Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten können,
müssen wir neue Mitglieder für den Verwaltungsrat und
die Vergabekommission der Filmförderungsanstalt
wählen.
Die Fraktion der CDU/CSU schlägt für den Verwaltungsrat den Kollegen Wolfgang Börnsen und die
Kollegin Dorothee Bär sowie die Kollegen Philipp
Mißfelder und Marco Wanderwitz als jeweilige Stellvertreter vor. Vonseiten der SPD-Fraktion ist die Kollegin Monika Griefahn als ordentliches Mitglied und die
Kollegin Angelika Krüger-Leißner als ihre Stellvertreterin vorgesehen.
In der Vergabekommission soll der Deutsche Bundestag durch die Kollegin Angelika Krüger-Leißner vertreten werden. Als stellvertretendes Mitglied ist von der
CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Gitta Connemann benannt worden.
Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das
ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Kolleginnen
und Kollegen in den Verwaltungsrat bzw. die Vergabekommission der Filmförderungsanstalt gewählt.
Die Kollegin Kristina Köhler hat ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt.
({0})
- Das ist ebenso unverständlich wie bedauerlich. Immerhin gibt es einen Vorschlag für einen Nachfolger von der
CDU/CSU-Fraktion, nämlich den Kollegen Michael
Brand. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist der Kollege Michael Brand
hiermit zum Schriftführer gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Dreizehnter Bericht zur Entwicklungspolitik
der Bundesregierung
- Drucksache 16/10038 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Sozialen Absturz von Erwerbslosen vermeiden Vermögensfreigrenzen im SGB II anheben
- Drucksache 16/11748 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({3})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Volker Wissing, Dr. Hermann Otto Solms,
Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Steuervollzug effektiver machen
- Drucksache 16/11734 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Auswärtigen Kulturpolitik 2007/2008
- Drucksache 16/10962 Redetext
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Sportausschuss
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Lebensleistung von Migrantinnen und Migranten würdigen - Anerkennungsverfahren
von Bildungsabschlüssen verbessern
- Drucksache 16/11418 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 5 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung erstinstanzlicher Zuständigkeiten des Oberlandesgerichts in aktienrechtlichen Streitigkeiten
- Drucksache 16/9020 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Jürgen Trittin, Rainder Steenblock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Arbeitszeitrichtlinie - Hohen Arbeitnehmerschutz EU-weit sicherstellen
- Drucksache 16/11758 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Peter Hettlich, Dr. Thea Dückert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Versorgung für Geschiedene aus den neuen
Bundesländern verbessern
- Drucksache 16/11684 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth ({4}), Bärbel Höhn, Krista Sager,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Experimente zur Meeresdüngung dürfen marine Ökosysteme nicht belasten
- Drucksache 16/11760 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Federführung strittig
ZP 9 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
({7})
- Drucksache 16/11741 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({8})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 10 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuregelung der Kraftfahrzeugsteuer und Änderung anderer Gesetze
- Drucksache 16/11742 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Koppelin, Ulrike Flach, Otto Fricke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Schulden des Bundes durch das Konjunkturpaket II vollständig im Bundeshaushalt etatisieren - Kein Sondervermögen Investitionsund Tilgungsfonds
- Drucksache 16/11743 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Gesine Lötzsch, Roland
Claus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Großbanken vergesellschaften
- Drucksache 16/11747 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller ({11}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zeit für Abrüstung und Rüstungskontrolle ist
reif - Deutschland muss einen führenden Beitrag dazu leisten
- Drucksache 16/11757 ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({12}), Marieluise Beck ({13}), Alexander
Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Präsident Dr. Norbert Lammert
Aufnahme von Gefangenen aus Guantánamo
Bay ermöglichen
- Drucksache 16/11759 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({14})
Innenausschuss ({15})
Auswärtiger Ausschuss
Federführung strittig
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der bisher zur Beratung vorgesehene Tagesordnungspunkt 14 kann ohne Debatte abgeschlossen werden.
Hierdurch rücken die nachfolgenden Tagesordnungspunkte 16 und 18 der Koalitionsfraktionen entsprechend
vor. Der Tagesordnungspunkt 27 soll abgesetzt werden.
Schließlich mache ich noch auf zwei nachträgliche
Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 183. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend ({16}) zur Mitberatung überwiesen
werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über genetische Untersuchungen bei Menschen ({17})
- Drucksachen 16/10532, 16/10582 überwiesen:
Ausschuss für Gesundheit ({18})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Der in der 199. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Innenausschuss ({19}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({20}), Kerstin Andreae, Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rehabilitierung und Entschädigung der nach
1945 in Deutschland wegen homosexueller
Handlungen Verurteilten
- Drucksache 16/11440 überwiesen:
Rechtsausschuss ({21})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ich darf offensichtlich auch zu diesen Mitteilungen
Ihr Einverständnis feststellen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 3 sowie
Zusatzpunkt 1:
3 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
zum Stand der Millenniumsentwicklungsziele
2015 und zu den Auswirkungen der Finanzund Wirtschaftskrise auf die Entwicklungsländer
ZP 1 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Dreizehnter Bericht zur Entwicklungspolitik
der Bundesregierung
- Drucksache 16/10038 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({22})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Auch hierzu gibt
es offenkundig Einvernehmen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung erhält nun die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Frau Wieczorek-Zeul.
Bitte schön.
({23})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
genau zwei Wochen hat UNICEF die neuesten Statistiken zur weltweiten Müttersterblichkeit vorgelegt. Pro
Tag enden weltweit mindestens 1 500 Geburten für die
Mütter mit dem Tod. Jede Minute stirbt weltweit eine
Frau an den Folgen einer Schwangerschaft oder direkt
bei der Geburt eines Kindes. Keines der globalen
Menschheitsziele droht auf so tragische Weise verfehlt
zu werden wie die Verbesserung der Gesundheit von
Müttern und Neugeborenen.
Ich will einfach nicht glauben - ich denke, das kann
ich für uns alle sagen -, dass zur Rettung dieser Mütter
und Kinder, zur Rettung der ärmsten Milliarde dieses
Planeten, keine beherzte, kluge Intervention möglich
sein soll, die diese Leiden und Opfer verhindert.
({0})
Die Millenniumsentwicklungsziele dienen uns als
Kompass auf dem Weg zu einer gerechteren Globalisierung. Bereits vor 30 Jahren hat die Nord-Süd-Kommission unter Willy Brandt eine neue, gerechtere Gestaltung
der Welt gefordert. Zu Beginn dieses Jahrhunderts hat
die Weltgemeinschaft diesen Gedanken endlich konkretisiert. Mit den Millenniumsentwicklungszielen der Ver21784
einten Nationen sind acht Gebote einer gerechten Globalisierung beschlossen worden, und es sind erstmals
Größen- und Zielvorgaben verbindlich gemacht worden.
Die Weltgemeinschaft hat erstens beschlossen, bis
2015 den Anteil der Menschen, die in absoluter Armut
leben, zu halbieren. Es hat in den letzten Jahren deutliche Fortschritte dabei gegeben. Wir dürfen aber auch
nicht vergessen: Die Krisen des letzten Jahres haben
über 100 Millionen Menschen wieder in Not und Elend
zurückgeworfen.
Wir haben im Rahmen der Millenniumsziele zweitens
beschlossen, bis 2015 für alle Kinder die allgemeine Primarschulbildung zu verwirklichen. Heute besuchen
weltweit 83 Prozent der Kinder eine Grundschule. Seit
2001 wurden in den Entwicklungsländern auch Dank der
Entschuldungsinitiativen, die wir mit vorangebracht haben, 34 Millionen Kinder zusätzlich eingeschult. Das ist
ein Riesenfortschritt für sie, für ihre Länder und für uns
alle. Aber leider ist es so, dass immer noch 75 Millionen
Kinder weltweit keinen Primarunterricht haben. Auch
hier ist weiteres Handeln dringend notwendig.
({1})
Wir haben drittens beschlossen, bis 2015 die Gleichstellung der Geschlechter - damit ist besonders die Stärkung der Rolle der Frau gemeint - voranzutreiben. In
vielen Ländern sind Fortschritte greifbar. Das Land mit
dem höchsten Frauenanteil im Parlament ist mittlerweile
Ruanda mit 50 Prozent.
({2})
Das ist ein deutliches Zeichen. Auch bei der Bildung für
Mädchen sind wir vorangekommen. Aber nach wie vor
sind 70 Prozent der Menschen, die weltweit in Armut
leben, Frauen. Dabei heißt Entwicklung voranzubringen
- wer wüsste dies besser als Sie, die Sie sich in diesem
Bereich engagieren? -, doch vor allem die Frauen zu
stärken. Auch hier bleibt viel zu tun. Wir werden weiter
dranbleiben.
({3})
Wir haben weiterhin beschlossen, dass insbesondere
die Kindersterblichkeit zurückgedrängt werden muss,
die Gesundheit von Müttern und Kindern verbessert
werden muss, die Ausbreitung von Pandemien wie HIV/
Aids, Tuberkulose und Malaria zum Stillstand gebracht
werden muss, dem Raubbau an unserem Planeten Einhalt geboten werden muss, der Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen für alle Menschen sichergestellt werden
muss sowie die Entwicklung als eine internationale Gemeinschaftsaufgabe verstanden und umgesetzt werden
muss.
Um diese Ziele zu erreichen, hat sich die Bundesregierung mit anderen Industrieländern und mit den Entwicklungsländern auf gemeinsame internationale Vereinbarungen verständigt. Wir haben diese Politik maßgeblich
mitgestaltet. Ich möchte an vier Beispielen kurz darstellen, was erreicht worden ist, was möglich ist und zu was
wir uns verpflichtet haben.
Erstens. Stichwort „Entwicklungsfinanzierung“. Wir
stehen zu den Verpflichtungen von Gleneagles der G-8Staaten. Wir stehen zum Stufenplan der Europäischen
Union, bis 2010 0,51 Prozent und bis 2015 0,7 Prozent
unseres Bruttonationalproduktes für Entwicklung auszugeben. Wir wissen: Zur Umsetzung der Millenniumsentwicklungsziele sind innovative Finanzierungsinstrumente unverzichtbar.
({4})
Die Bundesregierung hat Einnahmen aus dem Emissionshandel bereits in den Haushalten 2008 und 2009 für
internationalen Klimaschutz bereitgestellt. Dieses Engagement wird noch ausgebaut.
Zweitens. Die Bundesregierung mobilisiert - auch
das ist wichtig - in den Haushalten von BMU und unserem Ministerium mehr als 1 Milliarde Euro für Vorhaben
zum Ausbau erneuerbarer Energien und für Energieeffizienz in den Partnerländern. Diese Woche hat IRENA,
die Internationale Agentur zur Förderung der Erneuerbaren Energien, eine Konferenz in Bonn durchgeführt.
116 Länder haben daran teilgenommen; 75 Länder haben die Statuten unterzeichnet und werden sich personell
und finanziell beteiligen. Sie haben damit ein Signal gesetzt, dass die Welt aus Friedensgesichtspunkten, aus
Energiegesichtspunkten und aus Klimagesichtspunkten
auf erneuerbare Energien setzen will. Wir können nur
hoffen, dass sich auch Länder wie China, Indien und die
USA, die zwar vertreten waren, aber noch nicht Mitglied
sind, anschließen werden. Das ist eine ganz wichtige Initiative.
({5})
Drittens: die Bereiche Gesundheit und Bildung. Allein durch die Arbeit des Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria ist es gelungen, 3 Millionen Menschenleben zu retten.
Viertens. Im Bereich der Armutsbekämpfung haben
wir mit dem Ausbau der Mikrofinanzinstrumente allein
über die deutsche Zusammenarbeit mehr als 50 Millionen Menschen erreicht - vor allen Dingen Frauen, die
auf diese Art und Weise ihre eigene Existenz aufbauen
und Eigenständigkeit entwickeln konnten. Das wollen
wir fortsetzen.
({6})
Zieht man ein Fazit, kann man mit einer gewissen Berechtigung sagen, dass die Staaten jeder Weltregion in
den Jahren seit der Verabschiedung der Millenniumserklärung und der Millenniumsentwicklungsziele wichtige
Fortschritte gemacht haben. Aber das ist nur die eine
Seite der Medaille. Vor allen Dingen bezogen auf Afrika
ist noch viel zu tun.
Eine aktuelle Gefährdung der Umsetzung der Millenniumsentwicklungsziele sehe ich vor allem angesichts
der gegenwärtigen Krisen: der Finanzkrise und der
schlimmer werdenden Ernährungskrise bzw. der steigenden Preise für Nahrungsmittel. Bereits heute hungern
wieder 1 Milliarde Menschen. Es besteht die große Gefahr, dass sich die wirtschaftliche Krise auf einem Kontinent wie Afrika zu einer humanitären Katastrophe mit
Tausenden von Hungernden und Tausenden von Toten
entwickelt. Deshalb müssen wir handeln. Deshalb ist es
unsere Verpflichtung, in diesem Bereich nicht nachzulassen.
({7})
IWF und Weltbank haben unlängst ihre Wachstumsprognosen für die Entwicklungsländer drastisch nach unten korrigiert. Wir sollten uns erinnern - es ist dramatisch -: 1 Prozentpunkt weniger Wachstum in diesen
Ländern bedeutet, dass 20 Millionen Menschen wieder
in die Armut gedrängt werden. Direktinvestitionen in
den Entwicklungsländern bleiben aus. Die Steuereinnahmen gehen zurück, und die Exportchancen werden geringer. Die Infrastruktur ist gefährdet. Projekte für den
Bau von Krankenstationen und Bewässerungsprojekte
bleiben dann Reißbrettprojekte. Keine Hilfen, das bedeutet für immer mehr Menschen: kein Schulbesuch,
keine ärztliche Betreuung bei der Geburt, keine Hebammen, kein Entkommen aus der Armutsfalle.
Uns allen möchte ich sagen: Die Wucht des Systemversagens trifft die schwächsten Staaten und die
schwächsten Menschen am härtesten. Diese Menschen
sind keine Aktienbesitzer. Sie zahlen für den Kollaps an
den Börsen nicht in Geldwerten, sondern in der harten
Währung ihrer täglich bedrohten Existenz; das sollten
wir uns immer wieder in Erinnerung rufen.
In diesem Monat hat die Bundesregierung ihr zweites
Konjunkturpaket, den Pakt für Deutschland, verabschiedet. Das sind Investitionen in die Zukunft unseres
Landes, die wichtig und notwendig sind. Aus gleicher
Perspektive will ich an dieser Stelle betonen: Es ist
wichtig, den Infrastrukturfonds der Weltbank mit
100 Millionen Euro aus diesem Konjunkturpaket zu stützen.
({8})
Damit werden bestehende Infrastrukturprojekte gesichert und neue Investitionen in den Entwicklungsländern
ermöglicht. Das ist auch in unserem Interesse. IWF-Chef
Dominique Strauss-Kahn hat gesagt: Es ist doch eine
krude Logik, dass manche glauben, man könne exportieren, wenn andere Länder arm würden. - Die Entwicklungsländer haben in den letzten Jahren weltweit Stabilität gesichert. Dies war und ist in unserem Interesse. Wir
kommen nur gemeinsam aus der Krise heraus.
Zweiflern will ich sagen: Die Bundesrepublik
Deutschland hatte von allen OECD-Ländern die meisten
Anteile bei den Aufträgen der Weltbank. Insofern ist es
ein gemeinsames Interesse, aus dieser Krise herauszukommen und die Mittel entsprechend einzusetzen.
({9})
Nach meiner festen Überzeugung brauchen wir einen
neuen globalen Pakt für das 21. Jahrhundert, der folgende acht Punkte umfasst:
Erstens geht es um ein Konjunkturprogramm zugunsten der ärmsten Länder. Ich danke dem Bundespräsidenten, dass er bei seinem Neujahrsempfang einen entsprechenden Vorschlag für die Frühjahrstagungen von
Weltbank und internationalen Finanzinstitutionen gemacht hat. Dringend notwendig sind Investitionen in die
Bereiche Landwirtschaft, Ernährungssicherung, Klimaschutz, Infrastruktur, Bildung und Gesundheit. Diese
konjunkturpolitisch notwendigen Initiativen sind aber
auch unter dem Gesichtspunkt der Krisenbekämpfung
reformpolitisch unverzichtbar.
In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass
wir auch mit arabischen Fonds zusammenarbeiten, die
Finanzmittel anbieten und auf unsere Beratung Wert legen, um in den afrikanischen Ländern Investitionen in
die Landwirtschaft voranzubringen. Für diese dringend
benötigten finanziellen Impulse ist eine Zusammenarbeit
aller erforderlich.
Bei der Weltbank haben wir nicht zuletzt dank des
Engagements von Weltbankpräsident Zoellick zusätzliche Mittel mobilisiert. Einen Punkt greife ich hier besonders heraus: Wir alle loben die Institutionen, die Mikrofinanzierung anbieten; aber die wenigsten wissen, dass
dieses Instrument ebenfalls von der Finanzkrise betroffen und bedroht ist. Deshalb ist es eine der wichtigsten
Aufgaben, diese Institutionen intakt zu halten; ansonsten
bräche vieles weg, was den Menschen Perspektiven und
Einkommenschancen geschaffen hat. Auch hier stehen
wir also vor einer ganz wichtigen Aufgabe, die wir gemeinsam lösen müssen.
({10})
Zweitens geht es um die Umsetzung des, wie ich es
nenne, grünen New Deal.
({11})
Ich habe vorhin von IRENA gesprochen. Entwicklungspolitik und Klimaschutz müssen Hand in Hand vorgehen. Hier geht es vor allen Dingen um globale Gerechtigkeit: Diejenigen, die für den Klimawandel nicht
verantwortlich sind, werden davon am härtesten getroffen. Deshalb ist es notwendig, dass wir mit dem Instrument des Emissionshandels, bei dem wir in Deutschland
Vorreiter sind, auch mit Blick auf die Kopenhagener Klimakonferenz Impulse setzen.
({12})
Drittens müssen wir die WTO-Runde abschließen. Jeder sagt, die Krise dürfe nicht zu Protektionismus führen.
({13})
Aber in Wahrheit muss das, was die Europäische Union
schon verwirklicht hat, nämlich den ärmsten Ländern
ungehinderten Zugang zu den Märkten zu ermöglichen,
erst noch auf weitere Mitgliedstaaten der WTO ausge21786
dehnt werden. Ich persönlich unterstütze nachdrücklich
den Vorschlag von WTO-Generaldirektor Lamy, im
Rahmen der Doha-Entwicklungsrunde den Marktzugang
für die ärmsten Entwicklungsländer und Regelungen
zum Beispiel bei der Baumwolle vorzuziehen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, es ist eine Katastrophe, dass
die afrikanischen Länder hier immer noch unter hohen
Subventionen der USA leiden müssen.
({14})
Viertens geht es um die Förderung von Frauen. Wenn
Frauen in Entwicklungsländern bezahlter Arbeit nachgehen, dann tun sie es mehrheitlich in exportorientierten
Sektoren. Die Finanz- und Wirtschaftskrise trifft diese
Sektoren ganz besonders. Deshalb sind die von mir
schon erwähnten Mikrofinanzinstrumente und die einfachsten sozialen Sicherungssysteme, die Walter Riester
uns für die Entwicklungsländer sehr präzise skizziert
hat, auszubauen. Eine weitere wichtige Voraussetzung
ist hier, den Frauen den Zugang zur Familienplanung zu
geben.
({15})
Fünftens. Wir müssen die Zivilgesellschaft einbeziehen. Wir brauchen - und darum bemühen wir uns bereits - eine bessere Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Gebern, damit den Entwicklungsländern der
maximale Nutzen aus den Finanzmitteln zugutekommt.
Das heißt nicht zuletzt: mehr Mitsprache von Bürgern
und Bürgerinnen in den Entwicklungsländern, also mehr
Demokratie. Die Zivilgesellschaft muss diesen globalen
Pakt mitgestalten. Nur so kann er gelingen.
Sechstens. Wir müssen die Finanzierung sicherstellen
und unsere Verpflichtung zur Steigerung der Mittel für
Entwicklungszusammenarbeit erfüllen. Wir stehen - das
habe ich vorhin schon deutlich gemacht - zu dem Stufenplan zur Steigerung der Mittel. Wir hoffen in diesem
Zusammenhang auch auf die angekündigte Initiative der
amerikanischen Regierung.
({16})
Ich will an dieser Stelle fragen: Wie wollten die Industriestaaten den armen Ländern erklären, dass sie ihren
Finanzanteil hinsichtlich der globalen Entwicklung nicht
stemmen können, wenn gleichzeitig drei- bis vierstellige
Milliardenbeträge mobilisiert werden können, um den
Finanz- und Bankensektor zu retten? Dass hier eine Verpflichtung existiert, ist völlig klar.
Es gilt vielmehr, diese Krise zu nutzen, zum Beispiel
um ein neues, globales Regelwerk zu erstellen, damit die
bisher durch Kapitalflucht und Steueroasen verloren gegangenen Steuermilliarden endlich sinnvoll und gerecht
eingesetzt werden können: für eine weltweit nachhaltige
Entwicklung im Sinne der skizzierten Ziele.
({17})
Siebtens. Wir brauchen neue Regeln für die Weltfinanzmärkte. Diese Aufgabe hat der Kollege Steinbrück
sehr energisch angepackt. Auch für die Entwicklungsländer ist ein verlässlicher Ordnungsrahmen von zentraler Bedeutung. Wir brauchen globale Regeln, die dem
ungezügelten Kapitalismus ein Ende setzen. Wir brauchen globale Regeln, die für mehr Transparenz, mehr
Steuerungsfähigkeit und mehr Stabilität sorgen. Es darf
keine aufsichtsfreien Räume geben. Auch deswegen
müssen wir dazu beitragen, dass die in der Doha-Erklärung Anfang Dezember 2008 vereinbarte UN-Konferenz
zu den Auswirkungen der Finanzkrise auf die Entwicklungsländer ein Erfolg wird.
Achtens und letztens: Wir müssen gerechte und handlungsfähige Institutionen schaffen. Die globale Welt
braucht globale Verantwortlichkeit, Global Governance,
die alle Aspekte der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklungen und Entscheidungen zusammen betrachtet und bewertet. Die G-8-Staaten können
das nicht allein. Die Treffen der G 20 bedeuten zwar einen Fortschritt; aber diese Staaten repräsentieren natürlich nicht, wie die Entwicklungsländer sagen, die G 192,
also alle Länder dieser Welt.
Deshalb gewinnt aus meiner Sicht die Forderung nach
einem UN-Sicherheitsrat für wirtschaftliche, soziale
und ökologische Entwicklung an Bedeutung. Diese
Forderung steht im Grundsatzprogramm der SPD.
({18})
Auch die Bundeskanzlerin hat die Forderung nach einem
Weltwirtschaftsrat in den letzten Wochen und Monaten
in mehreren Reden erhoben. Ich unterstütze diesen Vorschlag nachdrücklich. Worum geht es? In dieser UN-Institution wären alle Regionen hochrangig vertreten,
ebenso die internationalen Finanzinstitutionen und die
WTO. Wir brauchen einen Prozess der Gestaltung, der
alle einbezieht, aber trotzdem Handlungsfähigkeit sicherstellt. Deshalb möchte ich diesen Vorschlag auch in
diese Diskussion einbringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die globalen Veränderungsprozesse haben - ich habe es angesprochen, wir
spüren es alle - durch den amerikanischen Präsidenten
Obama neuen Schwung erhalten. Greifen wir die Perspektiven, die er aufgezeigt hat, auf: Setzen wir, wie er
es formuliert hat, weltweit Hoffnung über Furcht, unsere
gemeinsame Willenskraft über Streit und Zwietracht,
und sagen wir denjenigen, die ihre Völker noch immer
unterdrücken, die Freiheit und Menschenrechte missachten und nur ihr eigenes Fortkommen verfolgen, wie etwa
Mugabe in Simbabwe: Auch ihr werdet fallen, auch eure
Völker werden die Freiheit gewinnen. Wir engagieren
uns bei der Verfolgung dieses Ziels.
({19})
Barack Obama hat, wie ich finde, noch etwas sehr deutlich ausgedrückt - ich zitiere ihn -: Die Menschen in euren Ländern werden euch daran messen, was ihr aufbaut,
nicht, was ihr zerstört.
Ich freue mich, dass heute Vertreter und Vertreterinnen aus dem Bereich der Durchführungsorganisationen
der Entwicklungszusammenarbeit, des zivilen Friedensdienstes und des entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes „weltwärts“ auf der Tribüne anwesend sind. Ich
begrüße Sie sehr herzlich. Sie leisten eine ganz wichtige
Arbeit für eine gerechtere Welt.
({20})
Ich möchte an dieser Stelle allen danken, die sich für
eine gerechte, solidarische Gestaltung unserer Welt und
für die Verwirklichung der Menschenrechte engagieren:
den Entwicklungshelfern aus GTZ und KfW, DED und
Inwent, den vielen Expertinnen und Experten in den
Nichtregierungsorganisationen, den Soldatinnen und
Soldaten, die dazu beitragen, dass in vielen Regionen der
Wiederaufbau eine Chance hat und Gewalt zurückgedrängt wird, den vielen lokalen Initiativen in Stadt und
Land, den Kirchen und den Teilnehmern und Teilnehmerinnen des zivilen Friedensdienstes sowie den jungen
Menschen, die im Rahmen von „weltwärts“ ihren entwicklungspolitischen Freiwilligendienst - in diesem Jahr
sind es 2 200 Jugendliche - leisten.
({21})
Sie alle tragen dazu bei, die Hoffnung über die Furcht zu
setzen und die Welt gerechter zu machen.
Ich danke Ihnen.
({22})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Hellmut Königshaus für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Ministerin, keine Zwietracht - da haben Sie recht -,
aber ein bisschen Streit muss schon sein, insbesondere
da wir jetzt hier über das Weißbuch sprechen wollen,
das - das muss man sagen - aufgrund der jüngsten Entwicklungen ein Schönwetterbericht vom letzten Sommer
ist. Es hat mit der aktuellen Krise nichts mehr zu tun.
Die Rahmendaten haben sich komplett verändert. Dazu
haben wir von Ihnen gerade nichts Neues gehört.
({0})
Es wäre richtig gewesen, Frau Ministerin, dieses Weißbuch zurückzuziehen und den tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen.
({1})
Wo sieht denn die Bundesregierung jetzt beispielsweise
weltweit steigenden Wohlstand und weltweit steigende
Unternehmensgewinne, von denen der Bericht schon in
der Einleitung ausgeht? Das klingt doch heute wie Satire.
({2})
Es geht zunächst um eine klare Analyse; dann können
wir an die Korrektur gehen. Wir haben hier aber nur eine
Zustandsbeschreibung und keine Analyse gehört. Wir
alle wurden von dieser Krise überrascht; das will ich
gerne einräumen. Ich glaube, mehr als die Ministerin
eben hat gestern unser Präsident, Dr. Lammert, zur Ursachenforschung beigetragen, als er uns in der Französischen Friedrichstadtkirche eine kleine Geschichte, ein
Gleichnis, erzählt hat. Mit seiner Genehmigung möchte
ich Ihnen das gerne vortragen, weil es einige Ursachen
offenlegt.
Er hat erzählt - das wird die Herren mit den Heuschrecken freuen -, ein Investmentbanker sei zum Himmelstor gekommen, wurde aber abgewiesen mit der Begründung: Die Abteilung für solche Personen sei
ohnehin sehr klein und jetzt überfüllt. Darüber war der
Banker sehr betrübt und sinnierte, wie er das ändern
kann. Er bat Petrus, doch wenigstens einen kleinen Gruß
an die Kollegen hineinrufen zu dürfen. Das wurde ihm
erlaubt, und er rief: In der Hölle wurde Öl gefunden. Daraufhin sprangen alle reflexartig auf und zogen in die
Hölle. Petrus war sehr überrascht und sagte mit einigem
Zögern: Gut, jetzt ist Platz, jetzt kannst du reingehen.
Der Banker antwortete ihm: Wenn der gesamte Markt
davon überzeugt ist, dass in der Hölle Öl gefunden
wurde, dann muss ich mitgehen. Dann ging auch er in
die Hölle.
Das sind die Mechanismen, die zeigen, wie so etwas
funktioniert. Darauf müssen wir eingehen.
({3})
- Wie bitte?
({4})
- Ja, wenn Sie gestern da waren. Unser Präsident ist unschlagbar in der Darstellung solcher Zusammenhänge.
Da kann ich nicht mithalten; das würde ich auch nie versuchen.
({5})
Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, Sie haben gerade
davon gesprochen, dass ein weltweites Regelwerk geschaffen werden soll. Wie wollen Sie das angesichts dieser geradezu menschlichen Eigenschaften, die Staaten
wie Institutionen antreiben, erreichen? Etwa, indem Sie
unsere potenziellen Partner dauernd mit starken Worten
verunsichern, wie es unser Bundesfinanzminister macht?
So doch sicherlich nicht. Wenn wir die Leute, die wir für
eine Veränderung brauchen, vor den Kopf stoßen, werden sie nicht auf uns eingehen.
Meine Damen und Herren, die Entwicklungspolitik
muss auf Fakten reagieren und darf nicht nur auf Stimmungen basieren.
({6})
Deshalb wird die FDP alles tun, was hilft, eine humanitäre Katastrophe nicht nur in Afrika, sondern auch in anderen Ländern zu verhindern. Es nützt aber nichts, wenn
man, ohne konkrete Ursachen zu beschreiben und ohne
auf sie einzugehen, einfach immer nur mehr Geld zur
Verfügung stellt.
Aus den Mitteln des Konjunkturpaketes II sollen nun
auf einmal insgesamt 100 Millionen Euro für einen
Fonds der Weltbank herausgebrochen werden. Frau
Ministerin Wieczorek-Zeul, Herr Minister Steinbrück,
was hat das mit Stärkung der Binnenkonjunktur zu tun?
Ich weiß, dass auch weltweit die Krise zu bekämpfen ist.
Sie müssen allerdings die Grundsätze der Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit beachten.
({7})
Die Mittel des Konjunkturpaketes II sind für die Stärkung der deutschen Binnenkonjunktur vorgesehen, nicht
dafür, dass, ähnlich wie im Hinblick auf die Autoindustrie bereits geschehen, andere Industrienationen gefördert werden. Das würden wir auch der Öffentlichkeit
nicht erklären können. Mein Kollege Koppelin wird auf
diese Thematik noch eingehen.
({8})
Frau Ministerin, Sie haben deutlich gemacht, dass Sie
der Weltbank Geld zur Verfügung stellen wollen, weil
sie viel Gutes tue. Gestern haben wir im Ausschuss eine
Anhörung durchgeführt. Dort wurde uns ganz klar gesagt, dass die Weltbank gar nicht in der Lage sei, ihre
Aufgaben wirklich zu erfüllen. Es hieß, sie sei viel zu
groß angelegt und könne nur Großprojekte durchführen,
die langfristig wirken. Durch solche Großprojekte kann
die gegenwärtige akute Krise aber nicht bewältigt werden. Gleichwohl wollen Sie der Weltbank Geld zur Verfügung stellen. Das halten wir für falsch, insbesondere
auch deshalb, weil die Weltbank dieses Geld für alle
möglichen Maßnahmen verwenden könnte. Wofür sie es
im konkreten Fall verwenden wird, wissen aber weder
Sie noch wir. Deshalb lehnen wir das ab.
({9})
Was die Gründung der IRENA angeht, möchte ich
feststellen: Natürlich unterstützen auch wir einen vernünftigen Mix bei der Energiegewinnung; das ist gar
keine Frage. Es gibt aber keinen Grund, besonders stolz
darauf zu sein, dass das Abkommen bereits von so vielen
Ländern unterzeichnet wurde. Wenn von vornherein
40 Prozent des Budgets übernommen werden, bevor die
ersten überhaupt eingetroffen sind, dann ist das vergleichbar mit einem Kneipier, der sich darüber freut,
dass seine Kneipe voll ist, wenn er Freibier ausschenkt.
Das ist also keine große Überraschung.
({10})
Wir haben die großen Schwellenländer immer unterstützt. Das tun wir auch weiterhin, wenngleich in Grenzen. Kollege Ruck, die finanzielle Hilfe für China, nicht
aber für Indien und Südafrika, ist übrigens eingestellt
worden.
({11})
Was die Hilfe zum Beispiel für Afghanistan oder Dschibuti angeht - auch dort leiden die Menschen -, muss
man aber feststellen: Hier passiert nichts bzw. nur sehr
wenig. Auch diese Länder sind für uns sehr wichtig.
Dort muss mehr getan werden. Daran wollen wir arbeiten.
Zu der grenzwertigen Erklärung des Kollegen Ruck
vom gestrigen Tage, die verständlicherweise keinen Niederschlag fand - er sagte, dass die Entwicklungspolitik
der FDP an Dummheit grenze -,
({12})
kann ich nur sagen: Richtig ist, dass seine Aussage diese
Grenze bereits überschritten hat.
({13})
Meine Damen und Herren, wir brauchen einen internationalen Diskurs darüber, wie wir mit unseren Mitteln
eine größere Wirksamkeit erzielen können. Dies ist im
Sinne unseres Landes. Ihre Regierungserklärung hat uns
leider keinen Weg in diese Richtung gewiesen. Sie wollen immer nur noch mehr Geld für falsche Entwicklungspolitik ausgeben. Aber das hilft unseren Partnern
nicht, das hilft uns nicht, und das hilft erst recht nicht unseren Steuerzahlern.
Vielen Dank.
({14})
Dr. Christian Ruck ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Entwicklungspolitik ist in einer kritischen Phase. Wir
haben zwar in den letzten Jahren im Kampf um das Erreichen der Millenniumsziele große Erfolge erzielt.
Nach der Energie- und Nahrungsmittelkrise im letzten
Jahr droht nun in der Tat durch die weltweit zu beobachtenden Negativtendenzen auf den Finanzmärkten und in
den Volkswirtschaften ein dauerhafter Rückschlag.
Vor allem ist zu konstatieren: Die Aufholjagd der
Schwellenländer, deren Situation für die Bekämpfung
der Armut von entscheidender Bedeutung ist - allein in
Indien leben mehr Arme als in ganz Afrika südlich der
Sahara -, ist ins Stocken geraten. Dem Vernehmen nach
stehen demnächst allein in Bangalore 1,6 Millionen Arbeitnehmer auf der Straße. Mit einer gewissen Verzögerung wird diese Krise auch die ärmsten Länder erreichen
und einen Teufelskreis von sinkenden Exporten, sinkenden Direktinvestitionen und sinkenden Überweisungen
der Arbeitsmigranten herbeiführen.
Auch bei uns werden nun Stimmen laut, die sagen:
Die EZ muss zurückgefahren werden, wir müssen zunächst das eigene Hemd retten. - In der Tat ist es so: Wir
müssen das eigene Haus in Ordnung halten, es nützt niemandem, wenn wir schwach werden; denn dann können
auch wir weniger helfen. Das gilt übrigens auch im Hinblick darauf, dass wir unsere Banken unterstützen. Man
kann über Investmentbanker denken, was man will; aber
dass wir unser Banksystem durch Bürgschaften retten
müssen, ist vollkommen klar.
Die EZ zurückzufahren, wäre jedoch ein schlimmes
Eigentor. Dafür gibt es mehrere Gründe: Die Verzahnung der Volkswirtschaften ist stärker als je zuvor. Unsere Exporte in die entsprechenden Länder haben sich in
den letzten sieben Jahren mehr als verdoppelt. Der Haushalt des BMZ ist mittlerweile der zweitgrößte Investitionshaushalt der Bundesrepublik Deutschland. Von ihm
hängen allein in Deutschland zwischen 200 000 und
300 000 Arbeitsplätze ab.
Es ist auch richtig, Herr Königshaus, dass wir die
Weltbank bei ihren Sofortmaßnahmen, insbesondere bei
der Infrastrukturspritze, unterstützen, damit der Wachstumsfaden nicht reißt. Hinzu kommt - die Ministerin hat
es angedeutet -: Die deutschen Unternehmen bekommen
seit vielen Jahren die mit Abstand meisten Aufträge aus
den Programmen der Weltbank, Aufträge in einem Volumen, das größer ist als der Betrag, den wir einzahlen.
Deswegen habe ich davon gesprochen, dass es an
Dummheit grenzt - wohlgemerkt: grenzt -, die Zahlungen zurückzufahren.
({0})
Auch in anderer Hinsicht wäre das ein Eigentor. Die
Entwicklungspolitik ist mittlerweile ein fester und wichtiger Bestandteil unserer Sicherheitspolitik. Die Entwicklungspolitik soll soziale Sprengsätze entschärfen,
sie soll die Ursachen von Massenflucht bekämpfen, sie
soll zur Energiesicherung beitragen, sie soll dem Terrorismus den Boden entziehen. Je mehr Menschen in den
Entwicklungsländern in Schwierigkeiten geraten, desto
wichtiger wird der Sicherheitsaspekt. Deswegen ist es in
unser aller Interesse, dass wir in unseren entwicklungspolitischen Anstrengungen nicht nachlassen.
Henry Kissinger hat vor kurzem gesagt: Die Krise ist
eine Chance zur Besinnung. Das gilt auch für die Entwicklungspolitik. Wo stehen wir, und was muss geschehen, damit wir die Entwicklungsziele der Millenniumserklärung trotz der derzeitigen Krise erreichen?
Wir haben bezüglich der Entwicklungspolitik sowohl,
was den Haushalt des BMZ angelangt, als auch, was die
Umsetzung der entwicklungspolitischen Schwerpunkte
- Umwelt, Energie - anbelangt, eine äußerst erfolgreiche
Legislaturperiode hinter uns. Ebenso dominierten entwicklungspolitische Fragen unsere Präsidentschaft der
G 8 und der EU. Das ist auch Ihrem Engagement zu verdanken, Frau Wieczorek-Zeul. Die Zeitenwende, so
muss man es ja nennen, von 2005 kam aber insbesondere
dadurch, dass die Kanzlerin die Entwicklungspolitik
ganz anders gepusht hat als ihr Vorgänger. Auch daran
sei hier erinnert
({1})
- Was wahr ist, muss wahr bleiben.
Trotzdem stehen wir unter Druck; denn die Probleme
wachsen. Deswegen müssen wir uns wieder kritisch fragen: Was bringt Entwicklung voran? Welchen Beitrag
können wir leisten? Sind unsere Haushaltsmittel effizient eingesetzt? Wir müssen dabei die Erkenntnis zugrunde legen, dass die Entwicklungszusammenarbeit in
ihrer Gesamtheit keine schlüsselfertige Welt liefern
kann. Wir können nur Impulse setzen, und wir sollten
dies auch in der Öffentlichkeit sagen.
Deshalb müssen wir uns wieder auf Hilfe zur Selbsthilfe und auf die Beantwortung der Frage konzentrieren,
wie wir die schöpferischen Kräfte der Menschen in den
Entwicklungsländern zur Entfaltung bringen können.
Dazu gibt es zwei Ansatzpunkte: zum einen direkt am
Menschen und zum anderen an den Rahmenbedingungen.
Der Schlüsselsektor für die Hilfe direkt am Menschen
ist die Bildung in all ihren Ausprägungen. Liebe Kollegen von der SPD, lieber Sascha Raabe, ich bin froh, dass
wir es im parlamentarischen Verfahren zusammen geschafft haben, diesem Sektor mehr Gewicht zu verleihen, und damit ein bisschen von dem nachgeholt haben,
was wir im Koalitionsvertrag versäumt haben.
({2})
Ich bin auch der Meinung, dass in diesem Schlüsselsektor unabhängig von der Länderliste etwas getan werden muss. Bildung und Ausbildung sollten wir überall
dort vorantreiben, wo wir die Gelegenheit dazu haben,
auch in Schurkenstaaten und in fragilen Staaten, und das
als Investition für die Zukunft betrachten, wenn uns
dann hoffentlich wieder ein Zeitfenster zur Verfügung
steht. Ich glaube, das muss unser Prinzip sein.
({3})
Lieber Sascha Raabe, ähnlich verhält es sich bei der
ländlichen Entwicklung. Ich glaube, auch hier haben
unsere Arbeitsgruppen gemeinsam eine gute Arbeit geleistet.
({4})
Auch die ländliche Entwicklung hat etwas mit den Menschen zu tun; denn wenn Kinder und Jugendliche hungern oder krank sind, dann können sie ihre schöpferischen Kräfte mitnichten entfalten.
Entscheidend sind aber auch die Rahmenbedingungen. Wir können in manche Länder noch so viel Geld
geben: Es wird nichts nützen. Ganz im Gegenteil! Ich
möchte - die Ministerin hat acht Punkte genannt - in aller Kürze fünf Faktoren nennen, die für mich unabdingbar sind, wenn wir eine Chance zur Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele haben wollen.
Erstens. Wichtig ist eine gute Regierungsführung.
Wenn wir es mit Empfängern bzw. Partnern zu tun haben, die legitimiert und entwicklungsorientiert sind,
dann ist der Rest Formsache. Dann geht es nur noch um
die Technik und zum Beispiel um die Frage, ob man hier
den Hafen oder dort die Straße baut. Hier können wir natürlich schneller und unbürokratischer reagieren; das ist
klar. Hier können wir uns auch nach den Vorstellungen
der Partner richten. Je unlegitimierter, inkompetenter
und korrupter unsere Gegenüber aber sind, desto mehr
müssen wir auf unseren Wertvorstellungen bestehen, und
zwar auch im wohlverstandenen Interesse der Menschen
dort.
({5})
Deshalb ist Ownership kein Freibrief und keine Einbahnstraße. Genau das müssen wir im Klartext zum Beispiel auch der afghanischen Regierung sagen. Bei den
Opfern, die wir für sie bringen, muss sie sich im Kampf
gegen Inkompetenz und Korruption im eigenen Land
mehr einbringen.
({6})
In diesem Zusammenhang brauchen wir auch eine
Offensive gegen schlechte Regierungsführung. Dabei
sind alle gefordert. Hierfür brauchen wir natürlich auch
die Unterstützung der Außenpolitiker. Vor allem brauchen wir hierfür aber vor Ort die Unterstützung unserer
Kirchen, und wir brauchen auch die Unterstützung der
Stiftungen und der engagierten NGOs. Das ist etwas,
worauf wir, die Zivilgesellschaft, in der Entwicklungszusammenarbeit nicht verzichten können.
Zweitens. Ohne Wirtschaftswachstum in den betroffenen Ländern haben wir keine Chance, die Entwicklungsziele zu erreichen. Darauf wird der Kollege Klimke
noch eingehen. Wir brauchen in diesen Ländern eine
Wirtschaftsorientierung, aber eine Wirtschaftsorientierung, die mit Armutsbekämpfung einhergeht. Es gibt zu
viele Länder, die zwar ein hohes Wachstum aufweisen,
in denen dieses aber der breiten Bevölkerung nicht zugutekommt. Darum ist es richtig, dass man zum Beispiel
auch auf eine vernünftige Steuerpolitik in diesen Ländern Wert legt.
Drittens. Handelspolitik. Auch das wurde ja schon
angesprochen. Es geht um eine Handelspolitik als Hilfe
zur Selbsthilfe für die Volkswirtschaften der Entwicklungsländer. Im Sinne einer internationalen sozialen
Marktwirtschaft muss dabei aber ein fairer Deal herauskommen. Wir sagen von unserer Seite aus Ja zu Marktzugang, zu Hilfen beim Kapazitätsaufbau und zur Rücksichtsnahme auf lokale Märkte vor Ort. Das muss man
von uns verlangen. Im Gegenzug müssen wir aber einen
Verzicht auf jegliche Art von ausbeuterischer Kinderarbeit und Umweltdumping verlangen können.
({7})
Viertens. Der größte Feind der Entwicklung ist der
Krieg. Umgekehrt gibt es keine Sicherheit ohne Entwicklung. Wir brauchen mehr Möglichkeiten und auch
mehr Mut, um gerade in Entwicklungsländern und Entwicklungsregionen bessere Formen der Friedensschaffung durchzusetzen - darauf wird Kollege Fischer noch
eingehen -; das ist ganz essenziell, weil sonst alle Entwicklungsbemühungen vergeblich wären. Das gilt übrigens auch für Palästina.
Fünftens. Koordination und Arbeitsteilung. Das beginnt im eigenen Land mit einer uneigennützigen Ressortzusammenarbeit und geht über eine schlagkräftige
Zusammenarbeit der Entwicklungsinstitutionen vom
Haupt bis zu den Gliedern bis hin zur EU.
({8})
Wir freuen uns über die Grundsatzvereinbarungen in der
EU, Frau Ministerin. Aber ich glaube, wir brauchen
noch viel mehr Kraft und Energie, um sie auch durchzusetzen. Davon sind wir noch weit entfernt. Im internationalen Bereich gibt es sogar groteske Entwicklungen: Es
gibt eine Vielzahl von Gebern, die in vielen Fällen die
armen Administrationen der Entwicklungsländer erschlägt. Es gibt 34 für Gesundheit und 37 für Entwicklung und Umwelt zuständige UN-Organisationen. Wir
befinden uns allmählich in einem Hamsterrad der Koordination und müssen auch in diesem Punkt wieder zur
Besinnung kommen.
({9})
Wir sind inzwischen der zweitgrößte internationale
Entwicklungshilfegeber. Wir müssen unseren Einfluss
auch dahin gehend geltend machen, dass wir die gesamte
Hilfsarchitektur vom Kopf auf die Füße stellen. Dabei
sind die genannten Vorschläge sehr hilfreich. Aber wir
müssen hier zu Potte kommen.
Ich möchte eine Anregung geben. Die japanische Regierung, die US-amerikanische Regierung - auch die
neue amerikanische Regierung; das hat Hillary Clinton
vor kurzem bestätigt - und zum Beispiel auch die israelische Regierung sind hochinteressiert daran, mit uns verstärkt zu Dreieckskooperationen zu kommen. Ich
glaube, wenn wir uns auf einen solchen Prozess eines
Trainings on the Job verständigen könnten, dann könnten wir zusammen noch viel mehr Gewicht für eine konzentriertere Entwicklungspolitik in unserem Sinne aufbringen. Dafür plädiere ich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir hatten
am Dienstag eine Gedenkstunde, in der es sehr eindrucksvoll um das Motto „Die Würde des Menschen ist
unantastbar“ ging.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die deutlich überschrittene Redezeit.
Jawohl, ich komme zum Schluss. - Diese Würde wird
in vielen Entwicklungsländern, gerade auch Kindern gegenüber, mit Füßen getreten. Deswegen gibt es für uns
nicht nur rationale Gründe, sondern aus christlichabendländischem Denken auch eine moralische Verpflichtung, die Entwicklungspolitik aufrechtzuerhalten.
Ich möchte mit einem Satz schließen, den der japanische Botschafter diese Woche gesagt hat: Deutschland
und Japan haben eine Kultur gemeinsam, nämlich die
Kultur, ihre Versprechen zu halten.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Aydin, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Heute geht es um
weit mehr als um die Entwicklungszusammenarbeit. Wir
sprechen über die Gestaltung der Innen- und Sozialpolitik
in der einen Welt, in der wir leben. Die Verwirklichung
der Millenniumsziele ist nicht nur entwicklungspolitisch
geboten, sondern von entscheidender Bedeutung für die
regionalen Sicherheiten, den Frieden auf der Welt und
das wirtschaftliche Miteinander der Weltgemeinschaft.
({0})
Extremismus, Kriege und Gewalt können sich besonders gut dort entfalten, wo den Menschen politische, soziale und humanitäre Rechte verweigert werden. Wir
brauchen daher die Überwindung der extremen globalen
Polarisierung zwischen wenigen Reichen und vielen Armen.
Wie uns in diesen Tagen auf der italienischen Insel
Lampedusa dramatisch vor Augen geführt wird, treibt
der Ernst der Lage auf unserem Nachbarkontinent Afrika
immer mehr Menschen in die Flucht. Obwohl die Fahrt
über das Mittelmeer aufgrund der rigiden Abschottungspolitik der Europäischen Union jedes Jahr für Hunderte
tödlich endet, treten sie diese Fahrt an, weil Hunger, Armut, Perspektivlosigkeit den Alltag in ihren Ländern
prägen. Dieses Schicksal teilen sie mit anderen. Rund
1 Milliarde Menschen weltweit müssen mit weniger als
1 US-Dollar pro Tag auskommen. 40 Prozent der Weltbevölkerung leben von weniger als 2 US-Dollar am Tag.
Seit der Verabschiedung der Millenniumsziele ist
mehr als die Hälfte der vorgesehenen Zeit verstrichen.
Es wird schwer, sie bis zum Jahr 2015 umzusetzen; denn
die Bilanz des Erreichten ist ernüchternd.
Das erste Millenniumsziel, die Zahl der Menschen in
Armut zu halbieren, ist nicht mehr zu erreichen. Außerhalb Ostasiens sinkt die Armut viel zu langsam, besonders in Südasien und im subsaharischen Afrika. Auch
bei der Kindersterblichkeit, die um zwei Drittel gesenkt
werden soll, laufen wir unserem Vorhaben hinterher. Die
Ausbreitung der Infektionskrankheiten ist längst nicht
gestoppt. 40 Millionen Menschen leben mit HIV/Aids.
2004 starben 3 Millionen Aidskranke. Jedes Jahr sterben 1 Million Menschen an Malaria, davon 90 Prozent
in Afrika. 80 Prozent der Malariatoten sind Kinder in
Afrika.
Beim zweiten Entwicklungsziel - Grundbildung für
alle - hat es durchaus Fortschritte gegeben; da stimme
ich mit Ihnen überein, Frau Ministerin. Die Einschulungsrate wurde bis 2006 auf etwa 70 Prozent gesteigert.
Doch die Herausforderungen bleiben enorm. Entscheidend ist - das habe ich in Ausschusssitzungen immer
wieder deutlich gemacht - die Qualität der schulischen
Bildung und nicht nur die quantitative Erhöhung der
Einschulungszahlen. Wenn 80 Kinder in einer Klasse sitzen und Gelder für Lehrmittel und Lehrpersonal fehlen,
wundert es nicht, dass später viele dieser Kinder die
Schule als Analphabeten verlassen.
({1})
Zudem brechen vielerorts Kinder die Schule ab, weil
Schulgebühren erhoben werden oder sanitäre Einrichtungen für Mädchen fehlen. Daher verstehe ich es nicht,
dass gestern im Ausschuss der Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen zur sanitären Versorgung durch die Koalitionsfraktionen abgelehnt wurde.
({2})
Auch die NGOs haben uns vorgerechnet, dass der
Beitrag der Bundesregierung zur Grundbildung weit hinter dem zurückliegt, was eigentlich erforderlich wäre.
2006 wurde für die Grundbildung gerade einmal 1 Prozent der gesamten öffentlichen Entwicklungshilfe eingesetzt. Das ist viel zu wenig; denn von besserer Bildung
hängt die Verwirklichung der anderen Entwicklungsziele
entscheidend ab.
Die Welt bleibt auch durch tiefe soziale Ungerechtigkeit geprägt. Jene rund 2,6 Milliarden Menschen weltweit, die täglich weniger als 2 US-Dollar pro Tag zum
Leben haben, verfügen nur über 5 Prozent des globalen
Einkommens. Die Reichsten der Welt hingegen - das
sind 20 Prozent - besitzen über drei Viertel des globalen
Einkommens. In Afrika ist die Situation am schlimmsten. Ein Drittel aller Menschen lebt hier in Armut. 1990
war es noch ein Fünftel. Doch nicht nur in Afrika, son21792
dern überall in der Welt vertieft sich der Graben zwischen Reich und Arm. Es ist darum gut und richtig, dass
sich die Staatengemeinschaft mit den Millenniumszielen
konkrete Vorgaben gegeben hat.
Doch Entwicklungszusammenarbeit muss besser finanziert werden, auch von Deutschland, das weiter hinter seinen Zusagen zurückbleibt. Aber mit mehr Geld allein werden die sozialen und wirtschaftlichen Probleme
des Südens nicht überwunden werden. Dringend geboten
sind strukturelle Veränderungen in den ungleichen
Wirtschafts- und Handelsabkommen, eine Regulierung
der Finanzmärkte im Sinne der Entwicklungsländer und
die Demokratisierung der internationalen Finanzorganisationen.
({3})
Lassen Sie mich dies verdeutlichen. In Monterrey im
Jahr 2002, in Paris im Jahr 2005 sowie zuletzt in Accra
und in Doha versprachen die Geber, ihre Entwicklungspolitiken nicht länger von Wirtschafts- und Handelsinteressen konterkarieren zu lassen. Trotzdem kann man
beim besten Willen nicht erkennen, dass die Entwicklung politisch kohärent ist. Ein Dauerbrenner ist hier die
Landwirtschaft.
Jüngstes Beispiel: Die EU will die ausgesetzten Exporterstattungen für Milchprodukte wieder aufnehmen.
Diese Politik ruiniert die Landwirtschaft im Süden; das
darf nicht passieren.
({4})
Wir fordern daher: Weg mit den Exportsubventionen
für die europäische Landwirtschaft! Besseren Marktzugang für die Produkte aus Entwicklungsländern!
({5})
Die letzte Nahrungsmittelkrise 2008 war auch ein
Resultat der jahrzehntelangen Landwirtschaftspolitik
und -förderung, die im Süden auf Exportorientierung
setzt, anstatt sich auf den lokalen Bedarf zu konzentrieren. Zahlreiche Experten, unter anderem der Weltagrarrat, betonen, dass stattdessen die Unterstützung der
Kleinbäuerinnen und Kleinbauern entscheidend für
die Nahrungsmittelsicherheit ist.
Wichtig sind darüber hinaus Landreformen. In vielen Ländern des Südens birgt die Landfrage erheblichen
sozialpolitischen Sprengstoff. Unklare Rechtsverhältnisse und die ungebrochene Kommerzialisierung der
Landwirtschaft führen zur Verdrängung kleiner einheimischer Produzenten und vor allem indigener Völker.
Massive Landkäufe von Privatinvestoren und Regierungen aus der OECD-Welt, aus Asien und jüngst auch aus
der arabischen Welt zur Deckung des eigenen Nahrungsmittelbedarfs oder für den Anbau sogenannter Biokraftstoffe haben die Landfrage vor allem in Afrika und Südamerika deutlich zugespitzt. Ob diese Konflikte
gewaltsam oder demokratisch gelöst werden, hängt auch
von den OECD-Staaten ab. Die Menschen Boliviens
machten beispielsweise im Referendum am letzten Wochenende einen entscheidenden Schritt hin zu einer gerechteren Landverteilung.
({6})
Der Westen muss diese Entscheidung der Bolivianer und
Bolivianerinnen respektieren und unterstützen.
Wir setzen uns für eine ökologische, nachhaltige und
soziale Kehrtwende in der Landwirtschaftsförderung
ein; denn Ernährungssicherheit ist die Grundlage für die
dringend notwendige Diversifizierung der Wirtschaft
in den Entwicklungsländern. Besonders die Länder
Afrikas müssen weg von ihrer einseitigen Ausrichtung
auf unverarbeitete Rohstoffe und Agrarexporte. Eine soziale und umweltverträgliche Industrialisierung ist die
Voraussetzung für einen Ausweg aus den unfairen Handelsbeziehungen. Hierzu müssen bestehende Initiativen
weiterentwickelt und die aggressive Marktöffnungspolitik der westlichen Staaten und Finanzinstitutionen korrigiert werden. Vor allem brauchen die Staaten des Südens
Entscheidungsfreiheit in der Frage, wie sie ihre Volkswirtschaften in der Aufbauphase schützen wollen. Ihnen
darf nicht über die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
der EU eine Liberalisierung aufgezwungen werden, die
ihre Märkte zerstört und ihnen wirtschaftspolitische Gestaltungsspielräume entzieht.
({7})
Im aktuellen kapitalistischen Wettbewerb gehen die
Entwicklungsländer mit dem Fahrrad an den Start, während die Industriestaaten im Porsche sitzen. Das ist keine
Marktwirtschaft. Das ist einfach unsozial.
({8})
Die globale Finanzkrise hat auch die Schwellen- und
Entwicklungsländer erfasst. Nur wenige wie China und
Indien konnten diese abfedern. Mexiko geriet unter
Druck und muss höhere Kredite beim IWF aufnehmen.
Die zuletzt deutlich gesunkenen Rohstoffpreise bringen
die Haushalte vieler Rohstoffexporteure im Süden in
eine ernste Schieflage.
({9})
Zudem sind eine Reduzierung der Entwicklungshilfe sowie der Abzug oder die Zurückstellung von Investitionen zu befürchten.
({10})
Vor diesem Hintergrund hat die Regulierung der Finanzmärkte höchste Priorität. Notwendig sind unter anderem ein Verbot der Nahrungsmittelspekulation, die
Schließung der Steueroasen und die strenge Kontrolle
von Private Equity Fonds sowie Hedgefonds. Es muss
außerdem ein internationales Insolvenzrecht geschaffen
werden, das zahlungsunfähigen Staaten eine Mitsprache
einräumt. Illegitime Schulden müssen erlassen werden.
Wer an Diktatoren oder korrupte Betrüger verleiht, soll
nicht mit der Rückzahlung seiner Gelder rechnen dürfen.
Die Umsetzung dieser Forderung setzt die Demokratisierung der internationalen Finanzdienstleistungsinstitutionen voraus. Es kann nicht angehen, dass IWF
und Weltbank von den OECD-Staaten dominiert werden,
während die Entwicklungsländer die Zeche für deren
verfehlte Politik zahlen müssen.
({11})
Die Nahrungsmittelkrise in Haiti ist dafür ein Beispiel.
Über Jahrzehnte wurden auf Geheiß von Weltbank und
IWF die Zölle gesenkt und Billigimporte ins Land geholt. Heute ist Haiti ein Nahrungsmittelimportland geworden.
Herr Kollege, würden auch Sie freundlicherweise auf
die Zeit achten?
Herr Präsident, ich komme zum Ende. - Entwicklungspolitik ist kein Nebenschauplatz der internationalen
Beziehungen. Sie hat eine zentrale Aufgabe bei der Gestaltung einer gerechten Weltordnung. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil einer internationalen Sozialpolitik, für
die die Linke einsteht, Herr Müntefering.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Ludwig Stiegler für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
mich nicht in die Debatte verirrt, sondern vertrete hier
meinen Kollegen Walter Kolbow, der einem guten
Freund die letzte Ehre erweisen muss.
Den Auftrag, hier für ihn zu reden, habe ich gern
übernommen, weil ich zu denen gehöre, die von der Politik unserer Entwicklungsministerin Heidi WieczorekZeul begeistert sind, und zwar seit Jahrzehnten.
({0})
Ich möchte ihr ganz herzlich für das Beispiel, das sie uns
allen gibt, danken. Wir alle sind mal kurz bewegt und
begeistert, aber dann legt sich das wieder, während
Heidemarie Wieczorek-Zeul über Jahre und Jahrzehnte
mit konstanter Güte - mit konstanter Bosheit, könnte
man fast sagen - ihren Auftrag verfolgt und seit der Einsetzung der Nord-Süd-Kommission an seiner Umsetzung gearbeitet hat.
({1})
Ich habe an vielen Stellen erlebt, wie sie mit List, mit
Ausdauer und mit Beharrlichkeit die stursten Böcke
überzeugt hat.
({2})
Das ist eine bewundernswerte Leistung. Heidemarie
Wieczorek-Zeul ist für uns alle, die wir diesen Geschäften nachgehen, oft eine Entlastung, weil wir wissen, dass
wir unseren Alltagsgeschäften nachgehen können, aber
Heidi fest für die guten Dinge steht. Deshalb ein herzlicher Dank für diese Politik. Hier erleben wir, dass Max
Webers Spruch, dass Politik das Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich ist, lebendig ist. Wir sollten ihr zusätzlich die Namen Constantia
und Perpetua geben.
({3})
Wir erleben auf der anderen Seite eine bemerkenswerte Regression der FDP, die einmal mit Walter Scheel
einen nicht unbedeutenden Entwicklungspolitiker gehabt
hat. Jetzt kommen Herr Niebel und Herr Königshaus mit
einem Horizont, der nicht einmal ein Kirchturmshorizont ist, sondern der Horizont einer Waldkapelle, die von
Dornen und Stauden überwuchert ist.
({4})
Wie kann man nur so sein? Bitte gehen Sie einmal zu
Walter Scheel auf ein Glas Wein, damit er Sie auf den
neuesten Stand oder wenigstens auf den Stand von vor
30 Jahren bringt.
({5})
Das ist dieser Partei nicht würdig. Sie waren schon wesentlich weiter, und Sie können jetzt in der Krise nicht in
diese Regression verfallen. Das geht einfach nicht. Der
Kollege Ruck hat Ihnen schon das Notwendige gesagt.
Wir müssen gerade in diesen Zeiten, in denen alle aus
den Entwicklungsländern davonrennen - früher haben
unsere Anleger diese Länder mit Geld überschwemmt;
({6})
mittlerweile flüchten sie alle in die sicheren Häfen -, Beharrlichkeit und Beständigkeit beweisen. Dazu sollten
wir unseren Beitrag leisten. Ich bin froh, dass die KfW
bei der Mikrofinanzierung einer der besten Player auf
der Welt ist. Herzlichen Dank für die Zusammenarbeit
von Heidi Wieczorek-Zeul und Ingrid Matthäus-Maier,
die das angepackt haben!
({7})
Man sollte für das, was diese Menschen begonnen haben, dankbar sein.
({8})
Herr Königshaus hat versucht, den Statusbericht
vom Sommer, also von vor der Krise, lächerlich zu machen. Das ist falsch. Sie sollten sehen: Dieser Statusbericht zeigt, was wir erreicht haben, was jetzt gefährdet
ist. Wir sollten auf die Weltbank, auf den Internationalen
Währungsfonds und andere Beteiligte hören: Jetzt müssen wir zusammenstehen, um das Erreichte zu erhalten
und zu bewahren. Nur gemeinsam kommt die Welt aus
der Krise. Keiner kann das für sich allein.
({9})
Stichwort „Weltbank“: Frau Bundeskanzlerin, wenn
Sie Herrn Obama wieder treffen oder wieder mit ihm telefonieren, dann erinnern Sie ihn bitte daran, dass wir
vor einer Verdoppelung der Sonderziehungsrechte stehen. Der Bundestag hat die Sonderziehungsrechte schon
mit beschlossen. Das Ganze hängt noch an der Zustimmung der Amerikaner. Es wäre gut, wenn den schönen
Sprichworten über das Wagnis der Zukunft Taten folgten
und wir unsere Sonderziehungsrechte beim Internationalen Währungsfonds verdoppelten; damit wäre der ganzen Welt erheblich geholfen.
({10})
Mich bewegt seit meiner Pennälerzeit ein Gedicht
von Hugo von Hofmannsthal.
({11})
Dieses Gedicht sagt uns zu diesem Thema einiges. Es
lautet:
Manche freilich müssen drunten sterben,
wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
andere wohnen bei dem Steuer droben,
kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.
Manche liegen mit immer schweren Gliedern
bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,
anderen sind die Stühle gerichtet
bei den Sibyllen, den Königinnen,
und da sitzen sie wie zu Hause,
leichten Hauptes und leichter Hände.
Doch ein Schatten fällt von jenen Leben
in die anderen Leben hinüber,
und die leichten sind an die schweren
wie an Luft und Erde gebunden.
Ganz vergessener Völker Müdigkeiten
kann ich nicht abtun von meinen Lidern,
noch weghalten von der erschrockenen Seele
stummes Niederfallen ferner Sterne.
Viele Geschicke weben neben dem meinen,
durcheinander spielt sie all das Dasein,
und mein Teil ist mehr als dieses Lebens
schlanke Flamme oder schmale Leier.
Unser Teil ist mehr als unser individuelles Leben hier.
Wir sind mit den anderen verbunden. Wir sind in diese
weltweite Verantwortlichkeit, in die internationale
Kooperation einzubinden. Armutsbekämpfung ist Zukunftsinvestition. Armutsbekämpfung ist Friedenspolitik. Dafür danke ich der Bundesministerin, der Bundesregierung. Diese Politik unterstützen wir.
({12})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Koczy für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Ministerin, Sie haben der Zeitschrift
Welt-Sichten dieser Tage ein Interview gegeben. Darin
haben Sie die Europäische Union aufs Korn genommen.
Sie haben die Absicht der EU kritisiert, wieder Exportsubventionen für Milchprodukte einzuführen: Diese
würden die Märkte in den Entwicklungsländern zerstören und die Existenz vieler Kleinbauern in diesen Ländern gefährden. Sie haben gesagt - ich zitiere -:
Die Entscheidung steht im krassen Gegensatz zu
den Erkenntnissen der Weltgemeinschaft aus der
Nahrungsmittelkrise.
Frau Ministerin, das ist richtig. Die Wiedereinführung
von Agrarsubventionen für Milchprodukte zerstört in der
Tat die Märkte in den Entwicklungsländern. Diese Entscheidung der Europäischen Union, verkündet am Rande
der Grünen Woche hier in Berlin, ist eine Katastrophe
für viele Menschen in Afrika, Lateinamerika und Asien.
({0})
Sie ist ein Schlag gegen alle Bemühungen, mehr globale
Gerechtigkeit herzustellen, und zementiert die Praxis unseres unfairen Handelssystems.
Aber, liebe Heidemarie Wieczorek-Zeul, die Europäische Union ist kein virtuelles Konstrukt, sondern gibt die
Meinung souveräner Staaten wieder. Die Bundesregierung sitzt da mit am Tisch. Sie begrüßt und unterstützt
diese Entscheidung. Sie sind Mitglied der Bundesregierung - und das nicht erst seit heute. Ich bin das EUBashing leid; es sind doch die Nationalstaaten, die an
den Pranger gehören.
({1})
Eben haben wir eine Regierungserklärung der Bundesregierung zum Thema Entwicklungspolitik gehört.
Nun wird es schwierig. Das Mitglied der Bundesregierung Wieczorek-Zeul kritisiert die Entscheidungen des
Kabinetts.
({2})
Mit Verlaub, Sie sitzen da doch mit am Tisch. Sie entscheiden, und jetzt versuchen Sie, die eigene, nämlich
im Kabinett gefallene Entscheidung als Fehlentscheidung darzustellen. Mit dieser Nummer lassen wir Sie
nicht durchkommen. Wir entlassen Sie nicht aus Ihrer
Verantwortung.
({3})
Auch wenn Sie glauben, es merke keiner: Sie tragen
als Entwicklungsministerin mit die Verantwortung dafür,
dass mithilfe der deutschen Bundesregierung die Existenz der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in den Entwicklungsländern vernichtet wird und eine falsche, katastrophale Subventionspolitik der Europäischen Union
zum wiederholten Male fortgesetzt wird.
({4})
Sie sind dafür verantwortlich - sonst niemand -; da können Sie so viele Interviews geben, wie Sie wollen. Letztlich lenken Sie davon ab, was in Berlin wirklich gespielt
wird. Sie verkaufen die Leute für dumm.
({5})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, warum gehe ich
auf diesen Punkt so ausführlich ein? Weil ich es einfach
leid bin, dass wir in der Entwicklungspolitik - - Oh, der
Präsident meldet sich.
Ja, er meldet sich, um Sie zu fragen, ob Sie geneigt
sind, eine Zwischenfrage des Kollegen Müller zu beantworten.
Selbstverständlich.
Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, dass die Entwicklungsländer komplett freien Zugang zum Markt der Europäischen Union haben, dass sie damit privilegiert sind
und dass wir dazu auch stehen? Ist Ihnen weiterhin bekannt, dass die von Ihnen so gegeißelten sogenannten
Exporterstattungen für Milch in keinem Fall in ein Land
Afrikas oder Lateinamerikas gehen, wie Sie behauptet
haben? Es gelangt kein einziger Liter Milch und kein
Kilo Produkt mit Exporterstattung in die von Ihnen genannten Staaten.
({0})
Herr Kollege Müller, dann frage ich Sie:
({0})
Warum, wenn das so zuträfe, stellt sich die Ministerin
hin und sagt, dass diese Entscheidung die Existenz der
Bäuerinnen und Bauern in Afrika und Lateinamerika
ruiniert?
({1})
- Das hat sie gesagt. Das kann man in dem Interview
nachlesen. Sie sagt es, weil sie weiß, dass sie recht hat.
Jetzt streiten Sie mit ihr einmal darüber, was daraus an
Konsequenzen erwächst!
({2})
Wir stehen in der Entwicklungspolitik für den Kampf
gegen die Armut. Das finden alle immer ganz toll. Aber
Frau Merkel regiert, um in Deutschland die Leute an der
Nase herumzuführen und es einfach zuzulassen, dass
nicht Werte, sondern harte Lobbyinteressen die schwarzrote Politik bestimmen. Herr Kollege Stiegler, es nützt
nichts, die Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul zur
Galionsfigur zu machen, wenn auf dem Schiff gleichzeitig Meuterei herrscht.
({3})
Eine Regierungserklärung zu den MDGs, zu den Jahrtausendentwicklungszielen der Vereinten Nationen, und
dem schon vielfach gegebenen Versprechen zur Aufstockung der Mittel kann keine entwicklungspolitische Debatte im engeren Sinne sein; das ist richtig. So eine Debatte steht im Kontext der Finanzkrise. Das letzte Jahr
stellt eine Zäsur dar. Das Jahr 2008 wird als ein Jahr der
multiplen Krise in die Geschichte eingehen: Klimakatastrophe, Ernährungskrise - darauf wird mein Kollege
Thilo Hoppe noch eingehen -, Energie-, Öl- und Finanzkrise sowie die jetzt kommende Wirtschaftskrise. Das alles ist eine Gemengelage, von der wir noch nicht wissen,
wie alles miteinander zusammenhängt.
Vor diesem Hintergrund frage ich: Was wird aus den
Entwicklungszielen? Was wird aus den Zielen, die Armut zu halbieren, die Müttersterblichkeit zu bekämpfen
oder die Qualität der Bildung zu verbessern? Wo bleiben
Veränderungen in den ungerechten Handelsstrukturen, in
der wirtschaftlichen Zusammenarbeit? Was wird aus den
Erkenntnissen, dass erneuerbare Energien gerade in
Afrika die Basis zur Armutsbekämpfung legen? Was
wird aus dem Ziel von 0,7 Prozent des Bruttonationalprodukts?
Wir befinden uns momentan in der absurden Situation, dass mit ein wenig Zahlenspielerei eine Erhöhung
der ODA-Quote denkbar ist, ohne dass neues Geld eingesetzt wird. Wenn die Wirtschaftsleistung sinkt und die
ODA-Quote stagniert, dann wirkt es auf dem Papier wie
eine Erhöhung. Wir brauchen jedoch reale Zuwächse.
Jetzt rächen sich die Versäumnisse von Schwarz-Rot.
Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, Sie haben in Ihrer
Amtszeit nicht vorgesorgt. Sie haben es versäumt, Strukturen zu reformieren, damit die Entwicklungspolitik
Deutschlands für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet ist. Genauso wenig, wie es dieser Regierung mit
dem Finanzminister Steinbrück in den guten Tagen gelungen ist, Rücklagen zu bilden, Schulden abzubauen
oder auch zu sparen, genauso wenig haben Sie es geschafft, frisches Geld durch innovative Finanzierungsinstrumente zu organisieren.
({4})
Ich beziehe mich auf die Regierungserklärung. Dort ist
zwar von innovativen Finanzierungsinstrumenten die
Rede, aber Sie stehen komplett mit leeren Händen da.
Nichts davon wurde realisiert: weder die Flugticket-Abgabe, noch die Kerosinsteuer, noch die Finanztransaktionsteuer. Das sind alles Vorschläge, die wir Grünen seit
Jahren einfordern.
({5})
Sie wurden alle nicht durchgeführt. Man hat sich zwar
etwas bewegt und es verbalisiert, aber es kommt nichts
rüber. Damit stecken wir haushaltspolitisch in der Sackgasse. Das haben Sie also auch vergeigt, und es gibt keinen Grund, Sie zu loben.
Frau Ministerin, Sie haben in der Saarbrücker Zeitung gesagt: Wenn es möglich sei, mit Milliarden die Finanzmärkte zu stabilisieren, müsse es auch möglich sein
- ich zitiere -, „die Welt vor Armut und Hunger, Arbeitslosigkeit und dem Klimawandel zu retten.“ Ja, das sehen
wir auch so. Aber im Gegensatz zur FDP sagen wir, dass
die 100 Millionen Euro nicht ausreichen, die Sie ausgeben wollen.
({6})
Das ist zu wenig. Es müsste viel mehr Geld in die Hände
genommen werden. Deswegen sprechen wir uns dafür
aus, dass wir einen echten grünen New Deal bekommen,
nicht den, den die Koalition vorträgt - kleinfüßig und
immer wieder torpediert. Am Beispiel Kfz-Steuer sieht
man doch, was dabei herauskommt.
Wir brauchen einen echten grünen New Deal. Nur er
ist der Weg. Daran müssen wir arbeiten, nicht an dem,
was die schwarz-rote Regierung hier vorgestellt hat.
Danke.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Pfeiffer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Warum wird die Qualität der Entwicklungszusammenarbeit mit der Höhe der verfügbaren Mittel in Zusammenhang gestellt? Lieber Herr Stiegler, was Ihre hochgelobte
Kollegin Wieczorek-Zeul betrifft
({0})
- das habe ich, ich bin auch sehr zufrieden mit ihr -: All
ihre Mahnungen und Wünsche sind erst dann in Erfüllung gegangen, als es im Kanzleramt zum Glück zu einer
Veränderung kam.
({1})
Vorher hat sie sich bei ihren männlichen Genossen, angefangen bei Bundeskanzler Schröder, ohne Ende die
Zähne ausgebissen.
({2})
Liebe Ute Koczy, zu deinen Auslassungen bezüglich
einer rot-schwarzen Regierungsführung im Zusammenhang mit der EZ möchte ich anmerken: Für alles, was du
angeprangert hast, habt ihr sieben Jahre zur Umsetzung
Zeit gehabt.
({3})
Während dieser Zeit sind diese Forderungen, das weiß
ich, auch gekommen. Warum sind sie nicht umgesetzt
worden?
({4})
Erst mit einer Änderung im Kanzleramt kann man die
Dinge umsetzen, die man gerne möchte.
({5})
Aber, liebe Freunde, was passiert eigentlich? Wir Parlamentarier heben die Hand zu enormen Erhöhungen in
unserem Entwicklungshaushalt, und reflexartig werden
wir mit Briefen von NGOs, der großen Gemeinde der
Gutmenschen dieser Welt, überschüttet, in denen wir gefragt werden, warum wir so wenig Geld zur Verfügung
stellen. Das ist ein Reflex. Tust du nichts, wirst du beschimpft; tust du was, wirst du auch beschimpft. Das ärgert mich. Mich ärgert, dass wir diejenigen sind, die pushen und powern und trotzdem beschimpft werden.
({6})
Außerdem frustriert es mich. Ich fühle mich da zu Unrecht kritisiert, und das gefällt mir nicht.
Natürlich machen sich die Entwicklungsministerin
und wir uns als Entwicklungspolitiker viele Freunde,
wenn wir viel Geld verteilen. Das ist einfach. Aber hilft
viel eigentlich auch wirklich viel?
({7})
Nirgends ist - das müssen wir uns einmal vorstellen,
liebe Freunde - mit Zahlen belegt, wie viel Geld eigentlich in diesem System steckt. Die OECD spricht von
etwa 110 Milliarden Euro, die dort ankommen, wo sie
hingehören, nämlich bei den Menschen vor Ort. Man
schätzt, dass derselbe Betrag irgendwo anders hinfließt.
Deshalb sage ich, lieber Kollege Aydin, jetzt einmal etwas, was du von mir nicht erwartet hättest: Hier könnten
wir eine Verteilung von oben nach unten vornehmen.
({8})
In diesem Fall wäre das angebracht. Wir sollten uns ganz
genau anschauen: Wie sind die Mittel eingesetzt? Wo
sind sie eingesetzt? Wie effizient sind sie eingesetzt?
({9})
Entwicklungszusammenarbeit kostet viel Geld. Ich
glaube, wir können es uns nicht leisten, über Kürzungen
im EZ-Haushalt zu beraten.
({10})
Wir müssen aber die Krise als Chance begreifen und uns
überlegen, wie wir die Mittel einsetzen. Lassen Sie mich
in der Kürze der Zeit ein Beispiel nennen, das meiner
Meinung nach zeigt, dass wir auch mit wenig Mitteln
sehr effizient arbeiten können.
Nicht umsonst sind vier der acht MDGs auf Frauen
abgestellt. Frauen sind in der Entwicklungszusammenarbeit unerlässlich. Auf der Arbeit der Frauen baut eine erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit auf. Ich denke,
da gibt es zahlreiche Ansatzpunkte. Ich nenne einige
Beispiele, wie man die Frauen effizient stärken kann.
Wir reden von Landrechten. Lieber Kollege Aydin, auch
das sehe ich im Zusammenhang mit den Rechten der
Frauen; ich sehe die Landrechte der Frauen.
({11})
Auch das Erbrecht ist als Recht der Frauen von Bedeutung. Das Thema „Rechte der Frauen“ ist meiner Meinung nach überhaupt ein Thema, das sehr kostengünstig
ist. Um da etwas zu bewirken, bedarf es nur des politischen Willens. Ich rede hier weder von Gender-Mainstreaming noch von Gender-Budgeting oder Ähnlichem.
({12})
Ich rede von nichts anderem als von Good Governance.
Das kostet kein Geld, ist aber effektiv.
Daraufhin müssen wir unsere Haushalte einmal überprüfen. Wir müssen schauen, wie wir die Prioritäten gesetzt haben. Es ist richtig, dass wir mit dem aktuellen
Haushalt auch die Programme stärken, die sich hauptsächlich mit dem Empowerment von Frauen beschäftigen, zum Beispiel UNFPA, IPPF. Wenn wir uns um dieses Thema verstärkt bemühen, dann tun wir das
Richtige. Wir müssen dort ansetzen, wo es nachhaltig
und effizient ist, wo es wenig Geld kostet, aber einen hohen Ertrag bringt.
({13})
Natürlich hätte auch ich gerne mehr Geld im System,
nicht dass wir uns falsch verstehen. Wir benötigen natürlich Geld, wahrscheinlich auch mehr Geld. Aber bitte
lasst uns die Krise, die wir zurzeit haben und nicht wegdiskutieren können, auch als Chance begreifen, selbstkritisch zu hinterfragen: Wie setzen wir die Mittel ein?
Setzen wir sie richtig ein? Wo können wir besser und effektiver werden?
({14})
Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Koppelin, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
hatte in dem bisherigen Verlauf der Debatte streckenweise den Eindruck, ich würde mich auf einem Lyrikkongress befinden.
({0})
Ich bin der Kollegin Sibylle Pfeiffer insofern sehr dankbar, dass sie endlich konkret geworden ist. Es war eine
ausgesprochen gute Rede, der auch meine Fraktion Beifall gespendet hat. Gratulation, liebe Kollegin!
({1})
Die Kollegin hat sich mit dem Thema, nämlich mit
den Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf
die Entwicklungsländer, beschäftigt und hat sich konkret
dazu geäußert. Bis dato hatte ich darüber - auch von der
Ministerin - nur sehr wenig gehört.
Lassen Sie mich zu Beginn sagen: Der UN-Generalsekretär hat die internationale Gemeinschaft aufgefordert, keine Ausgaben für Entwicklungshilfe wegen der
Finanzkrise zu kürzen. Diese Auffassung teilen wir. Ich
denke, wir sind uns alle einig, dass wir das nicht tun
wollen, auch wenn bei uns die Mittel knapper geworden
sind.
Im Zusammenhang mit dem 100-Millionen-EuroPaket für die Weltbank darf ich aber daran erinnern,
dass wir für dieses Geld Schulden machen müssen. Wir
haben es nicht irgendwo liegen und geben es einfach der
Weltbank, sondern wir nehmen dafür Schulden auf und
belasten somit unseren Haushalt.
Beim Stichwort Haushalt möchte ich eine Bemerkung
machen. Frau Ministerin, mir muss jemand einmal erklären, warum die 100 Millionen Euro nicht aus dem Bundeshaushalt, sondern aus einem Sonderfonds, der jetzt
gebildet wird, kommen. Früher, als Rot-Grün die Regierung stellte, haben Sie das Schattenhaushalte genannt,
die abgeschafft werden müssten. Jetzt schaffen Sie selbst
solche Schattenhaushalte, in denen Sie diese 100 Millionen Euro verstecken. Es wäre besser, dieses Geld ordnungsgemäß in den Haushalt einzustellen und sich dazu
zu bekennen, anstatt es in einen Schattenhaushalt zu stecken.
Die 100 Millionen Euro haben eine Geschichte. Die
Bundeskanzlerin hat dieses Geld einmal auf einem G-8Gipfel zugesagt. Wir als Haushälter haben dann hinterfragt, was die Weltbank mit diesem Geld macht. Das Ergebnis war, dass uns das keiner aus der Bundesregierung
erklären konnte; die Ministerin wird sich noch an die
Auseinandersetzung im Haushaltsausschuss erinnern.
Wir, die Mitglieder des Haushaltsausschusses - und
zwar die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU,
SPD und FDP, aber auch die Grünen -, haben in den Beratungen zum Haushalt 2008 diese 100 Millionen Euro
abgelehnt; sie sind auch später nicht hineingekommen.
Im Zuge der Krise will man nun das damals abgegebene
Versprechen einlösen und die 100 Millionen Euro bereitstellen. Dieses Geld findet sich plötzlich in einem Schattenhaushalt wieder. Das ist unehrlich. Wie gesagt: Für
diese 100 Millionen Euro, die die Bundesregierung der
Weltbank plötzlich wieder zugesagt hat, müssen wir
Schulden aufnehmen. Das sage ich, damit alle wissen,
worum es geht.
Frau Ministerin, bei der Debatte kommt mir folgende
Unterscheidung ein bisschen zu kurz: Wie ist die Situation aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise in Afrika, und wie ist sie in Asien? Man sollte nicht alle Länder in einen Topf werfen. Ich sehe, dass Länder in
Südostasien durchaus besser mit dieser Krise fertig werden. Das ist auch klar; denn sie haben ihre große Finanzkrise schon gehabt, haben entsprechende Erfahrung gesammelt und ihre Lehren daraus gezogen. Wir könnten
vielleicht sogar von diesen Ländern lernen. In Afrika
sieht die Situation wieder ganz anders aus, weil die Banken dort international nicht so stark verflochten sind und
daher von dieser Krise nicht so viel zu spüren bekommen. Man muss sich also die einzelnen Länder und die
einzelnen Kontinente wie Afrika anschauen, bevor man
sagt, dass man etwas pauschal für alle macht. Ich bin für
eine differenzierte Betrachtung.
Ich hoffe und erwarte, dass wir noch mehr Informationen darüber bekommen, ob es vonseiten der Regierungen dieser Länder eine Kapitalflucht nach dem Motto
„Bringen wir unser Geld in Sicherheit!“ gibt. Damit
müssten wir uns allerdings ebenfalls beschäftigen. Wenn
wir über die Krise und die Folgen für die Entwicklungsländer sprechen, müssen wir auch darüber reden, wie die
Abhängigkeit von ausländischen Finanzierungen ist und
wie hoch die Devisenreserven sind. Es gibt durchaus
Staaten in Asien, die hohe Devisenreserven haben. Man
sollte berücksichtigen, welche Folgen die Krise für die
dortige Währungspolitik hat. Außerdem sollte man die
einzelnen Länder nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beurteilen.
Ich sehe den Kollegen von der Linken im Moment
nicht, der vorhin gesprochen hat.
({2})
- Das ist okay. - Sein Beitrag über Bolivien war so daneben, dass ich den Eindruck hatte, er hat von diesem Land
null Ahnung. Ansonsten hätte er sich nicht hier hinstellen und einen solchen Unsinn verbreiten können. Das
möchte ich bei dieser Gelegenheit sagen.
({3})
Grundsätzlich sind wir der Auffassung, dass wir uns
mit diesem Thema sowohl im entsprechenden Fachausschuss als auch im Haushaltsausschuss beschäftigen
müssen. Ich sage Ihnen allerdings: So pauschal, wie das
hier heute abgehandelt worden ist, sollten wir dieses
Thema nicht behandeln. Kollege Ruck, vielleicht informieren Sie sich noch einmal bei Ihrer Kollegin Sibylle
Pfeiffer, die in ihrem Beitrag mehr Kenntnis gezeigt hat
als Sie.
Herzlichen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Sascha Raabe,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich finde es erstaunlich, Herr Kollege Koppelin,
mit welcher Überheblichkeit Sie die Reden meiner Kollegen aus dem Fachausschuss - die von Herrn Ruck und
anderen - kritisieren angesichts dessen, dass ein Kollege
Ihrer Fraktion zu Beginn der Debatte Scherze über Petrus gemacht hat bzw. erzählt hat, wer in die Hölle und
wer in den Himmel kommt, und die Debatte damit auf
ein Niveau gebracht hat, das ein bisschen an den Karneval erinnert.
({0})
Unsere Fachpolitiker brauchen sich vor der FDP nicht zu
verstecken. Wir machen eine sachlich gute Politik. Das
ist bisher deutlich geworden.
({1})
Die Debatte heute hat in erster Linie die Frage zum
Gegenstand, wo wir angesichts der Finanzkrise und der
Nahrungsmittelkrise, die die ärmsten Menschen schon
im Vorfeld der Finanzkrise ganz hart getroffen hat, bei
der Umsetzung der Millenniumsentwicklungsziele
stehen. Man kann sich fragen, ob das berühmte Glas
Wasser halb voll oder halb leer ist. Auch wenn das wichtigste Ziel, das sich die Vereinten Nationen bzw. die
Weltgemeinschaft gegeben haben, ist, den Anteil der Armen an der Weltbevölkerung bis zum Jahr 2015 zu halbieren, sollte man sich einmal die absolute Zahl vor Augen führen. Es ist in der Tat erschreckend und schlimm,
dass aufgrund der Nahrungsmittelkrise und ein paar
Rückschlägen jetzt wieder 1 Milliarde Menschen in Armut lebt.
Man kann natürlich zu Recht darauf hinweisen, dass
es, gemessen an der Weltbevölkerung - sie steigt seit
1990; zu diesem Zeitpunkt gab es mehr als 1 Milliarde
weniger Menschen; das Bevölkerungswachstum findet
hauptsächlich in den Entwicklungsländern statt -, heute
„nur noch“ 26 Prozent arme Menschen im Vergleich zu
42 Prozent im Jahre 1990 gibt. Das sind immer noch viel
zu viele. Ich sage das aber deswegen, damit wir uns Mut
machen und sehen, dass die Mittel wirken, die wir auch
von deutscher Seite dank unserer Ministerin, aber auch
dank der Koalition, die sie beschließt, einsetzen. Jeder,
dem wir geholfen haben, wieder zur Schule zu gehen, jeder mit einer tödlichen Infektionskrankheit, dem wir geDr. Sascha Raabe
holfen haben, wieder am Leben teilnehmen zu können,
war das wert.
({2})
Wir sollten also stolz sein auf das, was wir erreicht haben.
Wir sind mit Haushaltsmitteln von insgesamt 10 Milliarden Euro - davon fast 6 Milliarden Euro im Einzelplan 23, im entwicklungspolitischen Haushalt - der
zweitgrößte Geber weltweit. Wir haben die Quote der
Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit von
0,26 Prozent - diesen Wert haben wir, Frau Pfeiffer, von
der Regierung Kohl übernommen - auf 0,38 Prozent des
Bruttonationaleinkommens steigern können. Sicherlich
wünschen wir uns alle - auch die Kollegen von der
CDU/CSU -, dass wir weitere Schritte machen können.
Diese sind auch notwendig.
Wenn man aber nur auf die Zahlen blickt, übersieht
man leicht die Durchschlagskraft, die, wie Frau Pfeiffer
es gesagt hat, in den Themenfeldern liegt, die nicht nur
mit Geld zu bemessen sind. Neben dem Einsatz finanzieller Mittel haben wir das zuständige Ministerium seit
1998 dahin gehend umgewandelt, dass es sich auch mit
Fragen der globalen Strukturpolitik beschäftigt. Das
war immer ein großes Anliegen unserer Ministerin. Sie
erhebt ihre Stimme eben nicht nur auf den Fachtagungen
der Entwicklungspolitiker, sondern auch dann, wenn es
darum geht, bei der Welthandelsorganisation
({3})
für gerechte Handelsbedingungen zu kämpfen.
Wie wir damit umgehen, dass noch Handelsbarrieren
vorhanden sind, dass viele Entwicklungsländer in erster
Linie noch Rohstofflieferanten sind, wird die entscheidende Zukunftsfrage sein. Denn es reicht doch nicht,
Menschen in die Lage zu versetzen, ihre Felder zu bestellen, wenn sie keine Möglichkeiten haben, ihre Produkte auf den lokalen Märkten zu verkaufen oder sie zu
exportieren. Bei aller Einigkeit, die wir als Entwicklungspolitiker der CDU/CSU und der SPD haben, müssen wir darauf achten, dass nicht wieder Exportsubventionen auf europäischer Ebene eingeführt werden. Ich
halte auch die jetzt vorgesehenen Milchexportsubventionen für falsch. Eine Frage ist, ob sie direkt bezahlt werden sollen, wenn sie in Entwicklungsländer gehen; es
wäre gut, wenn dies nicht geschähe. Aber es gibt auch an
anderer Stelle Marktverzerrungen, weil Drittmärkte gestört werden und weil es einen Quersubventionierungseffekt gibt, der auch wieder Märkte stören kann. In diesem Sinne sind unsere hier im Deutschen Bundestag
gefassten Beschlüsse eindeutig gewesen, und ich bin
auch sicher, dass wir gemeinsam dafür sorgen werden,
dass die Beschlüsse von Hongkong - Frau Ministerin hat
schon erwähnt, dass 2013 die Exportsubventionen fallen
sollen - umgesetzt werden, und zwar je schneller desto
besser.
({4})
Seit 1998 haben wir die Mittel für die Nichtregierungsorganisationen verdoppelt, die eine ganz hervorragende Arbeit und unschätzbare Dienste leisten. Wir
haben vorhin schon die Zahlen gehört: 3 Millionen Menschen sind mit Mitteln des Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria der
Vereinten Nationen gerettet worden. Hinter solchen Zahlen stehen konkrete Schicksale. Wer wie wir oft in den
betroffenen Ländern unterwegs ist und früher zum Beispiel in südafrikanischen Slums sah, wie sich dort an einigen Stellen die Leichen von HIV-Toten getürmt haben,
weiß, dass es so etwas nicht mehr gibt. Wir sahen in Malawi an HIV-Infektion Erkrankte in fortgeschrittenem
Stadium, die wieder nach Hause in ihre Dörfer gehen
und arbeiten konnten. Dies zeigt, dass dieser Fonds auf
globaler Ebene sehr stark hilft.
Da Herr Koppelin vorhin die Haushälter angesprochen hat, muss ich daran erinnern, dass wir die Millionenbeträge, um die wir uns oft mit den Haushaltspolitikern gestritten haben, vor allen Dingen auf multilateraler
Ebene der Vereinten Nationen wirksam einsetzen konnten. An dieser Stelle sollten wir mit der Kleingeisterei
aufhören. Wir müssen global denken und helfen, was bedeutet, die Mittel an der richtigen Stelle einzusetzen.
({5})
Es ist in Ordnung, wenn man sich als Haushälter fragt, in
welchem Haushaltstitel zusätzliche 100 Millionen Euro
für die Weltbank bereitgestellt werden können. Wenn
man aber wie der Generalsekretär der FDP, Herr Niebel,
eine Debatte fast auf Stammtischniveau nach dem Motto
führt, wir hätten genügend Probleme in Deutschland,
was sollten wir dann noch 100 Millionen Euro nach Afrika geben, dann empfinde ich dies als ziemlich schäbig
und kleinkariert.
({6})
Einer solchen Argumentation sollten wir in diesem
Hause die rote Karte zeigen.
({7})
Es ist, wie Herr Kollege Stiegler gesagt hat, makroökonomisch völlig falsch, als Exportnation zu glauben,
wir könnten zusehen, wie der Rest der Welt um uns herum zusammenbricht. Dies hätte nicht nur sicherheitspolitische, sondern insbesondere weltweite ökonomische
Auswirkungen. Wir sind darauf angewiesen, dass Menschen nicht in Hunger und Armut leben, sondern unsere
Produkte kaufen und selbst etwas produzieren können.
Geht es den Menschen in den Entwicklungsländern gut,
geht es auch uns gut. Wir sind in einer Welt miteinander
verbunden und müssen über den eigenen Tellerrand hinausblicken.
In diesem Sinne wünsche ich mir, dass wir gemeinsam erkennen, dass wir in einer Welt leben, und die Millenniumsentwicklungsziele sachlich und engagiert erreichen. Ich hoffe, dass wir, wenn wir im Jahre 2015
darüber debattieren werden, werden sagen können, dass
wir vielleicht nicht alles erreicht haben, aber doch einen
großen Schritt vorangekommen sind.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Thilo Hoppe, Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Sascha, natürlich muss man auch die Erfolge
würdigen; man sollte auch auf das halb volle Glas und
nicht nur auf das halb leere Glas schauen. Gleichwohl
vermisse ich bei der Bilanz einen lauten Aufschrei. Es
gibt bei einigen Millenniumszielen Erfolge, etwa bei
Bildung und Gesundheit, aber einen grandiosen Misserfolg bei dem Millenniumsziel, die Zahl der Hungernden zu halbieren. Hier hilft jetzt auch nicht der statistische Trick, dass man den Anteil der Hungernden an der
Weltbevölkerung vorrechnet. Vielmehr kommt es auf die
absoluten Zahlen an: Eine Milliarde Menschen sind
chronisch unterernährt. Das ist ein historischer Höchststand. Dies bedeutet, eine Milliarde Menschen, die
Schmerzen leiden und um ihr tägliches Überleben kämpfen. Auf diese große Herausforderung müssen wir reagieren; wir dürfen sie weder schönreden noch bagatellisieren.
({0})
Ich war am Montag und Dienstag auf der Welternährungskonferenz der Vereinten Nationen in Madrid.
Momentan gibt es viele Konferenzen, die diesen Titel
führen. Auch die Bundesregierung hat anlässlich der
Grünen Woche eine solche Konferenz, eine Art Joint
Venture mit der Nahrungsmittelindustrie und dem Bauernverband durchgeführt und die Konferenz so bezeichnet. Auf dieser Konferenz ist noch einmal klargeworden,
dass die internationale Gemeinschaft grandios versagt
hat und die Herausforderungen immer noch nicht wirklich erkannt hat. Im Mai letzten Jahres fand ein Welternährungsgipfel in Rom statt. Dort gab es große Betroffenheitsbekundungen von Herrn Sarkozy und anderen.
Doch jetzt wurde vorgerechnet, dass gerade einmal
25 Prozent der Mittel, die damals zugesagt wurden, tatsächlich gezahlt worden sind. Es bedarf einer wirklichen
Kurskorrektur und nicht der Heuchelei, die man auf solchen Konferenzen sehr häufig hören und erleben kann.
({1})
Leider kann man auf diesen Konferenzen auch viele
Scheinlösungen hören. Da wird gesagt: It’s very simple,
wir düngen die ganze Welt, wir überziehen die Welt mit
Stickstoffdünger, mit Pestiziden und Insektiziden.
({2})
Damit kann man kurzfristig vielleicht die Produktion
steigern, aber zu welchem Preis? Die Böden werden ausgelaugt, das Klima wird noch stärker belastet, die Kleinbauern werden oft verdrängt oder in die Schuldenfalle
getrieben.
Es ist notwendig, die Krisen im Zusammenhang zu
sehen und über Armutsbekämpfung immer im Zusammenhang mit den Klimaveränderungen zu diskutieren; denn die Landwirtschaft kann einen Beitrag liefern, um die Klimaveränderungen zu verlangsamen.
Man kann aber auch, wenn man nur die Mittel der konventionellen Landwirtschaft einsetzt ohne Rücksicht auf
Nachhaltigkeit, das Klimaproblem massiv vergrößern,
was wiederum auf die Bauern zurückfallen und die Ernährungssicherheit weiter gefährden würde. Daher ist es
absolut notwendig, den Nachhaltigkeitsgedanken aufzunehmen und die Empfehlungen des Weltagrarrates stärker zu berücksichtigen. Wir müssen an einem Strang ziehen. Vom Agrarministerium vernehme ich momentan
aber eher Verlautbarungen über Exportinitiativen; hier
wurde schon gesagt, dass die Agrarexporterstattungen
ausgedehnt werden sollen. Ich sehe zwar, dass die
Agrarministerin und die Entwicklungsministerin an einem Strang ziehen, aber an unterschiedlichen Enden und
in verschiedene Richtungen. Das hat die heutige Debatte
klar ergeben.
({3})
- Das sind nicht nur Schlagzeilen. Lesen Sie bitte auch
das, was uns die Fachleute in einer Anhörung im Entwicklungsausschuss gesagt haben. Nahezu alle Experten
haben uns gesagt: Wir brauchen jetzt eine nachhaltige
Stärkung der Landwirtschaft in den Entwicklungsländern, bei der die Kleinbauern in den Mittelpunkt gestellt
werden.
({4})
Eine Zwischenfrage, Herr Präsident.
Ich rufe die bestellte Zwischenfrage des Kollegen
Müller auf.
Ich habe die Zwischenfrage nicht bestellt. Ich habe
nur bemerkt, dass ihm etwas unter den Nägeln brennt
und er etwas sagen möchte.
({0})
Herr Kollege, nachdem Sie mich angesprochen haben, möchte ich Sie Folgendes fragen: Ist Ihnen bekannt,
dass die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2030 bei abnehmender Fläche auf circa 9 Milliarden Menschen ansteigen wird?
