkehr Voraussetzung, die durch angeglichene
Anforderungen für die Beaufsichtigung der Zahlungsinstitute und harmonisierte Marktzugangskriterien geschaffen werden sollen. Im Ergebnis sollen Kunden zugleich
bessere Transparenz über Anbieter von nationalen und
grenzüberschreitenden Zahlungsdiensten gewinnen.
Um diese Ziele zu erreichen, enthält die Richtlinie bereits sehr detaillierte Regelungen. Neben den aufsichtsrechtlichen Anforderungen sind umfassende zivilrechtliche
Normierungen vorgesehen, die für alle Zahlungsdienstleistungen bis spätestens zum 31. Oktober 2009 in der
Europäischen Union und den Staaten des Europäischen
Wirtschaftsraums in nationales Recht umgesetzt werden
müssen.
Der vorliegende Regierungsentwurf integriert die umfangreichen Vorgaben der Richtlinie in Bezug auf den zivilrechtlichen Teil der Umsetzung in das Bürgerliche Gesetzbuch bzw. das Einführungsgesetz zum BGB. Um
welche neuen Vorgaben handelt es sich, bzw. welcher
gesetzgeberische Handlungsbedarf besteht? Die Verbraucherkreditrichtlinie beinhaltet viele inhaltliche und
technische Neuerungen, indem sie die Bestimmungen insbesondere zur Werbung, zur vorvertraglichen Information, zum Widerruf, zur vorzeitigen Rückzahlung nebst
Vorfälligkeitsentschädigung harmonisiert. Kurz gesagt:
Neuerungen, durch die Verbraucher zukünftig besser
über den Vertragsinhalt informiert werden sollen und
durch die zugleich Widerrufs- und Rückgaberechte bei
Verbraucherkreditverträgen vereinfacht werden sollen.
Herausheben möchte ich folgende Punkte:
Erstens: Informationspflichten. Der Verbraucher soll
künftig vor Abschluss eines Darlehensvertrages in der
Phase der Vertragsanbahnung über die wesentlichen Bestandteile des Kredits informiert werden. Unterstützt wird
dies, indem der Verbraucher vor Vertragsschluss einen
Entwurf des Darlehensvertrages anfordern kann. Der
Kreditgeber hat den Verbraucher über dieses Recht, für
das im Übrigen kein gesondertes Entgelt erhoben werden
darf, gesondert vorab zu informieren. Dies soll dem Verbraucher die Möglichkeit eröffnen, verschiedene Angebote besser zu vergleichen und in Kenntnis aller Umstände sich für oder gegen eine Vertragsofferte zu
entscheiden. Sobald sich die Wahl für einen bestimmten
Kredit abzeichnet, muss der Darlehensgeber dem Verbraucher zusätzlich die Hauptmerkmale des Vertrags erläutern. Dabei wird nicht nur festgelegt, über was im Einzelnen zu informieren ist, sondern auch, auf welche Weise
dies zu erfolgen hat. Damit geht die Vorschrift hinsichtlich
ihres Detaillierungsgrades deutlich über die bisherigen
Regelungen hinaus. Genauso ist neu, dass der Verbraucher
jederzeit - während der gesamten Vertragslaufzeit - einen
Tilgungsplan vom Darlehensgeber fordern kann.
Zweitens: Werbung. Ein weiterer Punkt ist die Werbung, die für Darlehensverträge strenger reglementiert
werden soll. Es soll nicht mehr als „Lockangebot“ eine
einzige Zahl herausgestellt werden, wie beispielsweise
ein besonders niedriger Zinssatz. Zukünftig müssen die
Konditionen anhand eines repräsentativen Beispiels verdeutlicht werden, wobei der Zinssatz, variabel oder fest,
der Nettodarlehensbetrag, der effektive Jahreszins, der
bei mindestens zwei Drittel der zu erwartenden Verträge
Verwendung finden wird, und die sonstigen Kosten darzustellen sind. Auch die Frage, „wie“ geworben werden
darf, wird geregelt - die Informationen sollen auffallend,
also gegenüber dem restlichen Inhalt der Werbung optisch, akustisch oder ähnlich jeweils den Umständen geeignet, hervorgehoben werden. Damit soll der Verbraucher insgesamt in die Lage versetzt werden, aufgrund
eines verbesserten Kenntnisstandes selbst die Vor- und
Nachteile des jeweiligen Kreditangebots abzuwägen.
Hier sehe ich Diskussionsbedarf, denn es ist bisher
noch offen, wie zum Beispiel die Zweidrittelregelung eingeschätzt und wirksam kontrolliert werden soll, welche
Vergleichsportfolios heranzuziehen sind und welche Daten offenzulegen sein werden.
Drittens: Musterverträge für Verbraucherdarlehen.
Künftig ist vorgesehen, einheitliche, für ganz Europa geltende Musterverträge für Kreditverträge zu etablieren.
Der Gesetzesentwurf sieht vor, dies in Deutschland erstmals auch gesetzlich zu kodifizieren, um an dieser Stelle
die Rechtssicherheit bzw. Verbindlichkeit solcher Muster
zu verbessern.
Viertens: Kündigungsmöglichkeiten. Von besonderem
Interesse wird auch die vorgeschlagene Neuregelung der
Kündigungsmöglichkeiten bei Darlehensverträgen sein.
Kündigungen durch den Darlehensgeber sollen künftig
bei unbefristeten Kreditverträgen nur noch zulässig sein,
wenn eine Kündigungsfrist von mindestens zwei Monaten
eingehalten wird. Dagegen sollen Verbraucher einen unbefristeten Kreditvertrag zu jeder Zeit kündigen können.
Eine vertraglich zu vereinbarende Kündigungsfrist darf
für den Verbraucher eine Frist von einem Monat nicht
überschreiten. Im Falle eines befristeten Vertrages soll
das Darlehen entsprechend jederzeit ganz oder teilweise
zurückgezahlt werden dürfen. Ein eventuell entstehender
Anspruch des Darlehensgebers auf eine Vorfälligkeitsentschädigung soll dabei auf maximal ein Prozent
des vorzeitig zurückgezahlten Kreditbetrages beschränkt
werden. Von den Neuregelungen sollen nicht nur reine
Darlehensverträge, sondern auch andere Finanzierungsgeschäfte, wie etwa Teilzahlungsgeschäfte und Leasingverträge, umfasst werden.
Daneben ist die Zahlungsdiensterichtlinie zu betrachten, die neben den gesondert zu regelnden aufsichtsrechtlichen Bestimmungen zivilrechtliche Regelungen für die
verschiedenen Zahlungsdiensteanbieter bzw. Zahlungsverfahren vorsieht. Im Gegensatz zu dem aufsichtsrechtlichen Teil der Zahlungsdiensterichtlinie, der das Verhältnis zwischen Zahlungsdienstleistern und Staat regelt,
befasst sich der zivilrechtliche Teil mit dem Verhältnis
zwischen Zahlungsdienstleistern und Kunden. Im Bereich
des bargeldlosen Zahlungsverkehrs gelten für Anbieter
Zu Protokoll gegebene Reden
und Nutzer von Zahlungsdienstleistungen künftig europaweit weitestgehend einheitliche Rechte und Pflichten.
Zum ersten Mal sollen sowohl für rein inländische als
auch für grenzüberschreitende Zahlungsverfahren, zum
Beispiel Überweisungen, einheitliche Regelungen festgelegt werden. Interessant ist dies insbesondere für bargeldlose Zahlungen. Ein einheitlicher Euro-Zahlungsraum
wird es den Anbietern von Zahlungsdiensten darüber hinaus erlauben, neue, europaweit funktionierende Verfahren für Zahlungen in Euro zu entwickeln. Insbesondere
für Verbraucher bedeutet das, dass bei einer Bestellung
aus dem europäischen Ausland die Bezahlung nicht mehr
notwendigerweise per Kreditkarte vorgenommen werden
muss, sondern künftig auch mittels einer Überweisung
beglichen werden kann.
Von Bedeutung für die Zahlungsdiensteanbieter sind
auch die neuen Vorschriften zu einer Vereinheitlichung
und Verkürzung der Ausführungs- und Wertstellungsfristen, die nicht mehr zwischen nationalen und grenzüberschreitenden Zahlungen innerhalb der EU unterscheiden.
Aktuell müssen grenzüberschreitende Überweisungen in
der EU binnen fünf Werktagen ausgeführt werden. Ab
dem 1. Januar 2012 sind alle Zahlungsaufträge in Euro
innerhalb eines Geschäftstages auszuführen. Bis dahin
kann eine dreitägige Ausführungsfrist vereinbart werden.
Dies waren jetzt nur einige beispielhafte Neuerungen,
mit denen wir uns in diesem Gesetzgebungsverfahren
auseinandersetzen werden.
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die zur Umsetzung anstehenden Richtlinien bzw. der vorgelegte
Gesetzentwurf zielen auf eine Verbesserung des Verbraucherschutzes ab. Dies und die zu erwartenden Kostenvorteile durch Etablierung eines echten Binnenmarktes auch
für Verbraucherkredite sind grundsätzlich zu begrüßen.
Zu beachten ist jedoch, dass überbürokratische Vorschriften, die am Ende lediglich erhebliche Mehrkosten
für die Unternehmen der Kreditwirtschaft, im Ergebnis
jedoch wenig echten Mehrwert für die Verbraucher schaffen und schlussendlich Kreditprodukte zu verteuern geeignet sind, was wiederum für Verbraucher von Nachteil
wäre, vermieden werden.
Insoweit wird im Rahmen des weiteren Gesetzgebungsverfahrens, eine Expertenanhörung ist jedenfalls
erforderlich, zu untersuchen sein, ob der gesetzgeberische Spielraum bei der Umsetzung der vorgenannten
Richtlinien richtig genutzt wurde. Uns als Union geht es
darum, die Umsetzung der Richtlinien als Chance zu nutzen, gleichermaßen den Verbraucherschutz wie die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Kreditinstitute im künftig
intensiver werdenden europäischen Wettbewerb zu verbessern.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen vor allem
Richtlinien des europäischen Parlaments in nationales
Recht umgesetzt werden. Dabei geht es zum einen um die
Zahlungsdiensterichtlinie, mit der ein harmonisierter
Rechtsrahmen für unbare Zahlungen im europäischen
Binnenmarkt geschaffen werden soll, und zum anderen
um die Verbraucherkreditrichtlinie, mit der verbraucherrechtliche Bestimmungen insbesondere zu Werbung, Informationspflichten, Widerruf und Entschädigung harmonisiert werden sollen.
Ich gehe davon aus, dass durch den Gesetzentwurf insbesondere das Schutzniveau für die Verbraucher bei Verbraucherkreditverträgen verbessert wird. Das gilt nicht
nur für den Abschluss, sondern auch für die Durchführung von Darlehen. Verbraucher werden besser über den
Vertragsinhalt informiert werden, und unseriösen Lockvogelangeboten wird ein Riegel vorgeschoben.
Auch die geplante einheitliche Regelung über die Ausgestaltung der Widerrufs- und Rückgabebelehrung in
§ 360 BGB bei Verbraucherverträgen wird von mir dabei
ausdrücklich begrüßt. Die neue Vorschrift fasst die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Widerrufs- bzw.
Rückgabebelehrung zusammen, was zu einer Vereinfachung und Erleichterung für den Rechtsanwender führen
wird.
Für den europäischen Markt werden darüber hinaus
einheitliche Rechte und Pflichten für den bargeldlosen
Zahlungsverkehr geschaffen. Ich teile dabei die Auffassung
der Ministerin aus der entsprechenden Pressemitteilung
des BMJ, dass hiervon die Kunden und die Zahlungsdienstleister profitieren werden. Ich finde übrigens gut,
dass die Werbung für Darlehensverträge stärker reglementiert wird. Dadurch, dass nicht nur der meinetwegen
niedrige Zinssatz, sondern auch die weiteren Kosten des
Vertrages angegeben werden müssen, werden Lockangebote unterbunden und dem Verbraucher aussagekräftigere
Informationen zugeleitet. Dies wird unterstützt dadurch,
dass künftig für die unterschiedlichen Kreditverträge einheitliche Muster zur Unterrichtung der Verbraucher gelten; denn die unterschiedlichen Angebote können so besser verglichen werden.
Profitieren werden die Verbraucher auch von den neuen
Kündigungsmöglichkeiten bei Darlehensverträgen - zum
einen, weil Kündigungen durch den Darlehensgeber bei
unbefristeten Verträgen nur noch zulässig sind, wenn eine
Kündigungsfrist von mindestens zwei Monaten vereinbart
wurde, der Darlehensnehmer demgegenüber aber jederzeit kündigen kann, und zum anderen, sollte dies der Fall
sein, weil eine vereinbarte Vorfälligkeitsentschädigung
auf maximal 1 Prozent des vorzeitig zurückgezahlten Betrags beschränkt ist.
Im Bereich des bargeldlosen Zahlungsverkehrs werden
künftig für Anbieter und Nutzer von Zahlungsdienstleistungen europaweit weitestgehend einheitliche Rechte und
Pflichten gelten. Dies wird bargeldlose Zahlungen erleichtern und die Rechtssicherheit für alle Beteiligten erhöhen. Als Nebeneffekt ist verstärkter Wettbewerb unter
den Zahlungsdienstleistern zu erwarten.
Soweit das BMJ die Auffassung vertritt, dass die neuen
Regelungen zu einer Vereinheitlichung und Verkürzung
der Ausführungs- und Wertstellungsfristen führen wird,
wird diese Hoffnung von mir geteilt, zumal nicht mehr
zwischen nationalen und grenzüberschreitenden Zahlungen
innerhalb der EU unterschieden werden wird.
Uns liegt hier ein durchdachter Gesetzentwurf vor. Natürlich ist die eine oder andere Vorschrift noch einmal
Zu Protokoll gegebene Reden
kritisch zu betrachten. Das werden wir auch im Laufe des
Gesetzgebungsverfahrens tun. Insgesamt gesehen handelt es sich meiner Auffassung nach jedoch um einen ausgewogenen Entwurf. Ich freue mich jedenfalls schon auf
die anstehenden Beratungen mit Ihnen.
Da liegt sie nun, die Drucksache 16/11643 vom
21. Januar 2009. 313 Seiten gilt es zu durchdringen, und
das in gerade einmal 15 Werktagen. Dass die heutige
erste Lesung da nicht mehr sein kann als eine erste Einschätzung, liegt auf der Hand.
Lassen Sie mich mit einem Thema beginnen, dem die
besondere Aufmerksamkeit der FDP-Bundestagsfraktion
galt und gilt: der Rechtssicherheit beim Widerrufs- und
Rückgaberecht. Es war die FDP-Bundestagsfraktion, die
dieses Thema in parlamentarischen Initiativen auf die politische Agenda gesetzt und die Kritik aus Reihen der
Rechtsprechung und Literatur aufgegriffen hat. Auf diese
Weise haben wir erreicht, dass nach jahrelanger Kritik
zum 1. April 2008 eine korrigierte Musterbelehrung in
Kraft treten konnte, die zu einem Zuwachs an Rechtssicherheit geführt hat. Da jedoch auch dieses Muster nur
Verordnungsrang hatte, hätte es theoretisch weiterhin von
einzelnen Gerichten für unwirksam erklärt werden und
findige Anwälte hätten ihren „Abmahnterror“ weiter veranstalten können. Damit ist nun Schluss. Nach dem Gesetzentwurf soll das Muster in einem formellen Gesetz geregelt werden. Dies führt zu mehr Rechtssicherheit und zu
einem besseren Schutz vor Abmahnungen, auch wenn es
in Sachen Rechtssicherheit durchaus noch Gestaltungsspielräume für Verbesserungen gibt.
Noch immer vorgesehen ist eine Vielzahl von Gestaltungshinweisen, die in der Praxis zu Interpretations- und
Auslegungsfragen und zu Diskussionen darüber führen
werden, ob die im konkreten Fall verwendete Formulierung den gesetzlichen Anforderungen genügt. Wünschenswert wäre darüber hinaus ein einheitliches Muster
für alle Vertragsarten und Vertriebsformen unter Einschluss auch von Verbraucherdarlehensverträgen. Mindestens erforderlich ist eine Maximalgrenze für die Ausübung des Widerrufsrechts. Dies gilt jedenfalls so lange,
wie Verbraucherkreditverträge aus dem Anwendungsbereich der Musterbelehrungen ausgeklammert sind.
Ausdrücklich zu begrüßen ist die Absicht, die bislang
bestehende Ungleichbehandlung von Onlineshops und
Internetauktionen bei Widerrufsfrist und Wertersatz aufzuheben. Diese Unterscheidung war künstlich. Sie beruhte auf einer rechtlichen Konstruktion, ohne dass in der
Sache eine unterschiedliche Behandlung geboten gewesen wäre.
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch eine
grundsätzliche Bemerkung. Ich begrüße das Muster aus
praktischen Erwägungen. Rechts- und ordnungspolitisch
könnte man auch zu anderen Ergebnissen kommen. Unverändert stellt sich die Frage, ob es Aufgabe des Gesetzgebers ist, Muster für die Rechtspraxis vorzuhalten. Nach
meiner Auffassung ist dies eigentlich Aufgabe der rechtsberatenden Berufe. Nachdem nun aber einmal der Weg
über Muster des Verordnungs- bzw. jetzt Gesetzgebers beschritten worden ist, wird man nüchtern feststellen müssen, dass ein abermaliger Systemwechsel zu einer neuerlichen Belastung des Rechts- und Geschäftsverkehrs
führen würde, woran niemand ein Interesse haben kann.
Für mich ist mit der Festlegung auf eine Musterwiderrufsbelehrung aber keine Vorentscheidung für andere
Rechtsbereiche, beispielsweise das Gesellschaftsrecht,
verbunden. Hier sollte die Rechtsgestaltung weiterhin
den rechtsberatenden Berufen vorbehalten bleiben. Dies
ermöglicht auch eine schnellere Anpassung an die sich
ändernden Verhältnisse.
Lassen Sie mich nun zu den umzusetzenden Richtlinien
kommen und mit der über Verbraucherkredite beginnen.
Ziel ist es, Verbraucher künftig besser zu schützen, wenn
sie Kredite aufnehmen oder abbezahlen. Zu diesem
Zweck sollen die Kreditgeber die Verbraucher bereits in
der Anbahnungsphase eines Vertrages umfassend informieren. Auch soll - so Bundesjustizministerin Brigitte Zypries in einer Pressemitteilung - „Lockvogelangeboten
ein Riegel vorgeschoben werden“. Um dies zu erreichen,
müssen in Zukunft alle Kosten des Vertrages aufgelistet
werden. Außerdem sollen die Verbraucherrechte bei einer
Darlehenskündigung gestärkt werden. Bei befristeten
Verträgen sollen Verbraucher das Darlehen künftig jederzeit ganz oder teilweise zurückzahlen dürfen. Verlangt
der Kreditgeber in einem solchen Fall eine Vorfälligkeitsentschädigung, soll diese auf maximal 1 Prozent des
vorzeitig zurückgezahlten Betrages beschränkt werden.
Das alles klingt sehr technisch. Tatsächlich verbindet
sich hiermit jedoch die Hoffnung, einen echten Binnenmarkt für Verbraucherkredite schaffen zu können. Für
Anbieter von Krediten soll es zukünftig nicht mehr notwendig sein, sich an die unterschiedlichen Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten anpassen zu müssen. Effizienzgewinne der Banken und größenbedingte
Einsparungen sollen die Folge sein.
Positive Effekte sollen sich auch für die Verbraucher
einstellen. Der verstärkte Wettbewerb soll zu einem breiteren Angebot und zu einem Sinken der Kreditzinsen führen. Verbraucher sollen zudem vor unverhältnismäßigen
Krediten geschützt werden. Mitunter sollen sie gar vor
sich selbst geschützt werden. Ökonomisch könnte es nämlich durchaus sinnvoll sein - so die Richtlinie - wenn Kreditgeber in einzelnen Fällen einen Kredit auch einmal
verweigern. Dies diene überdies der Stabilisierung der
internationalen Finanzwelt, die nicht zuletzt durch die
unverantwortliche Kreditvergabepraxis US-amerikanischer Banken in Turbulenzen geraten sei.
Das alles klingt gut und nachvollziehbar. Es darf aber
nicht den Blick dafür versperren, dass mit der Richtlinie
auch Gefahren, in jedem Falle aber Kosten verbunden
sein werden. Den Kreditgebern werden Kosten entstehen,
beispielsweise um den Beratungs- und Dokumentationspflichten zu genügen. Das Risiko, in gerichtliche Verfahren verwickelt zu werden, wird steigen. Und die steigenden Kosten und Risiken werden es für Kreditgeber häufig
finanziell unattraktiv machen, überhaupt bestimmte kleinere Darlehen zu gewähren. Es ist also nicht gänzlich
auszuschließen, dass am Ende eine Verknappung des Kreditangebotes stehen wird. Den Preis hierfür werden aber
Zu Protokoll gegebene Reden
auch die Verbraucher zahlen, die entweder höhere Kreditkosten tragen müssen oder überhaupt keinen Kredit
mehr erhalten können. Gemessen an der wechselvollen
und langen Entstehungsgeschichte der neuen Richtlinie
hätte es schlimmer kommen können.
Gleichwohl bleiben Zweifel am Harmonisierungskonzept der neuen Richtlinie. Was wir beobachten, ist ein
Flickenteppich, eine bunte Mischung aus Vollharmonisierung, Mindestharmonisierung, partieller Harmonisierung und zulässigen Alternativregelungen in Form von
Optionsklauseln. Das macht die Richtlinie zu einem Regelwerk, das im Gemeinschaftsprivatrecht seinesgleichen
sucht. Das bleibt nicht ohne Folgen auch für die Ziele, die
mit der Richtlinie verfolgt werden. Ich habe Zweifel, dass
die Rechtslage in den Mitgliedstaaten durch die Umsetzung tatsächlich soweit vereinheitlicht wird, dass die
Marktbedingungen in allen Mitgliedstaaten gleich sind
und Banken ihre Verbraucherkredite wirklich in identischer Form EU-weit anbieten können.