({0})
Ist Ihnen bekannt, dass darauf nur mit einer neuen Agrarentwicklungspolitik und einer neuen Agrarentwicklungskooperation mit den Staaten, in denen noch Potenziale vorhanden sind, reagiert werden kann? Ist Ihnen
bekannt, dass wir bis zum Jahr 2030 zur Ernährung dieser
3 Milliarden zusätzlichen Menschen und der 1 Milliarde
hungernden Menschen die Nahrungsmittelproduktion
in der Welt um 50 Prozent erhöhen müssen? Können Sie
mir mitteilen, wie Sie die Nahrungsmittelproduktion um
50 Prozent erhöhen wollen? Kennen Sie das neue Konzept des Bundeslandwirtschaftsministeriums zur Agrarentwicklungspolitik?
({1})
Herr Staatssekretär, wir haben im Entwicklungsausschuss vor kurzem eine Anhörung durchgeführt. Mehrere Experten, auch diejenigen, die von der Union benannt wurden, wie beispielsweise Herr Professor
Dr. Theo Rauch, haben dargelegt, dass sich die Produktion mit standortgerechten, angepassten und ökologisch
vertretbaren Anbaumethoden bei einem geringen Risiko
verdoppeln lässt. Wenn man das macht, was das Agrobusiness tun will, und die Welt mit Stickstoffdünger, mit
Hochleistungssaatgut, mit gentechnisch verändertem
Saatgut überzieht, lässt sich die Produktion verdreifachen oder sogar verfünffachen, aber auch das Risiko
wäre 50 Prozent höher. Die Folgen wären ausgelaugte
Böden und große ökologische Schäden. Damit würden
wir dem Ziel, Ernährungssicherheit zu erreichen, einen
Bärendienst erweisen.
({0})
- Aber gerne. Wir können den Fachaustausch gern weiter
vertiefen.
Lassen Sie mich noch ein Wort zu dem Schlagabtausch über die Pressemitteilungen gestern zwischen
FDP und Union sagen. Die Intervention von Herrn
Niebel wurde hier schon von mehreren Rednern erwähnt. Ich finde auch die Antwort der Union bezeichnend. Der FDP wurde gesagt: Ja, aber das, was man in
die Entwicklungszusammenarbeit investiert, kommt
doppelt und dreifach zurück und dient unserer Exportindustrie.
({1})
Was ist denn das für eine Begründung? Was für ein
Bild haben Sie von den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Lande? Ich bekomme E-Mails und Anrufe von
Menschen, die sagen: Wir bekommen schon Albträume,
wenn wir uns die 1 Milliarde Hungernder vorstellen. Wir wollen, dass denen geholfen wird. Wir wollen nicht,
dass man Entwicklungshilfe damit begründen muss, dass
das Zweifache und Dreifache zurückkommt und wir
letztendlich daran verdienen. Das kann in einzelnen Fällen ein positiver Nebeneffekt sein; aber das ist doch
keine Motivation dafür, Solidarität und Gerechtigkeit anzustreben und den Ärmsten der Armen zu helfen.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Klimke,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist mehrfach zitiert worden: 1 Milliarde Menschen muss vermutlich künftig unter Hunger leiden. Was müssen wir aufgrund unserer
globalen und unserer sozialen Verantwortung tun, um
gegenzusteuern? Wir brauchen eine konsequente Mittelerhöhung; das ist hier ziemlich einvernehmlich. Wir
müssen auch die Rahmenbedingungen unserer thematischen Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern
verändern.
Das gilt aus meiner Überzeugung insbesondere für
den Bereich, der sehr entwicklungsrelevant ist, nämlich
für die nachhaltige Wirtschaftsförderung in unseren
Partnerländern. Leitlinie unserer Philosophie muss sein,
dass Wirtschaftswachstum der einzige Schlüssel zur
konsequenten Armutsbekämpfung in den Entwicklungsund Schwellenländern ist.
({0})
Deshalb streben wir in der CDU/CSU im Rahmen unserer entwicklungspolitischen Strategie an, mehr Rechtsund Investitionssicherheit zu entwickeln, mehr Infrastruktur zu gewährleisten, die Energieentwicklung voranzutreiben und vor allen Dingen den Mittelstand stärker zu berücksichtigen. Dabei lautet unser vorrangiges
Ziel, Wirtschaftswachstum in den Entwicklungs- und
Schwellenländern so zu gestalten, dass es direkte Effekte
auf die Armutsbekämpfung hat.
({1})
Das heißt, die Menschen müssen direkt davon profitieren, zum Beispiel durch gerechtere Steuer- und Abgabensysteme. Pflicht ist eine Refinanzierung des Wirtschaftswachstums; es muss in der Bevölkerung spürbar
sein.
Ziel unserer Politik der Entwicklungszusammenarbeit
muss sein, wirtschaftliche Kompetenz in Entwicklungsländer zu vermitteln, dort regionale Märkte aufzubauen und mittelständische Strukturen zu entwickeln,
sodass diese Partnerländer dann vielleicht künftig in der
Lage sind, ohne die Unterstützung der Entwicklungszusammenarbeit selbstständig zu wirtschaften. Notwendig
sind also die Stärkung der regionalen Märkte durch einen Know-how-Transfer sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen vor Ort durch eigene Leistungsfähigkeit.
Das fängt bei der von der Ministerin angesprochenen
Mikrofinanzierung und der Mikroversicherung gerade
im ländlichen Raum an und geht damit weiter, dass die
Entwicklungspolitik in Zukunft insbesondere für den
deutschen Mittelstand einen Rahmen für wirtschaftliche Betätigung in den Entwicklungsländern bieten
muss. Das heißt, die deutschen Kammern müssen noch
intensiver einbezogen werden, und andere privatrechtliche wirtschaftliche Organisationen müssen dabei helfen,
die Grundstrukturen für einen Aufschwung in den Partnerländern zu legen. Hierbei spielt auch die Frage der
Bildung und Ausbildung eine Rolle, zum Beispiel im
Zusammenhang mit der beruflichen Bildung, mit dem
dualen System, das weltweit nachgefragt ist und das wir
stärker fördern sollten.
({2})
Ein weiterer Kernaspekt ist, dass Mittelständler
Risikofinanzierungen brauchen.
({3})
Hier hat die staatliche Unterstützung eine wichtige Rolle
zu spielen, vor allem durch die DEG und durch das
BMZ, das nach unserer Auffassung die wirtschaftliche
Entwicklungszusammenarbeit - so heißt das Ministerium ja auch - mit den Entwicklungsländern stärker koordinieren und steuern sollte, natürlich immer auf Augenhöhe mit den Ländern.
({4})
Meine Damen und Herren, es ist nach wie vor so, dass
sich mittelständische Unternehmen mit Investitionen in
Entwicklungsländern schwertun. Nicht wenige laufen
Gefahr, sich zu überheben. Eine Konzentration der staatlichen Unterstützung auf den Mittelstand ist deswegen
vorrangig. Die Entwicklungsorientierung der Wirtschaft
ist jedoch auch Voraussetzung für derartige Ansätze.
Wie schaffen wir das? Mit mehr Transparenz und Unterstützung der deutschen Unternehmen bei internationalen Ausschreibungen, damit sie sich daran noch intensiver und erfolgreicher beteiligen und dann in den
Entwicklungsländern investieren können.
Herr Kollege.
Es ist wichtig, dass die KfW und die GTZ ihren Fokus
auf die Infrastrukturentwicklung legen. Die Rahmenbedingungen für Auslandsinvestitionen sollten mittelstandsfreundlicher gestaltet werden.
Herr Kollege, ich glaube, Sie haben die Uhr nicht
richtig im Blick.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident.
Die wirtschaftliche Zusammenarbeit im BMZ sollte
erweitert werden. Eines muss allerdings klar sein - das
möchte ich betonen -: Der Schlüssel für die erfolgreiche
Entwicklung unserer Partnerländer liegt in der Teilnahme aller Menschen an einer erfolgreichen Wirtschaftsentwicklung. Unser Konzept dient auch als Hilfe
zur Selbsthilfe.
({0})
Gabriele Groneberg ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich will mich mit zwei Bereichen beschäftigen, die von der Ministerin angesprochen worden
sind, von allen anderen Kolleginnen und Kollegen, die
bisher gesprochen haben, aber nicht. Es handelt sich um
zwei Themen, die zur Erreichung der acht Millenniumsziele von großer Bedeutung sind. Sie finden in der Formulierung jedes einzelnen Ziels ihren Niederschlag, lassen sich unter der Überschrift „Sicherung der
ökologischen Nachhaltigkeit“ allerdings auch direkt Ziel
sieben zuordnen.
Herr Koppelin, es geht nicht nur um die Finanzkrise
bzw. um Finanzthemen, sondern auch um das Erreichen
der Millenniumsziele. Dafür sind Wasser und Energie
unabdingbar notwendig.
({0})
Wenn beides nicht bzw. nicht in ausreichendem Maße
vorhanden ist, wird man die Millenniumsziele auch im
Hinblick auf die anderen Vorhaben nicht erreichen. Dass
Wasser die Grundlage ist, um leben, ja überleben zu können, brauche ich nicht weiter zu erläutern; ich denke, das
ist jedem klar. Geht es aber um Abwässer und Fäkalien, die zwangsläufig auch anfallen, ist die Sache schon
eine andere.
Weltweit haben 42 Prozent der Menschen keine angemessene Toilette. Es ist nicht nur so, dass eine einigermaßen hygienische Verrichtung der Notdurft zur Achtung der Menschenwürde gehört. Ebenso gravierend
sind die Auswirkungen fehlender Siedlungshygiene und
fehlenden Abwassermanagements. In den Ländern, in
denen diese notwendigen Dinge fehlen, sind Krankheiten und verseuchtes Trinkwasser an der Tagesordnung.
Sie stellen für die Entwicklung der betroffenen Länder
ein gravierendes Hindernis dar. Ich erinnere an dieser
Stelle nur an die Choleraepidemie in Simbabwe.
Der gesicherte Zugang zu Energie ist ebenfalls ein
unerlässliches Element im Kampf gegen die Armut und
ebenso wichtig wie der Zugang zu Wasser. Man muss
wissen, dass weltweit 1,6 Milliarden Menschen keinen
Zugang zu elektrischer Energie haben. Diese Situation
zu ändern, ist eine zentrale Voraussetzung, um die Lebens- und Produktionsbedingungen in den Entwicklungsländern zu verbessern. Das Vorhandensein von
Energie ist für die Stabilität eines Landes und einer
Volkswirtschaft bedeutsam und beeinflusst in erheblichem Maße nicht nur die Lebensverhältnisse der Menschen, sondern wirkt sich auch positiv auf das von Herrn
Klimke erwähnte Wirtschaftswachstum aus.
Ohne erneuerbare Energien werden wir nicht nur an
unserem Ziel, für alle Menschen Energie bereitzustellen,
scheitern. Ohne nachhaltige Energieerzeugung und aufgrund der daraus folgenden klimapolitischen Sünden
würden wir uns buchstäblich auch unserer eigenen Lebensgrundlagen berauben. Unsere Entwicklungszusammenarbeit hilft den Entwicklungs- und Schwellenländern,
ihren Zugang zu nachhaltiger Energie sicherzustellen und
sich aktiv am Klimaschutz zu beteiligen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einige
Ausführungen zur Nutzung von Biomasse machen. Die
Dimension, die die Nutzung von Biomasse hat, wird daran deutlich, dass allein in Subsahara-Afrika 547 Millionen Menschen - Tendenz steigend - ohne Zugang zur
Stromversorgung leben. Diese Menschen müssen
60 Prozent ihres Primärenergiebedarfs durch die Nutzung herkömmlicher Biomasse decken. 80 Prozent dieser Biomasse sind Holz. Dies verstärkt die Abholzung
der Wälder - mit verheerenden Folgen für Mensch, Umwelt und Klima. Das Einatmen des Qualms, der entsteht,
wenn das Holz in den engen Hütten verbrannt wird, führt
zu enormen Gesundheitsschäden. Wir können dem wirksam begegnen, indem wir dafür sorgen, dass effiziente
und emissionsarme Kochherde benutzt werden. Mit diesem einfachen Mittel kann man die Menschen in die
Lage versetzen, ihre Gesundheit, das Klima und die Biodiversität vor Ort zu schützen.
Aber auch andere Nutzungen von Biomasse sind interessant. Ich nenne nur die Stichworte Biogas und - mittlerweile ein Reizwort - Biosprit. Was abstrakt klingen
mag, wird konkret, wenn man den Bogen dazu schlägt,
wie wir in Deutschland Biomasse als Beitrag zu einer
klimafreundlichen Energieversorgung nutzen. Mit der
Beschränkung auf die Gegenüberstellung von „Tank“
und „Teller“ wird die Konkurrenz bei der Nutzung von
Biomasse polemisch zugespitzt. Doch die Nutzung von
Biomasse hat viele Facetten, sie birgt sowohl für die Industrieländer als auch für die Schwellenländer und für
die Entwicklungsländer Chancen wie Risiken:
Einerseits führt die Zunahme der Biomasseimporte
aus Schwellen- und Entwicklungsländern zu steigenden
Exporterlösen. Das ist wünschenswert. Die Produktion
von Biomasse kann zu einer Erhöhung der Wertschöpfung und der Beschäftigung im ländlichen Raum beitragen. Landwirtschaft kann sich wieder lohnen. Damit
sind Chancen zur Verminderung der Armut verbunden.
Andererseits ist die Produktion von Biomasse mit Risiken im ökologischen und im sozialen Bereich verbunden. Es stellen sich die Frage des Schutzes der Biodiversität und die Frage der Klimarelevanz der Produktion
von Biomasse. Allein die Umwandlung natürlicher Ökosysteme in Anbauflächen setzt erhebliche Mengen an
Treibhausgasen frei. Ferner hat sich bereits gezeigt - und
das dürfen wir nicht negieren -, dass der Anbau von
Energiepflanzen, weil er in Konkurrenz zu einem Anbau
von Nahrungsmitteln steht, zu Preissteigerungen und
Nahrungsmittelengpässen führt. Diese Flächennutzungskonkurrenz ist von erheblicher entwicklungspolitischer
Relevanz.
({1})
Das betrifft alle Teile der Bevölkerung, nicht nur die Armen.
Um Fehlentwicklungen bei der Nutzung von Biomasse
zu vermeiden, brauchen wir ein Zertifizierungssystem,
mit dem Nachhaltigkeit bei Anbau und Produktion sichergestellt wird. Wir wollen unserer Verantwortung in diesem Bereich nachkommen und arbeiten deshalb an einer
Biomasse-Nachhaltigkeitsverordnung, in der wir Anforderungen für die Nutzung von Biomasse in Deutschland
festlegen. Ich hoffe, dass diese Verordnung noch dieses
Jahr in Kraft treten kann und dass der Inhalt dieser Verordnung EU-Standard wird.
({2})
Es ist wichtig, dass die Standards, die wir für die Nutzung von Biomasse in Europa mithilfe wirksamer Zertifizierungssysteme festlegen werden, auch international
Anwendung finden können. Mir ist klar, dass es bis dahin noch ein weiter Weg ist. Aber ich habe gute Gründe,
optimistisch zu sein. Die Gründungskonferenz der
Internationalen Agentur zur Förderung der Erneuerbaren Energien, kurz: IRENA, ist ein gutes Beispiel
dafür. Die Idee zu dieser Initiative ist maßgeblich hier im
Deutschen Bundestag geboren worden. Es hat einige
Jahre gedauert, bis man so weit gekommen ist; aber am
Montag sind 75 Staaten dieser Initiative beigetreten. Das
ist ein Zeichen, dass, wenn sich alle einig sind, viel erreicht werden kann. Das gilt genauso für die Zertifizierung von Biokraftstoffen oder andere Formen von Biomasse.
({3})
Die Internationale Agentur zur Förderung der Erneuerbaren Energien wird zum Erreichen von Ziel sieben der
Millenniumserklärung - ökologische Nachhaltigkeit beitragen. Deutschland kann also Motor sein für eine
Politik, die Vorbild ist, die Möglichkeiten in Anspruch
nimmt, die Vorzeigefunktion hat. Wenn wir in unseren
Bemühungen nicht nachlassen, werden wir eines Tages
keine Erste, Zweite und Dritte Welt mehr haben, sondern
eine Welt, eine Welt, für die alle zusammen Verantwortung tragen. Dieser Aspekt ist mir heute manchmal zu
kurz gekommen.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Hartwig Fischer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin, Sie haben das Thema UNICEF und die
Müttersterblichkeit angesprochen. Ich will das noch einmal ergänzen.
Wir alle wissen, dass täglich 30 000 Kinder auf dieser
Welt aufgrund von Armut, schlechtem Wasser, Hunger
und Ähnlichem sterben. Ich bin mit Ihnen darin absolut
einig und dankbar dafür, dass der Bundespräsident dieses Thema immer wieder zum Schwerpunkt macht, aber
ich ziehe andere Schlüsse als Ihre Fraktion daraus und
unterstütze diesen Bundespräsidenten deshalb auch bei
seiner nächsten Wahl.
({0})
Zum Anspruch und zur Haushaltswirklichkeit der
Entwicklungspolitik. Ich finde es gut, dass die Kolleginnen und Kollegen eben von dem Aufwuchs seit 1998
gesprochen haben, aber die 50 Prozent Aufwuchs hat es
in den letzten drei Jahren gegeben.
({1})
Deshalb kann man, wenn man die Zeit ab 1990 betrachtet, natürlich auch Stagnation feststellen.
Frau Ministerin, es gibt einen Punkt, den ich doch kritisieren möchte, weil ich glaube, dass dadurch nur Vorurteile bedient werden. Sie haben das Thema Banken und
die Bankenbürgschaften angesprochen. Das ist etwas anderes, als Barmittel zur Verfügung zu stellen. Wir haben
alle gemeinsam - auch Sie im Kabinett - diesem Schirm
zugestimmt, weil wir wissen, dass er dringend notwendig ist. Das kann man nicht im Verhältnis zu den Barmitteln sehen, die wir im Entwicklungshaushalt brauchen.
({2})
Ich bin absolut mit Ihnen darin einig, dass wir auch in
Zukunft Aufwüchse brauchen. Dazu gehört aber auch
- wir sind einer der größten Zahler in der Entwicklungscommunity und in den internationalen Organisationen -,
dass wir zukunftsorientierte Organisationen brauchen;
dazu gehört IRENA, darüber besteht gar kein Zweifel.
Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass wir Parallelstrukturen abbauen müssen.
Es gibt erhebliche Parallelstrukturen im Bereich der
internationalen Organisationen, zum Beispiel im Gesundheitswesen. Dadurch werden Mittel verschleudert.
Hiergegen müssen wir gerade in schwierigen Zeiten
Speerspitze sein, damit die Mittel effektiver eingesetzt
werden können.
({3})
Liebe Kollegin Koczy, weil Sie wieder das Thema Ticket Tax angesprochen haben,
({4})
möchte ich Sie doch noch einmal kurz fragen: Haben Sie
gar nicht gemerkt, dass das eine olle Kamelle ist und
dass es inzwischen einen Emissionshandel gibt, bei dem
ein ganz anderer Aufwuchs zu verzeichnen ist, sodass
entsprechende Mittel für eine zukunftsorientierte Entwicklungspolitik zu Verfügung stehen?
({5})
Das ist eine schwarz-rote Politik, die absolut top und zukunftsorientiert gewesen ist.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können sich
denken, dass ich mein Spezialthema Kongo - der Kollege Ruck hat das Thema Frieden angesprochen - anspreche, wenn ich am Rednerpult stehe.
Frau Ministerin, Sie sind mit uns im Kongo gewesen
und haben danach gesagt: Wir legen einen Friedensfonds
im Umfang von 50 Millionen Euro auf. - Das ist für eine
gewisse Zeit leider blockiert worden - nicht durch Sie;
ich will das nicht vertiefen -, aber jetzt steht er zur Verfügung. Die Ersten, die mit dafür sorgen, dass Infrastrukturmaßnahmen durchgeführt werden, sind jetzt dort.
Nachdem wir die Wahl begleitet haben, Herr Lubanga
vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Verbrechen
gegen die Menschlichkeit und gegen Kinder angeklagt
wurde und Herr Nkunda durch Ruanda verhaftet wurde,
haben wir jetzt im Augenblick nach meiner Überzeugung ein kleines Zeitfenster für den Frieden. Frau Ministerin, ich bitte Sie - ich werde auch unsere Kanzlerin
und den Außenminister noch einmal darum bitten -, dass
die europäischen Geber jetzt gemeinsam einen Schwerpunkt im Ostkongo setzen.
Ich will noch einmal sagen, wie dieser Schwerpunkt
aussehen muss:
Punkt 1. Wir werden dort keinen Frieden schaffen,
wenn Rechtsstaatlichkeit nicht hergestellt wird. Es nützt
nichts, wenn es Gerichte gibt, bei denen der Präsident
30 Dollar verdient, aber Leute verurteilen muss, die im
Monat durch Schmuggel und Ähnliches 10 000 Dollar
auf die Seite schaffen und dann versuchen, sich durch
Korruption freizukaufen. Wir brauchen also eine funktionierende Justiz und Polizei sowie das Militär. Hier
müssen wir uns als Europäer gemeinsam anstrengen.
Punkt 2. Wir können das nicht nacheinander tun, sondern hier muss man jetzt im Interesse des Friedens in dem
gesamten Bereich der Großen Seen - Uganda, Burundi,
Ruanda und insbesondere Ostkongo - die Infrastrukturmaßnahmen umsetzen: Straßen, Schulen, Gesundheitswesen.
Wir müssen auch das gemeinsam fortsetzen, was bereits angefangen worden ist, nämlich die Zertifizierung
von Rohstoffen, die seit zehn Jahren in Botswana wunderbar funktioniert. Sie bringen die Wertschöpfung in
den eigenen Haushalt ein und können die Mittel dann für
Infrastrukturmaßnahmen nutzen.
({7})
Wir brauchen auch ein ökonomisches Netzwerk, sodass wir ihnen durch deutsche Unternehmen und mit
Hartwig Fischer ({8})
PPP-Projekten gemeinsam helfen können. Das müssen
wir dort partnerschaftlich vereinbaren. Wir können dort
beim Einsatz der Mittel auch zwischen Ituri und Südkivu
unterscheiden, da wir sehen, dass es dort nicht mehr den
Umfang an Korruption wie bei dem Gouverneur in
Nordkivu gibt. Dann merken die Menschen, dass es sich
für sie auszahlt, in den Provinzen, die ich eben genannt
habe, eine Regierung zu unterstützen.
Das heißt, wenn wir jetzt nicht halbherzig vorgehen,
sondern mit der internationalen Gemeinschaft gemeinsam handeln, dann können wir in Afrika ein Signal für
diesen wichtigen Bereich setzen. Ich befürchte aber, dass
wir weiter in die internationalen Haushalte einzahlen.
Dieser Bürgerkrieg im Ostkongo kostet jedes Jahr allein für den Militäreinsatz MONUC über 1,2 Milliarden
Euro, an denen wir mit fast 10 Prozent beteiligt sind.
Wenn wir dauerhaft Frieden schaffen könnten, dann
könnte man diese Summe langsam, aber sicher herunterfahren und gleichzeitig Kapazitäten freisetzen, die in
Darfur oder in Somalia zur Unterstützung von AMISOM
gebraucht werden, wo derzeit nur 2 400 von 8 000 Stellen der Friedenstruppe besetzt sind.
Ich glaube, wir haben die Chance zu friedenschaffenden Maßnahmen. Wir müssen sie nur gemeinsam mit
den anderen europäischen Ländern ergreifen.
({9})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat das Wort die
Kollegin Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte war viel von Haushaltsmitteln und
ihrer internationaler Verwendung die Rede. Manchmal
geht es in der Diskussion auch darum, dass Haushaltsmittel angeblich falsch eingesetzt werden. Das bin ich
mittlerweile wirklich leid, weil es in der Öffentlichkeit
ein falsches Bild auf die Entwicklungspolitik wirft und
so getan wird, als hätten wir als Entwicklungspolitiker,
aber auch die Ministerin und das Ministerium ein Interesse daran, Steuermittel falsch einzusetzen. Darum geht
es aber nicht. Das möchte ich anhand von einigen Punkten deutlich machen, die auch heute genannt worden
sind.
Das Thema Landreform ist angesprochen worden.
Wofür verwenden wir Haushaltsmittel? Sie fließen zum
Beispiel in die Finanzierung der Haushalte der entsprechenden Staaten. Wir unterstützen den Aufbau von Justizsystemen und die Durchführung von Landreformen,
zum Beispiel in Ghana, indem Mittel in den ghanaischen
Haushalt hineinfließen. Ich glaube, das sind wichtige
Beiträge zur Strukturpolitik. Es ist richtig - Kollege
Raabe hat es angesprochen -: Entwicklungspolitik ist
Strukturpolitik.
({0})
Ich bin auch das Bashing von internationalen Organisationen in diesem Zusammenhang ein bisschen leid.
Denn nur gemeinsam können wir die Herausforderung,
dass 1 Milliarde Menschen in Hunger leben, bewältigen
und die Probleme angehen. Das ist nur mit finanziellen
Beiträgen auch für internationale Organisationen möglich. Ich glaube, es ist an der Zeit, auch in diesem Punkt
für Wahrheit und Klarheit zu sorgen.
({1})
Wenn wir über Strukturpolitik in der Entwicklungspolitik diskutieren, dann möchte ich auch ein Thema ansprechen, das wir uns als Sozialdemokraten, aber auch
innerhalb der Koalition in diesem Jahr verstärkt auf die
Agenda gesetzt haben und das dankenswerterweise vom
Ministerium sehr aktiv aufgegriffen wurde, nämlich die
sozialen Sicherungssysteme. Wir können die Probleme,
die durch das Fehlen sozialer Sicherungssysteme weltweit entstehen, nicht mit Einzelprojekten lösen, sondern
nur, indem wir gemeinsam mit den Partnerländern auf
deren Strukturen einwirken und neue Sicherungssysteme
aufbauen.
Wer letzten Sonntag im Weltspiegel den Beitrag über
Millionen chinesische Wanderarbeiter gesehen hat, die
plötzlich von einem Tag auf den anderen vor den Fabriktoren stehen, keinen Lohn mehr bekommen und nicht
wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen, die im
Krankheitsfall keine Möglichkeit haben, irgendeine
Form von Hilfe in Anspruch zu nehmen, dem muss klar
sein, dass weltweite Entwicklung und nachhaltige Bekämpfung von Armut nur dann möglich sind, wenn es
uns gelingt, weltweit soziale Sicherungssysteme aufzubauen, zu stützen und zu stärken. Dass das nur mit Systemen möglich ist, die solidarisch alle Bevölkerungsschichten einbeziehen, ist sicherlich auch klar.
({2})
Noch sind wir in einer Situation, in der weltweit
100 Millionen Menschen jährlich wieder in Armut zurückfallen, weil sie aufgrund von Erkrankungen der eigenen Person oder innerhalb ihrer Familien Verdienstausfälle haben, ihre Arbeit nicht ausüben können und ihr
Vieh bzw. ihre Lebensgrundlage verkaufen müssen.
Dass das nachhaltiger Armutsbekämpfung und allen Zielen, die heute genannt wurden, entgegensteht, ist sicherlich für jeden ersichtlich. Das bedeutet aber auch, dass
wir das tun müssen, was wir zum Beispiel in Ruanda gemacht haben: Dort haben wir uns mit der Regierung zusammengesetzt und gemeinsam Pläne entwickelt, wie
nachhaltig Einkommen in den Ländern generiert und
Steuersysteme aufgebaut werden können. Nebenbei bemerkt: Dank der viel gescholtenen Budgethilfe werden
in Ruanda Steuersysteme aufgebaut. Das hat dazu geführt, dass sich die Steuerquote in Ruanda in den letzten
zehn Jahren versechsfacht hat.
({3})
Diese Gelder sind dann aber auch für nachhaltige Armutsbekämpfung einzusetzen, zum Beispiel für den
Aufbau von Krankenstationen, für die Unterstützung des
Gesundheitswesens, für die Schaffung von Zugängen für
die Bevölkerung zum staatlichen Versicherungswesen
und für die Einführung von Dezentralisierung.
Diesen richtigen Ansatz wollen und müssen wir weiterhin verfolgen und unterstützen. Der Antrag mit der
Forderung, soziale Sicherungssysteme auszubauen, ist
deshalb sehr gut. Die Internationale Arbeitsorganisation,
ILO, bescheinigt uns, dass dieser Antrag einen machbaren und finanzierbaren Ansatz enthält und maßgeblich
zur Bekämpfung der Armut in der Welt beitragen würde.
Ich bin sehr dankbar, dass das BMZ nicht nur entsprechende Mittel, sondern auch Personal und Logistik zur
Verfügung stellt. Wir haben alle im Ausschuss gehört,
dass das Ministerium dieses Thema in den entsprechenden Regierungsverhandlungen prominent vertritt und
sich dafür einsetzt.
({4})
Ich glaube, wir alle im Haus sind uns beim Thema
Bildung einig. In dem entsprechenden Antrag dazu wird
die nachhaltige Entwicklung unterstützt und aufgezeigt,
dass wir hier in den nächsten Jahren noch viel tun müssen. Es ist nach wie vor so, dass weltweit 77 Millionen
Kinder keinen Zugang zu Bildungssystemen, keinen Zugang zu Schulen haben. Wie im UNESCO-Weltbildungsbericht vom letzten Jahr ausgeführt wird - auch
dieses Thema müssen wir angehen -, ist für die Herstellung von Chancengleichheit die weltweite Abschaffung
von Schulgebühren nötig. Daran zu arbeiten und dazu
beizutragen, dass die Primärschulausbildung für die Kinder kostenfrei ist, muss unser aller Anliegen sein.
({5})
Wer Bildung stärkt, stärkt damit natürlich alle von Armut Betroffenen und insbesondere die Frauen. Damit
wird ein entscheidender Beitrag zur Bekämpfung von
Armut und Hunger sowie zum nachhaltigen Aufbau von
friedlichen Strukturen geleistet. Man muss sich einmal
ansehen, wie man mit einem qualitativ verbesserten Bildungswesen Partizipation und gesellschaftliche Teilhabe
stärken kann. Ich habe das letztes Jahr auf meiner Reise
in den Ostkongo erlebt. Wir haben dort bereits vieles in
Angriff genommen, aber es ist noch sehr viel zu tun. Wer
die Bilder der letzten Wochen gesehen hat, dem ist das
bewusst geworden.
Wir haben aber auch begonnen, partizipativen Unterricht zu unterstützen, gesellschaftliche Teilhabe von
Kindern zu fördern und damit auch einen Beitrag zur
Überwindung von Kriegsfolgen und Kriegstraumata zu
leisten. Dazu gehört auch die Arbeit - das möchte ich an
dieser Stelle ausdrücklich loben und erwähnen - des Zivilen Friedensdienstes. Die von uns entsandten Entwicklungshelfer leisten in den Krisenregionen unter hohem
persönlichen Einsatz und Risiko hervorragende Arbeit.
({6})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Ja. - Es ist schade, wenn man nur einige Minuten Redezeit hat,
({0})
aber über wichtige Themen zur Weiterentwicklung der
Armutsbekämpfung sprechen will. Es bleibt im Bereich
Bildung viel zu tun. Leider habe ich nicht mehr die Zeit,
um auf die Qualität der Lehrerausbildung, auf unser gesteigertes Engagement in der Grundbildung, die berufliche Bildung und die vielen Hochschulpartnerschaften
einzugehen, die hier tolle wissenschaftliche Transferleistungen erbringen.
Ich möchte mich noch einmal für das Engagement
und die Arbeit aller Beteiligten, auch des Ministeriums,
in den letzten Jahren bedanken. Ich wünsche mir eine
kontinuierliche Fortsetzung dieser Arbeit und auch kontinuierlich aufwachsende Haushaltsmittel.
Danke.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/10038 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatzpunkt 2 auf:
4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Markus Kurth, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gerechtigkeit und Chancen statt Ausgrenzung
und Armut
- Drucksache 16/11755 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Sozialen Absturz von Erwerbslosen vermeiden
- Vermögensfreigrenzen im SGB II anheben
- Drucksache 16/11748 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Haushaltsausschuss
Es ist verabredet, hierzu eineinhalb Stunden zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Markus Kurth für Bündnis 90/Die Grünen.
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir befinden uns in der größten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Es ist nicht verwegen,
anzunehmen, dass das, was noch als konjunkturelle
Krise begriffen wird, den Auftakt eines tiefgreifenden
und langanhaltenden Strukturwandels darstellen wird.
Es ist die historische Verantwortung dieses Hauses, diesen Strukturwandel zu gestalten und mitzubestimmen.
Immerhin hat sich - außer bei der FDP - die Erkenntnis
durchgesetzt, dass die vielbeschworene unsichtbare
Hand des Marktes ungezügelt durchaus in der Lage ist,
ganze Volkswirtschaften zu erwürgen. Eine Summe von
gut 80 Milliarden Euro, wie in den beiden Konjunkturpaketen vorgesehen, böte die Chance, den Umbau hin zu
einer ökologischen Wirtschaft und sozial gerechteren
Wissensgesellschaft einzuleiten. Vor allem aber böte
sich die Chance, eine der größten Wachstumsbremsen
dieses Landes aufzulösen, nämlich die verfestigte soziale
Spaltung und die in den letzten Jahren verschärfte soziale
Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsschichten.
({0})
Vielleicht wundert es manchen, dass ich von Armut
und Arbeitslosigkeit als Wachstumsbremse spreche.
Doch ich finde, es lohnt sich, das Phänomen Armut unter
volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten;
denn dauerhafte Armut ist teuer, und das nicht nur wegen der Kosten für das Arbeitslosengeld II und ebenfalls
nicht nur wegen der Folgekosten von Armut, etwa aufgrund der steigenden Zahl psychischer Erkrankungen armer Menschen. Viel schwerer wiegt, dass diese Gesellschaft auf die Potenziale von Millionen Menschen
verzichtet, ja diese geradezu missachtet. Diese Vergeudung droht sich fortzusetzen. Wer von dem engen Zusammenhang zwischen Einkommensarmut und Bildungsabschluss weiß, der muss angesichts von 2,5 Millionen armen Kindern und Jugendlichen in diesem Land
auf das Äußerste alarmiert sein.
({1})
Vor dem Hintergrund des zu erwartenden Strukturwandels ergibt sich geradezu die Verpflichtung im Rahmen der Konjunkturprogramme, den Umbau hin zur
ökologisch wirtschaftenden Wissensgesellschaft eng mit
offensiver Armutsbekämpfung zu verbinden.
({2})
Investitionschancen gibt es reichlich. Allein im Bildungssektor fehlen in Deutschland 23 Milliarden Euro,
um wenigstens den Durchschnitt der OECD-Länder zu
erreichen. Es gibt ebenfalls reichlich Chancen, schnell
wirkende konjunkturelle Maßnahmen zu ergreifen und
gleichzeitig soziale Notlagen zu verringern. Die sozialpolitisch längst überfällige Anhebung des Arbeitslosengeldes II auf 420 Euro würde beispielsweise die Binnennachfrage unmittelbar um 10 Milliarden Euro erhöhen.
({3})
Was aber tut diese Regierung? Hat sie erkannt, dass es
wohl nicht reichen wird, eine Abwrackprämie für Altautos aufzulegen, um die Zukunftsbranche Schrotthandel zu befördern? Verknüpft die Große Koalition wirksame Konjunkturimpulse mit sozialpolitischen Zielen? Leider nein! Nehmen wir uns doch einmal ein paar Maßnahmen vor. Zum Beispiel sollen Kinder zwischen 7 und
13 Jahren, deren Eltern Arbeitslosengeld beziehen, nun
statt 60 Prozent des Erwachsenenregelsatzes 70 Prozent
desselben erhalten. Zum einen ist dieser Schritt quantitativ völlig unzureichend. Zum anderen beseitigt er nicht
einen grundlegenden Konstruktionsfehler des Sozialgeldes für Kinder. Die Leistung für Kinder wird nämlich
nach wie vor vom Bedarf eines Erwachsenen abgeleitet,
als ob ein 13-Jähriger 30 oder 40 Prozent weniger äße
als eine 70-jährige Seniorin. Wir vom Bündnis 90/Die
Grünen fordern schon seit 2006 die Erstellung eines eigenen Kinderregelsatzes.
({4})
Wir haben uns lernfähig gezeigt, als sich schnell abzeichnete, dass die Regelleistung für Kinder viel zu gering ist. Seit vorgestern dürfen wir uns durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bestätigt sehen.
({5})
Es sieht in der geltenden Regelung einen Verstoß gegen
das grundgesetzliche Gleichheitsgebot, gegen das Recht
auf Menschenwürde und gegen das Sozialstaatsprinzip.
Es ist schon peinlich genug, dass es überhaupt zu einer
solchen Gerichtsentscheidung kommen musste. Ebenfalls peinlich ist, dass die Bundesregierung seit über einem halben Jahr eine einstimmig gefasste Aufforderung
des Bundesrats ignoriert, die gleichfalls eine eigenständige Erhebung dessen einfordert, was Kinder brauchen.
({6})
Am peinlichsten ist jedoch, dass jetzt Bundesminister
Scholz, sekundiert von Ludwig Stiegler, erklärt, die Gerichtsentscheidung träfe sich gut mit der Einführung der
neuen Altersklasse; denn jetzt seien die Mängel behoben.
Dem Bundesrat bescheiden sie dann auch so nebenbei,
sie hätten jetzt seiner Aufforderung Rechnung getragen.
Eine solche Sicht der Dinge ist geradezu unverfroren.
({7})
Ein weiteres Beispiel für die falsche Verteilungspolitik der Regierung sind die Steuersenkungen. Das Bundesfinanzministerium selbst gibt an, dass der Großteil
der Steuerentlastungen bei den Gutverdienern landet.
({8})
Rund 1,5 Milliarden Euro fließen an diejenigen, die dem
Spitzensteuersatz unterliegen, während Bezieher von
Niedrigeinkommen gerade einmal um 150 Millionen
Euro entlastet werden. Diese Schieflage ist nicht nur sozial ungerecht, sie ist auch ökonomisch blanker Unsinn.
({9})
Peer Steinbrück selbst hat gestern auf meine Frage in der
Regierungsbefragung geantwortet - ich zitiere -:
Sie haben völlig recht, dass der Massenkonsum,
den man durch Steuersenkungen erreichen will,
nicht befördert wird, weil die Steuerbelastung in
den unteren Einkommensetagen nicht das große
Problem ist … Für die oberen Einkommensetagen
ist … klar belegt, dass diejenigen, die ein monatliches Nettoeinkommen von über 3 500 Euro haben,
eine Sparquote von weit über 20 Prozent … aufweisen.
Trotz besseren Wissens machen Sie diesen Unsinn.
({10})
Schließlich versäumt es die Koalition, die richtigen Rahmenbedingungen für eine Stärkung der Binnennachfrage
zu schaffen. Hierzu würde zuvörderst ein wirksamer
Mindestlohn gehören. Das, was Sie in der letzten Woche vorgelegt haben, ist mit Verlaub alles andere als eine
umfassende Absicherung gegen Lohndumping.
({11})
Jetzt, so war gestern in der Zeitung zu lesen, geben Sie
auch noch den Versuch auf, für die 700 000 Menschen in
der Zeitarbeitsbranche einen Mindestlohn einzuführen und das in einer Phase, in der bald krisenbedingt der
Lohndruck noch zunehmen wird.
({12})
Wie unzulänglich, ja geradezu kontraproduktiv die
Regierung auf die Krise reagiert, zeigt sich auch an den
kleinen Dingen, von denen es einige durchaus verdienen,
öffentlich gemacht zu werden. Hierzu gehört zum Beispiel die Vergabeordnung für Bauleistungen, die Sie
neu gefasst haben. Nach den bisherigen Plänen will das
Bundesbauministerium eine VOB, Vergabeordnung für
Bauleistungen, in Kraft treten lassen, die es gemeinnützigen Unternehmen verbieten soll, in Wettbewerb mit
gewerblichen Anbietern zu treten. Das heißt, zahlreichen
Beschäftigungsträgern, die sich um die Integration von
Langzeitarbeitslosen kümmern, bräche ein wichtiges
Geschäftsfeld weg. Meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition, Ihre Regierung hat offenbar nicht
einmal bemerkt, dass sie mit dieser Neuordnung denjenigen die Beine wegschlägt, die sie selbst zur Umsetzung
ihrer arbeitsmarktpolitischen Programme braucht.
({13})
Das geschieht zu einem Zeitpunkt, wo immerhin durch
das Konjunkturpaket wieder in größerem Umfang öffentliche Bauaufträge anstehen. Es sind diese Schildbürgergeschichten, die ich mangels Redezeit gar nicht alle
darstellen kann, die das ganze Ausmaß der Desorientierung dieser Regierung zeigen.
({14})
Die von der Bundesregierung unterlassene Armutsbekämpfung und die Fehlleitung von Geldern durch unsinnige Steuersenkungen für die Falschen sind auch deshalb
so bedrückend, weil die Ausgaben schuldenfinanziert
sind und dadurch der künftige Spielraum für unabweisbar notwendige Investitionen in den Bildungsbereich
und in den Sozialschutz verringert wird.
Gerade die dauerhafte Schwächung der Einnahmeseite wird, so fürchte ich, bald dazu führen, dass in diesem Haus einige wieder das Hohelied vom Gürtel, den
man enger schnallen müsse, anstimmen. Sie sollten sich
fragen, welchen Eindruck diese Regierungspolitik bei
denjenigen Heranwachsenden hinterlässt, die sich heute
auf dem Schulhof für ihre Armut schämen, welchen Eindruck sie bei denjenigen Kindern hinterlässt, die Klassenausflüge absagen müssen und die mit ihren Eltern an
der Lebensmittelausgabe der Tafel stehen. Für all diese
muss es unfassbar sein, dass nicht nur nichts für ihre
Chancen getan wird, sondern dass stattdessen auch noch
steinreiche Familienclans wie die Familie Schaeffler die
öffentliche Hand anpumpen, um ihre Übernahmefantasien zu finanzieren.
({15})
Das Missverhältnis in der politischen Prioritätensetzung oder in den Ausgaben ist schon jetzt durchaus gegeben. Allein das finanzielle Engagement des Staates bei
der Pleitebank Hypo Real Estate übersteigt das Volumen
beider Konjunkturpakete bereits um einen zweistelligen
Milliardenbetrag. Meine Damen und Herren von der
Großen Koalition, wir stehen in dieser Krise nicht nur in
der Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung;
wir stehen auch in der Verpflichtung, das Vertrauen in
demokratische Institutionen nicht weiter zu beschädigen.
Ich sage Ihnen: Politische Stärke gewinnt man in einer
Demokratie nicht unbedingt, indem man seine Pläne um
jeden Preis weiterverfolgt.
({16})
Souveränität kann man auch gewinnen, indem man sich
lernfähig zeigt. Steuern Sie um! Betreiben Sie mit uns
einen grünen New Deal! Investieren Sie in die soziale
und ökologische Erneuerung dieses Landes.
Vielen Dank.
({17})
Der Kollege Karl Schiewerling hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! „Gerechtigkeit und Chancen statt Ausgrenzung und Armut“
ist der Titel des Antrags von den Grünen, den wir gerade
diskutieren. Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Der folgende Text hält nicht, was der Titel verspricht.
({0})
Die Rede, die Sie, Herr Kollege Kurth, gehalten haben, hat mit dem Antrag, den Sie gestellt haben, relativ
wenig zu tun.
({1})
In Ihrem Antrag wird das Konjunkturpaket II einschließlich Abwrackprämie mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz und dem Mindestarbeitsbedingungengesetz
verwurstelt. Dann geht es auch noch darum, sozialversicherungsrechtliche Regelungen von Minijobs auf Arbeitsverträge bis zu 2 000 Euro auszudehnen und so das
beitragsfinanzierte Solidarsystem mit steuerfinanzierten
Anteilen weiter zu durchlöchern.
Mit dem einen oder anderen Punkt der Anträge, die
die Grünen früher eingebracht haben, haben Sie mich
durchaus - das will ich Ihnen gerne zugestehen - in argumentative Schwierigkeiten gebracht. Der vorliegende
Antrag ist für mich in dieser Hinsicht eine herbe Enttäuschung.
({2})
Sie zeigen in diesem Antrag und auch in Ihrer Rede
keine einzige Lösung auf;
({3})
vielmehr beschreiben Sie die Gesamtsituation, fügen allerhand Dinge zusammen, ohne dass irgendwo deutlich
wird, wie Sie den Menschen in dieser Situation ganz
konkret helfen wollen.
({4})
Ich greife den Titel des Antrags der Grünen auf, weil
ich ihn richtig finde; er deckt sich nämlich mit den Zielen der Großen Koalition und der CDU/CSU: Gerechtigkeit und Chancen statt Ausgrenzung und Armut. Das
ist richtig; das wollen wir auch. Grundlage ist, dass jeder
die Möglichkeit haben muss, mit seines Kopfes und seiner Hände Arbeit den Lebensunterhalt für sich und seine
Familie zu verdienen. Erwerbsarbeit ist der beste Schutz,
um aus Armut herauszukommen, dieser vorzubeugen
oder sich vor ihr zu schützen.
Das Konjunkturpaket II, das Sie gerade so heftig
kritisiert haben, will genau dies erreichen: die Wirtschaft
stabilisieren, um Arbeitsplätze zu erhalten, vor allem
dort, wo durch unverschuldete Einflüsse des Finanzmarktes Arbeitsplätze verloren zu gehen drohen. Anders
als früher muss und wird es den Betrieben darum gehen
müssen, Fachkräfte zu halten. Deswegen haben wir gegengesteuert und das getan, was zwingend notwendig
ist, nämlich durch das Angebot von Kurzarbeitergeld
Menschen in Beschäftigung, zumindest am Arbeitsplatz,
zu halten und durch eine Ausweitung der Qualifizierung
die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass alle gute
Startbedingungen haben, wenn es wieder aufwärts geht.
({5})
Zu nennen ist weiter die Stabilisierung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung auf 2,8 Prozent, um
die Lohnnebenkosten nicht weiter steigen zu lassen.
Gerechtigkeit und Chancen sowie die Verhinderung
von Ausgrenzung und Armut, das beginnt bei stabilen
familiären Strukturen. Hier werden wichtige, wenn
nicht die wichtigsten Weichen für die Zukunft der Kinder gestellt. Der Kinderzuschlag wurde erhöht, um so
diejenigen stärker vor Armut zu schützen, die zwar ihren
eigenen Bedarf, aber nicht den der Kinder decken können.
Um die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit
zu verbessern, haben wir die Betreuungsangebote für unter Dreijährige ausgebaut. Auch bei der Betreuungsquote
für Kinder ab drei Jahren haben wir das EU-Ziel von
90 Prozent fast erreicht. Am Ausbau der Ganztagsbetreuung in Grundschulen beteiligt sich der Bund ebenfalls. Alles das sind Rahmenbedingungen, um letztendlich den Menschen Hilfen an die Hand zu geben, damit
sie ihre eigene Lebenssituation stabilisieren, aus eigener
Kraft Armut vorbeugen können und so gar nicht erst in
Armut fallen.
({6})
Bei allem, was der Staat tut, bei allem, was wir beschließen und erledigen, dürfen wir nicht vergessen: Die
Eltern tragen die Verantwortung für die Erziehung der
Kinder - nicht der Staat.
({7})
Der Staat hat die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Eltern diese Aufgabe verantwortungsvoll leisten
können.
Im Rahmen des Konjunkturpakets II erhöhen wir
auch die Regelsätze für Kinder von Arbeitslosen. Die
Regelsätze für Kinder von Erwerbslosen, die Arbeitslosengeld II beziehen, werden stärker differenziert. Jungen und Mädchen im Alter von 6 bis 13 Jahren erhalten
ab 1. Juli 2009 70 anstatt 60 Prozent des Regelsatzes
von Erwachsenen. Das heißt, von 211 Euro steigt der
Satz auf 246 Euro. Das sind immerhin 35 Euro mehr im
Monat. Das Bundessozialgericht - darauf hat Herr Kurth
zu Recht hingewiesen - hat in seinem jüngsten Urteil
den Gesetzgeber aufgefordert, den Regelsatz für Kinder
zu differenzieren, exakt nachzurechnen, was Kinder benötigen, den Regelsatz für Kinder also nicht einfach von
dem für Erwachsene abzuleiten. Ich halte das auch für
richtig. Hier wird ein Webfehler des SGB II korrigiert
werden müssen. Das Bundesarbeitsministerium arbeitet
daran. Das Bundessozialgericht hat aber nicht gesagt,
wie hoch der Satz sein muss. Diese Entwicklungen müssen wir noch abwarten.
Nicht zu vergessen ist: Jedes Kind erhält noch im laufenden Jahr einmalig 100 Euro. Über die Familienkassen
wird diese Einmalzahlung an alle Kindergeldbezieher
ausgezahlt. Sie wird nicht mit den Bedarfssätzen der Bezieher von Sozialleistungen verrechnet.
Nicht zu vergessen ist auch das Schulstarterpaket
- ebenfalls 100 Euro -, das jedem zur Verfügung gestellt
wird.
Diese Maßnahmen begrüße ich. Sie sind wichtig und
gut. Dennoch dürfen wir bei der gesamten Diskussion
diejenigen nicht vergessen, die das alles erwirtschaften
müssen.
({8})
Diese Menschen dürfen wir nicht außer Acht lassen. Ihre
Leistungsbereitschaft - sie gehen jeden Tag arbeiten,
und mit ihren Steuern wird unser Sozialstaat finanziert muss belohnt und unterstützt werden. Diese Menschen
müssen am Ende mehr Geld in der Tasche haben als die,
die nicht einer Erwerbsarbeit nachgehen, aus welchen
Gründen auch immer.
({9})
Wie schwierig es ist, das Lohnabstandsgebot einzuhalten, Herr Kollege Kurth, sehen wir an dem Urteil des
Bundessozialgerichts zur Beteiligung des Staates an den
Kosten von Klassenfahrten. Das ist eine schwierige Situation, die ich im Detail überhaupt nicht bewerten will.
Grundlage für das Urteil war ein Fall aus Berlin, eine
Klassenfahrt nach Florenz. Nach diesem Urteil müssen
Kindern aus Hartz-IV-Familien, also Familien, die Leistungen nach dem SGB II beziehen, die Fahrtkosten komplett bezahlt werden. Die Familien aber, die 100 oder
200 Euro über dem Satz liegen, müssen sehen, wie sie
das Geld für die Klassenfahrt ihrer Kinder zusammenkratzen. Das ist eine der Schieflagen, mit denen wir zu
tun haben. Ich kritisiere das Urteil überhaupt nicht, sondern weise nur auf die Konsequenzen hin: Nur ganz
Arme oder ganz Reiche können sich die Klassenfahrt
leisten. Die tragende Mittelschicht unseres Landes wird
mehr und mehr in Mitleidenschaft gezogen.
({10})
Es ist übrigens auch eine Aufgabe der Schule, für Ausgleich zu sorgen. Ich halte das für eine wichtige Aufgabe.
Ich stimme zu, dass wir im Bereich der Bildungspolitik mehr tun müssen. Die PISA-Ergebnisse zeigen die
Wissensdefizite auf. Es geht aber nicht nur um Wissen,
sondern es geht auch um Bildung, und es geht um die
Bildung, für die letztendlich im Elternhaus die Grundlage gelegt wird. Deswegen ist es wichtig, dass wir den
Erziehungsauftrag der Schulen stärken und in Schulen
und Schulgebäude investieren, um vernünftige Rahmenbedingungen zu setzen.
({11})
Dennoch - ich wiederhole das -: Die Eltern tragen
die Verantwortung für die Erziehung der Kinder, nicht
der Staat. Es gibt Eltern, die überfordert sind und es
nicht alleine schaffen. In diesem Bereich muss Hilfe ansetzen; hier muss investiert werden, um Hilfe zur Erziehung in den vielfältigsten Formen und Gestaltungsmöglichkeiten, die wir heute kennen, zu gewährleisten. Wenn
Kinder ohne Frühstück zur Schule kommen, wenn es
Kinder gibt, die bevorzugt Fast Food essen, dann ist das
kein Zeichen von wirtschaftlicher Notlage, sondern dann
deutet das möglicherweise auf soziale und kulturelle
Schieflagen hin.
In unserem Staat gibt es viel Hilfe. Damit meine ich
den Sozialstaat, das Gesundheitswesen, den Bereich der
Grundsicherung, den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und des Sozialgesetzbuches. Alle doktern daran herum, aber niemand koordiniert diese Hilfen. Ich glaube,
dass es bald an der Zeit sein wird, zu überlegen, an welchen Stellen die Systeme stärker integriert werden müssen, um den Menschen unmittelbar helfen zu können.
({12})
Wir haben ein sehr ausgefeiltes, ein sehr dicht geknüpftes soziales Netz. Darauf ist unser Staat stolz. Das
ist gut. Aber ich habe den Eindruck, dass dieses Netz an
manchen Stellen nicht nur dicht ist, sondern auch starr.
Wir müssen die Durchlässigkeit bezogen auf die multiplen Situationen, in denen sich Kinder und Jugendliche
und damit auch Familien befinden, erhöhen und dadurch
mehr Durchgängigkeit organisieren.
({13})
Ich weiß, wie schwierig das ist, weil Kommunen, Bund
und Länder betroffen sind. Aber ich glaube, dass es an
der Zeit ist, daran zu arbeiten.
Gerechtigkeit und Chancen statt Ausgrenzung und
Armut - das wollen wir von der CDU/CSU. Daran arbeitet die Große Koalition. Damit sind wir im Konjunkturpaket II ein Stück weitergekommen. Ich denke, dass dort
die konkreten Hilfen verankert sind, die die Menschen
brauchen, damit sie nicht in Armut geraten bzw. aus Armut wieder herauskommen.
Herzlichen Dank.
({14})
Der Kollege Heinz-Peter Haustein hat jetzt das Wort
für die FDP-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Werte Zuschauer! Ist es Ihnen schon einmal
passiert, dass Sie ins Kino gehen, um einen James-BondFilm zu sehen, doch dann kommt Biene Maja? Daran
habe ich gedacht, als ich den Antrag der Grünen durchgearbeitet habe. Er ist vollkommen daneben, ein Sammelsurium, ein wirres Durcheinander, und auch die
Überschrift passt überall.
({0})
Das Papier heißt: „Gerechtigkeit und Chancen statt Ausgrenzung und Armut“.
({1})
Das ist ein Titel, den jeder in diesem Haus unterschreibt. Der Vorteil einer solchen Überschrift liegt auf
der Hand. Man kann damit alles überschreiben und Zustimmung ernten. Dem Leser erschließt sich nicht, was
wirklich dahintersteht.
({2})
Leider muss ich im Zusammenhang mit dem Antrag
auch an das Konjunkturpaket denken, das auch etwas
durcheinander ist. Aber das nur nebenbei.
Sie haben eine Allerweltsüberschrift gewählt und kritisieren in Ihrem Antrag eigentlich alles, was zu kritisieren ist:
({3})
die Neuverschuldung, die umweltschädliche Kfz-Steuer
und die Tatsache, dass Schulden für den Konsum aufgenommen werden.
Ich will auf drei Punkte eingehen. Erstens fordern Sie
Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur. Das ist in
Ordnung. Schon seit Jahren legt die FDP durchdachte
Anträge vor, um mehr für die Infrastruktur zu tun. Das
Schienennetz muss erneuert werden, und auch für die
Straßen muss etwas getan werden. In diesem Zusammenhang fällt mir die Bahnstrecke zwischen Berlin und
Dresden ein. 1934 ist man mit der Dampflokomotive
BR 01 anderthalb Stunden schneller gefahren als heute.
Da fällt mir ferner ein: Auf der Bundesstraße 170 von
Dresden ins Erzgebirge können bestenfalls noch die
Fuhrwerke fahren, für die sie damals gebaut wurde,
nämlich Pferdekutschen. Sie hat immer noch die gleiche
Gradiente, bergauf, bergab, Kurve rechts, Kurve links.
Dort wollen wir investieren. Aber gerade Sie von den
Grünen verhindern mit Ihren überzogenen ideologischen
Forderungen einen schnellen Bau, ein sicheres, schnelles
Vorgehen.
({4})
Baumaßnahmen werden verzögert und verteuert.
Darin liegt auch der Widerspruch in Ihrer Politik. In
der Universitätsstadt Freiberg in Sachsen soll eine
Ortsumgehung gebaut werden. Da hat man vor zehn Jahren das letzte Mal eine Fledermaus gesehen; aber wegen
dieser Fledermaus müssen zunächst Gutachten erstellt
werden, und es darf nicht gebaut werden. So kann es
nicht gehen. Das ist der Widerspruch in Ihrer Politik: Sie
fordern Infrastruktur, verhindern diese aber gleichzeitig
mit überzogenen ideologischen grünen Barrieren.
({5})
Der zweite Punkt in Ihrem Antrag ist - das ist wenigstens ein sozialpolitischer Bezug - die Forderung nach
höheren Regelsätzen bei Hartz IV und Sozialhilfe. Begründet wird dies mit der Notwendigkeit, die Binnennachfrage zu stärken; dafür soll die Kaufkraft gefördert
werden. Nun haben die Grünen aber doch gerade in diesem Antrag ausgeführt, es solle kein Geld für den Konsum ausgegeben werden.
({6})
Auch das ist ein Widerspruch. Diese Widersprüche ziehen sich durch Ihren Antrag wie ein roter Faden.
Bei der Regelsatzerhöhung kommt es doch auf den
richtigen Weg an.
({7})
Sie fordern mehr Geld, fragen aber nicht, wo das Geld
herkommt.
({8})
Ich möchte Ihnen einmal sagen, was alles vom Staat bezahlt wird. Jeder bekommt eine Wohnung, und jeder bekommt die Heizkosten bezahlt; auch dann, wenn er das
Fenster auflässt, werden die Heizkosten voll vom Staat
bezahlt. Die monatliche Hartz-IV-Leistung einer Familie
mit zwei Kindern über 15 Jahre beträgt circa 1 600 Euro
plus 439 Euro für Sozialabgaben, die der Staat bezahlt.
Das muss man erst einmal verdienen.
({9})
Wichtig ist eines: Wir müssen in unserem Land den
sozialen Frieden sichern. Jeder muss wissen, dass er hier
abgesichert ist. Daran dürfen wir nicht rütteln. Dafür stehen wir als FDP. Aber ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass wir im Bundestag immer und immer wieder
über das Geldverteilen reden und über die Hartz-IVEmpfänger, die das Geld bekommen, aber nicht über die,
die es erwirtschaften müssen? Auch die müssen Sie einmal fragen. Das sind die vielen fleißigen Handwerker,
die Facharbeiter, die Beamten, die Angestellten,
({10})
die von früh bis abends schuften und das Geld für die
Hartz-IV-Empfänger aufbringen. Jeder Hartz-IV-Empfänger, der keine Arbeit bekommt, tut mir leid. Trotzdem
müssen wir beide Seiten sehen. Es geht auch darum, das
Lohnabstandsgebot zu stärken.
({11})
Denn irgendwann sind die, die arbeiten, die Dummen.
Dazu darf es in diesem Land nicht kommen, meine Damen und Herren.
({12})
Drittens holen Sie in Ihrem Antrag noch den Mindestlohn aus der Kiste, um die Leute mit Halbwahrheiten zu verwirren. Wir sagen: Lohnverhandlungen sind
Sache der Tarifparteien, nicht der Politik. Es ist wichtig
und richtig, dass jeder ordentlich bezahlt wird, damit er
von seiner Arbeit leben kann. Doch ein Mindestlohn,
wie hier gefordert, ist ordnungspolitisch denkbar falsch.
({13})
Ist er zu hoch, vernichtet er Arbeitsplätze, ist er zu niedrig, wirkt er nicht. Wir sehen also: Die Grünen haben in
ihrem Antrag wieder Dinge zusammengerührt, die nicht
zusammenpassen.
({14})
Aus Zeitgründen kann ich Ihnen zu diesem Antrag
nur noch eines sagen: Notwendig ist eine liberale Politik,
ein liberales Bürgergeldkonzept in Verbindung mit einer
Reform des Steuersystems, das einfach, niedrig und gerecht gestaltet werden muss, eine Lösung aus einem
Guss, die Anreize schafft. Das müssen wir machen. Wir
brauchen auch betriebliche Bündnisse für Arbeit, in denen Tarifpartner betriebsspezifische Lösungen finden
können. Wir haben Gott sei Dank unseren leistungsstarken Mittelstand, der Innovationen bringt.
({15})
Dort entstehen Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze,
und dort müssen wir Anreize verstärken; dort müssen
wir entlasten, damit Arbeitsplätze entstehen. Packen wir
es an! Es gibt viel zu tun. Lasst uns Deutschland erneuern!
In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erzgebirge.
({16})
Herr Stöckel spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Angesichts der Herausforderungen, vor denen Deutschland
steht - auch Markus Kurth hat zu Beginn seiner Rede
betont, dass es diese Herausforderungen gibt -, hätten
wir erwartet, dass die Grünen in dieser 90-minütigen
Kernzeitdebatte einen konstruktiven Beitrag zur Überwindung der Krise leisten. Stattdessen wurde uns gestern
ein offensichtlich mit heißer Nadel gestrickter
({0})
und auf dem Bundesparteitag der Grünen in Dortmund
verfasster Antrag vorgelegt. Wenn man von der Polemik
absieht, die sich durch den gesamten Antrag zieht, bleiben letztendlich nur einige Forderungen übrig, die schon
aus alten Anträgen der Grünen bekannt sind.
Der dickste Hund begegnet uns bereits im ersten Satz
des Antrages:
Die klaffenden Gerechtigkeitslücken, die durch die
Politik der Bundesregierung in den vergangenen
dreieinhalb Jahren … entstanden sind …
Man könnte sagen, dass vorher alles in Butter war, weil
die Grünen mitregiert haben.
({1})
Die Grünen könnten aber auch sagen: Wir haben mit den
Erfolgen der Agenda 2010, auf denen die Große Koalition aufbauen konnte, nichts zu tun. Abbau der Arbeitslosigkeit von 5 Millionen im Jahr 2005 auf 3 Millionen
im Jahr 2008? Ist gar nicht passiert. - Das ist doch - entschuldigen Sie den unparlamentarischen, aber zutreffenden Ausdruck - saudumm.
({2})
Das wird auch durch ständige Wiederholung nicht richtiger. Herbert Wehner hätte gesagt: Meine Damen und
Herren, Ihre Behauptungen haben kurze Beine.
Deutschland befindet sich, wie auch sehr viele andere
Länder, aufgrund der internationalen Banken- und Finanzkrise in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage. Es
sind nicht nur Hunderttausende von Arbeitsplätzen gefährdet, wie auch die aktuelle Statistik ausweist; vielmehr werden die Schwächsten am härtesten getroffen,
wenn wir hier nicht handeln würden. Da hätte man von
den Grünen doch gerne mehr gehört. Wir müssen die
Kräfte bündeln, um die Folgen der Wirtschaftskrise abzumildern, und vor allen Dingen die Basis für den nächsten Aufschwung legen. Denn wir wollen diese Krise
nicht irgendwie überstehen, sondern wir wollen gestärkt
aus ihr hervorgehen. Das können wir schaffen.
Nur mit einer starken, wettbewerbsfähigen und innovativen Wirtschaft können wir den Sozialstaat, Teilhabechancen und Verteilungsgerechtigkeit auf hohem Niveau
sichern. Die beschlossenen Maßnahmen sollen und werden dazu beitragen, dass die Konjunktur in Deutschland
wieder in Gang kommt, Arbeitsplätze gesichert werden
und vor allen Dingen Qualifizierung gefördert wird. In
diesen Punkten ist sich die Fachwelt einig. Das scheint
ein Problem der Opposition zu sein.
Natürlich setzen auch die Beschlüsse zur Absenkung
des Arbeitslosenversicherungsbeitrages, zur Erhöhung
des Kindergeldes, zur Einführung des Kinderbonus, zur
Erhöhung der Regelsätze für Kinder von 6 bis 13 Jahren
und zur Erhöhung des Kinderfreibetrages wichtige konjunkturelle Impulse. Der Kernpunkt ist aber das staatliche Investitionsprogramm von insgesamt rund
17,3 Milliarden Euro, das direkt der kommunalen Infrastruktur und damit der Lebensumwelt der Bürgerinnen
und Bürger zugutekommen soll. Wer behauptet, dass das
die Gesellschaft zunehmend spalte, der hat offensichtlich
nicht verstanden, in welcher Situation gerade die Kommunen sind, die die größten sozialen Probleme und eine
schwache Infrastruktur haben.
({3})
Aus dem gemeinsamen Topf von Bund und Ländern
werden zu zwei Dritteln Investitionen in den Bildungsbereich - das heißt in Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Forschung - und zu einem Drittel in die Modernisierung der Infrastruktur - das heißt Krankenhäuser,
Städtebau, ländliche Infrastruktur und Lärmsanierung finanziert. Von den 4 Milliarden Euro zusätzlicher Bundesmittel wird die Hälfte, also 2 Milliarden Euro, für
Ausbau und Erneuerung von Bundesverkehrswegen bereitgestellt. Für sonstige Baumaßnahmen stehen 750 Millionen Euro zur Verfügung. Diese dienen der Grundsanierung und der energetischen Sanierung von Gebäuden.
Um zusätzliche Investitionen in die Energieeffizienz
von Gebäuden anzustoßen, haben wir bereits im ersten
Konjunkturpaket die Mittel für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm um 3 Milliarden Euro aufgestockt. Mit
eingeschlossen sind sowohl die Initiative „Wirtschaftsfaktor Alter“, mit der der altersgerechte Umbau von
Wohnraum durch die KfW gefördert wird, als auch der
Investitionspakt, den ich bereits angesprochen habe. Das
schafft nachhaltig mehr Barrierefreiheit, hilft auf Dauer
den Kommunen, Energiekosten zu sparen, und vermindert die Umweltbelastung. Das haben die Grünen immer
eingefordert.
({4})
Herr Kurth, Sie müssten uns eigentlich einmal loben.
Wir hatten gestern in der SPD-Bundestagsfraktion
500 Kommunalpolitiker zu Gast und haben mit ihnen
über das Investitionsprogramm diskutiert. Es gibt sicherlich noch Detailprobleme, die zu lösen sind. Da sind vor
allen Dingen die Länder gefordert. Wir haben eine breite
und große Zustimmung bekommen. Ich glaube, Sie von
den Grünen sollten einmal selbst in den Kommunen aktiv werden und daran mitarbeiten, dass diese Maßnahmen möglichst schnell umgesetzt werden können.
({5})
Wir entlasten die Bürgerinnen und Bürger, die Steuerzahler, die Beitragszahler, die Rentner, die Familien und
auch die Arbeitslosen, massiv. Ein Großteil dieser Entlastungen ist nachhaltig, das heißt auf Dauer angelegt.
Das betrifft vor allem die Steuer- und Beitragssatzsenkungen,
({6})
etwa die Senkung des Eingangssteuersatzes bei der Einkommensteuer auf 14 Prozent. Bereits unter der rot-grünen Bundesregierung haben wir nach 1998 große
Schritte diesbezüglich getan; wir gehen diesen Weg weiter. Es gibt in diesem Jahr eine Entlastung um rund
3 Milliarden Euro und im Jahre 2010 um rund
6 Milliarden Euro. Der Steuerabzug von Vorsorgeaufwendungen für die Kranken- und Pflegeversicherung
wird ab dem 1. Januar 2010 deutlich verbessert. Das ist
eine Entlastung von rund 7,8 Milliarden Euro.
Über die Familienkassen wird an alle Kindergeldbezieher ein Kinderbonus von einmalig 100 Euro je Kind
ausgezahlt. Damit stehen Familien mit Kindern 1,8 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung. Auf die Erhöhung des Regelsatzes für Kinder von Hartz-IV-Beziehern und Sozialhilfeempfängern wird meine Kollegin
Hiller-Ohm eingehen.
Seit dem 1. Januar 2009 erhalten Familien monatlich
10 Euro mehr Kindergeld. Dies wurde im letzten Jahr
beschlossen. Rund 2 Milliarden Euro stehen nun für Familien mehr zur Verfügung. Wir haben in der Koalition
durchgesetzt, dass auch Kinder von Arbeitslosen besser
unterstützt werden. Jeweils zum Schuljahresbeginn
erhalten hilfsbedürftige Kinder einen Beitrag von
100 Euro bis zum Abschluss der 10. Klasse; wir Sozialdemokraten wären gerne weitergegangen. Diese Kosten
betragen in den kommenden beiden Jahren 240 Millionen Euro.
Wir haben das Wohngeld bereits zum 1. Januar 2009
von durchschnittlich 92 Euro monatlich auf 142 Euro erhöht und außerdem rückwirkend zum 1. Oktober 2008
eine Heizkostenpauschale eingeführt.
({7})
Diese Maßnahmen kosten rund 520 Millionen Euro und
helfen den Geringverdienern direkt.
Zu den weiteren Punkten, zur Sicherung der Beschäftigung, zur Verbesserung des Kurzarbeitergeldes, zur
Qualifizierung, zur Ausweitung der Mindestarbeitsbedingungen und zur Ausdehnung der Mindestlöhne auf
weitere Branchen sowie zur Überprüfung der Bedarfe
und Regelsätze in den Grundsicherungen, werden sich
meine Kolleginnen Hiller-Ohm und Lösekrug-Möller
äußern. Sie werden auch etwas zu dem Vorschlag der
Linken sagen, in Deutschland eine egalitäre Vermögensverteilung - das muss man sich auf der Zunge zergehen
lassen - über die Anhebung der Schonvermögen von
ALG-II-Berechtigten zu erreichen.
Meine Damen und Herren, die Maßnahmenpakete der
Großen Koalition sind nicht nur international abgestimmt. Nein, sie sind mit den Gewerkschaften, den Arbeitgebern und den Sachverständigen auf nationaler
Ebene ebenso im Konsens beschlossen worden wie mit
den Bundesländern und den Kommunalverbänden. Wir
legen Wert darauf - das zu betonen, ist in Bezug auf den
Vorwurf, es würden Schulden zulasten kommender Generationen gemacht, wichtig -, dass die höhere Verschuldung, die dazu notwendig ist, durch eine absehbare Tilgung in besseren Zeiten abgebaut wird, dass die
Investitionen nachhaltig sind und das Ziel der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte nicht aufgegeben,
sondern angestrebt wird. Wir Sozialdemokraten sind im
Übrigen zu Recht stolz darauf, dass wir unsere Vor21814
schläge in der Großen Koalition in hohem Maße durchsetzen konnten.
Meine Damen und Herren von den Grünen, in einer
Zeit großer Herausforderungen, in der es auch gilt, in
kritischer Solidarität zusammenzustehen, stellt Ihr Antrag den kläglichen Versuch dar, ein oppositionelles, parteitaktisches Ritual krampfhaft durchzuhalten. Das wird
Ihnen nicht nützen, sondern schaden. Wir lehnen Ihren
Antrag ab. Das ist kein Rettungsschirm für die Opposition.
Herzlichen Dank.
({8})
Klaus Ernst spricht jetzt für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wieder einmal reden wir im Deutschen Bundestag über die Hartz-Gesetze. Die Grünen legen einen Antrag vor, der unter anderem beinhaltet, den Regelsatz auf
420 Euro zu erhöhen. Meine Fraktion möchte die Vermögensfreigrenzen im SGB II auf 20 000 Euro erhöhen.
Wir versuchen hiermit, kleine Verbesserungen an einem
großen Murks durchzusetzen, den allerdings auch die
Grünen - das kann ich ihnen nicht ersparen - mitzuverantworten haben.
({0})
Denn sie haben den Hartz-Gesetzen genauso zugestimmt
wie die SPD.
Meine Fraktion bleibt dabei: Hartz IV muss weg.
({1})
Fast die Hälfte aller Klagen von Betroffenen vor deutschen Gerichten endet mit dem Erfolg der Kläger. Sie
klagen gegen Leistungskürzungen. Sie klagen gegen
Willkür in den Bewilligungsbescheiden. Sie klagen für
schnelle Hilfe, die versagt blieb, obwohl die Heizung abgestellt wurde, und für vieles andere mehr. Das Gesetz
erlaubt bürokratische Schikanen und schreibt Verwaltungsexzesse vor.
Es kann ja sein, dass Sie den Eindruck haben, was wir
hier vortragen, sei relativ egal. Aber vielleicht hören Sie
einmal auf die Presse. Herr Prantl schrieb gestern in der
Süddeutschen Zeitung:
Das „Gesetz über die Grundsicherung für Arbeitssuchende“, so der amtliche Titel des Hartz-IV-Gesetzes, ist eine gesetzgeberische Katastrophe ...
Dafür sind Sie verantwortlich.
({2})
Es ist eine Katastrophe für alle Betroffenen, die aufgrund von Schikanen der Behörden ihrer Würde beraubt
werden. Es ist eine Katastrophe für die Menschen, die
trotz jahrelanger Arbeit nach einem Jahr Arbeitslosigkeit
auf einen Regelsatz von inzwischen 351 Euro gedrückt
werden. Dass Sozialdemokraten dies mitgemacht haben,
werde ich in meinem ganzen Leben nicht mehr verstehen. Es ist eine Katastrophe, dass sich Menschen arm
machen müssen, bevor sie diese Leistung in Anspruch
nehmen können, dass sie ihr Vermögen, sofern man bei
etwas über 9 000 Euro davon reden kann, aufbrauchen
müssen, bevor sie Anspruch auf Unterstützung haben. Es
ist eine Schande, dass letztendlich auch noch die Sparbücher der Kinder geplündert werden müssen, bevor Anspruch auf Unterstützung des Staates besteht. Das ist
keine Sozialpolitik, das ist eine grenzenlose Sauerei.
({3})
Es ist eine Katastrophe, dass Arbeitnehmer wegen
dieser Gesetze eine solche Angst vor Arbeitslosigkeit
haben, dass sie bereit sind, Arbeit jeder Art zu akzeptieren: nicht nur 1-Euro-Jobs, sondern Arbeit, bei der die
Arbeitszeit ohne Lohnausgleich erhöht wird und bei der
Schikanen von Vorgesetzten sowie niedrige Löhne akzeptiert werden. Das Ergebnis dieser Politik können Sie
in den amtlichen Statistiken nachlesen. Herr Prantl
kommt zu einem richtigen Schluss, wenn er in seinem
Artikel von gestern sagt:
Wenn also je ein Gesetz ein gordischer Knoten war:
Das Hartz-IV-Gesetz ist einer. Und seit der Antike
weiß man, was da zu tun ist.
Sie wissen es leider noch nicht.
({4})
Weil sich die SPD, wie an diesem Gesetz deutlich
wird, von Sozialpolitik verabschiedet hat,
({5})
braucht sie sich nicht zu wundern, dass sie bei jeder
Wahl von Niederlage zu Niederlage dümpelt.
({6})
Von meinem Vorredner habe ich gerade gehört, die SPD
habe alles richtig gemacht und sei mit ihren Vorschlägen
auf der Höhe der Zeit. Ich wundere mich nur, warum die
Bürger dann offensichtlich so doof sind, die tollen Leistungen Ihrer Partei nicht mehr zu akzeptieren. Darüber
müssen Sie sich einmal Gedanken machen.
({7})
Die Regierung verschließt nach wie vor die Augen
vor der Realität. Die Armut steigt trotz Erwerbstätigkeit: Waren es im September 2005 noch 950 000 Menschen, die trotz Arbeit Leistungen nach dem SGB II
bezogen haben, sind es im Februar 2008 schon
1,3 Millionen gewesen.
({8})
Das Institut Arbeit und Qualifikation stellt fest, 2006
sind 6,5 Millionen Menschen mit Niedriglöhnen beschäftigt gewesen. Die Zahl hat dramatisch zugenommen. Das ist Ergebnis der Hartz-Gesetze. Wenn Sie sich
dieser Realität verweigern, werden Sie die Zustimmung
der Arbeitnehmer nicht mehr erlangen, auch wenn Sie
bei den Gewerkschaften noch so betteln gehen.
({9})
Hartz IV bedeutet, dass Leute zur Annahme von
1-Euro-Jobs und Billigarbeit gezwungen werden. Die
Konsequenz dieser Politik - ich weiß nicht, ob Sie dies
auch ignorieren, ob Sie die Realität bei der Veränderung
der Lohnquote nicht mehr zur Kenntnis nehmen - ist,
dass die Lohnquote inzwischen einen Stand von knapp
über 60 Prozent erreicht hat. Dafür ist die Politik von
Hartz mitverantwortlich. Dass Sie als Sozialdemokraten
diese Politik einer Senkung der Löhne mitbetrieben haben, ist aus meiner Sicht unverantwortlich.
({10})
Damit Sie nicht sagen, dies sei ein Nebeneffekt, von
dem Sie vorher nichts gewusst hätten, zitiere ich - ich
tue es ungern; aber wo er recht hat, hat er recht - Herrn
Sinn aus München.
({11})
- Das sollten Sie sich einmal anhören. Entweder haben
Sie dies ignoriert oder nicht verstanden. Ich zitiere Herrn
Sinn,
({12})
der 2004 gesagt hat:
In Wahrheit geht es um eine Lohnsenkung. Die
kommt zustande, weil durch die Abschaffung der
Arbeitslosenhilfe die bislang Begünstigten auf die
Sozialhilfe zurückfallen und bereit sein werden, für
weniger Geld zu arbeiten.
({13})
Das hat euch Sinn gesagt. Entweder habt ihr ihn ignoriert oder nicht verstanden. Ich habe den Eindruck, dass
bei euch beides der Fall ist: ignoriert und nicht verstanden.
({14})
Mit ihren Hartz-Gesetzen haben die verantwortlichen
Parteien dafür gesorgt, dass das größte staatliche Armutsprogramm umgesetzt wurde, das in dieser Republik
je zu verzeichnen war. Insgesamt 2,2 Millionen Kinder
und Jugendliche stecken in Hartz. Das Bundessozialgericht hat Ihnen jetzt die Leviten gelesen - dies trifft natürlich für die CDU/CSU genauso zu -: Dieses Gesetz ist
verfassungswidrig, und die Regelsätze für Kinder sind
willkürlich festgelegt worden. Wie viele Urteile brauchen Sie eigentlich noch, um sich von diesem Holzweg
abzukehren?
({15})
Wie viele Urteile müssen Ihnen deutsche Gerichte vorlegen, bevor Sie merken, dass die Hartz-Gesetze nicht akzeptabel sind und dem Rechtsstaatsgedanken dieser Republik widersprechen? - Meinem Vorredner von der
CDU sage ich: Daran ändert sich auch dadurch nichts,
dass der Regelsatz für Kinder jetzt um 10 Prozent hochgesetzt wird. Es geht darum, dass der Regelsatz individuell festgelegt werden muss. Solange Sie das nicht tun,
ist dieses Gesetz nicht verfassungskonform.
Zum Antrag der Grünen: Natürlich ist es richtig, die
Regelsätze anzuheben. Diesbezüglich stimmen wir Ihnen voll zu; da sind wir auf Ihrer Linie. Ich verstehe nur
nicht, warum die Grünen bei 420 Euro hängenbleiben
und sich dabei auch noch auf die Sozialverbände beziehen. In der Stellungnahme des Deutschen Paritätischen
Wohlfahrtsverbandes vom 10. Juni 2008 heißt es:
Wird weiterhin der Kaufkraftverlust seit 2003 in
Rechnung gestellt, so müsste der Regelsatz nach
aktuell zur Verfügung stehenden Daten zur Entwicklung der regelsatzspezifischen Lebenshaltungskosten auf 434 Euro angehoben werden, um
bedarfsdeckend zu sein.
({16})
Ich verstehe nicht, warum ihr so knickrig seid; ihr habt
doch nicht nur Schwaben in der Fraktion.
({17})
Im Übrigen ist das grüne Progressivmodell abzulehnen. Letztendlich ist das eine Förderung des Niedriglohnsektors. Dem können wir nicht zustimmen.
Jetzt komme ich zu unserer Position. Wir wollen eine
Anhebung der Vermögensfreigrenze auf 20 000 Euro.
Zurzeit liegt sie bei maximal 9 750 Euro. Die gegenwärtige Regelung bedeutet Armut per Gesetz. Die Betroffenen müssen ihr Geld verbrauchen, weil sie sonst keinen
Anspruch auf Leistungen haben. Es stimmt zwar, dass
man Vermögen berücksichtigen muss; mit 9 750 Euro ist
man aber sicherlich nicht reich. Es ist Willkür und eine
unzumutbare Gängelei und Quälerei, dass sich Menschen arm machen müssen, bevor sie Leistungen beziehen können.
Wir beziehen uns auf einen DIW-Wochenbericht aus
dem Jahr 2009, den Sie offensichtlich auch nicht zur
Kenntnis nehmen. Das Nettovermögen hat sich in dieser
Republik verändert, wird uns da attestiert. Das reichste
Zehntel der Bevölkerung ist noch reicher geworden und
das ärmste Zehntel noch ärmer. Das DIW sagt auch, woran das liegt - ich zitiere aus dem Bericht -: Die Regelungen zum Arbeitslosengeld II dürften „zu einem stärkeren Entsparen im Falle von Arbeitslosigkeit beigetragen“
haben, „da eigenes Vermögen zunächst weitgehend aufgezehrt werden muss, bevor diese staatliche Unterstützung in Anspruch genommen werden kann“. Hier hat Ihnen ein wissenschaftliches Institut bestätigt, dass Sie mit
Ihrer Regelung zum Schonvermögen und der Regelung,
dass zunächst Vermögen verbraucht werden muss, letztendlich zu einer ungleichen Vermögensverteilung in dieser Republik beitragen.
({18})
Deshalb könnten Sie wenigstens in dieser Frage unserem
Antrag zustimmen.
Da die Firma Schaeffler vorhin genannt worden ist:
Wie verhalten wir uns denn, wenn die Millionärin Frau
Schaeffler zur Bundesregierung kommt und 6 Milliarden Euro haben möchte, weil sie offensichtlich mit ihrem Geschäftsführer Geld verzockt hat? Was machen
wir denn dann? Sagen Sie ihr auch, sie solle erst einmal
ihren Pelzmantel ausziehen, weil sie sonst nichts bekomme, wie Sie das bei den Arbeitslosen machen?
({19})
Sagen Sie auch ihr, sie solle sich eine kleinere Wohnung
nehmen?
({20})
Hier geht es nicht um 351 Euro im Monat, sondern um
Milliarden. Ich sage Ihnen: Sie behandeln die Menschen
in diesem Land ungleich, und das akzeptieren die Menschen nicht mehr.
({21})
Ich möchte deutlich sagen - ich habe recherchiert und
Folgendes festgestellt -: Die INA-Holding Schaeffler KG
kommt ihrer Verpflichtung, den Jahresabschluss zu publizieren, nicht nach. Sie veröffentlichen noch nicht einmal, was sie verdienen.
({22})
Trotzdem erhalten sie mit der Frage, wie viele Millionen
sie überwiesen bekommen, Zugang zur Bundesregierung. Bei einer solchen Ungleichbehandlung werden die
Menschen sagen: Das ist ein Staat, den wir nicht mehr
akzeptieren. Ihr Verhalten führt genau dazu, übrigens
auch das eine oder andere Urteil über Steuerflüchtlinge.
Ich kann nur sagen: Ändern Sie diese Politik! Die einen
müssen sich wegen 351 Euro arm machen; wenn es um
Milliarden geht, sorgen Sie aber nicht dafür, dass die
Leute ihrer gesetzlichen Verpflichtung nachkommen.
Wir bleiben dabei: Hartz ist Schikane und Willkür.
Deswegen ist es richtig, dass dieses Gesetz nach wie vor
nach jemandem benannt ist, der ein vorbestrafter Gesetzesbrecher ist, nämlich nach Herrn Hartz. Genau so ist es
richtig.
({23})
Wir wollen die Anhebung der Regelsätze. Wir wollen
eigenständige, bedarfsdeckende Regelsätze für Kinder
und Jugendliche. Wir wollen, dass die Zumutbarkeit von
Arbeit anders geregelt wird. Wir wollen, dass Arbeit anständig entlohnt wird und die 1-Euro-Jobs sofort aufhören; wir wollen stattdessen sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung. Mit Bedarfsgemeinschaften muss Schluss
sein. Jeder Mensch muss einen eigenen Anspruch auf
Leistungen haben.
({24})
Kürzungen von Leistungen unter das Existenzminimum
entsprechen nicht der Würde des Menschen und müssen
aufhören.
({25})
Wir fordern in diesem Antrag die Erhöhung des
Schonvermögens. Außerdem fordern wir: Weg mit
Hartz IV. Dabei bleibt es.
({26})
Der Kollege Stefan Müller hat das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Ernst, ich muss schon sagen: Das, was Sie hier wieder abgeliefert haben, ist - man erwartet es von Ihnen
nicht anders - unterirdisch.
({0})
Vor allem die Art und Weise, wie Sie hier über Familienunternehmen reden - ich will überhaupt nicht entschuldigen, was bei der INA-Holding abgelaufen ist; dass
man sich dort vielleicht verspekuliert hat, will ich nicht
in Abrede stellen -,
({1})
ist schlichtweg unanständig. Ich wünschte mir, dass
noch mehr Unternehmen dem Standort Deutschland die
Treue halten würden, wie die Familie Schaeffler es
schon über Jahrzehnte tut. Ich lade Sie gern in meinen
Wahlkreis ein. Halten Sie dort bitte die gleiche Rede und
erklären Sie den Beschäftigten - allein in meinem Wahlkreis sind es 10 000 -, was passieren wird, wenn man
der Familie Schaeffler und der INA-Holding nicht hilft.
({2})
Herr Ernst, unmöglich!
({3})
Nun dachte ich, dass Sie, Herr Ernst, und Ihre Abteilung hier alleine für den Klassenkampf zuständig sind.
Aber es ist leider so, dass Ihnen etwas Konkurrenz bei
den Grünen erwächst; das ist gewissermaßen Konkurrenz von rechts. Wenn man sich Ihren Antrag durchliest,
Herr Kurth, und sich anhört, was Sie hier zu sagen haben, dann kann man es nicht anders bezeichnen.
({4})
Stefan Müller ({5})
Herr Kollege Schiewerling hat schon zu Recht darauf
hingewiesen, dass der Inhalt Ihres Antrags mit dem, was
die Überschrift verheißt, leider nicht viel zu tun hat.
Zunächst einmal haben Sie recht. Das Jahr 2009 wird
sicherlich das Jahr der Wirtschaftskrise sein. Jedenfalls
sind sich alle Experten einig, dass wir in diesem Jahr
eine Rezession bekommen, im schlimmsten Falle den
größten Absturz seit 60 Jahren, seit Bestehen der Bundesrepublik. Klar ist, dass die Schönwetterperiode der
vergangenen Jahre mit steigenden Wachstumsraten, sinkenden Arbeitslosenzahlen und sprudelnden Steuereinnahmen erst einmal vorbei sein wird. Klar ist auch, dass
sich in unserem Land Verunsicherung breit macht; ich
denke, da sind wir uns einig. Es gibt Verunsicherung bei
den Arbeitnehmern, die heute nicht wissen, ob sie ihren
Arbeitsplatz behalten werden können, bei den Unternehmern, die nicht wissen, ob ihr Betrieb die Krise übersteht, bei jungen Menschen, die nicht wissen, ob sie,
wenn sie die Schule abschließen oder ihr Studium beenden, einen Ausbildungsplatz oder einen Arbeitsplatz bekommen, und bei der älteren Generation, die nicht weiß,
ob ihre Altersversorgung noch sicher ist. Das bedeutet,
dass die Krise, der wir uns in diesem Jahr stellen müssen, alle bestehenden Herausforderungen wie Globalisierung, Demografie und Klimawandel sicherlich verstärken wird. Aber ich bitte inständig darum, dass wir
uns jetzt keinen Überbietungswettbewerb mit immer
schlechteren Prognosen abliefern, sondern dass wir uns
gemeinsam darauf einstellen, dass wir auf diese Krise reagieren müssen und dass Konsequenzen gezogen werden
müssen.
Ich finde, dass wir in Deutschland gute Gründe haben, mit Mut und Zuversicht in die Zukunft, vor allen
Dingen in das Jahr 2009 zu blicken. Wir haben gut aufgestellte Unternehmen. Wir haben gut ausgebildete, motivierte Arbeitnehmer. Wir haben in den vergangenen
Jahren als Große Koalition die nötigen Weichenstellungen zur Modernisierung dieses Landes vorgenommen.
All das wird dazu beitragen, dass wir diese Krise besser
überstehen. Wir sollten uns nicht von Untergangsszenarien irre machen lassen.
({6})
Herr Kurth, Sie haben davon gesprochen, dass dies
eine konjunkturelle Krise ist.
({7})
Ich möchte Ihnen ausdrücklich widersprechen. Diese
Krise ist nicht konjunkturbedingt, sondern ist eine Auswirkung der Finanzmarktkrise. Das will ich an dieser
Stelle anmerken. Ich denke, wir alle haben uns in den
schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können, was
im Zusammenhang mit dieser Finanzmarktkrise international abgelaufen ist. Eine explosive Mischung aus billigem Geld, unverantwortlicher Kreditvergabe, Leichtgläubigkeit, mangelndem Risikobewusstsein - was auch
immer Sie anführen wollen - zusammen mit einem übersteigerten Streben nach schnellen und immer höheren
Gewinnen haben diese Entwicklung überhaupt erst möglich gemacht.
Ich sage ganz deutlich: Das, was im letzten Jahr passiert ist, darf nicht ohne Konsequenzen bleiben.
({8})
Die Finanzmarktkrise war nicht die Folge von Staatsversagen
({9})
oder des Versagens unserer sozialen Marktwirtschaft,
({10})
sondern das Ergebnis einer Verletzung ethischer bzw.
moralischer Grundlagen.
({11})
Deswegen ist es wichtig, dass wir reagieren. Die internationalen Finanzmärkte brauchen Spielregeln, und die
Bundesrepublik Deutschland ist gut beraten, die Entwicklung solcher Spielregeln auf europäischer und internationaler Ebene einzufordern.
({12})
Die Große Koalition leistet mit dem Konjunkturpaket einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung der
Wirtschafts- und Finanzmarktkrise. Es besteht aus einer
klugen Mischung aus staatlichen Investitionen auf der
einen Seite und der Stärkung der Binnennachfrage auf
der anderen Seite. Das Ziel ist klar: Wir wollen die Arbeitsplätze in Deutschland erhalten. Bei allen Maßnahmen, die wir in diesem Jahr durchführen, ist die Sicherung der Arbeitsplätze das übergeordnete Ziel.
Gleichzeitig wollen wir diese Krise als Chance nutzen;
Kollege Stöckel hat schon darauf hingewiesen. Wir wollen Investitionen in die Zukunft tätigen. Wir wollen aber
auch die Steuern und Abgaben dauerhaft senken.
Im Rahmen des Investitionsprogramms werden wir
eine deutliche Erhöhung des Umfangs staatlicher Investitionen vornehmen. In den Jahren 2009 und 2010 wird
sich das Volumen auf 18 Milliarden Euro belaufen.
Herr Kurth, die Grünen kritisieren in ihrem Antrag,
das Prinzip der Politik der Bundesregierung laute „mehr
Beton statt mehr Gerechtigkeit“. Außerdem führen Sie
darin aus, die Bundesregierung verfolge das Ziel, für
„makellose Bundesstraßen“ zu sorgen. Ich empfehle Ihnen, einen Blick in unseren Gesetzentwurf - mittlerweile
dürfte er auch Ihnen vorliegen ({13})
zu werfen.
({14})
Zwei Drittel der Investitionen, die getätigt werden sollen, fließen in Bildungseinrichtungen: in Kindergärten,
Schulen und Hochschulen.
Stefan Müller ({15})
({16})
Ein Drittel der Investitionen fließt in Infrastrukturmaßnahmen: in Straßen, Schienen, Krankenhäuser, den Städtebau und die Breitbandversorgung.
({17})
Da können Sie doch nicht sagen, wir würden in Beton
statt in Gerechtigkeit investieren. Herr Kollege Kurth,
natürlich geht es uns auch darum, die Zukunftschancen
junger Menschen zu verbessern.
({18})
Von diesen Maßnahmen wird nicht nur die Bauwirtschaft profitieren, sondern davon werden aufgrund verbesserter Lernbedingungen auch die Schülerinnen und
Schüler sowie die Studentinnen und Studenten profitieren.
Weil Sie in Ihrem Antrag das Stichwort „Gerechtigkeit“ erwähnen, sage ich Ihnen: Unsere Maßnahmen
sind auch ein Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit;
denn in Zukunft können die Bildungseinrichtungen eine
bessere Infrastruktur anbieten. Daher wären Sie gut beraten, die Kritik, die Sie in Ihrem Antrag haben verlautbaren lassen, in Zukunft nicht zu wiederholen.
Unser zweites Ziel ist die Stärkung der Binnennachfrage. Uns war klar, dass man mit einem solchen
Konjunkturpaket nicht nur die Wirtschaft unterstützen
darf. Herr Ernst, es geht uns ausdrücklich nicht darum,
nur die Unternehmen zu fördern, sondern auch darum,
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dauerhaft zu
entlasten. Das ist auch notwendig, weil ihre finanziellen
Spielräume immer geringer werden. Das liegt allerdings
nicht daran, dass die Bruttolöhne der Arbeitnehmer zu
niedrig sind, sondern daran, dass die Abzüge zu hoch
sind und das, was ihnen von ihrem Gehalt netto übrig
bleibt, immer weniger ausreicht, um den Lebensunterhalt zu decken.
({19})
Das ist das eigentliche Problem, das wir lösen müssen.
({20})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst zulassen?
Bitte.
Bitte, Herr Ernst.
Herr Kollege, Sie haben kritisiert, dass ich das Familienunternehmen Schaeffler angegriffen habe.
Erstens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass es Pressemeldungen gibt, in denen zu lesen ist, dass
das Privatvermögen von Frau Schaeffler in Höhe von
6 Milliarden Euro offensichtlich nicht zur Sanierung des
Unternehmens verwendet werden soll, sondern dass man
auf den Staat zurückgreifen will, obwohl das Unternehmen über ein Eigenkapital von 300 bis 600 Millionen
Euro verfügt?
Zweitens. Sind Sie bereit, zu akzeptieren, dass die
Menschen, die, bevor sie staatliche Hilfen in Anspruch
nehmen können, ihr gesamtes privates Vermögen offenlegen und sogar aufbrauchen müssen, nicht amüsiert
sind, einen solchen Vorgang zur Kenntnis nehmen zu
müssen?
({0})
Herr Ernst, ich nehme gerne zur Kenntnis, dass Sie
nicht bereit sind, andere Umstände zur Kenntnis zu nehmen. Ihr Lernbedarf ist sicherlich noch ausbaufähig.
({0})
Um auf Ihre konkreten Fragen zu sprechen zu kommen: Ich kenne die Kontoauszüge und die Vermögensaufstellung von Frau Schaeffler nicht.
({1})
Ob das Privatvermögen von Frau Schaeffler, wie Sie erwähnt haben, 6 Milliarden Euro beträgt, weiß ich nicht.
Ich unterstelle aber, dass diese 6 Milliarden Euro nicht
auf irgendwelchen Konten liegen, sondern im Unternehmen investiert sind. Sie müssen einmal zur Kenntnis
nehmen, dass die Gewinne dieser Firma nicht nur auf
verschiedene Konten überwiesen, sondern reinvestiert
wurden; ich glaube, dass ich das ein bisschen beurteilen
kann. Das ist die Art und Weise, wie Familienunternehmen in Deutschland agieren. Dass Ihnen wegen der Mitbestimmung und wegen vielem anderem, mit dem Sie
hineinregieren können, große Kapitalgesellschaften lieber sind, ist mir klar.
({2})
Ich sage noch einmal: Ich bin stolz darauf, dass wir Familienunternehmer haben, die ihrer sozialen Verantwortung gerecht werden, indem sie Arbeitsplätze in
Deutschland zur Verfügung stellen.
({3})
Herr Kollege, möchten Sie auch eine Zwischenfrage
von Frau Enkelmann zulassen?
Bitte.
Herr Kollege, meinen Sie nicht, dass Unternehmen,
bevor öffentliche Gelder an sie fließen, eine Bedürftigkeit nachweisen sollten, dass also ihre Wirtschaftlichkeit
zu prüfen ist?
({0})
Frau Kollegin Enkelmann, ich habe meine Informationen genau wie Sie aus der Zeitung. Den Medien zufolge werden Gespräche geführt. Das Ergebnis dieser
Gespräche kennen weder Sie noch ich. Ich gehe davon
aus, dass die Eigentümerfamilie ihrer Verantwortung gerecht wird und auch Privatvermögen einsetzen wird.
({0})
Zurück zum Antrag der Grünen. Herr Kurth, Sie sagen, dass Steuersenkungen nichts bringen, weil die
Hälfte der Bevölkerung gar keine Steuern zahlt. Was ist
das für eine Denkweise? Weil Schüler und Jugendliche
keine Steuern zahlen, weil Arbeitslose keine Steuern
zahlen, weil die meisten Rentner keine Steuern zahlen,
weil viele Arbeitnehmer keine Steuern zahlen, soll man
die, die Steuern zahlen, nicht entlasten? Das muss man
nicht verstehen.
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth
zulassen? - Bitte schön.
({0})
Wenn Sie nach Schaeffler fragen, Herr Kurth, lade ich
Sie einmal nach Herzogenaurach ein.
Kollege Müller, ist Ihnen erinnerlich, dass ich den
Bundesfinanzminister zitiert habe, der deutlich sagte,
dass bei Einkommen oberhalb von 3 500 Euro netto die
Sparquote außerordentlich hoch ist und insofern anzunehmen ist, dass eine Erhöhung des Nettoeinkommens
durch eine Steuersenkung keineswegs zu mehr Konsum
und einer Erhöhung der Binnennachfrage führt, sondern
zusätzlich gespart wird? Was sagen Sie zu dieser Auffassung des Bundesfinanzministers?
({0})
Wenn der Bundesfinanzminister hier seine persönliche Auffassung vertritt, muss ich mich dieser nicht unbedingt anschließen.
({0})
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Bei den Steuersenkungen, für die sich die Union einsetzt, geht es nicht allein
um eine Stärkung der Binnennachfrage, sondern auch
um eine Selbstbeschränkung der Politik. Wir wollen die
Steuern und Abgaben dauerhaft senken. Mein Verständnis von Politik ist nicht, dass der Staat den Menschen
immer mehr abnehmen sollte, um es umzuverteilen.
Mein Verständnis von Politik ist, dass der Staat den
Menschen nur das abnehmen sollte, was er braucht, um
seine Aufgaben zu finanzieren.
({1})
In diesem Sinne will ich den Einstieg in Steuer- und Abgabensenkungen verstanden wissen. Ich meine, die Bürgerinnen und Bürger können besser entscheiden, was mit
ihrem Geld passieren soll, als es der Staat kann.
({2})
Darum geht es mir, Herr Kollege Kurth.
({3})
Einen Punkt im Antrag der Grünen kann ich unterstützen, nämlich die Senkung der Sozialabgaben. Damit haben Sie recht. Aber ich darf Sie daran erinnern,
dass die Große Koalition die Sozialabgaben gesenkt hat
wie keine Regierung vor ihr.
({4})
Zum Beispiel hat sie den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 Prozent auf 2,8 Prozent gesenkt. Das ist
eine Entlastung von 25 Milliarden Euro. Was kritisieren
Sie also? Dieses Konjunkturpaket ist ein Bündel von
Maßnahmen, um der Krise entgegenzuwirken, aber mit
Augenmaß und ohne Panik.
Die Grünen sprechen von Gerechtigkeitslücken und
von Armut.
Herr Kollege, es gibt noch einen Wunsch nach einer
Zwischenfrage, und zwar seitens der Kollegin
Haßelmann.
Das würde meine Redezeit verlängern. Vielen Dank!
Bitte schön.
Sie haben gerade eindringlich die Steuersenkungen
verteidigt und gleichzeitig von Wohltaten für die Kommunen gesprochen. Ist Ihnen bewusst, dass das IMK
ausgerechnet hat, dass die in den Konjunkturpaketen
vorgesehenen Steuersenkungen für die Kommunen
Mindereinnahmen von 1,9 Milliarden Euro bedeuten?
Wie wollen Sie das zusammenbringen? Auf der einen
Seite feiern Sie das Konjunkturpaket als das Paket für
die Kommunen, auf der anderen Seite wissen Sie, dass
die Steuersenkungen, die Sie verteidigen, für die Kommunen Milliardenausfälle bedeuten.
({0})
Wenn Sie sich dieses Konjunkturpaket einmal genau
und vor allem in seiner Gesamtheit anschauen, also nicht
immer nur einzelne Punkte herausgreifen,
({0})
dann werden Sie feststellen, dass die Kommunen unter
dem Strich mehr Geld für kommunale Investitionen zur
Verfügung haben werden, sodass die Ausfälle, die dort
vielleicht entstehen werden,
({1})
durchaus ausgeglichen werden können. Insofern sehe ich
dieses Problem am Ende nicht.
Ich sage noch einmal: Es geht bei den Steuersenkungen sowohl darum, die Binnennachfrage zu stärken, als
auch darum, jetzt damit anzufangen, die Menschen wieder zu entlasten. Wir mussten 2005 einen Bundeshaushalt übernehmen, den auch Sie von den Grünen mitzuverantworten hatten und der in einem katastrophalen
Zustand war, weswegen wir den Menschen gesagt haben, dass wir ihnen Belastungen nicht ersparen können.
Wir haben ihnen gleichzeitig aber immer auch das Signal gegeben, dass es Entlastungen geben muss und geben wird. Ich frage Sie: Wann, wenn nicht in diesem
Jahr, in dem wir wirtschaftliche Probleme haben, sollen
wir denn über Entlastungen nachdenken? Insofern ist es
richtig, dass wir das tun; das ist für die Kommunen, so
denke ich, durchaus auch verantwortbar.
({2})
Frau Präsidentin, ich fasse zusammen: Gerade in Krisenzeiten braucht dieses Land eine Regierung, die die
Herausforderungen mit Entschlossenheit, aber ohne Panik angeht.
({3})
Diese Bundesregierung geht diesen Weg. Das Konjunkturpaket, das wir auf den Weg bringen werden, ist richtig
und ausgewogen. Damit tragen wir den verschiedenen
Problemlagen dieser Krise Rechnung. Es ist der richtige
Weg, um diesen Abschwung abzumildern, Arbeitsplätze
zu erhalten und damit auch soziale Sicherheit zu gewährleisten.
({4})
Jetzt hat die Kollegin Hiller-Ohm für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen! Es ist das
gute Recht der Opposition, Regierungshandeln, also
auch unser Konjunkturpaket, zu kritisieren. Ich erwarte
von Ihrer Seite dann aber auch echte Alternativen. Die
bleiben Sie uns jedoch schuldig.
Sie wollen die Konjunkturkrise mit einem Antrag von
gerade einmal anderthalb Seiten, auf denen vier Forderungen stehen, bewältigen und damit obendrein noch die
Gerechtigkeitslücke in Deutschland schließen.
({0})
Wenn das zumindest innovative Vorschläge wären! Was
Sie uns jedoch vorlegen, ist nichts Neues und wird nicht
zur Bewältigung der Krise beitragen.
({1})
Zu Ihrer ersten Forderung. Sie wollen eine Aufstockung der Sozialleistung für Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger um 69 Euro und so die Binnennachfrage in Deutschland ankurbeln. Bei dem Betrag stützen
Sie sich auf die Berechnung des Deutschen Paritätischen
Wohlfahrtsverbandes und erwecken den Eindruck, als
habe dieser das objektiv wahre Niveau eines soziokulturellen Existenzminimums berechnet.
({2})
Es gibt hier aber nicht eine „einzige Wahrheit“; denn natürlich hat auch das Ministerium den geltenden Regelsatz sehr genau und in einem transparenten Verfahren errechnet und begründet.
Zurzeit werden die Regelsätze vom Ministerium auf
Grundlage der neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe überprüft.
({3})
Mit dem Ministerium besteht Einvernehmen, dass der
Zeitraum zwischen zwei Stichproben - das sind in der
Regel fünf Jahre - zu lang ist. Wir wollen kürzere Abstände, um die Regelsätze besser an die tatsächlichen
Bedarfe der Leistungsempfänger anpassen zu können.
Ich halte es jedoch für falsch, das gewählte Verfahren
generell über Bord zu werfen.
({4})
Ich erinnere: In der letzten Legislaturperiode haben
wir Sozialdemokraten gemeinsam mit Ihnen, den Grünen, die damalige Arbeitslosenhilfe abgeschafft und
durch das Arbeitslosengeld II ersetzt.
({5})
Wir haben erwerbsfähige Sozialhilfeempfängerinnen und
-empfänger aus der Sozialhilfe herausgeholt
({6})
und ihnen Fördermöglichkeiten und Ansprüche über die
Sozialgesetzbücher II und III eröffnet, die sie vorher
nicht hatten.
({7})
Gemeinsam mit Ihnen haben wir hierzu die gesetzlichen
Rahmenbedingungen festgelegt. Wir haben das aus gutem Grund getan. Unser gemeinsames rot-grünes Anliegen war es, durch die Arbeitsmarktreformen Menschen
aus dem Leistungsbezug heraus in Arbeit zu bringen und
ihnen Perspektiven für ein eigenständiges Leben ohne
staatliche Transferleistungen zu bieten.
({8})
Das ist uns gelungen. Die sinkenden Arbeitslosenzahlen
sprechen für sich.
Gute Arbeit und faire Löhne für alle erwerbsfähigen
Menschen sind eine sehr wichtige Grundlage für mehr
Gerechtigkeit und Chancen in unserer Gesellschaft. Das
gilt insbesondere in Krisenzeiten. Gerade jetzt müssen
wir alles tun, um Arbeit zu erhalten.
({9})
Nicht durch höhere staatliche Sozialleistungen, sondern
durch den Erhalt von Arbeit helfen wir den Menschen in
der Konjunkturkrise und stärken gleichzeitig den Binnenmarkt. Das ist der richtige Weg. Deshalb ist es richtig, dass Minister Scholz gemeinsam mit uns den Bezug
des Kurzarbeitergelds verlängert und dies auch auf die
Zeitarbeitsbranche ausgeweitet hat und die Weiterbildung stark fördert.
Sie fordern in Ihrem Antrag gerechte Löhne und fairen Wettbewerb. Wir setzen dies bereits politisch um.
({10})
Es ist ein großer Erfolg, dass es uns gerade jetzt gelungen ist, sechs weitere Branchen mit Mindestlöhnen abzusichern. Insgesamt haben wir damit 13 wichtige Branchen erfasst. Die Zeitarbeit wird in Kürze folgen.
({11})
- Lieber Herr Kurth, wir haben mit der Union im Übrigen sehr viel mehr erreicht, als uns mit Ihnen möglich
war.
({12})
Wir werden nicht lockerlassen. Unser Ziel bleibt ein
einheitlicher flächendeckender Mindestlohn. Das ist die
beste Lösung gegen Lohndumping und für mehr Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt.
({13})
Gute Arbeit und gerechte Löhne helfen übrigens auch
den Kindern von erwerbsfähigen Menschen im Sozialhilfebezug. Das größte Armutsrisiko ist nämlich die Arbeitslosigkeit. Die Armutsrisikoquote von Erwerbslosen liegt
mit 43 Prozent mehr als dreimal höher als die der Gesamtbevölkerung. Kinder aus armen Familien haben im
Vergleich zu Gleichaltrigen aus finanziell gesicherten
Verhältnissen ein doppelt so hohes Risiko, in ihrer sozialen, gesundheitlichen und auch sprachlichen Entwicklung beeinträchtigt zu werden. Deshalb ist es richtig,
dass wir gerade auch Alleinerziehenden einen besseren
Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen.
({14})
Wir legen ein 13 Milliarden Euro schweres Konjunkturprogramm speziell für die Kommunen auf. Mit diesem Programm wird sich die Infrastruktur im Bildungsund Betreuungsbereich spürbar und nachhaltig verbessern. Ein derartiges Programm hat es in Deutschland bislang noch nicht gegeben. Wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten haben es auf den Weg gebracht. Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, lehnen
es ab. Das ist bedauerlich;
({15})
denn mit diesem Programm schaffen wir vor Ort und vor
allen Dingen ganz konkret bessere Bedingungen, mehr
Gerechtigkeit und mehr Chancengleichheit für unsere
Kinder.
({16})
Sie wollen die Gerechtigkeitslücke durch eine Neubemessung der Kinderregelsätze schließen. Das ist eine der
vier Forderungen in Ihrem Antrag. Dieses Anliegen haben wir hier schon häufig diskutiert.
Unsere Position ist klar: Auch wir halten das derzeitige Verfahren für nicht ausreichend. Wir haben uns für
die Ermittlung der Eckregelsätze für erwachsene Leistungsbezieher gemeinsam mit Ihnen auf das Instrument
der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe geeinigt.
Dieses Verfahren muss auch für betroffene Kinder gelten.
({17})
Das Ministerium hat in einer Sonderstudie die Kinderbedarfe auf Grundlage der alten Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe unter die Lupe genommen und
festgestellt, dass nachgebessert werden muss. Das Sozialgeld für die 6- bis 13-Jährigen hat sich als zu niedrig
erwiesen und wird deshalb ab dem 1. Juli dieses Jahres
von 60 auf 70 Prozent des Eckregelsatzes für erwachsene Leistungsbezieher, also um 35 Euro, aufgestockt.
Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass wir diese
Erhöhung mit unserem Koalitionspartner so schnell
durchbekommen würden. Danke schön an dieser Stelle
auch an Sie.
({18})
Hier ist uns im Übrigen die Konjunkturkrise zu Hilfe
gekommen. Die Erhöhung des Kinderregelsatzes ist
Teil des Konjunkturprogramms II und wird die Situation
von rund 820 000 Kindern verbessern. Wir kommen damit auch den jüngsten Forderungen des Bundessozialgerichts entgegen, das übrigens nicht die Höhe der Regelsätze für Kinder, sondern die pauschale Ableitung vom
Erwachsenenregelsatz als verfassungswidrig beurteilt
hat.
({19})
Ein weiterer wichtiger Schritt hin zu mehr Bildungsgerechtigkeit ist uns gelungen: Wir haben das Schulbedarfspaket in Höhe von 100 Euro pro Schuljahr durchgesetzt. Außerdem erhalten alle Familien pro Kind
einmalig 100 Euro extra.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, eines ist klar: Mit Ihrem Vierpunkteantrag schließen Sie
die von Ihnen beklagte Gerechtigkeitslücke in Deutschland nicht. Das wird auch der Linksfraktion mit ihrem
Antrag mit dem Titel „Sozialen Absturz von Erwerbslosen vermeiden - Vermögensfreigrenzen im SGB II anheben“ nicht gelingen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass
ein Selbstbehalt von 20 000 Euro pro Person in einer Bedarfsgemeinschaft, unabhängig vom Alter, Akzeptanz in
unserer Gesellschaft finden wird. Eine vierköpfige Familie könnte dann 80 000 Euro besitzen und trotzdem Sozialleistungen beziehen. Das muss man erst einmal vermitteln. Wie kommen Sie eigentlich auf 20 000 Euro?
Eine Begründung für diesen Betrag finden wir in Ihrem
Antrag nicht. Hier geht es wohl wieder einmal nach Ihrem altbekannten Motto: Darf es ein bisschen mehr sein?
({20})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Es ist nicht so, Herr Ernst, dass wir überhaupt keinen
Selbstbehalt für Bezieher von Arbeitslosengeld II vorgesehen haben.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. - Wir haben Freigrenzen in vernünftiger Höhe eingezogen. Selbstgenutztes Wohneigentum und ein Auto
zum Beispiel werden nicht angerechnet. Auch bei der
Altersvorsorge haben wir komfortable Freibeträge gewährt. Ich denke, das ist sehr gut.
({0})
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
({0})
Ja. - Meine Damen und Herren, Sie sehen, die SPD
hat die richtigen Konzepte. Wir werden mit diesen Konzepten die Krise bewältigen; da bin ich zuversichtlich.
Sie bleiben hinter Ihrem Anspruch deutlich zurück. Ihr
Antrag ist - so will ich es einmal sagen - wirklich nicht
zielführend, wenn Sie damit Armut, Arbeitslosigkeit und
Ungerechtigkeit in Deutschland verhindern wollen. Das
ist der falsche Weg, meine Damen und Herren von der
Linken. Wir sind auf dem richtigen Weg. Unterstützen
Sie uns! Dann kommen wir voran.
({0})
Der Kollege Dr. Erwin Lotter hat jetzt für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Mein Kollege
Peter Haustein hat sich mit dem Antrag der Grünen befasst. Ich werde mich daher auf den Antrag der Linksfraktion konzentrieren.
({0})
Ich habe Ihren Vorschlag zur Ausweitung der Vermögensfreigrenzen für Hartz-IV-Empfänger zweimal durchgerechnet; denn beim ersten Mal dachte ich: Das muss
ein Irrtum sein. Eine junge Familie mit zwei Kindern
zum Beispiel, also eine Bedarfsgemeinschaft von vier
Personen, dürfte nach dem Vorschlag der Linken bis zu
80 000 Euro Vermögen anrechnungsfrei besitzen und
trotzdem für alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft
Hartz IV beziehen. Das, meine Damen und Herren der
Linken, ist ein groteskes und bizarres Verständnis von
gesellschaftlicher Solidarität.
({1})
Die Leistungen nach SGB II, also Hartz IV, werden
von der Gemeinschaft der Steuerzahler aufgebracht.
({2})
In Ihrem Verständnis, liebe Kollegen und Kolleginnen
der Linken, sind Steuerzahler offensichtlich alle Großverdiener. In der Realität sieht das aber anders aus. Viele
Menschen mit geringem Einkommen, wenn auch nur
knapp über dem steuerlichen Grundfreibetrag, zahlen
Steuern, aus denen auch Hartz IV finanziert wird.
({3})
Wollen Sie wirklich, dass Familien, die nur über ein geringes Arbeitseinkommen und über wenig bis gar kein
Vermögen verfügen, vermögende Bezieher von Hartz IV
mitfinanzieren? Ist das Ihr Verständnis von Solidarität?
({4})
Bleiben wir bei dem Beispiel. Wenn eine vierköpfige
Bedarfsgemeinschaft ein anrechnungsfreies Sparvermögen in Höhe von 75 000 Euro besitzt, würde dieses Kapital bei 5 Prozent Verzinsung über 300 Euro Zinsen
monatlich abwerfen. Sollen auch diese Zinsen anrechnungsfrei bleiben? Es gibt nur eine Erklärung für diese
absurde Politik der Linken: Sie wollen die Gesellschaft
ganz bewusst spalten.
({5})
Sie sind in Wahrheit nicht gegen Hartz IV. Vielmehr nutzen Sie die Bedürftigkeit der Menschen ganz gezielt für
Ihre Propaganda aus.
({6})
Herr Lotter, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst zulassen?
Bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege, ich will auf die Studie des DIW hinweisen und fragen, ob Sie diese zur Kenntnis genommen
haben. Dort heißt es, dass von 2002 bis 2007 beim untersten Zehntel, also bei den 10 Prozent der Bevölkerung, die in der untersten Vermögens- und Einkommenssituation leben, nicht nur kein Vermögen vorhanden war,
sondern dass sich das nicht vorhandene Vermögen sogar
verringert hat. Diese Menschen haben eine negative Vermögenssituation, die von minus 1,2 auf minus 1,6 Prozent gesunken ist. Mit anderen Worten: Diese Menschen
haben mehr Schulden als zuvor. Das DIW schreibt: Unter den Arbeitslosen wuchs ihr Anteil, also der Anteil
derjenigen, die kein Vermögen haben, deutlich an, von
41 auf 49 Prozent. Glauben Sie nicht, dass sich die Betroffenen, die nun Ihre Rede hören, angesichts dieser Realitäten fragen, von welchen 80 000 Euro Sie überhaupt
reden?
({0})
Lieber Herr Kollege Ernst, ich rate Ihnen, die Papiere,
die Sie zitieren, vollständig zu lesen; denn das DIW
kommt in der von Ihnen zitierten Studie zu dem völlig
richtigen Fazit, dass das Hauptproblem unter Hartz-IVBeziehern die unterdurchschnittlich niedrige Qualifikation für den Arbeitsmarkt ist. Jeder Dritte hat keine Berufsausbildung, jeder Fünfte keinen Hauptschulabschluss.
In jedem Hartz-IV-Bezieher sehen Sie einen potenziellen Wähler, der Ihrer Propaganda hinterherläuft. Sie
wollen, dass sich die Menschen in Hartz IV einrichten.
Deswegen verwundert es mich auch nicht, dass Sie mit
Ihrem Vorschlag den Kreis der Hartz-IV-Anspruchsberechtigten deutlich ausweiten wollen. Das passierte,
wenn die Vermögensfreigrenzen hochgesetzt würden.
({0})
Diese Rechnung wird aber nicht aufgehen. Die Menschen wollen nicht Hartz IV. Die Menschen wollen nicht
die Linke. Die Menschen wollen Arbeit.
({1})
Herr Kollege Ernst, das sind doch Neiddebatten, die Sie
hier führen. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Solidarität gilt nicht nur von Reich nach Arm. Solidarität bedeutet, dass alle solidarisch sind. Das heißt auch, dass steuerfinanzierte Unterstützung durch die Gesamtheit der
Gesellschaft erst dann bezogen werden kann, wenn die
eigene Leistungsfähigkeit erschöpft ist. Solidarität ist
nichts anderes als die gegenseitige Übernahme von Verantwortung. Aber für Eigenverantwortung waren die
Linken noch nie zu haben.
({2})
- Vor allem bei Ihnen, Herr Ernst.
Die bisherige Regelung der Vermögensfreigrenzen
staffelt diese nach Lebensalter. Das ist auch richtig so;
denn so wird die Lebensleistung der Menschen in einem
wirtschaftlich machbaren Umfang finanziell anerkannt.
Wer sein ganzes Leben etwas zurückgelegt hat, darf
mehr Vermögen anrechnungsfrei behalten als ein jugendlicher Hartz-IV-Empfänger, der vielleicht noch nie
gearbeitet hat.
({3})
Die FDP spricht sich deshalb für großzügige Freibeträge für Altersvorsorgevermögen aus. Auch RiesterRenten von Grundsicherungsempfängern sollen großzügig - begrenzt - anrechnungsfrei bleiben. Das ist verantwortliche Sozialpolitik, die die Eigenverantwortung der
Menschen stärkt und respektiert.
Wie gesagt, das Hauptproblem ist die Bildung. Genau
dort müssen wir ansetzen. Wir müssen in Bildung, Bildung und nochmals Bildung investieren. Das ist der
beste Weg, um Arbeitslosigkeit und niedrige Einkommen zu verhindern.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt hat Maria Michalk das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Erneut beschäftigt uns
heute Vormittag hier ein Antrag vom Bündnis 90/Die
Grünen und ein Antrag von den Linken, in denen von
Ausgrenzung, von Armut, von mangelnder sozialer Gerechtigkeit und vom sozialen Abstieg gesprochen wird.
({0})
Die Argumente sind nicht neu. Sie werden wie beim
Kartenspielen immer wieder neu gemischt. Ich sage Ihnen - das haben die Vorredner schon bestätigt -: Diesmal haben Sie echt ein schlechtes Blatt erwischt, weil
die Überschriften Ihrer Anträge und die Inhalte nicht zusammenpassen. Dieses Spiel können Sie nicht gewinnen.
Ich möchte uns an einen Grundsatz erinnern, über den
wir uns hier im Hohen Haus wirklich immer einig sind,
nämlich: Alle Menschen sollen in Würde leben. Würde
umfasst aber viele Aspekte. Einer ist eine ausreichende
Finanzausstattung zum täglichen Leben. Diese wird am
besten durch faire Teilhabe am gesellschaftlichen Wertschöpfungsprozess erreicht. Deshalb ist Arbeit so wichtig. Damit das auch in Zukunft so bleibt, haben wir trotz
der schwierigen Zeiten und der aktuellen Herausforderung in den zurückliegenden Tagen eine Menge von
Vorschlägen unterbreitet, die uns in die Zukunft führen
werden. Der Grundsatz, dass Lohneinkommen aus Beschäftigung immer besser als soziale Transferzahlungen
ist, gilt nach wie vor. Den müssen wir uns bei diesen Debatten vor Augen halten.
({1})
Deshalb konzentrieren wir uns auf den Erhalt der Arbeitsplätze, und deshalb ist die Generalkritik an unserem
Programm, das heute schon zur Debatte stand, absolut
unangebracht.
Wirtschaft und damit Arbeitsplätze entwickeln sich;
einmal geht es hoch, einmal herunter. Das hat die soziale
Marktwirtschaft so an sich. Diese Prozesse kann man gestalten. Zurzeit müssen wir eine besondere Herausforderung meistern. So sind zum Beispiel Lohnkostenvorteile der Arbeitgeber, die wir zum Beispiel im Osten
wegen der nach wie vor niedrigeren Tarifabschlüsse oder
wegen fehlender Tarifbindung haben, im Grunde genommen schon ein Thema; wir wissen aber heute aus der
Praxis, dass sich diese im täglichen Leben abschleifen.
Deshalb wird zunehmend wichtig, den Gestaltungsspielraum beim Fachkräftepotenzial zu nutzen. Bildung und
Qualifizierung bleiben hier ein grundsätzliches und immer wichtigeres Steuerinstrument.
({2})
Das hat direkten Einfluss auf die Einkommenssituation
und die Vermögensbildung. Wenn wir erleben, dass zunehmend mehr Leute in die wohlverdiente Altersruhe
gehen, als neue auf den Arbeitsmarkt strömen, was auch
ich vor Ort beobachten kann - das liegt an der demografischen Entwicklung -, dann ist das für die Zukunft ein
echtes Problem, dem wir uns stellen müssen. Um dem zu
begegnen, müssen wir branchenbezogen und punktgenau ausbilden und vermitteln.
Alle Menschen sollen in Würde leben. Dieser Grundsatz gilt auch für Leute, die ihr Einkommen erarbeiten
und davon anderen, Hilfsbedürftigen, etwas abgeben.
Das hat hier in den Debatten schon eine Rolle gespielt.
Ich will aber auf noch einen Punkt hinweisen. Wenn wir
das Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“, zu dem wir nach wie
vor stehen, derart strapazieren, wie es die Linken mit der
Forderung nach einer pauschalen Erhöhung des Grundfreibetrags tun, bestrafen wir vor allem die mittleren Einkommensschichten, die Leistungsträger unserer Gesellschaft. Das sind diejenigen, die zahlenmäßig die größte
Gruppe sind. Etwa 40 Prozent der Menschen im Osten
haben kein Vermögen, sagen die Statistiken, und rund
20 Prozent haben ein Vermögen bis zu 20 000 Euro.
Wenn also der Grundfreibetrag pauschal auf die von Ihnen geforderte Schongrenze von 20 000 Euro erhöht
wird, sind nach Ihrer Rechnung 60 Prozent der Ostdeutschen arm. Sie rechnen unser Land arm.
({3})
Damit kein Missverständnis aufkommt: Auch wir in der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion nehmen Berichte über
Wohlstandsverluste und die möglicherweise drohende
Altersarmut bei den unteren Einkommensgruppen sehr
ernst.
({4})
Obwohl wir aktuell vor großen Herausforderungen stehen, sind wir ein reiches Land.
({5})
Wohlstand, der arm macht - ist das nicht ein Paradox?
Arme und Reiche driften weiter auseinander, auch wenn
die Armen nicht ärmer werden, was die Dynamisierung
der Grundsicherung und die ständige Verfeinerung unserer sozialen Instrumente garantieren.
({6})
Aber die Anzahl der Armen wird größer, und das macht
uns unter demografischen Gesichtspunkten hellhörig.
Neben Arbeitslosigkeit ist das Zerbrechen von Familien oder einer Partnerschaft - darauf will ich in dieser Debatte noch hinweisen - der wichtigste Grund für
Armut.
({7})
Auch das ist wissenschaftlich nachgewiesen. Was zwei
gemeinsam noch ganz gut schultern können, das schaffen sie getrennt nicht mehr so gut. Bei gleichem Lebensstandard brauchen und verbrauchen vier Einpersonenhaushalte nachgewiesenermaßen mehr als ein
Vierpersonenhaushalt. Auf einem Band in der Küche
meiner schönen großen Familie steht folgender Spruch:
Tritt ein! Gieß Wasser in die Suppe hinein! Bist herzlich
willkommen! Guten Appetit! - In einer großen Familie
ist immer noch Platz; dort wird für jedes Mitglied Vorsorge getroffen. Wenn einer allein ist, hat er es schwer.
Diesen Prozess müssen wir bei all unseren Überlegungen berücksichtigen.
({8})
Unser materieller Wohlstand hat eine Lebensweise
hervorgebracht, die - das ist meine Behauptung - auch
auf Vergeudung angelegt ist, und viele verarmen darüber. Auf diese Dimension muss man bei der Armutsdebatte hinweisen. Jede Erhöhung von Sozialgeldzahlungen schafft neue Ansprüche auf ergänzende Leistungen,
vor allen Dingen im Niedriglohnbereich. Das trifft die
Menschen bei uns im Osten mit doppelter Wucht. Die
Zahl der älteren Menschen und damit die Zahl der Einpersonenhaushalte steigen; ich verweise in diesem Kontext auf das, was ich zuvor gesagt habe. Zum Beispiel
hat Sachsen seit 1990 über 250 000 Einwohner verloren.
Eine ganze Generation Frauen ist betroffen. 43 000 Kinder sind damit nicht in Sachsen geboren. Damit verbunden sind geringere Steuereinnahmen in der Zukunft. Die
Spielräume der Kommunen werden enger. Man könnte
weitere Konsequenzen aufzählen.
Diese kurzen Darlegungen sollen zeigen, dass wir
sehr wohl das Gesamtbild im Auge haben. Deshalb sind
unsere ergriffenen und jetzt noch zu beschließenden
Maßnahmen sehr wohl richtig. Wir werden auf diesem
Weg Schritt für Schritt weitergehen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller hat jetzt das
Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Seit nunmehr 90 Minuten
diskutieren wir über zwei Anträge, von denen ich persönlich sage: Beide haben eigentlich nicht so viel Debattenzeit verdient, weil sie wenig Substanz aufweisen.
({0})
Ich will das gern begründen und mich in der Argumentation vielen meiner Vorredner und Vorrednerinnen anschließen.
Das Beste am Antrag der Grünen ist in der Tat die
Überschrift; der Kollege Schiewerling wies zu Recht
darauf hin. Denn wer in diesem Haus wird schon gegen
Gerechtigkeit und Chancen und für Ausgrenzung und
Armut sein? Insofern haben wir beim Titel ganz zweifellos einen großen Konsens. Was kommt nach einer solchen Überschrift? Das ist wie bei Doktor Schiwago:
Nach dem Vorspann erwartet man: Jetzt geht’s richtig
los. Deshalb waren meine Erwartungen sehr hoch, als
ich Ihren Antrag las. Was fand ich vor? Eine ziemlich
bildhafte Sprache bei der Problembeschreibung. Zum
Beispiel ist die Rede von „klaffenden Gerechtigkeitslücken“, die „weiter aufgerissen“ werden.
({1})
Dabei stellen wir - schließlich sind Sie nicht dabei natürlich nur „Trostpflaster“ bereit. Allerdings integrieren Sie in diese zerklüftete Landschaft mühelos die „makellosen Bundesstraßen“, auf denen sich eine „atemberaubende Flottille von steuerbefreiten CO2-Schleudern“
bewegt. Ganz großes Kino!
({2})
Herr Kollege Haustein, es ist nicht einmal James Bond.
({3})
- Es ist zweifellos nicht Biene Maja. - Ich hätte eigentlich erwartet, dass diese Flottille in den Sonnenuntergang hineinfährt. Das vermisse ich an diesem Antrag.
({4})
Ich will Ihnen einmal sagen: Ich vertrete in diesem
Haus einen Wahlkreis, in dem es keinen Meter Autobahn
gibt. Wir sind sehr froh darüber, dass wir über unsere
Konjunkturpakete endlich - das wird schon jahrelang
herbeigesehnt, übrigens auch von Grünen; die wissen
nämlich, worum es in unserem Wahlkreis geht - Ausbaumaßnahmen für unsere Bundesstraßen und Umgehungsstraßen bekommen. Das haben wir mit verschiedenen Bürgerinitiativen - es gibt keine, die dagegen ist jahrzehntelang gefordert. Wir sind also sehr dankbar,
dass das im Rahmen unserer Pakete möglich wird. Ich
werde nicht die einzige Abgeordnete sein, die in ihrem
Wahlkreis genau das als einen wirklichen Fortschritt und
einen Segen verkauft.
({5})
Unterhalten Sie sich bitte auch einmal mit Mitgliedern
von solchen Initiativen, die froh darüber sind, dass da etwas geschieht.
Ähnliches, verehrter Kollege Kurth, gilt auch für
Sportstätten, in die es hineinregnet, und für Schulen, in
denen unter schlechten räumlichen Bedingungen unterrichtet wird. Ich weiß gar nicht, was Sie dagegen haben
können,
({6})
dass wir in die Lage versetzt werden, da endlich etwas
zu unternehmen.
({7})
Ich bin ein Fan unseres kommunalen Investitionspakets,
({8})
weil darin genau die richtigen Maßnahmen ergriffen
werden. Herr Kurth, stellen Sie sich einmal vor: Wir haben nicht einmal hineingeschrieben, dass es verboten ist,
energetisch zu sanieren. Wenn man Ihren Antrag liest,
könnte man meinen, das sei so.
({9})
Worum geht es also? Der Kern Ihres Drehbuchs ist
Kritik an den Konjunkturpaketen. Das haben Sie selber
so hineingeschrieben. Ich kann nur sagen: Bei Ihrem Antrag scheint durch, Sie hätten das alles besser gemacht.
({10})
Ich nehme allerdings wahr, dass Sie bei Ihren Vorschlägen sehr im Vagen bleiben. Wir haben durch zahlreiche
Redebeiträge, etwa der Kollegin Hiller-Ohm oder der
Kollegen Stöckel und Schiewerling, deutlich machen
können, dass die Antwort auf diese Krise weder in Technicolor noch in Schwarz-Weiß gegeben werden kann; es
muss ein Bündel von Maßnahmen sein. Wir haben einen
Schwerpunkt im Bereich der sozialpolitischen Interventionen gesetzt. Ich stehe voll dahinter. Der Weg, den wir
gehen, ist genau der richtige Weg.
Die Situation bei den Regelsätzen ist meines Erachtens - so werden es viele in diesem Haus sehen - keinesfalls abschließend geregelt. Sind Sie denn dagegen, dass
wir endlich anfangen, indem wir festlegen, dass Kinder
von 6 bis 13 Jahren mehr bekommen? Ich kann mir nicht
vorstellen, dass Sie einen Einwand haben.
({11})
Ich will nur einen Punkt noch hervorheben, und das
ist die sogenannte dritte Säule des Konjunkturpakets,
das, was wir arbeitsmarktpolitisch machen. Die Bezugsdauer des Kurzarbeitergelds wird von 12 auf 18 Monate verlängert und die Qualifizierung in diesem Zusammenhang belohnt. Viele Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die dieser Debatte folgen, werden sagen: Gut,
dass die Bundesregierung das macht.
({12})
Das ist der richtige Weg, die Menschen im Unternehmen
zu halten. Es ist sinnvoll, sie zu qualifizieren, weil wir
sie auf Dauer an Bord brauchen, und zwar mit möglichst
hoher professioneller Kompetenz. Ich weiß, dass das
wirklich keine theoretische Debatte ist. Es gibt inzwischen Anträge auf Kurzarbeit für über 400 000 Menschen. Das ist gewaltig aufgewachsen. Das ist also die
richtige Antwort in der Krise. Ich hoffe sehr, dass sie alle
an Bord bleiben können, weil wir davon ausgehen, dass
diese Krise ein Ende hat und wir dann gestärkt aus ihr
hervorgehen. Das allerdings können wir nur mit solchen
Maßnahmen.
({13})
Wir wenden 2 Milliarden Euro zusätzlich auf für
Qualifizierung jener Arbeitnehmer, die keinen Berufsabschluss haben, und für Jugendliche, die schon lange
eine Ausbildung suchen. Das ist richtig. Genauso richtig
ist, finde ich, dass wir das Programm WeGebAU flächendeckend ausbauen. Das ist der richtige Weg. Damit
haben wir gute Erfahrungen gemacht.
Zu Recht wird gesagt: Mehr Vermittler sollen zur Verfügung stehen. Das ist erforderlich. Wir haben in einem
ersten Schritt 1 000 Stellen eingerichtet. Wir werden
weitere schaffen, sodass wir am Ende 5 000 haben.
Frau Kollegin, der Kollege Schneider würde Ihnen
gern eine Zwischenfrage stellen.
Aber selbstverständlich, Herr Kollege.
Bitte schön.
Ja, Frau Kollegin, es ist jetzt leider etwas entfernt von
dieser Stelle.
Ja, ich war Ihnen zu schnell, ich weiß!
Ich will noch einmal auf den Punkt zurückkommen,
als Sie eben sagten, welch großartige Leistung es sei,
dass Sie Qualifizierung bei Kurzarbeit leisten wollten.
Ist Ihnen bekannt, dass die Personalvorstände der
30 größten DAX-Unternehmen bei einem Treffen Ihr
Konzept wie folgt beurteilten? Die Idee, dass Weiterbildung während der Kurzarbeit vor Arbeitslosigkeit
schütze, sei zwar gut, sie werde aber in der Art, wie dies
beschlossen worden sei, schlecht umgesetzt.
({0})
Ich stelle fest, dass Sie mir vielleicht eine Antwort geben
können, während Ihre Kollegen offensichtlich irgendwelche Gesetze für irgendjemanden machen, von dem
sie nicht einmal wissen, wen sie denn tatsächlich meinen.
Lieber Kollege Schneider, zum einen stelle ich für das
Protokoll ausdrücklich fest, dass Sie sich sozusagen einer Argumentation der Vorstände von DAX-Unternehmen bedienen. Das ist ja sozusagen ein Quantensprung
für Vertreter Ihrer politischen Richtung.
({0})
Zum anderen haben wir hin und wieder die Erfahrung
machen müssen, dass selbst solche Vorstände in ihren
Einschätzungen hinsichtlich dessen, was ist und was sein
sollte, ein wenig irren. Ich bin ziemlich überzeugt davon,
dass die grundsätzliche Richtung, die wir eingeschlagen
haben, eine richtige ist,
({1})
und ich bin sicher, dass uns die Projekte, die wir angeschoben haben, recht geben werden. Wir beschränken
uns nämlich mitnichten auf jene Unternehmen, die
DAX-notiert sind, sondern erklären, dass dies für all diejenigen Unternehmen gilt, bei denen Kurzarbeit ein guter Weg ist, um Beschäftigte an Bord zu halten, und die
darüber hinaus erkannt haben, dass es Sinn macht, die
Belegschaft mittels Weiterbildung und Qualifizierung
auf dem Laufenden zu halten, um auf Dauer im Wettbewerb zu bleiben.
({2})
Ich komme zum Schluss, denn ich spreche im Wesentlichen zum Antrag der Grünen und habe nur noch einen Hinweis an die Linken zu deren Antrag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich
werde den Eindruck nicht los, dass Ihr Antrag in gewisser Weise eine Doppelvermarktung von Textbausteinen
darstellt. Wenn wir ehrlich sind, kennen wir das. Ich
habe überlegt: Wo wird Ihr Text richtig Eindruck gemacht haben? Ich nehme an, auf einem Parteitag war er
exzellent platziert.
({3})
Hier im Haus hat er uns keinen weiteren Erkenntnisgewinn gebracht.
Außerdem spreche ich noch einmal die DIW-Studie
an, die mehrfach angeführt wurde. Kollege Lotter hat bereits zu Recht darauf hingewiesen, dass es immer Sinn
macht, eine Studie ganz zu lesen. Wissen Sie, was mich
bei dieser Studie besonders beeindruckt hat? Das war die
Selbstkritik, die die Herausgeber an den Tag gelegt haben, weil sie zum Beispiel einen Punkt im gesamten Bereich der Vermögen überhaupt nicht wirklich bewerten
konnten, nämlich den der kleinen Vermögen, sofern es
sich um Eigentumswohnungen oder kleine Häuschen
handelt. Ich empfehle Ihnen sehr, dies noch einmal nachzulesen. Sie sind nach wie vor - auch in dieser Studie nicht in der Lage, sie angemessen zu bewerten. Ich sage
Ihnen: Sie kommen zu einem etwas anderen Bild der
Lage insgesamt. An dieser Stelle nehme ich die Selbstkritik der Autoren dieser Studie sehr ernst.
({4})
Insgesamt wünsche ich mir, dass von dieser Debatte,
so lange sie gedauert hat und so beschränkt ich diese beiden Anträge als Anlass für sie empfand, Mut und Zuversicht ausgehen; denn wenn dieses Haus eine Verpflichtung hat, dann besteht sie darin, das, was wir gut auf den
Weg bringen, auch nach außen wirklich ernsthaft und
ehrlich zu vertreten. Das können die Menschen von uns
verlangen, und das haben viele Redner in dieser Debatte
getan. Insofern ist dies das einzige Lob, das mir zu den
beiden Anträgen bleibt, die bestenfalls abgelehnt werden
können.
Danke schön.
({5})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/11755 und 16/11748 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Damit sind Sie einverstanden? - Dann verfahren wir so.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 c
sowie die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:
28 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Anhebung der
Höchstgrenze des Tagessatzes bei Geldstrafen
- Drucksache 16/11606 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hakki Keskin, Monika Knoche, Hüseyin21828
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Gewerkschaften in der Türkei stärken
- Drucksache 16/11248 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Bürgerschaftliches Engagement umfassend
fördern, gestalten und evaluieren
- Drucksache 16/11774 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Volker
Wissing, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig
Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Steuervollzug effektiver machen
- Drucksache 16/11734 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Auswärtigen
Kulturpolitik 2007/2008
- Drucksache 16/10962 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Sportausschuss
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Es handelt sich hierbei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, dass die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
überwiesen werden. Damit sind Sie einverstanden? Das ist der Fall. Dann wird so verfahren.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 l sowie
Tagesordnungspunkt 14 auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 29 a:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
steuerlichen Gleichbehandlung der Auftragsforschung öffentlich-rechtlicher Forschungseinrichtungen ({4})
- Drucksache 16/5726 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({5})
- Drucksache 16/11104 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Kretschmer
René Röspel
Cornelia Pieper
Dr. Petra Sitte
Krista Sager
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11104, den Gesetzentwurf
des Bundesrates auf Drucksache 16/5726 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung bei Zustimmung durch die Fraktion der FDP,
Gegenstimmen durch die Fraktionen CDU/CSU, SPD
und Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung durch die
Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die dritte Beratung.
Tagesordnungspunkt 29 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({6}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung
der Verordnungen ({7}) Nr. 549/2004, ({8})
Nr. 550/2004, ({9}) Nr. 551/2004 und ({10}) Nr.
552/2004 im Hinblick auf die Verbesserung
der Leistung und Nachhaltigkeit des europäischen Luftverkehrssystems ({11})
KOM({12}) 388 endg.; Ratsdok. 11323/08
- Drucksachen 16/10286 Nr. A.60, 16/11447 Berichterstattung:
Abgeordneter Ingo Schmitt ({13})
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11447, in Kenntnis der Unterrichtung
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD und FDP ohne Gegenstimmen und bei Enthaltung durch die Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({14})
zu dem Antrag der Abgeordneten Axel E. Fischer
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
({15}), Ilse Aigner, Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten René Röspel, Jörg
Tauss, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Im Deutsch-Israelischen Jahr der Wissenschaft und Technologie 2008 neue Impulse für
die Zusammenarbeit setzen
- Drucksachen 16/10847, 16/11724 Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer ({16})
René Röspel
Patrick Meinhardt
Dr. Petra Sitte
Priska Hinz ({17})
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11724, den Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/10847 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({18})
Übersicht 13
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 16/11638 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 29 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 515 zu Petitionen
- Drucksache 16/11652 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 516 zu Petitionen
- Drucksache 16/11653 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Koalition und die FDP, Gegenstimmen durch
die Fraktion Die Linke und Enthaltung bei Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 517 zu Petitionen
- Drucksache 16/11654 Wer stimmt dafür? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 518 zu Petitionen
- Drucksache 16/11655 Wer stimmt dafür? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zustimmung durch das gesamte Haus bis auf Bündnis 90/
Die Grünen, die dagegen gestimmt haben.
Tagesordnungspunkt 29 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 519 zu Petitionen
- Drucksache 16/11656 Wer stimmt dafür? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Große Koalition und die FDP sowie Gegenstimmen durch die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen
und Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 520 zu Petitionen
- Drucksache 16/11657 Wer stimmt dafür? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit der Zustimmung
durch die Große Koalition und die Fraktion Die Linke
sowie Gegenstimmen durch Bündnis 90/Die Grünen und
die FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 521 zu Petitionen
- Drucksache 16/11658 Wer stimmt dafür? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Koalition und Bündnis 90/Die Grünen sowie
Gegenstimmen durch die Fraktionen der FDP und der
Linken angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 522 zu Petitionen
- Drucksache 16/11659 Wer stimmt dafür? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Koalition und Gegenstimmen der Opposition
angenommen.
Tagesordnungspunkt 14:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({1}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über Qualitäts- und
Sicherheitsstandards für zur Transplantation
bestimmte menschliche Organe ({2}) ({3})
KOM({4}) 818 endg.; Ratsdok. 16521/08
- Drucksachen 16/11517 Nr. A.30, 16/11781 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Hennrich
Hierzu liegt uns eine Erklärung zur Abstimmung nach
§ 31 der Geschäftsordnung des Kollegen Dr. Ilja Seifert
vor.1)
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung
durch die Große Koalition und Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und bei Ent-
haltung der Fraktion der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verfolgung der Vorbereitung von
schweren staatsgefährdenden Gewalttaten
- Drucksache 16/11735 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung des
Aufenthalts in terroristischen Ausbildungslagern ({6})
- Drucksache 16/7958 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
1) Anlage 2
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Es ist hier verabredet, eine Stunde zu debattieren. Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Frau Bundesministerin Brigitte Zypries.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Deutschland steht
im Fokus des internationalen Terrorismus. Das wissen
wir seit den Anschlägen des 11. September 2001 in den
USA. Die Drohvideos, die wir zurzeit im Internet sehen
können, zeigen dies einmal mehr sehr deutlich.
Wir müssen in dieser Situation zwei Dinge gewährleisten. Wir müssen erstens die Bürgerinnen und Bürger
wirksam vor terroristischen Anschlägen schützen. Es ist
unsere Aufgabe, Sicherheit in diesem Land so weit wie
möglich zu garantieren.
({0})
Zu den Instrumenten, die wir dabei nutzen, gehört selbstverständlich das Strafrecht an vorderster Stelle. Wir
müssen aber zweitens sicher sein, dass wir unsere rechtsstaatlichen Grundsätze bewahren.
({1})
Wir haben immer gesagt - das gilt auch heute -, dass es
für die Terrorismusabwehr kein Sonderstrafrecht geben
kann. Eine Strafverfolgung darf es nur auf Grundlage
des Allgemeinen Strafrechts geben. Eine unverhältnismäßige Ausweitung der Strafbarkeit wäre genauso
falsch wie die Untätigkeit im Angesicht der Gefahr.
({2})
- Lieber Herr Wieland, wir werden uns darüber noch
austauschen. Ich meine, dass wir mit dem heute zu diskutierenden Entwurf beides gewährleisten.
({3})
Wir schließen zum einen eine Lücke im Staatsschutzstrafrecht, und wir folgen zum anderen den rechtsstaatlichen Grundsätzen.
Es ist seit 2001 in vielen Punkten gelungen, die tatsächlichen Möglichkeiten unserer Sicherheitsbehörden
auszubauen. Ich möchte hier deutlich machen, dass es
vor allem dem engagierten Einsatz unserer Sicherheitsbehörden sowie der Polizistinnen und Polizisten in Deutschland zu verdanken ist, dass Anschlagsversuche - es ist
nicht nur einer gewesen - bisher vereitelt werden konnten.
({4})
An dieser Stelle deshalb ein Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden.
Gerade die Ermittlungen im Fall der sogenannten
Kofferbomber haben deutlich gemacht, dass wir hier
eine Strafbarkeitslücke haben
({5})
und dass dementsprechend Nachbesserungsbedarf besteht.
Die Bedrohungen - das wissen Sie; Sie werden es
auch morgen im Magazin der Süddeutschen Zeitung
nachlesen können - gehen eben nicht mehr von terroristischen Vereinigungen aus, die so organisiert sind, wie
wir es vom deutschen Terrorismus der 70er-Jahre her
kennen oder wie es bei den Anschlägen vom
11. September offenbar der Fall war. Wir haben heute
vielmehr lose Netzwerke und Einzeltäter, die sich nur
von Fall zu Fall zusammenschließen.
({6})
Auf solche Personen hat unser Strafrecht bisher keine
Antwort. Wir haben die Gründung, die Mitgliedschaft
und die Unterstützung von und in terroristischen oder
kriminellen Vereinigungen unter Strafe gestellt. Das
heißt, es müssen immer zumindest drei Personen beteiligt sein. Wenn es aber weniger als drei sind, dann können wir mit den Mitteln des Strafrechts nichts tun.
Deswegen müssen wir das Gesetz ändern und müssen
mit einem Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von
schweren staatsgefährdenden Gewalttaten auf diese Situation reagieren. In Zukunft macht sich also schon derjenige strafbar, der Kontakt zu einer terroristischen Vereinigung aufnimmt, um sich zur Begehung einer
staatsgefährdenden Gewalttat, wie zum Beispiel Mord
oder Totschlag, ausbilden zu lassen. Ihm droht künftig
eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine
Geldstrafe. Derjenige, der sich ausbilden lässt, um eine
solche Gewalttat auszuüben, muss mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren rechnen.
Wir erfassen damit zum Beispiel den Fall, dass sich
jemand in einem islamistischen Ausbildungslager im
Umgang mit Sprengstoff schulen lässt, damit er dann in
Deutschland Sprengstoffanschläge begehen kann. Von
der Norm erfasst werden - darauf möchte ich hinweisen natürlich nicht nur islamistische Täter, sondern selbstverständlich zum Beispiel auch rechtsextremistische
Einzeltäter, die sich Sprengstoff besorgen, um einen Anschlag auf eine Synagoge auszuüben.
Entscheidend ist, dass die Ausbildung oder der Erwerb des Sprengstoffs in der Absicht erfolgen, eine
schwere staatsgefährdende Gewalttat zu begehen. Erst in
der Verbindung mit dem Vorsatz, diese Tat begehen zu
wollen, wird etwa das Training an der Waffe zu einer
strafwürdigen Vorbereitungshandlung. Die Absicht also,
ein schweres Gewaltverbrechen zu begehen, das unseren
Staat gefährdet, macht die Ausbildung zu einer strafwürdigen Vorbereitungshandlung.
Mir ist es sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass
diese subjektive Komponente immer dabei sein muss;
denn wir schlagen gerade nicht vor, wie man jetzt vereinzelt in Zeitungen lesen konnte, die bloße Gesinnung
oder den reinen Erwerb von Kenntnissen unter Strafe zu
stellen. Das machen wir natürlich nicht. Niemand soll
wegen seiner Überzeugung oder seiner Meinung bestraft
werden. Aber wer den Vorsatz gefasst hat, einen Bombenanschlag zu verüben, und sich ausbilden lässt, um
diesen Anschlag begehen zu können, der zeigt nicht nur
eine Gesinnung, sondern unternimmt bereits eine gefährliche und deshalb strafwürdige Handlung.
({7})
- Wir müssen dazu nicht in die Köpfe schauen. Das ist
nicht erforderlich. Selbstverständlich braucht man immer Anhaltspunkte, um bei Straftaten zu ermitteln. Das
machen Sie doch ansonsten auch.
({8})
- Wenn es so ist, wie es der Kollege Stünker sagt, dann
höre ich auch auf, speziell auf Sie einzugehen, Herr
Wieland. Wir verlegen das Gespräch.
Die Strafverfolgungsbehörden müssen also eingreifen
können. Genau dieses Eingreifen ermöglicht der Gesetzentwurf, über den wir heute diskutieren.
({9})
Die Generalbundesanwaltschaft hat uns bescheinigt,
dass dieser Gesetzentwurf praxistauglich ist. Ich gehe
deshalb davon aus, dass man ihn entsprechend anwenden kann und dass die Sorgen, die Sie haben, unnötig
sind.
Dieser Gesetzentwurf beinhaltet eine weitere Facette.
Wir schaffen mit diesem Gesetzentwurf auch Regelungen, um des Mediums besser habhaft zu werden, das
heute mit zu den Kommunikationsmedien schlechthin
gehört: des Internets. Im Internet wird zum Dschihad
aufgerufen; im Internet werden Pläne für den Bau von
Bomben verbreitet. Im Internet gibt es aber natürlich
auch von der anderen Seite, beispielsweise von den
Rechtsextremen, Aufrufe zu gewalttätigem Vorgehen.
Auch den Gefahren, die sich aus dieser Kommunikation im Internet ergeben, begegnen wir mit dem Gesetzentwurf, über den wir heute diskutieren. Wer Anleitungen zur Begehung schwerer Gewalttaten verbreitet,
macht sich künftig strafbar, und zwar dann, wenn diese
Verbreitung im konkreten Fall geeignet ist, andere zu
Gewaltverbrechen zu bewegen. Es geht also nicht darum
- um es ganz klar zu sagen -, die Chemiefachseiten bei
Wikipedia unter Strafe zu stellen. Es geht vielmehr darum, dass die Strafwürdigkeit immer dann einsetzt, wenn
jemand zu bestimmten Handlungen, beispielsweise zum
Dschihad oder zur Verfolgung von Andersdenkenden
oder Andersaussehenden, aufruft und wenn daneben
Pläne für den Bau von Sprengsätzen veröffentlicht werden, in denen steht: So müsst ihr es machen; dann könnt
ihr auch aktiv werden. - Diese Verknüpfung wollen wir
unter Strafe stellen.
Nun habe ich immer gesagt - dies sage ich gerne auch
hier -, dass wir ein Stück weit juristisches Neuland betreten. Unser Strafrecht war ursprünglich einmal davon
ausgegangen, dass wir nur den Täter für die Tat bestrafen, die er begangen hat. Im Laufe der Zeit gab es zahlreiche Verlagerungen in Vorfeldaktivitäten. Wir stellen
den Versuch unter Strafe.
({10})
- Ja, da ist auch weiter noch nichts geschehen. - Nun
dehnen wir dies insoweit aus, als wir künftig jemanden
bestrafen, der Kontakt zu einer Terrorgruppe aufnimmt
oder sich im Umgang mit Waffen schulen lässt, um eine
bestimmte Tat zu begehen. Wir bewegen uns dabei aber
- das ist mir auch klar - im Vorfeld einer Rechtsgutverletzung.
({11})
Dass dies verfassungsrechtlich noch nicht ausgeurteilt
ist, wissen Sie so gut wie ich. Aber unser Haus hat dies
ebenso wie das Bundesinnenministerium geprüft. Wir
sind der Auffassung, dass diese Art des Vorgehens verfassungsrechtlich gerechtfertigt und zulässig ist, gerade
weil die Kopplung mit der subjektiven Seite gegeben ist.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
Bitte schön.
Bitte sehr.
Danke schön, Frau Ministerin. - Da mir die monatelange Debatte innerhalb der Koalition über die Frage, ob
dieser Tatbestand mit der subjektiven Tatseite überhaupt
handhabbar ist, bekannt ist, höre ich Ihren Ausführungen
genauestens zu. Ich habe Sie jetzt so verstanden, dass es
natürlich notwendig sei, dass der Täter zum Beispiel den
Vorsatz gefasst hat, einen Sprengstoffanschlag durchzuführen. Wenn aber der Täter einen solchen Vorsatz gefasst hat, dann sind wir mitten im § 30 StGB.
({0})
- Natürlich. ({1})
Lediglich dann, wenn es ein völlig diffuser Generalvorsatz ist - ich weiß zwar noch nicht, wann und wie; ich
will irgendwann irgendwo einen Bombenanschlag
durchführen -, müssten Sie, Frau Ministerin, einen solchen Vorsatz nachweisen, um neben der Ausbildung, die
auch bei der Bundeswehr erfolgen könnte, diese subjektive Seite hinzuzufügen.
({2})
Meine Frage lautet: Wie wollen Sie eigentlich einen
so allgemeinen Vorsatz - ich sehe einmal davon ab, dass
es jemand niederschreibt - bei der Verfolgung solcher
Täter beweisen?
Herr Montag, diese Diskussion haben wir schon an
verschiedenen Stellen geführt. Ich muss gestehen, es gibt
keine bessere Antwort darauf als das Beispiel, das der
Kollege Gehb vorgetragen hat.
({0})
- Nicht wie immer, aber wie vor allen Dingen in diesem
Fall.
({1})
Herr Gehb hat nämlich darauf hingewiesen, dass es
für die Strafverfolgungsbehörden keine Besonderheit ist,
dass man eine subjektive Seite nachweisen muss, und
dies am Beispiel des Diebstahls verdeutlicht. Wenn man
jemanden im Laden stehen sieht, der ein Buch in der
Hand hat, dann kann man entweder sagen, er schaue da
nur hinein, oder man kann sagen, er wolle damit zur
Kasse gehen, oder man kann sagen, er wolle sich dieses
Buch zueignen, ohne zu bezahlen, also klauen.
({2})
- Ach, nein! - Es geht also um die Frage der subjektiven
Seite, die die Strafverfolgungsbehörden sehr wohl herauszufinden geübt sind.
Mit Ihrem Vorsatz ist es auch so: Es gibt einen Unterschied zwischen § 30 und den Normen, die wir hier regeln.
({3})
Es gibt auch einen Unterschied zwischen der Frage, ob
jemand irgendwann in seinem Leben einen Anschlag begehen könnte, und der Frage, ob jemand vorhat, einen
Anschlag in der Stadt Berlin zu begehen, ohne konkret
zu wissen, welche U-Bahn-Haltestelle er treffen will.
({4})
Hierzu haben wir in der Begründung des Gesetzentwurfs
hinreichende Ausführungen gemacht. Die Zweifel, die
Sie noch haben, können Sie in der Sachverständigenanhörung mit den Sachverständigen sachverständig diskutieren.
({5})
Ich meine, dass es uns durch die Einbindung der subjektiven Seite gelungen ist - das war der Gegenstand der
langwierigen Debatte innerhalb der Großen Koalition -,
auf der verfassungsrechtlich sicheren Seite zu sein und
eine Regelung zu finden, die hinreichend konkret und
bestimmt ist, um für die Strafverfolgungsbehörden handhabbar zu sein.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt zwei Gesichtspunkte, die wir in dieser Debatte
betrachten müssen. Auf der einen Seite freuen sich, so
glaube ich, alle Seiten dieses Hauses über die Entscheidung des neuen amerikanischen Präsidenten, das Lager
in Guantánamo aufzugeben,
({0})
weil die Einrichtung eines Camps außerhalb der rechtsstaatlichen Garantien ein Beispiel dafür ist, wie ein
Rechtsstaat auf die islamistische Bedrohung nicht reagieren sollte. In diesem Camp wurden auch Unschuldige, unter anderem Kinder, was ein früherer amerikanischer Außenminister meiner Ansicht nach zu Recht kritisiert hat, über viele Jahre hinweg festgehalten, ohne dass
ein Richter darüber entschieden hat. Das hat Gott sei
Dank endgültig ein Ende.
Die Lehre, die wir daraus zu ziehen haben, ist, dass
Rechtsstaaten gerade bei der islamistischen Bedrohung
gut daran tun, besonders streng auf Rechtsstaatlichkeit
zu achten und nicht Gesetze zu machen, die, was viele
von Ihnen zugeben, verfassungsrechtlich auf Kante genäht sind. Damit betreten wir nämlich einen Graubereich
und laufen Gefahr, dass später vom Bundesverfassungsgericht festgestellt wird, dass diese Gesetze mit unserer
Verfassung nicht übereinstimmen.
Schauen wir uns doch an, was wir in den letzten Jahren diesbezüglich erlebt haben: Ein Beispiel ist der Europäische Haftbefehl; aber es gab noch viele weitere Entscheidungen im Bereich der Justiz, die der Prüfung
durch Karlsruhe nicht standgehalten haben. Daraus müssen wir die Verpflichtung ableiten, diesen Weg nicht
fortzusetzen. Wir können doch nicht einfach weiter
Neues austesten. Das gilt insbesondere, weil aufgrund
vorläufiger Entscheidungen zu erwarten ist, dass in dem
einen oder anderen Verfahren, das zurzeit in Karlsruhe
anhängig ist, entschieden wird, dass die Gesetze nicht
verfassungskonform sind und dementsprechend keinen
Bestand haben werden. Ich denke, wir dienen unserem
Rechtsstaat nicht, wenn wir hier Gesetzesvorschläge, die
verfassungsrechtlich auf Kante genäht sind, vorlegen.
({1})
Das genau ist der Ansatz meiner Fraktion.
Der andere Gesichtspunkt ist mir genauso wichtig.
Die Ministerin hat darauf hingewiesen, dass in den letzten Tagen verstärkt Drohvideos erschienen, wodurch uns
klar wird, dass wir einer Bedrohung ausgesetzt sind.
Auch das sehen wir als Liberale. Aber wir haben eine
andere Antwort als die Große Koalition. Ich bin sehr
froh darüber und sehr stolz darauf, dass es unseren Strafverfolgungsbehörden, aber auch den Nachrichtendiensten - sie werden immer gerne unterschlagen, obwohl es
in vielen Fällen auch eine große Leistung unserer Nachrichtendienste war - bisher immer gelungen ist, Gruppen
aufzudecken, zum Beispiel die Sauerland-Gruppe, bevor
sie in unserem Land Schaden anrichten konnten.
({2})
- Natürlich waren die auch daran beteiligt. Das ist doch
ganz klar. Ich habe von den Nachrichtendiensten gesprochen, die bei uns häufig nur lächerlich gemacht werden.
Sie leisten ganz hervorragende Arbeit. Von daher ist die
Stärkung der entsprechenden Kompetenzen unserer
Nachrichtendienste, aber auch der Strafverfolgungsbehörden für uns ein Schwerpunktthema, wenn es um die
Bekämpfung der Bedrohung durch den Islamismus geht.
Der Stellenabbau in diesen Bereichen und viele andere
Dinge machen uns große Sorgen. - Wir wollen den Weg,
verfassungsrechtlich fragwürdige Gesetze im Deutschen
Bundestag zu verabschieden, nicht gehen, vor allen Dingen, weil wir keine Notwendigkeit dafür sehen.
Frau Ministerin, Sie haben behauptet, wir hätten eine
Strafbarkeitslücke. Ich habe mir all die Fälle, die wir in
der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren
strafrechtlich zu beurteilen hatten, einmal angeschaut.
Die sogenannten Kofferbomber aus Köln waren nur zu
zweit; das ist richtig. Damit erfüllen sie die Anforderungen - eine Gruppe von mindestens drei Personen - nicht.
Wenn ich mich recht entsinne, ist der Kofferbomber aber
zu einer hohen Freiheitsstrafe verurteilt worden, und
zwar, weil unsere gesetzlichen Bestimmungen ausreichten, um sicherzustellen, dass jemand, der in einem Zug
in Deutschland eine Bombe platzieren will, in diesem
Land mit einer hohen Strafe rechnen muss und dazu
auch verurteilt wird. Auch die anderen Gruppen, die genannt worden sind, unterliegen selbstverständlich den
bisherigen gesetzlichen Bestimmungen. Von daher ist
der Nachweis, dass wir eine Strafbarkeitslücke haben,
die gefüllt werden muss - dies ist insbesondere verfassungsrechtlich fragwürdig -, aus meiner Sicht bisher
nicht geführt worden.
Hier wird so eifrig behauptet, das sei alles in Ordnung, insbesondere weil wir auf das Merkmal abgestellt
haben, dass eine Absicht vorliegen muss. Wir alle, die
wir aus der Juristerei kommen - all diejenigen, die hier
dazu reden werden, sind erfahrene Juristen -, wissen
doch: Wenn etwas schwer nachzuweisen ist, dann ist es
die Absicht, vor allen Dingen, wenn sie so nebulös sein
darf wie in den jetzt vorgesehenen strafrechtlichen Bestimmungen.
Ich bin lange in einer Staatsschutzabteilung gewesen.
Ich bin fast mein ganzes staatsanwaltschaftliches Leben
mit politisch motivierten Straftaten befasst gewesen. Ich
möchte meinen Kollegen nicht zumuten, mit Strafvorschriften umgehen zu müssen, die nicht wirklich handhabbar sind, bei denen sie ein schlechtes Gefühl haben
und die beinhalten, dass vorher eigentlich schon feststeht, dass ein ganz wichtiger Faktor, nämlich die Absicht, in aller Regel nicht wird nachzuweisen sein. Von
daher sollten wir keine solche Symbolgesetzgebung machen. Das ist der Schwere der Bedrohung nicht angemessen. Vielmehr sollten wir uns Gedanken machen,
wie wir den Bedrohungen des Islamismus in den Grenzen unserer Verfassung und auf dem Boden unserer Verfassung wirkungsvoll begegnen können.
({3})
Das wollen wir als Liberale; das ist unser Ansatz.
Wir werden uns in einer Anhörung damit auseinandersetzen. Sie wissen: Ich bin bei solchen Fragen immer
offen für gute Argumente. Ich habe sie nur bisher leider
nicht gehört.
({4})
Dass auch der Vorsitzende der sozialdemokratischen Juristen unsere Auffassung teilt, zeigt mir, Frau Ministerin,
dass wir richtig liegen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Jürgen Gehb für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass die
Gefährdung durch Terror und Terroristen nach wie vor
hochaktuell ist, hat die Bundesjustizministerin eben
plastisch dargestellt. Das ist nicht nur eine Herausforderung für die Nachrichtendienste und die Strafverfolgungsbehörden, sondern selbstverständlich auch für den
Gesetzgeber. Der meinen wir mit dem Gesetz, das den
etwas sperrigen Titel „Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten“
hat, gerecht zu werden.
Die Aussage, dass wir Neuland oder jedenfalls eine
Grauzone betreten, will ich in der Stringenz nicht zulassen, Frau Ministerin, liebe Brigitte, weil Vorbereitungshandlungen schon jetzt im Strafgesetzbuch unter Strafe
stehen. Ich erinnere nur an § 80 des Strafgesetzbuches:
Vorbereitung eines Angriffskrieges. Ich möchte einmal
wissen, Herr van Essen, wie die Gerichte mit einer solchen Formulierung umgehen. Das ist doch auch ziemlich
unbestimmt.
({0})
Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens.
Lesen Sie bitte § 83 Strafgesetzbuch. Tolle lege! Nimm
und lies! Oder nehmen Sie § 149 des Strafgesetzbuches:
Vorbereitung der Fälschung von Geld oder Wertzeichen.
Dass wir also bereits Vorbereitungshandlungen vor dem
klassischen Versuchsstadium, wo man also unmittelbar
ansetzen muss, wo er praktisch das Messer an der Kehle
hat, als strafbewehrtes Unrecht ansehen, ist alles andere
als Neuland.
({1})
Ich gebe gerne zu, dass es eine kritische, auf Kante
genähte Regelung ist. Das ist übrigens seit geraumer Zeit
so in den Fällen, in denen wir etwa mit verdeckten Ermittlungsmaßnahmen Verbrechern auf den Leib rücken
müssen. Es ist doch ganz klar, dass etwas, das das Spannungsfeld zwischen den Grundrechten der Bürgers auf
Freiheit und der sehr wohl auch verfassungsrechtlich
verbürgten und geforderten Verpflichtung des Staates
zum Schutze betrifft, eher beim Bundesverfassungsgericht landet, als wenn wir irgendeine Norm im Viehseuchengesetz ändern.
Aber, Herr van Essen, ich will Ihnen sagen: Sie alle
holen immer mit einer geradezu an eine Litanei erinnernden Aufzählung von Gesetzen aus, die alle vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert sind.
({2})
Nicht ein einziges davon stammt aus der jetzigen Koalition. Ich habe einmal die Anfrage gestellt, was seit dem
19. Oktober 2005 vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben wurde.
({3})
Ich sage Ihnen einmal etwas: Bisher ist die Änderung
des Gesetzes zum Hufbeschlag unter Schwarz-Rot aufgehoben worden.
({4})
Hören Sie auf, uns immer zu unterstellen, dass schon
viele unserer Gesetze aufgehoben worden seien!
({5})
Im Übrigen kann man bei Gesetzen, die eine gewisse
Grundrechtsrelevanz haben, doch nicht bereits aus Angst
vor dem Tode Selbstmord begehen. Es wäre eine KataDr. Jürgen Gehb
strophe, wenn wir ängstlich und gebannt wie das Häschen vor der Schlange davon absehen würden, wichtige
Gesetze zu erlassen. Sie dürfen natürlich nicht evident
verfassungswidrig sein. Ihnen darf die Verfassungswidrigkeit also nicht sozusagen auf der Stirn stehen, sodass
man Angst haben muss, dass selbst der Hausmeister
beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sie gar
nicht an den Senat weiterleitet, sondern sie zerreißt.
({6})
So etwas haben wir natürlich auch nicht vor, meine Damen und Herren. Aber dass wir uns in einer kritischen
Phase befinden, gebe ich gerne zu.
Mit den drei Gesetzesregelungen, um die es geht - die
Regelungen von § 89 a, § 89 b und § 91 des Strafgesetzbuches -, setzen wir übrigens auch ein Übereinkommen
des Europarates zur Bekämpfung des Terrorismus um,
das wir in diesem Hohen Hause bereits am 7. Juni 2007
verabschiedet haben. Wir halten uns also auch an europäische Vorgaben.
Meine Damen und Herren, zu Ihren Ausführungen
zur Absicht kann ich nur eines sagen: Auch Richter ziehen ihre Hosen nicht mit einer Kneifzange an.
({7})
Wenn jemand von Nachrichtendiensten tatsächlich dabei
beobachtet worden ist, wie er sich in einem Terrorcamp
hat ausbilden lassen - über einem solchen Camp steht
schließlich nicht „Abenteuerspielplatz“ -, diese Person
später aber vor Gericht aussagt: „Eigentlich habe ich mir
meine Sprengstofffertigkeiten nur angeeignet, um dem
THW zu helfen“, dann wird diese Einlassung wohl nicht
besonders gut ankommen. Wenn sich jemand als Scharfschütze ausbilden lässt und dies damit begründet, dass er
auf dem Rummelplatz in Steglitz Sieger im Wettbewerb
„Schießen auf den laufenden Keiler“ werden möchte,
dann wird ihm das auch niemand glauben. Ein Richter
muss es also aus der Gesamtschau der jeweils obwaltenden Umstände beweisen.
({8})
Denken Sie einmal an das Beispiel Diebstahl: Die polizeilichen Ermittlungsbehörden finden beim Langzeitstudenten Ströbele zu Hause einen Palandt, der in der
Universitätsbibliothek schon seit fünf Jahren fehlt. Dann
wird Herr Ströbele sagen: Ich hatte doch nicht die Absicht, mir von einem anderen etwas Fremdes zueignen
zu wollen? Es geht also um die Zueignungsabsicht. Hier
gibt es also die Möglichkeit zur Einlassung: Ich wollte
den Palandt zurückgeben. Zueignungsabsicht beinhaltet
demnach Enteignung und Aneignung. Den straflosen
Gebrauchsdiebstahl - furtum usus - kannten schon die
alten Römer. In unserem Fall würde Herr Ströbele sagen:
Das wollte ich doch nicht behalten. Das habe ich mir nur
einmal ausgeliehen. Ich hätte das wieder zurückgebracht. - Man muss natürlich abwarten, ob eine solche
Einlassung das Gericht überzeugt oder nicht.
({9})
Der Beweis erfordert natürlich nicht, den Grundsatz
„in dubio pro reo“ für jede noch so alberne Einlassung
oder gar Ausrede gelten zu lassen. Für die Gerichte besteht die Schwierigkeit, einen Tatbestand auszulegen
und einen Täter sauber zu überführen - nicht mehr und
nicht weniger. Das, meine Damen und Herren, muss den
Gerichten überlassen bleiben.
({10})
Es geht eine reflexartige Angst um: Im Zusammenhang mit der Vorratsdatenspeicherung wurde der böse
Überwachungsstaat kritisiert. Jetzt liest man vom DAV:
Feindstrafrecht - Guantánamo lässt grüßen.
({11})
Es wird wieder das Ende des Rechtsstaates besungen.
Meine Damen und Herren auch von der Opposition,
natürlich kann ich die Anwälte verstehen;
({12})
schließlich bin ich selbst Anwalt. Wer, wenn nicht Anwälte, muss darauf achten, dass wir in Sachen staatliche
Obrigkeit nicht zu weit gehen?
({13})
Das ist ganz klar. Eines darf man aber nicht tun, meine
Damen und Herren: Man darf die Hysterie, die unter
Rechtsunkundigen gelegentlich herrscht und die am
Stammtisch nach dem dritten Glas Bier geradezu überschwappt, nicht noch nähren. Ich appelliere deshalb auch
an die Oppositionspolitiker: Wir sollten im Streit um die
besten Lösungen miteinander ringen. Wir dürfen aber
nicht denjenigen das Wort reden, die die Verhältnisse in
Deutschland mit den Verhältnissen in Guantánamo vergleichen und von Gesinnungsstrafrecht oder Feindstrafrecht reden.
({14})
Das sollte von allen Demokraten in diesem Hohen Hause
unisono so beurteilt werden.
Nach der ersten Lesung werden wir unseren Gesetzentwurf an die Fachausschüsse - in diesem Fall sicherlich an den Rechtsausschuss - überweisen, wie wir es
mit allen Gesetzentwürfen tun. Wir haben also noch genug Zeit, externen Sachverstand einzuholen und uns mit
dieser Materie zu beschäftigen. Dann werden wir weitersehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Für die Fraktion Die Linke spricht nun die Kollegin
Ulla Jelpke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie wir
eben gehört haben, will die Bundesregierung demnächst
die Vorbereitung von Terroranschlägen und den Aufenthalt in sogenannten Terrorcamps unter Strafe stellen.
Darüber diskutieren wir jetzt. Die Bundesregierung beschränkt sich dabei nicht darauf, konkrete Handlungen
zu bestrafen,
({0})
auch nicht darauf, konkrete Vorbereitungshandlungen zu
bestrafen,
({1})
sondern sie will bereits Gesinnungen bestrafen. Das hat
die Justizministerin mit ihrem hier heute verwendeten
Begriff „subjektive Seite“ sehr deutlich gemacht. Ich
möchte gern wissen, was die „subjektive Seite“ bei einer
geplanten Straftat sein soll.
({2})
Zu dem genannten Zweck hat die Bundesregierung
einen Gesetzentwurf eingebracht, dessen Formulierungen unpräzise sind. Diverse Gummiparagrafen werden
geschaffen. Solche Gesetze sorgen meines Erachtens
nicht für Sicherheit, sondern - das ist ganz eindeutig für einen weiteren Abbau von Bürgerrechten.
({3})
Die Grundidee des Strafrechts eines Rechtsstaates ist
doch - lassen Sie mich noch einmal darauf eingehen -,
den Täter für eine Tat zu bestrafen, die er tatsächlich bereits begangen hat. Das wissen natürlich auch Sie, Frau
Justizministerin. Denn bei der Vorstellung Ihres Gesetzentwurfes haben Sie ausdrücklich gesagt:
Wir betreten mit der weiteren Vorverlagerung von
Strafbarkeit juristisches Neuland … Nun aber wird
jemand schon dafür bestraft, dass er Kontakt zu einer Terrorgruppe aufnimmt oder sich im Umgang
mit bestimmten Waffen oder Stoffen schulen lässt.
Wir bewegen uns damit sehr weit im Vorfeld einer
Tat.
({4})
Ich möchte Sie korrigieren: Juristisches Neuland betreten Sie meines Erachtens nicht, Frau Justizministerin.
Sie sind vielmehr dabei, den Boden des Rechtsstaates,
die Grundrechte, zu verlassen. Ich sage Ihnen ganz klar:
Wir von der Linken werden so ein Gesetz nicht mittragen.
({5})
… mit dem neuen Staatsschutzrecht wird ein neues
uferloses Antiterrorsystem aufgebaut,
sagt der bekannte Rechtsanwalt Rolf Gössner, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte. Herr
Gehb gibt ja offensichtlich nichts auf Rechtsanwälte
oder auf die Stellungnahme der Anwaltsvereinigung.
Darüber bin ich schon sehr erstaunt.
({6})
Ich möchte einige der Gedanken vortragen, mit denen
Rolf Gössner das Vorhaben der Bundesregierung in der
Öffentlichkeit infrage gestellt hat:
So plausibel eine Strafandrohung etwa im Fall einer
Ausbildung in einem ausländischen „Terrorcamp“
auf den ersten Blick erscheinen mag, so problematisch ist sie bei genauerem Hinsehen. Wie will man
beweisen, dass jemand in einem Trainingslager
zum Terroristen umgeschult und tatsächlich ein solcher geworden ist?
({7})
Dass er unmittelbar und konkret Gewalttaten plant,
soll offenbar keine Voraussetzung sein - ein subjektiver Anschlagswille reicht; wie aber soll der bewiesen werden? Wir haben es also mit einem Gefährdungsdelikt ohne konkreten Tatbezug weit im
Vorfeld des Verdachts zu tun - eine unverhältnismäßige und gefährliche Entgrenzung des herkömmlichen Tatstrafrechts.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Siegfried Kauder?
Ja, bitte.
Frau Kollegin Jelpke, Sie haben gerade darauf hingewiesen, dass man jemandem, der sich in einem Terrorcamp ausbilden lässt, für die Strafbarkeit dieser Handlung auch nachweisen müsse, dass er unmittelbar eine
terroristische Straftat begehen wolle. Können Sie mir sagen, wo diese Behauptung im Gesetzestext des § 89 a ihren Niederschlag findet?
Wenn Sie richtig zugehört hätten, wüssten Sie, dass
ich gerade Herrn Gössner zitiert habe. Aber ich bin gern
bereit, auch auf Ihre Frage zu antworten.
({0})
Ich bin nämlich der Meinung, dass das, was Sie im Gesetzentwurf schreiben, nicht handhabbar ist. Wer definiert „Kontakt“? Das müsste genauer erläutert werden.
Wer definiert „Terrorismus“? Bisher ist das nicht definiert. Die Justizministerin muss erklären, was genau ein
„Terrorcamp“ sein soll.
({1})
- Ich habe das Gesetz jetzt nicht dabei; aber ich bin
gerne bereit, Ihnen das später zu beantworten.
({2})
Ich möchte das Zitat von Herrn Gössner noch beenden:
Wir haben es also mit einem Gefährdungsdelikt
ohne konkreten Tatbezug weit im Vorfeld des Verdachts zu tun - eine unverhältnismäßige und gefährliche Entgrenzung des herkömmlichen Tatstrafrechts. Und aufgrund welcher Erkenntnisse soll
etwa die Art des Kontakts, des Camps und der Fortbildung beurteilt werden?
Dieser Fragestellung können wir uns nur anschließen,
und wir werden das in den Anhörungen auch entsprechend zur Debatte stellen.
Noch einmal zu dem vorherigen Punkt. Man fragt
sich natürlich allen Ernstes, wie Sie überhaupt erfahren
wollen, ob jemand beispielsweise im Internet gesurft,
nach Bombenbauanleitungen geschaut und dann andere
motiviert hat, eine Straftat zu begehen. Oder wie wollen
Sie von den Menschen, die einen Flugschein machen
- Flugzeuge sind ja bekanntlich auch Waffen -, diejenigen erfassen, die andere angeblich motivieren, Terrortaten zu begehen? Sie betreiben hier ganz eindeutig eine
Vorfeldkriminalisierung, die wir nicht mitmachen werden.
Herr Montag hat das Beispiel ja auch schon genannt:
Was ist zum Beispiel mit einem Soldaten, der sich bei
der Bundeswehr ausbilden lässt, dann aber plant, einen
Terroranschlag zu begehen? Heißt das im Rückschluss,
dass die Bundeswehr ein Terrorcamp ist, oder wie soll
man das interpretieren?
({3})
Sie müssen diese Fragen beantworten; denn Sie und
nicht wir haben diesen Gesetzentwurf vorgelegt.
({4})
Sind wir denn technisch tatsächlich schon so weit,
dass Justiz und Polizei Gedanken lesen können, oder wie
soll sonst der Beweis dafür erbracht werden, dass jemand in einem Trainingscamp, durch den Erwerb eines
Chemiebuches oder durch intensive Recherchen im Internet tatsächlich ein Terrorist werden will?
({5})
So viele Möglichkeiten, den Willen zum Anschlag
nachzuweisen, gibt es ja nicht. Wollen Sie sich auf dubiose Informationen von Geheimdiensten, wie Sie das
bei den sonstigen Terrorgesetzen auch schon tun, oder
auf mögliche Folterregime wie Pakistan, Türkei oder Syrien stützen? Das wäre mit menschenrechtlichen Standards absolut unvereinbar, und das wissen Sie auch.
Oder wollen Sie aufgrund einer vermuteten politischen
oder religiösen Überzeugung kurzerhand auf den vermeintlichen Terrorwillen schließen?
({6})
Das wäre in der Tat ein Gesinnungsstrafrecht, durch das
der Verfolgung politisch missliebiger Personen Tür und
Tor geöffnet werden würde. Auch das ist mit uns nicht
zu machen.
({7})
Späh- und Lauschangriffe, geheime Onlinedurchsuchungen durch das BKA und Untersuchungshaft werden dadurch
in noch größerem Umfang möglich gemacht, als das
schon heute - ich erinnere hier daran; das ist ja schon genannt worden - durch den Terrorparagrafen 129 a StGB
„Bildung terroristischer Vereinigungen“ und den
§ 129 b StGB „Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland“ der Fall ist. Der Umfang der Möglichkeiten soll jetzt noch einmal erweitert werden. Das war ja
zunächst auch das Anliegen von Frau Zypries.
Mit ihrer Gesetzesvorlage bereitet die Bundesregierung einer Schnüffel- und Gesinnungspraxis den Weg.
Wir denken, dass hier rechtstaatliche Prinzipien mit Füßen getreten werden.
({8})
Wenn eine Justizministerin einen Gesetzentwurf vorstellt und sagt, er sei verfassungsrechtlich auf Kante genäht, dann wird deutlich, dass man ernsthaft fragen
muss, ob hier wieder vorprogrammiert ist, dass das Verfassungsgericht diesen Gesetzentwurf einkassieren wird.
Man kann nur sagen: Frau Zypries, ich fand es sehr
gut, dass Sie am Anfang versucht haben, gegen Herrn
Schäuble anzutreten und zu sagen, dass Sie diese Verschärfung im Gesetz nicht wollen. Es ist aber wie immer: Sie sind mal wieder eingeknickt. In Richtung der
SPD muss man fragen: Wo bleibt eigentlich Ihre demokratische rechtsstaatliche Gesinnung, wenn Sie jedem
dieser Gesetzentwürfe, mit denen Bürgerrechte massiv
gefährdet und abgebaut werden, zustimmen?
({9})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ja. Ich komme auch zu meinen letzten beiden Sätzen.
({0})
Die Linke bleibt dabei: Gewaltdelikte sind und bleiben zu verfolgen und zu bestrafen; das ist überhaupt gar
keine Frage. Durch spezielle Terrorparagrafen nach dem
Strickmuster dieser Regierung werden jedoch das
Grundgesetz und der Rechtsstaat gefährdet.
Danke.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Wieland
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Geständnisse soll man ja möglichst frühzeitig ablegen. Deswegen sage ich gleich vorweg: Ich verstehe manchmal
die Welt nicht mehr - genauer gesagt, Ihre Welt, meine
Damen und Herren von der Großen Koalition. Da fehlt
mir wirklich die Einsicht.
({0})
Ich gebe zu: Unser Strafgesetzbuch stammt aus dem
Jahr 1871. Da gab es diese Form des internationalen Terrorismus noch nicht. Wir haben aber seit 1976 die terroristische Vereinigung und als Folge des 11. September
seit 2002 auch die ausländische terroristische Vereinigung im Strafgesetzbuch verankert. Nun finden Sie
Strafbarkeitslücken - Sie behaupten sie jedenfalls - und
begründen Ihr Vorhaben damit, dass der Terror eine internationale Erscheinung geworden ist und Terrorcamps
eine neue Erscheinung sind. Darauf muss ich Ihnen entgegen: Auch die Rote Armee Fraktion - wenn Sie das
nicht schon wissen, können Sie sich den Film über den
Baader-Meinhof-Komplex im Kino ansehen; er ist ja für
einen Oscar vorgeschlagen - ließ sich bekanntermaßen
in einem Terrorcamp ausbilden.
({1})
- Das war immer strafbar. Damit gab es nie ein Problem.
Des Weiteren haben Sie angeführt, es sei neu, dass die
Hierarchien weggefallen sind. Wir hatten aber terroristische Vereinigungen inländischer Prägung - ich denke
dabei an die „Bewegung 2. Juni“ in Berlin -, die per definitionem völlig unhierarchisch waren. Wir hatten mit
den „Revolutionären Zellen“ sogar das, was man heutzutage ein Terrornetzwerk nennt, nämlich einen relativ losen Verbund selbstständig agierender Gruppierungen
und Einzelpersonen.
Das alles ist im Kern nicht neu. Wenn Sie behaupten,
dass Sie Lücken füllen wollen, die wir nicht sehen und
die es gar nicht gibt, dann muss ich Ihnen unterstellen,
dass Sie in Wirklichkeit etwas ganz anderes wollen. Sie
wollen nämlich nicht die Vorbereitung unter Strafe stellen, Herr Kollege Gehb. Das gibt es im Strafgesetzbuch
bereits in manchen Fällen. Sie wollen die Vorbereitung
der Vorbereitung unter Strafe stellen. Bei Ihnen soll die
Strafe nicht der Tat auf dem Fuß folgen, sondern bei Ihnen soll die Strafe der Tat zwei Schritte vorausgehen.
Das ist das Neue, und das lehnen wir ab. Das geht in
Richtung Gesinnungs- und Feindstrafrecht. Das ist
scharf zu kritisieren.
({2})
Die Frau Bundesjustizministerin hat das schöne Beispiel des Kunden im Buchladen angeführt, der in einem
Buch liest. Er kann die Absicht haben, zu zahlen. Er
kann die Zueignungsabsicht haben. Was tun wir in dieser
Situation? Sollen wir ihn festnehmen und nachsehen, ob
er genug Geld dabei hat, um dieses Buch zu kaufen? Ist
das das Neue, das wir brauchen?
({3})
Wir tun das, was wir immer getan haben. Wir prüfen, ob
er das Buch unter die Jacke schiebt, und dann legen wir
das als Indiz für die Zueignungsabsicht aus.
({4})
- Mein lieber Kollege Gehb, jetzt sagen Sie wieder:
„Ströbele-Beispiel“. Der Kollege war aber nie ein Langzeitstudent wie Sie vielleicht.
({5})
Er hat zügig studiert, war bei der Bundeswehr, wurde
Kanonier und war dann noch drei Jahre Referendar. Er
war weder Langzeitstudent, noch hat er je ein Buch unterschlagen.
({6})
- Das Beispiel lassen wir weg. Wählen Sie andere Beispiele. Das ist nämlich falsch, selbst wenn es sich auf
Ströbele bezieht.
Aber im Ernst: Anhand welcher Indizien - die Ministerin hat mir ja recht gegeben; auch sie kann niemandem
in den Kopf hineingucken; das kann niemand - wollen
Sie die Abgrenzung zu einem normalen, sozial adäquaten Verhalten vornehmen, wenn es Ihnen zufolge darauf
ankommt, ob der Betreffende terroristische Absichten
verfolgt hat oder nicht? Das wird aus Indizien hergeleitet. Dabei wird man sicherlich im Verdachtsfall sehr umfangreich überprüfen, mit wem der Verdächtige korrespondiert und was er im Internet aufruft - die
Vorratsdatenspeicherung gibt es bereits -, und dann wird
man aus Mosaiksteinen seine Gesinnung zusammensetzen. Darauf wird es hinauslaufen. Damit geht man den
Schritt weg vom Schuldstrafrecht und vom Bestimmtheitsgebot. Das ist das gefährliche Neuland, das mit diesem Gesetzentwurf betreten wird. Das wollen wir nicht.
({7})
In der Begründung, Herr Kollege Stünker, hat uns das
BMJ am 14. Januar netterweise eine Lesehilfe mit Fallbeispielen geliefert, die erklären sollen, inwiefern es Lücken gibt.
({8})
Sie alle treffen nicht zu, weil alle Fälle bereits strafbar
sind.
Beim ersten Beispiel erhält - das ist wie in einer
Klausur - ein gewisser A den Auftrag, ein Terrorcamp
aufzusuchen und sich dort ausbilden zu lassen. Wo ist
denn hier das Problem der Strafbarkeit gegeben? Es gibt
neben A wenigstens einen, der ihm den Auftrag gibt, und
einen, der ihn ausbildet. Das macht zusammen mindestens drei Personen. Warum sollten diese Personen nicht
nach § 129 a des Strafgesetzbuches bestraft werden können? Was sind denn das für Beispiele?
({9})
- Der Kollege Uhl, der jetzt so lacht, hat in einem Artikel von einer „Riesenlücke“ gesprochen. Kollege Uhl,
ich sage Ihnen: Sie hätten diese Aufgabe in einer Klausur falsch gelöst.
({10})
Schauen Sie einmal in den EU-Rahmenbeschluss, in
dem definiert wird, was eine terroristische Vereinigung
ist. Da heißt es: Dieser Begriff bezeichnet
einen auf längere Dauer angelegten organisierten
Zusammenschluss …, der nicht nur zufällig zur unmittelbaren Begehung einer strafbaren Handlung
gebildet wird.
Dieser Tatbestand liegt hier doch vor.
Das nächste Beispiel ist noch absurder. Da geht es
ganz im Ernst um ein Mitglied einer Wehrsportgruppe.
Dieses Mitglied lässt sich bei dieser Wehrsportgruppe
als Sprengmeister ausbilden. Franz Josef Strauß sagte
einmal über die Wehrsportgruppe Hoffmann: Das sind
Hanseln, das sind Kasper. - Er wurde dann durch das
Oktoberfestattentat blutig eines Besseren belehrt. Aber
wer ist denn sonst außer ihm ernsthaft der Ansicht, dass
eine derartige Wehrsportgruppe keine terroristische Vereinigung wäre? Diese Erkenntnis sollte doch endlich im
BMJ angekommen sein. Weshalb schreiben Sie uns also
solche Beispiele auf?
({11})
Auch der Sauerland-Fall taucht in dieser Beispielsammlung auf. Natürlich haben sich die Mitglieder dieser Gruppe strafbar gemacht, sonst hätte man sie nicht
festnehmen können.
({12})
Man hat sie aber festgenommen. Vorbereitung eines Explosionsverbrechens steht seit Jahr und Tag in § 310 des
Strafgesetzbuches.
Nun zu den Kofferbombern, Herr Kollege Kauder.
Wenn man diese mit dem Koffer angetroffen hätte, dann
hätten sie sich natürlich strafbar gemacht; das ist überhaupt kein Thema. Schon wenn sie eine Bombe gebastelt
hätten, wäre das strafbar gewesen.
({13})
Sie wollen jetzt noch einen Schritt nach vorne machen.
Sie wollen, dass man schon beim ersten Herunterladen
aus dem Internet zuschlagen kann. Sie schreiben selber
in dem Artikel in der ZRP - da sind Sie ehrlich -: „Dadurch wird zugegebenermaßen eine weit vorverlagerte
Strafbarkeit begründet, ...“ - Sie haben recht: Das ist
eine weit vorverlagerte Strafbarkeit. Das kann nicht richtig sein. Gerade Sie, der den Untersuchungsausschuss
unter anderem zum Fall Murat Kurnaz leitet, müssten
wissen - auch dazu befindet sich hierin ein Beispiel -:
Er ist nie in einem Terrorcamp angekommen. Er ist zur
falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Er wurde gegen
eine Prämie ausgeliefert und landete dann in Guantánamo.
Herr Kollege, achten Sie auf Ihre Redezeit.
Ja, ich komme zu meiner letzten Ausführung. - Nach
dem neuen Recht hätte man ihn in Bremen oder dort, wo
er ins Flugzeug gestiegen ist, beim Abflug festnehmen
können. Damals gingen die Sicherheitsbehörden ja über
einen langen Zeitraum davon aus, er wolle sich terroristisch betätigen. Nun kann ein Zyniker sagen: Es ist immer noch besser, bei uns festgenommen zu werden, als
nach Guantánamo gebracht zu werden.
Aber die Logik, die all dem zugrunde liegt - wir haben nichts Konkretes, also machen wir das Unkonkrete
strafbar -, ist falsch. Sie ist nicht rechtsstaatlich. Wir lehnen sie ab.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Stünker für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zwei Vorbemerkungen:
Der erste Punkt: Herr van Essen, der Hinweis darauf,
welche Gesetze, die wir hier gemacht haben bzw. verbrochen haben sollen, vom Bundesverfassungsgericht
aufgehoben werden, verschlägt allmählich nicht mehr.
({0})
Es gibt eine empirische Untersuchung - ich werde sie Ihnen zukommen lassen - über 20 Jahre, in der festgestellt
wird, dass in diesem Zeitraum von 20 Jahren die Aufhebungsrate beim Bundesverfassungsgericht pro Jahr
durchschnittlich fast immer gleich geblieben ist. Ich
weiß nicht, woran das liegt. Das hat aber nichts damit zu
tun, wer gerade an der Regierung ist, oder damit, dass einer gute und der andere schlechte Gesetze macht. Das
liegt einfach in der Natur der Sache. Hören Sie also mit
solchen Behauptungen auf.
({1})
Der zweite Punkt: Sozialdemokratische Juristen haben keinen Vorsitzenden, Herr van Essen. Wir sind eine
freiheitliche Partei. Es gibt für sozialdemokratische Juristen eine Arbeitsgemeinschaft mit einem Vorsitzenden.
Das ist ein kleiner Unterschied. Aber auch in der Sprache sollte man genau sein.
({2})
Genauso, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir
bei diesem ernsten Thema, um das es hier geht, bei
sprachlichen Begrifflichkeiten sehr vorsichtig sein. Einige Redner, die ich gehört habe, haben die Schmerzgrenze überschritten, Herr Wieland und Frau Jelpke; das
muss ich ganz deutlich sagen.
({3})
Sie müssen doch vor einem Gesetz, das nicht anwendbar und dessen Inhalt nicht beweisbar ist, überhaupt
keine Angst haben;
({4})
denn die angeblichen Täter, denen man eine Straftat
nicht nachweisen kann, werden in Deutschland noch immer freigesprochen. Sie können dann irgendwann sagen:
Euer Gesetz greift nicht. Was Ihr dort geregelt habt, trifft
den Sachverhalt, um den es geht, eigentlich gar nicht. Aber Ihre Angst davor, dass hier jemand möglicherweise
aus Gesinnungsgründen bestraft wird, können Sie nach
dem, was wir Ihnen vorgelegt haben, zumindest keinem
rechtskundigen Menschen in diesem Land erklären.
({5})
Frau Jelpke, es tut mir furchtbar leid, aber Sie haben mit
Ihren Ausführungen wieder einmal klargemacht, dass
Sie nicht regierungsfähig sind. Das wird wohl noch
lange so bleiben.
Jetzt zum Ernst des Themas zurück. Worüber reden
wir eigentlich?
Es handelt sich um einen ernsten Sachverhalt; die Frau
Ministerin hat zu Recht darauf hingewiesen. Wir reden
darüber, dass die Bedrohung durch den internationalen
Terrorismus auch für uns in Deutschland nach wie vor
fortbesteht. Ich nenne als Beispiele die Bedrohung von
Passagierflugzeugen in London, die Attentate von Madrid sowie die in Dortmund und Koblenz gefundenen
Bomben in Zügen. Wir wissen also, dass die Gefahr
nach wie vor konkret ist. Zudem gab es - darauf wurde
schon hingewiesen - in den letzten Tagen entsprechende
Videos.
Die Menschen in diesem Land haben einen Anspruch
darauf, dass Politik das, was in rechtlicher Hinsicht möglich bzw. was menschenmöglich ist, tut, um die Bevölkerung vor solchen Anschlägen mit ihren furchtbaren Auswirkungen zu schützen. Das ist unsere Pflicht und
Schuldigkeit als Parlamentarier.
Worüber reden wir eigentlich?
({6})
- Das will ich Ihnen erklären. - Wir wissen - einige aus
den Ministerien wissen vielleicht en détail ein bisschen
mehr; Kollege Uhl und ich sind Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums; vielleicht haben wir
dadurch in einigen Punkten einen gewissen Wissensvorsprung -, dass es einen ganz bestimmten, kleinen Kreis
an Personen gibt, die sich in Camps im Ausland, zum
Beispiel in Afghanistan und Pakistan, im Umgang mit
Waffen, Sprengstoff und Chemikalien ausbilden und
sich auch psychisch schulen und indoktrinieren lassen,
damit sie, wenn sie zurückkommen, möglicherweise bereit sind, Selbstmordattentate oder Ähnliches zu verüben. Wir wissen, dass diese Personen nach Deutschland
zurückkommen werden. Wir kennen sie sogar. Aber wir
haben keine Handhabe und können keine Ermittlungsmaßnahmen ergreifen, weil wir deren Verhalten strafrechtlich nicht erfassen können; genau das ist der Punkt.
({7})
§§ 129, 129 a und 129 b des Strafgesetzbuches passen
hier nicht; dafür muss man etwas vom Strafrecht verstehen.
({8})
§ 30 StGB „Anstiftung zu einem Verbrechen“, den
Kollege Montag erwähnt hat, passt ebenfalls nicht. Man
braucht immer zwei Personen, um die Tatbestände zu erfüllen. Das heißt, genau die Normen, die wir von alters
her kennen, passen nicht zu den infrage kommenden
Sachverhalten.
Auch die Strafbarkeit des Versuchs passt hier letztendlich nicht; denn ein strafwürdiger Versuch bedeutet,
dass der Täter alles getan haben muss, damit die Tat
nach seinen Vorstellungen vollendet werden kann. Genau das fehlt aber im oben genannten Fall noch. Die
klassische Lehre, die wir kennen, passt hier nicht.
Bei Selbstmordattentaten ist zudem die Phase zwischen Vorbereitung, Versuch und Vollendung außerordentlich kurz. Auch daran sehen Sie, dass unsere bisherige Dogmatik nicht passt. Nur aus diesem Grunde und
nur für den Täterkreis, um den es hier geht, schaffen wir
unter Sicherheitsaspekten zwei neue Tatbestände, um im
Vorfeld mit entsprechenden Ermittlungsmaßnahmen
vorgehen zu können.
Was stellen wir zukünftig - das wurde bislang noch
nicht richtig erklärt - eigentlich unter Strafe? Es handelt
sich um ein Staatsschutzdelikt. Das heißt, der Täter muss
mit dem Ziel handeln, den Bestand der Bundesrepublik
Deutschland zu beeinträchtigen; das gehört mit zum Tatbestand. Er muss dafür vorhaben, entweder einen Mord,
einen Totschlag, eine Freiheitsberaubung, Menschenraub oder Ähnliches zu begehen.