Mit Blick auf das gemeinschaftsrechtliche Subsidiaritätsprinzip stellt sich deshalb mit besonderem Nachdruck
die Frage, ob eine Vollharmonisierung im Verbraucherrecht mit allen Schwierigkeiten, die sie für die Mitgliedstaaten birgt, überhaupt gerechtfertigt ist. In diesem
Sinne ist die Verbraucherkreditrichtlinie ein echter Testballon für alle weiteren Harmonisierungsbestrebungen
im Verbraucherrecht. Dies gilt insbesondere auch im Hinblick auf die anstehende Überarbeitung des Verbraucheracquis.
Neben diesen eher grundsätzlichen Überlegungen
werden wir uns im Gesetzgebungsverfahren auch mit Verbesserungen im Detail auseinanderzusetzen haben. Eine
wichtige Forderung in diesem Zusammenhang ist die Vermeidung von unverhältnismäßigen Rechtsfolgen bei Informationsdefiziten. Wenn man bedenkt, dass der Gesetzentwurf an verschiedenen Stellen Rechtsfolgen bis hin
zum Verlust jeglicher Zinsansprüche vorsieht, bedarf dies
einer sehr kritischen Überprüfung.
Ich bitte mir nachzusehen, dass ich die Zahlungsdiensterichtlinie an dieser Stelle aus Zeitgründen nur
streifen kann. Grenzüberschreitende Zahlungen sollen
genauso einfach, effizient und sicher werden wie Zahlungen innerhalb eines Mitgliedstaates. Darüber hinaus soll
der Wettbewerb erhöht werden. Durch die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes sollen neue Anbieter in
den Zahlungsverkehrsmarkt eintreten können, was zu einer höheren Effizienz und zu geringeren Kosten führen
soll. All dies findet seinen Niederschlag in einer Vielzahl
von sehr detaillierten Regelungen, die zu entsprechend
engen Vorgaben für den nationalen Gesetzgeber führen.
War im deutschen Recht bislang nur der Überweisungsvertrag detailliert geregelt, enthalten die neuen Vorschriften nunmehr darüber hinausgehende Anforderungen, die auch für die sonstigen Zahlungsinstrumente, wie
zum Beispiel Lastschriften, Karten, das Onlinebanking,
die Geldkarte usw., gelten sollen.
All dies hat erhebliche Auswirkungen auf unser gutes
altes BGB. Mir wird schwummrig bei der Vorstellung,
dass § 675 BGB künftig eine Buchstabenkette aufweisen
wird, die bis hin zu § 675 „z“ BGB gehen soll. Wer soll
das eigentlich noch verstehen?
Ich bin mir des begrenzten Spielraums, der für den nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie
verbleibt, durchaus bewusst. Wir dürfen jedoch den Kopf
nicht in den Sand stecken, sondern müssen den verbleibenden Spielraum im Gesetzgebungsverfahren effektiv
nutzen. Das gilt einerseits im Interesse der Verbraucher.
Hier werden wir uns mit dem Zusammenspiel der neuen
Regelungen noch intensiver beschäftigen müssen. So
kann es doch beispielsweise nicht sein, dass der Widerruf
von Zahlungsaufträgen bei sofort erkannten Fehlern offensichtlich fast unmöglich wird und sich Fehler nicht
mehr unbürokratisch beseitigen lassen. Dies gilt aber
auch im Interesse der Banken. Die Umsetzung der Verbraucherkredit- und Zahlungsdiensterichtlinie bedeutet
für die Kreditwirtschaft einen weiteren großen Kraftakt in
einer Zeit, in der durch die Finanz- und Wirtschaftskrise
ohnehin schon genug Belastungen zu bewältigen sind.
Hier liegen große Anstrengungen vor den Banken.
Deshalb sollte das einheitliche Inkrafttreten der Umsetzung von Verbraucherkreditrichtlinie und Zahlungsdiensterichtlinie noch einmal überdacht werden. Für die
Zahlungsdiensterichtlinie gilt ein Umsetzungszeitraum
bis zum 1. November 2009. Das ist schon knapp genug,
aber nicht zu ändern. Bei der Verbraucherkreditrichtlinie
haben wir etwas mehr Luft. Hier ist Stichtag für die Umsetzung der 12. Mai 2010. Es ist kein Sachgrund ersichtlich, das Inkrafttreten des Gesetzes auch insoweit auf den
31. Oktober 2009 vorzuziehen. Das sollten wir im Gesetzgebungsverfahren korrigieren.
In diesem Sinne freue ich mich auf gute Beratungen
und auf entsprechende Erkenntnisgewinne bei allen Beteiligten.
Angesichts der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise ist der vorliegende Gesetzentwurf fast schon eine
Provokation. Während die Bürgerinnen und Bürger mit
ihren Steuern und häufig genug auch mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes die Folgen der Krise zu bezahlen
haben, und während Milliarden an Steuergeldern an
Wirtschaft und Banken verschenkt werden, wird der finanzielle Verbraucherschutz von Bundesregierung und
EU nicht etwa gestärkt, sondern geschwächt. Fehlender
unmittelbarer oder mittelbarer Verbraucherschutz spielt
eine bedeutende Rolle in der Finanzkrise. Doch nicht einmal jetzt macht sich die Bundesregierung auf, ein zukunftsfähiges und Verbraucherinnen und Verbraucher
schützendes Kreditwesen zu schaffen.
Dieser Gesetzentwurf bringt alles andere als die Verbesserung des finanziellen Verbraucherschutzes in
Deutschland. Er basiert auf einer EU-Richtlinie, an der
die Bundesregierung in Brüssel maßgeblich beteiligt war.
Der Entwurf belegt, dass trotz aller Beteuerungen aus
dem Regierungslager über dringend notwendige, schärfere Regulierungen der Finanzmärkte gerade das genaue
Gegenteil stattfindet. Inmitten der katastrophalen Finanz- und Wirtschaftskrise lässt die Regierung den Neoliberalismus hochleben. Das ist die Wirklichkeit.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich werde Ihnen das erläutern. Die Verbraucherkreditrichtlinie enthält heute alles, was die Bankenlobby sich
wünscht: die Anerkennung von Kreditverkäufen, ein nicht
aussagefähiger Effektivzins, Ausnahmen für Kleinkredite,
Anerkennung der wucherischen Überziehungsprovisionen und Verschuldung auf Mausklick im Internet ohne eigenhändige Unterschrift. Den nationalen Parlamenten
wurde nur wenig Spielraum gelassen, um die Verbraucherinnen und Verbraucher besser zu schützen.
Aber auch diesen Spielraum nutzt die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf nicht. Der Kreditmarkt ist
intransparent und soll offenbar auch weiter intransparent
bleiben. Banken können weiterhin mit Kreditzinsen werben, die die Verbraucherinnen und Verbraucher in der
Realität nie bekommen werden. So gehört mittlerweile
zur gängigen Praxis, dass 50 Prozent der Kreditkosten
verschleiert werden, indem die Vergabe von Krediten mit
einer Restschuldversicherung gekoppelt wird, die den
Kredit erheblich verteuert. Ignoriert wird auch, dass eine
Kreditvergabe häufig an den Abschluss einer Kapitallebensversicherung gebunden wird. Danach müssen zuerst
die Kosten der Versicherungen und das Anlageprodukt
bezahlt werden, bevor der Kredit abgetragen werden
kann. So kassieren die Banken doppelt: erst die Provisionen der Versicherungen, die teilweise 60 Prozent betragen, und obendrein die hohen Zinsen der Kreditnehmerinnen und Kreditnehmer.
Ein weiteres großes Problem sind Kleinkredite, die
ebenso wenig unter die verbraucherschützenden Normen
des Gesetzes fallen. Dazu gehört zum Beispiel die Praxis
der Banken, Verbraucherinnen und Verbraucher zu einer
Kette von Kreditkarten zu verleiten, in der die Überschuldung einer Kreditkarte durch die nächste verlängert und
verschärft wird und die Menschen in eine Überschuldungsspirale treibt. Das Gleiche gilt für Kapitallebensversicherungskredite oder für sogenannte finanzierte Kapitalanlagen. Diese Praxis, die in angelsächsischen
Ländern verbreitet ist, treibt nun auch bei uns ihre falschen Blüten. Damit wird das Kreditmonopol untergraben.
Es wird zusätzlich dadurch aufgeweicht, dass es in einigen neuen EU-Ländern, wie zum Beispiel in Tschechien, es dieses Kreditmonopol gar nicht gibt. Interessiert
es die Bundesregierung gar nicht, welche Probleme für
die Bürgerinnen und Bürger dadurch entstehen können?
Auch Kettenumschuldungen interessieren die Koalition
offenbar nicht, die die Kreditnehmerinnen und Kreditnehmer in eine Überschuldung treiben. So müssten die Kettenkredite untersagt werden, wo wegen eines geringen
Zusatzbedarfs des Kreditnehmers gleich der gesamte
Kredit mehrfach umgeschuldet wird. Dadurch verdoppeln sich die Kreditkosten innerhalb kürzester Zeit, ohne
dass die Kreditnehmerin bzw. der Kreditnehmer eine
Chance gehabt hätte, den Kredit zu mindern. Dadurch
werden Schuldenberge aufgetürmt, die nicht mehr abzutragen sind. Das ist Ausbeutung durch Umschuldung.
Das Gesetz ändert nichts an der Praxis, von den Verbraucherinnen und Verbrauchern Wucherzinsen zu nehmen. Bei Überschreitung des Dispolimits verlangen viele
Institute schon 20 Prozent und mehr Überziehungszins.
Der Zinssatz ist nach der bisherigen Rechtsprechung auf
maximal 16 bis 18 Prozent beschränkt. Diese Wucherkredite werden nicht von den Gutsituierten in Anspruch genommen, sondern von den Leuten, denen bereits jetzt das
Wasser bis zum Hals steht. Dazu gehören auch Kleinstunternehmer und Selbstständige. Diese Wucherzinsen müssen verboten werden.
Während in Frankreich, Italien, den Benelux-Ländern
oder auch in Polen Antiwuchergesetze bestehen, gibt es in
Deutschland bislang nur eine Rechtsprechung, die jedoch
nicht mehr greift. Sie besagt nämlich, das Doppelte vom
Üblichen sei nichtig. Was jedoch „üblich“ ist, wurde pervertiert. In Deutschland wird Wucher so zum Alltagsproblem.
Die Koalitionäre von CDU/CSU und SPD lässt das
kalt. Wo sind die Antiwucherregelungen in Ihrem Gesetzentwurf? Ist für Sie der § 138 Abs. 2 BGB etwa der Weisheit letzter Schluss?
Ich fasse zusammen: Wir haben in Deutschland - im
Unterschied zu zahlreichen anderen vergleichbaren Ländern - ein großes Problem mit dem Effektivzins, mit dem
Kreditmonopol, mit Wucher, mit Kreditkartenketten und
mit Überschuldung. Das alles scheint Ihnen gleichgültig
zu sein. Im Gesetzentwurf ist es kein Thema.
Ich möchte daran erinnern, dass die internationale
Gemeinschaft sieben Prinzipien für eine verantwortliche
Kreditvergabe aufgestellt hat. Sie könnten dies als Anregung nutzen, um den Gesetzentwurf zu überarbeiten.
Auch besteht dringender Handlungsbedarf bei der finanziellen und personellen Ausstattung der Schuldnerberatungsstellen. Bereits heute wird von der Wirtschaftsauskunftei Creditreform für dieses Jahr eine Zunahme der
Verbraucherinsolvenzen um 50 Prozent angekündigt.
Dieser Gesetzentwurf birgt gerade für Menschen mit
kleineren Einkommen massive Verschlechterungen. Er
darf so nicht angenommen werden.
Die Finanzkrise hat es deutlich gezeigt: Ob bei Geldanlagen oder Kreditvermittlung, die Verbraucherinnen
und Verbraucher brauchen mehr Schutz auf den Finanzmärkten. Der nun vorliegende Gesetzentwurf zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie setzt eine EU-Richtlinie um, die im Frühjahr 2008 verabschiedet wurde.
Bereits in der EU-Richtlinie wurde der Verbraucherschutz aufgrund von massiven Protesten der Banken im
Vergleich zum ursprünglichen Entwurf erheblich aufgeweicht.
Leider ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur
Umsetzung der Richtlinie ebenfalls kein großer Wurf in
Sachen Verbraucherschutz. Viele Probleme bleiben im
Gesetz ungeregelt. Ein Beispiel ist das Thema unseriöse
Kreditvermittler. Nach wie vor werden die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht effektiv vor Kredithaien geschützt, obwohl die EU-Richtlinie durchaus Raum für
strengere Auflagen und Pflichten für Kreditvermittler gelassen hätte. Das ist fahrlässig, denn mit unseriösen Krediten werden im Jahr mindestens 150 Millionen Euro zum
Schaden der Verbraucherinnen und Verbraucher umgeZu Protokoll gegebene Reden
setzt. Die Zahl der Verbraucherinnen und Verbraucher,
denen diese unseriösen Kredite angeboten werden, liegt
jährlich bei 400 000, wie eine Schufa-Studie belegt. Hier
hätte die Bundesregierung handeln müssen, damit den
schwarzen Schafen am Markt endlich das Handwerk gelegt wird und die Menschen nicht mit faulen Kreditangeboten geködert werden. Diejenigen Verbraucherinnen
und Verbraucher, die sich bewusst zur Aufnahme eines
Kredits entscheiden, müssen sich darauf verlassen können, dass sie nicht übervorteilt oder in unüberschaubare
Schulden getrieben werden. Zu einem seriösen Umgang
mit Krediten gehören auch verbraucherfreundliche Standardinformationen in der Werbung.
Bei den Regelungen zum Widerrufsrecht wurde ebenfalls geschlampt. Verbraucherinnen und Verbraucher
müssen davor geschützt werden, dass sie nicht auf Produkten sitzen bleiben, die sie weder haben wollten noch
wissentlich bestellt haben. Ein effektives und klar verständliches Widerrufsrecht im Sinne der Verbraucher
wäre hier wünschenswert gewesen.
Schutzdefizite gibt es auch bei den Neuregelungen für
die Restschuldversicherungen. Unter anderem fehlt die
Festlegung einer angemessenen Obergrenze für Restschuldversicherungen.
Auch die Regelungen beim Zahlungsverkehr bringen
keine Vorteile für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Kommt es zu Missbrauch bei Kartenzahlung oder PIN,
trägt noch immer der Verbraucher ein sehr hohes Haftungsrisiko. Hier hätte der Gesetzgeber endlich dafür
sorgen müssen, dass nicht die Verbraucherinnen und Verbraucher den Schaden alleine tragen, wenn sie bei Kartenzahlungen von Betrügern abgezockt werden. Noch unverständlicher ist, dass der jetzige Entwurf vorsieht, dass
die Verbraucherinnen und Verbraucher bei Kartenmissbrauch in jedem Fall mit 150 Euro selbst haften, auch
dann, wenn sie nachweislich nicht fahrlässig gehandelt
haben. Das ist nicht akzeptabel. Vielmehr sollten die Banken endlich in die Verantwortung genommen werden und
sichere Zahlungssysteme für ihre Kunden und Kundinnen
bereitstellen.
Für die Verbraucherinnen und Verbraucher bergen die
Regelungen zur Zahlungsdiensterichtlinie auch Überschuldungsrisiken. Wenn Kreditkartenanbieter zukünftig
keine Banklizenz mehr benötigen, werden noch mehr Kreditkarten im Umlauf sein. Für die Verbraucherinnen und
Verbraucher ist die Gefahr der Überschuldung umso höher, wenn sie unzählige Kreditkarten nutzen können.
Insgesamt bleibt festzustellen: Der Verbraucherschutz kommt im Gesetzentwurf wieder einmal zu kurz.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat den Antrag
„Verbraucherschutz auf den Finanzmärkten“, Drucksache 16/11205, in das parlamentarische Verfahren eingebracht. Unter anderem fordern wir dort auch, dass ein sogenannter Finanzmarktwächter die Interessen der
Verbraucherinnen und Verbraucher auf den Finanzmärkten vertritt. An diesem und den zahlreichen anderen Vorschlägen sollte sich die Bundesregierung orientieren und
sie in ihre Gesetzgebung einfließen lassen, damit die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht weiterhin die Verlierer auf dem Finanzmarkt sind.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung sollen zwei europäische Richtlinien in deutsches
Recht umgesetzt und die Vorschriften zum Widerrufsrecht
neu geordnet werden. Zur Umsetzung der Richtlinien ist
besonders darauf hinzuweisen, dass beide Richtlinien
dem Prinzip der Vollharmonisierung folgen. Der nationale Gesetzgeber darf also grundsätzlich nicht inhaltlich
von den Vorgaben aus den Richtlinien abweichen. Folglich beschränkt sich der Entwurf in weiten Teilen auf eine
Eins-zu-eins-Umsetzung.
Der Gesetzentwurf beinhaltet, die Vorgaben der Verbraucherkreditrichtlinie sowie des zivilrechtlichen Teils
der Zahlungsdiensterichtlinie in das Bürgerliche Gesetzbuch zu integrieren. Dies ist konsequent. Auch bisher sind
die entsprechenden Regelungsmaterien, die durch die
beiden Richtlinien betroffen werden, dort angesiedelt.
Um das Bürgerliche Gesetzbuch nicht mit Details zu
überfrachten, sollen die langen Informationspflichtenkataloge sowie die erforderlichen Muster in das Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch überführt
werden. Damit stehen diese Vorschriften und Muster auch
auf einer formell-gesetzlichen Grundlage, was die
Rechtssicherheit der Betroffenen erhöht. An diesen
grundlegenden Entscheidungen ist im bisherigen Verlauf
des Gesetzgebungsverfahrens keine Kritik geübt worden.
Inhaltlich ist Folgendes hervorzuheben: Die Neuordnung der Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum
Widerrufs- und Rückgaberecht dient der Vereinfachung
und soll die Verständlichkeit dieser schwierigen Materie
verbessern. Sie ist zur Richtlinienumsetzung nicht erforderlich, bietet sich aber in diesem Sachzusammenhang an.
Im Verbraucherdarlehensrecht wird die Pflicht des
Darlehensgebers zur vorvertraglichen Information dazu
führen, dass Verbraucher die Vor- und Nachteile eines
Vertragsabschlusses besser abwägen können. Dies stärkt
die Position des mündigen Verbrauchers, der eigenverantwortlich auf fundierter Grundlage seine Entscheidungen
trifft. Einheitliche Informationsmuster werden es dem
Verbraucher ermöglichen, auf einen Blick mehrere Angebote miteinander zu vergleichen.
Hinzu kommen Regelungen zur jederzeitigen vorzeitigen
Rückzahlung des Darlehens. Verbraucher können zukünftig Darlehen, die nicht grundpfandrechtlich gesichert
sind, jederzeit, das heißt ohne die bisherige Warte- und
Kündigungsfrist, zurückzahlen. Als Ausgleich steht dem
Darlehensgeber eine Vorfälligkeitsentschädigung zu. Deren Berechnung war auf europäischer Ebene bis zuletzt
umstritten. Nach dem Gesetzentwurf ist dieser Anspruch
als ein in der Höhe begrenzter Schadensersatzanspruch
ausgestaltet. Dies ist eine systemkonforme Umsetzung,
die insgesamt sachgerecht und ausgewogen erscheint.
Neu geregelt wird ferner die Werbung für Verbraucherkredite. Wirbt ein Unternehmer mit Zahlenangaben für
Kredite, kann er zukünftig nicht mehr eine besonders
günstige Zahl, wie etwa den Jahreszins, herausstellen,
sondern muss weitere Pflichtangaben machen. Damit soll
Lockvogelangeboten in der Werbung entgegengewirkt
werden. Nach dem Vorschlag im Umsetzungsgesetz müssen
Zu Protokoll gegebene Reden
die Pflichtangaben so gewählt werden, dass mindestens
zwei von drei Verträgen, die aufgrund der Werbung abgeschlossen werden, den in der Werbung versprochenen
Konditionen entsprechen.
Ein weiterer Schwerpunkt des Gesetzentwurfs betrifft die
Umsetzung der zivilrechtlichen Vorschriften der Zahlungsdiensterichtlinie. Die Richtlinie schafft einen harmonisierten Rechtsrahmen für unbare Zahlungen im europäischen
Binnenmarkt. Die Umsetzung erfordert erhebliche Änderungen und Ergänzungen sowohl der einschlägigen
Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs - §§ 675a ff.
BGB - als auch der Regelungen zu den Informationspflichten. Erstmals gibt es sowohl für rein inländische als
auch für grenzüberschreitende Zahlungsverfahren, zum
Beispiel Überweisung, Zahlungskarte oder Lastschrift,
einheitliche Regelungen. Dies erleichtert bargeldlose
Zahlungen und erhöht die Rechtssicherheit für alle Beteiligten. Ein einheitlicher Euro-Zahlungsraum - Single
Euro Payments Area, SEPA - wird es den Anbietern von
Zahlungsdiensten darüber hinaus erlauben, neue, europaweit funktionierende Verfahren für Zahlungen in Euro
zu entwickeln, sogenannte SEPA-Produkte.
Beispiele: Ein europäisches Lastschriftverfahren wird
es ermöglichen, dass Strom- und Telefonkosten für eine Ferienwohnung auf Teneriffa oder die Miete für das Zimmer
im Studentenwohnheim bei einem Auslandsaufenthalt monatlich von einem deutschen Konto bequem abgebucht
werden können. Auch bei Internetbestellungen aus dem
europäischen Ausland muss eine Bezahlung nicht mehr
notwendigerweise per Kreditkarte erfolgen, sondern
kann per Lastschrift oder Überweisung durchgeführt
werden. Deshalb wird - jedenfalls soweit es um die Bezahlung geht - der Standort eines Anbieters künftig kein
Hindernis mehr dafür sein, sich als Kunde für das günstigste Angebot zu entscheiden. Zugleich fördern gleiche
Rahmenbedingungen auch den grenzüberschreitenden
Wettbewerb unter den Zahlungsdienstleistern. Durch einheitliche Vorgaben über die Information der Kunden wird
es leichter, auch das Angebot ausländischer Zahlungsdienstleister zu bewerten.
Schließlich führen die neuen Regelungen zu einer Vereinheitlichung und Verkürzung der Ausführungs- und
Wertstellungsfristen. Künftig wird nicht mehr zwischen nationalen und grenzüberschreitenden Zahlungen innerhalb
der EU unterschieden. Bisher sind grenzüberschreitende
Überweisungen in der EU binnen fünf Werktagen zu erbringen. Ab 1. Januar 2012 müssen alle Zahlungsaufträge
in Euro innerhalb eines Geschäftstages ausgeführt werden.