Das sind die Tatbestandsmerkmale, die vorliegen
müssen, von denen aber keiner von Ihnen gesprochen
hat. Um diese Taten begehen zu können, muss er sich
entsprechend ausbilden lassen,
({9})
und er muss dabei den Vorsatz haben - hören Sie doch
einmal zu, Herr Wieland, Sie können noch etwas lernen -,
das, was er dort gelernt hat, nachher konkret umzusetzen. Das ist der Hintergrund, aber nicht das, was Sie hier
erzählt haben, was einige Leute schreiben und was Sie
einigen Journalisten in die Feder diktiert haben, die davon gesprochen haben, wir würden Gesinnungsstrafrecht
machen.
({10})
Ganz konkrete Straftatbestandsmerkmale, die ich hier
eben genannt habe, müssen erfüllt sein. Das hat nichts
mit Gesinnung zu tun, sondern das hat etwas mit der
konkreten Gefährlichkeit der Täter zu tun.
({11})
Herr Kollege Gehb hat schon auf etwas hingewiesen,
was auch ich betonen möchte, damit es in der Öffentlichkeit wirklich deutlich wird. Dass Vorbereitungshandlungen unter Strafe gestellt werden, ist im deutschen
Strafrecht nun wirklich nichts Neues. Um das zu wissen,
muss man den Besonderen Teil kennen, Frau Jelpke. Sie
haben von der Vorbereitung des Angriffskrieges gesprochen. Es heißt dort nur: Wer einen Angriffskrieg vorbereitet, an dem Deutschland beteiligt sein soll, der wird
bestraft. - Woher wissen Sie das? Können Sie in den
Kopf hineinschauen? Wie macht man denn so etwas?
Natürlich brauchen wir Tatsachen und Anknüpfungspunkte, natürlich brauchen wir eine Beweislage, nach
der ein Gericht zu der Überzeugung kommt, dass Menschen - auch subjektiv - einen Krieg vorbereiten wollen.
({12})
- Das ist doch gar nicht wahr. - Bei hochverräterischen
Unternehmen muss man nur bereit sein, Hochverrat zu
begehen. § 87 StGB betrifft die Agententätigkeit zu Sabotagezwecken. Da verhält es sich genauso. Man muss
nur sagen, dass man nach Deutschland fährt, weil man
als Agent bereit ist, irgendwann eine Straftat zu begehen.
Es geht also um das Vorfeld. Das ist der Hintergrund. So
weit ab von dem, was wir nach geltendem Recht kennen,
bewegen wir uns hier also im Ergebnis nicht.
({13})
- Das habe ich doch gar nicht gesagt. Unterstellen Sie
mir keine Zitate, die ich nie gesagt habe. Ein solches Zitat von mir werden Sie nicht finden.
Daher sage ich Ihnen: Lassen Sie uns mit kühlem Verstand in diese Beratungen im Rechtsausschuss hineingehen, lassen Sie uns dort mit kühlem Verstand die Sachverständigen anhören. Wenn wir vielleicht Tatbestände
nicht bestimmt genug gefasst haben, dann werden wir
darüber beraten. Gemeinsam sollte uns - das hat auch
Kollege Gehb gesagt - die Absicht tragen, mit dieser
Gesetzgebung nicht die Gesinnung unter Strafe zu stellen, sondern die Menschen in diesem Land davor zu
schützen, dass Personen schwerste Straftaten begehen.
Ich garantiere Ihnen, Herr van Essen, Herr Wieland und
Frau Jelpke: Wenn irgendwo bei uns die erste U-Bahn
hochgeht, dann werden Sie die Ersten sein, die einen Untersuchungsausschuss beantragen werden.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Selbstverständlich sind Freiheitsrechte in einem Staat wichtig, und sie sind auch
grundgesetzlich geschützt. Aber hat der Staat nicht auch
die Aufgabe, Straftaten zu verhindern, nicht nur den
überführten Straftäter zu verurteilen? Es ist eine wesentliche Aufgabe, dazu beizutragen, dass Straftaten nicht
zum Erfolg führen.
({0})
Herr Kollege van Essen, Sie haben natürlich recht:
Bisher ist in Deutschland zum Glück nichts passiert.
Aber was die Kofferbomber anbelangt, so war das nicht
das Verdienst deutscher Ermittlungsbehörden. Man hat
vergessen, dem Gasgemisch Sauerstoff beizumischen.
Wäre es nicht viel besser gewesen, man hätte diese Kofferbomber schon in dem Stadium festnehmen können, in
dem sie die ersten Vorbereitungshandlungen durchgeführt haben?
({1})
Vorbereitungshandlungen unter Strafe zu stellen, ist
überhaupt nichts Neues.
({2})
Warum haben wir denn den § 30 des Strafgesetzbuches?
Er betrifft die typische Bestrafung einer Vorbereitungshandlung, die dazu dient, ein Verbrechen vorzubereiten.
Warum haben wir § 234 a Abs. 3 des Strafgesetzbuches,
in dem es um die Strafbarkeit einer Vorbereitung zu einem Verschleppungsverbrechen geht? Genau deshalb,
Siegfried Kauder ({3})
weil wir nicht wollen, dass Menschen verschleppt werden! Vielmehr sollen sie vom Staat rechtzeitig davor geschützt werden.
Herr Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wieland?
Gerne doch.
Vielen Dank, Herr Kollege Kauder. - Ist Ihnen denn
nicht aufgefallen, dass Sie sich im Rahmen Ihrer Ausführungen zu den Kofferbombern gerade widersprochen
haben? Sie fragten: Wäre es nicht gut gewesen, sie vorher festzunehmen? Gerade diese Menschen haben sich
offenbar vorher zu einem Sprengstoffverbrechen verabredet, das als Vorbereitungshandlung nach § 310 Strafgesetzbuch bereits unter Strafe steht.
({0})
War das Problem bei den Kofferbombern nicht vielmehr, dass unsere Sicherheitsbehörden - sowohl die
Nachrichtendienste als auch die Länderpolizeien als
auch irgendjemand anders - sie nicht im Visier hatten?
Man hatte keine Anknüpfungspunkte, sich diese beiden
Personen anzusehen. Was wäre denn anders, wenn wir
das neue Gesetz schon hätten?
({1})
Kollege Wieland, ich bin Ihnen für Ihre Frage außerordentlich dankbar. Das Zauberwörtchen heißt „verfahrensrechtliche Bezugsnorm“. Schauen Sie sich einmal
§ 100 a der Strafprozessordnung an; dort geht es um die
Telekommunikationsüberwachung. Meinen Sie, ein
Staatsanwalt kann aufgrund eines vagen Verdachtsmomentes hingehen und eine Telefonüberwachung anordnen? Meinen Sie, ein Richter würde diese Maßnahme
zulassen? Nein, man braucht bestimmte Tatsachen, aufgrund deren man eine Ermittlungsmaßnahme einleiten
kann.
({0})
Deswegen wollen wir, dass die Strafbarkeit vorverlagert
wird, damit man durch die bestimmten Tatsachen des
vorverlagerten Deliktes einen Anknüpfungspunkt hat,
um Ermittlungsmaßnahmen durchführen zu können.
({1})
So viel zur verfahrensrechtlichen Bezugsnorm. Damit
habe ich Ihnen die Antwort gegeben.
({2})
Das Wesentliche ist, dass wir verfahrensrechtliche
Bezugsnormen schaffen, die es bisher nicht gibt. § 30
des Strafgesetzbuches reicht nicht aus - das ist schon
erwähnt worden -, weil man am Anfang eines Ermittlungsverfahrens die Existenz einer terroristischen Vereinigung nicht nachweisen kann, da man die Tatbestandselemente noch nicht aufgedeckt und enttarnt hat.
§ 30 des Strafgesetzbuches eignet sich auch wegen
der Rechtsprechung nicht. Ich verweise auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, Band 18, Seite 160 ff.
Dort wurde der Straftatbestand nach § 30 des Strafgesetzbuchs deutlich eingeschränkt. Um im Vorfeld ermitteln zu können, muss man eine konkrete Tat nachweisen.
Die Vorbereitung dieser Tat muss so weit fortgeschritten
sein, dass der Täter nur noch zur Tat ansetzen muss. Genau das ist nach den in unserem Gesetzentwurf enthaltenen Vorschriften nicht der Fall.
Einiges ist in der Diskussion durcheinandergegangen.
Frau Kollegin Jelpke, ich empfehle Ihnen, einmal in den
Gesetzentwurf hineinzuschauen. Es ist ein Unterschied,
ob man von § 89 a Strafgesetzbuch oder von § 89 b
Strafgesetzbuch spricht. In § 89 a werden ganz konkret
vier Vorbereitungshandlungen unter Strafe gestellt. Es
handelt sich also nicht um ein Gesinnungsstrafrecht,
sondern um gesetzlich genau umschriebene Vorbereitungshandlungen. Nach § 89 a des Strafgesetzbuches
muss aber den Vorbereitungshandlungen ein Vorsatz hinzukommen. Bei einer Ausbildung im Terrorcamp muss
also kein konkreter Vorsatz für eine Straftat vorliegen.
Ich bitte Sie, diese beiden Straftatbestände auseinanderzuhalten.
Wir erreichen mit diesem Gesetz eine Verbesserung
der Sicherheitslage in Deutschland. Wir eröffnen den Ermittlungsbehörden die Möglichkeit, Telekommunikationsüberwachung und Wohnraumüberwachung durchzuführen. Genau das ist es, was zum Erfolg führt: sich
nicht darauf zu verlassen, dass wie in der Vergangenheit
nichts passieren wird und dass das Glück einem weiterhin hold ist. Wir müssen dieses Instrumentarium zur
Verfügung stellen, damit Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden gegen terroristische Angriffe rechtzeitig
vorgehen können.
Ich möchte gern noch das Beispiel der SauerlandGruppe ansprechen: Es waren nicht die Ermittlungsbehörden, deren Arbeit zum Erfolg geführt hat, sondern die
Informationen eines V-Manns der Amerikaner. Man darf
sich nicht auf der sicheren Seite wähnen und sagen: Es
wird schon weiterhin so funktionieren. Wir müssen strafprozessual und strafrechtlich mit entsprechenden Strafvorschriften reagieren. Deswegen muss der, der Sicherheit in Deutschland will, diesem Gesetz zustimmen.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wir Innenpolitiker der CDU/CSU-Fraktion
haben uns gestern die Terrorvideos angeschaut. Meines
Wissens haben die Kollegen aus der SPD-Fraktion in
dieser Woche dasselbe getan. Ich kann Ihnen, Herr van
Essen, und den anderen Kollegen aus der Opposition nur
empfehlen, dies auch zu tun,
({0})
weil Sie dann erleben, dass es sich bei Bekkay Harrach,
einem jungen Marokkaner, der in Deutschland eingebürgert wurde, um einen fanatisierten Islamisten handelt.
Auf der einen Seite ist er sicherlich ein verwirrter Geist
- den Eindruck gewinnt man, wenn man ihn erlebt -, auf
der anderen Seite aber ein finster entschlossener Selbstmordattentäter, der bereit ist, das, was er dort ankündigt,
auch zu tun.
({1})
- Ein Einzeltäter.
({2})
Die Bedrohung, die von diesem Mann ausgeht, müssen
wir sehr ernst nehmen, Herr van Essen.
({3})
Er ist mittlerweile zum Planungschef von al-Qaida aufgestiegen.
({4})
Was er tut, hat Parallelen zu dem, was in Spanien
2004 drei Tage vor der Parlamentswahl geschehen ist.
({5})
Er will uns Abgeordnete einschüchtern. Er bedroht uns
in dem Video: Wir sollen vor der nächsten Bundestagswahl dafür sorgen, dass die deutschen Soldaten aus
Afghanistan abziehen; dann haben wir eine Chance, den
Terroranschlag abzuwenden.
Dies ist die Ausgangslage. Bei dieser Ausgangslage
muss man darüber nachdenken: Was kann der Staat tun,
um seine Bürger zu schützen? Gibt es eine vornehmere
Aufgabe eines Staates als die, seine Bürger vor Gefahren
für Leib und Leben zu schützen?
Damit komme ich zu den Paragrafen und zu den Tatbeständen, die wir hier besprechen. Derzeit dürfen
Personen, die in Terrorcamps ausgebildet wurden, in
Deutschland straffrei herumlaufen. Es gibt bereits einen
Fall; vom Berliner Kammergereicht entschieden. Das ist
nicht nur lebensbedrohlich, das ist absurd.
({6})
Diese Rechtslücke müssen wir schließen.
Es tut weh, wenn ein Selbstmordattentäter, der eine
Bombe im Auto hat und als Bedrohung gesehen werden
muss, mit einem Ladendieb verglichen wird. Einem, der
einigermaßen Gespür für Sicherheit und Ordnung hat,
tut das weh.
({7})
Bei einem Ladendieb kann man zu jedem Zeitpunkt eingreifen, die Tat verhindern, alles Mögliche klären und
aufdecken. Es ist aber zu spät, Herr Wieland, wenn der
Selbstmordattentäter mit dem Auto losgefahren ist.
({8})
Das heißt, wir müssen die Strafbarkeit sozusagen vorverlagern, wenn wir eine Chance haben wollen, den Anschlag zu verhindern.
Wir haben es bei dem neuen § 89 a StGB - das ist
mehrfach betont worden - mit einem subjektiven und einem objektiven Tatbestand zu tun. Beide müssen erfüllt
sein. Es muss Mord, Totschlag geplant sein, gewünscht
sein, es muss die Absicht darauf ausgerichtet sein, und
der Betreffende muss zu diesem Zweck zum Beispiel das
Erlernen des Baus einer Autobombe beabsichtigen. Es
geht um einen doppelten Vorsatz; das muss man immer
wieder hervorheben.
Es kann nicht richtig sein, dass wir tatenlos zuschauen, wie Menschen, radikalisierte Islamisten, sich
aus Deutschland auf den Weg ins Grenzgebiet zwischen
Afghanistan und Pakistan machen, um sich in Terrorcamps ausbilden zu lassen, und dass wir sagen: Das ist
eben so; das nehmen wir hin; wir müssen halt schauen,
dass wir sie erwischen, bevor sie zurückkommen. - Ist
das Ihr Verständnis von einem Staat? Das frage ich mich.
Wir müssen die Vorverlagerung der Strafbarkeit definieren. Wir definieren sie richtig, indem wir in einem
neuen § 89 b StGB festlegen, dass bereits bei der Kontaktaufnahme - natürlich nicht irgendeiner Kontaktaufnahme, sondern der Kontaktaufnahme mit dem Ziel, die
Ausbildung zum Terroristen zu ermöglichen - Strafbarkeit gegeben ist.
Das Totschlagargument vom Gesinnungsstrafrecht ist
also völlig abwegig. Es passt nicht hierher. Es müssen
ganz konkrete Vorbereitungshandlungen gegeben sein.
Herr van Essen, wenn wir sagen, bisher hätten wir
Glück gehabt, auch bei den Kofferbombenattentätern,
und dies mit einem Lob an die Sicherheitsbehörden und
die Nachrichtendienste garnieren, uns jetzt aber zurücklehnen und sagen, daher machen wir so weiter, dann
kann ich vor dieser Haltung nur warnen.
({9})
Damit werden wir der Gefahr nicht gerecht.
({10})
Wenn wir zu den beiden Vorschriften, die wir hier hinsichtlich dieser Vorverlagerung der Strafbarkeit vorschlagen, nicht bereit sind, sollten wir offen zugeben,
dass der Staat bei solchen Bedrohungslagen durch
Selbstmordattentäter dann eben kapitulieren muss.
({11})
Dann ist es eben Schicksal der betroffenen Opfer;
({12})
das ist dann für die Opfer dumm gelaufen.
({13})
Wir von der Union sind nicht bereit, vor dieser Bedrohung zu kapitulieren. Wir wollen den Rechtsstaat gegenüber dieser Bedrohung wehrhaft machen.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/11735 und 16/7958 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? ({0})
Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen
so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 6 a und b:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Regelung der Verständigung im
Strafverfahren
- Drucksache 16/11736 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Absprachen im Strafverfahren
- Drucksache 16/4197 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat für
die Bundesregierung Frau Bundesministerin Brigitte
Zypries das Wort.
({3})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit den beiden genannten Gesetzentwürfen, über die wir
heute in erster Lesung beraten, schaffen wir mehr
Rechtsstaatlichkeit für einen Vorgang, der tägliche Praxis in deutschen Gerichten ist.
({0})
Seit über 20 Jahren gibt es Absprachen im Strafprozess, und der Bundesgerichtshof hat diese Tatsache in
mehreren Entscheidungen für richtig erklärt und ihr
Konturen gegeben. Wir haben gesagt: Dass der Bundesgerichtshof Konturen eingezogen hat, mag das eine sein;
wir aber wollen diese Konturen durch die Übernahme in
den Gesetzestext verstärken. Wir wollen, dass der
Rechtsstaat an dieser Stelle noch mehr Korsettstangen
einzieht.
({1})
Diese Absprachen im Strafprozess gibt es entgegen
einem weitverbreiteten Vorurteil, das insbesondere durch
die Boulevardpresse genährt wird, keineswegs nur für
Reiche und Mächtige in diesem Lande.
({2})
Die Prozesse gegen die Reichen und Mächtigen sind nur
solche Prozesse, die von der Boulevardpresse aufgegriffen und breit getreten werden; aber man weiß, dass es
solche Absprachen in jedem Landgericht in Deutschland
jeden Tag gibt und dass sie insbesondere bei den Delikten der Drogenkriminalität, bei vielen Delikten der Alltagskriminalität, wenn es in einem Fall um viele Straftaten geht, oder bei Sexualstraftaten inzwischen gang und
gäbe sind.
Gerade bei Sexualstraftaten ist diese Möglichkeit
ganz besonders wichtig,
({3})
denn bei Sexualstraftaten - vielen Dank, Herr van Essen kommt der Gesichtspunkt des Opferschutzes hinzu, ganz
genau. Ein Täter, der geständig ist und sich mit seinem
Geständnis auf eine Absprache in diesem Prozess einlässt, verhindert, dass die Opfer als Zeugen gehört werden müssen; er erspart damit den Opfern dieser Straftaten eine Wiederbegegnung mit dem Täter und eine
vielleicht sehr schmerzhafte Aufwühlung des Geschehens. Von daher ist bei der Möglichkeit einer Absprache
im Strafprozess auch der Gesichtspunkt des Opferschutzes zumindest mir wichtig.
({4})
Es geht aber, meine Damen und Herren - ({5})
- Sie können gern Zwischenfragen stellen, Herr
Nešković, aber nicht dauernd dazwischenblöken.
({6})
Bei der Verständigung geht es nicht nur um Opferschutz; es geht natürlich auch - das will niemand bestreiten - um effektiven Ressourceneinsatz. Das wurde in der
Vergangenheit auch häufiger kritisiert. Es wurde kritisiert, die Justiz mache das nur, um die Einstellung von
weiteren Richterinnen und Richtern vermeiden zu können. Das ist natürlich überhaupt nicht der Fall. In jedem
Einzelfall muss ordnungsgemäß geprüft werden: Macht
es Sinn, Ressourcen in der Art und Weise zu verwenden,
({7})
dass man ein Verfahren mit vielen einzelnen Punkten
vollständig aufklärt, oder ist es im Sinne eines effektiven
Ressourceneinsatzes, auf den die Justiz natürlich genauso achten muss wie der gesamte öffentliche Dienst,
nicht sinnvoller, darauf zu verzichten, wenn ein Geständnis vorliegt und das Gericht davon überzeugt ist,
dass der Angeklagte schuldig ist?
({8})
Wir ziehen mit diesem Gesetzentwurf Korsettstangen
ein; ich habe es eben schon erwähnt. Eine dieser Korsettstangen ist: Wir schaffen mehr Transparenz. Wir holen nämlich die Verständigung aus den Hinterzimmern
heraus und bringen sie in die Hauptverhandlung. Künftig
können Verständigungen im Strafprozess nur noch in der
öffentlichen Hauptverhandlung beraten und beschlossen
werden.
Des Weiteren bleibt es bei den Prinzipien der Strafprozessordnung. Das Gericht muss von der Wahrheit des
Geständnisses des Angeklagten überzeugt sein. Es darf
keinen Angeklagten verurteilen, wenn es Zweifel an dessen Schuld hat.
Die Schuld des Angeklagten bleibt auch weiterhin der
Maßstab für das Urteil. Die Verständigung kann sich nie
auf den Schuldspruch als solchen, sondern immer nur
auf das Strafmaß beziehen. Deswegen werden auch in
Zukunft die Regelungen zur Strafzumessung so gelten,
wie sie im StGB stehen.
Ein weiterer Punkt, bei dem ich davon überzeugt bin,
dass er die Rechtsstaatlichkeit dieses Verfahrens unterstreicht, ist die Regelung, dass es keinen Rechtsmittelverzicht geben darf. Auch bei einer Absprache im Strafverfahren muss klar sein, dass sowohl Staatsanwaltschaft
als auch Verteidigung nach Abschluss des Verfahrens ein
Rechtsmittel einlegen können. Der Verzicht auf ein
Rechtsmittel darf nicht Gegenstand der Verständigung
sein.
({9})
Damit entfällt das oft verwendete Argument, es werde
dann in der Form gekungelt, dass der Richter ein Geständnis unter Verzicht auf ein Rechtsmittel anstrebt, damit der Angeklagte im Wege einer Verständigung verurteilt werden kann. Genau das wollen wir nicht.
Deswegen ist ganz klar: Die Verständigung muss in öffentlicher Hauptverhandlung erfolgen, ein Verzicht auf
Rechtsmittel ist nicht zulässig, und das Gericht muss von
der Schuld des Angeklagten überzeugt sein.
Wir halten also mit diesem Gesetzentwurf an den
rechtsstaatlichen Prinzipien des Strafprozesses fest. Wir
schaffen mehr Rechtsklarheit, mehr Rechtssicherheit
und mehr Rechtsgleichheit.
Trotzdem möchte ich noch einmal auf einen Punkt
hinweisen: Auch wenn die Justiz ihre Ressourcen effizient einsetzen soll, sind wir Rechtspolitiker alle gemeinsam - sowohl im Bund als auch in den Ländern - verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Justiz mit Personal
hinreichend ausgestattet ist.
({10})
Zwar ist es so, dass das Gericht den Vorschlag einer Verständigung macht. Aber es kann ihn besser aus einer
starken Position heraus machen. Klar muss sein: Wenn
es bei der Verständigung Probleme gibt, ist es selbstverständlich, dass der Prozess bis ins letzte Detail durchgeführt und dann ein Urteil gefällt wird.
({11})
Darauf müssen wir Wert legen. Deswegen ist es so wichtig, dass die Justiz personell und sachlich gut ausgestattet ist,
({12})
dass wir die notwendigen Ressourcen auch zur Aufklärung komplexer Steuer- und Wirtschaftsdelikte haben
und dass völlig klar ist, dass es nicht aus der Not heraus
zu einer Verständigung kommen muss. Jeder Angeklagte
muss wissen, dass bei einem Scheitern der Verständigung der Prozess bis ins letzte Detail geführt und dann
geurteilt wird.
Sie wissen, dass ich immer und überall dafür werbe,
dass wir uns für die personelle Ausstattung der Justiz
einsetzen. Wie Ihnen bekannt ist, haben wir für den Generalbundesanwalt 21 zusätzliche Stellen erreicht, um
den rechtsstaatlichen Anforderungen durch die Veränderung der Gesetze auch an dieser Stelle Rechnung tragen
zu können. Aber wir müssen uns gemeinsam auch dafür
einsetzen, dass die Kolleginnen und Kollegen in den
Ländern die nötige Rückendeckung von uns bekommen,
um gegen-über ihren Finanzministern klare Kante zeigen
zu können.
({13})
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir konnten in der letzten Zeit - der Referentenentwurf
des Bundesjustizministeriums ist ja schon mehrere Jahre
alt; ich war sehr überrascht, dass es jetzt plötzlich sehr
schnell gehen soll - mehrfach sehr kritische Stellungnahmen lesen. Dazu gehört beispielsweise ein Beitrag
von einem Richter an einem Oberlandesgericht in der
Deutschen Richterzeitung im Mai 2007. Auch der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor Hassemer, hat sich kürzlich dahin gehend geäußert.
Ich muss gestehen, dass ich persönlich positiv zu
Deals in Strafverfahren und zu einer entsprechenden gesetzlichen Regelung stehe. Frau Ministerin, ich glaube,
Sie haben recht, dass es gut ist, dass Korsettstangen eingezogen werden. Denn es ist schon Praxis. Wenn es
schon Praxis ist, die auch von den Obergerichten anerkannt worden ist, dann macht es Sinn, das Ganze aus
dem Hinterzimmer herauszuholen und öffentlich in die
Hauptverhandlung einzuführen. Das dient - das ist das
Wichtigste, was wir hier beachten müssen - dem Vertrauen in den Rechtsstaat.
({0})
Das muss auch für uns der wesentliche Maßstab sein.
Die Frau Ministerin hat es schon angesprochen: Das
Vertrauen in den Rechtstaat ist deshalb in der Öffentlichkeit beeinträchtigt, weil eine bestimmte Berichterstattung den Eindruck erweckt, dass man einer gewissen
Gehaltsklasse angehören muss, um in den Genuss eines
solchen Vorteils zu gelangen. Frau Ministerin, Sie haben
zu Recht darauf hingewiesen, dass es solche Deals in
vielfältiger Form schon in der Praxis gibt und dass viele,
insbesondere Opfer, davon profitieren.
Ich will zusätzlich die Einstellung wegen Geringfügigkeit nach § 153 a der Strafprozessordnung anführen.
Gemäß diesem Paragrafen wird mit dem Beschuldigten
gesprochen und mit ihm eine Übereinkunft über eine
mögliche Geldbuße getroffen. Er muss somit nicht vor
Gericht erscheinen. Solche Absprachen kommen vielen
Bürgern in unserem Lande entgegen, weil sie dann nicht
vor Gericht erscheinen müssen. Jeder, der sich mit Strafverfahren auskennt, weiß, wie sehr ein solches Verfahren
den Einzelnen belastet. Eine solche Vorgehensweise
kennen wir also schon. Wir kommen jetzt im Hinblick
auf Absprachen ebenfalls zu einer gesetzlichen Regelung.
Aber in einem Punkt bin ich nicht so optimistisch wie
Sie, Frau Ministerin. Ich war als Angehöriger einer Generalstaatsanwaltschaft selbst daran beteiligt, Druck auf
die unterstellten Behörden auszuüben, öfter Ermittlungsverfahren nach § 153 a der Strafprozessordnung wegen
Geringfügigkeit einzustellen, um die Justiz zu entlasten,
weil nicht genug Richter und Staatsanwälte zur Verfügung standen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die
übergeordneten Behörden und die Justizminister der
Versuchung widerstehen können, auf Absprachen zu
drängen.
Wir sollten darauf achten - das ist der erste Punkt,
den wir in unseren Beratungen behandeln sollten -, dass
in solchen Fällen die jetzt vorgesehene Regelung nicht
dazu führt, dass Kammern, die eigentlich verhandeln
wollen, unter dem Druck stehen, zu einem Deal zu kommen. Das gilt insbesondere dann, wenn möglicherweise
mehrmonatige, vielleicht sogar mehrjährige Hauptverhandlungen anstehen, die den Justizhaushalt natürlich finanziell ganz erheblich belasten.
({1})
Wir müssen diese Gefahr sehen und sie in unseren Beratungen berücksichtigen.
Ein zweiter Punkt, der in unseren Beratungen beachtet werden muss, ist die Frage, welche Rolle der jeweilige Angeklagte hat. Er darf nicht unter Druck gesetzt
werden, beispielsweise indem ihm eine besonders hohe
Strafe für den Fall angedroht wird, dass er nicht mitmacht. Er darf auch nicht mit der Ankündigung gelockt
werden, dass das Verfahren sehr viel günstiger ausgeht,
wenn er mitmacht. Auch das beeinträchtigt ganz selbstverständlich das Vertrauen in den Rechtsstaat. Wir müssen aufpassen, dass so etwas nicht passiert.
Ein dritter Punkt, der mir wichtig ist, ist von der Ministerin schon angesprochen worden: Absprachen im
Strafverfahren können dazu führen, dass beispielsweise
Opfer nicht als Zeuge erscheinen müssen. Jeder, der die
Praxis in Gerichten kennt, weiß, wie schwierig es oft für
Opfer ist, plötzlich dem Täter wieder in die Augen sehen
zu müssen. Wenn durch eine Absprache verhindert wird,
dass ein Opfer zum zweiten Mal zum Opfer wird, ist das
ein ganz wichtiger Erfolg. Das wird von uns, von der
FDP-Bundestagsfraktion, nachdrücklich unterstützt.
Einen Aspekt sollten wir uns noch einmal ansehen.
Das ist die Frage der Nebenklage.
({2})
Wir haben die Nebenklage - auch das ist eine Stärkung
der Rolle des Opfers - in den letzten Jahren ganz bewusst gestärkt. Wir sollten uns anschauen, wie die
Rechte und die Möglichkeiten der Nebenklage bei einem
Deal ausgestaltet sind.
({3})
Ganz wichtig ist, dass auch der Nebenkläger daran beteiligt ist, dass er nicht ausgeschlossen ist, dass er seine Interessen einbringen kann. Das ist mir persönlich ganz
außerordentlich wichtig.
({4})
Von daher ist das Signal meiner Fraktion: Wir werden
uns gerne in die Diskussionen einbringen. Wir werden
eine Anhörung dazu durchführen. Ich glaube, dass wir
hier einen guten und richtigen Schritt tun. Das, was Praxis ist, nun mit einem gesetzlichen Korsett zu versehen,
ist ein richtiger Ansatz, der von uns unterstützt wird.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Gehb für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
immer noch dieselbe Kollegenschaft. Heute ist ein
rechtspolitischer Tag. Man kommt endlich einmal vor
22 Uhr zu Wort. Ob das immer so gut ist, weiß ich nicht,
nachdem ich mir so manchen Redebeitrag angehört
habe. Aber immerhin, das zeigt die Wertschätzung für
die Rechtspolitik.
Nicht selten habe ich von diesem Pult aus in Anlehnung an Montesquieu gesagt: Wenn es nicht nötig ist, ein
Gesetz zu machen, dann ist es nötig, keines zu machen.
Heute möchte ich mit der gleichen Verve betonen: Hier
ist es nötig, ein Gesetz zu machen. Wer die Begriffe
nicht beherrscht - den Begriff „Verständigung im Strafprozess“
({0})
möchte ich besonders betonen; bitte nicht die Begriffe
„Vereinbarung“, „Absprache“ oder gar „Deal“ verwenden; ich komme gleich darauf zu sprechen, wie unsäglich das im Zusammenhang mit Herrn Nešković war -,
kann die Diskussion nicht beherrschen. Ich ärgere mich
auch immer wieder, wenn vom Großen Lauschangriff
gesprochen wird. Wer greift denn eigentlich beim Großen Lauschangriff an? Bei der elektronischen Wohnraumüberwachung geht es um die Abwehr terroristischer
Angriffe, und wir reden vom Großen Lauschangriff.
({1})
Achten Sie deshalb bitte auch auf die Begrifflichkeit und
sprechen Sie von Verständigung.
Es ist schon gesagt worden: Die Verständigung im
Strafprozess ist keine neue Idee. Sie ist ständige Praxis.
Nicht nur ich habe eben gefordert, dass wir ein Gesetz
brauchen, sondern der Große Senat für Strafsachen des
Bundesgerichtshofes hat mit Beschluss vom 3. März
2005 geradezu einen Appell an den Gesetzgeber gerichtet, indem er gesagt hat: Die Möglichkeiten der Rechtsfortbildung sind jetzt erschöpft. Einer so wichtigen Sache muss sich der Gesetzgeber selber annehmen. Schon in den 90er-Jahren war dies auf dem Deutschen
Juristentag ein Thema. Es war schon immer ein streitiges
Thema. Ich will gar nicht die Bedenken, die manche haben, als abwegig abbügeln. Wir haben hier vielmehr
wieder das Phänomen des Streits zwischen der materiellen Gerechtigkeit und der formell richtigen Verfahrensausgestaltung. Gelegentlich wirkt das wie Antipoden;
aber zusammen machen sie die Sache rund.
Meine Damen und Herren, wenn der Eindruck vermittelt wird - wie man gelegentlich lesen kann -, dass
die Richter bei der Verständigung von dem Prinzip der
Erforschung der Wahrheit absehen, ist das schlichtweg
falsch. Auch der Bundesgerichtshof hat als eine wesentliche Forderung aufgestellt: Im Vordergrund steht die Ermittlung der Wahrheit; materielle Gerechtigkeit muss
also erzielt werden. - Die Frage ist nur, ob etwa bei einem Verfahren mit 30 angeklagten Taten alle 30 bis zum
letzten Tezett aufgeklärt werden müssen, wenn die ersten 28 bereits aufgeklärt sind und die Beweiserhebung
für die letzten beiden Punkte möglicherweise drei Jahre
dauert. Damit zieht man im Grunde genommen einen
Prozess so in die Länge, dass auch schon wieder verfassungsrechtliche Bedenken bestehen. Denn Effektivität
und Rechtsschutz sind auch eine Frage der Zeit.
Herr Stünker, Sie erinnern sich: Wir haben gerade die
Frage der Untätigkeitsbeschwerde wegen überlanger
Verfahren behandelt. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen:
Ich habe Verständnis für die sachlichen Argumente, die
vielleicht gegen eine solche Verständigung sprechen - jedenfalls dann, wenn sie falsch verstanden ist, und vor allen Dingen dann, wenn sie in den Dunstkreis von Hinterzimmern gestellt wird; das findet wenig Anerkennung.
Wenn dann auch noch Sätze wie „Die Kleinen hängt
man, die Großen lässt man laufen“ vorgebracht werden,
dann - das muss ich Ihnen ehrlich sagen - werden wir
auch in der Bevölkerung wenig Verständnis dafür erhalten, dass wir solche Vorurteile auch noch nähren.
Ein Großmeister dieses Nährens - Sie ahnen es, Sie
gucken mich schon ganz ängstlich an - sind Sie, Herr
Nešković.
({2})
Sie haben sich vorgestern in einem Interview im
Deutschlandradio zu der Bemerkung verstiegen, das
Strafgesetzbuch sei kein Handelsgesetzbuch.
({3})
- Ja, Sie werden das noch mehrfach vorlesen, weil es Ihnen aufgeschrieben worden ist.
Sie haben gesagt, es sei kein Handelsgesetzbuch, wobei ich fragen muss, ob bei der Auslegung des Handelsgesetzbuches gehandelt oder nicht auch nach Recht und
Gesetz entschieden wird.
({4})
So ist es ja nun nicht; auch im Zivilrecht geht alles nach
Recht und Gesetz. Aber das war ja nicht einmal die
schlimmste Bemerkung. Dann haben Sie nämlich noch
gesagt: Ich habe als Richter nie gedealt. Allein eine solche Bemerkung! Wenn man morgens um sechs aufwacht, dann ist die Welt nicht mehr in Ordnung, wenn
man hört, wie der Nešković sagt, er habe nie gedealt.
Das aus seinem Munde! Dealen und Nešković, da kann
man Zusammenhänge herstellen, für die Sie dann selbst
verantwortlich sind.
({5})
Er sagt also: Ich habe nie gedealt. Dann kommt die Bemerkung: Weil seine Kollegen dies gewusst hätten, hätten sie ihn nie eine Wirtschaftsstrafkammer führen lassen.
({6})
Ich kann dazu nur sagen: Herr Pontius Pilatus Nešković,
lieber Herr St. Florian, schütz unser Haus, steck andere
an! Selbst sich in Wirtschaftsstrafsachen nicht die Finger
schmutzig machen lassen und dann davon reden, man
habe nie gedealt!
({7})
Ich kann Ihnen eines sagen, Herr Nešković: Je länger ich
Sie hier erlebe, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, dass Ihre ohnehin sehr umstrittene Berufung zum
Bundesrichter eine der größten Personalfehlentscheidungen war, seit der Kaiser Caligula im 1. Jahrhundert nach
Christus eines seiner Pferde zum Konsul ernannte.
({8})
Wenn man das so macht, muss man sich auch nicht
wundern, dass dieses Thema mit einem Hauch von Geheimnistuerei und Schlüpfrigkeit behaftet ist. Ich habe es
eben in der Debatte auch schon gesagt: Als Rechtspolitiker haben wir bei allem rechtsdogmatischen Streit dafür
Sorge zu tragen, dass wir eine ohnehin schon durch die
Boulevardpresse hochgepeitschte emotionale Stimmung
nicht noch mehr befeuern. Daher appelliere ich auch an
diejenigen, die sich mit dem Phänomen der Verständigung im Strafprozess nicht anfreunden können, die Diskussion wenigstens so zu führen, wie sie etwa auf Richtertagen geführt wird. Sie, Herr Nešković, haben dem
nicht nur mit Ihrem Interview, sondern auch mit Ihrer
heutigen Presseerklärung einen Bärendienst erwiesen.
Ich fürchte, dass es bei Ihrer Vorlesung, die hier gleich
stattfinden wird, auch nicht besser werden wird. Als
eben Frau Jelpke gesprochen hat, habe ich noch gesagt:
Da ist ja der Nešković noch besser. Sie müssen also
durch ein Zielfinish entscheiden, wer bei der Unsachlichkeit der Beiträge als Erster über die Linie geht.
({9})
- Bei mir ist es immer nur einer.
Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit
dieser Regelung über die Verständigung muss man, obwohl es heute nicht Gegenstand der Debatte ist, auch die
Kronzeugenregelung sehen. Der Strafprozess läuft sicherlich nicht so wie der Zivilprozess ab. Bei Letzterem
wird natürlich auch die Wahrheitserforschung in den
Vordergrund gestellt; trotzdem liest man nicht selten:
Nach eingehender Erörterung der Sach- und Rechtslage
schlossen die Beteiligten auf eingehendes Drängen des
Gerichts folgenden Vergleich: Zur Abgeltung der mit
der Klage erhobenen Ansprüche verpflichtet sich der Beklagte zur Zahlung von soundso viel Euro.
({10})
So geht es natürlich im Strafprozess nicht, weil dann der
Eindruck erzeugt würde, als sagte der eine, er biete anderthalb Jahre, und der andere, er verlange dreieinhalb
Jahre, und am Ende kämen nach einigem Gemauschel
ein Jahr und acht Monate heraus. So geht es doch nicht,
meine Damen und Herren!
({11})
Denjenigen, die als interessierte Bürger oben auf der
Tribüne sitzen und sich nicht von Sonnenaufgang bis
Sonnenuntergang mit Strafrecht beschäftigen, sage ich:
Das ist gar nicht Gegenstand einer Verständigung im
Strafprozess. Der Schuldspruch muss natürlich feststehen, und die Wahrheit soll so weit wie möglich ermittelt
werden. Wenn aber die Effizienz baden zu gehen droht,
werden eine Strafuntergrenze und eine Strafobergrenze
gewählt. Aber man darf bitte nicht nach außen den Eindruck vermitteln, es würden wie auf dem orientalischen
Basar Punktstrafen vergeben. Das ist nicht der Fall.
({12})
- Beinahe? Nun gut. - Das wollte ich in diesem Hause
einmal klipp und klar feststellen.
Auch die berühmte Sanktionsschere - die Frau Ministerin hat es eben gesagt - funktioniert nicht so, dass man
sagt: So, mein Lieber, wenn du jetzt nicht gestehst, dann
geht es ab, dann kommst du mit einem Sexualstraftäter
in eine Zelle. Das ist doch kein Junktim. Deswegen haben wir gesagt: Gegenstand einer solchen Verständigung
kann weder das Geständnis noch der Rechtsmittelverzicht sein. Man kann nicht sagen: Nur wenn du auf das
Rechtsmittel verzichtest, bekommst du einen schönen
Bonus. - Das ist nicht der Fall. Damit auch der Anschein
einer solchen Absprache vermieden wird, haben wir den
Rechtsmittelverzicht aus dem ursprünglichen Entwurf
wieder herausgenommen.
Man muss einmal sagen, dass es Peter Danckert und
Siegfried Kauder zu verdanken ist, dass wir in großer
Runde - mit Bundestagsabgeordneten, die sich hauptbeDr. Jürgen Gehb
ruflich mit dem Strafrecht auskennen, und unter Zuhilfenahme externen Sachverstandes - einen guten Gesetzentwurf gebastelt haben.
({13})
Vielleicht kann man ihn noch weiter optimieren; wir
werden sicherlich eine Anhörung dazu durchführen.
Herr Kollege, der Herr Kollege Montag würde gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Das hätte ein so schöner Tag werden können. Aber
ich möchte das hören, ja.
Bitte sehr.
Er wird noch schöner, Herr Kollege. - Ihre letzten
Ausführungen bringen mich dazu, eine Frage zu stellen:
Es ist unbezweifelbar - das werde ich auch nicht bezweifeln -, dass es positiv ist, dass mit diesem Gesetzentwurf
die Elemente, die Sie erwähnt haben - Rechtsmittelverzicht und Sanktionsschere -, abgeschnitten bzw. abgemildert werden. So, wie Sie den bedauernswerten derzeitigen Zustand in deutschen Strafgerichten schildern,
erwecken Sie den Eindruck, alles sei in Ordnung.
Deswegen frage ich Sie: Ist Ihnen die Entscheidung
des Bundesgerichtshofs bekannt, mit der ein Urteil in einer Strafsache mit der Begründung aufgehoben wurde,
dass der Verständigung eine Erklärung des Gerichts vorausgegangen ist, die in etwa so lautete: Wenn wir uns
nicht verständigen, gibt es sieben Jahre, und bei Verständigung gibt es zwei Jahre? Weil das zufällig schriftlich
festgehalten wurde, hat der BGH die Möglichkeit gehabt, zu sagen: Solche Fälle darf es nicht geben. Das ist
eine Pression, wenn nicht gar eine Erpressung der einen
Seite.
Ist Ihnen die Entscheidung des Bundesgerichtshofs
bekannt, mit der er eine Verständigung in einem anderen
Strafverfahren ebenfalls als rechtswidrig bezeichnet hat?
Auch da ist es gelungen, festzuhalten, dass das Gericht
vom Angeklagten einen Rechtsmittelverzicht eingefordert hat. Dazu hat der Bundesgerichtshof gesagt: So etwas ist unzulässig.
In der Praxis deutscher Strafgerichte gibt es heute leider tausendfach ein solches Vorgehen, das mit diesem
Gesetz dankenswerterweise unterbunden werden soll.
Zunächst muss ich zugeben, dass diese BGH-Entscheidung zu den drei Entscheidungen in der Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland gehört, die ich nicht
kenne. Herr Kauder wird Ihnen sicherlich gleich die
Fundstelle nennen.
({0})
Ihre Äußerungen sind ein beredter Beweis dafür, dass
es nötig ist, das durch den Gesetzgeber zu regeln.
({1})
Ich möchte diesen einen Fall damit nicht zum Regelfall
hochstilisieren. Es geht schließlich um die Unabhängigkeit der Richter. Ich möchte mich ein bisschen schützend
vor meine früheren Kollegen stellen. Man darf hier nicht
den Eindruck erwecken, dass es bei diesem Chaos
bliebe, wenn der Gesetzgeber jetzt keine Korsettstangen
einziehen würde, wie Sie so schön gesagt haben. Man
sollte sich davor hüten, aus Einzelfällen Regelfälle zu
machen. Es gibt viele Entscheidungen der Revisionsgerichte, des BGH, des Bundesverwaltungsgerichts und
anderer Gerichte. Wenn man mit diesen Urteilen immer
einen fast stigmatisierenden Vorwurf an die unteren Instanzen verbinden würde, dann würden wir unseren Instanzenzug insgesamt infrage stellen und einen Zweifel
in die Richterschaft hineintragen, der nicht angebracht
ist.
Ihre Frage ist, wie gesagt, ein super Beleg dafür, dass
es notwendig ist, dieses Gesetz zu machen. Dem kann
ich nichts mehr hinzufügen. Deswegen höre ich auf und
bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Nun hat das Wort der Kollege Wolfgang Nešković für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin Zypries! Herr
Dr. Gehb, Sie werden von mir nicht erwarten, dass ich
auf Ihrem Niveau, also dem Niveau eines Büttenredners
- eines schlechten noch dazu -, antworte.
({0})
Zu den beherrschbaren Herausforderungen im Leben
eines Abgeordneten der Linken gehört das Folgende:
Wenn wir morgens die Zeitungen aufschlagen, dann finden wir eher selten unsere Auffassung bestätigt. Das
liegt daran,
({1})
dass wir meist gegen den Strom schwimmen oder
schwimmen müssen. Sie als geübte Populisten - Herr
Dr. Gehb, Sie haben es eben bewiesen ({2})
Wolfgang Neškoviæ
schwimmen hingegen gern und komfortabel mit dem
Strom. Gelegentlich ändert sich aber die Strömungsrichtung.
Ich zitiere aus meiner Presseerklärung vom 21. Januar
dieses Jahres zum sogenannten großen Deal im Strafverfahren:
Der Deal muss nicht gesetzlich erlaubt, sondern gesetzlich verboten werden.
({3})
Er stellt einen unwürdigen Handel mit der Gerechtigkeit dar.
Dann kommt der von Ihnen so geliebte Satz:
Das Strafgesetzbuch ist kein Handelsgesetzbuch.
Weiter:
Der Deal bevorzugt die finanziell Bessergestellten
und führt zu einem Zweiklassenstrafrecht.
({4})
Dieser Gesetzentwurf ist die Kapitulationsurkunde
des seit Jahren finanziell und personell ausgezehrten Rechtsstaates.
({5})
Statt eine unwürdige und ungerechte Praxis in Gesetzesform zu gießen, ist es vielmehr notwendig,
die Gerichte personell so auszustatten, dass sie auch
komplizierte und langwierige Wirtschafts- und
Steuerstrafverfahren ohne Deals führen können.
({6})
Am 22. Januar dieses Jahres konnten Sie dann in der
Süddeutschen Zeitung Folgendes lesen:
Das neue Gesetz befördert immerhin den Deal aus
der Heimlichkeit in die Öffentlichkeit; … Aber
auch der protokollierte Deal bleibt ein Deal. … Das
ist falsch, und das bleibt falsch, …
({7})
Dieser Paragraph wird der Akzeptanz des Rechts
schaden. Weil das Dealen eine Kunst ist, für die es
besonders gute und teure Anwälte gibt, werden die
Angeklagten dabei besser wegkommen, die sich
diese Anwälte leisten können.
Herr Kollege Nešković.
Ich lasse keine Zwischenfrage zu.
({0})
Daher ist die Kassenjustiz auch eine Klassenjustiz.
In der Gesetzesbegründung steht, dass das Gesetz
keine finanziellen Auswirkungen habe. Das stimmt
nicht. Der Deal spart dem Staat Richter und Staatsanwälte. Der Preis ist der Abschied von den Prinzipien des Strafprozesses.
Das habe nicht ich geschrieben, das hat Heribert
Prantl in der Süddeutschen Zeitung geschrieben.
Am selben Tag schrieb Die Welt - also nicht die Süddeutsche Zeitung -:
Und dennoch bleibt der Deal eine Kapitulation des
Staates vor der Überlastung seiner Gerichte. … An
die Stelle der Wahrheitsfindung … tritt der Konsens
… darüber, was als Wahrheit gelten soll. Der Prozess wird zur bloßen Kulisse.
Selbst die FAZ schreibt am selben Tag:
Eine gängige wilde Übung wird so in eine Form gebracht. … Es bleibt aber dabei, dass so unserem
System grundsätzlich fremde Mauscheleien abgesegnet werden.
({1})
Sie sehen also: Diese kleine Presseschau, die Beispiele von einer liberalen bis zu einer wertkonservativen
Zeitung umfasst, bestätigt genau das, was in meiner
Presseerklärung enthalten ist. Die Linke schwimmt diesmal mit dem gesellschaftlichen Strom. Der Deal im
Strafverfahren trifft in der Gesellschaft auf eine breite
und deutliche Ablehnung.
Weil Sie das hier immer so gerne durcheinanderbringen: Niemand hat etwas gegen Verständigung mit dem
Gericht oder der Staatsanwaltschaft, wenn es um Bagatelldelikte geht. Der Deal Ihres Entwurfes zielt aber
nicht auf die Kleinkriminalität mit geringer Schuld ab,
die in der Regel leicht aufzuklären ist. Er betrifft die
Fälle mit großer Schuld, die in der Regel schwer aufzuklären sind. Das ist eine völlig andere Sachlage.
({2})
- Das sehen Sie an Anklageschriften, die 800 Seiten lang
sind.
Hier kann man nicht sagen: Was soll es, der Fall ist ja
schließlich nicht so wichtig. Diese Fälle sind meistens
wichtig. So ist zum Beispiel eine Steuerhinterziehung
von mehreren Millionen Euro eine grobe Asozialität gegenüber der Gesellschaft.
({3})
Das Fehlen des hinterzogenen Geldes trägt dazu bei,
dass die Kassen des Staates leer bleiben und Schulen,
Kindergärten und Universitäten, Polizei und Gerichte
nicht über genügend personelle und sachliche Mittel verfügen.
({4})
Oft genug erfolgt die Hinterziehung mit einem hohen
Maß an krimineller Energie. Es ist die geschickte Verschleierung der Vermögenslagen und die listige VertuWolfgang Neškoviæ
schung der Geldwege, die gerade Staatsanwaltschaften
und Gerichten einen erheblichen Arbeitsaufwand bereiten, dem sie angesichts ihrer personellen Ausstattung
nicht gewachsen sind. Hinzu kommt, dass die Angeklagten in solchen Verfahren regelmäßig über erhebliche
Mittel verfügen, mit denen sie teure und hervorragend
ausgebildete Strafverteidiger - von denen reden hier gelegentlich welche - bezahlen können. Diese drohen den
Gerichten dann mit der sogenannten Konfliktverteidigung.
({5})
Die Justiz steht wegen ihrer schlechten personellen Lage
mit dem Rücken zur Wand und ist deswegen für einen
Deal besonders empfänglich.
({6})
Dem hochgerüsteten Angeklagten steht eine schlecht
ausgerüstete Justiz gegenüber. Es herrscht keine Waffengleichheit, weil die Politik nicht die für eine wehrhafte
und starke Justiz notwendigen Mittel zur Verfügung
stellt. Statt die Justiz wehrhaft zu machen und ihr die
notwendigen Mittel zu verschaffen, will die politische
Mehrheit in diesem Parlament nunmehr den großen Deal
in diesem Land einführen.
Selbst Sie, Frau Zypries, haben noch im Sommer
2007 in Hannover und zuletzt auf dem Deutschen Juristentag im September 2008 gefordert: Die Justiz muss so
ausgestattet sein, dass sie insbesondere komplexe Fälle
auch ohne Mithilfe des Angeklagten aufklären kann. Nun kapitulieren Sie. Denn jetzt wollen Sie den unwürdigen Handel von reichen Angeklagten mit einer ärmlich
ausgestatteten Justiz sogar in Gesetzesform gießen.
({7})
Indem Sie kapitulieren, verletzen Sie das wichtige
und für den Rechtsstaat unerlässliche Prinzip, dass alle
Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Sie sagen, dass
Sie den Deal zumindest aus den dunklen Hinterzimmern
in den würdigen Gerichtssaal holen. In Wahrheit entwürdigen Sie aber den Gerichtssaal, weil Sie ihn zu einem
Marktplatz für wohlhabende Angeklagte machen.
({8})
Im Übrigen ist Ihre Darstellung nur die halbe Wahrheit. Die Vorgespräche, die den Deal tragen, finden nämlich weiterhin in Hinterzimmern statt. Warum verbieten
Sie nicht wenigstens diese Vorgespräche bzw. warum
verlagern Sie nicht sämtliche Vorgespräche in die Hauptverhandlung?
({9})
Dann könnte sich die Öffentlichkeit zumindest ein Bild
von diesem unwürdigen Geschacher machen.
Sie sagen, Sie würden mit Ihrem Gesetz für eine bessere Überprüfbarkeit von Deals sorgen, weil Rechtsmittel
weiterhin möglich bleiben. Das ist völlig lebensfremd.
Warum sollten Staatsanwaltschaft und Angeklagte, die
sich gerade geeinigt haben, das Ergebnis dieser Einigung
anfechten?
({10})
Die Linke bleibt dabei: Der Deal muss nicht gesetzlich
erlaubt, er muss gesetzlich verboten werden. Das Strafgesetzbuch ist kein Handelsgesetzbuch.
Vielen Dank.
({11})
Nun hat der Kollege Jerzy Montag für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Bundesministerin Zypries, Sie haben in Ihrer Rede
darauf hingewiesen, dass Sie mit Ihrem Gesetz die
Grundlagen des Strafprozesses schützen und bewahren.
Ich will mich in meinem Redebeitrag mit den Grundlagen und dem Zustand des Strafprozesses beschäftigen.
Die Grundnormen des rechtsstaatlichen Strafprozesses sind Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, Strafe
nach dem Maß der Schuld, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, Öffentlichkeit des Verfahrens, die Unschuldsvermutung aufseiten des Angeklagten, sein Recht, zu
schweigen, sein volles Antragsrecht in der Hauptverhandlung, Rechtsmittel und das Verböserungsverbot, die
Reformatio in Peius. Das ist geronnenes Verfassungsrecht und aus der Verfassung in die Strafprozessordnung
eingeflossen.
Wie ist es darum bestellt? Ich frage das deswegen,
weil gewichtige Stimmen - nicht etwa populistische
Stimmen, nicht Herr Prantl oder andere, sondern Stimmen, die wir in einer sachlichen Debatte zur Kenntnis
nehmen sollten - auf genau diese Grundsätze und ihre
Entwicklung in den letzten 20 Jahren rekurrieren. Statt
vieler will ich an dieser Stelle nur die Überschrift eines
Aufsatzes von Herrn Professor Thomas Fischer, einem
Richter am Bundesgerichtshof, zitieren. Er schrieb in der
NStZ vom August 2007 einen Artikel mit dem Titel „Regelung der Urteilsabsprache - ein Appell zum Innehal21852
ten“. Übrigens hat auch Herr Hassemer in der Süddeutschen Zeitung von Geschäften mit der Wahrheit
gesprochen.
Es ist richtig, dass es für den deutschen Strafprozess
schon einmal bessere Zeiten als heute gab. Es gab aber
auch schon schlechtere Zeiten; das dürfen wir nicht vergessen. In den letzten 30 Jahren, seit den 60er-Jahren
- damals haben die Kollegen Stünker, Gehb, van Essen
und ich im Jurastudium etwas über den Strafprozess gelernt -,
({0})
fand allerdings eine Entwicklung statt, in deren Verlauf
an den Grundlagen des Strafprozesses gesägt wurde, und
zwar immer in Richtung des Abbaus von Grundrechten
und der Verkürzung von Rechtspositionen.
Urteil und Strafe sollen auf Wahrheit und Gerechtigkeit fußen. In Wirklichkeit fußen sie auf dem Akteninhalt. Das Maß der Strafe sollte von dem Maß an Schuld
bestimmt sein. Es wird aber von den Ressourcen der Justiz bestimmt. Die Unmittelbarkeit des Verfahrens ist
längst in das Vorverfahren verlagert. Der Öffentlichkeitsgrundsatz ist zigfach durchlöchert. Die Rechte des
Angeklagten, von denen ich gesprochen habe, halten
noch. Aber es wird im politischen Diskurs darüber diskutiert, ob die Unschuldsvermutung überhaupt allgemein gelten soll, es wird darüber diskutiert, ob denn
Schweigen nicht doch ein Teil von Schuldeingeständnis
ist. Es wird seit Jahren darüber diskutiert, ob man die
Antragsberechtigung im Strafprozess nicht einschränken
soll. An den Rechtsmitteln wird auch herumgesägt.
({1})
Nochmals der Bundesrichter Fischer. Ich zitiere aus
seinem Beitrag in der NStZ:
Daher sind vor allem die Fragen offen geblieben,
die sich aus den gravierenden Macht-Verschiebungen ergeben, welche in den vergangenen Jahrzehnten den Strafprozess bereits verändert haben. Dessen Schwerpunkte haben sich, Stück für Stück, vom
Hauptverfahren in das Ermittlungsverfahren, von
den Gerichten zur Staatsanwaltschaft, von der
Staatsanwaltschaft zur Polizei verschoben … manche Bereiche der Strafverfolgung sind fast vollständig von der Polizei bestimmt. Die komplizierte
Ausbalancierung von Schutz-Rechten und MachtPositionen, welche den Kern sozialer und normativer Geltung des Strafprozessrechts bildet, ist … aus
den Fugen geraten.
Das sagt nicht irgendein Kämpfer, irgendein Populist,
das sagt ein Richter am Bundesgerichtshof. Wir sollten
diese Bedenken bei unseren Überlegungen aufnehmen.
({2})
Auch die Politik ist an dieser Entwicklung schuld. Sie
hat diese Entwicklung gesetzlich begleitet und manchmal sogar verschärft. Wir machen immer kompliziertere
und unklarere materielle Strafnormen. Die heutige Debatte über § 89 a StGB ist ein Beleg dafür. Die Richterschaft, die Staatsanwaltschaft wird im Stich gelassen:
keine Stellen, keine Ausstattung, kein Geld. Der Bundesgerichtshof schreibt in einem seiner Urteile vom letzten Jahr: Die Gerechtigkeit bleibt auf der Strecke. Große
Wirtschaftsstrafverfahren sind nicht mehr zu bewältigen.
({3})
Deswegen sage ich Ihnen: Der Deal im Hinterzimmer, die Geschäfte mit der Wahrheit, die Sanktionsschere als gerichtliche Erpressung, das ist ein Teil der
Antwort einer hilflosen Justiz auf diese zwanzig, dreißig
Jahre Fehlentwicklungen. Das müssen wir bei unseren
Überlegungen bedenken.
({4})
Hier setzt meine Kritik an den Kritikern an. Ich sage:
Die Regelung des Deals begrenzt diese Missstände, bewahrt Grundsätze vor weiterer Erosion.
({5})
Das sind nicht, wie Professor Hassemer es gesagt hat,
„Schritte in eine andere Welt“, das ist in der realen Welt
des Strafprozesses ein einzelner Schritt in die richtige
Richtung.
({6})
Dieser Gesetzentwurf hat viele Vorläufer. Er ist besser
als mancher der Vorläufer, über die wir gelesen haben.
({7})
Über einige wenige Punkte werden wir in der Beratung
noch diskutieren müssen; ich will diese Punkte jetzt
nicht im Einzelnen aufführen. Ich werde jedenfalls dazu
beitragen, dass wir in den Ausschussberatungen zu einem vielleicht noch besseren Gesetzentwurf kommen,
als er uns schon vorliegt.
Danke.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Peter Danckert
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben, ich glaube, seit den späten 70er-Jahren, Anfang der 80er-Jahre das Phänomen, dass es in den Gerichten mehr und mehr um Verständigung, Vergleich,
Deal geht. Darum geht es auch in unserem Gesetzentwurf. Lieber Kollege Gehb, es ist nicht so, dass nur der
Begriff „Verständigung“ gebraucht wird. In der Begründung unseres Gesetzentwurfes steht:
Diese Verfahrensweise ist auch unter den Begriffen
„Absprache“, „Vergleich“ oder „Deal“ bekannt.
Seit dieser Zeit behandeln wir dieses Thema. Man
kann sich über dieses Phänomen in vielfältiger Weise
Gedanken machen. Ich persönlich, als jemand, der diese
Zeit und auch die Entwicklung dazu miterlebt hat,
glaube, dass das auch etwas damit zu tun hat, dass Ende
der 60er, in den 70ern und Anfang der 80er-Jahre eine
Generation von Verteidigern in den Gerichten erschien,
die Strafsachen nicht mehr nur nebenbei behandelte,
sondern sich ausschließlich mit dieser Materie beschäftigte und sehr viel intensiver in dieser Materie war, weshalb sie in der Auseinandersetzung im Gerichtssaal natürlich ein ganz anderer Partner oder Gegner war - je
nachdem, wie man das sieht. Sie kannte und nutzte die
Rechte, die den Strafverteidigern durch die Strafprozessordnung geboten wurden.
({0})
Daraus hat sich sukzessive etwas ergeben, was schließlich zu der Rechtsprechung über die Verständigung im
Strafverfahren geführt hat.
Die Entscheidung des Großen Strafsenats vom
3. März 2005, die der Kollege Gehb schon angesprochen
hat, ist natürlich etwas sehr Problematisches. Ich sage
das ganz deutlich. Es wird dort festgehalten, dass die
Strafgerichte am Ende der Rechtsfortbildung sind und
nun der Gesetzgeber gefragt ist, sodass man sich natürlich auch fragen kann, was dieser Hinweis an der Stelle
soll. Man hat das 20 Jahre lang praktiziert - mehr recht
als schlecht oder mehr gut als nicht so gut -, und dann
erhält der Gesetzgeber die Aufforderung, das zu regeln.
Ich will an dieser Stelle noch eine andere Entscheidung des Großen Strafsenats ansprechen, und zwar die
zur Rügeverkümmerung - § 274 StPO. Ich finde, hier
hat sich der Große Strafsenat über Recht und Gesetz, das
auch über 130 Jahre lang praktiziert wurde, hinweggesetzt und den Verteidigern den Boden einer Revisionsrüge entzogen, indem er einfach sozusagen neues Recht
erfunden hat, obwohl diese Materie über Jahrzehnte hinweg immer wieder diskutiert und vom Gesetzgeber nicht
im Sinne dieser Entscheidung des Großen Strafsenats
behandelt worden ist. Dieser Hinweis war meines Erachtens also überflüssig. Man kann das aber tun.
Ich sage an dieser Stelle ganz offen: Ich bin kein
Freund dieser gesetzlichen Regelung, weil das - das
zeigt ja auch die Geschichte; durch die Rechtsprechung
des BGH wird das belegt - jahrzehntelang praktiziert
worden ist. Ich weiß nicht, warum man an einem bestimmten Punkt plötzlich zu dem Ergebnis kam, dass
man das nun gesetzlich regeln muss, obwohl es vorher
offensichtlich auch ohne gesetzliche Regelung ging. Ich
bin deshalb also sozusagen kein ausgesprochener Freund
dieser Regelung, und ich weiß, dass es viele gibt, die
ähnlich wie ich denken. Es ist aber nun einmal der Auftrag der Koalition, diese Dinge auf den Weg zu bringen.
Nun müssen wir uns mit diesen Dingen so, wie sie vorliegen, beschäftigen.
Ich muss unserer Justizministerin und auch der Vertreterin des Ministeriums ausdrücklich ein Kompliment
machen. Ich finde, der beschrittene Weg war wirklich
beispielhaft dafür, wie ein Gesetzentwurf entwickelt
werden bzw. entstehen kann: von dem ersten Diskussionsentwurf über den ersten und zweiten Referentenentwurf sowie den ersten Regierungsentwurf bis zur heutigen Fassung, die wir jetzt in der ersten Lesung
behandeln. Wir haben mit vielen Sachverständigen diskutiert und sozusagen die Entstehung des Gesetzentwurfes begleitet. Jeder von uns hat seinen Beitrag dazu geleistet. Ich finde, das ist wirklich sehr bemerkenswert.
Das Zentrum dieser Regelung bildet ohne Zweifel
§ 257 c der Strafprozessordnung. Hier ist eine ganze
Reihe von Dingen geregelt, die man im Einzelnen auch
noch einmal beleuchten kann. Für mich persönlich war
es wichtig - das ist dann auch Bestandteil des Gesetzentwurfes geworden -, die Folgen des Falles zu regeln, dass
es zu einer Verständigung kommt, die Ober- und Untergrenze des Strafrahmens festgelegt sind, die Hauptverhandlung weitergeht - das ist an der Stelle ja der eigentlich kritische Punkt - und das Gericht zu dem Ergebnis
kommt - was nach dem Gesetzentwurf ja zulässig ist -,
von der Verständigung Abstand zu nehmen, ohne genau
zu sagen, woran es eigentlich liegt, dass es von der Verständigung Abstand nimmt.
({1})
Fakt ist, dass das Gericht dies kann. Nun ist der Angeklagte, der in der Regel ja ein Geständnis abgelegt haben
soll, in der Situation, dass er sich sozusagen nackt im
Gerichtssaal befindet. Wie geht es dann weiter? An dieser Stelle haben wir etwas sehr Vernünftiges gemacht,
indem wir in den Gesetzentwurf hineingeschrieben haben, dass ein Geständnis nicht mehr verwertet werden
darf, wenn von der Verständigung abgewichen wird. Das
ist ein echtes Verwertungsverbot. Ich glaube, das ist ein
entscheidender Schritt, weil das für die Verfahrensbeteiligten eine neue Situation bedeutet und das Gericht vor
der voreiligen Entscheidung bewahrt, von einer Verständigung wieder Abstand zu nehmen.
Ein weiterer wichtiger Punkt findet sich aus meiner
Sicht leider nur in der Begründung wieder. Ein Verteidiger, der von einer Verständigung ausgeht, wird vielleicht
im Rahmen der Beweisaufnahme nicht mehr so fragen,
wie es der Fall wäre, wenn sich keine Verständigung abzeichnen würde. In diesem Fall enthält die Begründung
den Hinweis - das wird auch bei der Auslegung des Gesetzes eine entscheidende Rolle spielen -, dass die Beweisaufnahme an den entsprechenden Stellen wiederholt
werden sollte. Das stärkt auch die Rolle des Angeklagten
und seines Verteidigers.
Ich glaube, wir stehen vor einer interessanten Anhörung. Ich weiß, dass es unterschiedliche Meinungen gibt,
die wir mit großem Ernst aufgreifen werden. Es wird
eine sehr gute Debatte geben. Wenn man die Verständigung im Strafverfahren will, dann ist die von uns vorgesehene gesetzliche Regelung eine vernünftige Ausgangsbasis.
Vielleicht ergibt sich noch die eine oder andere Regelung, Kollege Montag. Ob es sinnvoll ist, die Nebenbeteiligten miteinzubeziehen, bezweifle ich, weil das das
Verfahren bestimmt nicht abkürzt, sondern sehr viel
komplizierter macht.
Wir werden sehen, was die Anhörung ergibt. Ich bin
sehr gespannt darauf. Ich glaube, dass wir am Ende des
Tages zu einer guten gesetzlichen Regelung kommen
werden. Das sage ich als ursprünglicher Gegner einer
Verständigung. Aber ich kann mich mit einer Mehrheitsmeinung durchaus zufrieden geben.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Kollege Siegfried Kauder, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn es manche nicht glauben: Auch das Strafverfahren und die Hauptverhandlung sind ein kommunikativer Prozess.
({0})
Es stimmt nicht, wenn Kollege Nešković uns glauben
machen will, er habe Verständigung nie praktiziert oder,
wie er es ausdrückt, er habe nie gedealt.
({1})
Keine Verfahrenseinstellung nach § 153 a der Strafprozessordnung ist ohne Kommunikation möglich.
({2})
Ein Blick in § 265 a der Strafprozessordnung zeigt, Kollege Nešković, dass manche Weisungen und Auflagen,
die bei einer Bewährungsstrafe ausgesprochen werden,
nur dann verhängt werden können, wenn der Angeklagte
zustimmt.
({3})
Mit ihm muss man also vorher gesprochen haben.
Folgendes hat mich ein bisschen gestört: Die Verständigung im Strafverfahren, die es seit Anfang der 80erJahre gibt, wurde in die strafprozessuale Schmuddelecke
gestellt. Im Strafverfahren gibt es kein Hinterzimmer; es
gibt Beratungszimmer.
Sie wissen, dass sich die Absprache bzw. die Verständigung im Strafverfahren langsam entwickelt hat und
dass diese Entwicklungen immer wieder von BGH-Entscheidungen begleitet wurden. Dabei wurden Regeln
festgelegt, die auch Grundlage für den jetzt zu beratenden Gesetzentwurf geworden sind. Es gibt keine
Schmuddelecke, sondern genaue Vorgaben, was ausgehandelt werden kann.
Herr Kollege Nešković, es ist Ihrer Persönlichkeit eigen, dass Sie es besser wissen als manche Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts. Denn auch das Bundesverfassungsgericht hat schon im Jahr 1987 die Verfahrensabsprache für verfassungskonform erklärt.
({4})
- Ich sage ja: Der Kollege Nešković weiß es besser als
mehrere Richter des Bundesverfassungsgerichts.
Weil es also eine Entwicklung praeter legem, nicht
contra legem gewesen ist, ist alles in Ordnung. Trotzdem
ist es gut, dass wir die Verfahrensabsprachen in einem
Gesetz angemessen regeln. Die Rechtsprechung ist angemessen eingearbeitet worden, sodass es eigentlich
nichts zu kritisieren gibt. Aber wir müssen schon aufpassen - das ist zu Recht schon angesprochen worden -,
dass nicht der Eindruck entsteht, die Verständigung im
Strafverfahren finde deshalb statt, weil die Justiz wegen
Personalmangels unter Druck geraten sei.
Jetzt kann man als Bundesgesetzgeber natürlich auf
die Länder schielen und sagen: Das ist deren Aufgabe
und deren Problem. Die Länder müssen das bewältigen. Nein, auch der Bundesgesetzgeber kann mithelfen. Machen wir uns doch einmal Gedanken, ob es nicht einen
Strafbefehl geben sollte, in dem eine Freiheitsstrafe bis
zu zwei Jahren zur Bewährung ausgesprochen werden
kann. Das spart Ressourcen ein. Die Reform zur Besetzungsreduktion bei der Großen Strafkammer, die wir seit
zehn Jahren immer wieder vor uns herschieben, könnten
wir verabschieden. Auch das spart Ressourcen.
({5})
Die Verständigung im Strafverfahren darf also nicht
unter dem Druck knapper Ressourcen durchgeführt werden. Die Verständigung hat aber auch nach dem neuen
Gesetzentwurf durchaus ihre Tücken. Ich habe an einer
Sachverständigenanhörung im Justizministerium teilgenommen. Am Ende habe ich die Frage gestellt: Wo
bleibt bei der Verfahrensabsprache das Opfer?
Wenn man sich den Gesetzentwurf anschaut, kann
man feststellen, dass im Begründungsteil die Beteiligung
des Nebenklägers angesprochen worden ist, dass das
sehr gut und differenziert angeschnitten worden ist, dennoch bin ich der Meinung, dass diese Ausführungen im
Begründungsteil nicht ausreichen; denn entscheidend ist
der Gesetzestext. Wir werden uns also Gedanken machen müssen, wie man die Beteiligung des Nebenklagevertreters bei der Absprache in das Gesetz einbinden
kann. Das lässt sich sehr wohl bewerkstelligen. Was
mich ein bisschen irritiert, ist, dass es dazu einen Entwurf aus den Bundesländern gibt, dessen Vorschläge
man schon in den Gesetzentwurf hätte einbauen können.
Siegfried Kauder ({6})
Es wurde der Eindruck vermittelt, als ob das Problem
der Sanktionsschere mit diesem Gesetzentwurf ausgemerzt worden sei. Darauf hat Herr Hassemer in der Süddeutschen Zeitung am 24. Januar 2009 zu Recht hingewiesen. Es gibt immer wieder die Fälle, dass ein Gericht
mit einer siebenjährigen Freiheitsstrafe droht, der Angeklagte damit unter Druck gerät und man sich am Ende
auf zwei Jahre zur Bewährung einigt. Ein solcher Druck
ist nach der Rechtsprechung nicht zugelassen.
Aber - nun kommt ein wichtiger Punkt, Herr Kollege
van Essen - wer kontrolliert denn, ob die Spielregeln der
Verfahrensabsprache eingehalten werden?
({7})
Diejenigen, die die Verfahrensabsprache treffen, haben
wenig Anlass, zu sagen: Möge das doch noch einmal jemand kontrollieren. - Da nützt es auch nichts, dass nach
der Rechtsprechung der Gegenstand der Verfahrensabsprache nicht der Rechtsmittelverzicht sein darf. Im
praktischen Leben läuft das nun einmal anders.
({8})
Man handelt das, was zulässig ist, einvernehmlich aus.
Untergrenze und Obergrenze der Strafe werden besprochen. Man schaut sich an, man kennt sich. Bei Strafverteidigern ist das ein überschaubarer Kreis. Jeder weiß:
Wenn ein Rechtsmittelverzicht nicht folgt, ist das Vertrauen für die Zukunft weg.
({9})
Darüber muss man sich Gedanken machen.
({10})
Wie kann man so etwas regeln? Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen, da hat vielleicht der Innenminister
Wolfgang Schäuble mit seinen Überlegungen nicht ganz
unrecht.
({11})
Es muss doch eine Instanz geben, die kontrolliert, ob die
Spielregeln eingehalten worden sind. Diese Kontrolle
kann auch einmal dazu führen, dass ein Fall zugunsten
und nicht zulasten des Angeklagten ausgeht. Die Kontrollinstanz könnte sagen: Hier ist die Sanktionsschere
angesetzt worden. Nun stimmen wir einem Rechtsmittelverzicht nicht zu. - Deswegen gibt es die Überlegung, ob
man nicht in Nr. 152 der RiStBV, der Richtlinien für das
Straf- und Bußgeldverfahren, aufnimmt, dass der Staatsanwalt eine Rechtsmittelverzichtserklärung nach einer
Verfahrensabsprache nur abgeben darf, wenn er das mit
dem Behördenleiter oder einem Höhergestellten der
Staatsanwaltschaft abgesprochen hat. Das wäre eine
Möglichkeit, eine Kontrollinstanz einzuführen. Dafür
brauchte man noch nicht einmal eine Gesetzesänderung,
weil das nicht vom Bundestag beschlossen werden
müsste.
Wir werden uns noch einem anderen Problem zuwenden müssen. Es gibt keine Zweiklassenjustiz, auch nicht
nach Inkrafttreten dieses Gesetzes. Deswegen ist es gut,
dass in der Begründung des Gesetzentwurfs darauf hingewiesen wird, dass auch der nicht durch einen Strafverteidiger vertretene Angeklagte - das Verfahren wird üblicherweise beim Strafrichter des Amtsgerichts stattfinden - in
eine Verfahrensabsprache eingebunden werden kann. Ich
frage mich aber, wie das praktisch funktionieren soll. Das
mag möglicherweise ein Placebo sein. Aber auch hier
wäre eine Lösung denkbar. Man könnte dem beim Amtsgericht Angeklagten dann, wenn eine Verfahrensabsprache im Raum steht, einen Verteidiger beiordnen. Dann
hätte man in der Tat gleiches Recht für alle.
Wie Sie sehen, ist der Gesetzentwurf im Prinzip gut
gelungen. Er spiegelt das wider, was die Rechtsprechung
entwickelt hat. Über den vorhandenen Korrekturbedarf
können wir sachlich sprechen. Einige Punkte habe ich
angesprochen. Ich freue mich auf die Debatte im Rechtsausschuss. Ich bin mir sicher, dass auch dieser Gesetzentwurf in angemessener Weise und zügig über die Hürden des Deutschen Bundestages gehoben werden wird.
({12})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Wolfgang Nešković.
Herr Kollege Kauder, es wäre der Fairness angemessen gewesen, wenn Sie zumindest beim letzten Punkt,
den Sie kritisiert haben, darauf hingewiesen hätten - da
Sie auch meine Presseerklärung und meine Pressearbeit
zur Kenntnis nehmen -, dass ich mich in der Frage der
Überprüfbarkeit mit Herrn Schäuble einig weiß. Wenn
Sie das bisher nicht wissen, dann gebe ich das hiermit
zur Kenntnis. Die Überprüfbarkeit ist in der Tat ein
Punkt, über den man reden muss; denn all die Hürden,
die man hier aufbaut, machen keinen Sinn, wenn man
angesichts des Umstandes, dass die eigentlich Beschwerten mit dem Ergebnis zufrieden sind und die Öffentlichkeit es eventuell nicht ist, nicht überprüfen kann,
ob die Hürden gewahrt sind.
Herr Kauder, typisch für Ihre Form der Auseinandersetzung ist, dass Sie mir etwas unterstellen, was ich gar
nicht gesagt habe. Man nennt das „einen Pappkameraden
aufbauen“. Diesen haut man anschließend um. Ich habe
nicht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
für mich in Anspruch genommen. Natürlich ist sie mir
bekannt. Sie beinhaltet auch bestimmte Voraussetzungen. Ich habe aber rechtspolitisch und nicht verfassungsrechtlich argumentiert.
Herr Kauder, da sicherlich der Eindruck entstanden
ist, dass das, was ich vorgetragen habe, durch meine
Sichtweise als Richter, der ich 27 Jahre lang war, geprägt
ist, möchte ich Ihnen die Sichtweise eines Kollegen, der
Vorsitzender Richter am Landgericht Bonn ist - es wurden bereits andere Richterkollegen angeführt -, näherbringen. Er hat zur Verständigung in der Deutschen
Richter Zeitung Folgendes ausgeführt:
Verständigungen zum Verfahrensausgang führen
bei den Beteiligten nahezu zwangsläufig zu einer
Verminderung der Sorgfalt bei Sachverhaltsaufklärung und rechtlicher Prüfung. Streitige Hauptverhandlungen sind physisch und psychisch belastend.
Die Erwartung, sich eine umfangreiche und kontroverse Verhandlung zu ersparen und lediglich ein abgekürztes Urteil abfassen zu müssen, ist folglich
gerade in Zeiten knapper Personalausstattung verlockend.
Zum Thema Begrifflichkeit, Dr. Gehb, führt er aus:
Das „Einvernehmen“ ({0}) wird sich daher regelmäßig auf Vergünstigungen beziehen, die auf anderem - gesetzmäßigem Wege nicht zu erreichen wären. Abschreckende Beispiele hierfür gibt es bereits genügend.
Zum Abschluss heißt es:
Sind sie erst einmal gesetzlich vorgesehen,
- gemeint sind die von Ihnen geplanten Absprachen wird der ökonomische wie anwaltliche Druck auf
die Gerichte zunehmen, sich ihrer zur „Verschlankung“ des Verfahrens tatsächlich auch zu bedienen.
Das Strafverfahren ist aber seiner Natur und Funktion nach nicht darauf angelegt, dass der Angeklagte seinem Ablauf und Ergebnis die Zustimmung erteilt.
Herr Kauder, wie stehen Sie zu dieser Auffassung eines Richters des Landgerichts Bonn?
Herr Kollege Kauder, bitte.
Lieber Kollege Nešković, ich bitte um Verständnis,
dass ich nicht ellenlang aus Aufsätzen vortrage. Ich habe
zur Kenntnis genommen, dass Sie die Meinung des Innenministers, dass bei einer Verfahrensabsprache auch
die Möglichkeit einer Kontrolle gegeben sein muss, teilen. Aber im Gegensatz zu Ihnen posaune ich nicht populistisch in Presseerklärungen über einen Deal. Vielmehr mache ich mir Gedanken, wie man ein bestehendes
Problem vernünftig regeln kann.
({0})
Mit dem Hinweis auf Nr. 152 RiStBV sind wir auf der
richtigen Schiene. Einen ähnlichen Vorschlag hätte ich
eigentlich von einem Abgeordnetenkollegen, der lange
genug bei einem Gericht tätig gewesen ist, erwartet. Ich
war es nicht, ich war und bin nur Strafverteidiger.
({1})
Lieber Kollege Nešković, Sie zitieren aus einem Aufsatz, der eine Momentaufnahme darstellt, als ob es die
Verfahrensabsprache nicht seit Anfang der 80er-Jahre
gegeben hätte und als ob es die flankierenden Entscheidungen des Bundesgerichtshofs nie gegeben hätte. Ich
habe schon gesagt, dass auch der Strafprozess ein kommunikativer Prozess ist. Sie werden auch für sich nicht
in Anspruch nehmen wollen, dass Sie, auf der hohen
Bühne eines oberen Gerichtes sitzend, nie mit Verteidigern und nie mit Staatsanwälten Kontakt aufgenommen
hätten. Wie wollen Sie denn nach § 154 der Strafprozessordnung in einem laufenden Strafverfahren Teile
durch Verfahrenseinstellungen ausscheiden? Wie wollen Sie § 153 a der Strafprozessordnung umsetzen, ohne
mit den Verfahrensbeteiligten gesprochen zu haben?
Herr Kollege Nešković, es wäre vielleicht nicht schlecht
gewesen, wenn Sie sich Gedanken gemacht hätten, wie
man die Interessen der Opfer von Straftaten in eine Absprache einführen kann. Wir haben das miteinander diskutiert, und in dem Begründungsteil gibt es dafür Ansätze. Miteinander arbeiten heißt auch, vernünftige
Ergebnisse zustande zu bringen,
({2})
nicht rückblickend aus heutiger Sicht zu versuchen, die
Verfahrensabsprache in die Schmuddelecke eines Gerichts zu stellen, wo sie nie gewesen ist.
({3})
Das Wort hat nun Kollege Joachim Stünker für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Manchmal
treibt mich die Verzweiflung um.
({0})
Das ist in der heutigen Debatte zu diesem Thema wieder
der Fall. Ich will Ihnen etwas dazu sagen. Teilweise
wurde die Debatte doch sehr nachdenklich geführt, aber
nur teilweise. Der Kollege Danckert hat einen Ansatz gebracht, den auch der Kollege Kauder aufgenommen hat
und den ich nur bekräftigen kann. Die Verständigung im
Strafprozess hat diese Entwicklung genommen, weil in
den 70er-Jahren und danach eine andere Generation von
Richterinnen und Richtern und von Anwälten mit einer
anderen Ausbildung Strafprozesse durchgeführt hat. Ich
will Ihnen ein Beispiel nennen: Ich hatte als Schöffenrichter in den 80er-Jahren einen Schöffen, der ein alter
Landwirt war. Er war seit 20 Jahren Schöffe, wie es auf
dem Land üblich war. Er sagte einmal zu mir: Herr
Stünker, zu Ihnen komme ich richtig gerne. Ich freue
mich immer, wenn ich zu Ihnen zur Verhandlung kommen darf. - Ich sagte: Das ehrt mich, aber warum denn? Da sagte er zu mir: Sie sprechen mit dem Angeklagten.
Der deutsche Strafprozess, den ich in den 70er-Jahren, als ich zum ersten Mal in der Strafkammer saß, erlebt habe, war ein ganz anderer. Da saß oben ein Gericht,
das nicht mit den Verfahrensbeteiligten sprach. Es
sprach nicht mit dem Angeklagten. Da wurde prozesWolfgang NeškoviæWolfgang Nešković
siert. Da lief der Prozess, wie Roxin es einmal geschildert hat, wie in einem Schauspiel ab. Zum Schluss kam
die Keule, und dabei kam eine Entscheidung heraus.
({1})
Das war damals der Strafprozess. Dieser Strafprozess hat
sich dadurch verändert, dass eine neue Generation die
Strafprozessordnung anders gelernt hat als die, die aus
anderen Zeiten kam, um das einmal vorsichtig auszudrücken. Die Vertreter dieser Generation haben gesagt: Die
Strafprozessordnung gibt uns doch die Möglichkeit, mit
dem Angeklagten, mit den Verfahrensbeteiligten zu
sprechen und deutlich zu machen, wie wir die Anklage
sehen, anstatt zu warten, bis nachher das Urteil gefällt
wird. - Das war der Hintergrund. Daher habe ich in meinem Leben als Strafrichter und Vorsitzender einer großen Strafkammer, auch einer Wirtschaftsstrafkammer,
und eines Schwurgerichts viele solcher Verständigungen
im Strafprozess herbeigeführt. Das hat mit Klassenjustiz,
mit Arm und Reich und all diesen ideologischen Verklärungen nichts, aber auch gar nichts zu tun. Das ist purer
Populismus der Linkspartei.
({2})
Das ist nicht die Wirklichkeit in Deutschland.
({3})
- Ich frage mich manchmal, ob ich es mir immer noch
antun muss, Ihnen, Herr Nešković, zuzuhören, um das
einmal ganz deutlich zu sagen. - Trotzdem habe ich vom
ersten Tag an, als ich in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, also seit 1998, dem Bundesministerium der
Justiz gesagt: Das, was sich dort bei der Verständigung
und Absprache im Strafprozess entwickelt hat, bedarf
der Regeln in der Strafprozessordnung.
Warum bin ich im Laufe der Jahre zu dieser Überzeugung gekommen? Weil das, was im Wege der Verständigung durch Gespräche zustande gekommen ist, teilweise
- so etwas kann man immer und überall erleben - zu
Missbrauch geführt hat. Damit meine ich die Gespräche
im Hinterzimmer und Ähnliches, aber nicht das Gespräch im Gerichtssaal mit den Verfahrensbeteiligten.
Darum brauchen wir neue Regelungen, wie der Große
Senat für Strafsachen des BGH angeregt hat. Diese Regelungen legen wir Ihnen mit diesem Gesetzentwurf vor.
Anders als hier gesagt worden ist, führen wir nicht
den großen Deal in den deutschen Strafprozess ein. Wer
so etwas erzählt, der hat von der Praxis keine Ahnung,
der weiß überhaupt nicht - um das einmal ganz deutlich
zu sagen -, was jeden Tag in den Gerichtssälen abläuft.
({4})
Das Wichtige dabei ist: Jedes Verfahren mit einer Verständigung endet mit einem Urteil,
({5})
mit einem Schuldspruch. Es wird also jemand bestraft.
Diese Person ist von diesem Tag an vorbestraft. Das Einzige, worüber man überhaupt reden kann, ist die Frage
der Strafsanktion. Frau Ministerin hat hier zu Recht die
Frage gestellt, warum man das macht. Nehmen wir das
Beispiel, das zuletzt durch die Presse ging: Ein nicht
vorbestrafter, weit über 60-Jähriger hat Steuern in Höhe
von 900 000 Euro hinterzogen. Man kann sich überlegen, ob es prozessökonomisch sinnvoll ist, ein Jahr lang
einen Prozess zu führen, obwohl man, wenn man von
Strafzumessung etwas versteht, genau weiß, dass am
Ende eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren verhängt wird.
Es muss entschieden werden, unter welchen Voraussetzungen diese Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt
wird. Erfahrene Strafrechtler wissen, wie so etwas abläuft. Ich wiederhole meine Frage: Ist es prozessökonomisch sinnvoll, ein Jahr lang sämtliche Einzelheiten zu
behandeln, oder kann man dafür sorgen, dass der Angeklagte ein Geständnis ablegt, dass sich der Betreffende
also zur Tat bekennt, wobei die Sanktionen und alle anderen Folgen öffentlich bekannt werden? Das und nichts
anderes ist der Hintergrund unseres Vorgehens. Diese
Absprachen sind keine Schmuddelecken, wie man es
teilweise darzustellen versucht hat.
Wenn wir uns hier ernsthaft mit Missbrauch beschäftigen wollen - das sollten wir in der nächsten Legislaturperiode machen, sofern wir alle noch die Ehre haben,
diesem Hohen Haus anzugehören -, dann muss man
über eine ganz andere Vorschrift nachdenken, nämlich
über § 153 a Strafprozessordnung. In den letzten Wochen und Monaten sind Vorgänge in einer Staatsanwaltschaft in einem nicht kleinen Bundesland - angebliche
Probleme mit einer Staatsanwältin, Verwerfungen usw. durch die Presse gegangen. Das hängt mit § 153 a Strafprozessordnung zusammen. Der Ausgang des Mannesmann-Prozesses ist in meinen Augen in der Tat ein Skandal gewesen: Einstellung des Verfahrens ohne Urteil und
ohne Geständnis. Das ist der Hintergrund unseres Vorgehens. In Prozessen wie dem Mannesmann-Prozess werden Absprachen in einem Bereich getroffen, der ganz
anders als die Hauptverhandlung ist.
({6})
- Das ist eine ganz andere Dimension: Durch die Presse
ging, dass dort Millionenbeträge verteilt worden sein
sollen.
Ich bitte Sie wirklich - ich denke, wir werden das
überwiegend im Rechtsausschuss machen -: Lassen Sie
uns das sehr ernsthaft behandeln! Der Rechtsstaat ist ein
hohes Gut. Wir sollten daher mit Sachverstand und nicht
mit Ideologie an die Themen herangehen.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/11736 und 16/4197 an
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist offensichtlich nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Döring, Horst Friedrich ({0}), Joachim
Günther ({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Bußgeldkatalog bei Umweltzonen ändern Zurück zur Verhältnismäßigkeit
- Drucksache 16/10313 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne damit die Aussprache. Das Wort hat Kollege Patrick Döring von der FDP-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland hat zur Bekämpfung des Feinstaubproblems
vielerlei Maßnahmen diskutiert und auch ergriffen. Es ist
dennoch heute von der EU-Kommission ermahnt worden, mehr zu tun, um Feinstaub zu bekämpfen. Das
macht deutlich, dass mit der Einrichtung von Umweltzonen und dem Erlass von Fahrverboten ganz offensichtlich nicht die Ziele erreicht werden, die man sich vorgenommen hat. Die Einrichtung von Umweltzonen hat,
gelinde gesagt, fast keine Wirkung auf den Feinstaubausstoß in Deutschland.
({0})
Das alles sage ich vorweg, damit hier nicht insinuiert
wird, wir als FDP wollten den Feinstaub nicht bekämpfen oder wollten das Problem an die Seite schieben; ganz
im Gegenteil: Wir sind dafür, den Feinstaub zu bekämpfen, aber an der Quelle, dort, wo er wirklich entsteht, und
nicht pauschal über das Fahrverbot, über die Einrichtung
von Umweltzonen. Das war der falsche Weg.
({1})
Es ist auch falsch, den folgenden Eindruck zu erwecken: Wer aktuell in Hannover oder Köln oder Berlin in
die Umweltzone einfährt, aber keine Plakette hat oder
eine rote Plakette hat, begeht genauso einen Verkehrsverstoß wie jemand, der zum Beispiel verkehrt herum in
eine Einbahnstraße fährt oder ein Einfahrverbot insgesamt missachtet. - Das ist nicht vergleichbar. Ersteres ist
auch nicht verkehrsgefährdend.
({2})
Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, geben wir
Ihnen mit unserem Antrag die Gelegenheit, in der weiteren Beratung im Ausschuss sehr konstruktiv und sachlich darüber nachzudenken, ob es bei der so stark zersplitterten Landschaft von Umweltzonen in Deutschland
mit unterschiedlichsten Ausnahmeregelungen - in jeder
Kommune gibt es andere Regelungen, etwa dazu, ob
Oldtimer ein- und ausfahren dürfen,
({3})
ob Schaustellerfahrzeuge ein- und ausfahren dürfen, ob
Reisebusse ein- und ausfahren dürfen; Letzteres ist ein
Sonderproblem, das wir im Ausschuss seit längerem vor
uns herschieben; Sie alle kennen die Problematik - vernünftig und verhältnismäßig ist, jedem, der sich keine
Plakette besorgt hat, etwa aus Unwissenheit, weil er vielleicht ganz selten in eine der Städte fährt, in denen eine
Umweltzone eingerichtet worden ist, sofort nicht nur
eine Ordnungswidrigkeit anzulasten, sondern ihn vor allen Dingen auch mit einem Punkt im Flensburger Zentralregister zu bestrafen. Das ist nicht verhältnismäßig.
({4})
Wir haben die Zahlen für das erste Halbjahr 2008 im
Antrag aufgeführt. Ich finde es übrigens bemerkenswert
- ich sage das hier ausdrücklich, weil der Herr Kasparick
auf der Regierungsbank sitzt -, dass nach den mir vorliegenden Informationen das Bundesverkehrsministerium
dem Kraftfahrtbundesamt untersagt hat, mir die Zahlen
für 2008 komplett zu geben.
({5})
Die Auskunft des Sachbearbeiters im Kraftfahrtbundesamt jedenfalls war, er dürfe mir die endgültigen Punktezahlen für unzulässiges Einfahren in Umweltzonen auf
Weisung des Bundesverkehrsministeriums nicht geben.
Das ist auch eine Aussage, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, und ich ziehe daraus die richtigen Schlüsse.
({6})
Vor diesem Hintergrund sind wir als FDP-Fraktion
sehr dankbar dafür, dass parallel zum Verkehrsgerichtstag in Goslar viele Akteure in der Verkehrspolitik, etwa
die Automobilklubs, gemeinsam - es ist selten genug der
Fall, dass eine gemeinsame Position erarbeitet wird eine Reform des Punktewesens und des Verkehrszentralregisters in Flensburg insgesamt gefordert haben. Vielleicht ist unser Antrag zu dieser speziellen Frage auch
Anlass, im Ausschuss einmal darüber zu sprechen, ob inzwischen nicht für zu viele kaum wichtige, jedenfalls
nicht verkehrsgefährdende Verstöße Punkte gegeben
werden und wirklich schwere Ordnungswidrigkeiten,
vielleicht auch Straftaten im Straßenverkehr zu wenig
bestraft werden. Dieser Diskussion über das Bußgeld haben Sie sich in den letzten Monaten verwehrt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Es ist an der Zeit, gemeinsam über Folgendes nachzudenken: Was soll nach unserer Meinung, die wir uns um
Verkehrssicherheit sorgen, streng verfolgt werden? Wo
muss schon nach wenigen Verstößen klar sein, dass die
Fahrerlaubnis in Gefahr gerät?
Und wo schießt man mit Kanonen auf Spatzen, wenn
man jemanden, der einmal unerlaubt in eine Umweltzone einfährt, weil er vergessen hat, die Plakette zu beantragen, oder gar nicht weiß, dass in der Stadt, in die er
fährt, eine Umweltzone eingerichtet ist, mit einem Punkt
in Flensburg bestraft?
({8})
- Auch Sie werden nicht alle Städte kennen, in denen
eine Umweltzone eingerichtet ist. Keiner der hier anwesenden Kollegen wird all diese Städte benennen können. Die gleiche Strafe bekommt man, wenn man verkehrsgefährdend in falscher Richtung in eine Einbahnstraße einfährt oder einen Rotlichtverstoß begeht. Das ist nicht
vergleichbar; wir sollten nicht der Versuchung erliegen,
das zu vergleichen. Es ist in hohem Maße verwunderlich, dass es überhaupt zu dieser Regelung gekommen
ist.
Wir Parlamentarier sollten die Gelegenheit nutzen, im
Ausschuss über Änderungen zu beraten. Wir machen Ihnen hierzu einen Vorschlag und hoffen auf Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Kollege Gero Storjohann, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Seit März 2007 gilt in Deutschland die sogenannte Plakettenverordnung, die Verordnung zum Erlass
und zur Änderung von Vorschriften über die Kennzeichnung emissionsarmer Kraftfahrzeuge. Pkw, Lkw und
Busse werden je nach Schadstoffgruppe mit einer Feinstaubplakette versehen.
Ich möchte gerne zugestehen, dass es in der Einführungsphase immer Leute gibt, die vergessen, so etwas zu
beantragen. Nun ist aber eine gewisse Zeit ins Land gegangen; nun erwarte ich, dass jeder überprüft hat, was er
für ein Auto hat, welcher Schadstoffklasse es angehört
und ob er eine Plakette benötigt. Ich kann erwarten, dass
sich alle Verkehrsteilnehmer mit ihren Fahrzeugen beschäftigt und diese gegebenenfalls mit einer entsprechenden Plakette versehen haben.
({0})
Die Einführungsphase ist inzwischen abgeschlossen.
Jetzt geht es um die Frage: Wie gestaltet sich die Praxis?
Die Kennzeichnung ist erforderlich, um bei zu hohen
Feinstaubbelastungen Fahrverbote aussprechen und umsetzen zu können: Besonders gekennzeichnete Verbotszonen dürfen dann nur von Kraftfahrzeugen mit einer
entsprechenden Zulassung befahren werden.
Wir sprechen hier über diese Verordnung; wir sprechen nicht über die Umweltzonen. Die Verordnung setzt
voraus, möglichst passgenau und lokal begründet den
Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten. Darum kümmern sich die Kommunen, nicht der Bundestag oder der
Landtag.
({1})
Die Bürger wählen vor Ort ihre Vertreter. Insofern sind
die Bürger in diesen Prozess eingebunden; das halte ich
für richtig und sinnvoll. Dies wird auch von den Antragstellern, der FDP, offenbar nicht geleugnet; denn der Antrag richtet sich gegen die Höhe der Sanktionierung und
beschäftigt sich mit der Frage, ob die Höhe der Strafe etwas bewirkt. Darüber kann man sich trefflich streiten.
Das Bußgeld von 40 Euro bewirkt dann ja auch den
berühmten Punkt in Flensburg. Das schafft Arbeit in
meiner Heimatregion Schleswig-Holstein.
({2})
Ich mache darauf aufmerksam, dass der Bundesrat im
letzten Jahr der Neufassung des Bußgeldkataloges zugestimmt hat. Es ist interessant, dass in Baden-Württemberg, wo traditionell die FDP an der Regierung beteiligt
ist,
({3})
besonders viele Umweltzonen eingerichtet worden sind.
Ich weiß nicht, wie es um die kommunalen Mehrheiten
steht, aber ich glaube, dass auch hier die FDP häufig beteiligt ist.
Auch in Nordrhein-Westfalen gibt es viele Umweltzonen; auch hier sind Sie von der FDP an der Regierung
beteiligt. In Hannover gibt es eine Umweltzone; auch in
Niedersachsen sind Sie an der Regierung beteiligt.
({4})
- Das ist richtig; aber auch in den Kommunen haben Sie
sicherlich Einfluss.
({5})
Mir ist nicht bekannt, dass Sie einen Vorstoß im Bundesrat unternommen haben, um diese Regelung zu ändern.
Im Bundesrat hätten Sie sicherlich gute Möglichkeiten
dazu. Aber nein, Sie versuchen es über den Bundestag;
das sei Ihnen zugebilligt.