Bis dahin kann eine dreitägige Ausführungsfrist vereinbart
werden. Damit können Zahlungsdienstnutzer zielgenauer
ihre Zahlungspflichten gegenüber ihren Gläubigern erfüllen und so lange wie möglich mit ihrem Geld arbeiten.
Abschließend möchte ich betonen, dass der Gesetzentwurf inhaltlich ausgewogen ist. Er beschränkt sich grundsätzlich auf die zur Umsetzung notwendigen Eingriffe in
das bestehende Recht und geht nur insoweit über die Vorgaben hinaus, als dies mit den Grundgedanken des bisherigen Rechts in Einklang steht. Gleichwohl ist er natürlich
sehr umfangreich und durchaus nicht unkompliziert. Und
er ist äußerst eilbedürftig. Die Umsetzungsfrist endet für
die Zahlungsdiensterichtlinie am 31. Oktober 2009 und
für die Verbraucherkreditrichtlinie am 12. Mai 2010. Ich
wäre Ihnen daher für eine zügige Beratung des Entwurfs
dankbar, damit wir diese Fristen einhalten können.
Auch hier wird die Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 16/11643 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Krankenhausinfektionen vermeiden - Multiresistente Problemkeime wirksam bekämpfen
- Drucksache 16/11660 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Dr. Hans Georg Faust,
Dr. Carola Reimann, Dr. Konrad Schily, Frank Spieth,
Dr. Harald Terpe, Parlamentarischer Staatssekretär Rolf
Schwanitz.
In Deutschland werden jährlich circa 17 Millionen
Menschen an 142 Millionen Pflegetagen in etwa
2 100 Krankenhäusern behandelt. Hinzu kommen medizinische Maßnahmen im Rahmen der ambulanten medizinischen Versorgung und in anderen Einrichtungen des
Gesundheitswesens. Wie in anderen Industrienationen
gehören Infektionen, die in zeitlichem Zusammenhang
mit einer medizinischen Maßnahme stehen und als solche
nicht bereits vorher bestanden - nosokomiale Infektionen; § 2 Infektionsschutzgesetz, IfSG -, zu den häufigsten
Infektionen in Deutschland und den häufigsten Komplikationen medizinischer Behandlungen insgesamt. Nationale und internationale Prävalenzstudien zeigen, dass
nosokomiale Infektionen bei circa 4 bis 9 Prozent der
vollstationär behandelten Patienten auftreten. Dabei gibt
es Unterschiede in Spektrum und Häufigkeit der Infektionen je nach Land, Region, Krankenhaus, Abteilung und
Fachrichtung.
Von besonderer Bedeutung sind Infektionen mit Erregern mit speziellen Resistenzen und Multiresistenzen, die
darüber hinaus mit erhöhter Letalität belastet sind. Ein
Teil dieser Infektionen ist durch geeignete Präventionsmaßnahmen vermeidbar. Solche werden von der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention
beim Robert-Koch-Institut unter Einbeziehung weiterer
Experten erarbeitet und zusammen mit ergänzenden hilfreichen Informationen veröffentlicht: www.rki.de.
Zu den international bewährten und allgemein anerkannten Maßnahmen der Prävention und Kontrolle
nosokomialer Infektionen gehört wesentlich auch eine
etablierte Surveillance, also die systematische und kontinuierliche Überwachung von Erkrankungen bzw. Todesfällen. Mit diesem Ziel wurde die Erfassung und Bewertung von nosokomialen Infektionen und von Erregern
mit speziellen Resistenzen einschließlich der Rückkopplung an die betroffenen Organisationseinheiten in
Deutschland im Infektionsschutzgesetz gesetzlich verankert - § 23 Abs. 1 IfSG - und ein Nationales Referenzzentrum, NRZ, für die Surveillance nosokomialer Infektionen
geschaffen. Von dort wird das auf freiwilliger Teilnahme
basierende Krankenhaus-Infektions-Surveillance-System, KISS, geleitet und koordiniert. Die freiwillige und
gegenüber Dritten anonymisierte Teilnahme dient dabei
der Datenqualität.
Von besonderer Bedeutung sind also die mehrfach gegen Antibiotika resistenten Erreger, die sich im Krankenhaus ausbreiten und die mit der Verlegung von Patienten
auch zwischen Krankenhäusern übertragen werden können. Im Falle von Infektionen mit diesen Erregern sind
die antibiotischen Behandlungsalternativen deutlich eingeschränkt. Gegenwärtig besteht diese Problematik in
Deutschland insbesondere bei Methicillin({0})-resistenten Staphylococcus-aureus-Stämmen ({1}) sowie - regional verschieden - bei vancomycinresistenten
Enterokokken, besonders VRE faecium, sowie multiresistenten Stämmen von Pseudomonas und Acinetobacter.
Die systematische Erfassung und Bewertung von Isolaten mit bestimmten Resistenzen und Multiresistenzen ist
gemäß § 23 Abs. 1 IfSG bereits jetzt eine bewährte Methode, entsprechende Risikobereiche, gesteigerte Antibiotikaverbrauche und Cluster bzw. Ausbrüche zu erkennen.
Somit ist mit Inkrafttreten des Infektionsschutzgesetzes im
Jahr 2000 für Krankenhäuser die Durchführung einer gezielten Surveillance nosokomialer Infektionen, also die
Erfassung, Dokumentation und Feedback der Daten, verpflichtend. Diese Verpflichtung ergibt sich aus § 23
Abs. 1 IfSG. Dem Gesundheitsamt ist auf Verlangen Einsicht in die Aufzeichnungen zu gewähren. Hierdurch soll
das Gesundheitsamt in die Lage versetzt werden, sich von
der Durchführung der gesetzlich verlangten Surveillance
zu überzeugen.
In diesem Zusammenhang sollte mit großer Vorsicht
darüber diskutiert werden, ob es zielführend ist, die bei
der Surveillance ermittelten Infektionsraten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und gegebenenfalls als
Werbeträger von den Krankenhäusern einsetzen zu lassen. Der Wunsch, vorzeigbare Infektionsraten zu ermitteln, und die Verknüpfung von Surveillancedaten mit wirtschaftlichen Interessen könnten einer objektiven
Surveillance jedoch dann im Wege stehen. Denn zurzeit
kann noch keine Aussage darüber getroffen werden, ob
die Vorteile solcher öffentlichen Berichte zu nosokomialen Infektionen die Nachteile aufwiegen werden. Obwohl
in den USA seit 2002 in inzwischen fünf Bundesstaaten
bereits ein Public Reporting von nosokomialen Infektionen gesetzlich gefordert wird, spricht das US-amerikanische Healthcare Infection Control Practices Advisory
Committee, HICPAC, daher keine Empfehlung für die
Veröffentlichung von Infektionsdaten aus.
Die Auseinandersetzung mit den Infektionsraten muss
vor allem in den Krankenhäusern bzw. in den medizinischen Abteilungen und auf den pflegerischen Stationen
erfolgen. Nur hier können die richtigen Schlüsse in Bezug auf mögliche Konsequenzen bei den Infektionspräventionsmaßnahmen gezogen werden. Dass dieser Ansatz, wonach die Auseinandersetzung mit den
Infektionsraten vor allem in den Krankenhäusern erfolgen muss, der zielführendere ist, wird deutlich, wenn man
die jüngsten Erkenntnisse des 33. Interdisziplinären Fortbildungsforums der Bundesärztekammer vom 8. Januar
2008 zur Kenntnis nimmt. Denn dort stellte Frau Dr.
Christine Geffers vom Hygieneinstitut der Charité Berlin
die aktuellen Daten zu methicillinresistenten Staphylokokken, MRSA, in Deutschland vor. Nach den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen von Frau Dr.
Geffers lag in Deutschland der Anteil der MRSA an allen
Staphylokokken in Blutkulturen 2007 bei 16 Prozent nach
über 20 Prozent in den Jahren davor. Eine ähnlich gute,
rückläufige Tendenz ist bei postoperativen Wundabstrichen festzustellen: Hier lag die Quote 2007 bei 20,7 Prozent, im Jahr zuvor noch bei 21,9 Prozent.
Wenn die tatsächlichen Infektionen in Kliniken analysiert werden, zeigt sich sogar ein noch deutlicherer Rückgang. So lag die Inzidenzdichte für MRSA-Infektionen auf
deutschen Intensivstationen in den Jahren 2006 und 2007
bei 0,3 Infektionen pro 1 000 Patiententage. 1997 waren
es noch 50 Prozent mehr Fälle. Dass die deutschen Krankenhäuser darüber hinaus auch weiter aktiv sind, wird
dadurch deutlich, dass mittlerweile 1 116 Krankenschwestern bzw. Krankenpfleger mit der Zusatzqualifikation „Hygienefachkraft“ in den Häusern beschäftigt werden und dort eine vorbildliche Arbeit leisten.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Fraktion Die
Linke, nicht wirklich überraschend ist, dass Sie hier wieder einmal nur einen Antrag eingebracht haben, der nicht
wirklich zur Lösung von Herausforderungen im Gesundheitssystem beitragen wird bzw. nur Ängste und Sorgen
bei den Menschen weckt. Denn wenn es Ihnen ernsthaft
um die Bekämpfung von Krankenhausinfektionen gegangen wäre, hätten Sie, um Sachkenntnis erhalten zu können, zumindest die öffentliche Anhörung des Gesundheitsausschusses vom 18. Juni 2008 zu Ihrem Antrag
„Aktuelle Finanznot der Krankenhäuser beenden“,
Drucksache 16/8375, nutzen können. Sie haben dies aber
- im Gegensatz zur CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die die
Sachverständige Frau Dr. Annette Busley vom Medizinischen Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen e. V.
und den Sachverständigen Herrn Georg Baum von der
Deutschen Krankenhausgesellschaft e. V. befragt hat - unterlassen. Zur Erinnerung: Frau Dr. Busley antwortete
damals folgendermaßen: „Es gibt sicher keine dramatische Zunahme von Infektionen in den deutschen Krankenhäusern.“ Und Herr Baum sagte: „Über eine dramatische Zunahme von Krankenhausinfektionen kann ich
nicht berichten.“
Auf die verschiedenen unterstützenden Aktivitäten der
Bundesregierung, wie zum Beispiel die „Aktion saubere
Hände“ oder das „Aktionsbündnis Patientensicherheit“,
möchte ich nicht weiter eingehen, denn Sie haben ja
durch die Antworten auf Ihre schriftlichen und Kleinen
Zu Protokoll gegebene Reden
Anfragen dazu ausreichend Informationen erhalten. Und
falls Sie dies nicht so empfinden sollten, empfehle ich
herzlich einen Besuch der Homepage des Bundesministeriums für Gesundheit.
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind die
Patientensicherheit und die Qualität der Versorgung von
Patientinnen und Patienten ein zu hohes Gut, um es durch
schnelllebige Anträge beschädigen zu lassen. Daher lehnen wir diesen Antrag ab.
Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke fordert
die Bundesregierung auf, Maßnahmen zur Bekämpfung
der Krankenhausinfektionen zu ergreifen. Die Bundesregierung ist sich der Problematik der Krankenhausinfektion sehr bewusst, und aus diesem Grund ist sie in diesem
Bereich schon seit geraumer Zeit aktiv. Wenn ich mir ihre
Forderungen so ansehe, dann kommt mir das Sprichwort
von den Eulen, die nach Athen getragen werden, in den
Sinn. Denn entsprechende Maßnahmen zur Bekämpfung
der Krankenhausinfektion hat die Bundesregierung
längst in Angriff genommen.
Bei anderen Forderungen richten sie den Appell an
den Bund, obwohl dafür die Länder zuständig sind, wie
beispielsweise der Forderung nach Aufstockung und besserer Qualifizierung des Fachpersonals der Gesundheitsämter. Auch für den Erlass von Krankenhaushygieneverordnungen sind die Länder zuständig. Einige Länder, wie
zum Beispiel Bremen, Sachsen und Berlin, haben bereits
solche Verordnungen. Ich erwarte, dass andere Länder
dem Beispiel folgen und nicht versuchen, ihre Verantwortung an andere abzuschieben, wie kürzlich die niedersächsische Gesundheitsministerin Ross-Luttmann mit ihren unpassenden Forderungen an den G-BA.
Ebenfalls kein Geheimnis ist, dass das Bundesministerium für Gesundheit derzeit einen Entwurf zur Erweiterung der Meldepflicht von MRSA in enger Abstimmung
mit den Ländern, Verbänden und Experten erarbeitet. Es
ist davon auszugehen, dass bereits im Sommer eine entsprechende Regelung in Kraft treten kann. Sie sehen,
auch hier hat man den Handlungsbedarf längst erkannt,
und entsprechende Maßnahmen sind ergriffen worden.
Der Kampf gegen Krankenhausinfektionen muss an
mehreren Stellen und mit verschiedenen Mitteln geführt
werden. Neben gesetzlichen Bestimmungen spielen Kampagnen und Programme für eine Verbesserung der Krankenhaushygiene eine wichtige Rolle. Ein Beispiel dafür
ist die vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte
„Aktion Saubere Hände“. Die sorgfältige Handdesinfektion ist die wichtigste Maßnahme zur Vermeidung der
Übertragung von Infektionserregern; darin sind sich alle
Experten einig. Bundesweit nehmen fast 500 Krankenhäuser an dieser Aktion teil. Ich freue mich über die gute
Resonanz, insbesondere auch darüber, dass sich in meiner Heimatstadt Braunschweig gleich zwei Häuser beteiligen: das Herzogin Elisabeth Hospital und das Klinikum
Braunschweig, wo die Aktion mit dem bundesweiten Aktionstag am 22. Oktober 2008 gestartet wurde. Das Klinikum hat eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe eingesetzt, die eine Reihe von Maßnahmen in die Wege geleitet
hat. Dazu zählen unter anderem Fortbildungsveranstaltungen, verstärkte Öffentlichkeitsarbeit und die Erfassung und Meldung des Desinfektionsmittelverbrauchs auf
allen Stationen. Diese vergleichsweise einfachen, aber
höchst wirksamen Programme zur Handdesinfektion sind
ein wichtiger Baustein zur Eindämmung von Krankenhausinfektionen.
Krankenhausinfektionen stellen eine der größten Herausforderungen auf dem Gebiet der Patientensicherheit
dar. Die Bundesregierung hat in ihrem Verantwortungsbereich die notwendigen Maßnahmen auf den Weg gebracht, sei es über gesetzliche Regelungen oder über die
Förderung entsprechender Programme. Dort, wo weiterer Handlungsbedarf besteht wie beispielsweise bei der
Meldepflicht, werden Änderungen vorgenommen. Zugleich sind die Länder gefordert, in ihrem Zuständigkeitsbereich ihren Beitrag zur Bekämpfung der Krankenhausinfektionen zu leisten. Ich bin mir sicher, dass wir dann
bei der Eindämmung der Infektionen einen guten Schritt
vorankommen. Einen weiteren Antrag, der nichts Neues
beinhaltet, brauchen wir hierfür allerdings nicht.
Resistenzen bei Bakterien, also das Unempfindlichwerden von Bakterien gegen Substanzen oder Medikamente,
die sie zurückdrängen oder vernichten sollen, sind ein Problem, das über die Hygienemaßnahmen der Krankenhäuser hinausgeht. Resistenzen können viele Ursachen haben.
Sie entwickeln sich durch zu häufige und nicht indizierte
Verschreibung von Antibiotika, durch das Verfüttern von
Antibiotika an Tiere, deren Fleisch dann wieder von Menschen genossen wird, oder durch nicht ausreichende Desinfektionen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Infektionen mit MRSA - Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus - sind ein Problem vorwiegend bei
Patienten und Patientinnen, die langdauernd antibiotisch
behandelt werden mussten. Die im Antrag der Linken formulierte Unterstellung, Krankenhäuser würden aus wirtschaftlichen Gründen auf die Verdachtsdiagnose MRSA
verzichten und eine auf MRSA-Infektion gerichtete
Diagnostik unterlassen, ist durch nichts zu belegen.
Die Umsetzung der im Antrag der Linken formulierten
Forderungen würde mit Sicherheit höhere Kosten im System
verursachen. Ob damit jedoch das Problem der multiresistenten Problemkeime im Allgemeinen und von MRSA
im Besonderen einer Lösung näher gebracht werden
kann, darüber muss noch einmal grundlegend im Rahmen
der Beratung im Ausschuss diskutiert werden.
Stellen Sie sich vor, Sie bringen Ihre Mutter ins Krankenhaus, der ein Herzschrittmacher implantiert werden
soll. Bei der erforderlichen Operation infiziert sie sich
mit Krankenhauskeimen. Die Folge: Es entstehen Entzündungen an unterschiedlichen Körperstellen, die an
den Händen so schlimme Auswirkungen haben, dass einzelne Fingern amputiert werden müssen. Sie mögen glauben, dies sei ein Horrorszenario. Weit gefehlt. Diese Erfahrung habe ich selbst gemacht. Wenn ein Patient ein
geschwächtes Immunsystem hat, und der Keim besonders
Zu Protokoll gegebene Reden
aggressiv ist, breiten sich solche Entzündungen aus und
können im schlimmsten Fall zum Tode führen. Gemeinhin
nimmt man an, dass man Krankenhausentzündungen mit
Antibiotika behandeln kann. Wenn Sie Glück haben, gelingt dies. Wenn Sie Pech haben, nicht. Nach Schätzungen
der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene
muss man davon ausgehen, dass in Deutschland jährlich
etwa 20 000 bis 50 000 Menschen an Krankenhauskeimen sterben. Zum Vergleich: In Deutschland sterben an
Brustkrebs jährlich rund 17 000, im Straßenverkehr
5 000, an illegalen Drogen 1 400 und knapp 500 Menschen an Aids. Auch das ist unakzeptabel, der Vergleich
zeigt aber: Krankenhauskeime sind ein gewaltiges Gesundheitsrisiko in Deutschland.
Jedes Jahr infizieren sich etwa 500 000 bis
800 000 Menschen in den deutschen Krankenhäusern,
also etwa jeder zwanzigste bis dreißigste Patient. Als besonders gefährlicher Keim erweist sich der Methicillinresistente Staphylococcus aureus, MRSA. 1992 hat dieser
Keim nur 2 Prozent der Krankenhausinfektionen ausgemacht. Bis 2007 hat sich diese Zahl jedoch verdreizehnfacht. Auf Intensivstationen beträgt das Infektionsrisiko
mittlerweile durchschnittlich 15 Prozent. Die starke Ausbreitung der Keime kommt unter anderem daher, dass das
Krankenhauspersonal unter einem enormen Zeitdruck
steht und die erlernten Hygienemaßnahmen unzureichend einhält. Oft geht es um Basishygiene: Der eine
wäscht sich zu selten die Hände, der andere trägt wochenlang denselben Kittel. Die Medizin am Fließband
fordert so ihren Tribut.
Besonders tückisch: Immer mehr Erreger sind resistent gegen Antibiotika. Die Keime lernen, mit den Antibiotika umzugehen, und vererben diese Eigenschaft an
die nächsten Generationen weiter. Der falsche oder übertriebene Einsatz von Antibiotika fördert die Verbreitung
resistenter Keime. Folgt dann noch ein zu lascher Umgang mit Desinfektionsmitteln und andere Hygienemaßnahmen im Krankenhaus, verschärft sich das Problem
immer weiter.
Die jetzige Bundesregierung und ihre Vorgängerregierung packen die Lösung des Problems nicht konsequent
an. Es gibt lediglich Programme, an denen Krankenhäuser auf freiwilliger Basis mitmachen können. Was wir
brauchen, sind verbindliche Vorschriften, damit dem
Schlendrian in der Hygiene in den Krankenhäusern ein
Ende gemacht wird.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Bundesländer
über Landesrichtlinien größtenteils für die Hygiene in
den Krankenhäusern zuständig sind. Gute Beispiele geben Berlin, Sachsen und Bremen ab. Hier wurden verpflichtend Hygieneärzte in Krankenhäusern eingeführt.
Durch die bundesweite Aufsplitterung von Kompetenzen
entsteht aber ein Flickenteppich von Regelungen. Krankenhauskeime machen jedoch an den Grenzen der Bundesländer nicht halt, und so werden gute Ansätze einzelner Länder wieder zunichtegemacht.
Andere europäische Staaten, zum Beispiel die Niederlande, zeigen uns, wie es funktionieren kann. Dort hat
man bereits Anfang der 1980er-Jahre mit offensiven
Maßnahmen gegen MRSA begonnen. Ergebnis: Bei uns
ist das MRSA-Risiko bis zu 20-mal höher als dort - mit
steigender Tendenz. Die positiven niederländischen Zahlen sind kein Zufall, sondern Ergebnis eines ganzen Bündels von Maßnahmen, die die Politik den dortigen Krankenhäusern verordnet hat.
Wir fordern, dass auch in Deutschland die Lösung des
Problems der Krankenhauskeime wirkungsvoll angepackt wird. Präventionsmaßnahmen stehen dabei an erster Stelle. Die Ausbreitung von Keimen muss ständig beobachtet und in ihrer Entstehung verhindert werden.
Dazu wären Screenings sinnvoll. Bei den derzeitigen Vergütungsmechanismen hätten Krankenhäuser, die konsequent Screenings durchführen und Maßnahmen gegen
Keime ergreifen, jedoch einen Wettbewerbsnachteil. Die
Fallpauschalen in den Krankenhäusern führen mehr und
mehr zur Fließbandmedizin. Hygiene und das Patientenwohl sind unter diesen Bedingungen leider nur zweitrangig, weil sie sich betriebswirtschaftlich für das Krankenhaus nicht rechnen. Auch das muss sich schnell ändern.
Wir fordern, dass jedes Krankenhaus Hygieneärzte
einstellen muss. Nicht nur in den Krankenhäusern, sondern auch in den Gesundheitsämtern muss das Personal
geschult und aufgestockt werden, damit die Gesundheitsämter ihrer Kontrollfunktion auch ernsthaft nachkommen
können. Die Bundesregierung muss Einfluss auf die Bundesländer nehmen, da vieles nur über Landesrecht zu regeln ist.