Sie schreiben, viele Auswärtige wüssten nicht, ob bei
der Einfahrt in eine andere Stadt eine Plakette notwendig
sei. Ich mache darauf aufmerksam, dass alle Umweltzonen mit riesengroßen Schildern gekennzeichnet sind.
Auch ein Lkw-Fahrer, der eine Brücke befahren möchte,
muss Schilder zur Kenntnis nehmen; wenn die Last, die
er transportiert, nicht zulässig ist, muss er damit rechnen,
dass man es ihm zum Vorwurf macht, wenn er diese
Schilder nicht beachtet. Das gilt bei Umweltzonen natürlich genauso.
({6})
Es geht ja nicht um eine Plakette für den einen Tag,
sondern um die Plakette, die Sie sich generell für Ihr
Auto besorgen. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, nämlich die Überlegung: Habe ich noch das richtige Auto,
oder sollte ich mir - technisch innovativ - ein neues anschaffen, wenn ich mich hauptsächlich in Umweltzonen
bewege?
({7})
Das ist ein Anreiz, ein überlegenswerter Punkt. Insofern
kann jeder selbst bestimmen, ob er das Risiko eingeht, in
eine Umweltzone ohne Plakette oder mit einem Fahrzeug, das dafür nicht geeignet ist, zu fahren.
({8})
Meine Damen und Herren, wer, wie die FDP, jetzt behauptet, dass 20 Euro als Strafe ausreichend seien, dem
muss ich sagen, dass es bei den Einfahrtverboten, wie
Sie, Herr Döring, das hier vorgetragen haben, durchaus
Unterschiede gibt. Sie begehen eine größere Verkehrsgefährdung, wenn Sie in eine Einbahnstraße falsch hineinfahren. Deswegen wird das geahndet.
({9})
Dann bekommen Sie einen Punkt.
({10})
- Gut, dann bekommen Sie keinen Punkt. - Es handelt
sich aber um eine erhöhte Gefährdung, wenn Sie nicht
mit einem vernünftigen Fahrzeug und entsprechendem
Motor in eine Umweltzone hineinfahren. Sie gefährden
die Umwelt, die Mitmenschen. Wenn das Verhalten der
Menschen generell verändert werden soll, dann müssen
Hinweise gegeben werden. Dieser Bußgeldkatalog ist
das entsprechende Instrument. Wenn die Menschen sich
nicht daran halten, wird das geahndet. Wir hoffen auf die
Vernunft der Menschen.
Die jetzige Regelung im Bußgeldkatalog ist also zur
Durchsetzung des geltenden Rechts geeignet und erforderlich. Wir halten ihn auch für angemessen. Wer etwas
anderes will, muss einen Vorschlag machen, wie er das
Verhalten der Menschen dann ändern will.
({11})
Derzeit haben wir Umweltzonen, und wir möchten, dass
sich die Menschen daran halten. Wenn wir als Politiker
Regeln aufstellen, ist die Frage, wie wir es bewirken
können, dass sich die Menschen daran halten. Freiwillig
geschieht das nämlich nicht.
({12})
Es stellt sich die Frage, ob sie sich bei einer Strafe von
20 Euro eher daran halten oder nicht. Daher denke ich,
das, was Sie hier vorschlagen, ist keine Lösung.
Die Einführungsphase ist vorbei. Wir werden jetzt
auch weniger Verstöße feststellen. Deswegen empfehle
auch ich meiner Fraktion, Ihren Antrag an den Ausschuss zu überweisen. Dort werden wir uns sehr kritisch
mit ihm beschäftigen.
({13})
Das Wort hat nun Lutz Heilmann für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
FDP befindet sich auf einem Kreuzzug gegen Umweltzonen als vermeintliche Hüterin des Heiligen Grals der
Autolobby - freie Fahrt für freie Bürger. Kaum ein Monat vergeht, in dem die FDP nicht eine Ausnahmeregelung für irgendeine Gruppe fordert.
({0})
Erst waren es die Oldtimer, dann die Reisebusse, und
jetzt ist es das Bußgeld selbst. Wenn die FDP damit Erfolg hätte, sähe die Umweltzone bald aus wie ein
Schweizer Käse. Aushöhlen, bis nichts mehr davon übrig ist, ist offenbar Ihr Ziel. Aber dann lamentieren,
wenn wir von der EU die Rote Karte bekommen!
({1})
Dabei geht es bei den Umweltzonen um nicht wenig.
Es geht um den Schutz der Gesundheit der Menschen
durch die Verbesserung der Luft. Nach Auffassung der
Linken ist das Recht auf saubere Luft ein Menschenrecht, ein Grundrecht.
({2})
Wir haben als Gesetzgeber die Pflicht zum Handeln.
({3})
Das hat uns der Europäische Gerichtshof letztes Jahr
noch einmal ganz deutlich aufgegeben.
({4})
Mit seiner Entscheidung vom 25. Juli des vergangenen
Jahres hat er das Recht der Menschen auf saubere Luft
gestärkt. Das dürfte auch Ihnen bekannt sein.
({5})
- Warum stellen Sie dann permanent Anträge, die darauf
ausgerichtet sind, die Umweltzone ad absurdum zu führen?
({6})
Wir haben uns in Deutschland für die Einrichtung von
Umweltzonen entschieden. Ich bin dafür, dass wir gemeinsam dafür sorgen, dass die Umweltzonen effektiv
ausgestaltet werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie reden viel von Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit.
({7})
Aber was machen Sie? Mit Ihrem Kreuzzug gegen die
Umweltzonen vergeben Sie eine Chance, etwas für unsere Kinder und Enkel zu tun, deren Gesundheit zu
schützen und nicht zu gefährden.
({8})
Umweltzonen haben noch einen zusätzlichen Effekt.
Sie setzen Impulse für Handwerk und Handel. Warum?
Etliche Fahrzeuge erfüllen die Anforderungen hinsichtlich der Umweltzonen nicht; das ist uns bekannt. Diese
Autos umweltzonentauglich zu machen oder zu ersetzen,
bringt einiges an Arbeit für unsere Kfz-Werkstätten oder
auch für den Handel, falls man sich entscheidet, ein
neues Auto zu kaufen.
Erlauben Sie mir, auf den FDP-Antrag mit dem Titel
„Bußgeldkatalog bei Umweltzonen ändern - Zurück zur
Verhältnismäßigkeit“ zurückzukommen. Ich möchte darauf verzichten, hier über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu debattieren. Das würde meine Redezeit
sprengen.
({9})
Aber ich frage Sie: Was ist denn an dem Bußgeld in
Höhe von 40 Euro unverhältnismäßig?
({10})
Zum Vergleich: Für einen Verstoß gegen das Sonntagsund Feiertagsfahrverbot für Lkws werden 40 bis
200 Euro fällig. Bei Gefährdung der Umwelt durch den
Transport gefährlicher Güter auf gesperrten Straßen werden 100 Euro fällig.
({11})
- Ich bitte Sie, Herr Kollege: Ist es kein Vorteil, dass wir
unsere Kinder und die Menschen in den Städten vor
Feinstaub schützen?
({12})
Ich frage Sie deshalb noch einmal: Was ist an den
40 Euro unverhältnismäßig?
Sie behaupten, dass Auswärtige nicht über die Umweltzone Bescheid wüssten. Ich muss da dem Kollegen
Storjohann von der CDU/CSU - ich tue das nur ungern ausnahmsweise zustimmen,
({13})
weil ich mit ihm inhaltlich übereinstimme: Unwissenheit
schützt nicht vor Strafe. Das sage ich Ihnen als ausgebildeter Jurist. Die Hinweisschilder sind so groß und so
deutlich sichtbar, dass man sie gar nicht übersehen kann.
({14})
Größtenteils weisen Reiseveranstalter und Hotels darauf
hin, dass es Umweltzonen gibt. In Berlin sind die Hotels
sogar dabei behilflich, fehlende Plaketten zu besorgen.
Es ist richtig, dass es Probleme gibt. Das bestreitet
keiner. Probleme gibt es insbesondere bei der Nachrüstung von Autos. Die Bundesregierung ist jetzt angesichts
der Tatsache gefordert, dass Filter fehlen oder Schrottfilter verkauft wurden. Ich erspare mir jetzt Bemerkungen
zum Filterskandal, den wir im Hause und in den Ausschüssen hinreichend debattiert haben. Das mache ich
beim nächsten Mal, wenn die Bundesregierung meine
Anfrage beantwortet hat. Mit Ruhm hat sich die Bundesregierung bei dem Thema weiß Gott nicht bekleckert.
Die Zahlen der ausgetauschten Filter machen dies deutlich. Hier werden Probleme vertuscht und nicht bewältigt.
Die Probleme müssen freilich gelöst werden. Falsch
ist es, Umweltzonen abzuschaffen. Das wird mit der Linken nicht zu machen sein. Deshalb fordert die Linke:
erstens den Austausch aller Schrottfilter und Entzug der
Betriebserlaubnisse, um dafür einen wirksamen Anreiz
zu setzen; zweitens die Verlängerung der Förderdauer
zur Nachrüstung bei Pkw über das Jahr 2009 hinaus sowie eine Differenzierung und Erhöhung der Fördersumme; drittens Förderprogramme zur Umrüstung von
Lkws und Reisebussen;
({15})
viertens Ausnahmeregelungen zur Abfederung von Härtefällen, solange es keine wirksamen Filtersysteme gibt.
Das sind die Forderungen der Linken.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Solange diese Forderungen nicht erfüllt sind, werden
wir jegliche Debatten über Umweltzonen ablehnen.
Selbstverständlich lehnen wir auch den Antrag der FDP
ab.
({0})
Das Wort hat nun Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! An dem Titel Ihres Antrags „Bußgeldkatalog bei Umweltzonen ändern - Zurück zur Verhältnismäßigkeit“ gefällt mir ganz besonders, dass Sie zur Verhältnismäßigkeit zurückkehren
wollen. Ich möchte Sie im Gegenzug auffordern: Kommen Sie auf den Boden der Tatsachen zurück! Ich empfinde es nämlich als unverhältnismäßig, wie Sie uns hier
mit Anträgen zuschütten, in denen Sie versuchen, Umweltzonen zu umgehen und Ihre Klientel bei Laune zu
halten, indem Sie sie in ihrer Auffassung, dass Umweltzonen nichts bewirken, immer wieder bestärken.
({0})
Angesichts der Tatsache, dass die EU-Kommission eine
Buße androht, muss man schon fragen: Was ist denn Ihre
Alternative, um die Feinstaubbelastung zu reduzieren?
({1})
Unverhältnismäßig finde ich auch, dass die FDP Ausnahmeregelungen für alle möglichen Fahrzeuge fordert
oder das Bußgeld heruntersetzen will, obwohl die Umweltzonen zum Schutz der Anwohnerinnen und Anwohner vor Feinstaub eingerichtet worden sind.
({2})
- Darauf komme ich noch. Hören Sie mir erst einmal zu!
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kauch?
Nein.
({0})
- Klare Ansage.
Sie vergessen, welche Auswirkungen diese Feinstaubbelastung hat. Sie vergleichen das mit einer Einbahnstraße und wissen ganz genau, welche gesundheitlichen Belastungen Feinstaub mit sich bringt:
Atemwegserkrankungen,
({1})
Zunahme der Sterblichkeit. Wie sieht das eigentlich Ihre
Beauftragte für die Kinderkommission? Es sind doch gerade die Kinder in den Städten, die unter Feinstaub leiden, wenn Sie hier Ausnahmen zulassen.
({2})
Es wurde bisher eine Menge an Umweltzonen eingerichtet, angefangen in Berlin, Hannover und Köln zu
Jahresbeginn 2008. Es folgten weitere. Manche wie
Stuttgart haben sogar ein Lkw-Durchfahrverbot. In der
Zwischenzeit gibt es Umweltzonen in 30 Städten. Nach
dieser kurzen Zeit - der Zeitraum beträgt erst ein Jahr; es
sind noch nicht einmal alle Umweltzonen eingerichtet sagt sogar der Städtetag, dass Umweltzonen wirken. Das
ist die erste Zwischenbilanz. Berlin sagt, man habe gute
Erfahrungen mit der Einrichtung einer Umweltzone gemacht.
({3})
Dreckschleudern mit besonders hohen Emissionen müssen draußen bleiben.
({4})
Nach jüngsten Untersuchungen steht schon heute fest,
dass die Berliner Fahrzeugflotte sauberer geworden ist.
Ich habe immer gedacht, die FDP interessiere sich für
die Wirtschaft und für Wirtschaftsförderung. Sie müsste
doch ein Interesse daran haben, dass vermehrt innovative, emissionsarme Fahrzeuge auf den Markt kommen.
({5})
- Ihr Antrag zielt darauf ab, über eine Hintertür Umweltzonen auszuhebeln.
({6})
Sie wissen ganz genau, welche Auswirkungen mit der
Einführung von Umweltzonen verbunden sind. Man erwartet in der ersten Stufe eine 2-prozentige Verminderung der Emissionen und eine Reduzierung der Überschreitungstage um fünf Tage. In der zweiten Phase,
wenn nur noch Fahrzeuge mit einer grünen Plakette in
die entsprechenden Zonen fahren dürfen, erwartet man
eine Verminderung von 10 Prozent und eine Reduzierung der Überschreitungstage um 25 Tage.
({7})
- Hören Sie doch einfach einmal zu! Vielleicht haben
dann auch Sie einen Erkenntnisgewinn.
({8})
Wissen Sie eigentlich, dass wir seit den 90er-Jahren
im Zusammenhang mit Smog eine Bußgeldkatalogverordnung haben? Für eine Missachtung von Fahrverboten
wurde damals ein Bußgeld von 80 DM vorgesehen. So
weit müsste Ihr Erinnerungsvermögen noch vorhanden
sein.
({9})
Jetzt sind es 40 Euro.
Wir wissen ja, wie es im Alltag mit Selbstverpflichtungen ist: Wer hält sich daran? Ich finde es ganz sinnvoll, dass man im Verkehrszentralregister einen Punkt
bekommt, wenn man gegen das Verbot der Einfahrt in
die Umweltzone verstößt. Wenn man das nämlich nicht
macht, dann hält sich auch keiner an dieses Verbot. Wer
das Verbot einmal umgeht und eine Buße von nur
20 Euro zahlen muss, wird es auch ein zweites Mal machen. Dies ist dann sehr wohl eine Umgehung unseres
Ziels, die Städte von Feinstaub zu entlasten.
({10})
Die Deutschen haben in der Zwischenzeit durch die
Medien mitbekommen, dass es in bestimmten Städten
Umweltzonen gibt. Ich hätte gedacht, Sie schlagen statt
einer Reduzierung der Buße die Benutzung des ÖPNV in
den großen Städten vor, der dort gut funktioniert. Aber
nichts dergleichen ist der Fall.
Auch die Touristen, die nach Deutschland fahren, haben in ihren Ländern Umweltzonen. Für sie gilt dieselbe
EU-Luftreinhalterichtlinie wie für uns.
({11})
- Herr Döring, es gibt in den Städten anderer Länder
Low Emission Zones. Schauen Sie einmal im Internet
nach. Dort heißt es nämlich: „Why low emission zones?“
({12})
„Health! In short, pollution kills.“ Ich denke, in jedem
Reiseführer steht, dass wir eine Plakettenpflicht haben,
wie ebenso darin steht, dass es in Berlin einen Fernsehturm gibt. Das gehört dazu. Man kann die Plakette online
bestellen; man kann sie bei den Fahrzeughändlern, in
den Werkstätten - es gibt 30 000 -, in Zulassungsstellen
und bei den Technischen Überwachungs-Vereinen kaufen. Kommen Sie zurück auf den Boden der Realität und
zur Verhältnismäßigkeit! Ich erwarte - ich freue mich
darauf -, dass Sie einmal einen Antrag zur Bekämpfung
des Feinstaubs an der Quelle vorlegen und dazu gute
Vorschläge auf den Markt bringen.
Danke.
({13})
Das Wort hat der Kollege Anton Hofreiter für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Manche Debatten hier im Hause verblüffen
einen schon: Es werden Themen ganz unterschiedlicher
Wichtigkeit verhandelt, und bei manchen Themen kommen dann richtig die Emotionen hoch. Interessanterweise kommen bei der FDP die Emotionen dann hoch,
wenn es darum geht, einen Bußgeldkatalog zu verändern. Dies empfinde ich als mehr als verblüffend.
({0})
- Die Argumente der FDP werden zur Kenntnis genommen.
({1})
Aber das Tragische ist, dass die FDP grundlegende Zusammenhänge nicht versteht.
Eine Umweltzone wirkt dann, wenn Autos, die erhebliche Mengen an Feinstaub abgeben, die sogenannten
Stinker, nicht in die Umweltzone einfahren dürfen. Jetzt
wissen wir: Nicht alle Menschen sind so gesetzestreu
wie die hier Versammelten.
({2})
Deshalb hat der Gesetzgeber für Übertretungen Strafen
vorgesehen. Diese Strafen müssen eine Wirkung haben.
Wenn ich ohne Plakette in eine Umweltzone einfahren
kann und dafür nur 20 Euro zahlen muss und somit keinen Punkt bekomme, dann lohnt es sich in vielen Fällen,
das Verbot immer wieder zu übertreten, anstatt das Auto
nachzurüsten, auf den ÖPNV umzusteigen oder sich
vielleicht ein neues Auto zu kaufen. Damit ist der Zusammenhang zwischen dem, was die Kollegin und die
Kollegen der anderen Fraktionen dargelegt haben, klar
hergestellt. Es gibt einen Zusammenhang zwischen gesundheitlichen Gefährdungen und dem Bußgeldkatalog.
Wenn ich eine Regelung erlasse und das Bußgeld so festsetze, dass sich niemand bemüßigt fühlt, sich an diese
Regelung zu halten, dann kann ich diese Regelung auch
sein lassen.
({3})
Diesen Zusammenhang haben Ihnen die Kollegin und
die Kollegen der anderen Fraktionen mehr oder weniger
redegewandt zu erklären versucht. Durch Ihre Zwischenrufe haben Sie aber bewiesen, dass Sie es nicht verstanden haben. Das ist das Problem, und das verblüfft mich,
weil Sie im Ausschuss manchmal viel geschickter sind.
Da dies jetzt der dritte Antrag ist, mit dem Umweltzonen ausgehebelt werden sollen, würde mich von der FDP
Folgendes interessieren: Sie haben am Anfang davon gesprochen, dass auch Sie die Menschen vor Feinstaub
schützen wollen, und dann haben Sie, Herr Döring, zu
diesem Thema beredt geschwiegen. Wir freuen uns also
darauf, von Ihnen im Verkehrsausschuss einmal etwas
Konstruktives zum Schutz der Menschen vor Feinstaub
zu hören.
Man muss zwar nicht immer glauben, was an Ergebnissen auf europäischer Ebene bekannt gegeben wird.
Aber es gibt eine Untersuchung, die besagt, dass rein
rechnerisch in Europa aufgrund von Feinstaubbelastung
im Straßenraum pro Jahr über 300 000 vorzeitige Todesfälle zu verzeichnen seien. Das ist eine gigantische Zahl,
die auf den ersten Blick kaum glaubwürdig wirkt.
({4})
In Deutschland sind es rechnerisch immer noch mehrere
Zehntausend vorzeitige Todesfälle. Was man aus dieser
Studie aber auf alle Fälle erkennen kann, ist, dass es sich
um ein gravierendes Problem handelt. Natürlich ist die
Umweltzone nicht die komplette Lösung für all diese
Probleme. Aber sie ist ein Teil der Lösung. Um diesen
Teil der Lösung wirkungsvoll werden zu lassen, brauchen wir einen sinnvollen Bußgeldkatalog.
({5})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/10313 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offen-
sichtlich so der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Umsatzsteuergesetzes
- Drucksache 16/11340 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Gudrun Kopp, Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes
- Drucksache 16/11674 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollegin
Lydia Westrich für die SPD-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Nach einer großen Studie nehmen
93 Prozent der Bevölkerung der Europäischen Union
Postdienstleistungen in Anspruch. Das ist das drittgrößte
Infrastrukturbedürfnis der Menschen nach der Wasserund Abwasserversorgung. Damit ist klar, dass diese
Leistungen einen wichtigen Teil der Daseinsvorsorge
darstellen. Es liegt im allgemeinen Interesse, sie flächendeckend und kostengünstig bereitzuhalten, und zwar zu
normierten Preisen.
Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch
auf ein öffentliches Postnetz, das als Universaldienst zur
Verfügung steht. Dieses Netz muss keineswegs staatlich
sein; es muss lediglich die dem Allgemeinwohl dienenden Leistungen zuverlässig erbringen. Die Universaldienstleistungen sollen zwar kostenorientiert, aber trotzLydia Westrich
dem zu erschwinglichen Preisen angeboten werden und
von den Inseln bis zu den Bergdörfern die gleiche Qualität haben. Wir wollen in ländlichen Gebieten, wo ich
herkomme, genauso gut und zu den gleichen Preisen
versorgt werden wie die Menschen in den Großstädten.
Eine Belastung dieser notwendigen Dienstleistungen
durch die Erhebung von Mehrwertsteuer steht der gebotenen Daseinsvorsorge entgegen.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
ist geeignet, um die Bedürfnisse unserer Bürgerinnen
und Bürger weiterhin kostengünstig zu befriedigen.
({0})
Die Regelung zur Steuerbefreiung, die bisher nur für die
Deutsche Post AG galt, wird für alle Anbieter geöffnet,
die die Universaldienstleistungen in gleicher Qualität
flächendeckend und kostengünstig aus einer Hand anbieten können. Das ist der richtige Weg. Unser Gesetzentwurf ist daher besser als der Entwurf der FDP-Fraktion,
Herr Wissing, weil dieser die Belastung aller Postdienstleistungen mit der Mehrwertsteuer und damit die Verteuerung der Leistungen vorsieht.
({1})
Die Liberalisierung des Postmarktes ist in Deutschland schon weit fortgeschritten. Exklusivlizenzen und
Verpflichtungen sind weggefallen. Vor zwei Jahren, als
FDP und Bündnis 90/Die Grünen schon einmal diese
Dienstleistungen mit der Mehrwertsteuer belegen wollten, haben wir uns noch in einem anderen Umfeld bewegt. Damals galt der Verpflichtungsauftrag für die
Deutsche Post AG und die dadurch berechtigte Befreiung von der Mehrwertsteuer. Das ist nun alles weggefallen. Wir hatten Zeit, um zu überlegen und darüber zu
diskutieren, wie wir den Service für die Bürger am besten gewährleisten können.
Die FDP-Fraktion fährt in ihrem Gesetzentwurf die
pure, harte Wettbewerbslinie. Der von den Koalitionsfraktionen unterstützte Gesetzentwurf bietet Chancen.
Wir räumen allen Unternehmen die Möglichkeit ein,
diese Universalleistungen flächendeckend aus einer
Hand für die Menschen zu erbringen. Wir werden diese
Chance nicht durch das Geschenk einer Mehrwertsteuerbelastung erschweren. Wir fordern den Nachweis, dass
die entsprechenden Unternehmen die Bedürfnisse der
Daseinsvorsorge im postalischen Bereich erfüllen können. Wenn, wie in der bereits erwähnten EU-Studie angeführt, so viele Menschen Postdienstleistungen in Anspruch nehmen, ist das ein durchaus lohnender Markt
mit ganz großen Chancen.
Mir ist wichtig, dass die Menschen die Sicherheit haben, alles in erreichbarer Nähe aus einer Hand zu bekommen. Die Erfüllung von Daseinsvorsorgepflichten
bedeutet, dass man nicht mühsam herausfinden muss,
wer welche Leistungen anbietet. Es muss einen Anbieter
für alle Universaldienstleistungen geben, um die flächendeckende Sicherheit für alle Bürger zu tragbaren
Preisen zu gewährleisten.
({2})
Nur die Erfüllung dieser Kriterien - überall, bezahlbar
und zu einer bestimmten Qualität - ist Grund für die
Mehrwertsteuerbefreiung. Eine Steuerbefreiung allein
für Dienstleistungen bietet diese Sicherheit nicht, und
eine gänzliche Steuerbelastung, wie sie im FDP-Entwurf
gefordert wird, sowieso nicht. Nicht ohne Grund warnen
die kommunalen Spitzenverbände unisono davor, die
Post-Universaldienstleistungen allein den Wirtschaftsinteressen der Marktteilnehmer unterzuordnen; denn dies
würde eine Unterversorgung der Bevölkerung bedeuten.
Den Spitzenverbänden ebenso wie vielen in der SPDFraktion gefällt auch nicht, dass die bisher gewohnten
Post-Universaldienstleistungen nun auch im Gesetzentwurf der Bundesregierung auf die europäischen Minimalforderungen heruntergefahren wurden. Aber wir
werden in der Anhörung mit den Sachverständigen und
in den nachfolgenden Beratungen noch genügend Zeit
haben, gute Lösungen zu finden.
Ich halte diesen Gesetzentwurf für eine gute Chance
für Unternehmen, die ich jedem gönne, nicht nur der
Post. Allerdings will ich mit einer Steuerbefreiung keine
Geschäftsidee unterstützen, die ihren Erfolg nur darauf
gründet, Menschen für Niedrigstlöhne für sich arbeiten
zu lassen.
({3})
Eines muss man dem FDP-Entwurf lassen:
({4})
Wenn Sie schon befürworten, dass durch Niedrigstlöhne
die Daseinsvorsorge für unsere Bürger gewährleistet
werden soll,
({5})
dann schlagen Sie wenigstens die Mehrwertsteuer drauf,
von der wir dann die ergänzenden Hartz-IV-Leistungen
bezahlen können.
({6})
Als Sozialdemokratin habe ich es aber lieber umgekehrt:
ordentliche Löhne und Mehrwertsteuerbefreiung für die
postalischen Dienstleistungen, die die Menschen auch in
den entlegenen und schwach besiedelten Gebieten dringend brauchen. Das wird von den Koalitionsfraktionen
nach unseren Beratungen mit der Verabschiedung dieses
Gesetzentwurfs geleistet.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Kollege Volker Wissing, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass die SPD so argumentiert, wundert mich nicht. Aber
ich will mich einmal der CDU/CSU zuwenden.
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Mindestlöhne,
ALG II - es gibt doch inzwischen kaum noch einen Bereich, in dem die Union nicht umgefallen ist.
({0})
Wo heute Union draufsteht, ist nur noch ordnungspolitischer Wackelpudding drin.
({1})
Ihr Gesetzentwurf zur Umsatzsteuerbefreiung der
Post AG ist ein weiterer ordnungspolitischer Sündenfall.
Sie schreiben, Sie wollen eine „Umsatzsteuerbefreiung
für alle Unternehmer, die Post-Universaldienstleistungen
insgesamt, tatsächlich flächendeckend und zu einem erschwinglichen Preis anbieten“. Ehrlicher wäre es gewesen, von vornherein klar zu sagen: Wir wollen die Privilegierung der Deutschen Post AG, um sie dauerhaft vor
privater Konkurrenz zu schützen. Es wäre ehrlich gewesen, wenn Sie das in ihren Gesetzentwurf geschrieben
hätten.
({2})
Sie legen hier heute einen Gesetzentwurf vor, der eine
gigantische staatliche Wettbewerbsverzerrung vorsieht.
Die Postpolitik der Großen Koalition hat bisher immer
nur ein Ziel gehabt: den Monopolisten hätscheln und
seine private Konkurrenz zerschlagen.
({3})
Das ist der Geist Ihres Gesetzentwurfes.
({4})
Es ist schon ein einmaliger Vorgang, wie sich CDU/CSU
und SPD zum Büttel eines einzelnen Unternehmens in
Deutschland machen. Ihre scheinheilige Begründung,
liebe Kollegin Westrich, ist ungeheuerlich.
({5})
Wenn Sie ehrlich wären, würden Sie sagen: Wir wollen
diesen Monopolisten schützen; wir wollen nicht, dass
private Konkurrenz entsteht. - Aber den Preis dafür zahlen die Bürgerinnen und Bürger mit völlig überhöhten
Preisen.
({6})
Zuerst haben Sie einen Mindestlohn eingeführt und
damit die private Konkurrenz der Post plattgemacht.
57 Unternehmen mit 6 000 Arbeitsplätzen hat diese Koalition damit bereits vernichtet. Es grenzt an Zynismus,
wenn die Bundesregierung auf eine parlamentarische
Anfrage der FDP antwortet, dass den ehemaligen Beschäftigten der privaten Postdienste nunmehr die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung stehen.
Kein Mitarbeiter der Post bekommt durch Ihren Mindestlohn einen Cent mehr, aber Tausende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der privaten Postdienste verlieren
ihre Arbeit. Die Existenz Tausender Arbeitsloser ist der
Kollateralschaden Ihrer Politik.
({7})
Ihre Mindestlohnpolitik hat nicht zu höheren Löhnen,
sondern zu höherer Arbeitslosigkeit geführt. Ihr Motto
ist offenbar: Besser gar kein Lohn als ein Lohn unter
dem staatlich festgesetzten Mindestlohn. - Diese Politik
war damals falsch; sie ist auch heute falsch und hat gravierende Auswirkungen. Mit der für die Deutsche Post
maßgeschneiderten Umsatzsteuerbefreiung setzen Sie
dem noch eines drauf. Damit verhindern Sie dauerhaft
die Entstehung neuer Arbeitsplätze.
({8})
Es ist mehr als fraglich, ob die Konjunkturpakete, die
Sie derzeit in Serie auflegen, auch nur ansatzweise so
viel Beschäftigung sichern können, wie Sie durch Ihre
Politik in Deutschland vernichtet haben.
({9})
Der Bundesfinanzminister legt der deutschen Wirtschaft
mit Zinsschranke, Funktionsverlagerung und Hinzurechnungsbesteuerung in schwierigen Zeiten eiskalt Fesseln
an. Angeblich braucht er jeden Cent Steuereinnahmen.
Nur bei der Post ist er großzügig und verzichtet gerne
auf Millionen. Ich frage Sie: Was haben eigentlich die
Bürgerinnen und Bürger von der Umsatzsteuerbefreiung
der Deutschen Post? Die Bürgerinnen und Bürger zahlen
mit einem überhöhten Porto dafür, dass die Post in Amerika investieren kann. Das ist die Realität. Das unterstützen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf.
({10})
Die Folge wird sein, dass die Portokosten in Deutschland auch künftig europaweit am höchsten sind. In anderen Ländern wird ein Brief für 19 Cent befördert. Die
Post verlangt fast das Dreifache. Sie sorgen dafür, dass
keine Konkurrenz entsteht. Sie sichern bei den Postdienstleistungen Monopolpreise, fordern hier aber
scheinheilig, die Preise durch Steuersenkungen im Interesse der Menschen zu senken.
({11})
In Wahrheit sorgen Sie für überhöhte Preise, indem Sie
den Wettbewerb auf dem Postmarkt zerstören.
({12})
Die Union macht diese Politik Schritt für Schritt mit.
Sie nicken alles ab. Das ist ungeheuerlich. Mit Ordnungspolitik und sozialer Marktwirtschaft hat der Gesetzentwurf, den sie vorlegen, nichts, aber auch gar
nichts mehr zu tun. Sie, die Christdemokraten, haben
heute die Chance, ein Signal für Wettbewerb und für die
soziale Marktwirtschaft zu senden,
({13})
indem Sie sich für den Gesetzentwurf der FDP aussprechen. Sie könnten den Staatsprotektionismus Ihres Koalitionspartners, der sich für einen Monopolisten einsetzt, beenden. Ich bin sicher, dass sich die Menschen in
Deutschland gerade in diesen wirtschaftlich schwierigen
Zeiten freuen würden, wenn neben den Freien Demokraten noch eine andere Fraktion in diesem Hohen Hause
wieder einmal das Wort ergreifen und sich für Wettbewerb, soziale Marktwirtschaft und Ordnungspolitik
starkmachen würde.
({14})
Ich fordere Sie auf: Sagen Sie die Wahrheit! Sie wissen
doch genau, dass diese Politik unserem Land schadet.
Sie ist in der aktuellen konjunkturellen Krise unverantwortlich. Mit diesem ordnungspolitischen Unsinn, den
Sie verbreiten, schwächen Sie die Bundesrepublik
Deutschland.
({15})
Der Inhalt des Gesetzentwurfes, den Sie uns vorlegen,
widerspricht allen ordnungspolitischen Prinzipien. Wenn
Sie von der Union so weitermachen und Sündenfälle dieser Art immer wieder absegnen, dann müssen Sie Ihr
Grundsatzprogramm überarbeiten. Sie sind nämlich gerade dabei, sich selbst zu verleugnen.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat nun Kollege Norbert Schindler für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Einen schönen Tag, meine Damen und Herren, vor allem den Besuchern auf der Tribüne! Lieber Volker
Wissing, eigentlich müsste man fragen: Ist schon Wahlkampf?
({0})
Da der Kollege gerade richtig losgelegt hat, möchte ich
noch einige Sätze zur Klarstellung sagen. Für die Union
stelle ich fest: Die soziale Marktwirtschaft hat die Bundesrepublik Deutschland in den letzten 60 Jahren in Europa auf Erfolgskurs gebracht. Ihr von der FDP wart in
dieser Zeit an vielen Regierungen beteiligt.
({1})
Da ihr jetzt die brutale Marktwirtschaft nach amerikanischem Vorbild fordert,
({2})
frage ich mich: Was wollt ihr von der FDP eigentlich?
Wollt ihr die Steuer überall erheben,
({3})
oder wollt ihr sie überall abschaffen?
({4})
Wir legen heute einen Vorschlag vor, um die PostGrundversorgung unseres Staates zu sichern. Nach diesem Vorschlag soll nicht mehr nur der Monopolanbieter
Deutsche Post das Privileg der Steuerbefreiung haben.
Lieber Volker Wissing, Sie haben diesen Vorschlag mit
der Diskussion über das Konjunkturprogramm verknüpft
und sich aufgeregt. Sie haben sogar verkündet, wir würden auf diesem Wege 6 000 oder 7 000 Arbeitsplätze
wegrationalisieren.
({5})
Lieber Freund, stellen wir nüchtern fest - das wird sogar vom FDP-Chef anerkannt -: In den letzten drei Jahren wurden 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen.
({6})
Mittlerweile ist die Zahl sozialversicherungspflichtig
Beschäftigter höher als je zuvor. Übrigens hat die FDP
großen Teilen des Konjunkturprogramms zugestimmt.
Ich finde, das ist durchaus honorig und sollte festgehalten werden.
Allerdings hatte die Rede, die wir gerade gehört haben, auch mit Wahlkampf zu tun; denn du, lieber Volker,
hast in Anbetracht der gegenwärtigen Vertrauenskrise in
der Finanzwirtschaft behauptet, die Regierung würde
Arbeitsplätze gefährden. Ich möchte dich in einem persönlichen, freundschaftlichen Ton darauf hinweisen: Im
Januar ist es mit Sicherheit noch etwas zu früh, um mit
dem Bundestagswahlkampf zu beginnen.
({7})
- Im Moment hat man den Eindruck, als könntet ihr vor
Kraft nicht laufen. Euer Parteivorsitzender hatte schon
einmal die „18 Prozent“ auf den Schuhsohlen. Seine
Schuhe waren aber schnell abgelaufen. Warten wir erst
einmal das nächste halbe Jahr ab! Ich bin da sehr gelassen.
Wir reden hier über die Änderungen des Umsatzsteuergesetzes auf Bundestagsdrucksache 16/11674. Um was
geht es dabei? Es geht darum, dass die Exklusivlizenz,
die die Deutsche Post AG zur Beförderung von Briefen
unter 50 Gramm hatte, im Dezember 2007 ausgelaufen
ist. Das Monopol der Deutschen Post AG ist damit weg.
({8})
In der Zwischenzeit sind viele Anbieter, allein oder in
Gemeinschaft, in den Markt eingetreten, welche Postdienstleistungen aller Art erbringen. Neben der Beförderung von Briefen über 50 Gramm und Paketen gab es auf
Antrag auch Genehmigungen für die Beförderung von
Briefen unter 50 Gramm. Täglich bekommen wir alle
Briefe nicht nur von der Deutschen Post, sondern auch
von der PIN AG, der Citypost und Pakete von Hermes.
Die Öffnung des Postmarktes ist damit vollzogen, lieber
Volker Wissing.
({9})
Ich will der FDP etwas zum Mindestlohn sagen: Ich
habe schon immer etwas dagegen gehabt, dass in
Schlachthöfen in Oldenburg oder sonstwo Osteuropäer
für 1,80 Euro oder 2,90 Euro die Stunde gearbeitet und
damit die deutschen Arbeitskräfte vor Ort verdrängt haben. Wenn das Wettbewerb am Arbeitsmarkt sein soll,
dann sage ich: Ein unteres Netz muss eingezogen werden.
({10})
Die Städte und Gemeinden mussten für die arbeitslos gewordenen Deutschen aufkommen. Menschen sind ohne
Not in die Arbeitslosigkeit getrieben worden. Deswegen
brauchen wir für die Löhne ein unteres Netz. So verstehen wir die soziale Marktwirtschaft.
({11})
Postdienstleistungen stehen im Wettbewerb um Preis,
Qualität und Zustellgebiet. Die Zustellung von Briefen
oder Paketen ist allerdings keine einfache Dienstleistung. Die förmliche Zustellung mittels Postzustellungsurkunde ist Grundlage eines jeden Vollstreckungsverfahrens. Auch Liebesbriefe, Postkartengrüße, Einladungen
und Mitteilungen, Urkunden, Gerichtsbescheide, Rechnungen und Mahnungen müssen zuverlässig befördert
werden - und sei es bis nach Sylt oder auf die Hallig
Gröde. Wie komme ich auf die Hallig Gröde? Gröde ist
dadurch bekannt geworden, dass die sieben Einwohner,
die wählen dürfen, immer die CDU gewählt haben - bis
eines Tages einer SPD gewählt hat. Da gab es ein großes
Rätselraten auf dieser Hallig.
({12})
Dass man flächendeckend, von Aachen bis in den
Oderbruch, Briefe versenden kann, ist eine der Kommunikationsgrundlagen unserer Gesellschaft. Dass alle Universaldienstleister diese Qualitäten erfüllen müssen, darum geht es heute.
({13})
Der deutschlandweite Wettbewerb ist gegeben. Man
kann doch nicht sagen, das wäre nicht so. Indem wir
jetzt Universaldienstleister von der Umsatzsteuer befreien, ermöglichen wir es ihnen, mit dem Monopolanbieter der Vergangenheit gleichzuziehen.
Jetzt geht es noch um die Beförderung von Briefen
bis 2 000 Gramm und darum, was als Postwurfsendung
bedient werden können soll. Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen Universaldienstleister von der Umsatzsteuer befreit werden. Allerdings wird derzeit nicht
zwischen paketbezogenen und briefbezogenen Universaldienstleistungen unterschieden. Wer einen Brief und
ein Paket bis 10 Kilogramm von der Zugspitze bis nach
Sylt befördert, muss keine Umsatzsteuer abführen, doch
wer lediglich Pakete befördert, wird von der Umsatzsteuer nicht befreit. Ein Beispiel: Wenn ich ein Paket bei
der DHL-Packstation am Aldi-Markt einwerfe, wird dieses umsatzsteuerfrei befördert. Wenn ich es jedoch bei
Hermes nebenan aufgebe, muss Umsatzsteuer gezahlt
werden. Das ist ein Thema, über das wir innerhalb der
Koalition jetzt, da wir mit dieser ersten Lesung in die
Beratungen eintreten, noch einmal diskutieren müssen.
Da muss der Gesetzentwurf der Regierung nachgebessert werden.
({14})
Der Antrag auf Umsatzsteuerbefreiung ist beim Bundeszentralamt für Steuern zu stellen; das sage ich nur,
damit das jeder weiß. Dieses prüft dann, ob das Unternehmen Post-Universaldienstleistungen erbringt. Wir
werden aufpassen, dass sich nicht Rosinenpicker in den
Ballungszentren reich und fett verdienen. Die können
dort übrigens mehr zahlen als den Mindestlohn; das gibt
der Umsatz her. Die Grundlage muss nämlich sein: Wer
für die Gesellschaft Universaldienstleistungen erbringt,
den müssen wir als Gesetzgeber unterstützen.
({15})
Das ist der Punkt, wo der Gesetzentwurf der FDP ein Risiko birgt. - Ich muss jetzt erst mal etwas trinken. Ich
habe hier ein Glas Wasser; Wein wäre mir im Übrigen
lieber.
({16})
Nicht übertreiben.
Nein, Wein ist gesund. - Hier steht die Formulierung
„bis 10 Kilogramm“. Das heißt, dass man drei Flaschen
Wein versenden und verschenken kann.
({0})
Lieber Volker Wissing, du müsstest den Weinbauverbünden sofort zustimmen, dass Wein nicht nur Genuss, sondern für alle, die ihn in Maßen trinken, eine gesunde Medizin ist.
({1})
Das politische Ziel, das mit dieser Vorlage verfolgt
wird, ist absolut richtig. Über den Zeitpunkt der Inkraftsetzung - im April, im Juni oder erst im kommenden
Jahr - werden wir mit unserem Partner, der SPD, mit Sicherheit noch einmal reden müssen. Wir finden hier mit
Sicherheit eine Einigung.
({2})
Ich stelle hiermit fest: Auch für diese Grundversorgung muss der Mindestlohn Grundlage bleiben. Hier bin
ich Anhänger der sozialen Marktwirtschaft. Liebe
Freunde, daran, dass der Wettbewerb trotzdem flächendeckend eröffnet wurde, zeigt sich, dass das ein guter
Gesetzentwurf ist. Wir werden ihn mit Sicherheit auch
schnell verabschieden.
({3})
Danke schön, dass Sie mir zugehört haben.
({4})
Das Wort hat nun Kollegin Barbara Höll für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Deutsche Post soll überall in Deutschland, in den Städten und im ländlichen Raum, genügend Briefkästen und
Postdienststellen unterhalten und natürlich ein umfangreiches Angebot bereitstellen. Dafür erhält sie einen finanziellen Ausgleich, nämlich die Mehrwertsteuerbefreiung. Das will die Linke beibehalten.
({0})
Das, was Sie von der FDP vorschlagen, ist nichts anderes als das Infragestellen der Grundversorgung der Bürgerinnen und Bürger mit flächendeckenden Postdienstleistungen.
({1})
Wir sagen klipp und klar: Die Post soll diese Steuervergünstigung erhalten. Wir sagen aber auch: Sie erhält
diese Steuervergünstigung dafür, dass sie hier eine gute
Postversorgung gewährleistet und nicht in Übersee einen
Global Player spielt und sich dort eine blutige Nase holt.
({2})
Sie erhält sie auch nicht dafür, dass, wie vor einiger Zeit,
darüber geklagt wird, dass die Briefe aufgrund von Personalkürzungen nicht mehr ordnungsgemäß zugestellt
werden; das lehnen wir natürlich ab.
({3})
Die Postdienstleistungen sind für alle Bürgerinnen und
Bürger, insbesondere für die Älteren, ein wesentlicher
Faktor der Lebensqualität; Frau Westrich sagte das bereits.
Trotz allem, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Großen Koalition, bin ich auch mit Ihrem Gesetzentwurf
nicht zufrieden. Worum geht es? - Sie wollen die Mehrwertsteuerbefreiung auf all die Unternehmen erweitern,
die die Bürgerinnen und Bürger ebenso wie die Post flächendeckend mit Postdienstleistungen versorgen und
den Universaldienst erfüllen. Gut! Das könnte die Linke
mittragen. Die Linke kann aber nicht mittragen, dass Sie
bei dieser Mehrwertsteuerbefreiung einen anderen Maßstab anlegen. Ich sehe nicht ein, warum wir von dem hohen Niveau in der Bundesrepublik abgehen und es auf
das europäische Niveau absenken sollten. Dazu sind wir
nicht verpflichtet. Sie wollen das aber. In Ihrem Gesetzentwurf steht:
Nicht mehr umsatzsteuerbefreit sind:
- Paketsendungen mit einem Gewicht von mehr
als 10 Kilogramm bis zu 20 Kilogramm,
- adressierte Bücher, Kataloge, Zeitungen und
Zeitschriften mit einem Gewicht von jeweils
mehr als 2 Kilogramm,
- Expresszustellungen,
- Nachnahmesendungen sowie
- Leistungen, die individuell vereinbart werden …
Das ist ein erster Schritt, das Universalangebot aufzuweichen. Das werden wir nicht mittragen.
({4})
Sie mögen vielleicht sagen, dass das zu vernachlässigende Größen sind. Das ist aber nicht so. Wir fordern Sie
vielmehr auf, im Interesse der Postkundinnen und -kunden hier die Universaldienstleistungen in vollem Umfang zu erhalten.
Schauen wir uns einmal an, was in den letzten
15 Jahren vor sich gegangen ist! Laut Städte- und Gemeindebund ist die Zahl der Postfilialen um 5 000 auf
circa 12 000 gesunken. Die Zahl der Briefkästen hat um
circa 30 000 auf jetzt 110 000 abgenommen. Man muss
zum Teil schon ganz schön suchen, um einen Briefkasten zu finden. Zudem gibt es derzeit 180 bis 190 Kommunen in Deutschland, die sogenannte Bürgermeisterfilialen betreiben und damit die Aufgaben der Deutschen
Post übernehmen. Bei der Deutschen Post gingen zwischen 1999 und 2006 15 000 Vollzeitarbeitsplätze und
5 000 Teilzeitarbeitsplätze mit Sozialversicherungspflicht verloren. Das ist ein Skandal.
({5})
Sie mögen zwar darauf verweisen, dass 20 000 Arbeitsplätze neu entstanden sind, aber das sind Arbeitsplätze
im Niedriglohnsektor oder Minijobs.
Diese Politik tragen wir auf keinen Fall mit. Wir wollen diese Umgestaltung des Arbeitsmarktes nicht, auch
nicht bei der Deutschen Post. Wer eine bürgernahe
Dienstleistung will, darf nicht auf Teufel komm raus privatisieren und mit dem Eurozeichen im Auge agieren. Er
muss vielmehr an die Irma auf Rügen, den Opa in der
Lausitz und an die alleinerziehende, nicht mobile junge
Frau im Allgäu denken, die auf diese Universaldienstleistungen der Post angewiesen sind. Deshalb werden
wir in den Gesetzesberatungen unseren Schwerpunkt auf
die Beibehaltung der Umsatzsteuerbefreiung ohne Absenkung der Standards legen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat nun Kollegin Kerstin Andreae, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Höll, Sie haben gesagt, man dürfe nicht auf Teufel
komm raus privatisieren, und eine Philippika für die
Deutsche Post AG vorgebracht. Sie sind im Berliner Senat vertreten. Der Berliner Senat verschickt seine Briefe
über die PIN AG. Ich muss Ihnen deshalb leider eine gewisse Scheinheiligkeit zusprechen.
({0})
Wir diskutieren zurzeit zwei Gesetzentwürfe zu dem
Thema „Post und Umsatzsteuer“. Heute geht es um die
Umsatzsteuerbefreiung für alle Unternehmen, die flächendeckend Post-Universaldienstleistungen anbieten.
Der Gesetzentwurf soll federführend an den Finanzausschuss überwiesen werden. Parallel dazu gibt es einen
Gesetzentwurf der FDP-Fraktion, der im Wirtschaftsausschuss beraten wird. Insofern habe ich Ihre Rede nicht
verstanden, Herr Wissing. Die FDP schlägt nämlich in
ihrem Gesetzentwurf vor, die Mehrwertsteuerbefreiung
aufzuheben. Das bedeutet de facto eine Preiserhöhung
bei den Postdienstleistungen.
({1})
- Natürlich. Wenn Sie die Befreiung von der Mehrwertsteuer aufheben, dann steigen die Preise entsprechend.
Das können Sie nicht leugnen.
({2})
- Moment, ich komme noch zu den Monopolen.
Sie alle haben in ihren Reden im Zusammenhang mit
der Aufgabe der Postversorgung als Daseinsvorsorge die
hohe Gemeinwohlorientierung angeführt. Auch wir finden, dass diese Aufgabe sichergestellt werden muss. Dabei ist es völlig egal, ob ein Brief von München nach
Berlin oder von St. Peter nach St. Peter-Ording gesandt
wird. Diese Universaldienstleistung, die der Daseinsvorsorge dient, muss gewährleistet sein.
Aber Sie müssen auch sehen, dass die Post massiv in
die Kritik geraten ist.
({3})
Die Post dünnt Leistungen aus. Es sind Beispiele diskutiert worden. Die Kommunen fangen selber an, Postagenturen zu betreiben. Im Weihnachtsgeschäft haben
sie selber - ({4})
- Jetzt seien Sie doch mal ruhig, und hören Sie zu! Das
irritiert. - In der Zustellung werden Poststellen ausgedünnt.
Wenn man die Daseinsvorsorge gewährleisten will,
dann ist es aus grüner Sicht absolut notwendig, auch den
Wettbewerb zu gewährleisten und den Zugang zu diesem
Markt auch für private Anbieter zu ermöglichen.
({5})
An dieser Stelle haben Sie völlig recht, Herr Wissing.
Der Gesetzentwurf der Großen Koalition ist eine Scheinlösung. Wenn Sie vorsehen, dass nur diejenigen die Umsatzsteuerbefreiung genießen, die flächendeckend Universaldienstleistungen anbieten - und zwar in ganzer
Breite -, dann betrifft das ausschließlich die Post. Kein
anderer Anbieter wird in der Lage sein, alle Teilbereiche
der Universaldienstleistungen derzeit flächendeckend
anzubieten. Deswegen sollten Sie berücksichtigen, dass
es einen großen Anbieter gibt, der nach wie vor ein Defacto-Monopolist ist und
({6})
derzeit in die Kritik geraten ist. Liberalisierung hin oder
her: Der Wettbewerb ist nicht in der Weise ausgestaltet,
dass man von einem fairen und funktionierenden Wettbewerb sprechen kann.
({7})
Die Post steht stark in der Kritik. Sie werden gewährleisten müssen, dass auch privaten Anbietern der Zugang zu
diesem Markt ermöglicht wird.
({8})
Deshalb finde ich Ihren Vorschlag sinnvoll, Herr
Schindler, und empfehle, darüber nachzudenken, ob Sie
in der Lage sind, die Universaldienstleistungsverordnung in Teilbereiche aufzuteilen. Diese Diskussion gibt
es schon länger. Es geht um die Frage, was man mit einem Paketdienstleister oder einem Briefzusteller macht.
({9})
Ich finde den Vorschlag, den Sie gemacht haben, sinnvoll. Überlegen Sie sich, ob Sie diese Universaldienstleistungsverordnung in Teilbereiche aufteilen.
({10})
Für diese Teilbereiche lässt sich Wettbewerb schaffen,
indem festgelegt wird, dass, wenn die flächendeckende
Versorgung gewährleistet ist - es ist ein Unterschied, ob
Sie über eine Briefzustellung oder eine Paketzustellung
sprechen -, die Anbieter für diese Teilbereiche in gleichem Maße mit einer Steuer belegt werden.
(Iris Gleicke [SPD]: Dann ist es aber keine
Universaldienstleistung! - Klaus Barthel
[SPD]: Dann soll sich jeder das heraussuchen,
was er möchte, oder?
Das sollten Sie diskutieren, weil in der Situation, wie wir
sie derzeit haben - auch wenn Sie es betonen -, kein fairer Wettbewerb auf dem Postmarkt gegeben ist. Dieser
Diskussion müssen Sie sich stellen.
({11})
Wettbewerb an dieser Stelle heißt Verbraucherfreundlichkeit, Bezahlbarkeit und flächendeckende Versorgung. Aber so, wie die Situation derzeit ist, und mit diesem Gesetz, das, wenn es nicht verändert wird, eine
absolute Scheinlösung ist, kommen Sie nicht zurande.
Von daher hoffe ich, dass Sie sich in dieser Diskussion
noch bewegen.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Kollege Klaus Barthel für die SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sollten uns darauf besinnen, um was es heute geht. Es
geht darum, dass es einen Anpassungsbedarf zwischen
europäischem und deutschem Umsatzsteuerrecht gibt.
Es geht um die Formulierung in unserem jetzigen Umsatzsteuergesetz, dass „die unmittelbar dem Postwesen
dienenden Umsätze der Deutsche Post AG“ von der
Steuer zu befreien sind. In der Tat kann man diese Formulierung nicht mehr halten. Da hat die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf völlig Recht. Die EUKommission kann sich mit ihrem Vertragsverletzungsverfahren, das letztlich diesen Gesetzentwurf ausgelöst
hat, nur auf diesen Passus im Umsatzsteuerrecht beziehen.
Nun behauptet die FDP - Herr Wissing ist geistig
schon wieder abwesend -,
({0})
dass nur eine völlige Abschaffung dieser Mehrwertsteuerbefreiung markt- und EU-konform sein könnte. Aber
das ist völliger Unsinn; denn das Vertragsverletzungsverfahren der Kommission richtet sich im Kern gegen
die unterschiedliche Praxis in den unterschiedlichen Mitgliedsländern. Deswegen gibt es eine Klage zum Beispiel gegen Schweden, weil die das FDP-Modell haben,
das heißt, bei denen gibt es keine Umsatzsteuerbefreiung. Dagegen wird genauso geklagt.
Die Mehrwertsteuersystemrichtlinie - das ist geltendes europäisches Recht - sieht zwingend vor, „von öffentlichen Posteinrichtungen erbrachte Dienstleistungen“ von der Umsatzbesteuerung auszunehmen. Es war
eines der zentralen Ergebnisse der Anhörung im Wirtschaftsausschuss - vielleicht lesen Sie das im Protokoll
nach - dass die Einführung der Mehrwertsteuer auf alle
Postdienste dem europäischen Recht widersprechen
würde.
Mittlerweile liegt der Schlussantrag der Generalanwältin des EuGH vor. Sie sagt eindeutig: Erstens.
Öffentliche Posteinrichtungen im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie sind diejenigen Anbieter von Postdienstleistungen, die den Universaldienst gewährleisten.
Zweitens. Die Universaldienstdefinition liegt in der Verantwortung der Mitgliedstaaten. Wir müssen uns also
nicht an dem europäischen Mindeststandard orientieren.
Drittens. Der Universaldienst - das ist ganz wichtig für
Frau Andreae - meint eine Gesamtheit von Diensten und
Infrastruktureinrichtungen und nicht irgendwelche Teilleistungen. Wenn man sich für die Trennung von Briefen
und Paketen ausspricht, warum werden dann nicht auch
Nachnahmesendungen, Filialen usw. getrennt? Viertens.
Die Befreiung kann sich nur auf allgemein zugängliche
Tarife beziehen und nicht auf rabattierte Konditionen.
Wir raten dazu, den Gesetzentwurf der FDP abzulehnen. Wir tun das schon deswegen, weil wir nicht wollen,
dass Briefe, Pakete und andere Postdienstleistungen um
19 Prozent teurer werden. Das wäre nämlich die eindeutige Folge der FDP-Initiative.
({1})
Sie sollten noch einmal darüber nachdenken, was das für
Ihr Image als Steuersenkungspartei bedeutet.
({2})
Damit werden letztendlich die kleinen Postkunden belastet, bei denen die Einführung der Mehrwertsteuer landen
wird.
({3})
Im Übrigen wollen wir beim Vierklang der Postliberalisierung bleiben. Diesen Zusammenhang möchte ich
herstellen. Erstens geht es um die Erbringung eines flächendeckenden Universaldienstes und nicht um Rosinenpickerei nach dem Motto „Jeder sucht sich das heraus,
was er will, und erklärt das dann zur Universaldienstleistung“.
Zweitens wollen wir faire Wettbewerbsbedingungen
für das oder die universaldienstleistenden Unternehmen.
Das kann jedes Unternehmen machen. Wenn es das
macht, dann bekommt es die Umsatzsteuerbefreiung,
nicht aber die anderen, die Rosinenpicker.
Drittens streben wir die Sicherung guter Arbeit durch
Mindestarbeitsbedingungen - Stichwort Postmindestlohn - an. Da es viele Wettbewerber gibt: Wer von diesen offen erklärt - das ist in Zeitungen nachzulesen -,
dass man rechtswidrig nicht den Mindestlohn zahlen
will, der hat das Recht verloren, sich bei Themen wie der
Mehrwertsteuer zu Wort zu melden. So kann Wettbewerb nicht laufen.
Schließlich und endlich ist fairer Wettbewerb in Europa entscheidend. Die EU-Kommission hätte genug zu
tun, fairen Wettbewerb in der EU durchzusetzen. Es mutet etwas gespenstisch an, wenn Unternehmen, die zu
Hause einen geschützten Bereich haben bzw. aus einem
reservierten Bereich kommen, in der Bundesrepublik
Deutschland auftreten und plötzlich bei der Mehrwertsteuer den fairen Wettbewerb in der EU einfordern. Das
ist eine seltsame Logik.
({4})
Es geht nicht um Arbeitsplätze oder nicht, um Mehrwertsteuer oder nicht, sondern darum, ob gute, qualitativ
abgesicherte Arbeitsplätze durch Sozial- und Lohndumping verdrängt werden können oder ob der Universaldienst erbringende Unternehmer bzw. die Universaldienst erbringenden Unternehmen von denen, die sich
nur die Rosinen herauspicken, verdrängt werden. Hier
geht es um einen Verdrängungswettbewerb, nicht um zusätzliche Arbeitsplätze und zusätzliche Wertschöpfung.
Diesen entscheidenden Gedanken darf man bei der
Schaffung eines fairen Wettbewerbs nicht vergessen.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/11340 und 16/11674 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Cornelia Hirsch, Ulla Jelpke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für eine erleichterte Anerkennung von im
Ausland erworbenen Schul-, Bildungs- und
Berufsabschlüssen
- Drucksachen 16/7109, 16/11732 Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg
Patrick Meinhardt
Krista Sager
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Lebensleistung von Migrantinnen und Migranten würdigen - Anerkennungsverfahren
von Bildungsabschlüssen verbessern
- Drucksache 16/11418 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unser
Land blickt auf eine lange, mittlerweile traditionelle Zuwanderungspolitik mit zahlreichen Beispielen erfolgreicher beruflicher Integration - man sollte auch die positiven Beispiele erwähnen -, aber sicherlich auch mit vielen
Beispielen weniger erfolgreicher beruflicher Integration
zurück. Mit der Zuwanderung müssen neue Herausforderungen gemeistert werden. Wir sollten allerdings nicht
nur über Herausforderungen sprechen, sondern gerade in
der Integrationspolitik auch über Chancen und Möglichkeiten, die erkannt und genutzt werden sollten. Angesichts der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen Deutschlands, des demografischen Wandels und
des weltweiten Wettbewerbs um die besten Köpfe stehen
wir für einen positiven und pragmatischen Umgang mit
Integration, gerade wenn es um berufliche Perspektiven
geht. Dafür ist eine nachhaltige Integrationspolitik dringend erforderlich.
({0})
Dies wurde in den letzten Jahren durch den Nationalen
Integrationsplan und viele Maßnahmen einer konzentrierten, systematischen Integrationspolitik deutlich, die
auch - das ist das Thema der heutigen Debatte - Antworten auf die Frage nach der beruflichen Integration
geben muss.
Im Zusammenhang mit Globalisierung und gesellschaftlicher Pluralisierung ist allerdings nicht nur die
Wirtschaft immer stärker auf differenzierte sprachliche
und interkulturelle Kenntnisse von Beschäftigten angewiesen, sondern auch andere Bereiche. Ich nenne als Beispiel den öffentlichen Dienst; denn gerade der öffentliche
Dienst muss mit seinen Angeboten einer zunehmend differenzierten Nachfrage nach öffentlichen DienstleistunMarcus Weinberg
gen Rechnung tragen. Wir brauchen mehr Migranten im
öffentlichen Dienst.
({1})
- Schauen Sie nach Hamburg! Da gibt es klare Zielvorgaben unter einer CDU-geführten Regierung. - Es ist
nicht zu bestreiten, dass wir bei der beruflichen Integration noch große Probleme haben. Die Arbeitslosenquote
von Migrantinnen und Migranten ist im Zuge der aktuellen Konjunktursituation zwar zunächst gesunken, trotzdem sind durchschnittlich nur 68 Prozent der Migranten
und nur 58 Prozent der Migrantinnen erwerbstätig. Das ist
im Vergleich zur deutschen Bevölkerung mit 75 Prozent
natürlich nicht ausreichend. Fehlende oder unzureichende
Sprachkenntnisse, fehlende berufliche Abschlüsse und
mangelnde Qualifikationen tragen in hohem Maße dazu
bei. Das sind auch die Themen, über die wir im Zusammenhang mit der Schule und bei der Frage des Übergangs
von der Schule in den Beruf diskutiert haben, das waren
die Themen auf dem Bildungsgipfel, und es sind die Themen der Qualifizierungsoffensive. Man sieht also deutlich, dass diese Thematik aufgenommen wurde und die
Bundesregierung dieser Thematik Rechnung getragen
hat.
Trotzdem gibt es noch Probleme. Die im Ausland erworbenen Qualifikationen, Schul-, Bildungs- und Berufsabschlüsse von Migrantinnen und Migranten werden
in der Bundesrepublik nicht oder häufig nur unter erschwerten Bedingungen anerkannt. Dies führt dazu, dass
die Arbeitslosenquote von Migranten mit einem akademischen Abschluss mit 12,5 Prozent fast dreimal so
hoch ist wie die von deutschen Hochschulabsolventen.
Potenziale und Qualifikationen von Migranten gehen damit der Wissenschaft und dem Arbeitsmarkt verloren.
Dieser Zustand ist auch für uns nicht hinnehmbar.
({2})
Die Arbeitsgruppe „Wissenschaft - weltoffen“ des
Nationalen Integrationsplans hat sich unter anderem mit
dem Potenzial beschäftigt und deutlich gemacht, welche
Probleme es in diesem Bereich gibt. Ich will drei Probleme exemplarisch herausgreifen: Erstens. Angaben
zum Qualifikationsniveau von Zuwanderern bei der Einreise nach Deutschland lassen sich nicht machen, da berufliche und schulische Qualifikationen bei der Ankunft
nicht erhoben werden. Zweitens. Die Daten des Mikrozensus geben zwar Auskunft über die Qualifikationsstruktur der Bevölkerung mit Migrationshintergrund,
differenzieren aber nicht nach im Ausland oder im Inland erworbenen Abschlüssen. Drittens. Auch in der
Datenaufnahme der Bundesagentur für Arbeit zu den
formalen Qualifikationen sind nur deutsche bzw. in
Deutschland anerkannte Berufsabschlüsse vorgesehen;
selbst ausländische Hochschulabschlüsse gehen bei fehlender Anerkennung nicht in die formalen Qualifikationsprofile der Arbeitslosen ein.
Das hat zur Konsequenz, dass nach Schätzungen des
Oldenburger Instituts für Bildung und Kommunikation
mittlerweile über 500 000 zugewanderte Akademiker
keine anerkannten Abschlüsse haben und sie im Verhältnis zu ihrem Abschluss teilweise minderqualifizierten Tätigkeiten nachgehen müssen. Das heißt im Ergebnis: Die
Nichtanerkennung beruflicher Qualifikationen erschwert
bzw. verhindert nicht nur individuell die Aufnahme einer
dem Bildungsstand entsprechenden Erwerbstätigkeit,
sondern bedeutet auch in volkswirtschaftlicher Perspektive, dass erhebliche Qualifikationsressourcen im Erwerbssystem brachliegen. Auch das ist ein Zustand, der
nicht hinnehmbar ist.
({3})
Entscheidend ist, dass das Problem erkannt wurde,
auch von der Großen Koalition. Nach wie vor ist es so,
dass für die Anerkennung von ausländischen Zeugnissen
die Länder zuständig sind. Die KMK hat für diese Aufgabe die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen,
ZAB, eingerichtet. Das ist die zuständige Stelle für die
Bewertung und Einstufung ausländischer Bildungsnachweise. Im Frühjahr 2009 beginnt die ZAB mit der Ausstellung von Zeugnisbescheinigungen auch für Privatpersonen. Das ZAB im Sekretariat der KMK ist die
zuständige Stelle, und ich will zwei, drei, vier wesentliche Aufgaben skizzieren, die deutlich machen, dass genau die offenen Punkte abgearbeitet werden. Zu den
Aufgaben der ZAB zählt, dass sie auf Anfrage der zuständigen Stellen die ausländischen Bildungsnachweise
individueller Antragsteller bewertet, dass sie allgemeine
Äquivalenzgrundlagen und Einstufungsempfehlungen
für ausländische Bildungsnachweise erstellt, dass sie die
zuständigen Stellen bei der Vorbereitung bilateraler Abkommen mit den Regierungen ausländischer Staaten
über die gegenseitige Anerkennung von Bildungsnachweisen unterstützt, dass sie dokumentiert, dass sie Institutionen, wie Hochschulen, und Gremien unterstützt, die
in diesem Bereich Verantwortung haben, dass sie Stipendien vergebende Stellen und die Organisation für den
Studentenaustausch unterstützt. Ich glaube, dass im Hinblick auf die Aufgabenstruktur deutlich wird, dass die
Punkte abgearbeitet werden, die noch offen sind. Insoweit sind die Einrichtung und die Arbeit dieser zentralen
Stelle von elementarer Bedeutung.
Ich möchte aufgrund der Zeit nur in Kürze noch auf
weitere Dinge ({4})
- Dafür haben Sie immer Zeit, Herr Dr. Rossmann.
Ich würde gern auf zwei, drei Dinge eingehen, die den
deutschen bzw. nationalen Rahmen noch erweitern:
Erstens. Die Schaffung von Vergleichbarkeit von
Hochschulabschlüssen auf EU-Ebene im Rahmen des
Bologna-Prozesses muss endlich vorangetrieben werden, auch im Bereich der beruflichen Abschlüsse.
({5})
Zweitens. Wir müssen mit der Einführung eines europäischen Qualifikationsrahmens, EQR, diese Vergleichbarkeit schaffen und einen Rahmen für die Anerkennung
von Qualifikation im Bereich der allgemeinen und der
beruflichen Bildung erstellen. Das wird keine zehn Jahre
mehr dauern, wie ich von der FDP-Fraktion gerade
hörte,
({6})
zumindest nicht dann, wenn wir das in Verantwortung
betreiben werden.
Drittens. An dieser Stelle möchte ich noch auf den
Antrag der Linken zu sprechen kommen sowie auf die
Frage: Welche Verantwortung haben die Kammern in
diesem Zusammenhang? Natürlich ist es so, dass die Anerkennung und die formale Vergleichbarkeit von Berufsabschlüssen bilateral nur mit Österreich, Frankreich und
für das Handwerk nur mit der Schweiz geregelt sind.
Trotzdem muss man sagen, dass die Kammern in vielen
Fällen informelle Hilfsleistungen und Anerkennungsmöglichkeiten anbieten. An dieser Stelle wird nachgebessert; das fällt in den Bereich des EQR. Die Industrieund Handelskammern erklären sich bereit, ihre Leistung
zur Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen vor allem im Bereich der gutachterlichen Stellungnahmen zu ausländischen Zeugnissen weiter zu verbessern.
({7})
- Jetzt war Zeit, zu klatschen.
Die Kammern haben eine hohe Verantwortung. Im
Antrag der Linken wird aber deutlich, dass das kritisiert
wird. Ich kann nur eines sagen: Wir müssen auf die Standards achten. Wir dürfen - bei allem Respekt und bei aller Bedeutung des Themas für unsere Gesellschaft, aber
auch für die europäische Gesellschaft insgesamt - nicht
außer Acht lassen, dass wir und natürlich auch die Kammern verpflichtet sind, Standards einzuhalten. Die zentrale Aufgabe ist, dies passgenau zu machen. Die Standards dürfen nicht abgesenkt werden. Es nützt den
Migranten nichts, wenn Sie im Hinblick auf die Standards im Vergleich zu der Zeit davor schlechter dastehen.
Gern kann ich noch auf weitere Maßnahmen eingehen
wie das Modellprodukt des Bundes „AQUA - zugewanderte Akademikerinnen und Akademiker qualifizieren
sich für den Arbeitsmarkt“. Das Programm wurde seit
Oktober 2007 von 4 auf 13 Berufsfelder erweitert. Es ist
übrigens nicht zutreffend, dass das Akademikerprogramm des BMBF im Hinblick auf die Haushaltsansätze
seit 2006 zurückgefahren worden sei. Es ist in das bereits seit Oktober 2006 angelaufene Programm „AQUA“
überführt worden.
({8})
Das heißt: Die bisherigen Zielgruppen, insbesondere
im Migrantenbereich, werden weiterhin berücksichtigt,
und die gemeinsame Qualifizierung zugewanderter und
hiesiger arbeitsloser Akademiker steht im Mittelpunkt.
Der Mittelansatz für das Jahr 2009 ist „AQUA“ zugeordnet worden. Erwähnt werden soll außerdem das Programm „Interkulturelle Bildung“ der Universität Oldenburg, das es seit 2006 gibt. Das sind Einzelmaßnahmen,
die deutlich machen, dass es hier sehr viel Bewegung
gibt.
Was bleibt als Fazit festzuhalten? Es ist deutlich geworden, dass wir dies, gerade was die Anerkennung von
Berufsabschlüssen anbelangt, als zentralen Bereich der
Integration sehen müssen.
({9})
Dass über 500 000 Menschen damit hierzulande Probleme haben, ist nicht hinnehmbar. Die meisten von uns
führen wahrscheinlich in diesem Bereich aktive Gespräche. Ich war letztens in Hamburg und habe mit jungen
Migranten gesprochen, die gerade Probleme haben, dass
ihnen bei den Zeugnissen etwas fehlt oder dass ihnen bei
der Zulassung etwas fehlt. Sehen Sie das als Herausforderung an! Die Bundesregierung hat bereits geantwortet
und gute Programme erstellt. An dieser Stelle sei beispielhaft die ZAB genannt. Ich glaube, wir sind auf dem
richtigen Weg.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine der
frustrierendsten Erfahrungen von Migranten in Deutschland ist die Odyssee zur Anerkennung ihrer Bildungsabschlüsse. Odysseus’ Irrfahrten dauerten zehn Jahre; die
Erfahrungen von Zuwanderinnen und Zuwanderern sind
ähnlich.
Wer seine Bildungsabschlüsse komplett anerkannt bekommen möchte, hat sich mit einer Unzahl von zuständigen Stellen, Vorschriften, Formularen und föderalen
Eigenheiten auseinanderzusetzen. Dabei gibt es kaum einen Rechtsanspruch auf eine Einstufung. Dieser ist auf
wenige Gruppen wie etwa Spätaussiedler begrenzt. Damit sind ganze Bildungskarrieren entwertet. So haben
wir hier jahrelang viele den Weg vom ausländischen
Akademiker zum inländischen Taxifahrer beschreiten
lassen. Das ist absurd.
Das Potenzial, das wir dabei verschenken, ist groß.
({0})
Wir wissen, dass wir in Zukunft auf qualifizierte Arbeitskräfte auch aus dem Ausland angewiesen sind, in
manchen Berufsfeldern schon heute. Trotzdem erschließen wir die individuellen Fähigkeiten der Zuwanderer
nicht, sondern setzen Zeichen gegen Integration.
Die Bereitschaft, sich in die Gesellschaft zu integrieren, wird auch wesentlich von dem Willen getragen, etwas erreichen zu können, beruflich voranzukommen.
Die Versagung der Anerkennung eines vorhandenen ausländischen Bildungs- oder Berufsabschlusses wird als
Zurückweisung, ja Demütigung empfunden.
Wir haben kein System, Menschen, deren Bildungsleistungen teilweise nicht anerkannt werden, adäquat
aufzufangen. Nur weil ihre herkömmlichen Lern- und
Abschlussstrukturen nicht unseren Standards entsprechen, sind diese Menschen keine Ungelernten.
({1})
Allgemein eine Berufserlaubnis zu erteilen, reicht nicht
aus.
({2})
Wir pflegen in Deutschland ein stark formalisiertes
Bildungssystem mit einem hohen Bildungsstandard, an
dem wir festhalten wollen. Leider werden Anerkennungsverfahren zu stark von formalisierten Kriterien der
Ausbildung und leider zu wenig von inhaltlichen Vergleichen bestimmt. Deshalb müssen wir das zentrale
Kriterium der Gleichwertigkeit der Abschlüsse erweitern, und zwar um das Kriterium der Adäquanz. Können
fehlende Ausbildungsteile durch andere, hier nicht gelehrte Ausbildungsteile ausgeglichen werden? Welche
Vorteile ausländischer Ausbildungen wiegen erkannte
Nachteile der deutschen Ausbildung auf? Dafür brauchen wir aber einen vorurteilsfreien Blick auf unser Bildungssystem, der die eigenen Defizite klar erkennt und
benennt.
({3})
Dies fehlt unserer Bildungsverwaltung.
Ein Beispiel dafür ist der Vorschlag des Bundesbildungsministeriums zur Umsetzung der sogenannten
Lisabonner Anerkennungsrichtlinie für Hochschulabschlüsse. Wer starr an alten Regeln festhält und damit
die Einsicht in die Veränderungsnotwendigkeiten vermissen lässt, ist - vorsichtig gesagt - nicht in der Realität angekommen.
({4})
Mit der Einarbeitung der deutschen Bildungsabschlüsse in den Europäischen Qualifikationsrahmen haben wir die Chance, über die Einstufung von Bildungsleistungen einen Vergleichsmaßstab zu erstellen, der
auch auf Abschlüsse aus Nicht-EU-Staaten ausgedehnt
werden kann. Damit würde eine gleiche inhaltliche Bewertung von Abschlüssen möglich.
Bis zur Erarbeitung der Qualifikationsrahmen können
wir Verbesserungen auf der Verfahrensebene vornehmen. Wir brauchen dringend einheitliche Verfahrensabläufe in den Ländern und vor allem einen zentralen,
fachlich versierten Ansprechpartner für die Zuwanderer.
Wir brauchen einen Informationspool für alle Abschlüsse, wie ihn die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen bisher nur für Hochschulabschlüsse aufbaut. Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf eine
Einstufung der Bildungsabschlüsse aller Migranten, verbunden mit einem Bildungsplan, der den Weg zur gewünschten Qualifikation aufzeigt. Das wäre ein Paradigmenwechsel und endlich ein Signal, dass Zuwanderer
mit ihren Qualifikationen bei uns willkommen sind.
({5})
Wir würden damit tatsächlich einen neuen Weg beschreiten. Wir sollten Mut dazu haben; denn die Zuwanderer, die wir in einem Einwanderungsland integrieren
wollen, brauchen diese klaren Signale. Es ist überfällig.
Das war auch Thema des letzten Nationalen Integrationsgipfels. Dort haben wir gesehen, dass das Thema zwar
verstanden worden ist. Aber die Umsetzung lässt auf
sich warten - zu lange schon. Wir möchten dies ändern.
({6})
Das Wort hat nun Gesine Multhaupt für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Cornelia Schmalz-Jacobsen, die frühere Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, hat einmal gesagt:
Integration ist ein Anspruch und eine Anstrengung,
zu der es keine Alternative gibt ({0})
weder für die aufnehmende Mehrheitsgesellschaft
noch für die zugewanderte Minderheitsgesellschaft.
Dies anzuerkennen, ist für beide Seiten Grundvoraussetzung eines erfolgreichen Integrationsprozesses.
Die Anstrengung, von der sie damals sprach, hat für
uns bis auf den heutigen Tag Gültigkeit. Wir müssen sie
eben auf uns nehmen.
Valentina Mazur beispielsweise kommt aus Usbekistan. Die heute 45-jährige Frau hat Kunstwissenschaft
studiert und in Pädagogik den Doktortitel erworben. Sie
ist also eine hochqualifizierte Frau. Man könnte denken,
alle Möglichkeiten stünden ihr offen. Doch Valentina
Mazur geht putzen. Das in Usbekistan - mit besten Noten übrigens - erworbene Diplom wird bei uns ebenso
wenig anerkannt wie ihr Doktortitel. Deshalb ist sie ungeachtet ihrer Qualifikationen eine ungelernte Arbeitskraft.
({1})
Gut ausgebildete Bautechniker werden zu Anstreichern,
Lehrerinnen arbeiten als Putzfrauen, Mediziner und
Fachärzte arbeiten als Haushaltshilfen oder in anderen
Bereichen des Niedriglohnsektors, obwohl sie mit ihren
Fähigkeiten und Fertigkeiten gut qualifiziert sind.
Alle, die in unserer Gesellschaft Verantwortung tragen, eine Stimme und einen Auftrag haben, sind darum
dringend gefragt, diese Fähigkeiten zu erkennen, anzuerkennen und wertzuschätzen.
({2})
Wir müssen deutlich machen, dass wir darin eine große
Chance sehen. Integration erfordert eben auch eine sachgerechte Anerkennung von guten Qualifikationen der bei
uns in Deutschland lebenden Menschen.
Wir Sozialdemokraten bekräftigen seit langem, dass
eine moderne Migrationspolitik auch das Ziel hat, Zuwanderungsprozesse in unserem eigenen Interesse zu
steuern und zu gestalten. Bei jeder Gelegenheit machen
wir deutlich, dass wir eine koordinierte Zuwanderung,
gerne auch von qualifizierten und hochqualifizierten
Menschen, befürworten. Wir sehen darin eine Verwirklichung von Chancengleichheit, empfinden die Potenziale
und Fähigkeiten der Zuwanderer als eine Bereicherung
für unsere Kultur und unser Arbeitsleben. Die Migranten
können einen Beitrag dazu leisten, dass Wohlstand und
Beschäftigung dauerhaft gesichert werden.
Für uns Sozialdemokraten ist all dies viel wichtiger
als ein Integrationsgipfel, der zwar in aller Munde ist,
aber an den Realitäten nichts verändert. Solange jugendliche Ausländer - wie beispielsweise im Wahlkampf
2008 in Hessen geschehen - pauschal als Kriminelle abgestempelt werden, ist ein Integrationsgipfel nicht mehr
als Schönfärberei und Kosmetik.
({3})
Wenn eine Landesregierung - wie aktuell in meinem
Heimatland Niedersachsen bei den Haushaltsberatungen
geschehen - die Mittel für Integrationsberatung und den
Flüchtlingsrat kürzt oder sogar streicht, setzt sie in der
Flüchtlingspolitik offensichtlich ganz andere Akzente,
als wir sie wünschen. Den Menschen im Land und auch
den Zugewanderten wird sehr schnell der Widerspruch
zwischen der Arbeit einer Integrationsbeauftragten und
den realen Fakten einer Politik deutlich, die beispielsweise hart gegen Flüchtlinge vorgeht. Sie bemerken diesen Widerspruch; davon bin ich zutiefst überzeugt.
Gute Anregungen für eine verantwortliche Politik finden wir - um nur zwei Beispiele zu nennen - in Rheinland-Pfalz, aber auch hier in Berlin: Konkrete Ziele und
Wege werden festgelegt, um die Anerkennung von Leistungen voranzubringen. Durch zusätzliche Finanzmittel
- das möchte ich nicht verschweigen - erhält die Integrationsarbeit vieler Landesregierungen und Kommunen einen hohen Stellenwert.
In den letzten Tagen hat das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung eine aktuelle Studie zur Integration vorgelegt. Die Studie stellt gemischte Integrationserfolge fest.
({4})
Sie macht deutlich - das wurde vorhin schon von meinem Kollegen gesagt -, dass die bei uns lebenden Migranten immer seltener am öffentlichen Leben teilnehmen, häufiger arbeitslos sind und wir das, was sie leisten, viel zu wenig anerkennen. Ein Integrationsgipfel
und immer neue Appelle an den Leistungs- und Lernwillen der betroffenen Menschen reichen hier nicht aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, in
diesem Zusammenhang möchte ich sagen: Wir bedauern, dass wir mit unseren Bemühungen um die doppelte
Staatsbürgerschaft und das kommunale Wahlrecht nicht
weitergekommen sind.
({5})
Rolf Meinhardt, Migrationsforscher an der Universität Oldenburg, hat - auch das wurde schon erwähnt - für
eine Studie bei uns lebende Ausländer nach ihren Abschlüssen in der Heimat befragt. Rund 40 Prozent der im
Ausland erworbenen Universitätsabschlüsse von Migrantinnen und Migranten werden bei uns nicht anerkannt. 20 Prozent der Befragten trauen sich gar nicht
erst, die Anerkennung anzustreben. Dies scheitert offensichtlich daran, dass sie nicht gut genug integriert sind,
um überhaupt die vorhandenen Netzwerke zu nutzen und
eine Anerkennung zu betreiben.
({6})
Die Carl-von-Ossietzky-Universität - das Beispiel ist
schon erwähnt worden - hat konkret auf das Problem reagiert: Vor einigen Jahren wurde mit Mitteln des Europäischen Flüchtlingsrats der Studiengang Interkulturelle
Bildung eingerichtet. Hier können diejenigen Migranten,
die einen Abschluss haben, der bei uns bislang nicht anerkannt wird, unkompliziert einen Bachelor erwerben.
Auf europäischer Ebene - auch davon ist gesprochen
worden - sind wir dabei, für mehr Durchlässigkeit zu
sorgen und mehr Rahmenbedingungen zu schaffen, um
die Vergleichbarkeit von Abschlüssen im europäischen
Rahmen voranzubringen und so die Anerkennung zu erleichtern.
Es gibt also Beispiele - wenn auch nur sehr wenige -,
die deutlich machen, in welche Richtung es gehen muss.
Lange Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, war die
von mir erwähnte Studie der Universität Oldenburg das
einzige Datenmaterial, das bei diesem Thema hilfreich
war. Natürlich brauchen wir - da sind wir uns einig - für
eine auf Kontinuität angelegte Integrationspolitik weitere statistische Informationen und weiteres Datenmaterial. Eine im Auftrag der Bundesregierung durchgeführte
Studie hat festgestellt, dass - obwohl die Wirtschaft
Fachkräfte nachfragt - von den 86 Prozent der für die
Studie befragten Migranten, die bereits mit einem
Abschluss nach Deutschland gekommen sind, nur
16 Prozent einen Arbeitsplatz bekommen haben. Das ist
eine traurige Entwicklung.
Integrationspolitik im Bildungsbereich - da bin ich
sehr nah bei dem, was die Kollegin von der FDP gesagt
hat - ist darum für uns die wichtigste Zukunftsaufgabe.
Allerdings wird unserem Bildungssystem regelmäßig
bescheinigt, dass es zu wenig durchlässig ist, dass es zu
wenig Aufstiegsmöglichkeiten bietet, dass es aussondert
und ausgrenzt. Darum werden wir Sozialdemokraten
nicht nachlassen, auf jeder Ebene für mehr integrierte
Systeme im Bildungsbereich zu sorgen, die Durchlässigkeit garantieren und Menschen, die besondere Unterstützung und Hilfe brauchen, eine Chance bieten.
({7})
Untersuchungen belegen beispielsweise, dass insbesondere qualifizierte Migranten ihre Kinder auf integrierte Gesamtschulen schicken, wo sie einen guten Abschluss bekommen. Die Universitäten, die Studiengänge
für Migranten anbieten - Beispiele sind schon genannt
worden -, geben deutliche Signale: Hier seid ihr willkommen, hier habt ihr ein Angebot, nutzt es!
Integration kann und wird nur gelingen, wenn alle
Akteure im Bildungssystem gemeinsam handeln und erkennen, dass wir ein flächendeckendes Angebot an integrierten Systemen benötigen, mit dem wir die Grundvoraussetzungen für Bildung schaffen. Solange das nicht
gelingt, wird Anerkennung immer nur Gerede bleiben.
Der Nationale Integrationsplan, in dem sich Bund, Länder und Wirtschaft darauf verständigt haben, Anerkennungsverfahren zu verbessern, ist hierfür ein durchaus
gelungenes Beispiel; das will ich nicht unerwähnt lassen.
Aber für uns Sozialdemokraten ist und bleibt das Streiten für integrierte Systeme mit das wichtigste Projekt der
nächsten Jahre.
Die FDP hat in ihrem Antrag einen Informationspool
zur Vergleichbarkeit von internationalen Abschlüssen
gefordert. Mit der Datenbank ANABIN sind wir hier
schon ein Stück vorangekommen. Gemeinsam mit den
Kammern wird - Sie haben es zu Recht erwähnt - an
besseren, durchlässigen Anerkennungsverfahren gearbeitet.
Ich komme zum Schluss. Wir Sozialdemokraten wollen die volle gesellschaftliche Teilhabe aller in unserem
Land lebenden Menschen. Natürlich werden wir mit
Nachdruck daran arbeiten, die bei der Anerkennung von
Leistungen bestehenden Barrieren aus dem Weg zu räumen und hier zu einer dauerhaften Lösung zu kommen.
({8})
Einige Analysen in den heute zur Abstimmung vorliegenden Anträgen sind sicherlich zutreffend und werden
von mir durchaus geteilt. Aber Sie werden Verständnis
dafür haben, dass wir mit Blick auf das, was wir schon
erreicht haben und was wir noch gemeinsam voranbringen müssen, die Anträge heute ablehnen.
Vielen Dank.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich bezweifle, dass diese Bundesregierung und
auch die sozialdemokratische Fraktion wirklich etwas
verändern möchten. Denn das Problem ist seit Längerem
bekannt, ebenso die Analyse; die Studien liegen vor.
Aber die Bundesregierung setzt das, was sie weiß, nicht
um. Sie tut so, als ob sie es nicht wüsste, und verliert
sich in Absichtserklärungen im Nationalen Integrationsplan oder auf irgendwelchen Gipfeln, wo sie von Scheinwerfern angestrahlt wird, und das war es.
Das Problem der Menschen beheben Sie nicht, seit
Jahrzehnten nicht. Sie berauben die Menschen ihrer gesellschaftlichen Teilhabe und der Möglichkeiten, die sie
aufgrund ihrer Erwerbsbiografien und ihrer Qualifikationen haben. Es ist nicht so, dass das Problem nicht erkannt wurde. Es fehlt nur einfach der Wille, dieses Problem zu lösen. Es gibt keinen Integrationswillen seitens
der Bundesregierung. Wir haben in den letzten Tagen
über die Studie des Berliner Instituts mehrfach in den
Medien hören und lesen können.
Am Montag überraschte uns die Integrationsbeauftragte Frau Maria Böhmer - ausnahmsweise ist sie heute
bei dieser Debatte anwesend ({0})
mit ihrer vermeintlichen Entschlossenheit, den Betroffenen der von ihr mitzuverantwortenden Desintegrationspolitik helfen zu wollen. Sie will sich nun dafür einsetzen, dass sich die Situation der halben Million Menschen
in Deutschland, die über einen ausländischen akademischen Abschluss verfügen, der aber nicht anerkannt
wird, ändert. „Dringendsten Handlungsbedarf“ sah sie
auch im Focus vom 20. Oktober 2008. Da kündigte sie
auch an, dass sie den „Anerkennungsdschungel lichten“
wolle.
Wie ich gesagt habe: Das Problem ist bekannt. Die
Versuche, Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden, führen in
Deutschland viele Migrantinnen und Migranten mit im
Ausland erworbenen Abschlüssen oft in Sackgassensituationen. Das hat Frau Kollegin Laurischk hier schon
deutlich gemacht. Bildung allein ist eben nicht der
Schlüssel zur Integration, was die Sozialdemokraten seit
Jahrzehnten immer herunterbeten.
({1})
In der Studie des Berliner Instituts wird das ganz
deutlich gesagt. Darin heißt es:
Bildung bedeutet aber nicht automatisch eine gelungene Integration, denn nach wie vor baut die Gesellschaft Hürden für Migranten auf: Selbstständigen wird die Niederlassung erschwert, Abschlüsse
werden nicht anerkannt …
Wenn man das Problem seit Jahren kennt, dann frage
ich mich, warum man es nicht behebt. Dieses Problem
wurde schon im ersten Memorandum des ersten Ausländerbeauftragten aus dem Jahre 1979 angesprochen.
({2})
Ich sage für meine Fraktion: Es geht nicht, dass man
den Menschen die Möglichkeit nimmt, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Ich sage auch: Frau Böhmer,
Sie haben genug geredet. Es ist Zeit für Taten. Viele Migrantinnen und Migranten in Deutschland haben dank
Ihrer Politik und der Politik der Bundesregierung viele
Jahre verloren.
({3})
Versuchen Sie doch einmal, in der Integrationspolitik
nicht hinter anderen Ländern der Europäischen Union
hinterherzuhinken! Schaffen Sie eine gesetzliche Grundlage wie zum Beispiel in Dänemark! Eine Website, die
nur die Aufgabe hat, das Chaos zu verwalten, brauchen
wir nicht. Sorgen Sie stattdessen dafür, dass ein Konzept
entwickelt wird! Sorgen Sie dafür, dass die Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen bundesweit vereinheitlicht, vereinfacht und beschleunigt
wird! Wir brauchen ein System mit Rechtsansprüchen
zur Feststellung, Einordnung und auch Zertifizierung
von Abschlüssen. Dafür zu sorgen, ist die Aufgabe der
Bundesregierung und nicht die Aufgabe von einzelnen
Personen. Die Bundesregierung muss die Rahmenbedingungen dafür schaffen; sie trägt dafür die Verantwortung
und nicht einzelne Personen.
Wenn Sie wollen, finden Sie auch einen Weg. Deshalb plädiere ich dafür, endlich Taten folgen zu lassen
und nicht immer nur darüber zu sprechen, dass man Integration wolle. Der Wille allein genügt nicht. Die Bundesregierung ist dazu aufgerufen, endlich zu handeln.
({4})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Priska Hinz, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Weinberg, ich weiß nicht, ob ich Sie mit dem,
was ich heute sage, glücklich machen kann. - Sie haben
das Problem erkannt und haben auch gesagt, dass das
Problem erkannt wurde. Aber die Tatsache, dass wir
heute die beiden vorliegenden Anträge beraten, zeigt,
dass das Problem noch nicht gelöst ist. Nach wie vor
sind die Anerkennungsverfahren zu kompliziert, zu
langwierig und unüberschaubar. Das Problem ist, dass
die Akteure wie Hochschulen, IHKen, Bundesagentur
für Arbeit, Bund und Länder nicht miteinander kooperieren und ihre Anstrengungen, zu einem guten Anerkennungsverfahren zu kommen, nicht koordinieren.
Das Problem ist, dass viele Zugewanderte über Jahre
hier leben und gar nicht wissen, an wen sie sich wenden
sollen, weil es keine effiziente Beratungsstruktur gibt.
Auch die BA hat in ihren örtlichen Arbeitsagenturen
keine ausreichend gut ausgebildeten Mitarbeiter, die die
Zugewanderten beraten können. Es gibt noch nicht einmal eine entsprechende EDV, mit der die Kompetenzen
der zugewanderten Menschen, deren Abschlüsse formal
noch nicht anerkannt sind, überhaupt festgehalten werden können.
({0})
Insofern geht ein riesiges Potenzial verloren.
({1})
Wir tun so, als ob wir keinen Fachkräftemangel hätten. Wir tun so, als ob die individuelle Leistung der Zugewanderten nichts wert wäre. Das ist das falsche Signal
für eine Zuwanderungsgesellschaft. Ich glaube, dass
dringend etwas getan werden muss, vor allen Dingen
auch seitens der Bundesregierung.
({2})
Herr Rachel, es gab einen Bildungsgipfel. Was haben
da Bund und Länder gemacht? Sie haben vereinbart, zu
prüfen, ob es Ausweitungsmöglichkeiten für Anerkennungsverfahren gibt. Danke schön! Es ist nun wirklich
der Gipfel, so etwas zu vereinbaren,
({3})
anstatt Butter bei die Fische zu geben und zu sagen, was
tatsächlich geändert werden soll. Im Rahmen des Nationalen Integrationsplanes wurde vereinbart, dass Konzepte und Empfehlungen erarbeitet werden und dann
Modellversuche in die Erprobung gehen. Wir brauchen
aber keine Erprobung von Modellversuchen mehr. Wir
brauchen einen Rechtsanspruch für die Zugewanderten,
dass ihr Anerkennungsverfahren durchgeführt wird,
({4})
damit sie überhaupt eine Chance haben, dass ihre Kompetenzen erhoben und sie dann auch eingegliedert werden.
Wir brauchen modulare Anpassungsqualifizierungen
für diejenigen, die zwar im Ausland einen Abschluss erworben haben, aber vielleicht noch eine Anpassungsqualifizierung brauchen. Es wäre gut, wenn wir das Ausbildungssystem insgesamt modernisieren würden, weil sich
so etwas dann leichter durchführen ließe.
Wir brauchen dringend die Ausgestaltung des DQR,
damit nicht nur die Kompetenzen der Höchstqualifizierten mit akademischer Ausbildung, sondern auch derjeniSevim DaðdelenSevim Dağdelen
Priska Hinz ({5})
gen, die mit anderen Berufsabschlüssen ins Land gekommen sind oder noch kommen, tatsächlich eingestuft
werden können. Auch das macht Anerkennungsverfahren leichter. Zudem brauchen wir eine verbesserte Beratung der Individuen.
Der politische Wille, der hier erklärt wurde, ist wohlfeil. Solange er nicht umgesetzt und durchgesetzt wird,
stehen solche Anträge, wie wir sie heute beraten, zu
Recht auf der Tagesordnung.
({6})
Deswegen werden wir weiter darauf drängen, dass die
Bundesregierung ihre Pflicht erfüllt.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Für eine erleichterte Anerkennung von im
Ausland erworbenen Schul-, Bildungs- und Berufs-
abschlüssen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/11732, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7109
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke mit dem Rest der Stimmen des Hauses ange-
nommen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11418 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({0}), Maria Michalk,
Dr. Hans-Peter Uhl, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord-
neten Rainer Arnold, Klaus Uwe Benneter,
Clemens Bollen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Zehn Jahre anerkannte Regional- und Min-
derheitensprachen in Deutschland Schutz -
Förderung - Perspektiven
- Drucksache 16/11773 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Börnsen, CDU/CSU-Fraktion.
1) Anlage 3
({1})
Liebe Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Es wird sprachlich ein wenig bunter in unserem Parlament. Ich weiß, dass viele das außerordentlich
befürworten und auch respektieren. Wat mutt, dat mutt!
({0})
Teihn Johr is dat all her, dat uns lütte Spraken in
Düütschland „hoffähig“ wurrn sünd: dat Plattdüütsche,
Däänsch, Freesch und de Spraak vun de Sorben und vun
de Sinti und Roma. An’n 1. Januar 1999 weer dat so
wiet: Die Europäische Sprachencharta für Regional- und
Minderheitensprachen erhielt Rechtskraft in Deutschland. Man, dat weer een Festdag för de Lütten. Die
Charta gilt für die traditionell in unserem Land gesprochenen Minderheitensprachen. Gleichwohl hat sie, wie
ich finde, auch eine positive Wirkung für eine praktizierte Sprachentoleranz gegenüber den vielen neuen
Minderheitensprachen in Deutschland, ob Türkisch,
Russisch, Kasachisch oder andere.
Vun 47 Länner in de Europarat hemm nur 23 Ja seggt
to de Charta. De annern hemm seggt, dat weer „zu kompliziert“. Dat heet, 50 Prozent hemm bit jetzt Nee seggt.
Dat finn ik een Truerspeel; dat dörf nich so blieven.
({1})
Der Deutsche Bundestag hat vor zehn Jahren, wie ich
finde, vorbildlich gehandelt. Er hat seinen Sprachminderheiten Anerkennung, Schutz und Förderung zugesagt
und dazu beigetragen, dass diese Sprachencharta den
Stellenwert einer Magna Charta für inoffizielle Sprachen
einnimmt. Magst glöven oder nich, 70 lütte Spraken alleen in Europa sünd in ehrn Bestand bedroht. Op uns
Welt gifft dat bi 7 000 Spraken; vun 4 000, dat heet fast
60 Prozent, seggt man: Wenn wi se nich schützen doon,
dann gahn se doot. Dat, finn ik, weer een groten Verlust
för de Minschheit.
({2})
Auch drei Minderheitensprachen bei uns und die Regionalsprache Niederdeutsch stehen auf der Roten Liste
im Atlas der Weltsprachen. Auch sie sind in ihrem Bestand existenziell gefährdet, wenn, ja, wenn se in de Kinnergoorn, in de Scholen un to Huus in de Familie nich
mehr snackt warrn, wenn se bi de Lehrerutbildung, in’t
Radio, in de Kieckkist un in de Presse nich mehr vörkamen doon.
Bedroht ist auch das Plattdeutsche, eine eigenständige
Sprache, die Kurt Tucholsky geliebt und Klaus Groth
selbstbewusst gemacht hat. In der Hansezeit war sie die
beherrschende Sprache in ganz Nordeuropa. Heute wird
sie noch von 9 Millionen Menschen verstanden und von
knapp 3 Millionen Menschen gesprochen. Allein 170 literarische Neuerscheinungen gibt es jährlich.
Wolfgang Börnsen ({3})
Man, dat Ministerkomitee ut Brüssel, dat de Chartapraxis jede dree Johr kontrolleern deit, seggt: Ok dat
Plattdüütsche is noch lang noch nich hulpen. Dor mutt
mehr doon warrn: in de Bildung, bi de School, bi de Behörden un ok bi de Plegekräfte för de ölleren Lüüd. Moderspraak, dat is Heimat. Moderspraak, dat is een Kulturgoot.
({4})
Sprache ist - das wissen wir - Identität, ist der
Schlüssel zum Weltverstehen. Mehrsprachigkeit ist das
Gebot der Stunde. Das ist europäisch gehandelt. Deshalb
haben Minderheitensprachen Förderung verdient; denn
wer Plattdüütsch oder een annere lütte Spraak snacken
deit, de kann eben mehr as Broot eten.
Der Deutsche Bundestag unterstreicht heute mit dieser Debatte sein Bekenntnis zur Sprachenvielfalt in unserem Land. Er anerkennt damit das Bemühen Tausender von Menschen, von Bürgern, von Gruppen und
Verbänden für den Spracherhalt und erwartet, dass die
Erfordernisse, die wir ihnen heute vorgelegt und präsentiert haben, auch übernommen werden. Dazu gehört
auch die Initiierung eines Sprachenkongresses, um aller
Welt deutlich zu machen, was wir alles tun und was noch
zu tun ist.
Man, dat is kloor, all mööt wi mit anpacken, dat dat
wedder bargop geiht mit de Lütten. Bi mi in SleswigHolsteen süht dat gor nich so ring ut mit dat Plattdüütsch
un de annern Spraken. In meiner Heimatstadt Flensburg
gibt es eine Zeitung, die in Dänisch und Deutsch erscheint, un es gifft Masse Amtsstuven, dor is een, de
snackt Plattdüütsch, de snackt Däänsch, de snackt
Freesch. Dormit warrt de Lüüd ok hulpen, un dat is ok
goot so.
Man, mi maakt doch besorgt, dat hüüt Plattdüütsch
nich mehr in jede Kinnermund is. Aber hoffnungsvoll
stimmt - auch für meine Kollegen und für Sie alle; auch
für die Zuhörer -: Jeder Mann, jede Frau könnte Plattdeutsch lernen und Fan dieser Sprache werden. Einen
hat die plattdeutsche Sprache gefunden, den Sie alle kennen: Asterix. Asterix snackt op platt, Obelix ok,
({5})
un beide fallt de Himmel op Plattdüütsch op de Kopp,
wenn se nich oppassen doon.
Danke schön.
({6})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Hans-Michael
Goldmann, FDP-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Geachte Daamen un Heeren!
Ik bün heel blied, dat wi hier vandaag binanner komen sünt, um teihn Jahr „Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen“ to fiern.
As wi dat letsde Mal daröver heer satten hier in’t
Bundesdag in dat Jahr 2004, wassen wi uns all eenig: Wi
sünd up een goode Padd.
Besünners platt ward in de letsde Tied weer mehr
proot. Lüü prooten platt in Huus, up’t Straat, bi d’Arbeit,
up Böskoop un ok in de Amtsstuuven. Ok bi de Lüü
kannst best toraan komen up Platt, de verstahn Platt un
prooten ok Platt. Mien leeve Lüü, dat is mi neet genog.
Platt mut ok lehrt worden.
({0})
Studeren kann man platt up Hochskool man bloot in
Kiel. Schleswig-Holstein is dar wall een Vörbild.
({1})
Ik dä mi freien, wenn dat annersworens ok so was.
({2})
In acht Bundesländer word d’r Platt proot in Bedrieven un Vereinen. Was een heel Bült beter, wenn Platt
dann ok mehr in’t Radio to hören was. Wi betahlen dar
ok ja all mehr för. Dann können wi ok uns eegen Spraak
verwachten wesen. Is ja heel moij, dat NDR all een paar
Jahr lang so wat hett as Hör mal ’n beten to.
({3})
Mi dünkt, WDR kunn ok een bietje maken.
({4})
- Das ist meine erste Rede in Platt. Ich habe sechs Stunden geübt.
({5})
In’t Fernsehen kenn ik bloot Talk op platt. Heel anners is dat mit Bairisch un so. Dat hören wi alltied in’t
Fernsehen
({6})
un dar gifft’t ok keene Unnerschrift. Mit Platt is dat heel
anners. 1982 gaff dat wall mal een Tatort „Wat Recht is,
mutt Recht bliewen“. Man dar is’t dann ok bi bleven.
Sülst de Lüü van dat Ohnsorg-Theauter ut Hambörg
prooten alltied düts in’t Fernsehen. Dat mutt anners worden.
({7})
Un wo is dat mit dat Friesisch. Dar gifft dat in Schleswig-Holstein een „Gesetz zur Förderung des Friesischen
im öffentlichen Raum“. Man dat hett nich veel hulpen
({8})
- een bietje -; gifft neet mehr Lüü, de friesisch prooten
können. Ik denk mi, wenn uns Kinner nu bold een heel
Dag in’t Skool sitten söllen, dann könen se dar ok wall
een bietje Platt lehren.
Engelsk is seeker van Belang, man uns eegen Spraak
un Kultur düren wi neet heel vergeeten.
({9})
Dar mutten dann de Regeerens van de Bundesländer
un van Berlin uns mit een bietje Geld stönen. Wor is dat
dann mit lüttje Koppels in uns Gesellskup? Dar sünt de
Dänen, de geiht dat noch goot. De hebben Dänemark,
wor de Spraak alltied proot un uprecht hollen word. Un
dann gifft dat ok de Sorben. De hebben all een heel Bült
dörmaakt, de hebben leeden, um dat se Germanen worden sullen in Preußen. Un in’t Darde Riek of in d’ DDR
bünt se ok neet besünners maal west mit de Sorben. Pastoren un Meesters hett man her eenfach weghaalt, un so
wurr dat mit de Spraak gau minner. Nu bünt se darbi, dat
se de Lüü twee Spraaken lehren willen, Sorbisch un
Düts. Dat Witaj-Projekt is darbi een heel Stön, dat weer
mehr Lüü her Moderspraak prooten. Dat kann dann ok
so wat as een Brüch na Oosten wesen.
({10})
Sietdem dat wi de Charta hebben, is all een heel Bült
passeert, dat mutt man seggen. Spraaken, de minn Lüü
prooten, sünt neet unnergahn, se sünd erhollen bleven un
ok de Kultur van disse lüttje Koppels. Dat is besünners
good, um dat lüttje Koppels dat alltied good stur hebben
in disse Welt, is ok good. De kommen neet so faak to
Word, dar gifft dat een Bült Striet un Elend um. Lüttje
Koppels mutten ok to her Recht komen, ok mit her
Spraak un Kultur. Friesen, Sorben, Sinti, Roma un Dänen wull ik neet missen, de bünt heel wat Besünners för
uns Gesellskup.
({11})
Darum mutten wi all mitnanner wat daarfor doon, dat dat
ok in Tokunft so blifft.
({12})
Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin
Karin Evers-Meyer.
({0})
Verehrte Fro Präsidentin! Leve Fruenslüüd! Leve
Mannslüüd! Teihn Johr is de Europäische Charta för Regional- oder Minderheitenspraken nu in Düütschland
Gesetz. Na so’n lange Tiet is dat nödig - un mi dücht,
dat is ok uns Plicht as Düütsche Bundesdag -, dat wi nakieken doot:
({0})
Wat is dor bi ruutsuert? Wat hett sik an de Laag vun de
lüttjen Spraken in us Land ännert? Un: Wat mööt wi in
Gang setten, dat allens dat, wat in düt Regelwark binnen
steiht, ok würklich un wohrhaftig bi de Minschen ankummen deit?
Ik will vör allen vun dat Plattdüütsche snacken, denn
dat is de Spraak un de Kultur, bi de ik mi utkennen do.
({1})
Dat is nu goot een Johr her, dor hett dat Institut för nedderdüütsche Spraak in ganz Norddüütschland en repräsentative Ümfraag maakt. Rutkamen is, dat de Tall vun
de Platt-Snackers in blots een Generatschoon op dat
Halbe trüchgahn is. 23 Johr vörher geev dat noch goot
5 Millionen Platt-Snackers, un nu sünd dat noch
2,6 Millionen. Un wenn sik een de Öllers-Pyramide bekieken deit, denn kann een bang warrn. Dor gifft dat nich
veel glatt to snacken: bi de Lüüd ünner 35 kummt Platt
meist gor nich mehr an.
Man düt is dat anner Gesicht vun de Ümfraag: de
Sympathie-Werte för Platt weern noch nienich so hooch.
Vele Minschen hebbt dat begrepen: dor geiht wat verloren: an Spraak, an Kultur, an Lebensoort. De jungen
Lüüd wunnert sik doröver, dat se sülbst de Spraak nich
mehr köönt, de Oma un Opa noch ganz normaal Dag för
Dag snackt hebbt. Un: De Lüüd möögt Platt, se höört
geern den Klang, se freit sik to Plattdüütsch in’t Theater,
in de Zeitung oder in’t Fernsehn. Dat is al en snaaksche
Laag: all möögt se Platt - man nüms snackt de Spraak.
Mit de Spraken-Charta bekennt Düütschland sik to
siene lütten Spraken. Man dat warrt ok konkret: Bund un
Länner hebbt en Bült Plichten övernahmen. Wat dorbi
babenan steiht, is: Strukturen schaffen un Anreize setten.
Un hier sünd wi in de letzten Johren en ganz Stück wiederkamen: So hett 2006 dat Bundes-Binnenministerium
en Utschuss inricht, de Raat geben schall in all spraakpolitische Fragen, de mit dat Plattdüütsche to doon hebbt.
Dat is dat Gremium, wo de Platt-Snackers mit de Bundesdags-Fraktschonen an een Disch sitt un wo se all dat
vördag bringen köönt, wat för jüm wichtig is. Mi dücht
aber: Düsse Opgaven schullen wi doch noch een beten
wat eersthaftiger bedrieven. Ik meen dormit ok uns Vertreters vun de Fraktschonen, denn vun de sünd dor nie
mehr as een oder twee Lüüd hin gahn. Prioritäten hin
oder her: Gode Sprakenpolitik op internatschonaal Niveau heet ok, dat wi us hier in Berlin darum kümmern
mööt. Un wi köönt ok op düsse Oort de Lüüd wiesen, dat
wi sülbst dat Thema wichtig nehmt.
Ji weet ok, wer keen Geld in de Knipptasch hett, kann
keen Kulturarbeit leisten. Dorüm is dat för mi ok en
Schritt in de richtige Richtung, dat in den Bundes-Huushollt siet 2008 en extra Posten för de Förderung vun de
nedderdüütsche Spraak binnen.
({2})
- Ja, dat köönt wi ruhig anerkennen. - De Beopdragte
för Kultur un Medien hett düsse Opgaav annahmen, un
dor schullen wi em Dank för seggen. Dat Geld is de
Grundlaag för en ganze Reeg vun Projekten, de Anregungen geevt, sik mit Platt to befaten und de Spraak ok
to lehren. En Deel vun dat Geld is dorför, dat sik de
Plattdüütschen överhaupt politisch organiseren köönt.
Düsse Arbeit hett de Bundesraat för Nedderdüütsch in de
Hand nahmen.
De Spraken-Charta verlangt ok, dat de Staat mehr deit
för de Regional- un Minnerheiten-Spraken. Eenmal heet
dat: De Lüüd, de düsse Spraken snackt, de schüllt dor
keen Nadeel vun hebben. Man wo süht dat konkret ut in
us Olenheime un in de Krankenhüüs? Ok dor gifft dat en
Artikel in de Spraken-Charta för, man so richtig kümmert hett sik dor nüms um. Anner Johr hett in Schleswig
de eerste lütte Sozial-Konferenz stattfunnen. Dor weer to
hören vun en Fro, to de seggt de Plegers in dat Heim:
Dat dor is use Chinesin.
({3})
Nüms kann ehr verstahn. Se is in ehr Demenz nämlich
ganz trüchfullen in ehr eerste Spraak - un dat is dat
Plattdüütsche.
({4})
„De Chinesin“ - dat is en Tostand, den wi so nich hinnehmen köönt.
({5})
Babenan aber steiht de Fraag: Wo kriegt wi vör allen
de jungen Minschen dorhin, dat se Platt as Spraak lehrt.
Toeerst is dat natürlich en Opgaav för de Familien. Wenn
de nich mitmaakt, denn bringt dat allens nix. Man wi
weet ok: De Mudder-un-Vadder-Generatschoon is meist
utfullen, un Oma un Opa alleen schafft dat ok nich. Jüst
in de Kinnergoorns is hier in de letzten poor Johr överall
in Norddüütschland en Barg op de Been kamen. Se singt,
se speelt, se snackt Platt. Hier geiht de eenfache Reken
op: Twee is mehr as een. Dat heet: Wenn du twee Spraken kannst, denn is dat för dien Kopp beter, as wenn dat
blots een Sprak is.
({6})
De Europaraat hett vör en poor Johr för dat Sprakenlehren dat Motto utgeven: twee plus een. Also: Lehr dien
Natschonaal-Spraak - dat is ja bi uns Düütsch -, un denn
lehr en anner grote Spraak - also Engelsch oder
Spaansch oder Russisch -, un denn lehr ok en lütte
Spraak, an besten de, de dat bi di to Huus geven deit - un
dat is bi us ja Plattdüütsch. Noch aber fehlt in us Bildungslandschaft en orntlichen Platz för Platt - un ik
meen dormit ok: för dat Lehren vun de Spraak. Hier
bruukt wi endlich Lösungen, de över dat enkelte Bundesland rutgaht. Ik will geern dorto anregen, dat en norddüütsche Kultusministerkonferenz endlich sik mit düsse
Fraag befasst.
({7})
Leve Kolleginnen un Kollegen, ik kaam to‘n Sluss.
Mi dücht, de Kurs stimmt. De Bundesregerung hett al en
ganzen Barg in Gang sett. Man wi sünd jüst eerst loosfohrt. Un wi mööt ok noch mehr Fohrt opnehmen. Dorüm is dat wichtig, dat wi den Andrag vun de Fraktschonen vun de CDU/CSU un de SPD annehmt un dat wi em
ok wieder to Siet staht.
Velen Dank.
({8})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Ilja Seifert, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich mag Folklore, und
ich weiß um den Wert von Sprachen. Wenn hier im Hohen Hause aber jedes Mal vor Bundestagswahlen aus
sehr durchsichtigen Gründen ein paar Sätze auf Platt
und, wie nachher auch noch, auf Sorbisch gesagt werden
können,
({0})
dann ist das angesichts der Minderheitenpolitik Ihrer
Koalition für mich Feigenblattfolklore.
({1})
Noch schlimmer ist allerdings ein zweiminütiger Fototermin, für den Ex-Kanzler Schröder 2005 die Spitze
der Domowina missbrauchte. Mehr Zeit hatte er für sie
nicht. In diesem März soll es ja nun einen Termin von
Minderheitenvertretern mit Frau Merkel geben.
({2})
Vielleicht hat sie etwas mehr Zeit. Ich will das hoffen.
Reden wir einmal darüber, worum es eigentlich geht.
Der vom Europarat eingesetzte Sachverständigenausschuss für die Sprachencharta fällte am 3. April vergangenen Jahres ein unmissverständliches Urteil:
Trotz einiger positiver Entwicklungen hat sich die
Lage im Hinblick auf die Regional- und Minderheitensprachen seit der Unterzeichnung des Abkommens durch die Bundesrepublik nicht wesentlich
verändert … Der Sachverständigenausschuss stellt
mit Bedauern fest, dass die Lage einiger besonders
gefährdeter Sprachen sich offensichtlich sogar verschlechtert hat, insbesondere die Lage des Niedersorbischen. Die Lage des Saterfriesischen bleibt
sehr prekär.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Sie
gehen in Ihrem Antrag, der heute Gegenstand der Debatte ist, mit keinem Wort auf diese Kritik ein. Ihre sogenannten Forderungen sind in ihrer Allgemeinheit kaum
zu toppen. So soll die Bundesregierung dafür Sorge tragen, „dass mehr als bisher im Bereich von Bildungseinrichtungen, Schule, Hochschule, Verwaltung und Medien die Regional- und Minderheitensprachen zur
Geltung kommen“.
({4})
Was soll denn das heißen? Oder: Die Regierung soll „ihren Beitrag zur Aufarbeitung und Behebung von Defiziten“ leisten. Ja welchen, bitte?
Diese Forderungen schrieben Sie aus einem Antrag
von SPD und Grünen von Juni 2004 übrigens wortgleich
ab.
({5})
Mit der Übernahme belegen Sie selbst, dass sich seit der
damaligen Debatte nichts geändert hat. Das ist ebenfalls
eine Feigenblattdebatte.
({6})
Die notwendigen strukturellen Veränderungen, die
der Europarat fordert, sind Ihnen keine Erwähnung wert.
Wie auch? Die Bundesrepublik hat ja, wie Sie betonen,
„eine erfolgreiche Minderheitenpolitik geleistet.“ Das ist
ein sehr traurig stimmendes Selbstlob.
Was wir wirklich brauchen, ist ein eindeutiges Bekenntnis des Bundesstaates zu seinen autochthonen Minderheiten und deren umfassender Förderung. Das, meine
lieben Kolleginnen und Kollegen, gehört ins Grundgesetz! Das ist unser Job hier!
({7})
Damit bin ich beim nächsten Punkt. Sie behaupten allen Ernstes, „Minderheitenpolitik mit den alteingesessenen Volksgruppen“ würde auf Augenhöhe stattfinden.
Die Minderheiten seien „in der Gesellschaft anerkannt,
geachtet und verankert“.
({8})
Unglaublich!
Die Linke steht für den Schutz und die Förderung der
anerkannten Minderheiten: der Dänen, der Friesen, der
Sinti und Roma und natürlich auch der Sorben und ihrer
Sprachen.
({9})
Minderheitenpolitik braucht konkrete politische Maßnahmen. Wir reden hier nämlich nicht über Folklore. Dafür demonstrierten unter anderem die Sorben 2008 in
Berlin.
({10})
Bezogen auf die Oberlausitz will ich feststellen:
Wenn wirklich eine offizielle Minderheitenpolitik auf
Augenhöhe stattfände, dann würde man keine Schulen
schließen, in denen Sorbisch Unterrichtssprache ist,
({11})
dann würde der Bundesrechnungshof nicht auf die Idee
kommen, den Einigungsvertrag in Bezug auf die Förderung der Sorben als „verbraucht“ zu bezeichnen,
({12})
und dann würde keine Bundes- oder Landesvertretung in
der Stiftung für das sorbische Volk mal eben über den
Tisch hinweg die Schließung des Sorbischen NationalEnsembles vorschlagen, das im Übrigen das Einzige seiner Art ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Sie
wollen Ihren Antrag ja nicht einmal zur Beratung in die
Ausschüsse überweisen. Damit gehen Sie doch einfach
nur einer Anhörung von Sachverständigen und Betroffenen aus dem Wege. Das ist sehr durchsichtig.
Bei der von Ihnen heute geforderten Sofortabstimmung über Ihren Folkloreantrag wird sich die Linke der
Stimme enthalten.
({13})
Der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die
Grünen, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1)
Deshalb gebe ich jetzt der Kollegin Maria Michalk,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Seifert, bevor ich meine eigentliche Rede
beginne, will ich ein Wort zu Ihrem Beitrag sagen. Ich
finde, es handelt sich, wenn sich alle Fraktionen an der
öffentlichen Darstellung der Sprachenvielfalt beteiligen
können, nicht um Wahlkampf. Ich jedenfalls bin dankbar, dass wir diese Debatte heute führen dürfen.
({0})
3. rozprawa zwjazkoweje republiki k stawje přesad-
źenja europskeje charty za regionalne a mjeńšinowe rěče
je dobry instrument, so na zwjazkowej runinje ze situa-
ciju rěčneho stawa, wosebje tež serbskeje rěče, zaběrać.
Přepytowanje Europskeje rady je wujewiło, zo su sew-
1) Anlage 4
jerna a saterska frizišćina kaž tež delnjoserbšćina najbóle
wohrožene rěče němskeje.
Serbšćina změje jenož přichod, hdyž změjemy šule,
hdźež so maćeršćina našim dźěćom a młodostnym we
přeco lěpšej kwaliće a konsekwentnje posrědkuje a hdyž
wostanu šule tam, hdźež serbske swójby a ći, kotřiž
chcedźa našu rěč nawuknyć, bydla. Tu smy we zańdźenych lětach dobre ale tež Bohužel serbsku rěč wohrožace
rozsudy dožiwili. Naspomnju šulsku syć a naše wojowanje wo financne dorozumjenje za załožbu za serbski
lud.
({1})
Das sorbische Volk ist nur in Deutschland anzutreffen. Seit Jahrhunderten leben Deutsche und Sorben in
der Lausitz miteinander und befruchten sich sprachlich
und kulturell. Das macht die Besonderheit der Lausitz
aus. Das zieht viele an, vor allem Touristen, aber auch
Historiker und Wissenschaftler. Manche bleiben für immer hier und lernen die sorbische Sprache. Wenn sie den
Geist der sorbischen Sprache für sich entdeckt haben
und feststellen: Sorbisch ist zwar eine schwere, aber außerordentlich reiche und schöne Sprache; es ist auch eine
lebendige Sprache, die ständig weiterentwickelt wird,
deshalb also auch eine moderne Sprache, dann kennen
sie die Seele der Sorben. Nur über die Sprache kommt
man zur Seele eines Volkes.
({2})
Das hat eine politische, eine wirtschaftliche und eine
kulturelle Dimension.
Deshalb fühlen wir uns auch als Brücke zu unseren
slawischen Nachbarn, deren Sprache wir sehr gut verstehen. Ich wünsche mir, dass das politisch noch stärker genutzt wird.
({3})
Die europäische Sachverständigenkommission spricht
aber deutlich aus, was wir vor Ort überall sehen, nämlich
dass unser kleines sorbisches Volk kleiner wird, und
zwar aus demografischen Gründen und deswegen, weil
junge Leute der Arbeit und der beruflichen Herausforderung nachziehen. Wir sind zweisprachig und integriert,
aber der wachsenden Assimilation müssen wir uns entgegenstemmen.
Sprachlich machen wir das seit zehn Jahren mit dem
Projekt Witaj, das ich allen ans Herz lege. Immer mehr
Kinder lernen im frühkindlichen Alter beide Sprachen
gleichzeitig, Deutsch und Sorbisch. Diese Witaj-Kinder
haben in der Schule nachweislich in allen Fächern überdurchschnittliche Ergebnisse.
Wědomosć wupokazuje: za ludnosć wjetšiny je zhromadne žiwjenje z mjeńšinami jasnje konstatujomna nadhódnota. Wo tym měło so jenož časćišo rěčeć.
Der sorbische Schriftsteller Jurij Brězan, der sich sein
Leben lang mit der sorbischen Sage des Krabat - unserem Faust - beschäftigt hat, schreibt in seinem Werk
Krabat oder die Verwandlung der Welt im Prolog - ich
zitiere -:
Wie die Atlanten, so kennt auch das Meer den Bach
nicht, aber es wäre ein anderes Meer, nähme es
nicht auch das Wasser der Satkula auf.
Satkula ist ein kleiner Bach in der Lausitz.
Ich finde, besser kann man die gemeinsame Verantwortung nicht umschreiben.
Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Clemens Bollen, SPD-Fraktion.
({0})
Hooggeachte Mienfroo Präsidentin, hooggeachte Damen, mien Heren, as oostfreeske Abgeordnete is dat för
mit natürlich wat Besünners, hier in’n Bundesdag in
Plattdütsk över Regionaal- un Minderheitenspraak to
proten. Ik bün plattdüts upwussen un ik proot geern
Platt.
({0})
Bi uns in Ostfreesland un Eemsland is de plattdütske
Spraak, de de meesten proten - of to Huus oder bi d’ Arbeid, Un för heel völ Minschen is dat de Olldagsspraak,
de normaal Spraak. Un faken is dat natürlich so, dat de
Ollerden beter Platt proten as Hoogdütsk.
Problem is bi de plattdütske Spraak, dat besünners de
junge Lü immer weniger Platt proten. Wi hebben dor en
Unnersökung van de Oostfreeske Landskupp in Auerk,
woor Helmut Collmann Präsident is, de hett faststellt,
dat 1997 noch immerhin 10 Prozent van de oostfreesk
Schölerinnen un Schölers van de eerste Klass Plattdütsk
proten. Teihn Jahr later, 2007, was dat blot noch en bietje
mehr as 5 Prozent. Dit maakt dütlich, dat wi dat Erhollen
un Unnerstützen van Regionaal- un Minderheitenspraken mehr maken möten, dat wi dat stärker unnerstütten
möten as bisher.
({1})
Daarum is ok de Andrag, de hier vandaag to Afstimmung steiht, un disse Diskussion vandaag so wichtig! In
de Andrag Punkt 6 is en besannern Punkt, woor dat Konzept fordert warrt to de Sekerung van de Regionaalspraken. Un dat dat ok maakt worden sall, gerade de teihn
Punkte, de wi in de Hand hatt hebben, is ganz konkret en
wieten Schritt. Un daarum verstah ik ok de Kritik eben
gor nich so richtig.
({2})
Insofern begrüße ich gerade diesen Antrag as wieden un
wichtigen Schritt, weil ok de Bund in Verantwortung is,
un völ weet nu gaar nich, dat dat Bundesgesetz is.
({3})
Natürlich sünd besünners ok de Landesregierungen in
de Plicht, all Punkten van de Sprakencharta natokomen.
Un besunners mööt wi ok kieken, of dat ok maakt word.
Un deshalb bruuken wi ok den Bundesraad bi de Diskussion, wat de Spraken dor anbelangt. Blot so könt wi
Plattdütsk as en egen un lebennigen Spraak erhollen.
Vör allen mööt wi ok daarför sörgen, dat bi Ämter un
Behörden Plattdüütsch proot word, un vör allen Dingen
ok, dat’t vundaag un ok in twintig Jahr noch Mitarbeiders gifft, de ok en Woord up Platt verstahn könen un en
Woor up Platt maken könen, sowiet möglk.
({4})
Dejenigen, de menen dat Kinner, de mit plattdütske
Spraak upwassen sünd, naher dat later stuurder hebben
to lehren, de liggen verkehrt. Ganz in’n Gegenteil. De
goot Plattdütsk proten hebbt ok mehr Fähigkeiten, anner
Spraken to lehren. Besunners is dat Plattdütske ok eng
verwandt mit dat Engelske un dat Nederlandske. Un vör
allen Dingen, de Unnersöken seggt, well vun froh mit
Plattdütsk upwasst, kann um so eenfacher ok annere
Spraken lehren.
({5})
Deshalb geiht dat hier um de Identität, aber sehr wohl
ok um de Fähigkeiten, ok dor in de Region sünd. Un deshalb kann - dat keem hier ja al to’n Utdruck - nich vorrangig bloß an Schölen, Hochschölen un Bildungseinrichtungen rekent worrt, sondern Spraak lehrt man
besonners dordör, dat man dat proot. Un dor mööt wi natürlich ok för sörgen, so wie hier, un deshalb glööv ik, is
dat ok en wichtigen Anlass, för uns gemeinsam as Botschafter för de Spraak to fungieren.
({6})
Un vör allen Dingen, dat de plattdütske Spraak ok mehr
in de Verwaltung un de Medien to Spraak kummt.
({7})
En lüttj Bispill: bi mi ut de Gemeente Oostrhauderfehn, woor ik herkaam, dor gifft dat - un in völ anner
Gemeenden ok bi uns - Beauftragte för Plattdütsk. Ik
glööv, dat is en good Beispiel to överdragen, ok besunners in anner Bereiche - bi mi un bi Gabriele Groneberg,
is eine saterfriesische Sprachinsel. Saterfriesisch ist eine
besondere Sprache, bei der Unterstützung notwendig ist.
({8})
Disse Beupdragten för Plattdüütsk, as Netzwerk ok to
verbreiten in de Kommunen, arbeiten na dat Motto:
„Vörsörgen - Stön geven - un umsetten!“ De kümmern
sük um de Pleeg un de Stön van de plattdütsche Spraak
un ok sükse Projekte wie Plattdütsch bi’d Arbeid. Völ
lehren besunners doch bi de Arbeit vun de, de dat oftmal
in jungen Jahren nich lehrt hebbt. Dat de Quote, de wi so
sehn, doch wedder en beten hochhoben ward. Dorum: Je
ehrder Plattdüsch in de Olldag inbrocht word, um so
sekerder is dat Overleven van disse Regionaal- un Minderheitenspraak.
Mienfroo Präsidentin, hooggeachte Damen, mien Heren, Plattdütsch is en egen Spraak un is Kulturgood. Ok
wi van’n Bundesdag könen mit daarför sörgen, dat dit
Kulturgood nich unnergeiht. Nich blot proten - Doon, is
ok wichtig!
({9})
Helpt mit, dat mehr geböhrt un de Minderheitenspraaken
ok erholden blieben. Spraak is Heimat!
Besten Dank för Jo Tohören.
({10})
Das Wort zu einer persönlichen Erklärung zur Abstimmung gebe ich dem Kollegen Uwe Barth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Debatte liefert einen eindrucksvollen Beweis dafür, wie groß die kulturelle Vielfalt und die Sprachenvielfalt in unserem Land ist. Ich will zugestehen, dass
ich im Moment offenbar einer Minderheit angehöre,
nämlich denjenigen, die kein Plattdeutsch verstehen. Ich
stimme dem vorliegenden Antrag zu, möchte aber hinzufügen, dass ich das ausdrücklich nur aufgrund der Lektüre des Antrages und in großem Vertrauen in die Kolleginnen und Kollegen, die hier gesprochen haben, tue, da
sie bei diesem gemeinsamen Anliegen in den unterschiedlichen Sprachen sicherlich das Richtige gesagt haben.
Vielen Dank.
({0})
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
16/11773 mit dem Titel „Zehn Jahre anerkannte Regional- und Minderheitensprachen in Deutschland - Schutz Förderung - Perspektiven“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.
({0})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Alexander Bonde, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bankenrettung neu ausrichten
- Drucksache 16/11756 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe das Wort dem
Kollegen Dr. Gerhard Schick, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben zurzeit eine intensive Diskussion über die
Fragen, ob eine Bad Bank errichtet werden soll oder
nicht, ob eine große Bad Bank oder viele kleine Bad
Banks errichtet werden sollen, ob Ausgleichsforderungen erhoben werden sollen, ob eine Versicherungslösung
wie in Großbritannien sinnvoll ist oder ob sogar eine Änderung des Entschädigungsgesetzes notwendig ist. Es ist
richtig, dass wir in dieser schwierigen Situation nicht nur
in der Öffentlichkeit, sondern auch hier über den richtigen Weg diskutieren. Nach dem Ende des vierten Quartals 2008 hat sich wieder eine Verschärfung ergeben. Wir
müssen daher feststellen, dass die Ziele mit dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz, dessen Entwurf Anfang Oktober letzten Jahres verabschiedet wurde, nicht erreicht
wurden.
({0})
Es kann nicht so weitergehen wie bisher. Wir wollen
mit unserem Antrag erreichen - ich glaube, das ist die
Aufgabe dieses Hauses -, dass man in zwei Richtungen
nicht zu kurz springt. Eine Lex Hypo Real Estate wird
nicht ausreichen, genauso wenig wie der Versuch, mit
Blick auf einen Einzelfall kurzfristig nachzusteuern.
Vielmehr ist es notwendig, an verschiedenen Stellen die
Fehler des geltenden Finanzmarktstabilisierungsgesetzes
zu korrigieren.
({1})
Der eine Fehler hat sich bei der chaotischen Situation
der SoFFin gezeigt. Zwei von drei Mitgliedern des Leitungsausschusses sind in kurzer Zeit zurückgetreten, ein
drittes Mitglied dieses Leitungsausschusses hat offensichtlich - das haben wir gestern in der Befragung der
Bundesregierung gehört - öffentlich für eine Veränderung des Gesetzes plädiert, während die Verhandlungen
zwischen der Europäischen Kommission und der Bundesregierung zu dem entsprechenden Punkt schon stattgefunden hatten. So äußerte sich zumindest der Finanzminister gestern in der Befragung der Bundesregierung.
Das zeigt doch: Es ist nicht geklärt, wie die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Leitungsausschuss stattfinden soll. Deswegen wird es, wie es bisher geschehen
ist, nicht ausreichen, die personelle Lücke zu schließen,
sondern es ist notwendig, organisatorisch wirklich etwas
zu verändern.
({2})
Sie haben, ohne das wirklich zu kommunizieren, einen Strategiewechsel vorgenommen, der auch im Parlament nicht diskutiert worden ist. Sie haben am Anfang
gesagt, Sie wollten sich nur mit stillen Einlagen beteiligen, möglichst keine Aktien erwerben und möglichst
keine Eigentümerrolle einnehmen. Bei der zweiten Rettungsaktion für die Commerzbank hat ein Strategiewechsel stattgefunden, der jetzt offensichtlich bei der
Hypo Real Estate fortgeführt wird. Ich meine, es ist notwendig, daraus die Konsequenzen zu ziehen. Wir haben
von Anfang an für eine konsequente Teilverstaatlichung
plädiert, für Gegenwerte, wenn der Staat den Banken
Kapital zur Verfügung stellt. Es ist deswegen richtig,
dass Sie diese Richtung einschlagen, aber dafür muss
jetzt die gesetzliche Grundlage angepasst werden. Die
Details dazu liegen in unserem Antrag vor.
({3})
Ich will noch einen zweiten Punkt ansprechen. Schon
in der Debatte im Oktober hat der Kollege Runde, der
gerade sehr aufmerksam zuhört, wie ich merke, festgestellt, dass wir eigentlich einen europäischen Ansatz
brauchen. Diese Ansicht haben wir ausdrücklich immer
geteilt. Aber die Bundesregierung hat sich den europäischen Ansätzen, die bisher diskutiert worden sind, immer verweigert.
({4})
Ich glaube, es wird, wenn man sich die Situation in der
Europäischen Union anschaut, notwendig sein, stärker
europäisch koordiniert vorzugehen. Die Europäische
Kommission hat bereits vor den Auswirkungen auf den
Finanzplatz gewarnt. Ich glaube, es ist notwendig, dass
Sie hier eine Korrektur vornehmen. Dazu fordern wir Sie
mit dem vorliegenden Antrag auf, und wir bitten Sie um
Ihre Zustimmung.
Eines ist in dieser heiklen Situation, in der sich die Finanzmärkte befinden, ganz wichtig: Wenn Sie auf den
Finanzmärkten Vertrauen schaffen wollen, dann muss
Politik vertrauenschaffend agieren. Das bedeutet: stabile
Grundlagen bei dem Fonds, stabile Grundlagen im Gesetz, das nicht nur für eine Einzelaktion gilt, sondern
über den Tag hinaus auch künftigen Rettungsaktionen
dient, und ein stabiler Ansatz für die Rettung des Finanzmarkts Europa. Das ist genau das, was wir Ihnen hier
vorlegen.
Danke schön.
({5})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Leo Dautzenberg,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bereits vor einer Woche haben wir ausführlich in einer Aktuellen Stunde über die
Funktionsfähigkeit des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes und möglichen Änderungsbedarf diskutiert. Herr
Kollege Schick, es ist legitim, dass Sie einen Antrag auf
die Tagesordnung setzen, aber wir sollten uns davor hüten, jetzt in jeder Sitzungswoche aktuell über diese
Punkte zu beraten; denn wir können im Grunde die notwendigen Analysen noch nicht vornehmen und die
Schlüsse, die Sie in Ihrem Antrag schon ziehen, noch
nicht ziehen. Daher geht Ihre Kritik fehl, dass das Gesetz
die bisherigen Zielsetzungen nicht erreicht hat.
Gehen wir doch einmal die einzelnen Punkte durch.
Sie sagen, es hätte besser funktioniert, wenn es auf europäischer Ebene eine Abstimmung gegeben hätte.
Schauen Sie sich doch einmal einige europäische Länder
an, angefangen mit England. Wie oft schon haben sie
von Oktober bis heute ihren Grundansatz geändert? Das
brauchten wir noch nicht, weil der Dreiklang von Garantien, Rekapitalisierung und Übernahme von Risikopapieren von der Gewichtung und von der Ausrichtung her
nach wie vor richtig ist.
Es ist auch unfair. Sie sollten vielleicht ihr Mitglied
im sogenannten Geheimausschuss fragen, ob das Leitungsgremium chaotisch gearbeitet hat und ob dort eine
chaotische Situation herrschte. Viele haben erklärt, dass
ihnen die damit verbundene Arbeitsbelastung zu hoch
war, was vorher nicht zu erkennen war. Was mit Herrn
Merl als Vorsitzendem bisher abgewickelt und auf den
Weg gebracht worden ist, ist etwas mit einer hohen Expertise. Es ist Herrn Merl zu danken, weil er es auf den
Weg gebracht hat. Das Leitungsgremium ist neu besetzt,
und zwar wiederum mit Personen mit hoher Expertise,
sodass diese Kritik fehlgeht.
({0})
Es ist auch nicht richtig, zu sagen: Die Rekapitalisierung als ein Teil der drei Maßnahmen ist als stille Einlage angelegt. Im Rahmen der Gesetzesbegründung haben wir überwiegend darüber diskutiert, dass es
Vorzugsaktien sein sollten; das war der erste Weg. Wenn
man jetzt bei einer Maßnahme den Weg der stillen Einlage wählt, dann hat das seinen Grund. Das ist auf der
richtigen Grundlage entschieden worden.
Der erste Punkt, Garantiegewährung, ist vor Verabschiedung des Gesetzes Mitte Oktober beschlossen worden, also ehe alles dafür Erforderliche vorlag. Sie müssen neben dem Interesse für den Schirm und neben der
Antragstellung in diesem Zusammenhang berücksichtigen, dass die erforderlichen Unterlagen vorliegen müssen, ehe eine Entscheidung fallen kann. Das war bei
manchen Entscheidungen nicht der Fall. Das kann man
nicht dem Gesetz zur Last legen, sondern der Handlungsweise verschiedener Institute, die ihrer Aufgabe
nicht nachgekommen sind, nach dem Motto: Der Bund
ist jetzt zuständig; da gibt es irgendwo Geld; alles vorzulegen, was wir für die Beantragung brauchen, das machen wir nicht. - So geht es nicht. Wir Parlamentarier
müssen mit diesen Entscheidungen sehr sorgfältig umgehen.
Sie sprechen von „intelligenten Verstaatlichungen“.
Was ist das? Begründen Sie einmal, was Sie darunter
verstehen. Ich bin nicht für intelligente Verstaatlichung.
Nur wenn es, ordnungspolitisch gesehen, der letzte Ausweg ist, sollte man sich dem nicht verschließen. Aber die
Verstaatlichung als Konzeption darzustellen - dies sieht
unser Gesetzentwurf nicht vor -, verstehe ich nicht.
Es besteht großer Aufklärungsbedarf. Gott sei Dank
kristallisiert sich in den letzten Tagen heraus, was mit
dem Begriff „Bad Bank“ gemeint ist und was es nur bedeuten kann. Der Finanzminister hat heute einen Vorschlag gemacht, der unseres Erachtens in die richtige
Richtung geht: Mit uns gibt es keine Sozialisierung der
toxischen Papiere,
({1})
sondern es muss individuelle Lösungen geben, die nach
wie vor nah an der Verantwortlichkeit liegen. Es darf
nicht alles nur zulasten des Steuerzahlers gehen.
Herr Kollege Schick, man kann über einzelne Punkte
des Antrags diskutieren. Manche Wertungen gehen aber
fehl, weil Sie ein Ergebnis nennen, obwohl es noch keines gibt. Von daher ist es angebracht, diesen Antrag an
die Ausschüsse überweisen, um danach vernünftig zu
beraten.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Florian Toncar, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Aus Sicht der FDP ist die Sozialisierung von
Spekulationsverlusten zu vermeiden; denn sie zwingt zur
Verschwendung von Steuermitteln oder von staatlichem
Vermögen; sie verhindert die Rückführung der Steuerund Abgabenlast, gefährdet die Haushaltskonsolidierung, engt den Spielraum für Zukunftsinvestitionen ein
und untergräbt letztendlich auch das Vertrauen der Bürger in unsere Wirtschaftsordnung.
({0})
Wir wollen Verluste nicht sozialisieren.
Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz ist kein Persilschein für eine unbegrenzte Ausweitung der Staatstätigkeit im Finanzsektor. Im Fokus stehen deswegen nicht
nur die Wirkung der Medizin, sondern auch die Notwendigkeit und die Verhältnismäßigkeit ihrer Verabreichung.
Die Grünen wollen den Steuerzahler offensichtlich
mehr als notwendig an der Sanierung des Finanzsektors
beteiligen; denn anders ist die Forderung nach einer generellen und stärkeren Kapitalbeteiligung des Staates
nicht zu verstehen. Was Sie „intelligente Teilverstaatlichung“ nennen - Sie führen das übrigens wenig präzise
aus -, ist in Wahrheit eine Fehlkalkulation; denn im
Falle einer stillen Einlage, im Falle einer stillen Beteiligung erhalten wir mit Vorzugsrechten eine 9-prozentige
Rendite auf die Einlage.
({1})
Das geht dem vor, was die Aktionäre bekommen. Wenn
Sie generell lieber eine Beteiligung am Aktienkapital
wollen, dann bedenken Sie: Die Steuerzahler tragen
nicht nur das Verlustrisiko im operativen Geschäft, sondern auch das Risiko von Wertverlusten. Das ist den
Steuerzahlern in der jetzigen Situation nicht zuzumuten.
({2})
Sie wollen einerseits eine stärkere Inanspruchnahme
des Rettungsschirms - das schreiben Sie in Ihrem Antrag -, planen aber andererseits die Schaffung zusätzlicher psychologischer Hürden bei freiwilliger Inanspruchnahme durch Finanzdienstleister. Die Ausweitung
der aktiven politischen Einflussnahme auf Geschäftspolitik und Kreditvergabe, die Sie ausdrücklich befürworten, sowie die zahlreichen geforderten Dokumentations- und Nachweispflichten sind abschreckend. Wenn
die Banken aber alles tun, um die Inanspruchnahme von
Hilfen durch den SoFFin zu vermeiden, gefährdet das
die Kreditvergabe eher, als dass es sie erleichtert.
({3})
Auch deswegen sollte man sehr vorsichtig damit sein,
solche Hürden aufzubauen.
Eines ist mir bei Ihrem Antrag noch aufgefallen - das
fand ich sehr bemerkenswert -: Sie haben auf der zweiten Seite in zwei dürren Zeilen ganz nebenbei eine neue
Aufgabe für die Europäische Zentralbank erfunden. Die
Europäische Zentralbank soll zum Wertpapierhändler
werden. Sie soll den Banken Wertpapiere abkaufen. Damit machen Sie die Europäische Zentralbank faktisch zu
der Bad Bank, die Sie eine Seite weiter vehement und zu
Recht ablehnen.
({4})
Wenn die Europäische Zentralbank Wertpapiere aufkauft, dann werden Risiken und Verluste möglicherweise sozialisiert. Bei den Wertpapieren, über die wir
dort reden, ist das durchaus zu erwarten.
({5})
- Herr Schick, dann müssen Sie hineinschreiben, was
Sie meinen. Wenn in dem Antrag steht, die EZB solle
Wertpapiere aufkaufen,
({6})
dann kann man das nur so verstehen, dass sie die Wertpapiere aufkaufen soll, für die es derzeit keinen Markt
gibt; denn für marktgängige Wertpapiere gilt: Es besteht
überhaupt kein Bedarf dafür, dass die Zentralbank sie
aufkauft.
({7})
Ein Blick in den EG-Vertrag zeigt, dass das auch nicht
Aufgabe der EZB ist. Deren Aufgaben sind darin abschließend aufgeführt. Der Aufkauf von Wertpapieren ist
nach geltendem Europarecht nicht möglich. Im Übrigen:
Wenn wir hier beschließen, wie Sie formulieren, nämlich: „Der Deutsche Bundestag … fordert die Europäische Zentralbank auf“, dann ist das eine politische Einflussnahme auf die Europäische Zentralbank, die nach
Art. 108 EG-Vertrag ausgeschlossen sein sollte und auf
die sich die EZB auch überhaupt nicht einlassen darf.
Schon deshalb kann man diesem Antrag in der Form
nicht zustimmen.
({8})
Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz ist als ein Gesetz für Notfälle konzipiert. Es ist ein Gesetz, das befristet gilt, das nach seinem Regelungsgehalt und wegen der
scharfen Eingriffe, die es möglich macht, auch nur befristet gelten kann. Es muss flexibel gehandhabt werden.
Es gibt viele Fälle, in denen ein Geschäftsmodell vorliegt, bei dem eine stille Einlage im Interesse des Steuerzahlers und auch sonst geradezu geboten ist, sodass man
nicht pauschal sagen kann, dies sei ein falsches Instrument.
Bessere Kreditvergabe ist ein wichtiges Ziel in der
jetzigen Situation. Aber das, was wir über das Finanzmarktstabilisierungsgesetz dazu beitragen können, ist
begrenzt. Wir brauchen stattdessen eine kluge Geldpolitik, die bei der Europäischen Zentralbank und bei den
Notenbanken vernünftig aufgehoben ist. Wir brauchen
auch eine kluge Wirtschaftspolitik, die die Kreditvergabe begünstigt, die die Liquidität in den Unternehmen
sichert, beispielsweise dadurch, dass man bei der Mehrwertsteuer endlich von der Soll- auf die Istbesteuerung
umstellt. Das würde schlagartig Liquidität bringen und
vielen Unternehmen einiges leichter machen.
({9})
Wir brauchen nicht zuletzt verlässliche Rahmenbedingungen beim Finanzmarktstabilisierungsgesetz. Niemand hat etwas dagegen, dass wir dazulernen und Konsequenzen aus den Entwicklungen ziehen; aber wenn
man das immer stärker zerredet und so prinzipiell kritisiert, wie das zum Teil geschieht, dann trägt man nicht
unbedingt dazu bei, dass die Möglichkeiten in Anspruch
genommen werden und das Gesetz wirken kann. Insofern sollten wir etwas vernünftiger diskutieren.
Der Antrag ist an vielen Stellen
({10})
unscharf, und im Übrigen geht er, gerade was die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Bankenrettung betrifft, in
die falsche Richtung, sodass wir - vermutlich auch nach
den Ausschussberatungen - wenig Neigung haben werden, dem Antrag zuzustimmen.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Ulrich
Krüger, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Um das gleich voranzustellen: Unsere bisherige Strategie, mit dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz
die angeschlagenen Finanzmärkte zu stützen, hat nach
wie vor uneingeschränkt Bestand und wird auch zukünftig das letztendlich richtige Mittel sein, die Krise zu bewältigen. Der Mix aus Garantien, Risikoübernahmen
und Rekapitalisierungen im Umfang von insgesamt
480 Milliarden Euro - Kollege Dautzenberg sprach ihn
an: Garantien in Höhe von 400 Milliarden Euro, Rekapitalisierungen und Risikoübernahmen im Umfang von
80 Milliarden Euro - ist sehr vernünftig. Wir alle in diesem Hause dürfen stolz darauf sein: Wir haben schnell
und effizient reagiert, um das Vertrauen in die Finanzmärkte wiederherzustellen.
({0})
Aktuell höre ich immer wieder, dass diese Hilfsmaßnahmen - das ist Gegenstand unserer heutigen Debatte
und der Debatte der letzten Woche - angeblich nicht ausreichen, um die heimische Finanzwirtschaft effektiv und
nachhaltig zu stützen. Dazu sage ich ganz offen: Ich
würde mir wünschen, dass diejenigen, die aktuell nach
immer größerer und umfangreicherer Hilfe schreien, zunächst einmal die Mittel in Anspruch nehmen, die vom
Gesetzgeber bereits im letzten Jahr zur Verfügung gestellt worden sind.
({1})
Fakt ist nämlich: Von den Garantien im Umfang von
400 Milliarden Euro sind erst gut 100 bis 110 Milliarden
abgerufen worden. Von den 80 Milliarden Euro für Rekapitalisierungen sind erst knapp 20 Milliarden Euro abgerufen worden. Es sind also - salopp formuliert - noch
Mittel da, wenn sich Banken dem SoFFin zuwenden und
dort schlicht und einfach ihre Geschäftspolitik auf den
Prüfstand stellen lassen.
Ich sage ganz deutlich - es kann, um bestimmte
Träume zu zerstören oder gar nicht erst aufkommen zu
lassen, gar nicht oft genug gesagt werden -: Allen Forderungen nach Gründung einer sogenannten Bad Bank, bei
der die faulen Kredite der Privatbanken auf den Rücken
der Steuerzahler abgeladen werden, erteile ich hier eine
klare und deutliche Absage.
({2})
Ziel ist vielmehr, dass künftig alle betroffenen Institute
unter die vorhandenen Rettungsschirme schlüpfen.
Eines muss bei den Diskussionen, die wir heute und
in den nächsten Wochen führen, klar sein: Wir alle - davon gehe ich aus - wollen stärker aus dieser Krise herauskommen, als wir hineingegangen sind; unser Ziel,
Arbeitsplätze zu erhalten und die Investitionsfähigkeit
der Betriebe zu gewährleisten, steht im Mittelpunkt all
unserer Überlegungen.
Im weiteren Arbeitsverlauf kann es natürlich auf Basis des bereits verabschiedeten Gesetzes Modifikationen
geben. Wie Sie wissen, haben wir in dem Gesetz für die
Garantien des staatlichen Rettungsfonds eine Frist von
36 Monaten festgelegt. Wenn es denn nötig ist und die
Erfahrungen mit dem SoFFin dafür sprechen, diese Frist
zu verlängern, dann ist dies selbstverständlich vorstellbar: Die staatlichen Garantien könnten den deutschen
Banken - allerdings auf Basis dieses Gesetzes - nicht
nur für drei Jahre, sondern für vier oder fünf Jahre zur
Verfügung gestellt werden, damit diese über einen längeren Zeitraum günstig mit frischem Geld versorgt werden
können.
Wie Sie ebenfalls wissen, enthält das grundlegende
Gesetz bereits ein Instrument zum Aufkauf von Risikopapieren. Nun müssen die Banken dieses Instrument
aber auch nutzen und dürfen nicht - wie bisher - damit
argumentieren, dass Risikopapiere nach drei Jahren wieder an den Fonds zurückgegeben werden müssten; denn
das ist schlichtweg falsch. Eine solche Befristung gibt es
weder im Gesetz, noch wird sie von der EU-Kommission generell gefordert. Richtig ist vielmehr, dass im
Wege einer in diesem Fall einfach zu erzielenden Einzelnotifizierung auch für den Ankauf von Risikopapieren
Fristen von mehr als drei Jahren festgelegt werden können. Wenn nötig - da gilt das Gleiche wie soeben -, können wir uns gern über eine Ausdehnung der Frist für den
erstmaligen Ankauf von Risikopapieren - mit allen Konsequenzen für die Eigentümerseite - unterhalten.
Wenn nötig, müssen wir auch die betroffenen Privatbanken darauf hinweisen, dass sie sich als Erste Gedanken darüber machen, was sie selbst, kraft ihrer Eigenverantwortung, mit toxischen Papieren machen. Muss eine
Bank sich nicht fragen, ob sie nicht die faulen Kredite,
über die sie verfügt, im Rahmen einer eigenen Gesellschaft, einer eigenen Bank verwalten und dort einen
Platz für die aktuell nicht verkäuflichen Wertpapiere
schaffen sollte? Das hätte den Vorteil, dass unsere Finanzmittel nicht mit diesen faulen Krediten belastet würden.
Eines ist klar: Die Banken sind in erster Linie berufen, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie sich
selbst effizient, mit den Maßnahmen, die das Gesetz ihnen anbietet, helfen können. Sich aus der Verantwortung
zu stehlen und nach irgendeinem Hilfesteller zu rufen,
ist nicht der richtige Weg. Das ist jedenfalls mit der weit
überwiegenden Mehrheit dieses Hauses nicht zu machen.
({3})
Bei allem, was wir aus der Finanzkrise lernen oder
noch lernen müssen, bleiben wir in der Strategie des
Finanzmarktstabilisierungsgesetzes. Wir werden in dieser schwierigen Situation unter den vorhandenen Alternativen diejenigen aussuchen, die mit den geringsten
Nebenwirkungen verbunden sind.
Wir haben in diesen Wochen über die Konjunkturpakete I und II und über die Frage zu diskutieren, wie wir
im Rahmen der Finanzmarktkrise - wiederum parteiübergreifend - die Interessen der Verbraucherinnen und
Verbraucher am besten schützen. Es geht darum, ob die
aktuellen Regelungen hinsichtlich Schlecht- oder
Falschberatung richtig sind, ob die Verbraucherinnen
und Verbraucher vielleicht einen längeren Zeitraum eingeräumt bekommen müssen, um ihre berechtigten Ansprüche gegen schlechte Berater durchsetzen zu können,
ob das Gesamtprotokoll, mit dem sie ihre Lebensentscheidung für oder gegen eine gewisse Anlage begründen, ganz anderen Eckpunkten unterliegt.
Über das alles haben wir zu diskutieren, um zu bewirken, dass die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land
letzten Endes zu der Überzeugung gelangen, dass der
Staat handlungsfähig ist, dass er die Krise annimmt und
entsprechend ihren Erfordernissen handelt. Modifikationen am Rettungsschirm, entsprechend Art und Umfang
der Krise, widersprechen daher nicht dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz, sondern entsprechen ihm.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Axel Troost, Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich gehöre wahrlich nicht dem Stamme der
Untergangspropheten an. Aber ich glaube, dass nach wie
vor niemand in diesem Hause einen Überblick über das
wahre Ausmaß der Gesamtkrise hat und dass wir uns
deshalb - auch das ist meine Prophezeiung - im nächsten halben Jahr hier wiedersehen und über ganz andere
Dimensionen von Rettung reden werden. Noch im Dezember hieß es ja, auch wir bräuchten kein zweites Konjunkturprogramm, aber im Januar lagen dann neue Zahlen vor.
In einer Umfrage der BaFin in der letzten Woche haben wir zum ersten Mal gehört, dass es faule Papiere in
einer Höhe von angeblich um die 300 Milliarden Euro
gibt; manche sagen sogar, es könnten auch 800 Milliarden bis 1 Billion Euro sein. Diese Zahlen haben wir
nicht durch eine normale Prüfung der BaFin erfahren,
sondern durch eine Umfrage. Das zeigt, wie groß die Gesamtdimension des Problems ist und dass wir in der Tat
anfangen müssen, hier über ganz andere Maßnahmen zu
reden.
Herr Kollege Troost, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dautzenberg?
Ja.
Herr Kollege Troost, würden Sie, weil Sie von einer
„Umfrage“ der BaFin sprachen, konzedieren, dass es einen Unterschied zwischen Abfrage und Umfrage gibt
und dass es sich bei der BaFin um eine Abfrage zum aktuellen Stand bei den Risikopapieren handelte? Das ist
ein himmelweiter Unterschied. Wir sollten nicht zulassen, dass Ihre Unterstellung einer „Umfrage“ den Anschein erweckt, die BaFin wäre hier im Grunde ihrer
Aufsichtspflicht nicht nachgekommen; denn das wäre
falsch.
Ob man „Abfrage“ oder „Umfrage“ sagt, ist völlig
egal.
({0})
Entscheidend ist, dass die Zahlen nicht das Ergebnis der
Standardprüfungen der BaFin sind, sondern dadurch bekannt geworden sind, dass die Banken zum Zeitpunkt X
individuell abgefragt worden sind, was zu den entsprechenden Meldungen geführt hat. Darin liegt aber genau
das Problem; denn das wahre Ausmaß der Krise ist der
BaFin nicht zu jedem Zeitpunkt bekannt, sondern muss
immer erst durch Umfragen bei den Instituten ermittelt
werden.
({1})
- Von mir aus können wir sagen: Abfrage bei den
20 größten Banken. Ansonsten sehe ich aber keinen Unterschied zu alldem, was ich vorhin gesagt habe.
({2})
Ich möchte einmal rekapitulieren. Als es um den Rettungsschirm ging, hat die Linke gesagt, dass so etwas im
Prinzip erforderlich ist. Sie hat aber aus drei Gründen
dagegen gestimmt:
Erstens hat sie aufgrund des parlamentarischen Verfahrens dagegen gestimmt; dazu will ich an dieser Stelle
aber nichts sagen.
Zweitens hat die Linke von Anfang an gefordert:
Wenn am Schluss dieser Rettungsaktionen ein Minus für
die öffentliche Hand herauskommt, dann muss dieses
Minus die Kreditwirtschaft übernehmen. Das ist aber
nicht vorgesehen, sondern es ist völlig offen, was am
Schluss mit diesem Minus passiert.
Drittens haben wir gefordert - das ist noch wichtiger -:
Wer Geld in Form von Einlagen bekommen will, der
muss auch Stimmrechte zulassen. Es kann nicht sein,
dass Geld in Banken gesteckt wird, ohne dass der Geldgeber Stimmrechte bekommt.
({3})
Das ist im Falle der Commerzbank aber passiert: 16 Milliarden Euro wurden der Commerzbank inzwischen als
stille Einlagen gegeben.
({4})
- Können wir vielleicht bei der Sache bleiben?
Angesichts dieser stillen Einlagen von 16 Milliarden
Euro habe ich an die Verzinsung in Höhe von 9 Prozent
gedacht, wovon wir schon eben in dem Beitrag der FDP
gehört haben. Doch weit gefehlt! Die 9 Prozent Zinsen
gibt es nur, wenn Gewinn gemacht wird, sonst nicht.
Dann hätte man aber auch Aktienanteile kaufen können
und hätte nicht auf eine stille Einlage zurückgreifen
müssen.
Was wir bei der Commerzbank vorfinden, ist das typische Beispiel halbherzigen Handelns. Wir halten eine
Beteiligung von 25 Prozent. Der aktuelle Börsenwert
liegt zwischen 4 und 5 Milliarden Euro. 18 Milliarden
Euro wurden inzwischen in die Commerzbank investiert.
Zu Deutsch: Mit dem Geld, das insgesamt geflossen ist,
hätte man vier oder fünf Banken wie die Commerzbank
übernehmen können, und zwar zu 100 Prozent. Das ist
für meine Begriffe der eigentliche Skandal.
({5})
Der Antrag der Grünen geht nach meiner Meinung
in die richtige Richtung. Wir sind in der Tat der Ansicht
- „intelligent“ ist immer gut -, dass eine Vergesellschaftung des Privatbankenbereiches auf der Tagesordnung
steht. Vergesellschaftung heißt nicht nur, dass der Bund
einsteigt, sondern heißt in der Tat auch, zu schauen, wie
man in Zukunft mit diesem Bereich vor dem Hintergrund
eines funktionierenden Sparkassensektors und eines funktionierenden Genossenschaftsbankensektors umgeht. Es
kann nicht sein, dass jetzt mit öffentlichen Mitteln Privatbanken gestärkt werden und diese anschließend in die
Marktsegmente der Sparkassen und der Genossenschaftsbanken gehen.
Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Wir
können das Problem nur lösen, wenn wir nach vorne gerichtet handeln. Auch das ist völlig klar: Nach einer öffentlichen Übernahme kommen gigantische Kosten auf
die öffentliche Hand zu. Da braucht man sich nichts vorzumachen. Das ist keine Vermeidungsstrategie, sondern
eine Offensivstrategie.
Danke schön.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Jochen-Konrad Fromme, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir stehen vor einer völlig neuen Herausforderung, für
deren Bewältigung es weder Lehrbücher noch Musterfälle gibt. Das bedeutet, dass wir in kurzer Frist ein Instrumentarium entwickeln mussten. Wir müssen nun abwarten und die weitere Entwicklung kritisch beobachten.
Wenn neue Fakten und neue Erkenntnisse vorliegen,
müssen wir entsprechend nachsteuern.
({0})
Eine Europäisierung der Bankenrettung hätte zum
Ersten bedeutet, dass es viel länger gedauert hätte, bis
man in Gang gekommen wäre. Denn es ist nun einmal
so, dass es einfach länger dauert, wenn man mit mehreren Nationen über eine Lösung verhandeln muss. Zum
Zweiten hätte die große Gefahr bestanden, dass dabei
kein Maßanzug herausgekommen wäre. Denn in den
Ländern gibt es unterschiedliche Systeme. Beispielsweise gibt es unser Dreisäulensystem in anderen Ländern nicht. Deswegen wäre diese Lösung gar nicht angemessen gewesen.
({1})
Dass es neue Erkenntnisse gibt, liegt doch daran, dass
sich die Fakten verändert haben. Wenn sich das Rating
einer ganzen Gruppe von Forderungen, nämlich das der
internationalen Forderungen, plötzlich anders darstellt,
dann ist das eine andere Faktenlage, und dann muss man
aus dieser veränderten Faktenlage Konsequenzen ziehen. Dann hat man nicht mehr die Situation, die man ein
paar Tage zuvor hatte. Deswegen muss man auch hier
handeln.
Wir haben ein klares Instrumentarium und eine klare
Reihenfolge: Bürgschaften, Rekapitalisierung, Forderungsübernahme. Für uns kommt eines nicht infrage,
Herr Kollege Troost: die Verstaatlichung. Das heißt
nämlich, dass man davon ausgeht, dass der Staat grundsätzlich der bessere Banker ist. Das ist eben nicht der
Fall.
({2})
- Wenn die öffentliche Hand das Eigentum zu 100 Prozent übernimmt, wie Sie es wollen, dann führt dies am
Ende zu einem staatlichen Bankensektor. Wir wollen das
nicht, und deswegen kommt dieser Lösungsweg nicht infrage.
Natürlich hätten wir uns gewünscht, dass die Erfolge
schneller eintreten. Aber es gibt Erfolge: Die Einlagen
über Nacht bei der Europäischen Zentralbank und der
Bundesbank sind erheblich weniger geworden. Das
heißt, es wird wieder Geld ausgeliehen. Dieser Prozess
kommt in Gang. Dies geschieht zwar nicht in der Geschwindigkeit, die wir uns vorgestellt haben; das bedeutet aber nicht, dass wir nicht auf dem richtigen Weg sind.
Deswegen werden wir an dieser Stelle weiter so verfahren.
Zum internationalen Bereich. Warum müssen alle anderen Länder ständig nachbessern? Hier ist ein kühler
Kopf gefordert und kein hitziges Handeln. Wir sind mit
unserem Instrumentarium deutlich sicherer aufgestellt
als die anderen Länder, die jeden Tag etwas Neues machen.
({3})
Deswegen bleiben wir dabei: anschauen bzw. beobachten, und dann handeln bzw. nachsteuern, wenn es nötig
ist.
Ich kann die Auffassung, dass das Instrumentarium
gescheitert ist, überhaupt nicht teilen.
({4})
Wir haben keine Panik bekommen. Wir haben ein immer
noch funktionierendes System - zwar nicht sehr gut;
aber es läuft noch. Es soll rund laufen; deswegen haben
wir Maßnahmen ergriffen. Ich sage es noch einmal: Wir
haben ein klar abgestuftes Instrumentarium. Warum sind
wir gegen die Übernahme eines höheren Aktienanteils?
Weil wir die operative Verantwortung des Bankers gerade nicht übernehmen wollen. Wir wollen vielmehr das
jeweilige Institut unterstützen. Eine Beteiligung von
25 Prozent ist richtig.
({5})
So kann keiner dieses Institut für wenig Geld schlucken,
nachdem wir sozusagen die Mittel für den Reparaturaufwand hineingesteckt haben. Dies ist der richtige Weg.
Wir werden Ihnen auf Ihrem Weg auf keinen Fall folgen.
({6})
Sie sagen, die Gremien arbeiteten nicht richtig. Dazu
kann ich nur sagen: Der SoFFin-Ausschuss ist ein Berichtsgremium. In diesem Gremium werden Berichte
entgegengenommen.
({7})
Daraus werden Konsequenzen gezogen, wenn dies angebracht ist. Das werden wir in den zuständigen Ausschüssen tun.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11756 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Zivilschutzgesetzes ({0})
- Drucksache 16/11338 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
- Drucksache 16/11780 Berichterstattung:
Abgeordnete Beatrix Philipp
Hartfrid Wolff ({2})
Petra Pau
Silke Stokar von Neuforn
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Hartfrid Wolff
({4}), Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Bevölkerungsschutzsystem reformieren - Zuständigkeiten klar regeln
- Drucksachen 16/7520, 16/11780 Berichterstattung:
Abgeordnete Beatrix Philipp
Hartfrid Wolff ({5})
Petra Pau
Silke Stokar von Neuforn
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Beatrix Philipp, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Zivil- und Katastrophenschutz ist kein besonders attraktives Thema. Es ist ein Thema, das manche
von uns über viele Jahre hinweg begleitet haben. Für
mich und viele Kolleginnen und Kollegen hier im Hause
trifft das zu. Sie haben, so wie ich, die unterschiedlichen
Entwicklungen und Schwerpunktsetzungen, also gewissermaßen die Konjunktur des heute anstehenden Themas, begleitet. Nun erspare ich Ihnen, an dieser Reise
durch die Jahrzehnte teilzunehmen. Ich erinnere mich
aber noch gut an die Konsequenzen, die der Deutsche
Bundestag nach dem Fall der Mauer und nach dem Zerfall des Warschauer Paktes gezogen hat. Plötzlich war
die jahrzehntelange Bedrohung durch ebendiesen Warschauer Pakt weg. So wurden Einrichtungen und Vorhaltungen für den Zivilschutz mit gutem Gewissen und regelrecht getragen von einer Sehnsucht nach greifbarem
Frieden drastisch zurückgefahren. Ich erinnere nur an
den Abbau von Sirenenanlagen.
Umso fassungsloser waren wir - zum Teil verspürten
wir regelrecht Hilflosigkeit -, als wir durch die Anschläge vom 11. September 2001 wieder auf den Boden
der Tatsachen zurückgeholt wurden. Neben dieser Katastrophe, die eine internationale Dimension hat und eine
Erschütterung auslöste, die bis heute zu spüren ist, ereignete sich bei uns eine nationale Katastrophe völlig anderer Art: Das Elbehochwasser machte deutlich, dass es erheblichen Handlungsbedarf im Bereich des Zivil- und
Katastrophenschutzes gab. Bis zu diesem Zeitpunkt galt
zwischen den Beteiligten eine klare Kompetenzabgrenzung bzw. Kompetenzbeschreibung: Der Bund war für
den Zivilschutz im Verteidigungsfall und die Länder waren für den Katastrophenschutz in Friedenszeiten zuständig. Damals wurde aber, wie gesagt, klar, dass man den
neuen Anforderungen mit dieser Teilung nicht gerecht
werden würde und diese Teilung auch nicht angemessen
war.
So wurde schon 2002, also relativ schnell, die „Neue
Strategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland“
vereinbart, die im Gegensatz zu der eben beschriebenen
Trennung eine grundsätzliche Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern unter Beibehaltung der Zuständigkeiten zum Inhalt hatte. Wir wissen natürlich alle:
Grundsätzliche Zusammenarbeit ist gut, aber der Teufel
steckt im Detail. So ist es eigentlich gar nicht verwunderlich, dass im Rahmen der Föderalismusreform deutlich wurde, dass es auch und gerade hinsichtlich des Zivil- und Katastrophenschutzes sehr unterschiedliche
Auffassungen gab. Dabei denke ich nicht nur an den finanziellen Bereich, der für manche immer noch ein
Buch mit sieben Siegeln ist, sondern auch an die uralte
Frage - das will ich noch einmal deutlich unterstreichen - der Bedeutung und Einbindung der Ehrenamtlichen. Das ist etwas, was nicht nur von Bund und Ländern, sondern auch von den Koalitionsfraktionen nicht
immer einhellig bewertet wird.
Jedoch sind Tausende von Menschen ehrenamtlich in
Hilfsorganisationen unterwegs: zum Beispiel bei den
Maltesern, den Johannitern, dem Lazarusorden, dem Roten Kreuz, den Arbeiter-Samaritern und dem Technischen Hilfswerk. Ich denke, es ist immer angebracht,
egal an welcher Stelle, diesen Ehrenamtlichen zu danken, weil sie freiwillig auf Freizeit verzichten. Außerdem ist es angebracht, den Arbeitgebern Dank zu sagen,
die diese Ehrenamtlichen für manche Stunde freistellen.
Das wird oft vergessen. Man muss es aber immer wieder
sagen.
({0})
Aus dem eben Gesagten haben wir - man höre und
staune - Schlussfolgerungen gezogen und 2005 im Koalitionsvertrag vereinbart, dass die Steuerungs- und Koordinierungskompetenz des Bundes bei der Bewältigung
von Großkatastrophen und länderübergreifenden schweren Unglücksfällen zu stärken sei. Nun muss man kein
Prophet sein, um zu wissen, dass die Umsetzung dieses
hehren Zieles spätestens dann zu erheblichen Diskussionen führt, wenn es, wie ich eben schon angedeutet habe,
um die Finanzierung geht.
So stehen wir heute vor dem Ergebnis eines Prozesses, in dem deutlich wurde, dass Föderalismus auch bedeutet, mit unendlicher Geduld und Ausdauer dicke
Bretter zu bohren, um am Ende zu einem Ergebnis zu
gelangen, das nur in einer Demokratie denkbar ist, das
eben nicht von oben verordnet wird und mit dem dann
alle leben können.
({1})
- Das ist wirklich wahr. Man betont es viel zu selten. Es
erscheint fast selbstverständlich, dass wir am Ende zusammenkommen, auch wenn wir an völlig verschiedenen
Punkten gestartet sind. Wer die Verhandlungen in einer
Großen Koalition erlebt hat, weiß, dass das schwierig ist.
Wie gesagt, auch bei der Föderalismuskommission war
es schwierig.
Im Ausschuss haben wir gestern von der Neverending-Story gesprochen, aber sie hat ein Ende: der Gesetzentwurf, der Ihnen vorliegt. Wir entsprechen damit
nicht nur dem Willen der Beteiligten, sondern auch den
in diesem Fall berechtigten Forderungen des Bundesrechnungshofes und den Beschlüssen der Innenministerkonferenzen der beiden vergangenen Jahre. Wir schaffen
eine gesetzliche Grundlage für das ergänzende Tätigwerden des Bundes im Bereich des Katastrophenschutzes
und stellen noch einmal die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern klar.
Es ist, denke ich, richtig, zu sagen, dass man mit unterschiedlichen Auffassungen an die Lösung dieses Problems herangehen kann. Wir teilen den sicherlich gut
gemeinten Vorschlag der FDP überhaupt nicht. Die Annahme des Antrages hätte nicht nur eine Änderung des
Grundgesetzes erfordert, sondern auch die Aufhebung
des dualen Systems, das sich im Prinzip bewährt hat;
dies würde nicht automatisch zu einer Verbesserung führen. Deswegen wollen wir bewusst die bereits vorhandenen Strukturen ergänzen und stärken. Wie gesagt: Eine
völlige Neustrukturierung wäre mit dem Grundgesetz
nicht vereinbar.
Dass sich die Herausforderungen verändert haben,
dass wir uns den heutigen Herausforderungen anpassen
müssen und dass dem Umfang und der Unterschiedlichkeit der aktuellen Bedrohungslagen Rechnung getragen
werden muss, liegt auf der Hand. Wenn wir uns heute
auf Angriffe mit atomaren, biologischen oder chemischen Waffen vorbereiten müssen, wenn wir an den
Schutz vor und das Handeln nach eventuellen Terrorangriffen denken müssen, dann hat das nicht nur eine andere Qualität, sondern zeigt auch die Notwendigkeit sehr
viel breiter angelegter Strategien, als sie früher erforderlich waren, als man militärischen Angriffen mit klassischen Waffen der Verteidigung begegnen konnte. Wie
gesagt: Die Länder werden in Zukunft für die flächendeckende Grundversorgung zuständig sein.
Ich fasse zusammen:
Erstens. Wir weiten den Grundsatz der Katastrophenhilfe aus, indem wir die Einrichtungen des Bundes in
Friedenszeiten auch für den Katastrophenschutz nutzbar
machen.
Zweitens. Wir stellen ausdrücklich klar, dass die Ausund Fortbildungsmaßnahmen beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe auch der Vorbereitung von Entscheidungsträgern und Führungskräften
auf Landesebene dienen sollen.
Drittens. Die Durchführung ressort- und länderübergreifender Ressortübungen, zum Beispiel zwischen
THW, Bundesgrenzschutz, Feuerwehr und Polizei, bezüglich eines Terroranschlages garantiert uns die Aufwuchsfähigkeit im Katastrophenfall.
Viertens. Wir stellen klar, wer im Katastrophenfall die
jeweilige Koordinierungskompetenz hat. Grundsätzlich
bleibt das betroffene Land sowohl für die Festlegung der
zu treffenden Maßnahmen als auch für das operative Krisenmanagement zuständig. Nur wenn ein Land ausdrücklich darum ersucht, kommt der Bund mit der Koordination der Hilfsmaßnahmen seiner ergänzenden Funktion
nach. Man kann sagen, es ist eine Art Servicefunktion auf
Abruf.
Schließlich: Information und Kommunikation wollen
wir weiter fördern und entsprechende Informationsprozesse ankurbeln. Hierzu geben wir dem Bundesamt die
Befugnis, personenbezogene Daten zu verwenden, um
den Ansprechpartner schnell herausfinden zu können.
Die Menschen in unserem Land erwarten zu Recht,
dass wir uns ihrer berechtigten Sorgen annehmen. Diesem Anspruch wird der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf gerecht. Wir hoffen auf eine breite Zustimmung.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Herausforderungen im Bevölkerungsschutz steigen. Unsere
Gesellschaft ist vielfältig vernetzt. Die Abhängigkeiten
von kritischen Infrastrukturen, ob Stromversorgung oder
IT-Sicherheit, wachsen. Der Klimawandel schafft neue
biologisch-medizinische Anforderungen. Ich sage nur:
Vogelgrippe oder Malaria. Jeder kennt diese Beispiele.
Auf diese Herausforderungen will die Bundesregierung nun halbherzig antworten und übernimmt - zu einfach - die Vorgaben von der Innenministerkonferenz.
({0})
Moderne Technik und neue Herausforderungen brauchen, liebe Frau Kollegin Philipp, eine moderne Rechtsgrundlage. Das Zivilschutzgesetzänderungsgesetz ist dieses nicht.
({1})
Es greift zu kurz. Wir brauchen keinen neuen Kompetenzwirrwarr, sondern Klarheit und einfache Strukturen, die
sich an den Anforderungen ausrichten. Kirchturmpolitik
ist der falsche Weg.
Dass Landesinnenminister Schünemann
({2})
in Niedersachsen auf der Feierstunde des BBK Ende
letzten Jahres auch noch schwadronierte, eigentlich hätte
er sozusagen als Ziel der Verhandlungen gerne die Länderzuständigkeit für das THW gehabt, grenzt an Zynismus. Ist Herr Schünemann dann auch bereit, zum Beispiel die wichtigen Einsätze des THW in Myanmar oder
China zu finanzieren? Dieses niedersächsische Sandkastenspiel ist absurd.
Es war ein irreparabler Fehler, den Bevölkerungsschutz aus der Föderalismusreform I herauszunehmen.
Im Übrigen war die Begründung nicht wirklich tragbar.
Die Gründe waren das Luftsicherheitsgesetz und der
Einsatz der Bundeswehr.
Daran sieht man im Übrigen, woher beim Thema ziviler und eben nicht militärischer Bevölkerungsschutz der
Wind weht.
({3})
Wer von der Vogelgrippe nicht mehr überrascht werden
will und wer eine Chaos-Landrätin wie damals auf Rügen nicht mehr erleben will, muss umdenken. Manch
eine Ignoranz der tatsächlichen Anforderungen gewinnt
irreale Züge.
Meine Damen und Herren, im Grundsatz will ich am
föderalen System nichts ändern, im Gegenteil.
({4})
- Sie haben unseren Antrag doch wohl gelesen. - Es gilt,
unbürokratisch und schnell zu reagieren. In der Regel geschieht das vor Ort. Nur für besondere Fälle muss der
Bund eine klar umrissene, eindeutige Verantwortung
übernehmen. Der bisherige Dualismus von Zivil- und Katastrophenschutz ist Vergangenheit, liebe Frau Philipp.
Auch wenn Sie sich dagegen stemmen, wird das nichts
nützen.
({5})
Wir brauchen ein einheitliches Bevölkerungsschutzsystem mit allein am Schadensausmaß ausgerichteten Verantwortlichkeiten.
({6})
Die FDP-Bundestagsfraktion hat ein Konzept für eine
wirkliche Reform des Bevölkerungsschutzsystems vorgelegt. Wir streben eine Aufgabenverteilung an, bei der
die Zuständigkeit für lokale Schadensereignisse bei den
Kommunen bzw. beim Land liegt - das betrifft nach wie
vor die überwiegende Mehrheit der Fälle -, bei der die
Zuständigkeit für Großschadensereignisse innerhalb eiHartfrid Wolff ({7})
nes Bundeslandes bei den Ländern verbleibt und bei der
die Zuständigkeit für den hoffentlich extrem seltenen
Fall länderübergreifender Schadenslagen beim Bund
liegt. Die Elbeflut macht nicht vor Ländergrenzen halt.
({8})
Großflächige Stromausfälle, wie wir sie zum Beispiel im
Falle der Emsfähre erlebt haben, hatten zur Überraschung vieler, damals übrigens auch zu Herrn Bosbachs
Überraschung, sogar internationale Auswirkungen.
Innerhalb dieses Rahmens sind die Ressourcenverantwortung und die Zusammenarbeit zu regeln, um schnellstmöglich und effektiv helfen zu können. Ein neues, zeitgemäßes Ausstattungskonzept ist dabei ohne einen
schlagkräftigen und wirkungsvollen Beitrag des Bundes
nicht denkbar. Die Konzentration des Bundes auf die Bereitstellung von Spezialressourcen für Sonderlagen darf
nicht zu einem schleichenden Rückzug aus der Fläche
führen. Das ehrenamtliche Engagement ist die bürgerschaftliche Grundlage für die Sicherheit der Bürgerinnen
und Bürger in Deutschland. Dieses Ehrenamt ist die tragende Säule für unsere Sicherheit, für den Bevölkerungsschutz.
({9})
An dieser Stelle muss ich sagen: Das Zivilschutzgesetzänderungsgesetz, das Sie vorlegen, ist in gewisser
Weise tatsächlich ein Schritt in die richtige Richtung.
Wir brauchen eine größere Kultur der Anerkennung der
Helfer;
({10})
ich glaube, hier sind wir uns einig. Wir brauchen eine
gezielte Öffentlichkeitsarbeit, auch zur Sensibilisierung
der Bevölkerung.
({11})
Und wir brauchen eine zeitgemäße Ausstattung vor Ort
und finanzielle Anreize zur Übernahme ehrenamtlicher
Verantwortung. Dass der Finanzminister die Rettungsorganisationen, als es damals im Zusammenhang mit den
Pauschalen um die Unterstützung des Ehrenamtes ging,
leider vergessen hat, war aus meiner Sicht nicht hilfreich. Was hilft, sind eine bessere und koordinierte Ausbildung, moderne Risikomanagementmethoden und vor
allem mehr Forschung.
Die FDP wird auch in den Ländern weiter für ihr
Konzept werben. Wir fordern auch die Bundesregierung
auf, dies noch deutlicher, zielbewusster und intensiver
zu tun als in der Vergangenheit. Wir wissen, dass Sie zunächst ganz andere Vorstellungen hatten als jetzt in Ihrem Gesetzentwurf zum Vorschein kommt. Wir sollten
an diesem Thema dranbleiben. Im Sinne der Sache rate
ich Ihnen dringend: Machen Sie weiter!
({12})
Für die SPD-Fraktion gebe ich dem Kollegen Gerold
Reichenbach das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute geht es um die Verabschiedung
des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zivilschutzgesetzes. Es wird deutlich: Das ist der Ausdruck
des politisch Möglichen. Sowohl unter Wissenschaftlern
als auch unter Praktikern ist weitgehend unbestritten,
dass sich die Risiken und Bedrohungen, denen die Bevölkerung ausgesetzt ist, im Laufe der letzten Jahre stark
verändert haben und dass noch weitere Veränderungen
auf uns zukommen werden. Nicht nur der Terrorismus
stellt eine Bedrohung dar, sondern auch der Klimawandel, die Globalisierung und die hohe nationale und internationale Vernetztheit können für Katastrophen großen
Ausmaßes ausschlaggebend sein.
Wir leben in einer stark vernetzten Welt, von der wir
genauso stark abhängig sind. Wir müssen davon ausgehen, dass heute auch bei zivilen Katastrophen eine umfassende länderübergreifende Beeinträchtigung der
Funktionsfähigkeit des öffentlichen und wirtschaftlichen
Lebens eintreten kann, etwa durch den Zusammenbruch
kritischer Infrastrukturen oder durch Pandemien. Das
sind Schadenspotenziale in Friedenszeiten, wie wir sie
bisher nur für den Verteidigungsfall im Blick hatten.
Diese Risiken sind real, und sie nehmen zu. Das zeigt
auch das Grünbuch unserer überfraktionellen Initiative
„Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit“.
Lassen Sie mich diese Gelegenheit nutzen, mich noch
einmal bei allen zu bedanken, die an dieser Initiative
mitgewirkt haben. Mein Dank gilt insbesondere meinen
Parlamentskollegen Frau Stokar von Neuforn, Herrn
Göbel und Herrn Wolff. Ich glaube, wir haben hier ein
gutes Beispiel für an der Sache, am Schutz der Bevölkerung orientierte fraktionsübergreifende Parlamentsarbeit
geliefert.
Die jüngsten Stürme in Frankreich haben uns deutlich
vor Augen geführt, dass aufgrund des Klimawandels die
Zahl großflächiger Katastrophen, die sich nicht an Länder- oder Staatsgrenzen halten, zunehmen wird.
Bereits im Rahmen der Föderalismusreform I hat die
SPD-Fraktion einen Vorstoß unternommen, die grundgesetzlich zugewiesene Aufteilung zwischen Bund und
Ländern an die neuen Herausforderungen anzupassen.
Unser Vorschlag war, die Aufgabenteilung nicht nach
Krieg und Frieden vorzunehmen, sondern sie an Größe
und Umfang der Schadensereignisse auszurichten und
ein effektives Koordinierungsinstrument zu schaffen.
Unser Vorstoß scheiterte am Widerstand der Länder.
Auch alle weiteren Vorstöße in dieser Richtung sind am
Widerstand der Länder - ohne deren Zustimmung es
nicht gehen wird - gescheitert.
Die FDP weist in ihrem Antrag, den wir heute mitberaten, darauf hin, dass wir bei der Aufgabenzuweisung
zu einer strukturellen Änderung kommen müssen. Da
sind wir uns einig, Herr Wolff. Aber, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der FDP, in fast allen Ländern, die
sich heftig gegen jede Änderung sperren, trägt die FDP
mit Regierungsverantwortung. Ihr Antrag ist somit fast
so etwas wie eine öffentliche Selbstgeißelung.
({0})
Wir wollen Ihnen helfen, diese zu beenden: Wir werden
den Antrag ablehnen.
Der Bundestag ist nicht der richtige Ort für diesen
Antrag. Der richtige Ort wären die Länderparlamente.
Wenn Sie es schaffen würden, Ihren Antrag in den Parlamenten all der Länder, in denen Sie mit Regierungsverantwortung tragen, zur Abstimmung zu bringen, wären
wir einen entscheidenden Schritt weiter. Unsere Unterstützung dabei hätten Sie. Doch solange dies nicht gelungen ist, muss sich unsere Gesetzgebung in den vorgegebenen Strukturen bewegen.
Trotzdem werden wir mit diesem Gesetz den Zivilschutz und die Katastrophenhilfe des Bundes hinsichtlich des Schutzes unserer Bevölkerung besser auf die
veränderten Rahmenbedingungen, Herausforderungen
und Gefahren ausrichten können. Dieses Gesetz ist ein
Schritt im Rahmen dessen, was politisch möglich ist.
Wir versetzen den Bund mit diesem Gesetz in die Lage,
auf Anforderung des betroffenen Landes oder der betroffenen Länder Koordinierung und Ressourcenmanagement zu übernehmen. Wir geben dem Bund die Möglichkeit, die zur Vorbereitung notwendigen Daten zu
erheben. Um dem Missverständnis vorzubeugen, hier
werde Datenschutz abgebaut, sage ich: Es geht um Ressourcen wie Sandsäcke oder Gerät, um Daten für die
Alarmierung von Spezialisten und um Daten im Hinblick auf das Risikopotenzial von Überschwemmungsgebieten oder Anlagen.
Wir gelangen mit diesem Gesetz zu einer Präzisierung
der Zusammenarbeit von Bund und Ländern auf der
Grundlage der Amts- und Katastrophenhilfe. So wird
noch einmal ausdrücklich festgehalten, dass die Einrichtungen und Vorhaltungen des Bundes für den Zivilschutz
den Ländern auch bei Naturkatastrophen und besonders
schweren Unglücksfällen zur Verfügung stehen.
Die Katastrophe an der Elbe hat Schwächen in Führung und Management offengelegt, die insbesondere
durch fehlende Einheitlichkeit sowie durch mangelnde
Übung und Ausbildung verursacht waren. Bereits unter
Rot-Grün sind wir diese Mängel angegangen, unter anderem durch die Gründung des BBK, durch abgestimmte
Aus- und Fortbildungsmaßnahmen sowie durch länderübergreifende Krisenmanagementübungen wie LÜKEx.
Letztere werden nun im Gesetz verankert.
Die von Bund und Ländern unter Otto Schily vereinbarte neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung orientiert sich sinnvollerweise nicht mehr am Zivilschutz,
sondern an den Gefährdungslagen. Dem daraufhin zwischen Bund und Ländern im Sommer 2007 vereinbarten
neuen Ausstattungskonzept geben wir jetzt eine gesetzliche Grundlage, soweit es sich an den Zivilschutzaufgaben des Bundes orientiert.
Die ergänzende Ausstattung des Bundes für den Zivilschutz, die den Ländern zur Verfügung gestellt wird,
können diese auch für ihre Aufgaben und für die Vorsorge im Katastrophenschutz nutzen. Eines müssen wir
jedoch eingestehen: Das Gesetz schafft nicht die Grundlage, die für eine notwendige breitere Ausrichtung erforderlich wäre. Der Bund kann weiterhin nur Ausstattung
finanzieren, die sich aus dem Zivilschutz begründet.
Durchaus sachlich begründbare Ausstattungswünsche
der Länder, die darüber hinausgehen, etwa bezogen auf
spezifische Gefahren wie Hochwasser, lassen sich im
Rahmen des vorliegenden Gesetzes nicht legitimieren.
Einfachgesetzlich war dies nicht möglich. Dazu hätte es
eben jener Grundgesetzänderung bedurft, die gegenüber
den Ländern nicht durchsetzbar war.
Auf einfachgesetzlicher Ebene schaffen wir aber zumindest für die aus eindeutigen Zivilschutzgründen anzuschaffende Ausstattung die Rechtssicherheit, die wir
gerade auch den Ehrenamtlichen schuldig sind. Dabei
hat die SPD-Fraktion in der Gesetzesberatung darauf geachtet, dass die Nutzung und Verwendung nur zusätzlich
zu den Anstrengungen der Länder im Katastrophenschutz erfolgen darf, damit diese ihre Anstrengungen
nicht einfach im gleichen Umfang zurückfahren. Ich
glaube, auch das liegt sehr im Interesse der Feuerwehren
und Hilfsorganisationen und dient dem Ausbau unseres
Schutzniveaus.
({1})
Wir kommen bei der Vorbereitung auf mögliche Katastrophenlagen einen wichtigen Schritt weiter. Bereits unter Rot-Grün wurde eine gemeinsame Erstellung von Risikoanalysen zwischen Bund und Ländern vereinbart. Im
vorliegenden Gesetzentwurf verpflichtet sich der Bund,
zusammen mit den Ländern die gemeinsame Risikoanalyse zu erstellen und fortzuschreiben.
Auf das Drängen der SPD-Fraktion hin wurde zugleich verankert, dass über diese jährlich dem Parlament
berichtet wird. Daher werden wir uns in Zukunft regelmäßig mit den zivilen Gefahren und Bedrohungen beschäftigen. Dieser Bereich der Sicherheit hat in der Vergangenheit ja oft darunter gelitten, dass er zwar
anlässlich aktueller Katastrophen, wie zum Beispiel an
der Oder oder Elbe, sehr im Fokus des Interesses stand,
aber mit dem sinkenden Pegel, um im Bild des Hochwassers zu bleiben, auch sehr schnell der Aufmerksamkeitspegel sank.
Dass sich der Deutsche Bundestag ab dem Jahre 2010
jährlich mit diesen Themen beschäftigt, ist auch ein klares Zeichen an die rund 2 Millionen haupt- und zum allergrößten Teil ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer,
die sich täglich bei den Feuerwehren, dem DRK, der
JUH, dem Malteser Hilfsdienst, dem ASB, der DLRG,
dem THW, den Rettungsdiensten und in den Behörden
für unser aller Sicherheit einsetzen.
({2})
Wir als Parlament werden ihrem Gebiet in Zukunft
kontinuierlich unsere Aufmerksamkeit widmen. Gleiches gilt für die Ergebnisse der Schutzkommission. Weil
wir wissen, dass das ehrenamtliche Engagement das
Rückgrat unseres Zivil- und Katastrophenschutzes ist,
haben wir dessen Förderung explizit in den Gesetzentwurf aufgenommen. Das halte ich vor allem vor dem
Hintergrund der Herausforderungen, die durch den gesellschaftlichen und demografischen Wandel an diese
ehrenamtliche Basis gestellt werden, für besonders
wichtig.
Der Gesetzentwurf ist ein Schritt in die richtige Richtung, und ich hoffe, dass wir weiterdenken und dass sich
Bund und Länder zu weiteren Schritten durchringen, um
den Gefahren und Bedrohungen der heutigen Zeit gerecht zu werden. Die Planungen des Bundes und seine
Leistungen gegenüber den Ländern dürfen nicht dauerhaft auf den engen Rahmen der reinen Zivilverteidigung
und Amtshilfe beschränkt bleiben. Wir halten dies insbesondere im Interesse der Helfer der Feuerwehren und der
Hilfsorganisationen und der betroffenen Bevölkerung
für notwendig.
Ich kann Ihnen versichern, dass wir Sozialdemokraten
auch in Zukunft in unserem Bemühen nicht nachlassen
werden, uns noch besser auf die geänderten Bedrohungen und Gefahren einzustellen, um unsere Bürger in einer modernen, hoch vernetzten Gesellschaft bestmöglich
zu schützen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Die Kollegin Petra Pau, Fraktion Die Linke, und die
Kollegin Silke Stokar von Neuforn, Bündnis 90/Die
Grünen, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Ich
schließe deshalb die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Zivilschutzgesetzes.
Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11780, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
16/11338 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen.
- Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koali-
tion bei Enthaltung der Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen der
Koalition bei Enthaltung der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 12 b. Beschlussempfehlung des
Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP
mit dem Titel „Bevölkerungsschutzsystem reformieren -
Zuständigkeiten klar regeln“.
1) Anlage 5
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11780, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/7520 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen von SPD und
CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP und Bündnis 90/
Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Sibylle Laurischk, Ina Lenke, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Frauen und Migration - Die Integration von
Frauen mit Migrationshintergrund in der
Bundesrepublik Deutschland
- Drucksachen 16/4242, 16/7408 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
FDP hat die heute zu debattierende Große Anfrage auf
den Weg gebracht, da wir der Auffassung sind, dass die
Bedeutung von Frauen in der Integrationspolitik unterschätzt wird. Dabei haben sie im Integrationsprozess
eine besondere Stellung: Ihr Zugang zur Aufnahmegesellschaft entscheidet über den Spracherwerb der Kinder
und deren Zugang zum deutschen Bildungssystem. Sie
sind in einer Schlüsselposition für den Integrationserfolg
von Familien und ganz besonders der Kinder.
Die FDP begrüßt es ausdrücklich, dass die Integrationspolitik im Bundestag und in der Bundesregierung
an Bedeutung gewonnen hat. Richten wir aber unser Augenmerk auf Details der Antwort auf die Große Anfrage,
dann merken wir, wie weit Deutschland noch vom Integrationserfolg entfernt ist und dass das Thema längst
noch nicht alle Gesellschaftsstrukturen durchdrungen
hat.
Bei der Beantwortung der Frage 11, in der es um Zahlungen von Migrantinnen in ihre Herkunftsländer geht,
fügt die Bundesregierung eine Statistik der Bundesbank
an, die noch im Jahr 2007 von „Heimatüberweisungen
der Gastarbeiter“ schreibt. Die Sprache verrät den Nachholbedarf staatlicher Institutionen zum Thema Integration in Deutschland.
Von den 15,3 Millionen Bürgern und Bürgerinnen mit
Migrationshintergrund sind die Hälfte Frauen und Mädchen. Sie für die Belange der Integration zu gewinnen,
heißt, das Thema direkt in die Familienstrukturen zu tragen, da die Frauen in der Familie ein zentraler Bezugspunkt sind. Der Schlüssel zur Integration ist Bildung.
Hierzu gehört eindeutig das Erlernen der deutschen
Sprache.
Wir müssen einerseits sehr früh anfangen, die Sprachfähigkeit der Kinder, andererseits aber auch ganz besonders die Sprachfähigkeit der Frauen und Mütter zu fördern. Denn sie sind es, die sich traditionell um die
Kinder kümmern, mit ihnen lernen und sie für den
Spracherwerb sensibilisieren. Die Antwort auf die Große
Anfrage macht den Nachholbedarf auf diesem Gebiet
sehr deutlich. Frauen mit Migrationshintergrund nutzen
und beherrschen die deutsche Sprache deutlich weniger
als die Männer, wie die Antwort auf Frage 20 ausführt.
Hier zeigt sich, dass wir das Augenmerk verstärkt auf
eine geschlechterspezifische Integration legen müssen,
die das Familienbild von Migrantinnen berücksichtigt.
Auch wenn es überholt zu sein scheint, dass sich vor allem die Frau um die Familie kümmert, so ist es bei vielen Migrantinnen die gelebte Realität, wie wir aus der
Antwort auf Frage 42 erkennen. Wollen wir diese Frauen
erreichen, müssen wir uns dieser Realität stellen.
Zu viele Zuwandererfamilien - insbesondere türkische Familien - investieren zu wenig in die Bildung ihrer Kinder und haben zu wenig Bezug zu den Herausforderungen einer modernen Gesellschaft, die nur durch
Bildung zu meistern sind. Der am Montag dieser Woche
vorgelegten Studie „Ungenutzte Potenziale“ zufolge
sind sie unter allen Migranten und Migrantinnen in
Deutschland am schlechtesten integriert: 30 Prozent haben keinen Schulabschluss; nur 14 Prozent schaffen das
Abitur.
Junge Migrantinnen sind besonders betroffen: Obwohl ihre Schulabschlüsse besser sind als die ihrer
männlichen Kollegen, ergreifen weniger einen Ausbildungsberuf. Diejenigen, die es also trotz der bekannten
Defizite in unseren Schulen schaffen, gehen dann viel zu
selten weiter. Bei anderen Migrantengruppen ist dies
völlig anders. Keine andere Einwanderergruppe in
Deutschland hat in der Schule mehr Erfolg als die Vietnamesen: Über 50 Prozent schaffen den Sprung aufs
Gymnasium. Damit streben prozentual mehr vietnamesische Jugendliche zum Abitur als deutsche. Im Vergleich
zu ihren Alterskollegen aus türkischen oder italienischen
Familien liegt die Gymnasialquote fünfmal so hoch.
Die Leistungen vietnamesischer Schüler stehen in einem eklatanten Gegensatz zu dem Bild, das wir sonst
von Kindern mit Migrationshintergrund haben. An diesem Beispiel kann man auch gut erkennen, dass Bildungsarmut nicht stets soziale Ursachen hat. An diesem
Erfolg haben vor allem Frauen einen großen Anteil, die
ihre Kinder fordern und fördern.
Gerade diese Erkenntnisse zeigen, dass wir bei der Integrationspolitik die Herkunft stärker berücksichtigen
und auch Migrantinnen gezielter ansprechen müssen.
Die Große Anfrage zeigt aber auch deutlich, dass es
ganz erheblich an statistischem Material und an Erfahrungswerten mangelt.
Viele Fragen werden von der Bundesregierung nur
mit einem Verweis auf fehlende Daten beantwortet. Bei
anderen Fragen ist in der Fußnote nachzulesen, dass die
statistische Grundgesamtheit der Erhebung aus 99 Personen bestand. Zielgenaue Integration und Maßnahmen
bedeuten auch, dass man belastbares Wissen über den
Status quo haben muss. Dies ist eindeutig nicht der Fall
und muss stark verbessert werden. Hier könnte eine Enquete-Kommission zur Integration, wie von der FDPFraktion vorgeschlagen, Wirkung zeigen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Reinhard Grindel von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Große Anfrage der FDP-Fraktion ist zwei Jahre alt, die
Antwort der Bundesregierung über ein Jahr alt. Frau
Kollegin Laurischk, ich glaube, wenn man betrachtet,
was sich in der Zwischenzeit getan hat, dann kann man
wahrlich behaupten - gerade auch mit Blick auf Integrationsmaßnahmen für Mädchen und Frauen -: So viel Integration gab es noch nie.
Die Lebenssituation von Mädchen und Frauen zu verbessern und Gleichberechtigung zu verwirklichen, ist
eines der zentralen Anliegen des Nationalen Integrationsplans. Der Bund hat dabei mit der Umsetzung zahlreicher Selbstverpflichtungen begonnen. Für uns als
CDU/CSU ist klar, dass ohne angemessene Berücksichtigung der Rolle von Frauen und Mädchen im Integrationsprozess, ihrer besonderen Probleme und ihrer spezifischen Bedürfnisse Integration nicht gelingen kann.
Viele von ihnen tragen elterliche Verantwortung. Oftmals sind gerade sie es, die den Erfolg oder Misserfolg
der Integration der nachfolgenden Generationen prägen.
Sie haben zu Recht die Studie des Berlin-Instituts für
Bevölkerung und Entwicklung zur Lage der Integration
in Deutschland angesprochen. Dort werden viele positive Beispiele gelungener Integration aufgezeigt, aber
auch auf die Probleme hingewiesen, die wir insbesondere bei Migranten türkischer Herkunft haben.