Die Richtlinie des Robert-Koch-Instituts zum Umgang
mit MRSA muss konsequent und verbindlich umgesetzt
werden. Für MRSA muss eine Meldepflicht her, damit
endlich systematisch gegen diesen Keim vorgegangen
werden kann und damit nicht jedes Krankenhaus auf sich
allein gestellt ist. Diese Absicht hat die Bundesregierung
auch bereits im Januar 2008 bekundet, und immer noch
ist nichts passiert. Und schließlich muss man nicht alles
neu erfinden: Andere Länder, nicht nur die Niederlande,
machen uns erfolgreich vor, wie die gefährlichen Keime
zu stoppen sind. Daran sollten wir uns orientieren.
Das wird erst einmal Geld kosten; das ist klar. Aber es
geht um die Gesundheit und das Leben von Zehntausenden Menschen jedes Jahr. Das alleine sollte uns das Geld
wert sein. Es ist aber zudem zu erwarten, dass die Präventionsmaßnahmen rentierlich sein werden, da durch
die Vermeidung von Erkrankungen auch viel Geld eingespart werden kann.
Ich bitte Sie daher, diesem Antrag zuzustimmen im
Sinne der Patienten.
Der Antrag, über den wir heute diskutieren, greift ein
wichtiges Thema auf: Krankenhausinfektionen, insbesondere solche mit multiresistenten Keimen, können bei den
Betroffenen großes Leid verursachen, sie können ihre
Gesundheit auf Dauer schädigen, und sie können sie im
schlimmsten Fall das Leben kosten. Deshalb ist es zunächst einmal zu begrüßen, dass sich auch die Politik
darüber Gedanken macht, welchen Beitrag sie dazu leisten kann, dieses Leid zu verhindern.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zunächst muss man aber eine Tatsache berücksichtigen:
Da wir es hier mit biologisch aktiven und auch wandlungsfähigen Keimen zu tun haben, werden wir solche Infektionen nie umfassend und komplett verhindern können. Es gilt
aber, die Gefahr so weit zu reduzieren, wie es in unserer
Macht steht. Dänemark macht dies in beeindruckender
Weise vor. Hier in der Bundesrepublik besteht hingegen
noch Nachholbedarf. Seit 1990 ist beispielsweise die Zahl
der MRSA-Infektionen in Kliniken deutlich angestiegen,
von 1,7 auf 32 Prozent.
Unabhängig von der Frage, ob die von den Linken im
vorliegenden Antrag vorgeschlagenen Lösungen die Infektionsgefahr signifikant verringern können, muss man
sich eines Problems bewusst werden: Wir haben es hier
mit einer enormen Zersplitterung von Verantwortlichkeiten zu tun - nicht nur rechtlich, sondern auch in der praktischen Umsetzung. Der vorliegende Antrag vermittelt
den Eindruck, dass es in der alleinigen Macht des Bundes
stehe, die notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen und
so die Infektionsgefahr zu verringern. So wünschenswert
dies in diesem Fall vielleicht wäre, weil es die Sache einfacher machen würde, so wenig stimmt es. Natürlich hat
der Bund im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes Möglichkeiten, auf die Ausbreitung bestimmter Erreger Einfluss zu nehmen. Es bleibt allerdings die Frage, ob Maßnahmen in diesem Kompetenzbereich - wie beispielsweise
die vorgeschlagene Einführung einer Meldepflicht - wirklich ausreichen.
Die personelle und materielle Ausstattung der Krankenhäuser, wie beispielsweise auch der Einsatz von Hygienefachkräften und -fachärzten, liegt in der Zuständigkeit
der Länder und der Krankenhausträger. Die Umsetzung
der erforderlichen Schutzmaßnahmen liegt hingegen in
der Hand der Krankenhausleitung, die Kontrolle in der
Verantwortung des jeweils zuständigen Gesundheitsamtes.
Die Ausstattung der Gesundheitsämter, damit sie ihre
Aufgabe wahrnehmen können, liegt wiederum in der Verantwortung der Länder.
Dazu kommt: Viele Übertragungswege können - auch
durch gesetzliche Regelungen oder Aktionen wie „Saubere
Hände“ oder „HAND-KISS“ - nicht beseitigt werden,
wenn die einzelnen Akteure nicht mitziehen. Die Einhaltung
von bereits existierenden Hygienevorschriften wie den
Richtlinien des Robert-Koch-Institutes zur Prävention von
MRSA oder das verantwortungsvolle Verschreiben von
Antibiotika liegt in der Hand der Ärzte und des Pflegepersonals. Eine entsprechende Weiterbildung der Ärzte,
dieser Verantwortung auch gerecht zu werden, ist Aufgabe der ärztlichen Selbstverwaltung.
Wir haben es also mit einem mehr oder weniger erfolgreichen Zusammenwirken vieler Faktoren zu tun. Dies erkennt man auch an folgender Tatsache: Die Verbreitung von
multiresistenten Keimen ist nicht nur von Bundesland zu
Bundesland, sondern teilweise auch von Region zu Region
und von Krankenhaus zu Krankenhaus unterschiedlich.
Hier könnte zwar die Einführung einer Meldepflicht den
Vorteil bringen, das Bewusstsein in einigen Kliniken oder
Regionen zu schärfen, gezielter auf die Einhaltung der
Hygienevorschriften zu achten. Für eine wirkungsvolle
Prävention aber brauchen wir gezielte Maßnahmen wie
beispielsweise Screeningprogramme, eine konsequente
Desinfektion oder den Einsatz von Hygienefachkräften
und -fachärzten. Berlin, Bremen und Sachsen ebenso wie
ein Modellprojekt im Raum Münster machen uns vor, wie
man dadurch gezielt Krankenhausinfektionen verhindern
kann.
Eine generelle Änderung der Situation können wir nur
herbeiführen, indem wir alle diese Verantwortungsträger
einbeziehen. Ein Alleingang des Bundes ist hier schwer
möglich. Der Bund könnte aber Initiator einer konzertierten
Aktion der Gesundheitsministerkonferenz werden, damit
entsprechende personelle, materielle und organisatorische
Ressourcen in Krankenhäusern und Gesundheitsämtern
realisiert werden. Langfristig werden dadurch Kosten gesenkt und vor allem das mögliche Leid vieler Betroffener
verhindert.
Im Krankenhaus erworbene Infektionen sind eine
große Herausforderung für die Medizin. Jährlich betreffen diese Infektionen circa 500 000 Menschen, von denen
10 000 bis 40 000 daran sterben. Etwa 30 Prozent dieser
Infektionen sind vermeidbar. Um diese vermeidbaren Infektionen erfolgreich zu bekämpfen und Krankenhausinfektionen und resistente Keime einzudämmen, müssen
alle Beteiligten ihre Verantwortung wahrnehmen. Neben
der Bundesregierung und ihren Einrichtungen sind dies
die Länder und ihre Behörden, die medizinischen Fachgesellschaften und Ärztekammern, die Selbstverwaltung,
die Krankenhäuser und medizinischen Einrichtungen und
natürlich auch die Beschäftigten im Gesundheitswesen.
Der Bund begegnet der Problematik der Krankenhausinfektionen und der Resistenzentwicklung konsequent.
Das Infektionsschutzgesetz enthält umfangreiche Regelungen zur Prävention von Krankenhauskeimen. Notwendige Anpassungen dieses Gesetzes werden zeitnah umgesetzt. Derzeit ist der Entwurf einer Rechtsverordnung zur
MRSA-Meldepflicht in der Abstimmung mit den Ländern.
Darüber hinaus werden auf Bundesebene fachliche Empfehlungen und Leitlinien erstellt und durch die Initiierung
und Förderung von Projekten wichtige Impulse und Anstöße gegeben.
Lassen Sie mich beispielhaft nennen: Mit der Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie haben BMG und
BMELV ein Bündel aufeinander abgestimmter Maßnahmen zur Eindämmung von Antibiotikaresistenzen und
Krankenhausinfektionen initiiert und auch die durchführenden Stellen benannt. Bei der Erstellung dieser Strategie waren Fachgesellschaften, Verbände und Selbstverwaltung eingebunden. Selbstverständlich wurden auch
die Erfahrungen der Nachbarländer berücksichtigt.
Was die Einsetzung von Hygienefachkräften und Ärzten für Hygiene in Krankenhäusern betrifft, hat die vom
Bundesministerium für Gesundheit berufene Kommission
für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention
({0}) entsprechende fachliche Empfehlungen entwickelt, wie es ihre im Infektionsschutzgesetz vorgesehene Aufgabe ist. Diese Empfehlungen mit Leitliniencharakter geben den medizinischen Einrichtungen die
Zu Protokoll gegebene Reden
erforderlichen Hinweise für das korrekte Vorgehen und
dienen den Gesundheitsbehörden als Grundlage für ihre
Überwachungs- und Beratungstätigkeiten. Die Länder
können hieraus auch verbindliche rechtliche Vorgaben in
Form von Krankenhaushygieneverordnungen ableiten,
wie es bereits einige getan haben - die Bundesregierung
würde es begrüßen, wenn alle Länder sich dazu entschließen könnten.
Lassen Sie mich abschließend noch einmal betonen,
dass die Bundesregierung das Thema Krankenhausinfektionen und Antibiotikaresistenzen sehr ernst nimmt. Die
Bundesregierung hat das Instrumentarium für eine umfassende Bekämpfung von Krankenhausinfektionen bereitgestellt. Alle am Gesundheitswesen Beteiligten sind
aufgerufen, dieses Instrumentarium verantwortlich zu
nutzen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11660 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 22:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Besitz und Anbau von Cannabis zum Eigengebrauch entkriminalisieren - Glaubwürdige
und am Menschen orientierte Cannabisprävention umsetzen
- Drucksache 16/11762 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Kolleginnen und Kollegen Maria Eichhorn,
Dr. Margrit Spielmann, Detlef Parr, Monika Knoche und
Dr. Harald Terpe haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.
Cannabis ist keine Spaßdroge. Sie ist deutschland- und
europaweit die am weitesten verbreitete illegale Droge.
Der Konsum hat in den vergangenen 10 bis 15 Jahren
stark zugenommen. Während 1993 16 Prozent der 12- bis
25-Jährigen Erfahrungen mit dem Konsum von Cannabis
hatten, waren es 2004 schon 32 Prozent. Mittlerweile
sind in Deutschland etwa 600 000 vorwiegend junge
Menschen Cannabiskonsumenten; 220 000 sind stark abhängig. Die Zahl der Behandlungszugänge hat sich von
2 600 im Jahr 1992 auf 14 700 im Jahr 2002 mehr als
verfünffacht. Vor diesem Hintergrund lehnen wird den
vorliegenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab.
In diesem wird gefordert, den Besitz von Cannabis zum
Eigengebrauch von Strafe freizustellen und Cannabis in
einem Modellversuch kontrolliert an Konsumenten abzugeben. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verfolgt nach
eigenen Angaben mit dem Antrag das Ziel, den riskanten
Cannabiskonsum einzuschränken. Aufgabe sollte es jedoch
sein, den Cannabiskonsum generell zu verringern. Denn es
gibt keine ungefährliche Menge an Cannabis. Jeglicher
Konsum von Cannabis schädigt die Gesundheit. Dies belegen Studien namhafter Wissenschaftler aus dem In- und
Ausland.
So fand im Jahr 2005 ein Forscherteam des Institut
Universitaire de Medicine Legale in der Schweiz heraus,
dass Cannabis schädlicher ist, als bisher vermutet. Den
Probanden wurde eine geringe Dosis des aktiven Bestandteils von Cannabis - delta-9-THC - verabreicht. Bei
einem Teil der Testpersonen löste bereits diese geringe
Dosis schwerwiegende Angststörungen und in weiterer
Folge Realitätsverlust, Entpersonalisierung, Schwindel
und paranoide Angststörungen aus. Dies zeigt also: Nicht
nur der Dauerkonsum, sondern bereits der Konsum geringer Mengen von Cannabis ist gesundheitsschädigend
und sollte daher vermieden werden. Bei langfristigem
Konsum weisen Studien auf eine Reihe akuter Beeinträchtigungen hin. Diese sind vor allem bei chronischem
Dauerkonsum mit großen gesundheitlichen Risiken bis
hin zur psychischen Abhängigkeit verbunden.
Besorgniserregend ist auch der mittlerweile wissenschaftlich erbrachte Nachweis, dass Cannabis Einstiegsdroge für den späteren Konsum härterer Drogen ist. Wissenschaftler der Universität Amsterdam konnten dies
durch eine Studie bestätigen: Jugendliche, die Cannabis
rauchen, haben ein sechsfach höheres Risiko, später härtere Drogen zu konsumieren, als Jugendliche, die kein
Cannabis nehmen. Daher ist es unverantwortlich, eine
Straffreistellung für den Besitz von Cannabis zum Eigengebrauch zu fordern, wie Bündnis 90/Die Grünen dies
tun. Jegliche Bemühungen im Bereich der Prävention
werden ad absurdum geführt, wenn der Besitz erlaubt und
durch das mit dem Antrag geforderte Modellprojekt sogar
noch durch den Staat gefördert wird.
Durch das von Bündnis 90/Die Grünen geforderte nationale Aktionsprogramm zur Cannabisprävention soll
riskantem Cannabisgebrauch entgegengewirkt und sollen die Therapiemöglichkeiten verstärkt werden. Dieses
Programm ist unglaubwürdig, wenn der Staat selbst die
Droge ausgibt. Dabei hat die Präventionsarbeit der letzten Jahre bereits Früchte getragen. Ganz offensichtlich
konnte mehr Jugendlichen vermittelt werden, dass Cannabis keine Spaßdroge ist, sondern wesentliche gesundheitliche Risiken nach sich zieht.
Die Zahl jugendlicher Cannabiskonsumenten ist nach
einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung endlich wieder rückläufig. So sank der Prozentsatz
derjenigen 14- bis 17-Jährigen, die in ihrem Leben schon
einmal Cannabis konsumiert haben, von 22 Prozent im
Jahr 2004 auf heute 13 Prozent. Von einer Trendwende
beim Cannabiskonsum zu sprechen ist dennoch zu früh.
Der Anteil der jungen Erwachsenen, die regelmäßig Cannabis konsumieren, ist nach wie vor hoch. Um den Einstieg
Jugendlicher in den Drogenkonsum zu verhindern, ist es
daher notwendig, die Präventions- und Beratungsarbeit
Zu Protokoll gegebene Reden
vor allem an Schulen und in Vereinen weiterhin auszubauen.
Das Hilfesystem ist bisher nicht ausreichend auf die
Konsummuster jugendlicher Cannabiskonsumenten ausgerichtet. Junge Abhängige können nicht mit den gleichen
Methoden behandelt werden wie Alkoholkranke oder Opiatabhängige, die meist älter sind. Das Beratungs- und Therapieangebot muss stärker auf die Zielgruppe der jugendlichen Konsumenten ausgerichtet und die Aufklärung
verstärkt werden. Dass der Cannabiskonsum irreparable
gesundheitliche Schäden hervorrufen kann, muss in das
Bewusstsein der Jugendlichen dringen. Drogenberatungsstellen und Jugendhilfe müssen hierbei noch intensiver
zusammenarbeiten.
Ein Modellprojekt, wie von Bündnis 90/Die Grünen
gefordert, würde mehrere Millionen Euro kosten, und dies
für ein Projekt, dessen Nutzen höchst zweifelhaft und nicht
erwiesen ist. Stattdessen wird sogar die Schädlichkeit der
Droge verharmlost. Das Geld wäre weitaus besser angelegt,
wenn es in den Ausbau bestehender, erfolgreich funktionierender Präventionsprojekte fließen würde. Hiermit
könnte auch einer weitaus größeren Anzahl von Menschen
geholfen werden.
Mit uns wird es keine Legalisierung des Cannabiskonsums geben. Cannabis dient als Einstiegsdroge und führt
zu starken gesundheitlichen Schäden. Das wollen wir
verhindern.
Herr Jürgen Trittin, Bundesminister a. D., hat über
eine Jamaika-Koalition einmal gesagt: „Jamaika soll
eine schöne Insel sein, aber grüne Inhalte können Sie da
in der Tüte rauchen.“ Liest man Ihren Antrag, scheinen
die grünen Inhalte tatsächlich nicht mehr wert zu sein als
der Rauch eines Glimmstengels.
In Ihrem Antrag stellen Sie Behauptungen auf, die
schlicht und ergreifend falsch sind. Sie sagen, der Ansatz,
mithilfe des Strafrechts den Konsum von Cannabis zu verhindern, habe nachweislich keinen Erfolg. Wie kommt es
dann, dass laut der Jahresberichte der deutschen und europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht sowie der Sonderauswertungen der BZgA von
2007 der Cannabiskonsum sinkt? Nur noch 13 Prozent
der 14- bis 17-Jährigen haben 2007 zumindest einmal
Haschisch oder Marihuana probiert. 2004 waren es noch
22 Prozent in dieser Altersgruppe.
Ihrer Auffassung nach verhindern die Illegalisierung
von Cannabis und Kriminalisierung der Konsumenten
und Konsumentinnen eine glaubwürdige Prävention.
Fakt ist, dass in den letzten Jahren eine Reihe von Projekten erfolgreich auf den Weg gebracht worden ist. Neben
dem Projekt „FreD - Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten“ sind das „Realize it“, eine
Kurzintervention bei Cannabismissbrauch, oder auch
„Can Stop“ zur Rückfallprävention, um nur einige zu
nennen. Besonders erfolgreich verlief dabei das Programm „Quit the shit“ der BZgA. Nach drei Monaten
wiesen 30 Prozent der Teilnehmer dieses Programms keinen Konsum mehr auf. Und die Personen, die weiter konsumieren, haben ihren Konsum weiter reduziert. Diese
Tatsachen sprechen für sich. Von einer unzureichenden
und unglaubwürdigen Prävention kann hier also nicht die
Rede sein.
Natürlich darf man sich hier nicht zufrieden zurücklehnen und es bei dem bereits Getanen belassen. Besonders Jugendliche, bei denen ein früher Kontakt mit Cannabis nachweislich ein erhöhtes Risiko für eine
Suchterkrankung im Erwachsenenalter zur Folge hat,
müssen vor den Gefahren geschützt und ausreichend aufgeklärt werden. Das Verbot von Spice, einer viel genutzten Ausweichdroge für Cannabiskonsumenten, zielt dabei
in die richtige Richtung. Dagegen hätte Ihr Ansatz zur
Folge, dass die Hemmschwelle zum Konsum der zuvor illegalen Droge weiter sinkt. Können Sie es verantworten,
vor allem Jugendliche diesem erhöhten Suchtrisiko auszusetzen? Ich in meinem Verständnis als Gesundheitspolitikerin kann es jedenfalls nicht. Dies entspricht nicht
meinem Verständnis von Prävention.
Zudem assoziiert eine Freigabe von Cannabis für den
Eigengebrauch, dass es sich hierbei um eine harmlose,
ungefährliche Droge handelt. Dagegen sollte es aber Ziel
der Politik sein, endlich mit dem Spaßdrogenklischee von
Cannabis aufzuräumen. Keine der neueren Studien hat
Cannabis eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt. Hinzu kommen die hinlänglich bekannten und bewiesenen Gesundheitsrisiken, die eindeutig gegen eine
Aufhebung der Strafbarkeit von Cannabis sprechen.
Zum letzten Punkt ist außerdem noch zu sagen, dass
seit dem sogenannten Cannabisbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 1994 bis zum Besitz einer
bestimmten Menge ohnehin von einer Strafverfolgung abgesehen wird. Die von Ihnen beschriebene soziale Ausgrenzung durch die angeblich unverhältnismäßige Kriminalisierung der Cannabiskonsumenten ist damit hinfällig.
Auch Ihre Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht
kann ich nicht nachvollziehen. Natürlich hat jeder
Mensch ein Recht, dieses wahrzunehmen. Andererseits
besitzt der Einzelne aber auch ein Recht auf Schutz vor
gesundheitsschädigendem Verhalten. Deshalb haben wir
in der nahen Vergangenheit ja auch so viel für den Nichtraucherschutz getan. Die Fürsorgepflicht des Staates und
auch Art. 2 des Grundgesetzes, also das Recht jedes Menschen auf Leben und körperliche Unversehrtheit, stehen
hier dem Selbstbestimmungsrecht entgegen. Zudem ist für
mich ohnehin fraglich, ob ein Drogenabhängiger überhaupt noch mündig und selbstbestimmt handeln kann.
Besonders interessant finde ich auch Ihren Hinweis,
dass die Kosten der Repression höher seien als die Ausgaben für Präventionsmaßnahmen. Dass Sie sich dabei
auf Schätzungen des Deutschen Hanfverbandes berufen,
der zwangsläufig ein hohes Interesse an einer Freigabe
von Cannabis hat, ist schlicht und ergreifend absurd. Tatsache ist, dass über diese komplexen Repressionskosten
selbst der Bundesregierung keine genauen Zahlen vorliegen.
Außerdem stellt sich für mich die Frage, wie Sie sich
die Aufgabe der Prohibition von Cannabis in den völkerrechtlichen Verträgen vorstellen. Nur zur Erinnerung:
Zu Protokoll gegebene Reden
Das Verbot von Cannabis zum Eigengebrauch 1961 und
1988 war ja gerade die Folge des zunehmenden Missbrauchs von Cannabis als Rauschdroge. Mir ist unverständlich, warum man hier durch eine Freigabe wieder
einen Schritt zurückgehen soll.
Wie so häufig wird auch in Ihrem Antrag Cannabis mit
Alkohol und Nikotin verglichen, was wohl eine relative
Harmlosigkeit suggerieren soll. Dazu kann ich abschließend nur eines sagen: Solange Cannabis nicht als gesundheitlich unbedenklich angesehen werden kann, gibt
es keine Veranlassung, den bestehenden Gesundheitsrisiken durch Tabak und Alkohol durch die Freigabe von
Cannabis ein weiteres hinzuzufügen.
Die Diskussion in Deutschland über die Legalisierung
von Cannabis reißt nicht ab. Immer wieder wird die generelle Legalisierung von Cannabis gefordert. Auch nicht
neu ist die Forderung der Entkriminalisierung von Cannabis bei Eigengebrauch - sprich: insofern der Hanf lediglich zum eigenen Gebrauch gezüchtet und hergestellt
wird und auch die im Besitz befindliche Menge für den Eigenkonsum bestimmt ist. Diese Forderungen untermauern die in der breiten Öffentlichkeit oft geäußerte Meinung, der Konsum von Cannabis sei doch unbedenklich,
sofern er mit Augenmaß erfolgt.
Diese Auffassung ist schlichtweg falsch. Experten
warnen eindringlich vor dem Cannabiskonsum, da die
Droge immer giftiger wird und der THC-Gehalt im Laufe
der Jahre durch verschiedene Züchtungen der Droge immer höher geworden ist. Dieser hohe THC-Gehalt kann
beispielsweise schnell zu schizophrenen Psychosen führen.
Studien belegen, dass der Konsum von Cannabisprodukten eng mit dem Jugend- bzw. jungen Erwachsenenalter verknüpft ist. Fast jeder Zweite in der Altersgruppe
der 18- bis 20-Jährigen hat Erfahrungen mit Cannabis
gesammelt. Die Zahl derjenigen, die exzessiv Cannabis
konsumieren, steigt stetig. Nach internationalen Diagnosestandards weisen 10 bis 15 Prozent aller Konsumenten
einen abhängigen Cannabiskonsum auf. Wir wissen, dass
gerade für Heranwachsende der intensive Konsum von
Cannabis lebenslange Gesundheitsschäden zur Folge haben kann.
Vor diesem besorgniserregenden Hintergrund lehnen
wir als FDP eine Legalisierung von Cannabis ab. Bei einer prinzipiellen Aufhebung des Verbotes ergeben sich
praktische und auch juristische Fragen, die schwierig zu
klären sind. Wie soll zum Beispiel in der Praxis der Anbau
für den Eigengebrauch abgegrenzt werden gegenüber
dem kommerziellen und somit illegalen Handel?
Auch das gerne angeführte Argument, Cannabis zu legalisieren sei eine logische Konsequenz, weil ja auch der
Konsum von Tabak und Alkohol gesundheitsgefährdend
ist und diese Produkte legal sind, ist nicht stichhaltig. Wir
wissen, dass bei Dauergebrauch die möglichen Gesundheitsschäden erheblich sind. Die gesellschaftlichen Folgen sind nicht kalkulierbar. Kinder und Jugendliche sind
in der heutigen Gesellschaft ohnehin zunehmend Gesundheitsrisiken ausgesetzt. Diese sollten also möglichst gering gehalten werden.
Allerdings hält auch die FDP den Weg, den Gelegenheitskonsumenten zu entkriminalisieren, für richtig. Für
die Tatsache, dass das gelegentliche Rauchen eines Joints
ein gesellschaftliches Phänomen ist - was auch, wie eingangs erwähnt, die Zahlen der Studien beweisen -, gilt es,
eine angemessene und verhältnismäßige Lösung zu finden. Dies sollte nicht repressiv mit „aller Staatsmacht“
erfolgen, sondern praktikabel. Dazu gehört unbedingt
eine bundesweit einheitliche Festlegung auf eine geringfügige Menge, die straffrei bleibt.
Vor allem in Zeiten, in denen der Cannabiskonsum gerade bei Kindern und Jugendlichen besorgniserregend
ansteigt, ist eine Intensivierung der Aufklärungs- und
Präventionsarbeit dringend nötig. Über die gesundheitlichen Gefahren, die entstehen, sobald aus dem gelegentlichen Konsum ein Dauerkonsum wird, und darüber,
welche Auswirkungen der Konsum bei Kindern und Jugendlichen hat, muss verstärkt informiert und aufgeklärt
werden. Eine liberale Sucht- und Drogenpolitik setzt aus
diesem Grund stärker auf Prävention als auf Repression.
Das gilt auch für die weiche Droge Cannabis.
Wenn neue Drogen in größerem Maßstab Verbreitung
finden, kommt es immer wieder zu Aufwallungen in der
Öffentlichkeit. Rufe nach einem Verbot werden laut. Das
Beispiel „Spice“ hat es gerade erst wieder gezeigt. Aber
auch für die Konsumenten von Cannabis ist die Zeit der
Diskriminierung nicht vorbei. Die Kriminalisierung des
Anbaus von Cannabis und die Praxis des Führerscheinentzugs beim Nachweis des Wirkstoffs THC sind nur zwei
Beispiele.
Natürlich trägt eine realistische und rationale Betrachtung viel dazu bei, dass ein aufgeklärterer Blick entsteht. Wenn circa vier Millionen Bundesbürger schon einmal Cannabis gebraucht haben, dann weist das auf die
prinzipielle Unmöglichkeit hin, ein drogenfreies Leben zu
postulieren und abweichendes Verhalten zu kriminalisieren. Zumindest kann das so für das allgemeine Bewusstsein gesagt werden. Abgesehen von den ernstzunehmenden Gefährdungen, die individuell im Konsum von
Cannabis liegen können, zum Beispiel als Auslöser psychischer Krankheitsbilder, sind gerade auch höchstrichterliche Urteile in Deutschland ergangen, nach denen
Cannabisgebrauch für medizinische Zwecke nicht mehr
als Straftat betrachtet werden kann. Sogar der Deutsche
Bundestag muss mittlerweile zugestehen - wie sich auf einer Fachanhörung im Gesundheitsausschuss gerade erst
zeigte -, dass Cannabis als verschreibungsfähige Arznei
zugelassen werden sollte.
Längst ist Cannabis keine kulturfremde Droge mehr.
Ähnlich wie bei Alkohol und Nikotin ist sein Gebrauch relativ üblich. Dennoch existieren hohe Strafrechtsnormen,
die in keinem Verhältnis stehen zu Allgemeingefährdung
oder Fremdgefährdung respektive Eingriffen in Rechtsgüter anderer, die durch den Gebrauch entständen. Es
sind nichts weiter als Schikanen, die der Gesetzgeber den
Zu Protokoll gegebene Reden
Cannabiskonsumenten auferlegt, und dazu ist der Bundestag meiner festen Auffassung nach nicht berechtigt.
Darüber hinaus wird das postulierte Präventionsziel
durch eine Fokussierung auf das Strafrecht erkennbar
nicht erreicht. Höchst zweifelhaft ist darüber hinaus, ob
es dem Gesetzgeber überhaupt zusteht, ein gegebenenfalls selbstschädigendes Verhalten unter Strafandrohung
zügeln zu wollen.
All diese hier von mir umrissenen Überlegungen sind
alles andere als neu. Seit etwa zehn bis 15 Jahren sind im
Deutschen Bundestag die drogenpolitischen Argumente
ausgetauscht worden und dennoch ist bislang keine Regierung dem Beispiel anderer Staaten gefolgt. Nicht einmal der Eigenanbau und der Besitz zum Eigenverbrauch
sind aus dem Kriminalitätskatalog gestrichen worden.
Das sage ich ausdrücklich zu den Antragstellern. Die
Grünen haben während ihrer relativ langen Regierungszeit von sieben Jahren nichts, aber auch gar nichts getan,
um eine Entkriminalisierung voranzutreiben. Ich war damals drogenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag und kann bezeugen: In der Regierungsverantwortung
sind die Grünen kleinbürgerlich, kleinlaut und hasenfüßig gewesen. Jetzt in der Opposition ist es für sie wieder
attraktiv, sich als dynamische, unangepasste Szene- und
Klientelpartei darzustellen. Ich unterstelle ihnen Lauterkeit in ihrem Antragsbegehren und halte nahezu alle Forderungen für richtig. Dennoch möchte ich sagen: Keine
ihrer früheren Ministerinnen, auch nicht Frau Künast als
Verbraucherministerin, hat eine Initiative ergriffen, um
die Voraussetzungen im Betäubungsmittelgesetz zu schaffen und eine Entkriminalisierung durchzusetzen. Wie viel
Glaubwürdigkeit soll ich also dieser Initiative heute beimessen?
Ich sehe die Notwendigkeit, dass das völkerrechtliche
Verträgekorsett gelockert wird. In Ihrem Antrag wird dieser ganz wesentliche Rechtsrahmen benannt. Ohne eine
Aufhebung des Konzeptes des internationalen „war on
drugs“ kann es keine echten Legalisierungen geben. Das
ist in der Sache vollkommen richtig. Zumindest aber sind
Regelungen wie in den Niederlanden realisierbar.
Für die Linke stelle ich fest: Die Kriminalisierung des
Drogenkonsums ist nicht zu rechtfertigen. Präventionspolitisch ist die Kriminalisierung ein gescheiterter Weg.
Wissenschaftlich belegt ist die medizinische Nutzung und
therapeutische Wirkung von Cannabisprodukten. Das
Gesundheitsministerium verhindert einen rationalen,
aufgeklärten und gesundheitspolitisch sinnvollen Umgang mit Cannabis. Konsumenten illegaler Drogen werden gegenüber Konsumenten legaler Drogen diskriminiert. Die Prohibition widerspricht dem Konzept
mündiger Bürger und ihrer Selbstbestimmungsrechte und
zeichnet darüber hinaus ein Kriminalitätsbild in der Bevölkerung, das der Realität nicht entspricht. Die völkerrechtliche Ächtung von Cannabis ist ein weltweit gescheiterter Weg und hält die Drogenmafia am Leben.
Meiner Auffassung nach ist es allein der politische
Wille, der fehlt, um endlich Vernunft in die Drogenfragen
einkehren zu lassen. Deshalb halte ich den vorliegenden
Antrag für einen wichtigen Beitrag, parlamentarisch endlich Mehrheiten zu finden. Für nicht erforderlich allerdings halte ich den Vorschlag, ein Modellprojekt aufzulegen, wie es im Antrag dargestellt wird. Bei der
Heroinsubstitution war das der richtige Weg. Beim Konsum aus Genussgründen - und dieses Recht hat eine jede
und ein jeder - sehe ich für eine wissenschaftliche Studie
keinen rechten Anlass. Präventionspolitischen Wissensgewinn kann ich im Moment nicht erkennen. Aber vielleicht werden wir in den weiteren Beratungen des Antrags
mehr dazu hören können.
Es geht hier und heute nicht nur ganz allgemein um die
Entkriminalisierung von Cannabis. Es geht auch darum,
ob vor allem Union und SPD endlich bereit sind, die
Realitäten wahrzunehmen. Cannabis ist keine Modedroge. Cannabis ist längst eine Alltagsdroge wie Alkohol
oder Tabak. Es eignet sich nicht, um daran einen ewig
währenden Kulturkampf zu zelebrieren.
Cannabis ist Ausdruck für eine verfehlte Drogenpolitik, die noch immer vorrangig auf Repression setzt und
bei der die Prävention nicht Hauptsache, sondern nur
Beiwerk ist. Cannabis ist zu einem Symbol geworden für
eine Drogenpolitik, die an einer Ideologie, aber nicht an
der Lebensrealität der Menschen orientiert ist. Es ist an
der Zeit, die Glaubwürdigkeit und vor allem die Wirksamkeit dieser Drogenpolitik und ihrer Instrumente kritisch
zu hinterfragen.
Die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens gilt in
der Rechtsordnung immer als Ultima Ratio: Ein bestimmtes Verhalten wird von der Gesellschaft als so sozialschädlich angesehen, dass es nicht nur verboten ist, sondern dass auch jeder Verstoß durch eine individuelle
Bestrafung des Handelnden geahndet werden muss. In
vielen Fällen macht dies Sinn. Aber auch beim Eigengebrauch von Cannabis? Der Schutz der Gesellschaft, insbesondere der Rechtsgüter Dritter, kann ein solches Verbot nicht rechtfertigen. Der Eigengebrauch an sich
schädigt keine Dritten. Auch die allgemeine Sicherheit
wird dadurch nicht gefährdet. Im Gegenteil könnte insbesondere die Legalisierung des Eigenanbaus dazu beitragen, den Schwarzmarkt auszutrocknen. Man kann das
sehr anschaulich an den Erfahrungen der USA nach Aufhebung der Prohibition beobachten. Zudem wissen wir
aus der Suchtforschung, dass der Umstieg von Cannabis
auf härtere Drogen nicht durch den Stoff selbst bedingt
ist, sondern durch den Kontakt mit der Drogenszene auf
dem Schwarzmarkt. Auch Gesundheitsgefahren durch mit
Blei oder Glas verunreinigten Cannabis - wie er vermehrt auch in Deutschland auftaucht - könnte so wirksam begegnet werden. Gesamtgesellschaftlich betrachtet
wäre eine Legalisierung des Eigenanbaus also eher dazu
geeignet, Rechtsgüter zu schützen als diese zu gefährden.
Keine Droge ist harmlos. Auch Cannabis kann bei intensivem Gebrauch zu einer psychischen Abhängigkeit
führen. Bei bestimmten Konsumentinnen und Konsumenten besteht auch die Gefahr der Auslösung von Psychosen. Zudem führt das Cannabisrauchen zu ähnlichen gesundheitlichen Schädigungen wie der Tabakkonsum.
Cannabis sollte allerdings auch nicht einfach mit anderen illegalen Drogen auf eine Stufe gestellt werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das Suchtpotenzial von Cannabis ist bedeutend geringer,
als früher angenommen, und beispielsweise nur halb so
hoch wie das von Alkohol. Menschen mit Alkoholproblemen landen 13-mal so häufig in stationärer Therapie wie
Cannabiskonsumenten. Weltweit starben 2007 rund
2,5 Millionen Menschen am Konsum von Alkohol. Und
der in den letzten zehn Jahren angeblich dramatisch angestiegene THC-Gehalt von Cannabis ist ein Märchen.
Er lässt sich weder mit den Zahlen des Bundeskriminalamtes noch der Europäischen Union belegen. Es gehört
für mich auch zur Glaubwürdigkeit einer Drogen- und
Suchtpolitik, dass man gesetzliche Regelungen an realen
Gesundheitsgefahren orientiert.
Kann aber vielleicht die Strafbarkeit dazu beitragen,
dem Täter sein gesundheitsschädliches Verhalten vor Augen zu halten und so eine Verhaltensänderung herbeizuführen? Eine Befragung des Münchner Instituts für Therapieforschung hat ergeben, dass nur rund 0,4 Prozent
der ehemaligen Cannabiskonsumenten ihren Konsum wegen eines Strafverfahrens aufgegeben haben. Das ist für
die Wirksamkeit einer Präventionsmaßnahme, ehrlich gesagt, ein vernichtendes Urteil. Der Staat könnte das Geld,
das Polizei und Justiz in die Strafverfolgung investieren,
woanders besser einsetzen, zum Beispiel in wirksame
Prävention durch Aufklärung über Konsumrisiken oder
Frühintervention bei Konsumenten mit riskantem Gebrauch.
Eine solche Prävention ist aber nur bei einer Entkriminalisierung des Eigengebrauchs möglich - übrigens
auch nach Einschätzung der Deutschen Hauptstelle für
Suchtfragen und der Drogen- und Suchtkommission des
Bundesgesundheitsministeriums aus dem Jahr 2002. Der
bloße Hinweis auf die Strafbarkeit mit der Forderung
nach Abstinenz hat, wie die letzten Jahrzehnte zeigen, bislang kaum Wirkung gehabt. Im Gegenteil: Länder mit
einem strengen Cannabisverbot haben viel größere Probleme mit anderen, halblegalen Drogen, auf die Jugendliche gegebenenfalls ausweichen, die aber mitunter viel
größere Risiken für die Gesundheit bergen. Ich erinnere
nur an die jüngsten Erfahrungen mit Spice.
Die letzte verbleibende Rechtfertigung, die es also
noch für ein Verbot geben könnte, wäre, dass dies andere
Menschen davor abschreckt, selbst Cannabis zu konsumieren. Aber auch dies trifft nicht zu. Die Zahl der Konsumenten liegt hierzulande seit Jahren konstant bei 2 bis
4 Millionen Menschen. Umgerechnet auf die Gesamtbevölkerung ist das prozentual mindestens genauso viel wie
in den Niederlanden. Und nur 2,8 Prozent der ehemaligen Cannabiskonsumenten geben an, dass sie aus Angst
vor Bestrafung ihren Konsum aufgegeben hätten.
Sie sehen also: alle Gründe, die eine Kriminalisierung
des Eigengebrauchs von Cannabis rechtfertigen könnten,
laufen ins Leere. Mitunter wirkt das Strafrecht sogar kontraproduktiv. Wir fordern die Bundesregierung und die
Koalitionsfraktionen deshalb auf: Stellen Sie endlich eine
glaubwürdige und wirksame Prävention in den Mittelpunkt ihrer Drogenpolitik! Lösen Sie sich von Ihren alten
Klischeevorstellungen! Heben Sie die Strafbarkeit des Eigengebrauchs von Cannabis auf! Entwickeln Sie ein umfassendes nationales Aktionsprogramm zur Cannabisprävention, zur Verbesserung der Therapie und zur
Schadensminderung, und setzen Sie sich auch auf internationaler Ebene dafür ein, in diesem Bereich das Prohibitionsdogma durch eine rationale Gesundheitsprävention zu ersetzen. Ziel einer glaubwürdigen und wirksamen
Prävention muss die Verhinderung des frühen Einstiegs
in den Cannabiskonsum und die bessere und frühere Erreichbarkeit von Menschen mit riskanten Konsummustern sein, nicht ihre Kriminalisierung.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11762 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 23:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kürzungen bei künstlicher Befruchtung
zurücknehmen
- Drucksache 16/11663 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Maria Eichhorn, Hubert
Hüppe, Mechthild Rawert, Dr. Konrad Schily, Frank
Spieth, Birgitt Bender, Parlamentarische Staatssekretärin
Marion Caspers-Merk.
Kinderlosigkeit ist nicht nur ein gewolltes Phänomen,
sondern kann für viele Paare bei ungewollter Kinderlosigkeit zu einer wirklichen Belastungsprobe werden. Von
den deutschen Erwachsenen zwischen 25 und 59 Jahren
wollen nur rund 8 Prozent ausdrücklich keine Kinder.
Aber 30 Prozent von ihnen haben keine Kinder. Wunsch
und Realität klaffen also deutlich auseinander.
Wenn der ersehnte Kinderwunsch jahrelang ausbleibt,
ist die künstliche Befruchtung für viele Paare der letzte
Ausweg. Doch die Behandlungen sind nicht nur aufwendig und belastend, sondern sind seit der Einschränkung
der Kostenübernahmeregelung, die mit dem GKV-Modernisierungsgesetz vorgenommen wurde, eine finanzielle Hürde. Die gesetzliche Krankenkasse beteiligt sich
mit 50 Prozent an den Kosten für die ersten drei Versuche
der künstlichen Befruchtung. Die Folge ist, dass viele
Paare auf eine reproduktionsmedizinische Behandlung
verzichten oder diese nach wenigen Versuchen abbrechen.
In ihrem Antrag fordert die Fraktion Die Linke, die
Einschränkung der Kostenübernahmeregelung zurückzunehmen. Grundsätzlich ist auch aus Sicht der CDU/CSU
eine Vollfinanzierung reproduktiver Maßnahmen durch
die gesetzlichen Krankenkassen positiv.
Die Einschränkung der Kostenübernahme von 2004
war eine bewusste Entscheidung aufgrund der finanziellen Situation. Wegen der aktuellen Lage hat diese Begründung weiterhin Bestand.
Es ist auch zu bedenken, ob es sinnvoll ist, dass eine familienpolitisch als richtig erscheinende Maßnahme ausschließlich aus Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt werden soll. Vielmehr ist zu überlegen,
ob sie nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe einer zusätzlichen Finanzierung durch Steuermittel bedarf.
Diesen Weg geht der Freistaat Sachsen. Ab März dieses Jahres bekommen Ehepaare für die zweite und dritte
Behandlung staatliche Zuschüsse von jeweils bis zu 900
Euro. Für die vierte wird eine Pauschale von 1 600 bis
1 800 Euro gezahlt. Das Bundesland stellt dafür jährlich
1,1 Millionen Euro bereit.
Die Bedingungen sind die gleichen wie auf Bundesebene: Die Frau muss zwischen 25 und 40 Jahre alt sein
und der Mann das Alter von 50 Jahren nicht überschritten
haben. Weiterhin müssen sie verheiratet sein.
Die Altersgrenzen halte ich für sinnvoll und richtig;
denn sie orientieren sich an der von der Natur vorgegebenen Zeitspanne, in der Frauen in der Regel Kinder bekommen. Deshalb sollte die Altersbeschränkung nicht,
wie im Antrag der Linken gefordert, zurückgenommen
werden.
Ebenso muss die Vorraussetzung bestehen bleiben,
dass nur Paare, die verheiratet sind, Maßnahmen der
künstlichen Befruchtung in Anspruch nehmen dürfen. Die
verantwortungsvolle Entscheidung, eine Familie zu gründen, sollte auf einer stabilen Partnerschaft beruhen. Das
ist eine Voraussetzung für den Aufbau guter Eltern-KindBeziehungen. Die Ehe als ein Versprechen lebenslanger
gegenseitiger Verantwortung kann dem am besten Rechnung tragen. Dies bestätigen die Statistiken.
Die Beschränkung auf drei Versuche ist sinnvoll. Denn
viele erfolglose Versuche bedeuten eine körperliche und
seelische Belastung für die Frau. Viele Argumente, die
durchaus bedenkenswert sind, sprechen für eine volle
Kostenübernahme reproduktiver Behandlungen. So kann
vielen Paaren, die ungewollt kinderlos bleiben, mithilfe
von Methoden künstlicher Befruchtung der Kinderwunsch doch noch erfüllt werden. Auch wird von Experten darauf hingewiesen, dass die künstliche Befruchtung
nicht nur die Geburtenstatistik erhöht, sondern auch die
demografische Krise in Deutschland abmildern kann.
Dennoch ist aufgrund der Situation in der gesetzlichen
Krankenversicherung der Vorschlag der vollständigen
Kostenübernahme derzeit nicht umsetzbar. Die Beiträge
sind gerade erst erhöht worden, eine weitere Erhöhung
wäre nicht zumutbar. Deshalb sollten andere Wege der
Finanzierung gesucht werden.
Das GKV-Modernisierungsgesetz hat ab 2004 eine Begrenzung der Ausgaben für künstliche Befruchtung eingeführt, die von den Grundsätzen der medizinischen Notwendigkeit und der Erfolgsaussicht geleitet ist. Wie auch
in anderen Bereichen wurde eine Beteiligung der Versicherten eingeführt.