Dort ist unter anderem zu lesen:
Ein Nachteil dieser Gruppe ist ihre Größe: Weil es
vor allem in Städten so viele sind, fällt es ihnen
leicht, unter sich zu bleiben. Das erschwert gerade
zugewanderten Frauen, die häufig nicht erwerbstätig sind, die deutsche Sprache zu erlernen. Damit
fehlt auch den Kindern eine wesentliche Voraussetzung für gute Integration.
Deshalb haben wir die fachliche Ausrichtung der Integrationskurse erheblich verändert und spezielle Frauenkurse vorgesehen, die mit Kinderbetreuung durchgeführt
werden.
Ich will die neuesten Zahlen, die sich nicht in der Antwort der Bundesregierung befinden können, gerne noch
einmal erwähnen: Bis einschließlich 30. September 2008
haben sich 42 000 Personen für Eltern- und Frauenkurse
angemeldet, und für die Kinderbetreuung wurden allein
im Jahr 2008 467 000 Betreuungsstunden in Anspruch
genommen. Der Bund hat dafür 6,8 Millionen Euro aufgewandt. Das ist praktische Integrationsarbeit, die es in
dieser Intensität für Frauen und ihre Kinder so noch nie
gegeben hat. Darauf können wir als Große Koalition
stolz sein.
({0})
Sie haben das Thema „schwieriger Spracherwerb bei
Frauen“ angesprochen. Sie haben auch angesprochen,
dass wir jetzt den Nachweis von einfachen Deutschkenntnissen zur Auflage vor dem Familiennachzug machen. Gerade weil gestern in einer Gesprächsrunde von
Mitgliedern des Innenausschusses mit Menschenrechtsorganisationen von einer gewissen Dramatik die Rede
war, will ich noch einmal die neuesten Zahlen zu diesem
Themenkomplex nennen: Im Jahr 2007 sind 32 466 Visa
zum Zwecke des Ehegattennachzugs erteilt worden. Im
Jahr 2008 waren es 30 767 Visa, also ein Rückgang von
nur 5,2 Prozent. Hauptherkunftsland für den Ehegattennachzug ist die Türkei. Rund die Hälfte des Rückgangs
bei den Visa zum Ehegattennachzug betrifft türkische
Staatsangehörige.
Da wir wissen, dass fast alle, die sich bei den GoetheInstituten um einen Sprachnachweis bemühen, den entsprechenden Test auch bestehen, ist für mich klar, dass
wir an dieser Stelle davon ausgehen können, dass wir
eine Reihe von Zwangsehen verhindert haben.
Ich will aber im Zusammenhang mit dem Spracherwerb deutlich machen, dass diese Maßnahme, die wir
gemeinsam beschlossen haben, über die Bekämpfung
von Zwangsehen hinaus eine integrationspolitische Bedeutung hat; denn in den Kursen der Goethe-Institute
wird nicht nur Sprachkompetenz, sondern werden auch
Kenntnisse über Deutschland und den Lebensalltag in
unserem Land vermittelt. Die Frauen, die zu uns kommen, sind also viel besser auf ihr neues Leben in unserem Land vorbereitet. Es kommt darauf an, dass wir sie
in die Lage versetzen, einer Berufstätigkeit nachzugehen, ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen und
damit den Bildungshunger ihrer Kinder zu wecken und
nicht zuletzt etwas über unser Wertesystem zu erfahren
und eine patriarchalische Rollenverteilung nicht widerspruchslos zu akzeptieren.
In diesem Zusammenhang will ich auf ein bemerkenswertes Interview von Cem Özdemir, dem Vorsitzenden der Grünen, in der taz vom 27. Januar dieses Jahres
hinweisen. Darin sagt er:
Vielen der Zugewanderten, besonders aus der Türkei, ist die Bedeutung guter Bildung für ihre und
unsere Kinder nicht ausreichend bewusst … Wenn
es nicht mit den Eltern geht, dann muss man es
auch gegen sie machen … Wenn in einer Familie
ein archaisches Bild der Rollenverteilung von
Mann und Frau gepredigt wird, dann müssen wir in
den Schulen andere Werte vermitteln - und vorleben.
Lieber Kollege Winkler, ich frage mich, was dagegen
spricht, ein anderes Rollenverständnis schon vor dem
Zuzug nach Deutschland zu vermitteln, wenn wir an die
jungen Frauen in den Sprachkursen der Goethe-Institute
noch herankommen, bevor sie danach vielleicht in eine
Parallelwelt abtauchen. Nichts spricht dagegen, dies zu
vermitteln!
({1})
Sie haben zu Recht auf die Erfolge von Kindern mit
vietnamesischem Migrationshintergrund hingewiesen,
Frau Kollegin Laurischk. Ich glaube, dass das ein Zeichen und ein Beleg dafür ist, wie wichtig es ist, dass in
den Familien deutsch gesprochen wird. Das ist bei diesen Familienstrukturen in der Regel der Fall, weil es hier
sehr viele binationale Ehen gibt. Das zeigt, wie wichtig
es ist, dass Kenntnisse der deutschen Sprache nicht nur
im Kindergarten und in der Schule erworben werden,
sondern auch zu Hause.
Zu den erfolgreichen Integrationsmaßnahmen, mit denen wir Frauen unterstützen, gehört der Ausbau der
Krippenbetreuung, der Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen. Die frühe gemeinsame Bildung von einheimischen Kindern und Migrantenkindern fördert die Integration und schafft eine bessere Bildungsperspektive.
Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass es Kinder
gibt, die deshalb von Anfang an in der Schule scheitern,
weil sie den Lehrer an der Tafel nicht verstehen. Das
darf es nicht mehr geben.
({2})
Wir verbessern auch die berufliche Perspektive von
Frauen mit Migrationshintergrund. Mit der Qualifizierungsoffensive wollen wir die Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen zügig verbessern. Wir
müssen endlich die Kompetenzschätze heben, über die
gerade Frauen mit Migrationshintergrund verfügen. Es
gibt - darauf wird in der Studie und auch von Frau
Laurischk in ihrer Rede zu Recht hingewiesen - sehr gute
Erfolge bei den Bildungskarrieren von Migrantinnen. Es
gibt mehr Mädchen als Jungen türkischer Herkunft in der
gymnasialen Oberstufe. Die Zahl der Studentinnen mit
Migrationshintergrund wächst kontinuierlich. Das ist nur
zu begrüßen. Ich möchte erwähnen, dass wir bei den drei
Gipfeltreffen zum Nationalen Integrationsplan - diese
wurden von Maria Böhmer ganz maßgeblich beeinflusst sehr intensiv das Gespräch mit Migrantinnen und Frauenorganisationen gesucht haben. Es hat extra einen Arbeitskreis gegeben, der sich intensiv mit der Lebenswelt
der Frauen sowie der Wirklichkeit in Schule und Beruf
befasst hat. Man kann sagen - das alles konnte in die
Antwort der Bundesregierung nicht aufgenommen werden -, dass wir der Integration von Mädchen und Frauen
eine besondere Bedeutung beimessen.
Integration gelingt nicht von allein. Sie muss von allen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren gelebt werden. Dazu gehört, die Menschen, die aus ver21900
schiedensten Motivationen heraus ihre Heimat verlassen
haben, um hier zu leben, willkommen zu heißen.
Sie müssen am gesellschaftlichen Leben teilhaben
können, ihre Leistungen müssen Anerkennung finden.
Deshalb wurden durch die Arbeit am Nationalen Integrationsplan und durch die Deutsche Islamkonferenz neue
Impulse für den Dialog mit Migrantinnen und Migranten
gesetzt, und es wurde nicht nur über sie geredet.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
haben eine breite Basis für die direkte und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Menschen aus Zuwandererfamilien geschaffen. Wir brauchen sie als Partner, um unsere gemeinsame Zukunft zu gestalten. Wenn auch
weiterhin - das ist keine Frage - viel zu tun bleibt, so
zeigt doch die große Resonanz dieser Aktivitäten und die
dadurch angeregte Diskussion in der Öffentlichkeit, dass
unsere Intention angekommen ist. Ich möchte hier besonders die Leistung der Beauftragten für Integration,
unserer Staatsministerin Maria Böhmer erwähnen. Sie
steht auch ganz persönlich dafür, dass Frauen und Mädchen ganz oben auf der Tagesordnung stehen, wenn es
um Integration und den gelebten Zusammenhalt in unserer Gesellschaft geht.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sevim Dağdelen von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Lieber Herr Grindel, es war nicht
anders zu erwarten: Sie haben, als Sie aus der Studie des
Berliner Instituts zitierten, das zitiert, was Ihnen opportun erschien, aber nicht das, was darüber hinaus darin
stand. Sie haben gesagt, dass vor allem die Sprache
wichtig ist, und die Situation geschildert. Sie haben aber
versäumt, zu sagen, dass es bei Menschen mit Migrationshintergrund gerade der ausländische Pass ist, der
die Arbeitsvermittlung erschwert. Bei all den Punkten ist
die Mehrheitsgesellschaft gefordert, offener auf die Migranten zuzugehen, um deren Potenziale für die Gesellschaft besser zu nutzen. Es steht auch in dieser Studie,
dass kostenlose Kindergartenplätze und pädagogisch geschultes Personal zur Sprachförderung in den Kindergärten unerlässlich sind, und es steht in der Studie, dass
Schulen zu ganztägig offenen Integrationszentren ausgebaut werden sollen, wie es die Linke seit eh und je fordert. Außerdem spricht sich die Studie für eine Einbürgerung von hier Geborenen nach dem Ius-Soli-Prinzip
aus, wie es in Frankreich oder in den Vereinigten Staaten
üblich ist, um sie von Anfang an willkommen zu heißen
und ihnen zu zeigen, dass sie gebraucht werden. Genau
das wollen Sie verhindern. Sie wollen sogar das Optionsmodell abschaffen und wieder zum Abstammungsprinzip kommen.
({0})
Das haben Sie, Herr Grindel, hier zu sagen versäumt.
In der Antwort der Bundesregierung auf die Große
Anfrage wird festgestellt, dass die Erwerbsquote von
Frauen ohne Migrationshintergrund im Durchschnitt um
10,6 Prozentpunkte höher als von Frauen mit Migrationshintergrund ist. Kein Wort aber davon, dass dies zum
Beispiel in den 70er-Jahren umgekehrt war. Da wiesen
Migrantinnen eine Erwerbsbeteiligung auf, die erheblich
über der deutscher Frauen lag. Dies galt laut Statistischem Bundesamt gleichfalls für verheiratete Frauen
ausländischer Nationalität. Ihre Erwerbsquote lag mit
64 Prozent gleichfalls wesentlich höher als die deutscher
Ehefrauen mit 40 Prozent. Frauen mit Migrationshintergrund wurden und werden zunehmend aus der Erwerbsarbeit gedrängt, so heißt es, und in geringfügige Beschäftigung, ungeschützte Arbeitsverhältnisse sowie
Arbeitslosigkeit und den Verzicht auf Erwerbsarbeit gedrängt. Zum Teil arbeiten sie weit unterhalb ihres Qualifikationsniveaus. Herr Grindel, Sie sagten, man müsse
Integrationsschätze heben. Das hat die Bundesregierung
vor einer Stunde nicht gemacht. Sie hat einen Antrag zur
Anerkennung von Bildungs- und akademischen Abschlüssen, die im Ausland erworben wurden, wovon eine
halbe Million Menschen betroffen ist, gerade Frauen,
Spätaussiedler, russische Ärztinnen, die hier in diesem
Lande putzen müssen, weil ihre Abschlüsse nicht anerkannt werden, abgelehnt. Daran möchte ich Sie erinnern.
Das Problem ist auch, dass gerade Migrantinnen mit
Kindern oftmals in gewalttätigen Beziehungen ausharren, um ihr Aufenthaltsrecht nicht zu verlieren. Da sage
ich: Wenn die Bundesregierung einen Integrationswillen
hätte, dann müsste sie doch für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht dieser Frauen streiten und ihnen dieses geben,
({1})
damit sie nicht in diesen Gewaltbeziehungen enden.
({2})
Ferner werden Übermittlungspflichten von der Bundesregierung nicht aufgehoben, was Frauen, die illegalisiert
werden, Frauen ohne Papiere in Deutschland betrifft.
Mit der Aufhebung könnte man diesen Frauen helfen,
sich in die Gesellschaft zu integrieren. Im Zusammenhang mit der Diskussion über Zwangsverheiratung und
Zwangsehen haben Sie durch die Novellierung des Zuwanderungsgesetzes den Ehegattennachzug erschwert.
Sie konnten aber bisher nicht einen Fall benennen, wo
Sie die Zwangsverheiratung bzw. die Zwangsehe verhindert hätten. Ich möchte an die Sachverständigenanhörung im Familienausschuss erinnern, wo zum Beispiel
gesagt wurde: Was die Frauen brauchen, ist ein Rückkehrrecht. - All das wurde von der Bundesregierung bisher nicht umgesetzt. Wenn Sie etwas für die Frauen tun
wollen, bitte ich Sie, dies zu tun. Die Fakten und die
Konzepte liegen auf dem Tisch.
({3})
Bedauerlich ist auch - damit komme ich zum
Schluss -, dass die Bundesregierung nur das tut, was sie
in der Vorbemerkung geschrieben hat, nämlich:
… die … zur Verfügung stehenden Kenntnisse über
die Situation von Frauen mit Migrationshintergrund
in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der
gestellten Fragen zusammenfassend darzustellen.
Und so beschreibt sie eine desaströse soziale Situation von Migrantinnen. Doch die Zusammenhänge mit
der eigenen Politik werden mit dem Deckmäntelchen des
Verschweigens von Ursache und Wirkung verdeckt. Auf
diese Weise sind wir von einer Lösung weit entfernt.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rüdiger Veit von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Schweizer Theologe und Literaturhistoriker Vinet hat
- wenn allerdings auch schon vor mehr als 150 Jahren;
so lange ist er nämlich bereits tot - zu Recht gesagt:
„Das Schicksal des Staates hängt vom Zustand der Familien ab.“ Frau Laurischk, ich stimme Ihnen ausdrücklich
zu, dass die Frauen in diesem Bereich eine zentrale Rolle
einnehmen.
Wenn es um die Fragen der Integration, der Sozialisation und der Erziehung der Kinder in Migrantenfamilien
geht, haben Frauen möglicherweise sogar noch eine stärkere Rolle inne, als das bei einheimischen Familien der
Fall ist. Damit möchte ich aber kein klassisches Rollenbild perpetuieren, sondern nur eine Vermutung äußern
und unterstreichen, wie wichtig das ist.
Insofern ist es verdienstvoll, dass Sie sich mit Ihrer in
der Tat sehr umfänglichen Großen Anfrage mit 83 Fragen an die Bundesregierung gewandt haben. Die Bundesregierung hat sie mit Mühe und Sorgfalt bearbeitet;
es sind fast 100 Seiten Material. Die Sache hat für die
heutige Debatte aber einen nicht ganz unwesentlichen
Nachteil: Sowohl die Fragestellungen als auch die Antworten der Bundesregierung sind ein bisschen veraltet,
nämlich zwei bzw. ein Jahr. In der Zwischenzeit hat sich
einiges getan.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nehmen Sie bitte
daran teil, wie ich versuche, richtig auszukosten, dass
ich mit den Ausführungen des Kollegen Reinhard
Grindel von der CDU konform gehe.
({0})
- Sie können diese Freude und diese Teilhabe, wie ich
finde, auch noch ein bisschen emphatischer äußern. ({1})
Er hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen in der Zwischenzeit einige Integrationsmaßnahmen angestoßen und umgesetzt haben. An dieser Stelle kommt Frau Professor
Böhmer und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in
der Tat eine ganz zentrale Rolle zu. Dafür wollen wir uns
bei dieser Gelegenheit bedanken.
({2})
Der historischen Wahrheit halber sei aber hinzugefügt, dass die Frage der Integration sowohl der neu zu
uns kommenden als auch der bereits bei uns lebenden
Migrantinnen und Migranten
({3})
ursprünglich von der rot-grünen Mehrheit
({4})
und einer Regierung, die von ihr getragen wurde, veranlasst worden ist. Insofern freuen wir uns - das sage ich
ohne Zynismus und Häme -, dass sich jetzt eigentlich
alle in diesem Haus in Bezug auf die Realisierung von
Integrationsmaßnahmen mehr oder weniger einig sind
und gemeinsam an einem Strang ziehen.
Im Übrigen muss an dieser Stelle gesagt werden:
Selbst wenn wir das Urheberrecht haben, ist es das Verdienst der Bundeskanzlerin und der Staatsministerin
Böhmer, dass wir dieses Thema im Rahmen des Nationalen Integrationsgipfels aufgegriffen und Konsequenzen gezogen haben.
({5})
- Darauf komme ich noch zu sprechen, Frau Kollegin. Ich erinnere nur einmal daran, dass wir das Sprachangebot erheblich verbessert haben, nämlich auf einen Umfang von bis zu 900 Unterrichtsstunden, und dass wir die
Möglichkeit geschaffen haben, 300 weitere Stunden zu
absolvieren.
({6})
Ich sage an dieser Stelle aber auch Folgendes - denn
das darf nicht vergessen werden -: Gerade im Hinblick
auf die Teilnahme von Migrantinnen an solchen Kursen
ist es unabdingbar, dass eine qualifizierte und einfach
erreichbare Kinderbetreuung sichergestellt wird. Ich
mahne die Bundesländer ausdrücklich, ihre Verpflichtungen auf diesem Gebiet einzuhalten.
({7})
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Ansonsten ist in der Tat einiges auf den Weg gebracht
worden: auf dem Integrationsgipfel und bei den nachfolgenden Zusammenkünften sowie in den vielseitigen
Selbstverpflichtungen, die eingegangen worden sind; ich
will das nicht alles wiederholen.
Zusammenfassend kann man etwas salopp sagen: Der
Integrationsgipfel hat jedenfalls aus unserer Sicht nur einen einzigen Nachteil: Auch Rot-Grün hätte seinerzeit
auf die Idee kommen können, so etwas zu veranstalten.
({8})
Das Gleiche gilt übrigens für die vom Bundesinnenminister durchgeführte Islam-Konferenz.
Aber zurück zum Thema. Die Frage 10 der Großen
Anfrage greift ein wichtiges Problem auf. Die Antwort
darauf fällt unzureichend aus; sie muss unzureichend
ausfallen. Sie werden sich nicht wundern, wenn ich immer wieder auf die gleichen drei Themen komme, die
mich hier ganz besonders bewegen:
Erstens geht es um die Frage, inwieweit gerade
Frauen und ihre Familien, vorzugsweise alleinstehende
und alleinerziehende Frauen, die sich schon lange in
Deutschland aufhalten, von der Bleiberechtsregelung der
Innenministerkonferenz oder von derjenigen in dem Gesetz, das wir geschaffen haben, profitieren können. Dabei ist der Kern der Frage, inwieweit sie in der Lage sein
werden, sich ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel,
jedenfalls höchstens unter teilweiser Inanspruchnahme
solcher Mittel, zu ernähren und den Unterhalt ihrer Familien zu bestreiten. Da müssen wir noch einmal ganz
besonders sorgfältig hinschauen.
Auch wenn die Bundesregierung in der Antwort
schreibt, es gebe keine statistischen Daten darüber, weil
das Geschlecht derjenigen, die einen Antrag stellten,
nicht erfasst werde, werden wir im Vollzug der Altfallund Bleiberechtsregelungen darauf achten müssen, dass
insbesondere alleinstehende Frauen und alleinerziehende
Mütter dabei nicht durch den Rost fallen, weil sie nicht
in der Lage sind, eine adäquate Erwerbstätigkeit auszuüben. Ich wäre Ihnen allen dankbar, wenn wir uns auf
diesen Punkt konzentrieren würden.
Zweitens. Übermittlungspflichten bei Illegalen. Dazu
schweigen sowohl diejenigen, die die Große Anfrage gestellt haben, als auch natürlich die Antwort. Diese
Pflichten sind, wie Sie alle oder jedenfalls diejenigen aus
dem Innenausschuss wissen, nach wie vor ein wichtiges
Thema. Dazu gibt es gerade in jüngster Zeit ein sehr unrühmliches Beispiel aus Hamburg. Die Magdalena aus
Bolivien, die sich bereits elf Jahre lang in der Bundesrepublik aufhält und kurz vor Abschluss des zehnten
Schuljahres steht, wird durch das Hamburger Schulregister, das dort eingeführt worden ist, als statuslos entdeckt
und muss natürlich fortan genauso wie ihre Familie unter
der Bedrohung leben, sofort abgeschoben zu werden.
In Berlin werden Überlegungen dazu angestellt, entsprechende Register einzuführen, oder sind bereits in
Umsetzung begriffen, was jugend- und kinderpolitisch
vielleicht durchaus seinen Sinn hat. Liebe Kolleginnen
und Kollegen - damit wende ich mich an alle
Fraktionen -, wir können es uns einfach nicht mehr leisten, Kinder an der Wahrnehmung von schulischen Bildungsmöglichkeiten dadurch zu hindern, dass im Gesetz
weiterhin die Pflicht von Lehrern und Schulämtern zur
Übermittlung an die Ausländerbehörden enthalten ist.
({9})
Das Gleiche gilt für Migrantinnen, mindestens insoweit, als sie womöglich davor zurückschrecken,
wichtige gesundheitliche Vorsorgeuntersuchungen für
Schwangere wahrzunehmen und sich bei der Geburt eines Kindes in qualifizierte Betreuung zu begeben. Es
darf nicht sein, dass der Staat behandelnde Ärzte, Krankenschwestern und Krankenhausverwaltungen verpflichtet, den Ausländerbehörden Mitteilung zu machen,
wenn sich jemand behandeln lässt, der keinen regulären
Aufenthaltsstatus hat. Das ist eine Baustelle, die ich eigentlich gern noch in dieser Legislaturperiode geschlossen hätte. Da gibt es aber viele Widerstände. Ich will die
Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion gar
nicht allein dafür verantwortlich machen.
Drittens. Das ist ein wichtiger Punkt, der mir ganz besonders am Herzen liegt. Auf Betreiben unseres Koalitionspartners haben wir das Nachzugsalter heraufgesetzt,
durchaus noch mit einer gewissen Überzeugung, dass
das so richtig ist, aber auch den vorherigen Spracherwerb im Ausland zur Bedingung für den Familiennachzug gemacht. Die Kolleginnen und Kollegen von
der Union waren der Auffassung, damit könne dem Phänomen der Zwangsheirat wirksam begegnet werden.
({10})
Nichts, aber auch gar nichts weist darauf hin, dass diese
Annahme berechtigt ist.
({11})
Viel schlimmer ist noch - hier liegt ein ganz erhebliches
Defizit -: Wir haben uns in einem wichtigen Punkt nicht
verständigen können. Das bedauere ich nach wie vor. Ich
appelliere an Sie, Ihre Position noch einmal zu überdenken. Gerade was die Opfer von Zwangsverheiratungen
im Ausland angeht,
({12})
machen wir uns mit der sechsmonatigen Frist für die
Rückkehrmöglichkeit nach Deutschland praktisch zum
Vollstrecker derjenigen, die andere mit Zwangsheirat bedrohen. Bei moralischer Betrachtung erkennt man: Das
darf sich der Gesetzgeber, dieses Haus, unser Staat nicht
erlauben.
({13})
Wenn eine junge Frau, etwa eine sogenannte Urlaubsbraut, die im Urlaub zwangsverheiratet worden ist, durch
ihren zwangsverheirateten Mann, dessen Familie oder
wen auch immer zunächst daran gehindert wird, in die
Bundesrepublik zurückzukehren, um sich vielleicht hier
aus ihrer misslichen Situation zu befreien, dann darf es
nicht sein, dass wir ihr sagen: Wenn du es nicht innerhalb von sechs Monaten geschafft hast, bleibst du draußen und deinem Schicksal überlassen. Wer es mit der
Bekämpfung von Zwangsheirat wirklich ernst meint,
muss an dieser Stelle ansetzen.
({14})
Ich komme zum Schluss. Ich bitte darum, dass wir
alle noch einmal darüber nachdenken, die entsprechende
gesetzliche Vorschrift zu ändern. Wir sollten die Kraft
dazu haben; sonst sind wir an dieser Stelle nicht glaubwürdig.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({15})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Irmingard ScheweGerigk vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Antwort auf die Große Anfrage zeigt, dass die Bundesregierung in vielen Bereichen jetzt endlich handeln muss.
Die Förderung der Integration von Migrantinnen ist für
die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, wie sie
gerne sagt, eine Herzensangelegenheit. Darum frage ich
mich: Wo bleibt das Herz? Vor allen Dingen: Wo bleibt
das Geld für die Umsetzung des Nationalen Integrationsplans? Von den 134 abgegebenen Selbstverpflichtungen
will der Bund nur 19 migrantinnenspezifische Verpflichtungen finanzieren.
Gleichzeitig hat die Große Koalition unter den Augen
von Ihnen, Frau Böhmer, ausgerechnet die Haushaltsmittel für die niedrigschwelligen Kurse für besonders
schwer erreichbare Migrantinnen um nicht weniger als
40 Prozent gekürzt.
({0})
Herr Grindel sagt dazu: So viel Integration gab es noch
nie. Ich finde das den schwer erreichbaren Migrantinnen
gegenüber zynisch und heuchlerisch.
({1})
Wir wissen: Viele Frauen in Deutschland erleben regelmäßig körperliche, sexuelle oder psychische Gewalt.
Zahlreiche Studien zeigen, dass Frauen mit Migrationshintergrund besonders stark von Gewalt betroffen sind.
Dies ist, wenn wir über die Integration von Migrantinnen
sprechen, ein wichtiges Thema, das die Integrationsbeauftragte, wie eine Kleine Anfrage der Grünen gezeigt
hat, jedoch völlig vernachlässigt.
Frauenhäuser sind für diese Frauen die zentrale Anlaufstelle. Ich möchte an die Forderungen der Sachverständigen bei der kürzlich stattgefundenen Anhörung erinnern: Änderungen beim Asylbewerberleistungsgesetz,
bei der Residenzpflicht sowie beim SGB II und
SGB XII. Nur wenn es hier zu Änderungen kommt, können Frauenhäuser von Gewalt betroffenen Migrantinnen
wirklich helfen. Ich erwarte von der Bundesregierung
und von der Integrationsbeauftragten, dass sie jetzt endlich zügig handeln.
({2})
Leider sehe ich keinen Anlass zum Optimismus; denn
ausgerechnet bei dem wichtigen Thema der Zwangsehe
hat die Große Koalition - Herr Veit, ich muss es sagen grundlegend versagt. Sie haben entgegen dem einhelligen Votum aller Sachverständigen keine einzige aufenthaltsrechtliche Verbesserung für Migrantinnen beschlossen, die von Zwangsehen betroffen sind.
({3})
Auch in dem Entwurf der Bundesregierung für Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz finden wir
- entgegen der vollmundigen Ankündigung von Frau
Böhmer in ihrem 7. Lagebericht - keine Klarstellungen
zu den strittigen Punkten. Sie haben auch nichts unternommen, um die deutschen Auslandsvertretungen dazu
zu befähigen, zwangsverheiratete Migrantinnen bei der
Einreise in ihre deutsche Heimat unbürokratisch zu unterstützen.
Das Einzige, was Sie vorgenommen haben, war die
Verschärfung beim Ehegattennachzug. Kollege Grindel
behauptet - ähnlich wie Kollege Uhl -, sie bewahrten
dadurch
Hunderte, wahrscheinlich Tausende von Frauen
davor ..., hier in Deutschland in einer Zwangsehe
leben zu müssen.
({4})
- Herr Grindel, diese Zahlen sind, wie die Bundesregierung auf unsere Anfrage hin einräumen musste, vollkommener Humbug. Vielleicht setzen Sie sich einmal
mit der Bundesregierung in Verbindung.
Ich stelle fest: Die Verschärfung beim Ehegattennachzug ist ein Eingriff in den grundrechtlichen Schutz der
Ehe, der weder geeignet noch erforderlich noch verhältnismäßig ist, um den sogenannten Import von zwangsverheirateten Ehegatten zu verhindern.
Ich will etwas zu Ihren Sprachanforderungen sagen:
41 Prozent aller nachzugswilligen Ehegatten wurde das
Grundrecht auf Familieneinheit verwehrt, weil sie den
Sprachtest im Herkunftsland nicht bestanden haben.
Diese Zahlen wundern Sie; Sie haben etwas ganz anderes geäußert.
({5})
Ich frage Sie: Wurde hierdurch wirklich eine einzige
Zwangsehe verhindert? Nein; dieses Instrument dient
einzig und allein dazu, den von Ihnen ungeliebten Zu21904
wanderungskanal des Ehegattennachzugs insgesamt zu
unterminieren.
Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,
Sie sind bei Ihrem Ansatz, Zwangsehen durch den Ehegattennachzug bekämpfen zu wollen, einer fixen Idee
aufgesessen.
({6})
Ich staune, wie emotional, ja geradezu fanatisch Sie auf
die sachlichen Erfahrungsberichte des Verbandes binationaler Familien oder auf die Kritik des Deutschen Instituts für Menschenrechte reagieren. Für mich ist das
ein Indiz, wie sehr Sie Integrationspolitik mit ideologischen Scheuklappen betreiben.
Ich danke Ihnen.
({7})
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung eisenbahnrechtlicher Vorschriften an die
Verordnung ({0}) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der
Fahrgäste im Eisenbahnverkehr
- Drucksache 16/11607 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Federführung strittig
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Günter
Krings, CDU/CSU, Marianne Schieder, SPD, Mechthild
Dyckmans, FDP, Dorothée Menzner, Die Linke,
Dr. Anton Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen, und für die
Bundesregierung um die Rede des Parlamentarischen
Staatssekretärs Alfred Hartenbach.
Angesichts der großen Sorgen auf dem Arbeitsmarkt
und in der Wirtschaft beschäftigen die Menschen in
Deutschland nach wie vor auch die kleineren Sorgen des
Alltags. Wer zu einem dringenden geschäftlichen oder
privaten Termin unterwegs ist und dabei umweltfreundlich oder aus Kostengründen die Bahn benutzt, ist auf
eine pünktliche Beförderung angewiesen. Verspätungen
im Bahnverkehr sind und bleiben daher ein Ärgernis, das
wir gerade dann ernst nehmen müssen, wenn uns an einer
Stärkung des Bahnverkehrs gelegen ist.
Die Deutsche Bahn, die über Jahrzehnte hinweg einen
international hervorragenden Ruf wegen ihrer Pünktlichkeit genoss, ist seit einigen Jahren dabei, diesen Ruf zu
verspielen. Offenbar haben Fragen der Pünktlichkeit vor
allem beim Marktführer der Deutschen Bahn AG keine
ausreichende Priorität erhalten.
Die zunehmende Ungewissheit, ob ich als Bahnkunde
pünktlich und nach Fahrplan mein Ziel erreiche, hat
manche Menschen davon abgehalten, die Bahn zu benutzen. Viele, die zum Beispiel für Fernstrecken die Wahl
zwischen Zug oder Flugzeug haben, entscheiden sich oft
für den Luftverkehr, weil dieser sich teilweise einen zuverlässigeren Ruf erworben hat. Nur eine zuverlässige
und pünktliche Bahn wird aber so genutzt werden, wie wir
uns das gemeinsam wünschen. Quer durch alle Fraktionen dieses Hauses, aber auch im Einklang mit den Bahnunternehmen müsste uns allen daher an einer höheren
Pünktlichkeit des Bahnverkehrs gelegen sein.
Um diese Pünktlichkeit in Zukunft besser zu garantieren, braucht es offenbar flankierender Maßnahmen des
Gesetzgebers. Wenn Bahnunternehmen nicht erkennen,
dass eine höhere Pünktlichkeit in ihrem Interesse liegt,
muss der Gesetzgeber sie im wahrsten Sinne des Wortes
ein wenig anschieben. Entschädigungszahlungen an diejenigen Kunden, die Opfer von erheblichen Verspätungen
geworden sind, können hier sehr heilsame Wirkungen haben.
Die von der Europäischen Union, aber zum Teil noch
deutlich konsequenter von der Bundesregierung vorgeschlagenen und von uns unterstützten Regelungen zur
Entschädigung von Bahnkunden werden ihr Ziel nicht
verfehlen. Dieses Ziel besteht gerade nicht darin, dass
möglichst viele Entschädigungszahlungen in die Taschen
von Bahnkunden fließen, sondern darin, dass die Bahn
solche Zahlungen gerade vermeiden wird, indem sie ein
stärkeres Augenmerk auf ihre Pünktlichkeit legt.
Die Entschädigungszahlungen selbst müssen allerdings mit Augenmaß erfolgen. Denn Geld, das die Bahn
für Entschädigungen ausgeben muss, fehlt ihr natürlich
für Züge und Bahnhöfe. Da weite Bereiche des Schienenverkehrs nach wie vor ein Zuschussgeschäft sind, muss
die Bahn die Entschädigungen aus ihren eigenen Mitteln
erwirtschaften. Der Steuerzahler wird hierfür nicht zusätzlich aufkommen können; denn gerade denjenigen, die
nicht die Chance haben, die Bahn zu nutzen, kann man
kaum zumuten, dass sie als Steuerzahler neben dem regulären Bahnverkehr auch noch diese Entschädigungszahlungen gesondert subventionieren.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung schafft Entschädigungsregelungen, die für beide Seiten akzeptabel
sind und die Position des Bahnkunden deutlich verbessern. Im Zentrum der Regelungen steht, dass der Bahnkunde nicht nur einen angemessenen Entschädigungsbetrag erhält, sondern dass er diesen auch in einem
unbürokratischen Verfahren erlangen kann.
Die Regelungen sind außerdem recht übersichtlich.
Zum Beispiel wird der Kunde künftig wissen, dass er unabhängig davon, welchen Zug er benutzt hat, ob ICE, Intercity oder Regionalbahn, bei einer Verspätung von
mindestens 60 Minuten 25 Prozent des Fahrpreises zurückerhält. Und er bekommt gar die Hälfte zurück, wenn
er mehr als zwei Stunden verspätet ist.
Es ist auch deshalb eine Verbesserung, weil bislang die
Zugnutzer bei Verspätungen auf die Kulanz der Bahnunternehmen angewiesen waren. Nach der Kundencharta
der Deutschen Bahn AG fiel die Entschädigung bei einer
einstündigen Verspätung zudem geringer aus.
Gerade im Nahverkehr können Bahnkunden mit solchen Entschädigungen aber wenig anfangen. Während
im Fernverkehr die Bahn verpflichtet ist, den Kunden bei
längeren Verspätungen notfalls in einem Hotel unterzubringen, kann der Kunde im Nahverkehr oft wenig mit
Geld oder mit einer Hotelübernachtung anfangen. Vielmehr will er sein Ziel, das er schon relativ nah vor Augen
hat, nun auch endlich erreichen. Die praktikabelste und
sinnvollste Lösung ist hier, ihm die Kosten für ein Taxi zu
ersetzen, wenn er sein Ziel mit Zug oder Bus ansonsten
nicht zumutbar erreichen kann. Die Union begrüßt daher
ausdrücklich den Grundsatz des Gesetzentwurfes der
Bundesregierung, dass auch Taxikosten erstattet werden.
Wir wollen den Opfern von Verspätungen auf praktikable
Art und Weise helfen und sie nicht mit Entschädigungsansprüchen auf zugigen Bahnhöfen stehen lassen.
Wenn also der letzte Anschlusszug verpasst ist, muss
die Beförderung im Taxi möglich sein und für den Bahnkunden keine weiteren Kosten verursachen. Bedenken haben wir allerdings bei der Begrenzung dieser Taxikosten
auf 50 Euro. Dieser Betrag wird gerade im ländlichen
Raum nicht immer ausreichen, um den im Nahverkehr üblichen Radius von 50 Kilometern auch tatsächlich abzudecken. Wer mangels Alternative abends auf eine Taxifahrt angewiesen ist, weil sein letzter Zug abgefahren ist,
der muss die Taxikosten im Nahverkehrsradius ersetzt bekommen, unabhängig von einer solchen Deckelung.
Aus diesem Grunde ist es auch nicht einsichtig, warum
die Regelung erst greifen soll, wenn der fahrplanmäßig
letzte Zug nach 20 Uhr wegen anderer Zugverspätungen
nicht mehr erreicht wurde. Auch hier gilt, dass in vielen
ländlichen Regionen zum Beispiel am Wochenende der
Zugverkehr nachmittags endet. Wer hier auch vor 20 Uhr
seinen letzten Zug verpasst hat, weil er Opfer von Bahnverspätungen wurde, soll nicht bis zum nächsten Morgen
warten müssen, um nach Hause zu kommen.
Nicht immer muss der Kunde allerdings auf ein Taxi
ausweichen. Der Gesetzentwurf sieht zu Recht vor, dass
er bei Verspätungen von mindestens 20 Minuten auch einen anderen Zug benutzen darf. Das ist in der Regel die
beste Lösung, nämlich auf zweitbestem Wege an sein Ziel
zu kommen. Dieser Umstieg in einen anderen Zug muss
unkompliziert möglich sein. Wenn also zum Beispiel die
Regionalbahn ausfällt, muss es auch zulässig sein, stattdessen den ICE ans gleiche Ziel zu nutzen. Für Züge des
gleichen Bahnunternehmens ist dies auch problemlos
möglich nach den von der Bundesregierung vorgeschlagenen Regelungen.
Wenn es uns aber ernst damit ist, mehr Wettbewerb auf
die Schiene zu bringen, müssen wir uns auch Lösungen
einfallen lassen, die einen Umstieg von den Zügen eines
Bahnunternehmens in das eines anderen ermöglichen,
wenn so das Ziel auf schnellstem Wege erreicht werden
kann. Mehrere Anbieter auf der Schiene sollen dem Kunden nützen und ihm im Verspätungsfalle nicht das Umsteigen schwerer machen. Auch hier werden wir für eine Verbesserung des Gesetzentwurfes im Kundeninteresse
sorgen.
Für den Bahnkunden, der leider nur allzu oft Opfer
von Verspätungen wird, ist heute ein guter Tag. Zum ersten Mal beraten wir im Deutschen Bundestag klare gesetzliche Anspruchsgrundlagen für den Verspätungsfall.
Die Zeiten, wo der Bahnkunde auf die Kulanz der Bahn
angewiesen war, werden bald der Vergangenheit angehören. Bahn und Kunden bewegen sich endlich auf Augenhöhe. Und es ist letztlich auch gut für die Eisenbahnunternehmen. Indem wir heilsamen Druck auf ihre
Pünktlichkeit ausüben, steigern wir ihre Attraktivität und
tragen dazu bei, dass mehr Menschen die Bahn nutzen.
Wenn in lockerer Runde das Thema Bahn zur Sprache
kommt, so wissen mindestens zwei von drei Leuten irgendwelche verrückten Geschichten über Verspätungen
oder andere Pannen. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt der
Ärger verflogen ist und man meist schon wieder lachen
kann, sollte man sich die Maßstäbe vor Augen führen, die
man an das Verkehrsmittel Bahn anlegt.
Nehmen wir an, Sie reisen von Berlin nach Regensburg, um dort um 14 Uhr einen Termin wahrzunehmen.
Mit dem Auto sind etwa vier bis fünf Stunden Fahrzeit
einzuplanen. Eine minutengenaue Auskunft über die Ankunft wird kaum jemand geben. Mit dem Flugzeug kommt
man maximal bis Nürnberg oder München und hat dann
nochmals etwa 1,5 Stunden Fahrzeit mit einem anderen
Verkehrsmittel vor sich. Mit der Bahn kann ich die Zugverbindung wählen, die um 13:30 Uhr in Regensburg ankommt. Die Anreise ist mit Sicherheit die erholsamste,
und zu 90 Prozent klappt sie auch.
Sollte es dennoch zu Verspätungen kommen, brauchen
die Bahnkunden klare und einfach einzufordernde Rahmenbedingungen, um für die entstandenen Unannehmlichkeiten angemessen entschädigt zu werden. Bisher bewegen wir uns in diesen Fällen meist im Raum der
Freiwilligkeit. Deshalb beraten wir heute in erster Lesung den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr, um Regelungen gesetzlich festzuschreiben. Damit werden die
nationalen eisenbahnrechtlichen Vorschriften an eine europäische Verordnung angeglichen.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen, dass unter der deutschen Ratspräsidentschaft nach
langen und zähen Verhandlungen mit der nunmehr umzusetzenden EU-Verordnung eine doch recht akzeptable Einigung erzielt werden konnte, die für Verbraucherinnen
und Verbraucher in der ganzen EU wesentliche Verbesserungen bringen wird. Es ist unserer Justizministerin
Brigitte Zypries zu verdanken, dass in Brüssel die Stärkung der Fahrgastrechte durchgesetzt werden konnte.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die EU-Verordnung tritt im Dezember 2009 in Kraft.
Wir werden die Vorschriften allerdings bereits so umsetzen, dass sie vor der Hauptreisezeit wirksam werden. Nun
geht die Diskussion schon seit geraumer Zeit darum, ob
in Deutschland über die EU-Verordnung hinausgehende
Ansprüche gesetzlich verankert werden sollen. Auch der
Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf beispielsweise weiter gehende Entschädigungsregelungen im Falle einer Verspätung gefordert. Dies fordern
auch unsere Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Ich habe zum Teil Verständnis für diese Forderungen. Es ist völlig unbestritten, dass Nutzerinnen und Nutzer der Bahn erwarten dürfen, schnell, sicher und vor
allen Dingen pünktlich ans Ziel gebracht zu werden. Aber
ich denke auch, dass man die Kirche im Dorf lassen muss
und das richtige Maß finden sollte.
Es hilft den Verbraucherinnen und Verbrauchern
nicht, wenn sie es mit unterschiedlichsten Regelungen zu
tun haben. Handelt es sich um einen grenzüberschreitenden Zug, beispielsweise von München nach Wien, muss
die EU-Verordnung angewendet werden. Der Fahrgast
hat also bei einstündiger Verspätung Anspruch auf Erstattung von 25 Prozent des Fahrpreises. Geht die Reise
von Nürnberg nach Köln, soll nach Vorstellungen des
Bundesrates der Fahrgast bei gleicher Verspätung
50 Prozent des Fahrpreises erstattet bekommen. Nutzt
der Fahrgast aber bei dieser Strecke einen europäischen
Fernverkehrszug, zum Beispiel den österreichischen Eurocity, gilt wiederum die europäische Regelung. Das wäre
ungerecht, kompliziert und nicht vermittelbar.
Es hilft den Verbraucherinnen und Verbrauchern
nicht, wenn durch überzogene Entschädigungen das
Bahnfahren noch teurer wird. Es hilft ihnen nicht, wenn
sich die regulären Fahrzeiten wesentlich verlängern, um
ausreichend Puffer für mögliche Verspätungen zu haben.
Und es hilft ihnen schon gleich gar nicht, wenn Reiseketten aus Nah- und Fernverkehr nicht mehr angeboten werden. Außerdem sollten die Rufer nach kürzeren Entschädigungszeiten die ganze Rechnung aufmachen und
kalkulieren, wie viel Verbraucherinnen und Verbraucher
verlieren, wenn aufgrund hoher Entschädigungen die
Preise steigen und wie viel sie durch Entschädigungen
aufgrund von Zugverspätungen gewinnen. Selbst Vielfahrer müssten unterm Strich zukünftig mehr auf den Tisch
legen.
Wir brauchen europaweit einheitliche, klare und sinnvolle Regelungen. Kurzfristiger Populismus hilft uns
nicht dabei, die Bahn attraktiver zu machen. Vielmehr gilt
es, den Service zu verbessern und das Entschädigungsverfahren so einfach wie möglich zu gestalten. Dies halte
ich für viel wichtiger. Wenn Sie im Moment eine Verspätung haben, erhalten Sie erst eine Entschädigung, wenn
der Zug, in dem Sie sitzen, mindestens eine Stunde später
ankommt. Um eine Ermäßigung zu erhalten, müssen Sie
sich zunächst an den Informationsschalter des Ankunftsbahnhofs wenden. Dort erhalten Sie eine Bestätigung, mit
der Sie binnen vier Wochen im Reisezentrum einen Gutschein abholen können, der ein Jahr gültig ist. Gibt es
keinen Infopoint oder Bahnschalter, müssen Sie das
Ganze auf dem Postweg erledigen.
Hier setzt der Gesetzesentwurf an, in dem zukünftig die
gesamte Reisekette herangezogen wird und der Bahnkunde seine Entschädigung unkompliziert und auch in
bar erhalten kann. Außerdem können Fahrgäste auf eine
Fahrt verzichten und sich den vollen Preis erstatten lassen, wenn sich bereits im Vorfeld eine Verspätung von
60 Minuten abzeichnet.
Insbesondere Menschen auf dem flachen Land sollen
keine Nachteile erleiden müssen, wenn der letzte Anschlusszug aufgrund von Verspätungen nicht mehr erreicht werden konnte. Daher ist vorgesehen, dass bei Erfordernis Hotelunterkünfte zu gewährleisten sind oder die
Weiterfahrt mit einem Taxi ermöglicht wird. Darüber hinaus können ab 20-minütiger Verspätung auch höherwertige Züge genutzt werden, um noch möglichst pünktlich
anzukommen.
Wir werden mit dem Gesetzentwurf dafür Sorge tragen, dass Kundinnen und Kunden in Zukunft noch zuverlässiger und mit klarer geregelten Fahrgastrechten in den
Zug steigen können.
Nachdem wir uns vor Weihnachten im Bundestag mit
dem Antrag meiner Fraktion „Rechte von Bahnkunden
stärken“ befasst haben, geht es heute um den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Anpassung eisenbahnrechtlicher Vorschriften an die VO ({0}) Nr. 1371/2007
des Europäischen Parlaments und des Rates vom
23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der
Fahrgäste im Eisenbahnverkehr. Die Debatte im Dezember, bei der einige Kolleginnen und Kollegen ja bereits
auf den heute zu diskutierenden Gesetzentwurf eingegangen sind, hat doch eines ganz deutlich gemacht: Richtig
zufrieden mit dem Gesetzentwurf sind wir alle nicht. Warum machen wir es dann nicht besser?
Einigkeit besteht fraktionsübergreifend, dass die
Rechte von Bahnkunden gestärkt werden müssen. Es ist
daher gut und richtig, dass endlich Regelungen zur Entschädigung von Bahnkunden bei Verspätungen und Ausfall von Zügen gesetzlich festgeschrieben werden. Natürlich ist eine Fahrpreiserstattung nicht der einzige Weg,
dem Kunden zu seinem Recht zu verhelfen. Es ist aber ein
ganz wesentlicher. Und natürlich ist es unser aller
Wunsch, dass Verspätungen vermieden werden und die
Kunden möglichst immer pünktlich ihr Ziel erreichen.
Die Realität - das wissen wir - sieht aber anders aus.
Dann ist es schon entscheidend und für den Fahrgast
durchaus von großer Bedeutung, ob er erst bei einer Verspätung von 60 Minuten mit einer Entschädigung rechnen kann oder ob das Eisenbahnunternehmen bereits bei
einer Verspätung von 30 Minuten einen Teil des Fahrpreises zu erstatten hat. Auch der Bundesrat fordert ausdrücklich eine Regelung, die bereits ab 30 Minuten und
nicht erst ab einer Stunde greift.
Nun höre ich immer das Argument, eine solche - von
der FDP geforderte - Regelung würde die Einheitlichkeit
der Entschädigung bei grenzüberschreitendem und innerstaatlichem Verkehr verhindern. Im transnationalen
Schienenverkehr sei schließlich die EU-VO zwingend anzuwenden. Es sei doch niemandem zu vermitteln, warum
Zu Protokoll gegebene Reden
ein Bahnkunde, der die Strecke Paris-Köln fährt, anders
zu behandeln sei als derjenige, der von München nach
Hamburg unterwegs ist. Nun sieht aber Art. 17 Abs. 1 der
EU-VO zwingend für den grenzüberschreitenden Verkehr
lediglich Mindestentschädigungen bei Verspätungen vor.
Wer hindert uns daran, weitergehende, also über die Mindestentschädigung hinausgehende Regelungen zu treffen? Andere Mitgliedstaaten haben bereits seit langem
solche über Art. 17 Abs. 1 der EU-VO hinausgehenden
Regelungen und werden diese auch beibehalten. Lassen
Sie uns also gemeinsam noch einmal darüber nachdenken, ob wir hier nicht doch eine Lösung finden, die den
berechtigten Interessen der Bahnkunden besser gerecht
wird!
Wir sollten uns auch nicht von bisher nicht nachvollziehbar behaupteten Mehrkosten der Eisenbahnunternehmen abschrecken lassen. Hier geht es nicht um
„Wohltaten“ für die Verbraucher - so sieht das aber wohl
die Bundesministerin der Justiz, wenn man die Stellungnahme ihres Parlamentarischen Staatssekretärs im
Bundesrat liest -; hier geht es um effektiven Verbraucherschutz. In dem vom Bundesverkehrsministerium in Auftrag gegebenen Gutachten der Firma „Progtrans“ Bundestagsdrucksache 16/1484 - wird eine Kostenschätzung durchgeführt. Nach den dort geprüften Entschädigungsregelungen, die teilweise erheblich weiter gehen als
jetzt im Gesetzentwurf vorgesehen, würden die Kosten ohnehin pro Fahrgast und Strecke nur maximal 80 Cent im
Schienenpersonenfernverkehr und maximal 5 Cent im
Nahverkehr betragen.
Nachbesserungsbedarf gibt es darüber hinaus auch
bei einzelnen Regelungen im Nahverkehr, die dem Kunden bei Verspätung die Weiterfahrt durch Umsteigen auf
andere Züge bzw. die Kostenerstattung eines Taxis ermöglichen sollen, wenn er den letzten Anschlusszug verpasst hat. Hier muss wirklich durch unbürokratische Regelungen sichergestellt werden, dass der Kunde sein Ziel
schnell erreicht. Deshalb müssen wir noch darüber reden, ob es ausreicht, dass der Fahrgast zwar einen höherwertigen Zug benutzen darf, ihm dadurch aber zunächst
einmal weitere Kosten entstehen, die er dann wiederum
geltend machen muss. Das ist keine praxisnahe Lösung.
Auch ist den besonderen Bedürfnissen des ländlichen
Raumes Rechnung zu tragen. Da reicht zum Beispiel die
Erstattung für eine Taxifahrt in Höhe von 50 Euro oft
nicht aus, um endgültig an das gebuchte Ziel zu gelangen.
Lassen Sie uns in den Beratungen über den Gesetzentwurf gemeinsam nach praktikablen Lösungen suchen und
so ein wirklich verbraucherfreundliches Fahrgastrecht
schaffen!
Wir behandeln heute ein Thema, das längst in Sack und
Tüten sein müsste: die Stärkung der Rechte von Fahrgästen gegenüber Bus- und Bahnunternehmen für den Fall,
dass diese nicht so fahren, wie sie sollen: pünktlich, zuverlässig und schnell und vor allem zur geplanten Zeit am
Zielort ankommen.
Im Bereich der Fahrgastrechte wird der Bahnkunde zu
oft allein gelassen oder bürokratisch abgefertigt. Ziel des
Gesetzes ist es, genau dies zu ändern. Die Beförderungsbedingungen deutscher Bahnen stammen im Wesentlichen aus den 30er-Jahren und sind von hoheitlichem
Staatsgebaren und obrigkeitsstaatlichem Denken geprägt.
Sie passen längst nicht mehr in unsere Zeit. Dass es anders und besser geht, machen uns unsere Nachbarländer
vor. In Dänemark gilt bereits seit 1934 ein umfassendes
Fahrgastrecht. Es ist schon verwunderlich, dass es erst
einer Initiative der EU bedurfte, dienstleistungsorientiertes Kundendenken endlich auch im Schienenpersonenverkehr durchzusetzen. Man sollte nicht verschweigen,
dass viele Bahnunternehmen gestärkten Fahrgastrechten
immer noch reserviert bis ablehnend gegenüberstehen.
Der Vorschlag des Bundesrates sieht vor, schon ab
Verspätungen von 30 bzw. 60 Minuten anteilig Reisekosten zu erstatten, eine Forderung, der sich auch die meisten Fahrgast- und Verbraucherverbände angeschlossen
haben. Doch die Bundesregierung meint, dass den Kunden erst ab Verspätungen von 60 bis 120 Minuten der Reisepreis anteilig zu erstatten oder dem Fahrgast ein Rücktritt von der Reise einzuräumen sei - ganz nach den
Wünschen der Bahn. Dass jedoch auch schon 30- oder
60-minütige Verspätungen erhebliche Nachteile mit sich
bringen können, muss ich hier nicht extra ausführen. Jeder, der aus einem solchen Grund schon einmal einen Anschluss, einen wichtigen Termin oder Flug verpasst hat,
weiß das.
So kommt es mir schon befremdlich vor, wenn argumentiert wird, dass den Verkehrsunternehmen bei einer
strengen Verspätungsregelung Mehrkosten entstehen.
Diese würden sicherlich in die Fahrpreiskalkulation einfließen. Nach den dänischen Erfahrungen machen die
Mehrkosten nicht mehr als 1 Prozent aus, also sehr viel
weniger als etwa die jüngste Fahrpreiserhöhung der DB
AG. Und wenn die Bahnen, allen voran die DB AG, befürchten, dass die Erstattungskosten auf Dauer die Rendite eintrüben könnten, sollte man das einfach zum Anlass
nehmen, die Ursachen für die Verspätungen abzustellen.
In den letzten Jahren mehren sich die Klagen darüber,
dass Züge dem Fahrplan hinterherhinken, Anschlüsse
nicht funktionieren, ganze Züge ausfallen. Die Vernachlässigung des Gleisunterhaltes und der Abbau von Ausweichgleisen tragen mit zu den Verspätungen bei, wenn es
- jeder Bahnkunde kennt das - zu „Unregelmäßigkeiten
im Betriebsablauf“ kommt; Folgeerscheinungen der
Renditeorientierung der DB AG für den geplanten Börsengang, der zum Glück derzeit gestoppt ist. Die Konsequenzen dieser Bahnpolitik, bei der die Kundeninteressen
immer hinter den Renditen rangieren, hatten bisher immer nur die Reisenden zu tragen. Somit sind Erstattungsentgelte an Reisende für den Fall von Verspätungen, Zugausfällen und verpassten Anschlüssen auch ein Anreiz für
die Unternehmen, deren Ursachen zu analysieren und abzustellen. Wenn dem pünktlichen Betriebsablauf bei der
Bahn künftig mehr Aufmerksamkeit zuteil wird als der Sicherung eventueller künftiger Aktienkurse, ist das sicherlich im Interesse aller Schienenverkehrsbenutzerinnen
und -benutzer im Land.
Wichtig ist - das wird in der vorliegenden Begründung
zum Gesetzespaket angesprochen -, dass der Reisende
Zu Protokoll gegebene Reden
über seine Rechte auch ausführlich informiert wird. Falsche Auskunft muss ebenfalls, so sie denn Ursache für
versäumte Verbindungen und damit Verspätungen ist, ein
Grund sein, die Rechte des Reisenden auf Nachteilsausgleich zu begründen.
Wichtig ist der Linken, dass für den Streitfall klare Regelungen dafür getroffen werden, wie der benachteiligte
Fahrgast auch nachträglich zu seinem Recht kommt,
wenn vor Ort seine Probleme nicht gelöst werden können.
Hier haben Schlichtungsstellen, wie sie vom Verkehrsclub
Deutschland, VCD, in Nordrhein-Westfalen in vorbildlicher Weise initiiert wurden, eine große Aufgabe. Die Formulierung im vorliegenden Gesetzeswerk, dass Schlichtungsstellen eingerichtet werden können, reicht mir daher
nicht. Und vor allem: Schlichtungsstellen müssen unternehmensunabhängig und neutral sein. Dazu gehören
klare Regelungen, wie Schlichtungsstellen einzurichten
sind, wie diese personell zu besetzen sind und wie ihre Arbeit finanziert wird.
Natürlich wird die Schlichtungsstelle nicht jeden
Streitfall zwischen Kunde und Unternehmen gütlich regeln können. In solchen Fällen hat sich das Vorschalten
einer vorgerichtlichen Instanz wie Ombudsleuten in der
Versicherungswirtschaft bewährt. Diese müssen juristisch gebildet und mit entsprechenden Befugnissen ausgestattet sein, um Streitfälle vorgerichtlich klären zu können. Also auch hier bedarf es fixierter Regelungen. Das
sollte uns verbesserter Verbraucherschutz wert sein.
Auch Fachleute bestätigen die Richtigkeit eines solchen
Vorgehens. Transparenz und leichte Zugänglichkeit müssen gegeben sein. Es ist gesetzlich zu regeln, wie das zu
gewährleisten ist, etwa indem nach britischem Vorbild
ein Hinweis auf die Schlichtungsstelle auf jedem Fahrschein abgedruckt ist.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf die
Bundesratsinitiative hinweisen, ein Fernverkehrsgesetz
zu schaffen. Es wäre sehr erfreulich gewesen, wenn ein
solches auch ein Teil des Maßnahmepakets wäre, um die
Rechte der Fahrgäste zu verbessern.
Die Richtung, die mit der Stärkung der Rechte des
Fahrgastes eingeschlagen werden soll, ist richtig, aber
am Gesetzesbündel besteht noch großer Klärungsbedarf
im Detail. Die Linke will öffentliche Personenverkehre,
die sich an den Bedürfnissen der Nutzer ausrichten und
nicht dem Zwecke der Gewinnmaximierung der Konzerne
dienen. In diesem Sinne werden wir in der folgenden Beratung weitere Vorschläge unterbreiten.
Endlich hat die Bundesregierung es geschafft, einen
eigenen Gesetzentwurf zu Fahrgastrechten im Plenum
einzubringen. Viel länger hätte sie sich auch nicht Zeit lassen dürfen, sonst wäre die Bundesregierung von der am
3. Dezember in Kraft tretenden Verordnung 1371/2007
überholt worden. Viel mehr als die Verordnung bringt das
Gesetz ja eh nicht.
Zweidreiviertel Jahre nach dem von unserer Fraktion
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der
Fahrgastrechte zieht die Bundesregierung nach. Der
Qualität ihres Gesetzentwurfes hat es aber nicht geholfen. Da braucht man sich nicht einmal unserer Kritik anzuschließen. Es reicht, nachzulesen, was der Bundesrat in
seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung geäußert hat.
Der Gesetzentwurf enthält lediglich Regelungen zum
Eisenbahnverkehr. Die Fahrgäste im restlichen ÖPNV
bleiben weiterhin ohne Rechte. Mit der Regelung der
Fahrgastrechte im Allgemeinen Eisenbahngesetz und in
der Eisenbahn-Verkehrsordnung hat die Bundesregierung den Weg verbaut, Fahrgastrechte im ÖPNV einheitlich zu regeln. Besser wäre eine Verankerung im Bürgerlichen Gesetzbuch gewesen.
Die Einführung einer Bagatellgrenze hätte man sich
sparen können. Die Regelungen zur Fahrradmitnahme im
Eisenbahnfernverkehr erlauben es der Deutschen Bahn
AG, auch weiterhin Fahrräder im ICE auszusperren. Die
Erstattungsansprüche entstehen erst ab Verspätungen
von einer Stunde. Außerdem gibt es eine Menge Ausnahmen und Unklarheiten. Im Zweifel trägt das Verkehrsunternehmen gar keine Schuld. Das Informationsdefizit bei
erheblichen Verspätungen wird nicht behoben. Die Regelungen zur Nutzung anderer Züge im Verspätungsfall sind
nicht praxisgerecht.
Bizarr ist die ausdrückliche, aber abstrakte Erlaubnis
des Gesetzgebers für Fahrgäste, sich an eine Schlichtungsstelle wenden zu dürfen. Da die Schlichtungsstelle
vom Gesetzgeber nicht konkret ausgestaltet wird, ist der
Sinn und Zweck dieser Vorschrift nicht erkennbar. Es fehlt
eine bundeseinheitliche Schlichtungsstelle.
Für die Masse der regelmäßigen Kunden, die mit Zeitfahrausweisen unterwegs sind, sind keine klaren und einfachen Ansprüche vorgesehen.
Es bleibt festzuhalten: Der Gesetzentwurf kommt zu
spät und gewährt nicht die erhoffte Verbesserung der
Rechtsposition von Fahrgastrechten. Dem Ziel, Fahrgäste sicher und pünktlich zu befördern und im Falle von
Leistungsstörungen rechtsstaatlich und angemessen zu
entschädigen, wird der Gesetzentwurf nicht gerecht. Die
erheblichen Verzögerungen des Verkehrs- und Justizministeriums haben sich für Verbraucherinnen und Verbraucher nicht ausgezahlt. Das Verbraucherministerium
ist völlig eingeknickt und hat die vollmundigen Versprechen - 20 Prozent Erstattung bei 30 Minuten Verspätung wieder nicht gehalten. Statt überfällige Rechte zu erhalten, werden Fahrgastrechte mit Minimalzugeständnissen
abgespeist.
Es bleibt zu hoffen, dass das Struck’sche Gesetz auch
für diesen Gesetzentwurf gilt.
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung eisenbahnrechtlicher Vorschriften an die EG-Verordnung über
die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr wird ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der
Rechte der Bahnkunden geleistet. Denn mit dem Gesetz
sollen die Regelungen der EG-Verordnung, die unter
deutscher Ratspräsidentschaft zustande gekommen ist,
Zu Protokoll gegebene Reden
noch vor ihrem Inkrafttreten im Dezember 2009 in
Deutschland angewendet werden. Außerdem sollen für
Fahrgäste im Schienenpersonennahverkehr Sonderregeln erlassen werden, soweit die EG-Verordnung keine
passenden Lösungen bereithält.
Im Einzelnen sieht der Gesetzentwurf für Fahrgäste im
Schienenverkehr insbesondere folgende Verbesserungen
vor: Der Fahrgast erhält bei Zugverspätungen einen gesetzlichen Anspruch auf eine sogenannte Fahrpreisentschädigung, und zwar bei einer Verspätung ab
60 Minuten 25 Prozent des Fahrpreises und bei einer
Verspätung ab 120 Minuten 50 Prozent des Fahrpreises.
Vor allem in dem Fall, dass wegen einer Verspätung der
ursprünglich vorgesehene Anschlusszug verpasst wird,
führt dies zu einer spürbaren Verbesserung der geltenden
Rechtslage.
Bei Fahrten im Nahverkehr, bei denen eine Fahrpreisentschädigung wegen der vergleichsweise niedrigen
Fahrpreise für den Fahrgast ohnehin nicht sehr attraktiv
ist, erhält der Fahrgast außerdem das Recht, ab einer
Verspätung von 20 Minuten mit einem anderen Zug, unter
Umständen auch mit einem Fernverkehrszug, zu fahren.
Bei einer Verspätung zur Nachtzeit oder einem Ausfall
des letzten Zuges wird dem Fahrgast sogar das Recht eingeräumt, unter bestimmten Voraussetzungen ein Taxi zu
verwenden und den Ersatz der notwendigen Fahrtkosten
bis zu einem Betrag von 50 Euro zu verlangen.
Im Falle der Tötung oder Verletzung eines Fahrgasts
wird das Eisenbahnunternehmen verpflichtet, einen Vorschuss zu zahlen.
Zur Verbesserung der Rechte von Behinderten werden
außerdem alle Eisenbahnunternehmen verpflichtet, gemeinsam mit Behindertenverbänden Zugangsregelungen
zu erstellen, also Regelungen darüber, wie etwa der
Bahnsteig oder der Zug auch mit einem Rollstuhl erreicht
werden kann.
Geregelt wird weiter, wie die Eisenbahnunternehmen
ihre Kunden vor Vertragsschluss und bei der Beförderung
zu informieren haben. Hierzu zählen etwa Informationen
darüber, welches die kürzeste und preisgünstigste Zugverbindung ist, welche Rechte der Fahrgast hat und ob
der Zug Verspätung hat.
Die Einhaltung der Regelungen soll durch die Eisenbahnaufsichtsbehörden überwacht werden. Diese sollen
auch für die Bearbeitung von Beschwerden zuständig
sein, die Fahrgäste einreichen wollen, wenn sie von einem Eisenbahnunternehmen nicht zufriedenstellend behandelt worden sind.
Zusätzlich bleibt die Möglichkeit bestehen, dass sich
die Fahrgäste zur Beilegung von Streitigkeiten auch an
eine geeignete Schlichtungsstelle wenden. Dies wird ausdrücklich gesetzlich festgeschrieben.
Ich freue mich, dass auch der Bundesrat die mit dem
Gesetzentwurf vorgesehene Verbesserung der Fahrgastrechte begrüßt hat. Umso mehr bedauere ich, dass der
Bundesrat die Auffassung vertritt, der Gesetzentwurf berücksichtige die Belange der Fahrgäste noch nicht hinreichend. Ich teile diese Auffassung nicht. Vielmehr bin ich
der festen Überzeugung, dass mit dem Gesetzentwurf eine
faire Balance zwischen der finanziellen Belastbarkeit und
der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Eisenbahnverkehrsunternehmen und den schutzwürdigen Interessen
der Fahrgäste erzielt wird. Eine Ausweitung der Fahrgastrechte, die letztlich zu Fahrpreiserhöhungen oder erhöhtem Subventionsbedarf führt oder die Verkehrsunternehmen veranlasst, bestimmte Leistungen gar nicht mehr
anzubieten, sollte vermieden werden. Solche Regelungen
wären letztlich auch nicht im Interesse der Verbraucher.
Wir sollten jetzt alles daransetzen, schnellstmöglich
die Rechte der Fahrgäste im Schienenverkehr zu verbessern. Dem dient der vorliegende Entwurf. Er sorgt dafür,
dass der Fahrgast besser geschützt wird und für erlittene
Unbill eine angemessene Entschädigung erhält. Damit
trägt er dazu bei, dass Bahnfahren attraktiver wird. Und
genau das wollen wir mit dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf erreichen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11607 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU, der SPD
und der FDP wünschen Federführung beim Rechtsausschuss, die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen wünschen Federführung beim Ausschuss für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt,
und zwar mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der FDP gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP abstimmen, also Federführung beim Rechtsausschuss. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser Vorschlag ist mit
umgekehrtem Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra
Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
V-Leute in der NPD abschalten
- Drucksachen 16/9007, 16/11731 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingo Wellenreuther
Gabriele Fograscher
Ulla Jelpke
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Ingo Wellenreuther von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Die NPD ist eine antisemitische, extremistische und rassistische Partei mit 7 000 Mitgliedern,
die die freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnt, die parlamentarische Demokratie beseitigen
möchte und darauf aus ist, die BRD „abzuwickeln“. Darüber besteht - auf Grundlage dessen, was wir gerade
durch die V-Leute über die NPD wissen - unter den demokratischen Parteien Einigkeit. Eine solche Partei, die
den Nazijargon verwendet, die die Nazidiktatur verehrt,
die also den Ursprung des größten Verbrechens der Menschengeschichte verherrlicht und deren Mitglieder Hitler
als großen Staatsmann preisen und den Holocaust leugnen, muss von allen demokratischen Kräften geächtet
werden, und über ihre perfide Hetze muss die Bevölkerung, gerade die junge Generation, aufgeklärt werden,
um die NPD zu schwächen und zurückzudrängen.
Die heutige Debatte hat einen Antrag zum Gegenstand, der auf die Abschaltung der V-Leute in der NPD
abzielt. Dieser Antrag kann nicht isoliert behandelt werden. In Wahrheit geht es nämlich um die Frage, ob ein
erneutes Parteiverbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel, die NPD als Partei verbieten
zu lassen, Aussicht auf Erfolg hätte. Wir müssen uns
deshalb fragen: Ist ein Verbot der NPD unter den tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten überhaupt möglich, und - wenn ja - ist dies auch sinnvoll, oder ist der
Preis dafür zu hoch? Dazu ist es nötig, zunächst die Entstehungsgeschichte des Parteienverbots im Grundgesetz
kurz zu beleuchten.
Das Ziel der Väter des Grundgesetzes war es, eine
freiheitlich-demokratische Grundordnung auf Dauer zu
etablieren. Dies setzt einen ungehinderten Wettbewerb
von politischen Ideen und Meinungen voraus. Die Parteien sollen Einfluss auf die politische Willensbildung
des Volkes nehmen und die Vertretung des Volkes in den
Parlamenten zum Ziel haben. Das Verbot einer Partei
stellt deshalb einen schwerwiegenden Eingriff in die Offenheit und in die Freiheit des politischen Prozesses dar.
Dennoch entschied sich der Verfassungsgeber für die
Möglichkeit eines Parteiverbots im Grundgesetz aufgrund der im letzten Jahrhundert gemachten Erfahrungen.
Die Berechtigung eines Parteiverbots ergibt sich daraus, dass eine auf Dauer angelegte freiheitliche Grundordnung nicht die Freiheit gewährleisten darf, die Voraussetzungen der Freiheit zu beseitigen. Die Parteienfreiheit
soll also nicht dazu missbraucht werden können, die
Freiheit anderer zu zerstören. Schlagwortartig kann man
sagen: Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit.
Entsprechend der hohen Bedeutung, die das Grundgesetz der Freiheit des politischen Prozesses beimisst, sind
allerdings die Maßstäbe, die Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes an ein Parteiverbot anlegt, sehr streng. Das Entscheidungsmonopol darüber obliegt dem Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht darf ein
Verbot nur dann aussprechen, wenn eine Partei nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf
ausgerichtet ist, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder den Bestand der BRD
zu gefährden.
Die Partei muss entweder planvoll die Grundfesten
unserer Demokratie wie die Achtung der Menschenrechte, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung oder
das Mehrparteienprinzip beeinträchtigen mit dem Ziel,
im weiteren Verlauf diese Ordnung selbst zu beseitigen,
oder sie muss die territoriale Integrität, die politische
Unabhängigkeit unseres Staates gefährden. Es muss außerdem eine aktive kämpferische, aggressive Haltung
hinzukommen, und zwar zum Zeitpunkt der Entscheidung und nicht nur zum Zeitpunkt der Antragstellung.
Im Übrigen muss das Verhalten der Parteianhänger der
Partei zugerechnet werden können.
Das sind äußerst hohe Hürden, die angesichts unserer
Geschichte und der Bedeutung eines freien politischen
Prozesses gerechtfertigt sind. Um mit einem Verbotsantrag vor dem Bundesverfassungsgericht Erfolg zu haben,
muss man das Vorliegen der genannten Tatbestandsmerkmale zweifelsfrei nachweisen können.
Die erste Schwierigkeit dabei besteht darin, nachzuweisen, dass die NPD die Ordnung des Grundgesetzes
nicht nur theoretisch, sondern aktiv-kämpferisch ablehnt
und dass sie dabei mit der Androhung von Gewalt vorgeht. Entgegen der Auffassung der Antragsteller genügt
es aber nicht, lediglich offenes Material vorzulegen, also
Erklärungen der NPD in ihrem Parteiprogramm, in ihrer
Parteizeitung, in gedrucktem Schulungsmaterial oder in
öffentlichen Äußerungen ihrer Spitzenfunktionäre. Denn
die NPD würde sich während eines erneuten Verbotsverfahrens wieder als brave, friedliche und demokratische
Opposition in der Öffentlichkeit gerieren. Gerade deshalb benötigt man Informationen aus der Partei selbst.
Um an diese Informationen aus dem Innern der Partei zu
gelangen, bedarf es des Einsatzes der V-Leute.
Genau hierin liegt das Dilemma. Denn nach den vom
BVG aufgestellten Prozessvoraussetzungen dürfen die
Informanten in der Partei selbst nicht unmittelbar vor
und während des Verbotsverfahrens auf der Leitungsebene Informationen sammeln. Auch auf Quellen außerhalb des Vorstandes, die Einfluss auf die Willensbildung
und die Selbstdarstellung der Partei haben, darf die Antragsbegründung nicht gestützt werden. Die Verfassungswidrigkeit muss aber zum Zeitpunkt der Entscheidung gegeben sein, nicht zum Zeitpunkt des Antrages.
Ich habe gerade schon darauf hingewiesen.
Insoweit besteht allein deshalb ein kaum lösbarer
Teufelskreis. Soll nämlich ein Verbotsantrag gestellt
werden, müssen die Informanten abgezogen werden.
Soll der Antrag Erfolg haben, müssen aber auch Informationen aus der Partei selbst verfügbar sein.
({0})
- Ich habe ihn gelesen und sogar verstanden.
({1})
- Teilweise. Da haben Sie recht, Herr Bürsch.
Ein zweites Problem besteht in der Pflicht zur Offenlegung der Quellen im Verbotsverfahren. Hieraus ergeben sich enorme Schwierigkeiten aufgrund des Quellenschutzes. Denn es ist problematisch, geheime Quellen in
die öffentlichen Verhandlungen einzubeziehen und der
Gegenseite bekannt zu geben. Die Enttarnung von geheimen Quellen brächte erhebliche Gefahren für Leib und
Leben der Informanten mit sich.
Drittens ergeben sich Schwierigkeiten auch mit Blick
auf die materielle Rechtslage. Es ist also durchaus wahrscheinlich, dass die Messlatte für die Anforderungen eines Parteiverbotes in unserer stabileren Demokratie in
der heutigen Zeit deutlich höher gelegt würde als bei
dem Verbot der Sozialistischen Reichspartei 1952 oder
dem Verbot der KPD 1956.
In Anbetracht dieser Umstände liegt ein Scheitern eines erneuten NPD-Verbotsantrages auf der Hand. Es ist
äußerst zweifelhaft, ob ausreichend verwertbare Beweise zusammengetragen werden könnten. Ich bin der
festen Auffassung, dass wir dieses Risiko nicht eingehen
können. Der Schaden, der im Falle eines Scheiterns für
unsere Demokratie entstehen könnte, wöge erheblich
schwerer, als wenn unsere Demokratie die NPD, beobachtet vor allem durch V-Leute, ertragen muss.
Jedenfalls wären wir von allen guten Geistern verlassen, wenn wir eine kostenlose Werbekampagne zugunsten der NPD starteten. Genau auf diesen Effekt hatte der
Vorsitzende der NPD in der Welt vom 12. Februar 2005
hingewiesen.
Herr Kollege Wellenreuther, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bürsch?
Ich bin gleich fertig. Wir können das vielleicht im
Anschluss klären.
({0})
- Ja.
Was Sie hier vortragen, kann entweder Ihre eigene
Meinung oder die Gesamtmeinung der Fraktion sein.
Frage also: Ist das, was Sie hier wiedergeben, die Meinung der CDU und auch der CSU unter ihrem neuen
Vorsitzenden?
Sie können davon ausgehen, dass meine Meinung in
aller Regel auch die Meinung der Fraktion ist bzw. umgekehrt.
({0})
In diesem speziellen Fall ist das die gesamte Meinung
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
({1})
Unabhängig von der rechtlichen Bewertung bestehen
zudem erhebliche Zweifel, ob ein erfolgreiches Verbotsverfahren sinnvoll wäre; denn ein Parteiverbot führt zu
einem Organisations-, nicht aber zu einem Gedankenverbot. Mit dem Verfahren kann man also zwar die Partei
verbieten, nicht aber die verfassungsfeindliche und extremistische Geisteshaltung ihrer Parteianhänger.
Deshalb sollte unser Hauptaugenmerk darauf liegen,
in der politischen Bildung über die Geschichte Deutschlands und in der Aufklärung über die Gefahren des Extremismus nicht nachzulassen. Allerdings sollten wir
den Vorschlag des niedersächsischen Innenministers
Schünemann ernsthaft weiterverfolgen, festzustellen, ob
auch ohne ein Parteiverbotsverfahren rechtliche Möglichkeiten bestehen, der NPD den staatlichen Geldhahn
zuzudrehen.
({2})
Es ist nämlich in der Tat eine schwer zu ertragende Tatsache, dass die Verbreitung rechtsextremistischen Gedankenguts mit Staatsgeldern in Höhe von jährlich rund
1,5 Millionen Euro finanziert wird. Auch wenn dieser
Ansatz - ich komme damit auf das zurück, was Sie gerade eingeworfen haben - schwierige rechtliche Fragen
aufwirft, sollten wir ihn trotzdem intensiv prüfen, um die
NPD möglicherweise auf diese Art trockenlegen zu können.
Wenn aber ein Verbotsverfahren keine Aussicht auf
Erfolg hat, dann gibt es keinen Grund, die V-Leute aus
der NPD abzuziehen. Der Einsatz von V-Leuten hat
nämlich einen großen Vorteil. Er liefert wichtige Erkenntnisse, die über die offen beschaffbaren Informationen hinausgehen - gerade auch über das gewaltbereite
Spektrum der neonazistischen Szene, die mit der NPD
eng verflochten ist. Ein Abziehen der V-Leute würde daher zu inakzeptablen Sicherheitslücken führen. Deshalb
lehnen wir den Antrag der Fraktion der Linken ab.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Christian Ahrendt von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will es vorweg sagen: Wir werden den Antrag
der Linken ablehnen. Drei Gründe sprechen dafür, diesem Antrag nicht zu folgen. Ich will sie kurz erläutern:
Erster Grund. Wir haben nach wie vor eine gewaltbereite Neonaziszene. Die Neonaziszene ist mit der NPD
vernetzt. Vor diesem Hintergrund brauchen wir die Aufklärung durch V-Leute aus der Szene heraus. Wer sich an
den Versuch eines Attentats auf das Gemeindezentrum in
München 2003 erinnern kann, wird wissen, dass dieser
Attentatsversuch in erster Linie unter Mitwirkung von
V-Leuten verhindert werden konnte. Angesichts dessen
können wir nicht über Jahre darauf verzichten, V-Leute
im rechtsradikalen Bereich zu haben.
Damit bin ich beim zweiten Punkt. Wer jetzt glaubt,
dass der Abzug von V-Leuten dazu führt, automatisch
ein neues NPD-Verfahren durchzuführen, muss sich bewusst machen, dass das Material, das jetzt gesammelt
worden ist, nach wie vor nicht brauchbar ist. Es muss
neues Material gesammelt werden - und dies über Jahre.
Das heißt, es ergäbe sich ein großer Zeitraum, in dem
diese verfassungsfeindliche Organisation weitestgehend
unbeobachtet bliebe.
In diesem Zusammenhang wird man sich zum anderen klarmachen müssen, dass sich die NPD anpassen
wird - diese Taktik ist nach dem gescheiterten Verbotsverfahren deutlich geworden -, um einem drohenden
neuen Verbotsverfahren zu entgehen. Auch insofern ist
klar, dass ein Abschalten der V-Leute nicht zwingend zu
einem erfolgreichen Verbotsverfahren führt. Eine erneute Bauchlandung bei diesem Thema in Karlsruhe
kann man sich schlichtweg nicht leisten.
({0})
Damit komme ich zum dritten und entscheidenden
Punkt, der in der Diskussion immer vergessen wird: Wer
glaubt, ein Verbot der NPD führe dazu, dass man auch
die Gesinnung, die dahintersteht, verbieten könne, der
irrt.
({1})
Nach dem Attentat auf den Passauer Polizeichef, Herrn
Mannichl, haben alle geschrien: Wir brauchen ein NPDVerbot. - Das erweckt den Eindruck, dass es zu diesem
Attentat nicht gekommen wäre, wenn man die NPD verboten hätte. Völliger Blödsinn! Tatsache ist - und das ist
das Entscheidende -, dass Sie die Gesinnung bekämpfen
müssen. Dazu ist die Politik aufgefordert. Dafür brauchen Sie andere Instrumente, beispielsweise das Programm „Exit“. Die FDP-Fraktion hat in den letzten Wochen gezeigt, dass sie sich dieser Aufgabe intensiv
annimmt und nicht ständig mit denselben Sachen kommt.
({2})
Es gibt im Übrigen keine einheitliche politische Willensbildung. Mit dem Antrag laufen Sie ins Leere. Sie
wissen, dass Sie die Mitwirkung der Innenminister brauchen. Solange die Innenminister der Länder nicht bereit
sind, ihre V-Leute aus der NPD abzuziehen, wird sich an
der Situation nichts ändern. Insofern ist dies nicht das
richtige Haus für Ihren Antrag. Wir bleiben bei unserer
Ablehnung.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Kollege Michael Bürsch von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die wertvollste Ressource, über die wir verfügen, ist die
Zeit. Deshalb fasse ich mich ganz kurz, halte keinen Seminarvortrag über die Voraussetzungen für ein NPDVerbot und nenne keine drei Gründe, die dafür oder dagegen sprechen, sondern bleibe sehr pragmatisch.
Es gibt einen schlichten Grund, den Antrag der Linken abzulehnen: Mit ihm wird das Pferd von hinten aufgezäumt. Wenn ich einen Vergleich aus dem Fußball verwenden darf: Das ist so, als ob Sie entscheiden würden,
wen Sie auf den Platz schicken oder vom Platz nehmen,
obwohl Sie noch gar nicht entschieden haben, ob Sie
überhaupt spielen wollen. Es geht erst einmal darum,
festzustellen, ob die Bereitschaft besteht, erneut einen
NPD-Verbotsantrag zu stellen, und ob die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Der Innenminister des Bundes und
die Innenminister der Länder müssen sich darüber klar
werden, ob die Fallsammlung, die zusammengestellt
worden ist, genügend Anhaltspunkte bietet, um einen
Antrag zu stellen. Nachdem man die Fakten und Fälle,
die gesammelt worden sind, bewertet hat - dazu fordere
ich die Innenminister an dieser Stelle auf - und entschieden hat: „Jawohl, wir wollen einen Antrag stellen“, kann
man sich mit den Fragen beschäftigen, ob das mit oder
ohne V-Leute geht und welche Voraussetzungen erfüllt
werden müssen. Diese Forderung jetzt zu stellen, ist
- Entschuldigung - blanker Aktionismus, der eine klare
politische Linie vermissen lässt. Insofern lehnen wir den
Antrag ab.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Gert Winkelmeier.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! An
meinen Vorredner richte ich die Worte: Ihr eigener ehemaliger Vorsitzender hat sich dafür ausgesprochen, die
NPD zu verbieten. So widersprüchlich sind die Aussagen der Sozialdemokraten zu dieser Sache.
({0})
Im September 2000 waren sich alle im Bundestag
vertretenen Parteien einig: Die Zunahme rechtsextremistischer Gewalt muss politische Konsequenzen haben.
Was dann folgte, ist bekannt: Sehr schnell, viel zu
schnell, mündete die Debatte in die Forderung, die NPD
zu verbieten.
({1})
Das Ende des Verfahrens beim Bundesverfassungsgericht war verheerend für die deutsche Politik. Die Öffentlichkeit hatte den Eindruck, dass die NPD von staatlich finanzierten V-Leuten geführt wird.
Wir sind uns einig, dass ein NPD-Verbot das rechtsextreme und fremdenfeindliche Gedankengut nicht aus
den Köpfen treiben wird. Aber es wird schwerer, die
menschenverachtenden Theorien in der Bevölkerung zu
verbreiten. Seit dem ersten Verbotsverfahren wissen wir:
Die V-Leute in den Führungsgremien der NPD müssen
abgeschaltet werden, weil sonst Beweise für ein Verbot
juristisch keinen Bestand haben werden. Hier halte ich
es mit August Bebel, der sagte: Schaut den Politikern
nicht so sehr aufs Maul, schaut ihnen auf die Hände.
Mit anderen Worten: Was wird konkret für die Einleitung eines Verbotsverfahrens getan? Kollege Edathy kritisiert den Antrag der Linken, in dem die Abschaltung
der V-Leute gefordert wird, als polemisch und undifferenziert. Wo aber ist der unpolemische und differenzierte
Antrag der Koalition? Er existiert nicht.
({2})
Herr Seehofer stellt in Aussicht, dass der bayerische
Verfassungsschutz die V-Leute aus der NPD abzieht,
aber sein Innenminister macht genau das Gegenteil. Entscheidend ist, was der Bundesinnenminister und seine
Länderkollegen wirklich tun. Das ist zu wenig und legt
den Schluss nahe, dass die NPD geduldet werden soll. In
Erinnerung an die Große Anfrage der Linksfraktion aus
dem Frühjahr 2007 muss man sich ohnehin fragen, welche Informationen geliefert werden. Zitat:
Hierzu liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor.
Wenn die Antwort stimmt, dann leisten die V-Leute
überflüssige Arbeit. Man könnte sie also getrost abschalten und ein neues Verfahren gegen die verfassungswidrige NPD anstrengen.
Wen schützt eigentlich der Verfassungsschutz? Die
Verfassung? Die Inkompetenz der Bundesregierung?
Oder gar die NPD vor einem Verbot? Es ist eine unerträgliche Vorstellung, dass wesentliche Mitglieder der
NPD-Führungsspitze mit Steuergeldern bezahlt werden.
Es ist schon ärgerlich genug, dass man dieser Partei, die
rassistisches Gedankengut vertritt, Wahlkampfkosten erstatten muss. Ihr aber noch freiwillig Zahlungen zu geben, widerspricht dem Geist unserer Verfassung.
Selbstverständlich brauchen wir mehr als ein Parteiverbot, um Rechtsextremismus, Menschenverachtung
und Rassismus in unserer Gesellschaft Einhalt zu gebieten. Aber wir sollten diesen rechten Gesinnungstätern
nicht auch noch das Geld hinterherwerfen. Deshalb: Ziehen Sie endlich die V-Leute aus den Führungsgremien
der NPD! Investieren Sie das Geld in sinnvolle Dinge,
zum Beispiel in die politische Prävention,
({3})
die Jugendliche gegenüber faschistischem Gedankengut
immuner macht.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Jelpke von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat
wollen wir die V-Leute abschalten, um den Weg für ein
Verbotsverfahren möglich zu machen. Das ist völlig
richtig. Herr Ahrendt, niemand in der Linkspartei glaubt,
dass man damit in den Köpfen Veränderungen auslösen
kann. Wir glauben, dass man so einer Partei, die keine
Meinung vertritt, sondern die in ihren Gewalttaten und
in dem, was sie propagiert, verbrecherisch ist, die Basis
entziehen muss. Sie ist in Parlamenten, bekommt Parteienfinanzierung - im Jahr etwa 2 Millionen Euro - und
hat vor allen Dingen auch durch ihre Präsenz nicht nur in
den Landtagen, sondern auch auf Bezirksebene eine
enorme Akzeptanz gewonnen. Die Entziehung der Basis
ist unser Ziel.
Dass man mit Aufklärungsarbeit in den Köpfen Veränderungen herbeiführen muss, ist das Einmaleins der
Überzeugungsarbeit. Jetzt haben Herr Wellenreuther und
auch Herr Ahrendt das Argument - wir hören das auch
immer wieder von den Innenministern, von Unionspolitikern und vor allen Dingen von Herrn Schäuble - genannt, dass die Erkenntnisse, die V-Leute innerhalb der
rechtsextremistischen Szene gewinnen, von hoher Bedeutung und Wichtigkeit sind. Nun dürften gerade die
Mitglieder des Innenausschusses wissen, dass wir schon
unzählige Male danach gefragt haben, wo denn die
V-Leute tatsächlich für Aufklärung sorgen. Wo wurden
beispielsweise Straftaten oder Anschläge durch V-Leute
verhindert? Ich finde es höchst interessant, dass ich mich
hier diesmal - dies sage ich insbesondere an die bayerischen Kollegen - gemeinsam mit Herrn Seehofer auf einer Ebene befinde.
({0})
Er hat beim Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz genau nachgefragt. Als Antwort wurde ihm gesagt, dass man ihm darüber keinerlei Informationen geben könne.
({1})
Um ein NPD-Verbotsverfahren zu ermöglichen, hat er
sich dafür ausgesprochen, die V-Leute aus der NPD abzuziehen. Unabhängig davon, was seine Begründung
war, bin ich in der Tat der Meinung, dass er das richtig
erkannt hat.
({2})
Sogar das Bundesverfassungsgericht hat schon einmal
festgestellt - darauf wurde bereits hingewiesen, und an
dieser Stelle widerspreche ich Ihrer Analyse, Herr
Wellenreuther -: Wir wissen nicht mehr, wer die Geführten und wer die Verführten sind.
({3})
Einzelne Richter haben damals sogar gesagt, man müsse
sich die Frage stellen: Wen soll man eigentlich zuerst
verbieten, den Verfassungsschutz oder die NPD?
({4})
Das Bundesverfassungsgericht hat aufgedeckt,
({5})
dass manche Hetzschriften der NPD, beispielsweise ihr
Antisemitismusprogramm - ich kann Ihnen gerne einmal
vorlegen, was uns damals gesagt worden ist -,
({6})
von einem V-Mann geschrieben wurden. Genau deswegen hat das Bundesverfassungsgericht gefordert, zumindest die V-Leute in den führenden Gremien abzuschalten.
({7})
Das ist nämlich die Voraussetzung, um ein Verbotsverfahren durchführen zu können.
({8})
So viel zum Material.
All die Dokumente, die wir einsehen können - das
kann man ruhig sagen -, kann man sich aus dem Internet
herunterladen.
({9})
Die Innenminister haben sich keine besonders große
Mühe gegeben. In einem Punkt sind sich aber alle einig:
Wenn man - unabhängig davon, ob man dafür oder dagegen ist - ein NPD-Verbotsverfahren durchführen will,
dann muss man die V-Leute abschalten. Man braucht sowieso zwei Jahre, um sicherzustellen, dass kein verseuchtes Material vorliegt - das meine ich wortwörtlich -, sodass man ein Verbotsverfahren durchführen kann.
({10})
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Bis heute ist die Anwesenheit von V-Leuten in der NPD das größte Hindernis
für ein Verbotsverfahren. Wenn die Tatsache, dass der
Staat V-Leute in der NPD bezahlt, als Legitimation herangezogen wird, um ein NPD-Verbotsverfahren zu verhindern, ist das ein großes Armutszeugnis.
Zur SPD. Herr Edathy ist heute nicht da.
Frau Kollegin Jelpke.
Ich komme gleich zum Schluss.
({0})
Da er unseren Antrag der Presse gegenüber als polemisch und undifferenziert bezeichnet hat, frage ich Sie:
Welche Initiativen haben Sie denn ergriffen?
({1})
Frau Kollegin Jelpke, bitte kommen Sie zum Schluss.
Bei jeder Gelegenheit fordern Sie in der Öffentlichkeit das NPD-Verbot. Das ist völlig unglaubwürdig. Ich
fordere Sie im Namen der 175 000 Menschen, von denen
bereits die Rede war - auch das ist nämlich eine Basis,
die das NPD-Verbotsverfahren befürwortet -, und angesichts der Ergebnisse der Bevölkerungsumfragen auf:
Schalten Sie die V-Leute in der NPD endlich ab! Dann
können wir diese Diskussion vernünftig fortsetzen.
({0})
Die Rede der Kollegin Monika Lazar von Bündnis 90/
Die Grünen nehmen wir zu Protokoll.1)
Ich schließe die Aussprache.
1) Anlage 6
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „V-Leute in der NPD
abschalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11731, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9007 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke und Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 sowie Zusatzpunkt 5 auf:
18 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie ({0})
- Drucksache 16/11642 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Finanzausschuss
ZP 5 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung erstinstanzlicher Zuständigkeiten des Oberlandesgerichts in aktienrechtlichen Streitigkeiten
- Drucksache 16/9020 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Kolleginnen und Kollegen Elisabeth WinkelmeierBecker von der CDU/CSU-Fraktion, Klaus Uwe
Benneter, SPD, Mechthild Dyckmans, FDP, Wolfgang
Nešković, Die Linke, Dr. Gerhard Schick, Bündnis 90/
Die Grünen, und den Parlamentarischen Staatssekretär
Alfred Hartenbach für die Bundesregierung.
Wir beraten heute zwei Gesetzentwürfe, die im engen
Zusammenhang zu sehen sind. Lassen Sie mich zunächst
auf den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf
eines Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie, ARUG, eingehen.
Mit der Umsetzung der „Richtlinie 2007/36/EG über die
Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften“ wird die grenzüberschreitende
Information und Stimmrechtsausübung der Aktionäre
erleichtert. Weitere Ziele des Gesetzentwurfs sind die
Erhöhung der Hauptversammlungspräsenzen und eine
Neuordnung der Einberufung. Außerdem sind eine
Erleichterung der Stimmrechtsvertretung durch die
Banken vorgesehen sowie die Konkretisierung und Beschleunigung des Freigabeverfahrens, um sogenannten
„räuberischen Aktionären“ das Handwerk zu legen. In
diesem Zusammenhang werde ich später auch auf den
Gesetzentwurf des Bundesrates zur Einführung erstinstanzlicher Zuständigkeiten des Oberlandesgerichts in
aktienrechtlichen Streitigkeiten zu sprechen kommen.
Doch zunächst zum ARUG: Der Entwurf soll das deutsche Aktienrecht insgesamt weiter modernisieren und
deregulieren. Diese Zielsetzung begrüße ich ganz ausdrücklich, denn gerade mit Blick auf die weltweite Krise
der Finanzmärkte stärkt ein modernes und gut praktikables Aktienrecht den Finanzplatz Deutschland und ist ein
wichtiger Standortfaktor für die deutsche Wirtschaft.
Zu den Regelungen im Einzelnen. Ein wichtiger Punkt
sind die geplanten Maßnahmen gegen missbräuchliche
Aktionärsklagen. Der Frankfurter Rechtswissenschaftler
Theodor Baums geht von derzeit circa 40 sogenannten
Berufsklägern in Deutschland aus, die sich den Umstand
zunutze machen, dass die Eintragung eines Hauptversammlungsbeschlusses in der Regel ausgesetzt wird,
wenn er mit einer Klage angefochten wird. Klagebefugt
ist jeder Aktionär, selbst wenn er nur eine einzige Aktie
besitzt. Hat die Hauptversammlung eine Umstrukturierung oder Kapitalerhöhung beschlossen, muss diese bis
zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage auf Eis
gelegt werden. Um das Unternehmen nicht über Monate
oder gar Jahre zu lähmen, kaufen die Gesellschaften den
Aktionären die Klagen regelrecht ab.
Bereits 2005 sind mit dem Gesetz zur Unternehmensintegrität und zur Modernisierung des Anfechtungsrechts
- kurz UMAG - erste Regelungen zur Bekämpfung speziell dieses Phänomens eingeführt worden. Neue wissenschaftliche Studien belegen zwar, dass die im Rahmen des
UMAG eingeführten Einzelmaßnahmen Wirkung zeigen;
in Anbetracht der weiterhin und zahlenmäßig sogar noch
vermehrt auftretenden Missbrauchsfälle ist es aber unerlässlich, insbesondere die Freigabeverfahren fortzuentwickeln und zu präzisieren. Denn auch bis zum Abschluss
des als Eilverfahren gedachten Freigabeverfahrens über
zwei Instanzen können derzeit leicht sechs und mehr
Monate vergehen, in denen das Unternehmen handlungsunfähig bleibt.
Der Gesetzentwurf sieht daher vor, das Freigabeverfahren weiter zu beschleunigen. Nach der Entscheidung in
erster Instanz soll das Verfahren in der Regel beendet sein.
Eine Beschwerde gegen die erstinstanzliche Entscheidung
soll es nur dann geben, wenn der Richter diese wegen
grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassen hat. Die
grundsätzliche Beschränkung des Freigabeverfahrens
auf eine Instanz findet allgemein Zustimmung. Allerdings
gibt der Bundesrat zu bedenken, die Ansiedlung der Verfahren beim Landgericht sei nicht effektiv. Hierdurch
werde die Gefahr begründet, dass sich Hauptsache- und
Freigabeverfahren gegenläufig entwickelten. Das Risiko
für die Unternehmen, dass das Landgericht im Freigabeverfahren eine Rechtsfrage anders beurteile als das Oberlandesgericht in der Hauptsache, spiele unmittelbar in die
Hände der Berufskläger, die sich diese Rechtsunsicherheit
zur Durchsetzung ihrer eigenen finanziellen Interessen
zunutze machen könnten. In seinem Gesetzentwurf zur
Einführung erstinstanzlicher Zuständigkeiten des Oberlandesgerichts in aktienrechtlichen Streitigkeiten fordert
der Bundesrat daher eine Verlagerung der Eingangszuständigkeit in Freigabe- und Hauptsacheverfahren auf
die Oberlandesgerichte. Die Bundesregierung lehnt diesen Vorschlag ab mit der Begründung mangelnden
Rechtsschutzes für die Aktionäre. Einzelne Verbände
fordern hingegen, lediglich das Freigabeverfahren bei
jeweils einem auf diese Verfahrensart spezialisierten
OLG eines Bundeslandes anzusiedeln. Nur so könne ein
effektiver Rechtsschutz gewährleistet werden. Welche
Lösung hier letztlich überzeugt, werden die Ausschussberatungen zeigen.
Als weitere Maßnahme zum Schutz gegen räuberische
Aktionäre sieht das ARUG die Einführung eines Bagatellquorums im Freigabeverfahren vor. Dieses Quorum soll
nicht die Klagebefugnis des Kleinaktionärs abschneiden,
sondern lediglich seine Möglichkeiten, eine Freigabe zu
verhindern, beschränken. Ein Aktionär soll künftig seit
Bekanntmachung der Einberufung zur Hauptversammlung
Aktien zu einem Nennwert von mindestens 100 Euro halten,
um eine Freigabe aufhalten zu können. Der Bundesrat
bezweifelt die Effektivität eines Quorums von 100 Euro
Nennbetrag und schlägt stattdessen vor, das Quorum
gegebenenfalls anstelle einer absoluten Grenze nur als
ein Element der Abwägung im Rahmen der Feststellung
des vorläufigen Vollzugsinteresses auszugestalten. Die
Bundesregierung hat bereits zugesagt, diesen Vorschlag
im weiteren Verfahren zu prüfen; ich denke, auch wir werden im Parlament, im Rechtsausschuss, über diesen
Punkt noch ausführlich diskutieren.