Ein solidarisches Gesundheitssystem - und auch die
öffentliche Hand - kann nicht alles Wünschenswerte oder
medizinisch Mögliche unbeschränkt finanzieren. Es muss
Grenzen geben, die sich am medizinisch Notwendigen
orientieren. Natürlich kann man eine Auseinandersetzung darüber führen, ob die Grenze bei drei oder vier Behandlungszyklen festzulegen ist, ob und wie hoch eine
Selbstbeteiligung zu sein hat, ob man eine ausreichende
Erfolgswahrscheinlichkeit bei einem maximalen Lebensalter von 40 oder 45 Jahren ansiedelt.
Das Deutsche IVF-Register veröffentlicht Daten ab
1982, es deckt also mittlerweile einen Zeitraum von
25 Jahren ab. Betrachtet man die Daten des Deutschen
IVF-Registers, so stellt man fest: Im Jahre 2007, dem
jüngsten erfassten Jahr, wurde mit 64 578 Zyklen die
dritthöchste Zahl an IVF-Behandlungen seit Anbeginn
des IVF-Registers registiert. Das Jahr 2007 wird hinsichtlich der Zahl durchgeführter künstlicher Befruchtungen nur von den beiden Rekordjahren 2002 und 2003
übertroffen. Zehn Jahre zuvor, 1997, zähte das Deutsche
IVF-Register noch 30 676 Zyklen; das ist weniger als die
Hälfte der für 2007 erfassten Zyklen. Der geburtenstärkste Jahrgang mit fast 1,4 Millionen Geburten war
1964. Wer 1964 geboren ist, war 1997 33 Jahre alt, gehörte also zu der Altersgruppe, die potenziell Kinder bekommt. Der Jahrgang 1974 verzeichnete nur noch etwas
über 800 000 Geburten. Wer 1974 geboren ist, war dann
im Jahre 2007 33 Jahre alt und gehörte zu der Altersgruppe, die potenziell Kinder bekommt. Natürlich berücksichtigt dieses Beispiel keine Faktoren wie Ab- und
Zuwanderungen, doch es zeigt die Tendenz.
Obwohl also die Zahl potenzieller junger Eltern in den
zehn Jahren zwischen 1997 und 2007 stark zurückgegangen ist, hat sich die Zahl der IVF-Behandlungszyklen im
gleichen Zeitraum von 30 676 auf 64 578 mehr als verdoppelt, so jedenfalls die Zahlen des Deutschen IVF-Registers.
Und obwohl die seit 2004 geltenden Regelungen der
Finanzierung künstlicher Befruchtungen innerhalb der
gesetzlichen Krankenversicherung seither nicht geändert
wurden, verzeichnet das Deutsche IVF-Register seit 2005
wieder eine Zunahme: Gegenüber 56 232 Behandlungszyklen 2005 verzeichnet das Deutsche IVF-Register für
2006 bereits 59 295 und für 2007 64 578. Gleichzeitig
entnehmen wir dem Deutschen IVF-Register, dass das
mittlere Alter der Frauen zwischen 1997 und 2007 von
32,6 Jahren auf 34,6 Jahre angestiegen ist.
Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen
hat gemäß § 27 a SGB V Richtlinien über die künstliche
Befruchtung beschlossen. Danach dürfen Maßnahmen
zur künstlichen Befruchtung nur durchgeführt werden,
wenn hinreichende Erfolgsaussicht besteht, dass durch
die Behandlungsmethode eine Schwangerschaft herbeigeführt wird. Eine hinreichende Erfolgsaussicht besteht
nach diesen Richtlinien in der Regel dann nicht, wenn die
IVF-Behandlung bis zu viermal vollständig durchgeführt
wurde, ohne dass eine Schwangerschaft eingetreten ist.
Wenn der Bundesausschuss jedenfalls nach dem vierten
Zu Protokoll gegebene Reden
Versuch keine hinreichende Erfolgsaussicht mehr sieht,
war die Begrenzung des Leistungsanspruchs auf drei Versuche vertretbar.
Ähnlich hat der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen zur Altersgrenze niedergelegt:
Da das Alter der Frau im Rahmen der Sterilitätsbehandlung einen limitierenden Faktor darstellt, sollen Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung bei
Frauen, die das 40. Lebensjahr vollendet haben,
nicht durchgeführt werden. Ausnahmen sind nur bei
Frauen zulässig, die das 45. Lebensjahr noch nicht
vollendet haben und sofern die Krankenkasse nach
gutachterlicher Beurteilung der Erfolgsaussichten
eine Genehmigung erteilt hat.
Da bereits nach dem 30. Lebensjahr das Optimum der
natürlichen Empfängnisfähigkeit überschritten ist, und
weil die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft nach
dem 40. Lebensjahr sehr gering ist, war es vertretbar,
dass zulasten der Solidargemeinschaft IVF-Behandlungen nur bis zu einem Maximalalter der Frau von 40 Jahren finanziert werden.
Das Mindestalter von 25 Jahren betrifft allenfalls sehr
wenige unfruchtbare Ehepaare. Das Mindestalter trägt
dazu bei, dass die Chancen einer natürlichen Schwangerschaft ausgeschöpft werden und es nicht vorschnell zu einer Medikalisierung des Kinderwunsches kommt.
Die gegenwärtige Regelung verkennt nicht die Hoffnungen und Wünsche vieler Paare mit unerfülltem Kinderwunsch. Die Solidargemeinschaft unterstützt drei Versuche, mithilfe von IVF-Maßnahmen Eltern eines Kindes
zu werden. Für die Leistungsansprüche gelten Voraussetzungen und Grenzen, die angesichts des Kostendrucks im
Gesundheitswesen und der Belastbarkeit der Beitragszahler vertretbar sind.
Was will die Linke? In ihrem letzten Antrag vom vergangenen Jahr hat sie sich gegen die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichtes von 2007 und die gesetzlichen
Änderungen im Rahmen des GKV-Modernisierungsgesetzes von 2004 ausgesprochen und eine Ausweitung
der Eigenmittel bei künstlichen Befruchtungen auf nicht
verheiratete Paare gefordert. Unter Bezugnahme auf einen von den CDU-geführten Ländern Saarland, Sachsen
und Thüringen in den Bundesrat eingebrachten und von
der Länderkammer dann beschlossenen Antrag revidiert
die Linke ihren Antrag von 2008 und will die Hilfen bei
künstlichen Befruchtungen nun doch auch weiterhin auf
verheiratete Paare beschränkt lassen. Eine Gleichbehandlung sieht anders aus. Aber das verstehe, wer will.
Obgleich bereits im Kontext des Antrags von 2008 ausgiebig diskutiert, bleibt die Linke dabei, dass es sich bei
einer künstlichen Befruchtung ausschließlich um eine
gesundheitspolitische und nicht auch um eine familienpolitische Leistung handelt. Unbestritten ist, dass die
Gebär- und Zeugungsfähigkeit mit zunehmendem Alter
abnimmt. Als Sozialdemokratin möchte ich Frauen und
Männer ermutigen, bereits in jungen Jahren ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Ja, ich gehe sogar noch weiter: Wir
müssen sie nicht nur ermutigen, wir müssen auch die
Rahmenbedingungen schaffen, damit vor allem junge
Frauen während ihrer Ausbildung, ihres Studiums und
auch später im Berufsleben nicht in ein Entweder-Kindoder-Karriere-Dilemma kommen.
„Familienpolitik ist Zukunftspolitik“ - so die doch
richtige Aussage aus dem Bundesfamilienministerium.
Ich teile diese Einschätzung und frage mich, weshalb die
Linke diesen Zusammenhang noch nicht verstanden hat.
Warum fordert sie keine Ausweitung der künstlichen Befruchtung auf alle hetero- und homosexuellen Lebensformen und damit die familienpolitische Gleichstellung von
Regenbogenfamilien und anderen Familien? Warum fordert die Linke nicht, dass Frau von der Leyen getreu ihrem Leitspruch „Familienpolitik ist Zukunftspolitik“ unverzüglich Mittel aus dem Etat ihres Ministeriums für
ungewollt kinderlose Paare zur Verfügung stellen muss?
Für mich als Sozialdemokratin ist nicht nachvollziehbar,
weshalb Frau Bundesministerin von der Leyen nicht auch
die entsprechenden Konsequenzen für eine solche Zukunftspolitik zieht und ihrer gesamtgesellschaftlichen
Verantwortung für die kommenden Generationen nachkommt.
Ich wiederhole es gerne - vergleiche meine Plenarrede
zur zweiten und dritten Lesung des Gesetzentwurfes zur
Änderung des Fünften Sozialgesetzbuches am 7. März
2008; ich habe damals gesagt -: „Wer Vorschläge zur
Ausweitung der künstlichen Befruchtung macht, muss
auch sagen, wie diese aus familienpolitischer Sicht sicherlich wünschenswerte Forderung im SBG V, dem Regelungsbereich der gesetzlichen Krankenkassen - GKV -,
finanziert wird.“ Eine Antwort gibt die Linke nun in ihrem
Antrag: „Um die vollständige Kostenübernahme für Maßnahmen der künstlichen Befruchtung zu gewährleisten,
wird der Bundeszuschuss an die gesetzliche Krankenkasse, GKV, entsprechend erhöht“. Was aber bedeutet
diese Forderung angesichts der auch den Linken bekannten
Tatsache, dass die vorgesehene Erhöhung des steuerfinanzierten Bundeszuschusses in der gesetzlichen Krankenkasse zur Stabilisierung des Leistungskatalogs der
GKV gedacht ist? Ich sage Ihnen, was aus der Forderung
der Linken unweigerlich folgt: Die Linke will Steuererhöhungen.
Doch zurück zur künstlichen Befruchtung selbst. Seit
dem 1. Januar 2004 haben Versicherte bei ungewollter
Kinderlosigkeit folgende Leistungsansprüche bis hin zur
künstlichen Befruchtung an ihre gesetzlichen Krankenkassen. Alle Mitglieder der GKV haben - unter anderem
aufgrund des § 27 SGB V - bei ungewollter Kinderlosigkeit einen Leistungsanspruch auf Krankenbehandlung.
Die Kosten für die Diagnostik der ungewollten Kinderlosigkeit werden grundsätzlich übernommen. Gleiches gilt
auch für medizinische Maßnahmen zur Herstellung der
Zeugungs- oder Empfängnisfähigkeit beispielsweise durch
chirurgische Eingriffe, die Verordnung von Medikamenten
oder auch durch eine psychotherapeutische Behandlung.
Diese Maßnahmen haben grundsätzlich Vorrang vor der
künstlichen Befruchtung durch zum Beispiel intrauterine
Insemination, IUI, durch die In-vitro-Fertilisation, IVF,
und/oder intrazytoplasmatische Spermieninjektion, ICSI.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wenn diese Maßnahmen nicht greifen, übernimmt die
zuständige Krankenkasse auf der Grundlage des von ihr
im Vorfeld zu bewilligenden Behandlungsplanes 50 Prozent der Behandlungskosten und Medikamente für bis zu
drei Versuche. Die übrigen 50 Prozent sind als Eigenanteil zu erbringen. Die Leistungen gelten für Ehepaare;
Frauen dürfen zwischen 25 und 40 Jahre alt, Männer
müssen unter 50 Jahre alt sein.
Zur vollen Wahrheit gehört, dass die Einfügung des
§ 27 a SGB V im Jahr 1990 als Nachtrag zur Gesundheitsreform von 1988 erfolgte. Schon damals war grundsätzlich strittig, ob die künstliche Befruchtung überhaupt
in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen werden
soll. Denn die Verfolgung familienpolitischer Zielsetzung
ist nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenkassen. Kinderlosigkeit gilt nicht als Krankheit. Die künstliche Befruchtung selbst gilt folglich nicht als Behandlung einer
Krankheit. Damit sie dennoch in den Leistungskatalog
der GKV aufgenommen werden konnte, wurde sie den für
Krankheiten geltenden Regelungen des SGB V quasi unterstellt. Die Leistungen bezüglich künstlicher Befruchtungen sind weiterhin versicherungsfremde Leistungen des
solidarischen Gesundheitssystems. Ja, ich verhehle auch
nicht, dass die 2004 erfolgte Einschränkung der Anzahl
von Versuchen sowie die Beschränkung auf Ehepaare
eine Kostenbegrenzung zur Folge hatte. Gesprochen wird
von einer Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen um
rund 100 Millionen Euro im Jahr.
Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
hat eine volkswirtschaftliche Rechnung aufgemacht. Wenn
der Staat die Kosten für eine künstliche Befruchtung zu
100 Prozent übernähme - etwa 18 000 Euro pro Wunschkind -, würde er nach einer Studie des Instituts sogar das
Vierfache - etwa 79 000 Euro pro Wunschkind - wieder
zurückbekommen. Die Rechnung beruht darauf, dass aus
Kindern später einmal auch Steuer- und Beitragszahler
werden.
Aus familien- bzw. bevölkerungspolitischer Sicht begrüße ich das Vorhaben des Landes Sachsen, Frauen und
Männern bei künstlichen Befruchtungen über die Möglichkeiten der gesetzlichen Krankenkassen hinaus finanziell
zu helfen. Es stimmt: Die demografische Entwicklung unserer Gesellschaft und die geringe Geburtenrate lassen
eine volle Kostenübernahme bei Hilfen zur künstlichen
Befruchtung durchaus erstrebenswert erscheinen.
Doch auch in anderen europäischen Ländern gibt es bei
den gesetzlichen Vorgaben zu künstlichen Befruchtungen
eingeschränkte Leistungsansprüche, beispielsweise in
Großbritannien. In den meisten Ländern werden Behandlungen und Arzneimittel nur teilweise und nur für eine
beschränkte Anzahl von Zyklen erstattet.
Was aber macht Sachsen genau? Sachsen wird für die
zweite und dritte Behandlung einer künstlichen Befruchtung
staatliche Zuschüsse an die hoffungsfrohen Eltern in Höhe
von jeweils 900 Euro auszahlen, für die vierte Behandlung
wird eine Pauschale von 1 600 bis 1 800 Euro gewährt. Die
Eltern mit Kinderwunsch müssen die notwendigen Eigenmittel der ersten Behandlung auch in Sachsen selber
finanzieren, und von einer fünften oder auch sechsten
Behandlung ist auch hier nicht die Rede. Ab März 2009
und in 2010 sollen hierfür im Ministerium für Familie,
Soziales und Gesundheit von CDU-Ministerin Christine
Clauß Haushaltsmittel - je nach Pressemeldung - in
Höhe von jährlich 500 000 oder sogar von 1,1 Millionen
Euro eingestellt sein. Partizipieren können von diesem
Programm auch hier nur verheiratete Paare; die Frau
darf nicht älter als 40 Jahre und der Mann nicht älter als
50 Jahre alt sein. Und noch eines ist von besonderer Bedeutung: Die Paare müssen seit mindestens einem Jahr
ihren Wohnsitz in Sachsen haben und sich auch hier behandeln lassen. Wie lange die Paare auch noch im Anschluss in Sachsen wohnen müssen, ist mir nicht bekannt.
Wer die Regelungen zu den Leistungen bei der künstlichen Befruchtung heute als „Soziale Selektion“ - Christine
Clauß - bezeichnet, vergreift sich nicht nur in der Wortwahl. Er verkennt auch, dass für eine Beschränkung der
Versuchszahl und die Einführung einer Altersgrenze eine
Reihe wissenschaftlicher Erkenntnisse sprechen. So werden
die Erfolgsaussichten der künstlichen Befruchtung nach
dem dritten Versuch und mit zunehmendem Lebensalter
der Frau immer geringer. Tatsächlich kommt es auch nur
bei 18 von 100 behandelten Frauen zur Geburt des erhofften Wunschkindes.
Auch aus der FDP in NRW wird die Forderung laut nach
voller Kostenübernahme für die künstliche Befruchtung
durch die Krankenkassen. Es sei - ich zitiere -: „inhuman
und in Zeiten des demografischen Wandels auch töricht,
dass hier finanzielle Hürden aufgebaut worden sind“.
Kritisiert wird die Begrenzung auf drei Befruchtungsversuche. Allerdings sei die Voraussetzung, dass es sich
um verheiratete Paare handeln müsse, zu überdenken.
Willkürlich sei die Altersbegrenzung bei den Müttern auf
40 Jahre und 50 Jahre bei den Vätern. Kann man hier
wirklich von Willkür sprechen? Ich finde, ethische Zweifel
sind durchaus berechtigt, wenn ich an den aktuellen Fall
der 60-jährigen Kanadierin denke, die Zwillinge bekommen hat.
Aus der in politischer Verantwortung der Linkspartei
geführten Senatsverwaltung Gesundheit, Umwelt und
Verbraucherschutz ist zu vernehmen, dass es in Berlin
auch weiterhin keine finanzielle Unterstützung für Ehepaare geben wird, die sich einer künstlichen Befruchtung
unterziehen. Angesichts der Haushaltslage seien Finanzhilfen aus Ländermitteln nicht möglich. Zu Recht weisen
Experten auf einen möglichen Flickenteppich von bundesländerbezogenen Regelungen oder auch Nichtregelungen
hin.
Uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist
bewusst, dass es für Menschen eine schwere Belastung ist,
wenn sie eigene Kinder haben wollen und keine Kinder bekommen können. Ich nehme die Trauer und die Verzweiflung ungewollt kinderloser Menschen sehr ernst. Gerade
deshalb dürfen wir aber neben den tatsächlichen Erfolgen
der künstlichen Befruchtung - wie schon erwähnt, bekommen nur 18 Frauen von 100 tatsächlich ihr „Wunschkind“ - nicht verschweigen, dass die körperlichen und
seelischen Belastungen bei den verschiedenen Formen
der künstlichen Befruchtung hoch und dass auch gesundheitliche Risiken damit verbunden sind. Für viele Paare ist
die künstliche Befruchtung der letzte Ausweg. Sie wollen
Zu Protokoll gegebene Reden
und können in der Situation wohl auch gar nicht anders,
als eher die Fortschritte der Reproduktionsmedizin zu sehen
und weniger die belastende und aufwendige Behandlung.
Ich wiederhole: Es ist mir unverständlich, warum die
Linke ihre Forderungen für „Maßnahmen der assistierten
Reproduktion“ ausschließlich an die Gesundheits- und
eben nicht an die Familienpolitik richtet. Und ich bekräftige auch noch einmal: Familienpolitische Ziele, wie es ja
die Erhöhung der Geburtenrate in Deutschland ist, sind
nicht ausschließliche Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen. Familienpolitik ist Zukunftspolitik.
Selbstverständlich will auch ich keinen bundesländerspezifischen Flickenteppich. Wir wissen aus anderen
Politikfeldern, wie schädlich das sein kann. Aber die
bloße Aussage der Linken, „um die vollständige Kostenübernahme für Maßnahmen der künstlichen Befruchtung
zu gewährleisten, wird der Bundeszuschuss an die gesetzliche Krankenkasse ({0}) entsprechend erhöht“, reicht
für eine verantwortungsvolle Politik nicht aus.
Mein Fazit: Die Linke versucht, ein Thema zu besetzen.
Auch ich bin der Meinung, dass im Sinne der ungewollt
kinderlosen Menschen die Diskussion fortgeführt werden
muss. Wer aber die ungewollte Kinderlosigkeit für die
Betroffenen wirklich beheben und nicht nur ein Thema
besetzen will, muss ein komplettes familienpolitisches
Maßnahmenbündel schnüren und es entsprechend formulieren. Das aber erfüllt der Antrag der Linken zu „Kürzungen bei künstlicher Befruchtung zurücknehmen“ mitnichten. Stattdessen birgt dieser Antrag der Linken die
Gefahr in sich, dass mit den Gefühlen vieler ungewollt
kinderloser verheirateter Menschen - ich möchte auch
die ungewollt kinderlosen, unverheirateten Menschen,
und zwar die hetero- und homosexuellen, zusätzlich erwähnen - gespielt wird und dass Hoffnungen geweckt
werden, die über die Solidargemeinschaft der gesetzlich
Krankenversicherten nicht abgesichert werden können.
Die SPD-Fraktion lehnt den Antrag daher ab.
In einer über Zwangsabgaben finanzierten Krankenversicherung muss an jedem einzelnen Punkt genau überlegt werden, welche Leistungen hierüber finanziert werden sollen und welche nicht. Das gilt auch für die
künstliche Befruchtung. Vom Grundsatz her handelt es
sich um eine versicherungsfremde Leistung. Insofern ist
der Antrag der Linken konsequent, die Aufstockung der
Kostenübernahme auf 100 Prozent durch einen höheren
Bundeszuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung
finanzieren zu wollen. Im Hinblick auf die 28,8 Milliarden
Euro, die die GKV zusätzlich über das Konjunkturpaket II
erhält, glaubt man wohl, dass es auf weitere Mehrbelastungen nicht mehr ankommt. Diese Kredite müssen jedoch irgendwann zurückgezahlt werden. Im weiteren Gesetzgebungsprozess muss deshalb über den Vorschlag
noch einmal gründlich diskutiert werden.
2004 strichen SPD, CDU/CSU und Grüne in einer
wahren Kürzungsorgie den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zusammen. Neben Zuzahlungserhöhungen für Medikamente, Heil- und Hilfsmittel
sowie Krankenhausaufenthalte wurde die Praxisgebühr
eingeführt, Brillen müssen seitdem selbst bezahlt werden,
das Sterbegeld wurde abgeschafft und vieles anderes
mehr. Diese Koalition des Sozialabbaus beschloss gleichzeitig, die Krankenkassenbeiträge der Arbeitgeber zu
senken - auf Kosten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Rentnerinnen und Rentner, die deshalb
heute mehr zahlen.
Menschen, die Kinder bekommen wollen, aber auf natürlichem Wege nicht zeugen können, haben heute immer
noch mit den folgeschweren Kürzungen zu tun. Bis 2003
wurden die ersten vier Versuche einer künstlichen Befruchtung von der Krankenkasse bezahlt. Ab 2004 werden
nur noch die ersten drei Versuche gezahlt - und die nur zu
50 Prozent übernommen. Das hat die Auswirkung, dass
die Betroffenen pro Versuch etwa 1 750 Euro drauflegen
müssen. Wenn drei Versuche notwendig sind, kostet das
5 250 Euro. Jeder weitere Versuch muss selbst gezahlt
werden. Bei vier Versuchen kostet die Zeugung des
Wunschkindes die Betroffenen dann etwa 8 750 Euro.
Einige können das zahlen, viele aber nicht. Deshalb ist
alleine 2004 die Zahl der künstlichen Befruchtungen fast
halbiert worden. Dies sind 45 000 Einzelschicksale, in
denen keine künstliche Befruchtung durchgeführt wurde.
In meinen Augen ist dies nicht nur skandalös, sondern
auch familienfeindlich. Die Entscheidung zu einer künstlichen Befruchtung darf nicht an einem zu kleinen Geldbeutel scheitern. Denn niemand entscheidet sich mir
nichts, dir nichts für eine solche Behandlung. Denn bei einer Befruchtung im Reagenzglas muss zuerst die Frau mit
nebenwirkungsreichen Hormonen behandelt werden, damit Eizellen heranreifen. Dann müssen der Frau die Eizellen entnommen werden, bevor die eigentliche Befruchtung im Reagenzglas stattfinden kann.
Danach hat das Paar eine weitreichende Entscheidung zu treffen: Wie viele Embryonen sollen in die Gebärmutter implantiert werden? Es kommt oft vor, dass ein
Embryo sich nicht in der Gebärmutter einnistet. Deshalb
ist es gesetzlich erlaubt, pro Befruchtungsversuch bis zu
drei Embryonen im Reagenzglas zu erzeugen und zu implantieren. Je mehr implantiert werden, umso besser stehen die Chancen auf eine Schwangerschaft, umso höher
ist aber auch das Risiko einer Mehrlingsschwangerschaft.
Wenn das Paar über wenig Geld verfügt und lange auf
den Versuch hat sparen müssen, dann wird mit höherer
Wahrscheinlichkeit die Einsetzung von drei Embryonen
gewählt. Die sich daraus entwickelnde Schwangerschaft
ist dann mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Drillingsschwangerschaft. Das bedeutet ein erhöhtes Risiko für
die Frauen und die sich entwickelnden Kinder. Oft raten
die Ärzte dann zu einer Reduktion, also der Abtötung eines oder zweier Embryonen bzw. Föten. Mir liegt es fern,
solche Entscheidungen moralisch zu bewerten. Es ist
aber absurd, wenn solche existenziellen Entscheidungen
abhängig von den zur Verfügung stehenden finanziellen
Mitteln getroffen werden müssen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Unsinnig war auch die neue Festlegung der Altersgrenzen. Frauen unter 25 Jahren haben seither gar keinen Anspruch auf Kostenbeteiligung der Kassen und
müssen bei Unfruchtbarkeit erst dieses Alter abwarten.
Frauen ab 40 haben auch keinen Anspruch mehr, auch
dann nicht, wenn ein Gutachten Erfolgschancen verspricht. Die Altersgrenze 50 Jahre für Männer ist genauso unsinnig. Diese starren und willkürlichen Grenzen
gab es zuvor nicht, und sie sollten nach unserer Auffassung auch wieder abgeschafft werden.
Das alles wollen wir mit unserem Antrag ändern. Wir
wollen, dass die Betroffenen selbstbestimmt den aktuellen
Stand der medizinischen Möglichkeiten nutzen können.
Eine Rückkehr zu der alten Regelung hat auch bereits der
Bundesrat gefordert. Im Juli 2008 hat der Bundesrat auf
Antrag des Saarlandes, von Thüringen und Sachsen beschlossen, dass die Bundesregierung die Kürzungen zurücknehmen und zum alten Rechtszustand zurückkehren
soll.
Die Gesundheitsministerin Frau Schmidt hat diese
Entschließung kurz und knapp beiseite gewischt. Von der
Presse zu der Bundesratsentscheidung befragt, sagte sie
nur, die Vollfinanzierung sei eine familienpolitische Aufgabe und keine Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung.
Wir nehmen sowohl den Bundesrat als auch die Ministerin beim Wort: Wir fordern, dass die künstliche Befruchtung wieder voll finanziert werden soll. Die Mehrkosten
sollen aus Steuermitteln kommen. Dazu soll der Bundeszuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung entsprechend erhöht werden. Das ist ein Vorschlag, mit dem
Bundesrat und Ministerin, aber vor allem die Betroffenen
leben können. Daher bitte ich auch um die Unterstützung
der anderen Fraktionen.
Nachdem wir im März 2008 bereits einen - wenn auch
in eine andere Richtung gehenden - Antrag der Linken
beraten haben, liegt uns nun ein neuer, anders gelagerter
Vorstoß vor. Beim aktuellen Antrag muss ich mich nicht,
wie vor etwa zwei Jahren, wundern, warum die sonst übliche linke Rhetorik der Abschaffung von Zuzahlungen
fehlt. Dafür verwundert es mich heute, dass die Linke nun
die von ihr vorgeschlagenen finanziellen Verbesserungen
aus dem Beutel der Versichertengelder ausschließlich
Ehepaaren zugutekommen lassen will. Sind ihr heute die
unverheirateten kinderlosen Paare nicht mehr genauso
viel wert? Auf die Einbeziehung von kinderlosen Alleinstehenden sowie Lesben hatte die Linke ja von Anfang an
verzichtet. Nun sind Sie aber voll auf der konservativen
Schiene gelandet: nur in der Ehe soll es den Anspruch auf
eine Finanzierung der künstlichen Befruchtung geben.
Die sächsische Linke müsste gegen dieses „antiquierte
Familienbild“ ihrer Bundestagsfraktion konsequenterweise genauso Sturm laufen, wie sie es gegenüber der
sächsischen Landesregierung getan hat, die verheirateten Paaren ab März 2009 Zuschüsse für die künstliche
Befruchtung zahlt.
Ich kann mich nur wiederholen: Im Rahmen der Gesundheitsreform 2003 wurde der heute gültige Kompromiss gefunden, zu dem wir trotz einer eher kritischen
Sicht auf IVF und ICSI weiterhin stehen. Er war Teil eines
Gesamtpakets von höheren Eigenbeteiligungen durch Patientinnen und Patienten oder Streichungen; Stichworte
Praxisgebühr oder Wegfall der Erstattung frei verkäuflicher Arzneimittel. Diese Regelung zur künstlichen Befruchtung wurde im September 2007 vom Bundessozialgericht bestätigt.
Es wurde damals nicht nur eine Eigenbeteiligung von
50 Prozent eingeführt, sondern es wurden auch erstmals
Altersgrenzen festgelegt. Mich würden die Gründe interessieren, warum die Linke diese Altersgrenzen wieder
abschaffen will. Denn schließlich schützen diese Altersgrenzen zum einen davor, dass junge Frauen zu schnell in
unnötige bzw. zum anderen ältere Frauen in erfolglose
Behandlungen mit möglicherweise massiven Nebenwirkungen getrieben werden.
Äußerst kritisch sehe ich, dass die Diskussion über ungewollte Kinderlosigkeit eine extreme Konzentration auf
die Methoden der künstlichen Befruchtung und hier von
IVF und ICSI erfahren. Es gibt unbestritten Fälle, in denen medizinische Befunde vorliegen, die ein solches Vorgehen notwendig machen. Aber ist dies immer auch der
richtige oder erfolgversprechende Weg? So weist das
Deutsche IVF-Register auch eine nicht unbeträchtliche
Zahl von Fällen ohne Befund aus, und laut der aktuellen
deutschen ICSI-Follow-up-Studie II werden 20 Prozent
derjenigen, die durch ICSI schwanger wurden und eine
erneute Schwangerschaft planten, später spontan, das
heißt auf natürlichem Weg schwanger.
In der Gesundheitsberichterstattung des Bundes
- Robert-Koch-Institut, Heft 20 - wird auf eine Studie
verwiesen, die darstellt, dass ungewollt Kinderlose oft
wenig über die Altersabhängigkeit der Fruchtbarkeit wissen. Noch erschreckender ist, dass 50 Prozent der an der
Studie beteiligten ungewollt Kinderlosen keinen Geschlechtsverkehr in den fruchtbaren Tagen hatten. Die
Schlussfolgerung lautet, dass vor reproduktionsmedizinischen Eingriffen eine Sexualanamnese und Sexualaufklärung notwendig seien.
Gestern konnte man in der Presse - zitiert wurden Reproduktionsmediziner - Schätzungen über den Anteil ungewollt kinderloser Paare lesen. Die dort verkündeten
15 Prozent stehen in krassem Widerspruch zu den Aussagen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Dort
heißt es, der Anteil ungewollt Kinderloser werde häufig
überschätzt; nach neueren Untersuchungen blieben etwa
3 Prozent der Paare dauerhaft kinderlos. Damit das Demografieproblem zu begründen dürfte sehr schwer fallen.
Wir haben es hierbei mit vielfältigen Ursachen zu tun.
Statt immer wieder Anträge zur Finanzierung der Reproduktionsmedizin einzubringen, wäre es aus grüner
Sicht sehr viel sinnvoller, sich im Bundestag in Bezug auf
die technisch assistierte Fortpflanzungsmedizin mit dem
wissenschaftlichen Erkenntnisstand in Bezug auf die Gesundheit von Frauen und Kindern sowie einem Überblick
über Erfolge, Probleme, aber auch alternativen Lösungsansätzen auseinanderzusetzen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Im Gegensatz zur Linken betreiben wir Bündnisgrünen
keine Symbolpolitik, sondern machen Nägel mit Köpfen.
Wir Grünen haben vorgeschlagen, dass das Büro für
Technikfolgenabschätzung einen Bericht zur Fortpflanzungsmedizin erstellt. Der Forschungsausschuss hat eine
TAB-Studie „Fortpflanzungsmedizin - Wissenschaftlichtechnische Entwicklungen, Folgen und Rahmenbedingungen“, in die auch Vorschläge der SPD eingeflossen
sind, verabschiedet. Der Bericht wird einen Überblick
über den aktuellen Stand und die Perspektiven der technisch assistierten Reproduktionsmedizin ebenso wie über
die nichttechnischen, alternativen Interventionen, zum
Beispiel psychosoziale und psychotherapeutische Beratungskonzepte, bei ungewollter Kinderlosigkeit geben
und diese vergleichen. Ein grünes Anliegen dabei ist,
dass die gesundheitlichen und psychischen Folgen für
Frauen und Kinder, zum Beispiel Recht des Kindes auf
Wissen der Abstammung, Mehrlingsschwangerschaften,
ebenso wie die sozialwissenschaftliche Forschung über
die Auswirkungen der künstlichen Befruchtung Berücksichtigung finden.
Ich rate der Linken, ständige, sich auch noch widersprechende Vorstöße zur Finanzierung der künstlichen
Befruchtung zu unterlassen und eine ernsthafte Diskussion zu beginnen, wenn der TAB-Bericht vorliegt.
Der Anspruch von Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung auf Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung ist durch das GKV-Modernisierungsgesetz mit
Wirkung vom 1. Januar 2004 zumutbar eingeschränkt
worden. Seitdem werden nur noch drei Versuche zur Herbeiführung einer Schwangerschaft von den Krankenkassen anteilig statt zuvor vier Versuche vollständig übernommen. Zugleich gelten Altersgrenzen zwischen 25 und
40 Lebensjahren für Frauen bzw. 50 Lebensjahren bei
Männern. Grund für die Beschränkung der Versuchszahl
und die Einführung einer oberen Altersgrenze war nicht
zuletzt, dass die Erfolgsaussichten der künstlichen Befruchtung nach dem dritten Versuch und mit zunehmendem Alter immer geringer werden.
Die Kostenübernahme durch die Krankenkassen beträgt nunmehr 50 Prozent, sodass die Versicherten mit einer Eigenbeteiligung von ebenfalls 50 Prozent an den
Kosten der künstlichen Befruchtung beteiligt werden.
Wie nach früher geltendem Recht übernehmen die
Krankenkassen die anteiligen Kosten einer künstlichen
Befruchtung nur, wenn gewährleistet ist, dass bestimmte
Voraussetzungen erfüllt sind:
Die Maßnahmen müssen nach ärztlicher Feststellung
erforderlich sein. Es muss nach ärztlicher Feststellung
hinreichende Aussicht bestehen, dass durch die Maßnahmen eine Schwangerschaft herbeigeführt wird. Es werden
grundsätzlich nur bis zu drei Maßnahmen durchgeführt.
Die Kostenübernahme gilt nur für Ehepaare und nur für
Maßnahmen mit Ei- und Samenzellen der Eheleute, also
im sogenannten homologen System.
In diesem Zusammenhang möchte ich in Erinnerung
rufen, dass die Vorschrift - § 27a SGB V - erst 1990 in
das SGB V eingefügt worden ist. Bei den umfangreichen
Vorarbeiten zu diesem Gesetz ist auch die Frage erörtert
worden, welche Formen der künstlichen Befruchtung in
die Leistungspflicht der Krankenkassen einbezogen werden sollen. Die Beschränkung des Leistungsanspruchs
auf Ehepaare gründet auf der im Grundgesetz verankerten Pflicht zur Förderung der Ehe und Familie. Erst im
Jahr 2007 hat das Bundesverfassungsgericht die Beschränkung der Leistung auf Ehegatten für verfassungsmäßig erklärt.
Das Gesundheitsmodernisierungsgesetz ist im breiten
Konsens vom Deutschen Bundestag verabschiedet worden. Die Notwendigkeit einer umfassenden Gesundheitsreform hat es erforderlich und möglich gemacht, auch
über eigene persönliche und parteipolitische Ansichten
hinweg Themenkomplexe anzugehen, die anderenfalls
möglicherweise nicht zur Disposition gestanden hätten.
Die Anspruchseinschränkung wurde seinerzeit für erforderlich gehalten, um die Ausgaben der GKV im Bereich
der versicherungsfremden Leistungen nicht ausufern zu
lassen.
Die Gründe, die im Jahr 2003 zu Einschränkungen des
Anspruchs führten, sind im Jahre 2009 nicht weniger gewichtig. Auch wenn eine Ausweitung des Anspruchs auf
künstliche Befruchtung manchem als familienpolitisch
sinnvoll erscheinen mag, ist doch eines klar: Die Verfolgung familienpolitischer Zielsetzungen ist nicht Aufgabe
der gesetzlichen Krankenversicherung. Wer also eine
volle Kostenübernahme für diese Leistung fordert, muss
auch einen Finanzierungsvorschlag machen. Und der
kann sich nicht darauf beschränken, mit dem Finger auf
die Krankenkassen zu weisen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11663 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind
auch damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Kerstin Müller ({1}), Winfried Nachtwei, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kontraproduktive US-Operationen in Pakistan sofort einstellen - Umfassende Strategie
zur Stabilisierung Pakistans entwickeln
- Drucksachen 16/10333, 16/11251 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Gert Weisskirchen ({2})
Dr. Werner Hoyer
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck ({3})
Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die Reden
zu Protokoll gegeben werden. Es handelt sich um die
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Holger Hai-
bach, Johannes Pflug, Elke Hoff, Wolfgang Gehrcke und
Kerstin Müller.1)
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Auswärtige
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11251, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10333 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Priska Hinz ({4}), Jerzy Montag,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Biopatentrecht verbessern - Patentierung von
Pflanzen, Tieren und biologischen Züchtungsverfahren verhindern
- Drucksache 16/11604 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({6})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Federführung strittig
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Dr. Günter Krings,
Dr. Matthias Miersch, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Kirsten Tackmann und Ulrike Höfken.
„Biopatentrecht verbessern - Patentierung von Pflanzen,
Tieren und biologischen Züchtungsverfahren verhindern“
lautet der Antrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/
Die Grünen. So sehr erstrebenswert das Ansinnen ist, die
Patentierung von Pflanzen, Tieren und biologischen
Züchtungsverfahren zu verhindern, so sehr muss man sich
aber auch die Frage stellen, ob dafür wirklich das Bio-
patentrecht verändert werden muss oder ob die heutigen
Bestimmungen nicht doch ausreichend sind.
Vor gut vier Jahren standen wir schon einmal an dieser
Stelle und haben über das gleiche Thema diskutiert. Damals
ging es um die Umsetzung der Biopatentrichtlinie in natio-
nales Recht. Die Unionsfraktion, obwohl damals in der Op-
position, hat sich konstruktiv an den Gesetzesberatungen
beteiligt und letztlich auch dem ausgehandelten Kompro-
miss zugestimmt. Die Reichweite des Patentschutzes wurde
seinerzeit nicht etwa wegen des Engagements des grünen
Koalitionspartners eingegrenzt, sondern auf Initiative von
CDU und CSU. Dies geschah durch die Einschränkung des
Stoffschutzes, sodass der Schutzumfang des Patents nach
1) Anlage 7
der nun geltenden Bestimmung nur die konkrete Verwendung umfasst, aber nicht absolut gilt.
Die damals von der rot-grünen Bundesregierung vorgeschlagene Regelung hätte die Bestimmung der Reichweite
des Patentschutzes in die Hände der Gerichte gelegt. In
diesem sensiblen Bereich ist allerdings der Gesetzgeber
gefordert. Er kann derart fundamentale Entscheidungen
nicht an die Gerichte delegieren, sondern muss selbst
Position beziehen. Wenn wir der rot-grünen Bundesregierung gefolgt wären, hätte dies zu Rechtsunsicherheit geführt. Das konnte durch die Unionsfraktion verhindert
werden.
Was allerdings schon etwas merkwürdig anmutet, ist,
warum es nun der Oppositionsfraktion von Bündnis 90/
Die Grünen nicht schnell genug gehen kann mit einer
Überprüfung der rechtlichen Situation bei biotechnologischen Erfindungen. Als sie noch in Regierungsverantwortung standen, haben sie da etwas mehr Muße an den Tag
gelegt. Mitte 1998 ist die Richtlinie in Kraft getreten und
hätte bis Mitte 2000 von Deutschland umgesetzt werden
müssen. Erst Anfang 2005 haben sie es geschafft, die
Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen. Eben noch auf dem Standstreifen und jetzt schon auf der Überholspur, das ist wenig
glaubwürdig.
Ich kann auch nicht erkennen, welcher besondere Anlass
nun in der konkreten Patenterteilungspraxis eingetreten
sein soll, der es rechtfertigen könnte, auf Ebene der Bundesregierung im europäischen Rechtsrahmen aktiv werden zu
müssen. Sie liefern nämlich selbst ein sehr gutes Beispiel
dafür, dass die Selbstreinigungskräfte des Europäischen
Patentübereinkommens sehr gut funktionieren.
Der US-Forscher James Thomson brachte in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Universitätsstiftung
Wisconsin Alumni Research Foundation eine Patentanmeldung beim Europäischen Patentamt in München
ein. Gegenstand des Patentantrags war die künstliche
Herstellung von menschlichen embryonalen Stammzellen,
wodurch automatisch Embryonen vernichtet werden. Das
Europäische Patentamt nahm den Patentantrag schon im
Jahr 2004 nicht an, was den Antragsteller allerdings
nicht davon abhielt, in die nächste Instanz zu gehen, um
doch noch an das Patent zu gelangen. Die Sache wurde
an die Große Beschwerdekammer verwiesen, die Ende
letzten Jahres klarstellte: Ein derartiges Patent würde gegen
die öffentliche Ordnung und die guten Sitten verstoßen.
An Deutlichkeit lässt diese Entscheidung nichts zu wünschen übrig.
Es ist nicht ersichtlich, warum das Europäische Patentamt bei Tieren, Pflanzen und biologischen Züchtungsverfahren nicht die gleiche Sorgfalt an den Tag legen sollte
wie bei menschlichen Embryonen. Was im Moment der
Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes zur Entscheidung vorliegt, sind Patente zum Züchtungsverfahren von Brokkoli und Tomaten. Hier geht es um
die patentrechtlich entscheidende Abgrenzung: Haben wir
es hier mit einem im Wesentlichen biologischen Verfahren
zu tun - das wäre dann nicht mehr patentfähig -, oder
zeichnen sich die Verfahren durch technische Besonderheiten aus, die dann patentierbar wären?
Man sollte sich die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer sehr genau anschauen, aber man sollte
sie nicht jetzt vorwegnehmen. Änderungen, die jetzt im
Vorfeld auf europäischer Ebene eingespeist werden, können die Entscheidung ohnehin nicht mehr beeinflussen,
zumal auch gar nicht klar ist, wo der Hebel für eine Änderung im Patentrecht angesetzt werden müsste. Wenn
Lehren aus der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts zu ziehen sind,
dann ergibt es mehr Sinn, zunächst die Entscheidung abzuwarten und sich anschließend, in Kenntnis der Entscheidung, für eine Änderung der Biopatentrichtlinie einzusetzen.
Wenn Sie in Ihrem Antrag als Kronzeugen für den Handlungsbedarf den wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie zitieren, dann
ist das selbstverständlich nur die halbe Wahrheit. Denn in
dem Gutachten „Patentschutz und Innovation“ heißt es
auch:
Die Kriterien für die Erteilung von Patenten sollten
konsequent angewendet und bei Bedarf verschärft
werden. Patente sollten Innovationen unterstützen,
aber nicht Investitionen absichern. Die operative
Umsetzung dieser Aufgabe fällt den Patentämtern
zu, beispielsweise durch Erhöhung der Anforderungen an den erfinderischen Schritt einer Erfindung.
Es ist hier nicht notwendig, den Gesetzgeber zu bemühen.
Der Patentierung menschlichen Lebens hat das Europäische Patentamt klar widersprochen. Ich erwarte eine
ebenso klare Entscheidung bei den anhängigen Züchtungsverfahren. Zurzeit gibt es daher keinen Handlungsbedarf seitens des Gesetzgebers. Dem Bericht ist insofern
nichts hinzuzufügen, zumal er auch gar nicht konkret auf
biotechnologische Erfindungen eingeht und in diesem
Bereich spezielle Probleme erkennen lässt.
Ich plädiere dafür, die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts bezüglich
der biologischen Züchtungsverfahren abzuwarten. Geht
sie nicht nach unseren Vorstellungen aus, dann - in dem
Punkt haben die Grünen recht - gehört diese Debatte in
den Deutschen Bundestag. Wir sprechen heute also über
das richtige Thema zum falschen Zeitpunkt.
Auf drei Bereiche wird es in der Zukunft ganz besonders ankommen: auf die Wasserversorgung, auf die Energieversorgung und auf die Versorgung mit Nahrungsmitteln. Alle drei Bereiche sind für die Menschheit
existenziell. Insoweit ist es verständlich, dass diese Felder seit längerer Zeit auch in den Fokus wirtschaftlicher
Interessen gerückt sind. Das gewerbliche Schutzrecht ist
dabei ein Hebel, diesen wirtschaftlichen Interessen gerecht zu werden.
Im Ernährungsbereich hat das Saatgut zentrale Bedeutung. Hier bilden Sortenschutzrecht und Patentrecht
die Rechtsgrundlagen, die - das möchte ich an dieser
Stelle gleich betonen - nach meiner Auffassung in den
vergangenen 20 Jahren stets zugunsten der Wirtschaft erweitert wurden. Die Gründe hierfür sind vielfältig. So
wurden die Forschungs- und Züchtungsmethoden kostenintensiver. Mit der Erweiterung der Schutzrechte sollte
der Wettbewerb und vor allem auch die mittelständische
Züchtungsindustrie gestärkt werden.
Ich will an dieser Stelle nicht die Frage vertiefen, ob
die Rechtsänderungen tatsächlich geeignet gewesen sind,
die Ziele zu erreichen. Ich möchte auch nicht der Frage
nachgehen, ob die Forschung gerade im Bereich der
Pflanzenwissenschaft in die richtige Richtung geht. Ich
möchte an dieser Stelle vor allem auf das Spannungsfeld
zwischen wirtschaftlichen Interessen und Interessen der
Allgemeinheit hinweisen. Gerade in den eingangs beschriebenen Bereichen ist es entscheidend, dass die Interessen der Allgemeinheit gewahrt werden.
Mit großer Sorge muss man deshalb die unterschiedlichen Verfahren vor dem Europäischen Patentamt betrachten, die sich zum Beispiel mit der Patentierung von
Zuchtverfahren normaler, konventioneller Schweinerassen beschäftigen oder mit der Patentierung von konventionellen Pflanzenarten. Bislang konnte davon ausgegangen werden, dass bei konventionellen Pflanzenarten
lediglich das Sortenschutzrecht und nicht das Patentrecht
Gültigkeit hat. Dabei muss berücksichtigt werden, dass
im Bereich des Sortenschutzes nur eine Pflanzensorte geschützt werden kann. Dagegen eröffnet das Patentrecht
viel weitergehende Möglichkeiten. Insoweit wird auch die
grüne Gentechnik von Landwirten und Verbrauchern kritisch beurteilt, da die gentechnische Veränderung - wenn
sie eine biotechnologische Erfindung darstellt - patentierbar ist und das damit zusammenhängende Patent eine
Vielzahl von Pflanzensorten und Pflanzenarten betreffen
kann.
Ich kann Ihnen im Namen der SPD-Fraktion versichern, dass auch wir die von Ihnen angesprochenen
Punkte sehr kritisch beobachten und die weiteren Beratungen nutzen werden, um möglichst eine einheitliche Linie mit den anderen Fraktionen des Bundestages zu entwickeln. Dabei darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass
die Biopatentrichtlinie bei uns nach langen Beratungsabläufen im Jahr 2005 umgesetzt worden ist und - wie die
Grünen in ihrem Antrag richtig hervorheben - im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten Einschränkungen
vorgenommen worden sind. Zu betonen ist auch, dass die
Entscheidung des Europäischen Patentamts zu den embryonalen Stammzellen aus dem Jahre 1998 zu begrüßen
ist und gleichzeitig offenbart, dass jede Novellierungsdebatte auch all die Kräfte wieder auf den Plan rufen
könnte, die für eine Erweiterung der Biopatentierung eintreten. Auf der anderen Seite kann und darf der Gesetzgeber nicht schweigen, wenn sich Entwicklungen andeuten,
die dem Willen des Gesetzgebers gerade nicht entsprechen.
Ich meine, dass der Gesetzgeber nicht immer auf
höchstrichterliche Entscheidungen warten sollte, wenn
sich im Laufe von rechtlichen Auseinandersetzungen andeutet, dass zumindest Zweifel an der Auslegung zentraler Fragen bestehen. Vielmehr ist der Gesetzgeber dann
aufgerufen, seiner Aufgabe und Verantwortung gerecht
zu werden und für Klarstellungen zu sorgen. Das gilt
Zu Protokoll gegebene Reden
umso mehr, wenn zumindest zweifelhaft ist, ob die Kontrollmechanismen wirkungsvoll sind und denen einer unabhängigen richterlichen Kontrolle entsprechen.
Mir ist bewusst, dass die Bundesrepublik Deutschland
nur ein Staat des Europäischen Patentübereinkommens
ist, die Biopatentrichtlinie europäisches Recht darstellt
und es deshalb nicht allein auf die Bundesrepublik ankommt. Das darf jedoch nicht ein Argument dafür sein,
eine Entwicklung kommentarlos hinzunehmen, die derzeit
beim Europäischen Patentamt, das seinen Sitz in München hat, klar zu beobachten ist. Am 16. Juli 2008 wurde
am Europäischen Patentamt das Patent EP 1651777 auf
die Zucht normaler, konventioneller Schweine erteilt. Das
Patent beruht auf der Nutzung von natürlichen Genvarianten, die in allen Schweinerassen vorkommen. Entsprechende Patente können sich auch auf Nachkommen
erstrecken und haben somit eine enorme Reichweite. Das
Patent reiht sich ein in die Kette weiterer Patentanmeldungen im Bereich der Tier- und Pflanzenzucht. Es droht
somit die Gefahr, dass das Patentrecht dazu verwendet
wird, globale Abhängigkeiten zu schaffen.
Das von mir beschriebene Spannungsfeld zwischen
wirtschaftlichen Interessen und den Interessen der Allgemeinheit würde empfindlich gestört werden. Bereits die
anhängigen Verfahren beim Europäischen Patentamt dokumentieren die offenkundigen Auslegungsspielräume.
Sie zeigen, dass zumindest der Wille des nationalen Gesetzgebers, biologische Verfahren vom Patentrecht auszuschließen und Pflanzensorten sowie Tierrassen nicht
patentieren zu können, infrage gestellt wird und es insbesondere bei der Abgrenzung zwischen nicht patentierbaren biologischen Verfahren wie Züchtungen einerseits
und patentierbaren biotechnologischen Erfindungen andererseits erhebliche Rechtsunsicherheit gibt. Wir sollten
nicht warten, bis die letztinstanzlichen Entscheidungen
des Europäischen Patentamtes vorliegen, sondern bereits
jetzt klar zum Ausdruck bringen, wo wir eine deutliche
Fehlentwicklung sehen. Es geht hier um elementare ethische und rechtliche Grundfragen.
Schließlich sollten wir die Beratungen auch nutzen,
um institutionelle Fragen der Patentämter zu klären. So
besteht nach meiner Einschätzung Bedarf, den Aspekt der
Finanzierung der Patentämter - gerade auch des Europäischen Patentamtes - und die Möglichkeit der richterlichen Überprüfung letztinstanzlicher Entscheidungen
näher anzuschauen.
Die Biopatentrichtlinie hat sich laut Urteil derer, die
sie anwenden, weitgehend bewährt. Vor diesem Hintergrund und auch im Rückblick auf die fast zehnjährige
konstruktive Diskussion über die Biopatentrichtlinie und
deren Bestätigung durch den EUGH ist ihre Änderung
zurzeit sachlich nicht geboten. Es gibt keinen unmittelbaren Handlungsbedarf.
2002 stellte die Kommission fest: ,,… es ist dem europäischen Gesetzgeber gelungen, eine praktikable Regelung zu schaffen, welche die in der Europäischen Gemeinschaft anerkannten ethischen Grundprinzipien
berücksichtigt.“ Die Grünen wollen mit ihrem Antrag die
Wiederaufnahme der polarisierten Diskussion über Biopatente erreichen und daraus für sich einen Nutzen ziehen. Ihr Handeln richtet sich gegen die Interessen des
Wissenschaftsstandortes Deutschland. Der Bericht der
EU-Kommission 2002 weist aus, dass über 25 Prozent
der Patentanmeldungen beim Europäischen Patentamt
aus Deutschland kommen.
Es gibt kein Patent auf Leben, auch wenn mit dieser
griffigen Formel häufig gegen Biopatente emotionalisiert
wird. Es gibt die Möglichkeit, Pflanzen und Tiere unter
bestimmten in der Richtlinie festgelegten Voraussetzungen patentieren zu lassen. Die Krebsmaus ist dafür ein
ganz bekanntes Beispiel, eine Maus, die in der Erforschung neuer Möglichkeiten zur Heilung von Krebs eine
große Bedeutung hat.
Biopatente sind eine besondere Form des Schutzes
geistigen Eigentums für Erfindungen. Es ist völlig unbestritten, dass Autoren das Recht der wirtschaftlichen Verwertung ihrer schriftstellerischen Arbeit haben. Genauso
unbestritten sollte sein, dass Erfinder das Recht haben,
wirtschaftlichen Nutzen aus ihrem Patent zu ziehen. Patente haben zwei Funktionen: Sie schützen das Recht des
Erfinders auf wirtschaftliche Verwertung. Gleichzeitig
sind sie auch eine Veröffentlichung der Erfindung. Der
Erfinder bezahlt durch die Veröffentlichung seiner Erfindung für deren Schutz. Dieser Schutz ist zeitlich begrenzt.
Jeder weiß, dass das Rezept für Coca-Cola nicht patentiert und auch nicht öffentlich zugänglich, also geheim
ist. Eine Patentierung hätte zur Veröffentlichung geführt,
und jeder hätte das Rezept nach Ablauf von 20 Jahren
nutzen können. Aber Coca-Cola gibt es seit 1886.
Die Pflicht zur Veröffentlichung zusammen mit dem
Forschungsprivileg ermöglichen den Informationsaustausch über Erfindungen, ohne deren kommerzielle Anwendung zu gefährden. Das ist eine wesentliche Funktion
von Patenten. Voraussetzung für die Erteilung eines Patents sind die Kriterien der Neuheit der Erfindung; nur
Erfindungen, nicht aber Entdeckungen werden patentiert.
Die Biopatentrichtlinie bestimmt eindeutig, dass Pflanzensorten und Tierrassen nicht patentierbar sind. Verfahren zum Klonen von Menschen sind ebenfalls nicht patentierbar, ebenso wenig totipotente Stammzellen. Gegen die
Erteilung eines Patents kann Einspruch erhoben werden.
Dies ist vielfach erfolgreich geschehen.
Es ist zu beobachten, dass Unternehmen versuchen,
sehr weitreichende Patentansprüche mit dem Patentrecht
durchzusetzen. Es ist verständlich, dass dies zu Unmut
führt. Dennoch ist eine stärkere gesetzliche Vorgabe abzulehnen. Die Vorstellung, dass im Gesetz jede Einzelheit,
die jetzt von Bedeutung ist und die zukünftig von Bedeutung sein wird, festgelegt werden kann, ist absurd. Gerichte brauchen Ermessensspielräume für ihre Entscheidungen, um mit ihren Urteilen jedem Einzelfall gerecht
werden zu können. Die Alternative wäre ein unüberschaubares Gesetz, das niemandem helfen würde.
Was haben Brokkoli, Schweine und Sonnenblumen gemeinsam? Man kann sie, wenn Mensch will, essen. Und
Zu Protokoll gegebene Reden
weil Essen existenziell ist, wäre die Kontrolle über das,
was wir essen, eine Schlüsselposition. Wer Essen oder
den Zugang zu Essen kontrolliert, hat so unglaubliche
Macht - bis zur Erpressbarkeit derer, die essen.
Was hat das mit dem vorliegenden Antrag der Grünen
zu tun? Die wahrscheinlich beste Möglichkeit, mit Nahrungsmitteln für die Menschheit Geld zu verdienen, ist die
Patentierung von Genen. Wer so ein Patent besitzt, kann
theoretisch jedes Mal mitverdienen, wenn Sie in Ihr Brötchen beißen. Eigentlich ist das in Europa verboten, aber
eben nur eigentlich. Das Europäische Patentamt, EPA,
umgeht das Verbot regelmäßig, in letzter Zeit immer
häufiger - leider. Wenn ein Erzeugnis, eine Pflanzensorte
oder Tierart, nicht patentierbar ist, dann wird das Herstellungsverfahren oder eine Verwendung des Erzeugnisses zum Patent angemeldet. Die negative Wirkung bleibt
die gleiche: Das Schwein in meinem Stall gehört nicht
mehr mir.
Das EPA nutzt dabei Spielräume in der zu löchrig formulierten EU-Biopatentrichtlinie. Herstellungsverfahren
wie zum Beispiel Selektionsverfahren sind so ein Schlupfloch. Diese Schlupflöcher sind aber kein Zufall, sondern
absichtlich eingebaut. So dürfen beispielsweise keine Patente auf „im Wesentlichen“ biologische Verfahren zur
Züchtung von Pflanzen und Tieren erteilt werden. Die beiden Worte „im Wesentlichen“ sind doch genau deshalb in
diesem Satz, damit Ausnahmen möglich sind.
Die aktuelle Situation, in welcher multinationale Agrar- und Saatgutkonzerne auf die Grundlagen unserer Ernährung zugreifen können, ist und bleibt schlicht nicht
hinnehmbar. Bis vor kurzem galt der freie Zugang zu genetischen Ressourcen als Grundrecht und Grundvoraussetzung für die Züchtung. Ja, wir brauchen auch eine
freie, uneingeschränkte Arbeit von Forschung und Entwicklung. Auch dafür muss das Biopatentrecht wieder
vom Kopf auf die Füße gestellt werden, statt die allein
profitorientierte Ausbeutung und Blockade menschlichen
Wissens auch noch zu protegieren. Zumindest in Bereichen des öffentlichen Interesses muss der alleinige oder
zu bezahlende Wissenszugriff auf Ausnahmen beschränkt
oder noch besser unterbunden werden.
Für die Linke gilt dabei weiterhin der Grundsatz: Kein
Patent auf Leben. Wir wollen weder ein Recht, Gene zu
patentieren, noch ein Patentrecht auf eine besondere
Eigenschaft eines Gens. Gene sind keine Erfindungen,
sondern Ergebnis der Evolution. Sie können gesucht, untersucht, bewundert und verwendet, aber sie dürfen nicht
in privaten Besitz genommen werden. Allenfalls sind sie
der Besitz der Völker, mit dem sie im Interesse nachfolgender Generationen umgehen müssen. Eine Privatisierung oder Ausbeutung von gesamtgesellschaftlichen, natürlichen Ressourcen im alleinigen privaten Interesse ist
nicht zu akzeptieren.
Die Patentierung von Pflanzen, Tieren und deren Genen hat das Potenzial, im Bereich der allgemeinen Lebensgrundlagen weitreichende Monopole zu schaffen.
Profitabel ist der technologische Eingriff, während es im
kapitalistischen Wirtschaftssystem für den Erhalt der Artenvielfalt und das kollektive Wissen von Landwirtschaft
und Pflanzenzüchtung keine vergleichbaren ökonomischen Anreize gibt, weshalb ihr Schutz oft hinter andere
Verwertungsinteressen gestellt wird. Das ist letztlich innovations- und forschungsfeindlich und muss durch politische Entscheidungen verhindert werden.
Die Landwirtschaft muss sich weiterhin auf frei zugängliche genetische Ressourcen stützen können. Dafür
brauchen wir gesamtgesellschaftliches Wissen über die
Genome unserer Kulturpflanzen und Nutztierrassen. Patente auf das Wissen über dieses Leben schränken dagegen den Zugang ein. Das ist mit der Linken nicht zu machen.
Die zahlreichen Streitfälle um Biopatente, die vom
Europäischen Patentamt in den letzten Jahren erteilt
wurden, zeigen die eklatanten Mängel der EU-Biopatent-
Richtlinie immer deutlicher. Es geht dabei nicht nur um
gentechnisch veränderte Pflanzen oder Tiere, sondern
aktuell besonders um biologische Züchtungsverfahren.
Art. 4 der Biopatent-Richtlinie 98/44/EG besagt in
Abs. 1: Nicht patentierbar sind a) Pflanzensorten und
Tierrassen, b) im Wesentlichen biologische Verfahren zur
Züchtung von Pflanzen oder Tieren.
Im Widerspruch dazu besagt Art. 4 Abs. 2s: Erfindungen, deren Gegenstand Pflanzen oder Tiere sind, können
patentiert werden, wenn die Ausführungen der Erfindung
technisch nicht auf eine bestimmte Pflanzensorte oder
Tierrasse beschränkt ist. Und Art. 2 Abs. 2: Ein Verfahren
zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren ist im Wesentlichen biologisch, wenn es vollständig auf natürlichen
Phänomenen wie Kreuzung oder Selektion beruht.
Das Europäische Patentamt hat in industriefreundlicher Auslegung dieser widersprüchlichen EU-Richtlinie
in den letzten Jahren daher Patente auf Tiere und Pflanzen erteilt. Dies entspricht einer Interpretation der Richtlinie, wonach Orangen nicht patentiert werden können,
Südfrüchte aber schon. Bis 2005 wurden in Europa
850 Patente auf Pflanzen und Tiere erteilt. Aktuelle Fälle
betreffen Brokkoli ({0}), Schweine - ursprünglich von Monsanto angemeldet, derweil im Besitz
des US-Unternehmens Newsham Choice Genetics - und
Kühe ({1}). Dagegen laufen zahlreiche Organisationen, Umweltverbände
Saatzuchtunternehmen und Bauernverbände - auch der
deutsche Bauernverband - Sturm. Lediglich das ehrenamtliche Engagement einer kritischen Öffentlichkeit
führt so derzeit dazu, dass die Vergabe von Biopatenten
gelegentlich vom EPA nachträglich eingeschränkt wird,
wie kürzlich im Fall der Embryonen. Doch trotz aller
Proteste zeigt die EU-Kommission keinerlei Bereitschaft,
die EU-Biopatent-Richtlinie zu korrigieren. Die Bundesregierung sieht der katastrophalen Entwicklung tatenlos
zu. Mit der heutigen Praxis der Patentierung werden
Züchtung und Innovation eingeschränkt und die Landwirtschaft somit ihrer Produktionsgrundlagen beraubt.
Die Abhängigkeit der Landwirtschaft wie auch der
kleinen und mittelständischen Züchtungsunternehmen
steigt angesichts der hohen Lizenzgebühren und Eigentumsrechte der Agro-Konzerne dramatisch. Wenn Patente, wie das auf den Brokkoli, die gesamte ProduktionsZu Protokoll gegebene Reden
kette von der normalen Zucht bis hin zum Lebensmittel
umfassen, führt das zu einer regelrechten Übernahme der
Kette der Lebensmittelproduktion durch die Patentinhaber. Diese versuchen so, den industriellen Mehrwert für
sich zu reklamieren.
„Das Patentrecht wird zu einer Krake, die Pflanzen
und Tiere als Grundlagen der Welternährung umschlingt
und der Kontrolle von Konzernen unterwirft“, sagt der
Gentechnikspezialist Christoph Then. Die Bekämpfung
des Welthungerproblems wird vollständig ad absurdum
geführt, wenn Saatgut, das heute noch zu 80 Prozent frei
getauscht wird, mit teuren Besitzansprüchen von Privatkonzernen belegt ist. Dies bedeutet eine akute Bedrohung
der Ernährungssicherheit und ein Scheitern der
Milleniumsziele. Angesichts der wachsenden Bedeutung
des Weltmarktes bei Nahrungsmitteln versuchen die
Agro-Konzerne, die Ur- und Lebensmittelproduktion zu
monopolisieren.
Auch die Terminator-Technologie, bei der das Erbgut
von Pflanzen so verändert wird, dass sie unfruchtbar werden, zielt in diese Richtung. Dadurch wird verhindert,
dass ein Teil der Ernte für die Aussaat im nächsten Jahr
wieder verwendet werden kann. Die Technologie ist wegen der Auskreuzungsgefahr von der Konvention über
biologische Vielfalt ({2}) geächtet worden. Sogar der
Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für
Wirtschaft und Technologie warnt in einer Stellungnahme
vom März 2007, dass die heutige Patentierungspraxis negative Auswirkungen auf Wirtschaft und Entwicklung haben kann. Er schreibt - ich zitiere -: „Eine Rückbesinnung auf hohe Qualitätsstandards bei Recherche und
Prüfung in den Patentämtern ist daher dringend zu fordern - höhere Anforderungen an die Patentierbarkeit
würden die Zahl marginaler Patente […], die auf einem
geringen erfinderischen Schritt beruhen - verringern, die
Komplexität des Patentdickichts reduzieren und die Nutzung solcher Patente für strategische Zwecke einschränken.“
Auch die englische „Commission on Intellectual Property Rights“ - Komission für geistige Eigentumsrechte empfiehlt ausdrücklich, dass zumindest Entwicklungsländer Patente auf Saatgut und Pflanzen komplett verbieten
sollten.
Nicht Entdeckungen sollen im Patentrecht belohnt
werden, sondern ausschließlich Erfindungen mit konkreter Anwendung und darauf beschränktem Geltungsbereich.
Nutztiere und Nutzpflanzen sind ein gemeinsames kulturelles Erbe der Menschheit, das in jahrhundertealter
Arbeit entstand. Sie sind kein Privatbesitz weniger Unternehmen und sollen es auch nicht werden. Unfruchtbarkeit
als privatwirtschaftliches Kontrollinstrument stellt eine
entscheidende Bedrohung der biologischen Vielfalt dar;
deren Schutz und Förderung die Bundesregierung sich
noch im letzten Jahr als Gastgeberland der Vertragsstaatenkonferenz des Übereinkommens über die biologische
Vielfalt ({3}) vollmundig auf die Fahnen schrieb.
Das Europäische Patentamt erteilt seine Patente weitgehend auf Basis der widersprüchlichen EU-BiopatentRichtlinie, die in der Praxis zu inakzeptablen Patentierungen führt.
Wir fordern:
Das Biopatentrecht muss verbessert werden. Die Bundesregierung muss umgehend die Initiative auf EU-Ebene
ergreifen, um die EU-Biopatent-Richtlinie zu reformieren. Patente auf Pflanzen und Tiere sowie biologische
Züchtungsverfahren dürfen nicht erteilt werden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11604 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Strittig ist allerdings
die Federführung. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen Federführung beim Rechtsausschuss, die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung
beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das heißt Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen? - Der
Überweisungsvorschlag ist damit abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, das heißt Federführung beim Rechtsausschuss, abstimmen. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen? Damit ist dieser Überweisungsvorschlag angenommen;
das heißt, die Federführung liegt beim Rechtsausschuss.
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich danke Ihnen, dass Sie der Debatte so lange beigewohnt und sie
aktiv gestaltet haben.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 13. Februar 2009,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und schließe
die Sitzung.