Ein weiterer Schwerpunkt des ARUG ist der Einsatz
neuer Medien. Aktiengesellschaften sollen diese bei Vorbereitung und Durchführung der Hauptversammlung in
weitaus größerem Umfang nutzen können als bisher. So
sollen Aktionäre künftig online an Hauptversammlungen
teilnehmen können, was die Präsenz in Hauptversammlungen deutlich erhöhen und Beschlüsse auf eine breitere
Basis stellen hilft. Gleichzeitig wird auch die Abstimmung
durch Briefwahl ermöglicht. Insgesamt soll die grenzüberschreitende Information und Stimmrechtsausübung
erleichtert werden.
Eine Vereinfachung für die Unternehmen dürfte auch
die Reform sämtlicher Fristen im Vorfeld der Hauptversammlung bedeuten, die künftig alle nach dem gleichen
Schema berechnet werden. Die bisherige Fristenregelung
war nur schwer zu handhaben und hat immer wieder zu
prozessualen Auseinandersetzungen geführt.
Als weiterer Punkt soll das sogenannte Depotstimmrecht der Banken vereinfacht und flexibilisiert werden,
wodurch es für Aktionäre attraktiver werden dürfte, eine
Bank zur Stimmrechtsvertretung zu bevollmächtigen.
Schließlich soll bei der Sachgründung künftig auf eine
externe Werthaltigkeitsprüfung zum Beispiel von Wertpapieren und Geldmarktinstrumenten, die auf einem geregelten Markt gehandelt werden, verzichtet werden, wenn
diese mit dem Durchschnittskurs der letzten drei Monate
bewertet werden, was den Verwaltungsaufwand der
Unternehmen erheblich verringert.
Insgesamt enthält der vorliegende Entwurf zum
ARUG viele gute Maßnahmen zur Deregulierung und
Vereinfachung des Aktienrechts; beide Gesetzentwürfe
enthalten unterschiedliche Vorschläge zur Eindämmung
missbräuchlicher Anfechtungsklagen. Was einzelne Details angeht, werden wir sicherlich in den anstehenden
Ausschussberatungen über einige Fragen noch einmal
intensiver sprechen müssen und nachprüfen, ob die Ziele
der Entwürfe mit den vorgesehenen Regelungen auch
erreicht werden können. In ihrer Gegenäußerung zum
ARUG ist die Bundesregierung dem Bundesrat in Einzelfragen ja bereits entgegengekommen. Ich halte einige
Einwände und Vorschläge des Bundesrates und verschiedener Fachverbände durchaus für berechtigt; hier werden wir genauer nachprüfen müssen.
Noch treffen wir uns gewöhnlich persönlich im Parlament, um Debatten zu führen - wenn es nicht so spät ist,
dass wir unsere Reden zu Protokoll geben müssen. Noch
können wir Mitglieder der Bundesregierung leibhaftig
hierher ins Parlament zitieren. Genießen Sie diese altmodische Versammlungsform, solange es sie noch gibt!
Denn: Wer weiß, ob wir uns nicht bald von unseren global
agierenden Aktiengesellschaften abschauen können, wie
Versammlungen im Internetzeitalter auch ganz anders
durchgeführt werden können. Die Grundlage dafür legen
wir mit diesem Gesetzentwurf zur Umsetzung der Aktionärsrichtlinie.
Sie alle wissen: Die Umsetzung von EU-Richtlinien ist
für den deutschen Gesetzgeber nicht immer eine prickelnde Aktion. Ich meine aber, die Aktionärsrichtlinie
können wir freudig umsetzen. Denn was mit der Richtlinie
angestrebt wird, ist gut für Aktionäre, die rechtzeitig und
vollständig informiert werden wollen und die ihre Beteiligungsrechte wahrnehmen möchten. Die Ziele der Richtlinie sind auch attraktiv für Aktiengesellschaften, die
weltweit um Kapitalgeber werben, und damit sind sie gut
für die deutsche Wirtschaft.
Um was geht es der Europäischen Union? Sie will mit
ihrer Richtlinie dafür sorgen, dass Aktionäre unabhängig
von ihrem Wohnsitz frühzeitige und leicht zugängliche Informationen über Hauptversammlungen und ihre Tagesordnungen erhalten. Sie möchte außerdem börsennotierten Aktiengesellschaften ermöglichen, ihre Hauptversammlungen so durchzuführen, dass eine Onlineteilnahme
von Aktionären möglich ist. Die grenzüberschreitende Ausübung von Aktionärsrechten würde dadurch erleichtert.
Für die Kapitalgeber wäre eine solche Praxis angenehm
und kostensparend. Transparenz, Information und Beteiligung durch Nutzung der modernen Kommunikationsformen - das ist begrüßenswert. Deshalb setzen wir das
gerne um.
Bisher war es nach deutschem Recht in der Hauptversammlung lediglich möglich, dass die Mitglieder des Aufsichtsrates im Wege der Bild- und Tonübertragung an der
Hauptversammlung teilnehmen können. Auch Direktübertragungen der Hauptversammlung in Ton und Bild
waren bisher möglich, um ein passives Zuschauen und
Zuhören aus der Ferne zu ermöglichen. Künftig wäre es
aber auch möglich, dass Aktionäre auf diese Weise aktiv
an der Hauptversammlung teilnehmen können, wenn es
die Aktiengesellschaft selbst in ihrer Satzung erlaubt.
Fragen, Anträge, Redebeiträge und die Teilnahme an Abstimmungen können online ermöglicht werden. Ich bin
davon überzeugt, dass Aktiengesellschaften sehr bald
diese Regelungen nutzen werden. Gebietsfremde AktioZu Protokoll gegebene Reden
näre, die aufwendige Flugreisen vermeiden wollen und
auf ihrer Seite den technischen Aufwand nicht scheuen,
werden diese Möglichkeiten einfordern. Ich bin gespannt
auf diese neuen Praktiken.
Der weitere Schwerpunkt des heutigen Gesetzentwurfs
liegt bei der Bekämpfung missbräuchlicher Aktionärsklagen. Wir setzen damit die Bemühungen fort, räuberischen
oder besser gesagt erpresserischen Aktionären die missbräuchliche Ausnutzung von Aktionärsrechten zu erschweren. Mit dem Gesetz zur Unternehmensintegrität
und zur Modernisierung des Anfechtungsrechts, dem sogenannten UMAG, haben wir hierfür bereits die Grundlagen gelegt. Die Entwicklung zeigt aber, dass wir mehr
tun müssen. Es muss beispielsweise vermieden werden,
dass Anfechtungskläger Freigabeverfahren dadurch in
die Länge ziehen können, dass gerichtliche Schriftstücke
im Freigabeverfahren an Privatadressen nach Dubai
oder in die Volksrepublik China geschickt werden
müssen - unter Einschaltung der dortigen Behörden. Die
Gesetzesbegründung schildert dies schön anschaulich.
Verzögerungen können aber auch durch spätes oder unvollständiges Einzahlen des Prozesskostenvorschusses
bewirkt werden. Dadurch wird das Zustellen der Anfechtungsklage an die Gesellschaft und deren Akteneinsicht
verhindert. Solchen winkeladvokatischen Tricksereien
werden wir einen Riegel vorschieben.
Der Entwurf sieht deshalb vor, dass alle erforderlichen
Zustellungen an den Prozessbevollmächtigten im Anfechtungsverfahren erfolgen können. Außerdem soll im Falle
des unvollständigen Einzahlens des Prozesskostenvorschusses der Gesellschaft ein vorzeitiges Akteneinsichtsrecht eingeräumt werden, damit der Freigabeantrag zügig vorbereitet werden kann. Das sind gute Maßnahmen.
Der Gesetzentwurf sieht außerdem vor, dass ein Anfechtungskläger Aktien mit einem anteiligen Betrag von
mindestens 100 Euro halten muss, damit er eine Freigabe
aufhalten kann. Das entspricht im Mittelmaß etwa einem
Investment von 1 000 bis 2 000 Euro; vor allem aber
muss diese Beteiligung an der Gesellschaft vor Einberufung der Hauptversammlung bestehen.
Schließlich soll mit dem Gesetzentwurf das Gerichtsverfahren abgekürzt werden. Das möchte auch der Bundesrat, und er hat zu diesem Zweck in seinem Gesetzentwurf, der ebenfalls auf der heutigen Tagesordnung steht,
die erst- und letztinstanzliche Entscheidung bei Anfechtungsklagen durch das Oberlandesgericht vorgesehen.
Diesen Weg hat der Bundesrat auch für das ARUG empfohlen. Der Entwurf der Bundesregierung geht jedoch einen anderen Weg. Die erste Instanz soll danach bei den
Landgerichten bleiben, die allerdings die sofortige Beschwerde nur noch bei grundsätzlicher Bedeutung der
Sache zulassen dürfen.
Wir werden beraten, welches der bessere Weg ist.
Meine erste Sympathie gilt aber schon dem Regelungsentwurf der Bundesregierung. Denn bei allem berechtigten Zorn auf Berufskläger sollten wir nicht vergessen,
dass es auch, und zwar in der übergroßen Mehrzahl, redliche Kleinaktionäre gibt und dass diese angemessene
Rechtsschutzmöglichkeiten benötigen. Wir wollen auch
mit diesem Gesetzentwurf die Balance halten: Der Missbrauch soll verhindert werden, die redliche Rechtswahrnehmung aber weiterhin möglich bleiben.
Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie, ARUG, hat einen langen Weg hinter sich.
Schon im Oktober 2007 hat die FDP-Bundestagsfraktion
eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet mit
dem Titel „Umsetzungsfahrplan der Aktionärsrichtlinie
in nationales Recht“, Drucksache 16/6860. Insbesondere
auch die Umsetzung vom Referentenentwurf zum Regierungsentwurf war noch einmal von vielfältigen Änderungen gekennzeichnet. Dass wir heute endlich in der ersten
Lesung den Gesetzentwurf im Bundestag behandeln, begrüßt die FDP-Bundestagsfraktion ausdrücklich. Doch
auch die Wirtschaft und viele Tausend Aktionäre in
Deutschland sind froh, dass sich der Deutsche Bundestag
zumindest Teilen der vielfältigen Probleme des deutschen
Aktienrechts annimmt.
Der Titel des Gesetzentwurfes - Gesetz zur Umsetzung
der Aktionärsrechterichtlinie - täuscht in gewisser Weise
über den wahren Inhalt des Gesetzentwurfes. Denn es
geht nicht nur um die Umsetzung der „Richtlinie über die
Ausübung bestimmter Rechte der Aktionäre in börsennotierten Gesellschaften“, 2007/36/EG. Vielmehr kommt es
auch zu einer Neuregelung der Kapitalaufbringung durch
Sacheinlagen, zur Deregulierung des Depotstimmrechts
und zu Regelungen mit dem Ziel der Bekämpfung der
missbräuchlichen Anfechtungsklagen.
Gerade das Thema Berufskläger beschäftigt auch die
Fachöffentlichkeit seit langem. Nicht zuletzt auch der
Deutsche Juristentag hat sich 2008 erneut mit der Thematik beschäftigt. Die Bedeutung dieses Themas für die
deutschen Aktiengesellschaften ist nicht zu unterschätzen. Dies gilt umso mehr in den Zeiten der Finanz- und
Wirtschaftkrise. Eine Studie von Professor Baums aus dem
Jahre 2007 zeigt deutlich, dass allein die Zahl der Beschlussmängelklagen von 1980 bis 2006 um das 60-Fache
gestiegen ist. Bei Klagen gegen die Wirksamkeit von Beschlüssen der Hauptversammlung von Aktiengesellschaften ist in zunehmendem Maße ein Missbrauch der Klagebefugnis durch sogenannte Berufskläger festzustellen.
Diese nutzen auf der Grundlage nur weniger Aktien die
mit der Klageerhebung verbundene Sperre für Handelsregistereintragungen, um sich ihr Klagerecht von der Gesellschaft gegen horrende Beträge „abkaufen“ zu lassen zum Schaden der Gesellschaft und der Aktionäre.
Umso verwunderter war ich, dass die Große Koalition
dieses Thema ursprünglich in der ersten Lesung ohne Debatte passieren lassen wollte. Die Bedeutung, die die Regierung diesem Thema beimisst, kann man auch an den
vorgeschlagenen Lösungswegen erkennen. Kleinschrittigkeit ohne erkennbare Vorwärtsbewegung bleibt das
Markenzeichen von Bundesjustizministerin Zypries. Die
Vorschläge zur Interessenabwägungsklausel, zur Prozessvollmacht und zur Akteneinsicht stellen einen durchaus richtigen Ansatz dar, werden dem Problem jedoch
kaum ansatzweise gerecht. Die Einführung eines Quorums von 100 Euro Nennbetrag, was einem normalen
Börsenwert von 1 000 bis 2 000 Euro entspricht, wird von
Zu Protokoll gegebene Reden
den eigentlichen Berufsklägern als „lachhaft“ empfunden werden. Und auch die erst im Regierungsentwurf enthaltene Neuregelung, Freigabeentscheidungen nur angreifen zu können, wenn das Landgericht die sofortige
Beschwerde zulässt, bleibt auf halbem Wege stehen.
Nötig ist deshalb eine breite Diskussion im Rahmen
des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages. Die
Vorschläge des Bundesrates, die eine Verlagerung der
Eingangszuständigkeit an das Oberlandesgericht vorsehen, sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie Vorschläge, die eine komplette Systemänderung bezwecken.
Insbesondere auch Fragen der Kostentragungspflicht bei
solchen Verfahren sind dabei zu durchdenken. Für die
FDP-Bundestagsfraktion kann ich daher schon jetzt sagen, dass eine umfassende Sachverständigenanhörung im
Rechtsausschuss zu diesem Thema für erforderlich gehalten wird. Der Gesetzgeber ist hier gefordert; wir können
nicht darauf vertrauen, dass die Rechtsprechung - wie
zuletzt das Oberlandesgericht Frankfurt - „räuberische“
Aktionäre zu Schadensersatzleistungen verpflichtet und
das Vorgehen als sittenwidrig einstuft.
Lassen sie mich noch kurz auf die weiteren Schwerpunkte des Gesetzentwurfes neben der Bekämpfung der
Berufskläger eingehen. Durch die Umsetzung der eigentlichen Aktionärsrichtlinie kommt es unter anderem zu einer deutlichen Verbesserung der Transparenz gegenüber
den Aktionären und zu einer Neuordnung des Fristenregimes. Dass dabei die Satzungsautonomie der Gesellschaften gestärkt wird, ist ausdrücklich positiv hervorzuheben. Die Gesellschaften können in der Satzung
festlegen, dass und wie die elektronischen Mittel besser
genutzt werden. Auch können die Gesellschaften die aktive Teilnahme der Aktionäre an der Hauptversammlung
auf elektronischem Wege sowie die Stimmabgabe mittels
Briefwahl ermöglichen. Es bleibt zu hoffen, dass durch
diese Maßnahmen der chronisch geringen Präsenz auf
Hauptversammlungen entgegengewirkt werden kann. Mit
Blick auf das angesprochene Problem der Berufskläger
muss darauf geachtet werden, dass durch die neuen Möglichkeiten keine neuen Anfechtungsgründe geschaffen
werden. Zu klären ist in diesem Bereich insbesondere
noch die Frage der Identifizierung des „Onlineaktionärs“.
Die Kapitalrichtlinie 2006/68/EG zielt auf eine Deregulierung und Liberalisierung des derzeit geltenden Systems des festen Kapitals. Sie ermöglicht den Mitgliedstaaten Lockerungen unter anderem im Bereich der
Sacheinlage und des Rückerwerbs eigener Aktien. Insbesondere von den Erleichterungen bei den Sacheinlagen
macht der vorliegende Gesetzentwurf Gebrauch. Warum
die bereits im Gesetz zur Modernisierung des GmbHRechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen ({0})
zum Problem des „Hin- und Herzahlens“ und der „verdeckten Sacheinlage“ gefundenen Lösungen nicht übertragen werden, bedarf noch einer näheren Diskussion.
Auch die Regelungen zur Reform des Depotstimmrechts sollten wir uns noch einmal näher anschauen. Hier
bedarf es einer Lösung, die sowohl für die Banken und
Sparkassen als auch für die Aktionäre gangbar ist.
Insgesamt bleibt somit für den Rechtsausschuss des
Deutschen Bundestages noch eine Menge Arbeit.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung soll die Aktionärsrechterichtlinie aus dem Jahr 2007
umgesetzt werden.
Daneben enthält der Gesetzentwurf eigene rechtspolitische Vorhaben der Bundesregierung auf dem Gebiet des
Aktienrechts. Über die Vorgaben der Richtlinie hinaus
soll auf den von ihr angesprochenen Gebieten - in der
Sprache der Gesetzesbegründung - „modernisiert, dereguliert und flexibilisiert“ werden. Dies ist ein Dreiklang,
der - das hat zuletzt die Finanzmarktkrise gezeigt - zumindest Anlass geben sollte, sich die Regelungen in den
Ausschüssen noch einmal sehr kritisch im Detail anzusehen.
So sieht der Entwurf unter anderem die ersatzlose
Streichung einer Vorschrift vor, die Aktiengesellschaften
verpflichtet, eine Ermächtigung zum Erwerb eigener Aktien der Bundesanstalt für Finanzdienstleitungen mitzuteilen. Der Bundesrat führt dazu in seiner Stellungnahme
zu dem Gesetzentwurf aus: „Der Rückzug staatlicher
Kontrolle aus diesem Bereich ist in der derzeitigen politischen und wirtschaftlichen Lage als unangemessen anzusehen.“ Dem ist aus Sicht unserer Fraktion nichts weiter hinzuzufügen.
Bei einer Deregulierung des Depotstimmrechts, wie
sie jetzt im Gesetzentwurf vorgesehen ist, besteht ganz
grundsätzlich die Gefahr, dass die Kreditinstitute sich bei
der Stimmabgabe von eigenen Vorstellungen und Interessen leiten lassen und nicht von denen der Aktionäre. Genau deshalb enthält das Gesetz ja bislang so detaillierte
Vorgaben.
Im Rahmen der Sachgründung soll zukünftig auf eine
externe Werthaltigkeitsprüfung, zum Beispiel von Wertpapieren und Geldmarktinstrumenten, die auf einem organisierten Markt gehandelt werden, verzichtet werden
können, wenn diese mit dem Durchschnittskurs der letzten drei Monate bewertet werden. Ob dies ein angemessener Bewertungsmaßstab ist, sollte in den Ausschüssen
ebenfalls noch einmal näher beleuchtet werden.
Der Gesetzentwurf nimmt sich schließlich des Themas
sogenannter räuberischer Aktionäre an. Damit sind Aktionäre gemeint, die gegen Beschlüsse der Hauptversammlung allein mit dem Ziel klagen, die Gesellschaft
zum Abschluss eines lukrativen Vergleiches zu bewegen.
Hintergrund ist, dass gerichtlich angefochtene Beschlüsse nicht in das Handelsregister eingetragen werden
und die Gesellschaften an einer möglichst schnellen Beseitigung der Sperrwirkung des Verfahrens interessiert
sind.
Diese Materie war bereits ein Schwerpunkt des Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des
Anfechtungsrechts, UMAG, aus dem Jahr 2005. Mit dem
UMAG wurde das sogenannte Freigabeverfahren auf Beschlüsse über Kapitalmaßnahmen und Zustimmung zu
Unternehmensverträgen ausgedehnt. Wird daher ein entsprechender Hauptversammlungsbeschluss mit der AnZu Protokoll gegebene Reden
Wolfgang Neškoviæ
fechtungsklage angegriffen, kann das Prozessgericht auf
Antrag der Gesellschaft feststellen, dass die Erhebung
der Klage der Eintragung des Beschlusses in das Handelsregister nicht entgegensteht und Mängel des Hauptversammlungsbeschlusses die Wirkungen der Eintragung
unberührt lassen. Wird ein Hauptversammlungsbeschluss infolge eines solchen Freigabebeschlusses in das
Handelsregister eingetragen, ist die Eintragung bestandskräftig und kann auch dann nicht mehr gelöscht
werden, wenn die Anfechtungsklage Erfolg hat.
Der vorliegende Gesetzentwurf nimmt weitere Änderungen im Bereich des Freigabeverfahrens vor. Unter anderem soll eine zulassungsgebundene Beschwerde eingeführt werden und das Landgericht die Beschwerde nur
noch bei grundsätzlicher Bedeutung zulassen. Eine
Nichtzulassungsbeschwerde ist im Entwurf nicht vorgesehen. Über die Freigabe wird so im Regelfall nur noch in
einer Instanz entschieden. Zugleich wird ein Bagatellquorum eingeführt, mit dem die Möglichkeit von Kleinaktionären beschränkt wird, eine Freigabe zu verhindern.
Der zur Beratung verbundene Gesetzentwurf des
Bundesrates geht einen anderen Weg und will eine erstinstanzliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichtes in
aktienrechtlichen Streitigkeiten begründen, was für die
Anfechtungsklage selbst eine Verkürzung des Instanzenzuges bedeutet.
Ohne an dieser Stelle eine abschließende Bewertung
vornehmen zu wollen, sei lediglich darauf hingewiesen,
dass die Argumentation, nach der zur Verhinderung von
Rechtsmissbrauch eine Einschränkung von Rechtsmitteln
vorgenommen werden müsste, selbst äußerst missbrauchsanfällig ist. Hier haben wir Bedenken.
Des Weiteren sei darauf hingewiesen, dass dem Klagerecht des einzelnen Aktionärs eine wichtige Kontroll- und
Überwachungsfunktion zukommt. Der Gesetzentwurf des
Bundesrates spricht an einer Stelle davon, dass diese
Kontroll- und Überwachungsfunktion eine gewisse Zurückhaltung des Staates bei der Aufsicht über Aktiengesellschaften ermöglicht. Diese Einschätzung teilt unsere
Fraktion zwar ausdrücklich nicht. Richtig ist jedoch, dass
sie eine Ergänzung zur staatlichen Aufsicht darstellen
kann und deswegen die Einschränkung von Rechtsmitteln
in diesem Bereich kritisch ist.
Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der europäischen Aktionärsrechterichtlinie, ARUG,
macht es sich zur Aufgabe, den Zugang zu Informationen
für Aktionäre zu verbessern sowie die grenzüberschreitende Ausübung von Aktionärsrechten, allen voran das
Stimmrecht, zu erleichtern.
Diese Zielvorgabe deckt sich mit grünen Forderungen
einer grundsätzlichen Stärkung der Aktionärsrechte, um
ein ausgewogenen System der checks and balances zwischen Aktionären, Vorstand und Aufsichtsrat zu etablieren. Allein, es ist zu bezweifeln, ob der hier eingeschlagene Weg der Bundesregierung geeignet ist, diese Ziele zu
erreichen. Dabei haben gerade die Missstände im Zuge
der Finanzmarktkrise oder verschiedener Korruptionsskandale in großen deutschen Aktiengesellschaften offenbart, wie notwendig es ist, im deutschen Aktienrecht wieder Strukturen zu schaffen, in denen eine effektive
Kontrolle der Unternehmensführung durch die Aktionäre
funktioniert.
Lassen Sie mich auf einige wesentliche Punkte des Gesetzes eingehen und anschließend aufzeigen, warum die
Aktienrechtsreform in Permanenz auch mit diesem Gesetz
keinen Abschluss finden darf, sondern gegenteilig aus
grüner Sicht schnellstmöglich weitere Reformbemühungen notwendig sind.
Als zentrales Recht der Aktionäre gelten die Einflussmöglichkeiten im Rahmen der Hauptversammlung. Entsprechend sind die seitens der Bundesregierung vorgeschlagenen Regeln zur Abgabe der Stimme via Internet
und die Vorschriften zur organisierten Stimmrechtsvertretung von maßgeblicher Bedeutung. Wir begrüßen die damit verfolgte Intention, die Hauptversammlungspräsenz
- und sei es auch virtuell - zu steigern. So wird einerseits
die Kontrolle der Unternehmensführung intensiviert und
andererseits verhindert, dass professionell agierende
Minderheiten unangemessene Macht ausüben und Partikularinteressen zulasten der Gesamtheit der Aktionäre
durchsetzen.
Wir hegen aber große Zweifel, ob von den neuen Optionen, die das ARUG eröffnet, in der Praxis Gebrauch
gemacht wird. Wir sind gespannt, ob in den Gesellschaften tatsächlich per Satzungsänderung der Weg für eine
virtuelle Stimmabgabe freigemacht wird. Neben dem Aufwand, der damit verbunden ist, steht zu befürchten, dass
Unternehmen Konfliktpotenzial in den Neuerungen sehen
und etwa aus Angst vor Anfechtungsklagen im Zweifel
beim Status quo verharren. Und selbst wenn seitens der
Unternehmen die Grundlagen für die virtuelle Teilnahme
an der Hauptversammlung geschaffen werden, bleibt es
fraglich, ob etwa ({0}) Privataktionäre tatsächlich von der Möglichkeit Gebrauch machen werden.
Denn was bleibt ist das Problem, dass die Informationen
im Zusammenhang mit der Hauptversammlung und jeweiliger Tagesordnungspunkte so komplex sind beziehungsweise so unverständlich dargeboten werden, dass
der einzelne Aktionär sie ohne professionelle Hilfe ohnehin nicht überblickt.
Umso bedeutsamer ist der zweite Anknüpfungspunkt,
von dem sich die Bundesregierung eine Steigerung der
Hauptversammlungspräsenz erhofft: die organisierte
Stimmrechtsvertretung. Es ist wichtig, dass die neuen Regeln für das Depotstimmrecht einen echten Anreiz schaffen, dass Stimmrechtsvertretung überhaupt wieder in
breitem Maße angeboten wird - gegenwärtig haben sich
viele Bankinstitute von diesem Service verabschiedet und dass sie kritisch und zur Kontrolle der Unternehmensführung erfolgt. Hier ist der Gesetzgeber in der Verantwortung, einen passenden Rahmen zu entwerfen und
Anreize dafür zu setzen, dass sich ein Angebot an Aktionärsvertretungen und eine Vielfalt an professionellen Vertretern entwickeln kann, mit deren Ausrichtung sich Aktionärinnen und Aktionäre identifizieren können.
Auch muss das Verfahren der Stimmrechtsübertragung
so einfach wie möglich gehalten sein. Wir begrüßen daZu Protokoll gegebene Reden
her die europäische Vorgabe, für die Erteilung der Vollmacht künftig Textform im Sinne von § 126 b BGB ausreichen zu lassen. Dadurch ist eine Ermächtigung mittels
E-Mail möglich. Allerdings sehen wir im Vorschlag der
Bundesregierung weder eine Regelung, die die Bankinstitute wieder zum Angebot einer Depotstimmrechtsaus-übung ermutigt, noch scheint eine Struktur gefunden,
derer gemäß die unabhängigen Aktionärsvertretungen
mit einem stärkeren Zulauf rechnen können. Hier muss in
den Beratungen nachgebessert werden.
Das ARUG sieht ferner neue Mechanismen vor, um der
Zunahme von zweckentfremdeten Anfechtungsklagen einiger sogenannter räuberischer Aktionäre zu begegnen.
Wir teilen die Auffassung, dass es sich in bestimmten Fällen um rechtsmissbräuchliches Vorgehen handelt. Anders
als bei Anfechtungen von Beschlüssen zum Squeeze-out,
deren abermalige Überprüfung allen betroffenen Aktionären zugutekommt, schaden provozierte Anfechtungsgründe und teuer erkaufte Vergleiche allen übrigen Aktionären, dem Unternehmen und dem Wirtschaftsstandort
Deutschland, während einige wenige profitieren.
Gleichzeitig warnen wir vor Übereifer: Wir sind entschieden dagegen, jeden anfechtenden Aktionär, der die
Stimme gegen das Management erhebt, zum rechtsmissbräuchlichen Querulanten zu stigmatisieren. Die Anfechtungsklage ist ein wichtiges Kontrollinstrument und muss
allen Aktionären einfach zugänglich bleiben. Es wird im
laufenden Gesetzgebungsverfahren genau darauf zu achten sein, dass nicht unter dem Deckmantel des Kampfes
gegen „räuberische Aktionäre“ über das Ziel hinausgeschossen wird und grundlegende Aktionärsrechte beschnitten werden. Letztlich spielen „räuberische Aktionäre“ insbesondere auf Zeit. Darauf muss die Politik vor
allem durch eine bessere Ausstattung der Justiz und
schlanke Verfahrensvoraussetzungen im Bereich des
Wirtschaftsrechts reagieren.
Neben diesen Punkten, die das ARUG behandelt, gibt
es einige Schwachstellen im Aktienrecht, die ebenfalls im
weitesten Sinne Aktionärsrechte betreffen und dringend
angegangen werden müssen. Um einen Eindruck zu vermitteln, möchte ich einige Leitplanken grüner Aktionärsdemokratie skizzieren.
Zwar sind die im ARUG angesprochenen Aktionärsrechte von zentraler Bedeutung. Ein weiteres wesentliches Kontrollinstrument ist jedoch das Geltendmachen
von Schadenersatzansprüchen. Obwohl der Aufsichtsrat
für das Unternehmen Ansprüche geltend machen müsste
im Falle, dass der Vorstand Pflichtverletzungen begeht
und dem Unternehmen schadet, geschieht dies aus Interessenverquickung nicht konsequent genug. Denn unter
Umständen müsste sich der Aufsichtsrat den Vorwurf gefallen lassen, er habe das Vorstandshandeln nicht angemessen überwacht. In diesen Fällen sind die Aktionäre
gefordert. Aber das geltende Recht steht dem entgegen.
Deshalb fordern wir eine Absenkung der Anforderungen
des Klagezulassungsverfahrens. Denn dann können Aktionäre zukünftig die entstandenen Schadensbeträge für das
Unternehmen von den verantwortlichen Führungsorganen zurückfordern. Folglich können die Aktionäre mittelbar einen Werterhalt ihrer Anteile sichern. Dabei dürfen
allerdings die Schäden nicht ausschließlich aus den Haftpflichtversicherungen für Manager - „Directors & Officers
Liability“-Policen - kompensiert werden. Sonst verliert
das Haftungsrecht seine Steuerungsfunktion, und die
Aktionäre müssten wiederum mittelbar über gestiegene
Versicherungspreise für die Fehler der Unternehmensführung aufkommen. Vielmehr muss neben die D&O- Versicherungen eine Selbstbeteiligung des Managers am
Schadenersatz treten, die sich an den laufenden Bezügen
des jeweiligen Vorstandes orientiert.
Diese Änderungen in der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen sind insbesondere im Nachgang
der Finanzmarktkrise von immenser Bedeutung. Vieles
spricht dafür, dass Vorstände und Aufsichtsräte kollektiv
Fehler bei der Unternehmensführung begangen haben
und dadurch Gesellschaften nunmehr am Rande der Insolvenz stehen bzw. durch den Staat gestützt werden müssen. Sollte es Aktionären nicht erleichtert werden, hier
Schäden des Unternehmens geltend zu machen, werden
etwaige Pflichtverletzungen wahrscheinlich nie aufgedeckt.
Schließlich fordern wir eine Verbesserung der Unternehmensführung. Dazu bedarf es beispielsweise einer
Professionalisierung der Aufsichtsräte deutscher Unternehmen, damit sie die Kontrollfunktion gegenüber dem
Vorstand besser wahrnehmen können. Außerdem ist das
Wahlverfahren für Aufsichtsräte zu reformieren. Es ist so
auszugestalten, dass auch Minderheitsaktionäre die
Möglichkeit haben, zumindest ein Mitglied im Aufsichtsrat stellen zu können. Das fördert eine stärkere Diversifizierung der Mitglieder in den Aufsichtsräten und spiegelt
damit repräsentativer die Anteilseignerstruktur wider.
Außerdem sollen sich die sich zur Wahl stellenden
Kandidatinnen und Kandidaten schriftlich vorstellen und
ihre Qualifikationen für das Aufsichtsratsmandat sowie
parallel ausgeübte Aufsichtsratsposten darlegen. Durch
diese Transparenz können mögliche Interessenkonflikte
rechtzeitig erkannt werden. Niemand sollte darüber hinaus gleichzeitig in mehr als fünf Aufsichtsräten tätig
sein. Wie soll jemand gleichzeitig in mehr als fünf Räten
eine qualifizierte Kontrollarbeit leisten? Auch ist der direkte Übergang vom Vorstand in den Aufsichtsrat desselben Unternehmens zu verbieten.
Mit dem Gesetzentwurf zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie - kurz ARUG - verfolgen wir im Wesentlichen vier Ziele: die - namensgebende - Umsetzung der
Aktionärsrechterichtlinie, die bis 3. August 2009 erfolgen
muss; die teilweise Umsetzung der geänderten Kapitalrichtlinie durch Deregulierungen bei der Sachgründung;
eine Vereinfachung des Depotstimmrechts der Kreditinstitute und schließlich Maßnahmen gegen missbräuchliche Aktionärsklagen. Das ARUG wird der Praxis in verschiedener Hinsicht das Leben erleichtern, und das ist
vor dem Hintergrund der derzeitigen Finanzkrise besonders wichtig, weil ein stabiles und in der Praxis gut handhabbares Aktienrecht ein bedeutender Standortfaktor für
die Wirtschaft ist.
Zu Protokoll gegebene Reden
Bedanken möchte ich mich beim Bundesrat für die
konstruktive Stellungnahme, bei der es sich insgesamt um
zahlreiche technische Details handelt, die die wesentliche
Linie des Regierungsentwurfs nicht infrage stellen.
Lassen Sie mich einige Punkte des ARUG besonders
hervorheben. Der Entwurf erleichtert die grenzüberschreitende Information und Stimmrechtsausübung der
Aktionäre und passt dadurch das deutsche Aktienrecht
der Internationalisierung der Kapitalmärkte an. Ich gehe
davon aus, dass dies zu einer Erhöhung der Hauptversammlungspräsenzen und damit zur Absicherung wichtiger Aktionärsentscheidungen durch eine breite Beteiligung der Anteilseigner führen wird. Hierzu werden neue
Medien in den Dienst des Aktienrechts gestellt. Unter anderem werden die Onlineteilnahme von Aktionären und
die Abstimmung durch Briefwahl ermöglicht.
Ein besonders wichtiger Punkt für die Hauptversammlungspraxis ist die Neuordnung des gesamten Fristenregimes der Hauptversammlung. Hier gab es seit jeher
Zweifelsfragen, was zu Fehlern und schlimmstenfalls zur
Nichtigkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen geführt
hat. Künftig werden alle Fristen und Termine nach einem
einheitlichen Muster von der Hauptversammlung zurückberechnet. Alle Fristen sind aufeinander abgestimmt und
harmonisiert. Das mag technisch klingen und vielleicht
wenig spektakulär, man sollte die praktische Bedeutung
dieser Fragen aber nicht unterschätzen. Einfache, unkompliziert zu handhabende, eindeutige Normen erleichtern den Unternehmen das Leben ganz außerordentlich,
und Rechtssicherheit ist ein wesentlicher Teilaspekt der
Gerechtigkeit.
Grundlegend umgestaltet wird auch das Vollmachtstimmrecht der Banken. Die bisherige Regelung ist unübersichtlich und bürokratisch geworden. Sie ist von der
Praxis nicht mehr angenommen worden. Der ARUG-Entwurf erleichtert die sinnvolle Dienstleistung des sogenannten Depotstimmrechts, gestaltet dieses aber fair und
im Interesse der Aktionäre und ihrer Entscheidungsfreiheit.
Zuletzt möchte ich noch einen Punkt hervorheben, der
in der öffentlichen Diskussion wohl die größte Aufmerksamkeit findet. Mit dem ARUG-Entwurf werden die gesetzgeberischen Bemühungen fortgesetzt, erpresserische
Verhaltensweisen sogenannter räuberischer Aktionäre zu
unterbinden. Gerade in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten müssen zum Beispiel Sanierungsschritte rasch durchgeführt werden können; manchmal zählt jeder Monat.
Dazu sollen verschiedene auf die Missbrauchsfälle zugeschnittene Maßnahmen beitragen, ohne dabei allerdings
zugleich die Funktion der Anfechtungsklage im Aktienrecht aufzuheben oder wesentlich zu schwächen. Besonders
wichtig dabei ist aus meiner Sicht die deutliche Beschleunigung des Freigabeverfahrens. Um sie zu erreichen, sieht
das ARUG unter anderem eine Beschränkung der Rechtsmittel auf eine Zulassungsbeschwerde vor.
Den Vorschlag, eine erstinstanzliche Zuständigkeit der
Oberlandesgerichte für aktienrechtliche Klagen einzuführen, wie das der Bundesrat in seiner Stellungnahme
zum ARUG und in seinem Gesetzentwurf vom Dezember
2007 vorschlägt, lehne ich ab. Bevor das Rechtsschutzsystem verändert wird, sollten die Länder die bestehenden Möglichkeiten zur Zuständigkeitskonzentration in
aktienrechtlichen Streitigkeiten ausschöpfen. Es ist bedauerlich, dass dies bisher noch nicht überall geschehen
ist; denn bei den Landgerichten mit den Kammern für
Handelssachen gibt es heute zum Teil hervorragend spezialisierte Richter. Außerdem würde ein Systembruch an
der einen Stelle zur Folge haben, dass sofort auch für andere wichtige Rechtsgebiete der Ruf nach einem veränderten Instanzenzug aufkommt.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/11642 und 16/9020 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Jürgen Trittin, Rainder Steenblock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Arbeitszeitrichtlinie - Hohen Arbeitnehmerschutz EU-weit sicherstellen
- Drucksache 16/11758 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden der Kollegen Michael Hennrich, CDU/
CSU, Josip Juratovic, SPD, Dr. Heinrich Kolb, FDP,
Werner Dreibus, Die Linke, Jürgen Trittin, Bündnis 90/
Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11758 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Döring, Horst Friedrich ({1}), Joachim
Günther ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Technische Kriterien für Winterreifenkenn-
zeichnung M+S festlegen
- Drucksache 16/11213 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll ge-
nommen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen
1) Anlage 7
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
und Kollegen Volkmar Uwe Vogel, CDU/CSU, Heidi
Wright, SPD, Patrick Döring, FDP, Dorothée Menzner,
Die Linke, Dr. Anton Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen.
Es besteht in Deutschland keine Pflicht für Winterreifen. Daher ist auch keine einzige bindende europäische
Definition zu einem Winterreifen vonnöten.
Es gab natürlich schon immer Verfechter pro und kontra Winterreifen; aber pauschale Aussagen wie „Bei Temperaturen von 7 Grad Celsius oder weniger sind Winterreifen besser als Sommerreifen“ sind nicht hilfreich.
Denn ganz unter uns: Die gegenteilige Behauptung ist
ebenso wenig informativ wie die Behauptung selbst.
Klar ist: Bei Wintereinbruch passieren nicht nur zahlreiche Unfälle, die auf falsche Bereifung in Verbindung
mit nicht angepasster Fahrweise zurückzuführen sind; es
bilden sich auch jedes Jahr erneut unzählige Staukilometer, weil Fahrzeuge aufgrund ihrer ungeeigneten Bereifung im Schnee steckenbleiben.
In einem sind sich alle einig: Sobald sich eine Schneedecke gebildet hat, ist der Winterreifen dem Sommerpneu
haushoch überlegen. Deshalb wurde gemäß Bundesratsbeschluss vom 21. Dezember 2005 der § 2 Abs. 3 a der
StVO wie folgt geändert:
§ 2 Abs. 3a StVO
Straßenbenutzung durch Fahrzeuge
Bei Kraftfahrzeugen ist die Ausrüstung an die Wetterverhältnisse anzupassen. Hierzu gehören insbesondere eine geeignete Bereifung und Frostschutzmittel in der Scheibenwischanlage. Wer ein
kennzeichnungspflichtiges Fahrzeug mit gefährlichen Gütern fährt, muss bei einer Sichtweite unter
50 m, bei Schneeglätte oder Glatteis jede Gefährdung anderer ausschließen und wenn nötig den
nächsten geeigneten Platz zum Parken aufsuchen.
Die Bundesregierung hat zudem die BußgeldkatalogVerordnung dahin gehend geändert, dass künftig Autofahrer ein bestimmtes Bußgeld zu zahlen haben, wenn sie
gegen diesen genannten Paragrafen, § 2 Abs. 3 a StVO,
verstoßen.
Der Gesetzgeber hat darin nämlich die Pflicht zur Anpassung der Kraftfahrzeugausrüstung an die Wetterverhältnisse konkretisiert.
Nach der neuen Winterreifenverordnung sind also alle
Kraftfahrzeuge den Wetter- und damit auch den Winterverhältnissen anzupassen. Die geeignete Bereifung findet
hierbei eine besondere Erwähnung. Mit dieser Verhaltensvorschrift geht jedoch keine generelle Winterreifenpflicht einher. Wer mit seinem Wagen auf schnee- oder
eisbedeckten öffentlichen Straßen fährt, muss Winteroder Ganzjahresreifen montiert haben; solche Reifen
sind durch die Aufschrift „M+S“ bzw. das Schneeflockensymbol gekennzeichnet.
Mit Sommerreifen darf man sein Fahrzeug bei winterlichen Straßenverhältnissen nicht mehr bewegen. Dies
gilt nicht nur für den Fahrtantritt, sondern auch für die
Weiterfahrt bei plötzlicher Änderung der Straßenverhältnisse.
Wer mit Sommerreifen auf schnee- oder eisbedeckten
Straßen fährt, riskiert ein Verwarnungsgeld von 20 Euro.
Führt dieser Verstoß ferner zu einer Behinderung des
Straßenverkehrs, wird dies mit einem Bußgeld von
40 Euro sowie einem Punkt in Flensburg geahndet.
Die Verwendung von Schneeketten oder Anfahrhilfen
auf Sommerreifen stellt keine „geeignete Bereifung“ dar.
Dies gilt auch für eine Mischung von Sommer- und Winterreifen. Das gilt für Kraftfahrzeuge jeder Art, nicht dagegen für Anhänger. Darüber hinaus können Unfälle mit
nicht ordnungsgemäßer Bereifung im Einzelfall zu versicherungsrechtlichen Problemen führen. Daher ist in jedem Fall zu empfehlen, in den Wintermonaten auf die
richtige Bereifung „umzusatteln“.
Die Änderung der StVO trat bereits am 1. Mai 2006 in
Kraft, sodass alle Autofahrer ausreichend Zeit hatten,
sich auf die neue Gesetzgebung einzustellen. Dabei sind
mit der Bezeichnung „geeignete Bereifung“ bei Schnee
und Eisglätte in § 2 Abs. 3 a der StVO gegebenenfalls
auch der Winterreifen gemeint. In einer Pressemitteilung
vom 21. Dezember 2005 schreibt Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee:
Es gibt auch künftig keine Winterreifenpflicht, jeder
Autofahrer ist dazu verpflichtet, mit geeigneter Bereifung unterwegs zu sein. Das kann je nach Wetterverhältnissen auch ein guter Sommerreifen oder ein
Ganzjahresreifen sein. Wer auf Winterreifen verzichten will, muss sein Auto bei widrigen Straßenverhältnissen stehen lassen und auf Bus und Bahn
umsteigen. Wer mit abgefahrenen Sommerreifen
eine verschneite Passstraße befährt, muss künftig
mit einem Bußgeld rechnen.
Eine nützliche und zusätzliche Verbraucherinformation stellt die Kennzeichnung mit dem „Schneeflockensymbol“ - zusätzlich zur M+S-Kennzeichnung - dar, die
die Wintereigenschaften dieser Reifen über einen entsprechenden Test bescheinigen. Darüber hinaus kann sich der
interessierte Verbraucher jederzeit über die Ergebnisse
permanenter unabhängiger Tests von Winterreifen informieren, zum Beispiel bei Stiftung Warentest, beim ADAC,
bei Motorfachzeitschriften.
Die FDP strebt mit ihrem Antrag eine Definition über
die europäische Ebene an, die - wie Sie wissen - Jahre
um Jahre in Anspruch nehmen würde.
Wir setzen aber lieber auf den mündigen Bürger der
sich informiert, Test und Empfehlungen zurate zieht und
dann danach entscheidet. Denn in einer Stadt wie Berlin
sind ganz andere Anforderungen nötig als zum Beispiel in
meiner Heimat in Thüringen. Wir, die wir nahe am Thüringer Wald wohnen, müssen ganz andere Anforderungen
an unsere Fahrzeuge und Reifen stellen als einer der nur
in der Großstadt fährt.
Was Sie mit diesem Antrag vorhaben, ist der erste
Schritt hin zu einer generellen Winterreifenpflicht. Vielleicht wollen Sie als Nächstes ab einem bestimmten Monat die Menschen im Lande dazu verpflichten, bestimmte
Reifen aufzuziehen. Genau dabei können wir nicht mitspielen. Wie wir auch schon bei der Frage des Tempolimits gesehen haben, sind wir in Deutschland mit der
Richtgeschwindigkeit von 130 km/h bei den Unfallzahlen
Musterschüler. Das ist deshalb so, weil wir den Menschen
nicht im Detail und auf allen Streckenabschnitten vorschreiben, wann sie wie schnell fahren dürfen oder was
sie zu tun und zu lassen haben. Nein, wir appellieren an
den mündigen Bürger, fördern ihn und fordern von ihm,
dass er selbst entscheidet, wie er sich an bestimmte regional auftretende Witterungsverhältnisse anpasst.
Lieber ist mir der Bürger, der in seiner Heimat genau
Bescheid weiß oder sich gegebenenfalls erkundigt, was
daheim oder auf der Reiseroute für Witterungsverhältnisse herrschen, der sich aufgrund dessen in Fachzeitschriften, bei Testinstituten und dem Hersteller genau erkundigt, welche speziellen individuellen Eigenschaften
seine M+S-Reifen haben müssen und der daraufhin seine
Kaufentscheidung trifft.
Einheitsbrei - besonders europäischer Einheitsbrei hilft uns an dieser Stelle nicht weiter.
Nur zu Ihrer Information: Wussten Sie, dass die Eskimos, die ja wohl unbestritten die Profis in Schneefragen
sind, nicht nur ein Wort für Schnee haben, sondern eine
immense Anzahl von Schneebezeichnungen vorweisen
können? Wir müssen da auch nicht unbedingt zurückstecken. Das Deutsche ist da auch nicht viel schlechter dran:
Schnee, Firn, Harsch, Hagel, Graupel, Eisregen, usw.
Dieser umfangreiche Wortschatz zeigt eines ganz deutlich: Wir können hier nicht alles über einen Kamm scheren. Wir setzten auf den mündigen Bürger, der seine fahrerischen Fähigkeiten, die Witterungsverhältnisse und
sein Material genau kennt und einschätzen kann. Nur so
können wir die größtmögliche Sicherheit auf unseren
Straßen gewährleisten. Eine generelle Winterreifenpflicht
vermittelt dem Autofahrer das Gefühl „Solange ich mit
den gesetzlich vorgeschrieben Reifen unterwegs bin,
fahre ich sicher“. Jedoch kann auch ein Winterreifen
nicht jedes Winterwetters Herr werden. Es sollte vermieden werden, dem Autofahrer dieses trügerische Sicherheitsgefühl zu vermitteln. Der Autofahrer sollte vielmehr
dahin gehend sensibilisiert werden, sein Fahrverhalten
eigenverantwortlich anzupassen. Wird er dazu aufgefordert und auch dahin gehend in der Fahrschule ausgebildet, sich stets auf die aktuelle Wetterlage, die konkrete
Verkehrsbedingung, auf den allgemeinen Straßenzustand
einzustellen, und wenn er die Sicherheit seines Fahrzeugs, inklusive der Reifen, nicht überschätzt, werden unsere Straßen - egal bei welchen Wetter - die sichersten
auf der Welt bleiben. Meine Fraktion lehnt daher den
FDP-Antrag 16/11213 zur Winterreifenkennzeichnung
ab.
In dem Antrag der FDP wird die Bundesregierung aufgefordert, auf europäischer Ebene auf die Schaffung technischer Kriterien für die Bezeichnung von Reifen als
„Winterreifen“ oder „M+S-Reifen“ hinzuwirken. Diese
sollen dem Zweck einer besseren Bodenhaftung bei winterlichen Witterungsverhältnissen Rechnung tragen.
Die Antragsteller kritisieren die unkonkrete Definition
von Winterreifen und das Fehlen technischer Kriterien
für M+S-Reifen. Sie weisen darauf hin, dass „M+S“ kein
geschütztes Symbol darstellt und somit für Verbraucher
weitgehend nutzlos ist. Die unkonkrete Definition erlaube
es Herstellern, unter dem Namen „Winterreifen“ oder
„M+S-Reifen“ de facto Sommerreifen zu verkaufen. Im
Sinne des Verbraucherschutzes und der allgemeinen Verkehrssicherheit seien deshalb Kriterien für Winterreifen
festzulegen.
Die FDP hat hier unter dem Label „Verkehrssicherheit“ einen Antrag vorgelegt, dessen es nicht bedurft hätte.
Zwar wird in dem Antrag zutreffend auf wichtige Aspekte
hingewiesen. Alles in allem stellt er jedoch eine „Fleißarbeit“ dar, die so nicht notwendig gewesen wäre. Denn auf
die Verkehrssicherheit haben das Bundesverkehrsministerium und ich als Berichterstatterin der SPD-Bundestagsfraktion ein besonders Augenmerk. Das Ministerium hat
bisher stets die Auffassung vertreten, spezifische Haftungseigenschaften von Reifen entsprechend unterschiedlichster Witterungs- und Straßenbedingungen im Geltungsbereich der Regelungen der UN-Wirtschaftskommission
für Europa, UNECE, bewusst nicht regeln zu wollen.
Denn ohne gesetzliche Anforderungen an die Haftungseigenschaften von Reifen sind in den vergangenen Jahren
für verschiedenste Einsatzzwecke stetige Verbesserungen
in allen Anforderungsprofilen der Reifen zu verzeichnen.
Dies konnte im Einzelnen bewirkt werden durch das
Anforderungsprofil der Automobilhersteller an die Reifenhersteller, den Wettbewerb untereinander und nicht zuletzt
die Veröffentlichung der Reifentests der unterschiedlichen
Interessenvertreter.
Sicherheit wird bei Herstellern und Kunden großgeschrieben. Sicherheit ist heute einer der wichtigsten Werbefaktoren. Sicherheit steigert sich durch ständigen Wettbewerb - und genau das passiert. Der FDP-Antrag - und ich
unterstelle nur reinste gute Absicht - hinkt der Realität hinterher.
Eine gesetzliche Regelung, wie von der FDP verlangt,
könnte nur Mindestanforderungen beschreiben, die wegen
der großen Anzahl der beteiligten Vertragsparteien der
UNECE und wegen der unterschiedlichsten winterlichen
Verhältnisse nur sehr niedrig ausfallen würden. Im Hinblick
auf umweltrelevante Grenzwerte von Reifen - Geräusche
und Rollwiderstand - wurde allerdings eine Regelung für
notwendig angesehen, weil bei Reifen mit M+S-Kennzeichnung ein höherer Grenzwert zugelassen wird bzw.
zugelassen werden soll.
Neben Sicherheit ist insbesondere die Thematik Lärmbelastung von Bedeutung. Hier gibt es Regelungsbedarf,
um Verbesserungen zu erzielen. Konkrete Vorschläge für
Typprüfverfahren liegen noch nicht vor, werden aber von
der Europäischen Kommission künftig für notwendig
angesehen. Zurzeit wird deshalb im Rahmen des 98erUN-Abkommens - 1998 Agreement - Global Technical
Regulations - eine global gültige Regelung für Reifen
beraten. Ein definiertes Verfahren für M+S-Reifen ist
zurzeit daher noch nicht auf internationaler Ebene vorgesehen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Lassen Sie uns zusammen im Fachausschuss über das
Anliegen des FDP-Antrages beraten und zu guten Lösungen kommen.
Stellen sie sich einmal vor: Es ist Winter. Es ist kalt. Es
ist nass, ein bisschen Schneematsch, gar keine Eisschicht
oder so. Sie fahren mit Ihrem Pkw auf einer Straße durch
ein Wohngebiet. Nicht schnell. Vor Ihnen läuft ein Kind
auf die Straße. Sie bremsen, und erst mal passiert nichts.
Irgendwann steht das Auto, doch viel zu spät.
Um solche Situationen zu verhindern, gibt es den § 2
Abs. 3 a der Straßenverkehrsordnung. Darin heißt es:
„Bei Kraftfahrzeugen ist die Ausrüstung an die Wetterverhältnisse anzupassen. Hierzu gehören insbesondere
eine geeignete Bereifung und Frostschutzmittel in der
Scheibenwaschanlage.“ Diese situative Winterreifenpflicht gibt es nun seit fast drei Jahren. Ihr Zweck war und
ist, die Straßenverkehrssicherheit bei winterlichen Witterungsverhältnissen zu verbessern und Unfälle zu vermeiden. So weit, so gut.
Wie erkenne ich als Autofahrer aber nun, ob es sich um
einen Winterreifen handelt? Auf einem Schild oder auf
dem Reifen selbst ist das Wort „Winterreifen“ oder
„M+S-Reifen“ aufgedruckt. Im Übrigen sind die Reifen
alle schwarz und rund, und für viele Verbraucher ist nicht
zu erkennen, für welche Witterungsverhältnisse der Reifen tatsächlich geeignet ist - oder eben nicht. Wenn Sie
ehrlich sind, verlassen auch Sie sich wohl größtenteils
auf diese Bezeichnung. Die Zusammensetzung des Gummis jedenfalls können wir alle nicht überprüfen - und
darauf kommt es zu einem großen Teil an. Das Einzige,
was wir noch tun können, ist, die Tests von Zeitungen und
Automobilclubs zu lesen, die es glücklicherweise gibt aber natürlich auch nicht für jeden Reifen.
Auf diese Tests alleine sind wir derzeit angewiesen;
denn die Bezeichnung eines Reifens als „Winterreifen“
oder „M+S-Reifen“ ist an keinerlei technische Voraussetzungen geknüpft. Sie können theoretisch einen Reifen
als Winterreifen anbieten, der sich kaum von einem Sommerreifen unterscheidet, nur ein paar Lamellen mehr hat.
Leider sind manche Reifen - wie die eben erwähnten
Reifentests zeigen - für winterliche Witterungen völlig
unbrauchbar.
Ein Winterreifen muss bei Schnee, Glätte, aber selbstverständlich auch bei Nässe und bei trockener Straße
über ordentliche Bremseigenschaften verfügen. Dass das
geht, zeigen die mit „Gut“ bewerteten Reifen in den Tests.
Manche Reifen - vor allem sogenannte Billigreifen - sind
aber untauglich auf Nässe, auf trockener Fahrbahn, bei
Glätte und/oder Schnee. Winterreifen, die auf Schnee,
Nässe oder Glätte sofort versagen - das ist absurd.
Teilweise erhöht sich mit schlechten Reifen der Bremsweg bei Nässe um 25 Prozent. Das heißt, dass bei einer
Geschwindigkeit von 80 Stundenkilometern der Bremsweg statt 39 ganze 52 Meter lang ist und bei einem Unfall
die Aufprallgeschwindigkeit um gut 10 Stundenkilometer
höher sein kann. Davon hängt dann im Einzelfall ab, ob
die Fahrgastzelle standhält, die Türen verklemmen und
die Windschutzscheibe bricht. Das Verletzungsrisiko
steigt enorm an. Diese Reifen sind dem Entwicklungsstand circa 20 Jahre hinterher. Und noch einmal: Erkennbar ist das für uns alle nicht, wenn wir einen Satz Winterreifen kaufen.
In der Straßenverkehrsordnung ist geregelt, dass die
Menschen ihr Auto mit an die Wetterverhältnisse angepassten Reifen ausstatten müssen. Wenn wir von den Autofahrern verlangen, dass sie ihr Auto wintertauglich
ausrüsten, dann müssen wir auch sicherstellen, dass Winterreifen wintertauglich sind.
Im Sinne des Verbraucherschutzes und der allgemeinen Verkehrssicherheit müssen daher Kriterien festgelegt
werden, die Winterreifen erfüllen müssen. Wo M+S draufsteht, muss auch ein wintertauglicher Reifen drin sein.
Dies ist nicht zuletzt die Konsequenz aus der Verpflichtung des eingangs zitierten § 2 Abs. 3 a StVO: Geeignete
Reifen sind nicht Reifen, die - unabhängig von irgendwelchen Kriterien - den Aufdruck „M+S“ erkennen lassen,
sondern Reifen, die bei winterlichen Witterungsbedingungen über eine ordentliche Bodenhaftung verfügen.
Wenn wir bedenken, welche Detailfragen wir regeln:
Wir reden über das Rollgeräusch von Reifen - sicher zu
Recht. Es ist geregelt, welche Farbe Taxis haben müssen.
Wir unterhalten uns darüber, ob ein paar Schilder durch
andere ersetzt werden sollen und ob wir ein Zusatzzeichen für Pferdekutschen einführen. Höchste Zeit ist es,
dass wir auch darüber reden, wie durch technische Vorgaben sichergestellt werden kann, dass Winterreifen bei
Winterwetter sicher sind.
Wir wissen nicht, wie viele der mehreren Tausend Unfälle, die es in den letzten Wochen wegen der winterlichen
Straßenverhältnisse gab, mit besseren Reifen verhindert
worden oder glimpflicher ausgegangen wären. Umso
mehr hoffe ich auf sachorientierte und konstruktive Beratungen in den Ausschüssen. Es geht um viel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, grundsätzlich ist Ihr Antrag zu begrüßen. Leider ist er aber
nicht konsequent genug formuliert. Sie mahnen schon in
der ersten Zeile an, dass die Definition der M+S-Reifen
unkonkret ist. Was aber fehlt, sind die technischen Anforderungen, die die Definition untersetzen sollen.
Was mich an dem Antrag stört, ist Folgendes. Da zitieren Sie in Ihrem Antrag die UN-Wirtschaftskommission
dahin gehend, dass M+S-Reifen im Winter bessere Fahreigenschaften haben als normale Reifen, schieben dann
aber im vierten Absatz hinterher, dass für einen Winterreifen neben der Oberflächenbeschaffenheit auch die Zusammensetzung des Materials, wie etwa des Reifengummis, wichtig ist. Also was denn nun? Wollen Sie den
Winterreifen damit definieren, dass er größere Zwischenräume und Rillen im Profil sowie eine stärkere Anfangsprofilstärke aufweist, oder damit, dass er eine bestimmte
Materialzusammensetzung besitzt, oder dadurch, dass er
im Winter bessere Fahreigenschaften bietet?
Dass ausgerechnet die FDP den Herstellern die Beschaffenheit der Reifen vorschreiben will, ist ein schönes
Zu Protokoll gegebene Reden
Beispiel dafür, dass man wirklich nicht alles den Regeln
des freien Marktes überlassen kann. Wo es um Verkehrssicherheit geht, sind Regeln und Kontrolle des Staates
nötig und angebracht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, in der
Begründung Ihres Antrags führen Sie aus, dass sich die
Gefahr für die Fahrerinnen und Fahrer erhöht, wenn
diese in der Annahme, mit Winterreifen zu fahren, nicht
mit einer schlechteren Bodenhaftung rechnen. Mit Verlaub: Das halte ich für Blödsinn! Ich jedenfalls kenne keinen Fahrer, der sich, nachdem er auf Winterreifen umgeschraubt hat, sagt, mit den anderen Reifen konnte ich mit
fünf Sachen mehr um die Kurve fahren, oder: Letzten
Winter bin ich hier mit 80 Sachen lang und dieses Jahr
hab ich mich mit den anderen Reifen gedreht. Was ich damit sagen will: Jeder weiß, dass sich Straßenverhältnisse
von Meter zu Meter und von Stunde zu Stunde ändern. Ein
Vergleich - außer unter Testverhältnissen wie bei denen
der Hersteller - ist gar nicht möglich. Auch Winterreifen
setzen die Gesetze der Physik nicht außer Kraft.
Daher lautet die Forderung der Linken: Der Gesetzgeber sollte M+S-Reifen konkret definieren, aber nicht
durch Aussehen oder Profil, also wie viele Noppen oder
wie breit die Rillen sind, wie viele Längs- und Querrillen
ein solcher Reifen zu haben hat oder welche Gummimischung, sondern durch seine spezifischen Fahreigenschaften und Wettereignung: erstens durch einen gegebenen Bremsweg sowohl auf trockener als auch nasser und
schneebedeckter Straße, zweitens durch seine Rolleigenschaften, drittens durch die Laufzeit und viertens durch
die Alterungsbeständigkeit.
Wir wollen ja nicht die Wege für Innovationen versperren. Und ich denke, wenn wie im Falle Schaeffler/Continental mehrere Milliarden Steuergelder als Kompensation für Managerfehlleistungen und Marktgier fließen,
dann könnte ein Teil dieses Geldes durchaus in die Erforschung wintersicherer Reifen gesteckt werden. Dann hätten mehr Menschen etwas von den Milliardensubventionen.
Wir Linken plädieren außerdem dafür, die Bezeichnung M+S beizubehalten, weil jeder etwas damit anfangen kann. Zeichen wie eine Schneeflocke irritieren nur
zusätzlich. Viele kaufen ihre Reifen im Super- oder Baumarkt, sehen die Schneeflocke und meinen, sie hätten
Winterreifen erworben. Es muss also genau festgelegt
werden, was welche Symbole bedeuten, und es sollten
deutliche Zertifizierungskriterien gelten. Die Bezeichnung M+S sollte dabei ausschließlich für Winterreifen
gelten. Hier muss der Gesetzgeber Farbe bekennen, sonst
tappen viele Verbraucher in die Falle, kaufen guten Glaubens die falschen Reifen und unterliegen später dem Bußgeldbescheid, oder im Schadensfalle einem Versicherungsnachteil.
Bei dieser Gelegenheit: Der Allwetterreifen hat im
Winter bessere Fahreigenschaften als der Sommerreifen.
Wir sollten auch bedenken, dass viele Autofahrer nicht regelmäßig, im Winter überhaupt nicht und schon gar nicht
ins Gebirge fahren. Damit ist nur die Fahrt zum Einkaufen oder zum Arzt das Maß der Dinge. Aus diesen Überlegungen heraus greifen viele zu Allwetterreifen.
Es ist inkonsequent, in der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung Winterräder mit M+S zu definieren, aber
in der Straßenverkehrs-Ordnung nur von geeigneten Reifen zu sprechen.
Entgegen dem Antrag der FDP meine ich nicht, dass
geeignete Bereifung immer auch Winterreifen meint. In
der Straßenverkehrs-Ordnung sollten wir auch den Begriff Wetterverhältnisse genauer fassen: Das genaue Anwenden der Wörter Schneeglätte oder Glatteis würde viel
juristischen Streit ersparen und den Verbraucher vor falschen Reifenkäufen schützen.
Weil es so selten vorkommt, dass ich einen Antrag der
FDP-Fraktion begrüße und mittrage, will ich es gleich zu
Anfang kundtun.
Um der notwendigen Änderung der StraßenverkehrsOrdnung aus dem Jahre 2006 im Hinblick auf die Winterausrüstung gerecht werden zu können, ist eine eindeutige
Kennzeichnung von Reifen sicherzustellen. Es kann und
darf nicht sein, das auf dem Markt sogenannte M+S-Reifen als getarnte Winterreifen angeboten werden, die in
Wirklichkeit Sommerreifen sind. Zu einem guten Verbraucherschutz und zur Verkehrssicherheit gehören eine eindeutige Kennzeichnung von Reifen. Da klimaschutzpolitische Anforderungen und Lärmschutz auch in diesem
Bereich richtigerweise an Bedeutung gewinnen, plädiere
ich für eine umfassende und verbraucherfreundliche
Kennzeichnung aller Reifen.
In diesem Sinne fordere ich die Bundesregierung auf,
die M+S-Problematik des FDP-Antrages „Technische
Kriterien für Winterreifenkennzeichnung M+S festlegen,
Drucksache 16/11213“, in den aktuellen Vorschlag der
Europäischen Kommission vom 17. November 2008 - Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments
und des Rates über die Kennzeichnung von Reifen in Bezug auf die Kraftstoffeffizienz und andere wesentliche Parameter - einzuarbeiten. Es wäre sinnvoll, eine Richtlinie
aus einem Guss zu erhalten, eine Richtlinie, die alle Aspekte, die die Bereifung von Kraftfahrzeugen betreffen,
zusammenführt, wozu auch die Kennzeichnung gehört.
Dabei soll dem Verbraucher nicht nur Klarheit über die
M+S-Reifen verschafft werden, sondern über alle Aspekte, die heute für einen guten Reifen von Bedeutung
sind. Denn Fahrzeug- und Verkehrssicherheit sind nur
eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite der Medaille sollte der Kraftstoffverbrauch und damit Hinweise
bezüglich des Rollwiderstandes - Stichwort: Leichtlaufreifen - und Lärmschutzes nicht fehlen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11213 an den Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Werner Dreibus, Volker Schneider ({0}), Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIE
LINKE
Keine Ausbeutung von Praktikantinnen und
Praktikanten in den Bundesministerien und
dem Bundeskanzleramt
- Drucksache 16/11662 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen
und Kollegen Clemens Binninger und Carsten Müller,
CDU/CSU, Siegmund Ehrmann und Gabriele LösekrugMöller, SPD, Gisela Piltz, FDP, Volker Schneider, Die
Linke, Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen.
Wir diskutieren heute - wieder einmal - über Praktika
und die Frage, unter welchen Bedingungen meist junge
Menschen ihre Praktika absolvieren. Die Linke spricht in
ihrem Antrag die sogenannte Generation Praktikum an,
sie spricht von „Scheinpraktika“ und davon, dass Praktikantinnen und Praktikanten in Bundesministerien ausgebeutet würden. Ich weiß nicht, woher die Linksfraktion
diese Erkenntnisse über Praktika bezieht. Bei Praktika in
den Ministerien und dem Kanzleramt der Bundesrepublik
Deutschland jedenfalls kann von Scheinpraktika und
Ausbeutung keine Rede sein.
Dass der Vorwurf von Ausbeutung der Praktikantinnen
und Praktikanten in der Bundesverwaltung nicht nur
unredlich ist, sondern fernab der Realität, belegt eindrucksvoll der Bericht des Bundesrechnungshofs an den
Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages vom
7. Oktober 2008. Wir wissen, dass der Bundesrechnungshof seine Aufgabe immer gewissenhaft wahrnimmt und
genau hinsieht. Ich darf aus dem genannten Bericht zitieren: „Die mit dem Phänomen der ,Generation Praktikum‘ verbundenen Gefahren, den Hochschulabsolventinnen und Hochschulabsolventen Aufgaben eines regulären
Arbeitsverhältnisses zu übertragen, ohne ihnen eine angemessene Vergütung zu gewähren sowie Arbeitnehmerrechte einzuräumen, bestehen in der Bundesverwaltung
nicht.“ Diese Einschätzung spricht für sich.
Praktika sind Teil der Ausbildung, und dass Studierende während des Studiums Praktika absolvieren, sehen
die meisten Studienordnungen vor. An dieser Stelle sei im
Übrigen erwähnt, dass BAföG-Leistungen selbstverständlich auch während der Praktikazeiten weiterlaufen.
Praktika sind wichtig zur beruflichen Orientierung und
Entwicklung. Genau deshalb eröffnet auch die Bundesverwaltung Praktikantinnen und Praktikanten die Möglichkeit, unter fachlicher Anleitung erste praktische Erfahrungen zu sammeln sowie die Arbeitsweise der
Bundesministerien und des Bundeskanzleramts kennenzulernen. Deshalb sollten wir Praktika und insbesondere
Praktika in der Bundesverwaltung auch nicht schlechtreden, wie es die Linken wieder einmal versuchen. Stattdessen sollten wir uns die Realität anschauen.
Es liegen mittlerweile zwei einschlägige Studien vor.
So hat zum einen das Hochschul-Informations-System
({0}) in seiner Untersuchung „Generation Praktikum Mythos oder Massenphänomen?“ aus dem Jahr 2007
über 12 000 Hochschulabsolventen befragt. Im Februar
2008 ist die inifes-Studie hinzugetreten, die zwar eine
kleinere Zahlenbasis hat, aber Praktika verschiedener
Vorbildungen und Bildungssegmente einbezieht. Wesentliches Ergebnis dieser Untersuchungen ist, dass eben
keine „Generation Praktikum“ existiert, sondern das
Phänomen der Scheinpraktika und der sogenannten Kettenpraktika nur einen kleinen Teil der Absolventen betrifft.
Sicher gibt es hier auch Ausnahmen und Problemfälle.
Es lässt sich deshalb darüber diskutieren, ob und welche
gesetzlichen Regelungen im großen Stil wir für Praktika
brauchen. Ich bin hier aber kritisch, denn Praktika sind
letztlich auch ein freiwilliges Angebot der Wirtschaft und
der öffentlichen Verwaltung. Und wer sich entscheidet,
ein Praktikum anzubieten - das wissen wir vermutlich
alle aus unseren Büros - der ist auch in aller Regel bereit,
einen hohen Arbeitsaufwand auf sich zu nehmen, um
Praktikanten sinnvoll zu betreuen. Das gilt auch für unsere Bundesministerien und das Kanzleramt, wo Praktikanten entgegen der Behauptung des vorliegenden Antrags selbstverständlich eine qualifizierte Betreuung
zuteilwird. Praktikanten besetzen in der Bundesverwaltung keine regulären Arbeitsplätze und sind im Rahmen
ihrer Tätigkeit auch nicht verpflichtet, eine bestimmte Arbeitsleistung zu erfüllen. Hier den Eindruck erwecken zu
wollen, dass dies anders sei und dass Praktikanten in der
Bundesverwaltung schlecht behandelt würden, ist falsch
und absolut nicht nachzuvollziehen.
Ich denke auch nicht, dass wir hier für die Bundesbehörden neue, umfassende Regelungen brauchen. Die
Bundesregierung muss auch nicht erst aktiv werden und
Rechtsgrundlagen schaffen, um Scheinpraktika auszuschließen und für Qualität und Gerechtigkeit bei Praktika
in Ministerien und Kanzleramt zu sorgen, wie im vorliegenden Antrag behauptet wird. Es gibt in der Bundesverwaltung selbstverständlich solche Rechtsgrundlagen.
Hier gibt es zum einen die „Richtlinie über Praktikantenvergütungen“ vom 13. August 2001. Für bestimmte berufsspezifische Praktika gilt der Tarifvertrag über die
vorläufige Weitergeltung der Regelungen für die Praktikantinnen und Praktikanten vom 13. September 2005.
Der Tarifvertrag regelt dabei sogar die verbindliche Zahlung von Praktikantenvergütungen in festgelegter Höhe.
Die Praktikantenrichtlinie legt Höchstgrenzen für die
Zahlung von Praktikumsvergütungen fest und räumt im
Übrigen den Ressorts Ermessen ein, um je nach Art des
Praktikums zu sachgerechten Ergebnissen zu kommen.
Diese Flexibilität ist, gerade wenn es um Praktika geht,
angebracht und notwendig.
Vor dem hier dargestellten Hintergrund ist der Vorwurf, die Bundesregierung würde ihre Praktikantinnen
und Praktikanten durch unangemessene Bezahlung „ausbeuten“, absolut haltlos und die Behauptung, es fehlten
Rechtsgrundlagen für deren angemessene Bezahlung,
nur von Unkenntnis geprägt. Die CDU/CSU-Fraktion
wird deshalb diesen Antrag ablehnen.
Die Frage, ob es eine „Generation Praktikum“ gibt,
beschäftigt das Parlament und die Öffentlichkeit jetzt bereits seit 2006. Anlass war ein in der Wochenzeitschrift
„Die Zeit“ erschienener Artikel, der ausführlich über die
als Praktika bezeichneten Arbeitsverhältnisse junger
Hochschulabsolventen berichtete. Die daraufhin eingereichten öffentlichen Petitionen forderten den Gesetzgeber auf, Regelungen zum Schutz von Praktikantinnen und
Praktikanten zu treffen.
Grundsätzlich sind drei Formen von Praktikumsverhältnissen zu unterscheiden: Erstens. Praktikantenverhältnisse
im Sinne des Berufsbildungsgesetzes: Hier steht der Lernzweck im Vordergrund. Zweitens. „Schnupperpraktikum“:
Diese Form dient dem Kennenlernen des Berufslebens
und bedingt daher auch keinen gesetzlichen Entgeltanspruch, auch wenn von „Praktikanten“ gesprochen wird.
Selbstverständlich steht es den Vertragsparteien jedoch
frei, eine Vergütung zu vereinbaren. Drittens. „Scheinpraktikum“: Hier wird formell ein „unentgeltliches Praktikum“
vereinbart, tatsächlich wird jedoch echte Arbeitsleistung
erbracht.
Und genau um diese dritte und letzte Gruppe geht es
eigentlich. Sie umfasst diejenigen Missbrauchsfälle, die mit
den Petitionen angesprochen werden. Sie können Arbeitnehmer im Sinne des Arbeitsrechts sein, sodass ihnen ein
Vergütungsanspruch zusteht. Wird der „Praktikant“ wie
ein vergleichbarer Arbeitnehmer eingesetzt und beschäftigt, liegt im arbeitsrechtlichen Sinne kein Praktikanten-,
sondern ein Arbeitsverhältnis vor. Folglich steht dem als
Praktikanten bezeichneten Arbeitnehmer ein Vergütungsanspruch aus dem Arbeitsvertrag in Verbindung mit § 611
Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch zu. Im Zweifel ist dies
nach § 612 BGB die übliche Vergütung eines vergleichbaren Arbeitnehmers.
Eine Geltendmachung seiner Ansprüche vor dem
Arbeitsgericht darf für ihn gemäß § 612 a BGB keine
negativen Folgen mit sich bringen. Die Beschreitung des
Rechtsweges ist auch bereits verschiedentlich erfolgreich
von „Scheinpraktikanten“ erfolgt. Dies macht deutlich,
dass Rechtsmittel zum Schutz von Praktikanten ausreichend vorhanden sind.
Inzwischen liegen zwei ausführliche Studien vor, die der
Frage „Generation Praktikum“ eine Datenbasis geben
konnten. Durch die Studien ist sehr deutlich geworden,
dass die sogenannte Generation Praktikum keineswegs ein
Massenphänomen ist. Vielmehr gehört nur ein geringer
Teil von Praktikantenverhältnissen zu den Missbrauchsfällen. Es ist also vielmehr ein Mythos. Selbstverständlich
müssen wir alles tun, diese Missbrauchsfälle so weit es
geht zu verhindern. Das darf aber nicht bedeuten, dass wir
gleichzeitig wichtige, richtige und notwendige Praktikumsverhältnisse verhindern! Es geht also im Wesentlichen um
die Unterstützung von Hochschulabsolventen beim Eintritt
in das Berufsleben.
Die Fraktion Die Linke hat in der Vergangenheit schon
mehrfach das Thema Praktikum aufgegriffen. Bedauerlicherweise ging es dabei nicht um die Unterstützung von
Praktikanten. Es ging vielmehr darum, ein wichtiges
Thema populistisch auszuschlachten. Mit ihrem Antrag
unterstellt die Fraktion Die Linke nun, dass Praktikanten
in den Bundesministerien und im Bundeskanzleramt ausgebeutet würden - es sich also um sogenannte Scheinpraktika handelte. Dazu gehört für die Fraktion Die Linke
offensichtlich auch die Unterstellung, dass Praktikanten
in den Bundesministerien und im Bundeskanzleramt ausgebeutet werden.
Der vorliegende Antrag macht das Thema Praktikum
in der Bundesregierung nicht zum ersten Mal zum Thema
eines parlamentarischen Vorgangs. Hier ist insbesondere
auf die Kleine Anfrage auf Drucksache 16/3785 hinzuweisen. Die Antwort der Bundesregierung auf Drucksache 16/3976 hat meines Erachtens mehr als deutlich
gemacht, dass es sich die Bundesministerien und das
Bundeskanzleramt zur Regel gemacht haben, nur Praktikanten im Rahmen von Studium und Ausbildungsverhältnissen zuzulassen. Das bedeutet ganz klar, dass in der
Mehrzahl der Fälle ein entsprechendes Praktikum in den
Studien- oder Ausbildungsverordnungen vorgeschrieben
wird. Diese Voraussetzung beinhaltet auch eine angemessene Praktikumsbetreuung und beinhaltet keinen Vergütungsanspruch. Es geht hier also um Praktikantinnen und
Praktikanten, die für einen begrenzten Zeitraum im Rahmen
ihrer Ausbildung bestimmte Ausbildungsinhalte erlernen.
Schon aufgrund des Ausbildungsstandes und der kurzen
Dauer des Praktikums ist ein Einsatz als reguläre Arbeitskräfte in den Ministerien nicht möglich. Unter diesen
Umständen kann auch eine Übernahme von Fahr- und
Verpflegungskosten oder Ähnlichem als durchaus angemessen bewertet werden.
Auch der Bundesrechnungshof hat eindeutig bestätigt,
dass eine Ausnutzung von Hochschulabsolventinnen und
-absolventen im Rahmen von Praktikumsverhältnissen
bei den obersten Bundesbehörden nicht festzustellen ist.
Darüber hinaus spielt es bei einem Praktikum in den Bundesministerien und im Bundeskanzleramt keine Rolle,
welche finanziellen Möglichkeiten die Praktikanten haben. Denn auch während eines Praktikums im Rahmen
der jeweiligen Ausbildungsordnung werden BAföG-Leistungen weiterhin geleistet. Demzufolge kann von einer
Privilegierung keine Rede sein.
Insbesondere wenn man sich die kürzlich presseöffentlich gewordenen bedenklichen Zustände von nicht versicherungspflichtig Beschäftigten in Hessen bei der Partei
Die Linke ins Gedächtnis ruft, zielt dieser Antrag in die
falsche Richtung. Vielmehr sollte die Linke ihre Ansprüche
an sich selbst stellen und sie auf die Praktikanten in ihrer
eigenen Partei anwenden. Damit wäre dem Missbrauch
von Praktikantenverhältnissen wesentlich mehr entgegengesetzt als mit einem weiteren populistischen Versuch, die
Bundesregierung in Misskredit zu bringen.
Mit dem Antrag der Fraktion Die Linke soll die Bundesregierung aufgefordert werden, den Praktikanten in
Zu Protokoll gegebene Reden
den Bundesministerien und dem Bundeskanzleramt eine
angemessene Praktikumsvergütung zu zahlen, für eine
qualifizierte Betreuung Sorge zu tragen, einen Praktikumsvertrag abzuschließen und ein qualifiziertes Zeugnis
auszustellen. Das Problem der Praktikantenvergütung ist
grundsätzlich nicht von der Hand zu weisen. Im Hinblick
auf die Qualität der Betreuung und die Frage des zu erteilenden Zeugnisses schießt die Linke allerdings ins
Blaue.
Doch zum Grundsätzlichen: Das Stichwort „Generation Praktikum“ oder „Uni-Prekariat“ bezeichnet den
Fakt, dass nach wie vor gut ausgebildete, mitunter hochqualifizierte junge Menschen keine andere Chance sehen,
in den angestrebten Beruf zu gelangen, und sich als Praktikanten verdingen. Sie leisten dann oftmals vollwertige
Arbeit. Das ist nicht in Ordnung und widerspricht dem
Charakter von Berufspraktika. Die sind nämlich darauf
angelegt, dass sich auch Studierende im Rahmen ihres
Studiengangs spezialisieren und überdies einen Einblick
in die konkreten Praxisfelder ihres Studiengebietes gewinnen.
Längst ist es zum Standard geworden, dass Studierende auch dann Praktika absolvieren, wenn die Lehrpläne dies nicht zwingend vorsehen. Dies ist durchweg
positiv. Doch zählt zur Realität auch, dass selbst Hochschulabsolventen als Praktikanten, teilweise sogar unentgeltlich, beschäftigt werden. Ich begrüße deshalb ausdrücklich die Initiative Fair Company, die sich für faire
Praktika und echte Chancen für Hochschulabsolventen
einsetzt. Die Tatsache, dass Franz Müntefering und Olaf
Scholz diese Initiative als Schirmherren unterstützen, ist
auch ein deutlicher Beleg für die Position der Sozialdemokratie gegen diesen Missstand.
Inzwischen haben sich mehr als 1 000 Unternehmen
an die fünf wesentlichen Fair-Company-Regeln gebunden, die da sind: Erstens. Praktikanten ersetzen keine
Vollzeitstellen. Zweitens. Hochschulabsolventen werden
nicht mit einem Praktikum vertröstet, wenn sie sich auf
feste Stellen beworben haben. Drittens. Praktikanten
werden nicht mit der vagen Aussicht auf eine Vollzeitstelle geködert. Viertens. Ein Praktikum wird vornehmlich zur beruflichen Orientierung während der Ausbildungsphase angeboten. Fünftens. Praktikanten wird eine
adäquate Aufwandsentschädigung gezahlt. Ich gehe davon aus und erwarte, dass sich die Bundesregierung in ihrem Verantwortungsbereich natürlich auch an diese Eckpunkte hält.
Wie ist nun die Situation? Der Sachverhalt war bereits
Gegenstand einer schriftlichen Anfrage. Ich zitiere aus
der Antwort des Bundesinnenministeriums:
Die Gewährung von Vergütungen an Praktikantinnen und Praktikanten, die in der Bundesverwaltung
tätig sind, regelt die Richtlinie des Bundes über
Praktikantenvergütungen vom 13. August 2001.
Für bestimmte berufsspezifische Praktika gilt der
Tarifvertrag über die vorläufige Weitergeltung der
Regelungen für die Praktikantinnen und Praktikanten vom 13. September 2005. In diesen Fällen ist
eine angemessene Vergütung bereits durch den Tarifvertrag festgelegt und wird durch entsprechende
Praktikantenverträge umgesetzt. Soweit kein Tarifvertrag besteht, differenziert die Richtlinie danach,
ob die Praktika unter das Berufsbildungsgesetz
({0}) fallen. Die unter das BBiG fallenden Praktikanten haben Anspruch auf eine angemessene
Vergütung, die jeweils besonders im Einzelnen zu
vereinbaren ist. Bei den nicht unter das BBiG fallenden Praktikanten ermöglicht die Richtlinie den
Ressorts, eine Praktikantenvergütung je nach Art
des Praktikantenverhältnisses nach den jeweiligen
Gegebenheiten des Ressorts im Rahmen der in der
Richtlinie festgelegten Maximalwerte in eigener
Verantwortung festzusetzen. Der Vertragsabschluss
und die Erteilung eines Zeugnisses werden durch
die oben genannten Regelungen nicht näher bestimmt. Die konkrete Ausgestaltung erfolgt durch
das jeweilige Ressort. In der Regel wird ein Zeugnis
erteilt.
In der erwähnten Richtlinie ist aber gleichwohl vorgegeben, dass dann von einer Praktikantenvergütung abzusehen ist, wenn die Praktikanten nicht unter den Geltungsbereich des Berufsbildungsgesetzes fallen und kein
besonderes Interesse an ihrer Beschäftigung besteht. Wenn
gleichwohl, wie dies geschieht, Aufwand entschädigt wird,
ruft dies den Bundesrechnungshof auf den Plan - eine extrem unbefriedigende Situation.
Die Forderung der Fraktion Die Linke hilft an dieser
Stelle nicht weiter. Deshalb unterstützt die SPD-Fraktion
mit Nachdruck die Initiative von Olaf Scholz, § 612 des
Bürgerlichen Gesetzbuches so zu modifizieren, dass
Praktikantinnen und Praktikanten ein schuldrechtlicher
Anspruch auf eine angemessene Vergütung zuerkannt
wird. Das ist der richtige Weg, und ich hoffe, dass wir das
in der Koalition hinbekommen werden.
Sachwalter aller Praktikanten und Praktikantinnen,
das will die antragstellende Fraktion gern sein.
Ich bin sicher, meine Damen und Herren von der Linken, Sie werden in diesem Fall nicht als Patentanten und
-onkel gebraucht. Das hat mehrere Gründe, die ich Ihnen
darlegen werde und die - das wird sie nicht überraschen am Ende die Ablehnung Ihres Antrages zur Folge haben
müssen.
Gerade die SPD-Fraktion hat sich in dieser Legislatur
intensiv mit sogenannten Scheinpraktika und der Ausbeutung von jungen Menschen am Beginn ihres Berufslebens
beschäftigt. Nicht zuletzt waren zwei große Petitionen,
eingereicht und mitgezeichnet von vielen jungen Menschen, Auslöser für parlamentarische Beratungen, die
wir unsererseits gern schon lange abgeschlossen hätten.
Wir und Sie, werte Kolleginnen und Kollegen, wissen:
Der Missbrauch von Praktika hat in den letzten Jahren
überhandgenommen. Eine Untersuchung im Auftrag des
BMAS belegt dies eindeutig. Sie bestätigt, dass jeder
Fünfte der heute 18- bis 34-Jährigen mindestens ein
Praktikantenverhältnis oder Ähnliches nach Abschluss
der beruflichen Ausbildung absolviert hat. Viele von ihnen werden wie normale Arbeitskräfte eingesetzt, die
Hälfte aller Berufseinstiegsverhältnisse jedoch nicht einZu Protokoll gegebene Reden
mal entlohnt. Eine erhoffte Brückenfunktion in ein reguläres Arbeitsverhältnis erfüllt sich nur in 22 Prozent der
Fälle.
Deshalb sehen wir - mit uns das Ministerium von Olaf
Scholz - folgende Mindestregelungsbedarfe: Praktika
sollen im BGB geschützt werden. Bei Praktika sollten sich
Arbeitgeber künftig nicht mehr auf Ausschlussfristen berufen können. Das Berufsbildungsgesetz muss um klarstellende Regelungen für Praktika ergänzt werden.
Die SPD-Fraktion hat weitergehende Forderungen,
zum Beispiel: Schriftformerfordernis für den Praktikumsvertrag, Erleichterung beim Durchsetzen von Vergütungsansprüchen bei Scheinpraktika.
Was ist unser Ziel? Wir wollen möglichst viele gute
Praktika zu fairen Bedingungen. Außerdem wollen wir,
dass alle Beteiligten klarer die guten und echten Praktika
unterscheiden können von jenen Arbeitsverhältnissen, die
nur den Anschein von Lernverhältnissen erwecken, in
Wirklichkeit jedoch ausbeuterische Arbeitsverhältnisse
sind, also die Rechte der Betroffenen stärken. Für welche
Praktika streben wir diese Klarstellungen an? Bundesgesetzlichen Regelungsbedarf haben wir nicht bei Praktika,
die im Rahmen eines Studienganges über die jeweiligen
Studienordnungen der Bundesländer geregelt sind. Auch
bei Schülerpraktika gibt es für uns auf Bundesebene
keine Zuständigkeit. Aber überall dort, wo jemand mit
abgeschlossener Ausbildung - das muss nicht ein Studium
sein - statt eines ordentlichen Berufseinstieges als Trainee, Volontärin oder Praktikant über viele Monate oftmals ohne Vergütung und ohne Sozialversicherung wie
eine normale Arbeitskraft eingesetzt wird, genau da müssen wir klarstellend und schützend eingreifen.
Wie ist das nun im BMAS selbst? Praktikantinnen und
Praktikanten im BMAS sind samt und sonders Studierende an Hochschulen und Universitäten. Sie sind immatrikuliert, damit sozialversicherungsrechtlich eindeutig
abgesichert. Ihre jeweilige Studienordnung schreibt ein
Praktikum vor. Entsprechend steht das Lernen im Mittelpunkt. Damit gehören sie genau nicht zu jener Gruppe
junger Menschen, die nach Abschluss der Ausbildung in
einem Scheinpraktikum als billige Arbeitskraft ausgenutzt werden. Soweit mir bekannt ist, setzt sich das Ministerium gerade mit dem Bundesrechnungshof auseinander,
weil das BMAS seinen Praktikanten Fahrtkostenersatz
nach dem Bundesreisekostenregelungen vermeintlich zu
großzügig gewährt.
Ich fasse zusammen: Arbeitsverhältnisse von Berufseinsteigern müssen ordentliche Beschäftigungsverhältnisse sein. Scheinpraktika dürfen keinen Platz in der Arbeitswelt der Bundesrepublik haben. Deshalb haben wir
gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Praktika im Rahmen von Studiengängen werden geregelt durch die jeweiligen Studienordnungen.
Die SPD-Fraktion steht für faire Regeln für Praktika.
Da lassen wir nicht locker. Wenn es Missstände im BMAS
gäbe, wären wir die Ersten, die auf ein sofortiges Ende
bestünden.
… ist „ein Praktikant in aller Regel vorübergehend in
einem Betrieb praktisch tätig, um sich die zur Vorbereitung
auf einen - meist akademischen - Beruf notwendigen
praktischen Kenntnisse und Erfahrungen anzueignen“.
Das Bundesarbeitsgericht hat in seinem Urteil vom
13. März 2003 - Az. 6 AZR 564/01 - festgestellt, dass es
sich bei einem Praktikum typischerweise um eine Tätigkeit handelt, bei der „ein Ausbildungszweck im Vordergrund“ steht. Praktika können daher in der Regel nicht
als normales Arbeitsverhältnis angesehen werden, sondern als berufsvorbereitender Teil der Ausbildung. Von
einem Arbeitsverhältnis kann regelmäßig nicht ausgegangen werden, sodass auch eine etwaige Praktikumsvergütung nach dem Bundesarbeitsgericht „auch eher
eine Aufwandsentschädigung oder Beihilfe zum Lebensunterhalt“ darstellt.
Selbstverständlich ist es notwendig, Missbrauch vorzubeugen. Im Antrag meiner Fraktion „Orientierung und
verbesserte Berufsperspektiven durch Praktika schaffen“, Drucksache 16/6768, spricht sich die FDP-Bundestagsfraktion daher auch für „die Gründung unabhängiger
Organisationen, die Praktikantinnen und Praktikanten
über ihre Rechte, zum Beispiel Praktikumsvertrag, Zeugnis,
aufklären, Hilfestellungen anbieten und Informationen zu
den Bedingungen von Praktika in einzelnen Unternehmen
liefern“, aus. Praktika in Unternehmen oder Behörden,
auch den obersten Bundesbehörden, unterscheiden sich
insoweit nicht. Jeweils steht der praktische Erfahrungsgewinn für die Praktikantin oder den Praktikanten im
Mittelpunkt.
Die generelle Unterstellung, durch den Einsatz von
Praktikantinnen und Praktikanten würde regelmäßig
qualifiziertes Personal eingespart, ist unzutreffend, wie
schon die Studie der HIS GmbH „Generation Praktikum Mythos oder Massenphänomen?“ - HIS-Projektbericht,
April 2007 - ergeben hat. Die Bundesregierung hat auf
diesen Umstand auch in ihrer Antwort auf die Kleine
Anfrage der Linken - Drucksache 16/3976 - zutreffend
hingewiesen:
Die im Bundeskanzleramt und in den Bundesministerien angebotenen Praktika dienen dem Kennenlernen des Berufslebens. Sie eröffnen den Praktikantinnen und Praktikanten die Möglichkeit, unter
fachlicher Anleitung erste praktische Erfahrungen
zu sammeln, und beinhalten keine Pflicht zur
Arbeitsleistung. Die Praktikantinnen und Praktikanten besetzen keine regulären Arbeitsplätze. Eine
Vergütung wird daher grundsätzlich nicht gewährt.
Zudem stehen hierfür keine Haushaltsmittel zur
Verfügung. Die Praktika sind ein Angebot an Studierende und Auszubildende, um die Arbeitsweise des
Bundeskanzleramtes und der Bundesministerien
kennenzulernen.
Die Probleme, die die Fraktion Die Linke in dem heute
hier zu beratenden Antrag lösen will, bestehen zum großen
Teil überhaupt nicht. So hat die Bundesregierung in ihrer
Antwort auf die genannte Kleine Anfrage weiterhin ausgeführt, dass Praktikumszeugnisse nur dann nicht erteilt
Zu Protokoll gegebene Reden
werden, wenn dies ausdrücklich nicht gewünscht wird. In
diesen Fällen wird nur eine Bescheinigung ausgestellt.
Es wird beklagt, dass die Praktikantinnen und Praktikanten keine qualifizierte Betreuung erhielten. Ich frage
Sie, was Sie darunter verstehen. Ein Praktikum ist kein Ausbildungsverhältnis wie etwa in der dualen Berufsbildung.
Von Praktikantinnen und Praktikanten darf und muss zu
Recht ein hohes Maß an Eigeninitiative erwartet werden,
das Beste aus der ihnen angebotenen Zeit herauszuholen.
Ich weiß natürlich nicht, wie Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Linken, es mit den Praktikantinnen und
Praktikanten in Ihren Büros hier im Hause halten. Aber
eines dürfte klar sein: Praktikantinnen und Praktikanten
zu beschäftigen, erfordert einen hohen Aufwand und damit Zeit, zusätzliche Zeit, die an anderer Stelle dann fehlt.
Ein solches Angebot ist hoch zu schätzen. Ein Praktikum
etwa im Bundeskanzleramt macht sich ja auch recht gut
im Lebenslauf. Praktika anzubieten, ist nicht selbstverständlich, sondern ein besonderer Service für die jungen
Menschen. Das gilt für Unternehmen ebenso wie für den
Bundestag oder die Bundesministerien.
Wer, wie die Linken, diese Angebote möglichst abschaffen
will, indem erst Gesetze zu Mindestvergütungen, Arbeitszeiten und dann am besten noch zu bezahltem Urlaub
gefordert werden, und nun wiederum neue Hürden aufbauen will, erweist den jungen Menschen in unserem
Land einen Bärendienst. An anderer Stelle, dort, wo Sie
selbst Verantwortung tragen, scheinen Sie das ja im
Übrigen auch selbst zu sehen. Wenn Sie einmal nach
Praktikumsplätzen suchen, die in der Berliner Senatsverwaltung angeboten werden - nur zur Erinnerung: Berlin
wird rot-rot regiert -, werden Sie leicht feststellen, dass
die angebotene Vergütung mit „keine“ beziffert wird.
Ich betone es noch einmal: Missbrauch ist zu bekämpfen. Hierzu stehen alle notwendigen arbeitsrechtlichen
Möglichkeiten zur Verfügung. Jede weitere unnötige Regulierung führt nur dazu, dass schließlich keine jungen
Menschen mehr die Möglichkeit haben werden, wertvolle
Einblicke in die Arbeit der Bundesministerien zu erhalten.
Nicht zum ersten Mal befassen wir uns hier mit der Situation von Praktikantinnen und Praktikanten. Seit 2006
tun wir das jedes Jahr und in jedem Jahr gleich mehrfach.
Und wäre ich noch so naiv, die Aussagen der Kolleginnen
und Kollegen der Großen Koalition, hier speziell der
SPD, für bare Münze zu nehmen, dann müsste ich davon
ausgehen, dass das Problem längstens erledigt ist. Ich zitiere hier einmal stellvertretend die SPD - exemplarisch
und ohne Namensnennung, denn die Rednerinnen und
Redner sind austauschbar - aus einem Protokoll des Jahres 2007:
Aber wir wissen - die HIS-Studie zeigt das klar
auf -, dass es auch eine ganze Reihe unfairer Praktika gibt: Praktikanten werden für lange Zeit ohne
oder gegen nur geringe Bezahlung eingesetzt, reguläre Arbeitskräfte werden ersetzt, und die Menschen
werden schamlos ausgenutzt, indem sie zunächst
mit dem Versprechen einer regulären Stelle geködert und dann fallen gelassen werden. Das ist ungerecht. Das ist Ausbeutung. Das schadet den Menschen, und das schadet der Gesellschaft. Genau
dagegen werden wir vorgehen.
Anders kann es die Linke auch nicht formulieren: Das
ist ungerecht. Das ist Ausbeutung. Das schadet den Menschen, und das schadet der Gesellschaft, 2009 noch genauso wie 2007. Nur, wann werden Sie denn endlich
dagegen vorgehen, wie Sie und insbesondere der Bundesarbeitsministers das so vollmundig angekündigt haben?
Bis heute warten Praktikantinnen und Praktikanten vergeblich auf eine gesetzliche Verbesserung ihrer Situation.
Denn selbst die von Olaf Scholz vorgeschlagenen Minimaländerungen sind der Union offensichtlich noch zu
viel. Und die SPD zeigt weder Kraft noch Willen.
Mitte Dezember 2008 sind sie im Petitionsausschuss
wieder einmal eingeknickt. Damit fällt eine gesetzliche
Regelung zu Praktika dem Koalitionsgezänk zum Opfer.
Tausende Praktikantinnen und Praktikanten, die weitgehend ohne Schutzrecht und für lau beschäftigt sind, bleiben im Regen stehen. Zu Recht fühlen sich die vielen betroffenen Praktikantinnen und Praktikanten mittlerweile
verschaukelt. Seit über zwei Jahren speist die Bundesregierung sie mit folgenlosen Ankündigungen ab. Dabei hat
sich auch 2008 die Lage gegenüber der HIS-Studie keineswegs verbessert. Laut einer Untersuchung des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie fühlen sich 30 Prozent der Befragten ausgenutzt; 80 Prozent
berichten, mindestens die Hälfte ihrer Arbeitszeit als normale Arbeitskraft eingesetzt worden zu sein. 51 Prozent
der befragten Praktikantinnen und Praktikanten gaben
an, nicht bezahlt worden zu sein.
Wenn sie gegenüber dem Koalitionspartner schon zu
feige sind, könnte der Arbeitsminister doch wenigstens im
eigenen Haus dafür Sorge tragen, dass Praktikantinnen
und Praktikanten zu vernünftigen Konditionen ein Praktikum absolvieren können. Denn es ist zutiefst unglaubwürdig, in der Öffentlichkeit gegen die Ausbeutung von
Praktikantinnen und Praktikanten einzutreten, im eigenen Verantwortungsbereich aber genau diese Ausbeutung
selbst zu betreiben. Im Bundesministerium für Arbeit und
Soziales werden die jährlich rund 100 Praktikantinnen
und Praktikanten beispielsweise allein mit einem Fahrtkostenzuschuss und Essensgutscheinen entlohnt. In den
anderen Ministerien sieht es ähnlich aus. Die höchste
Aufwandsentschädigung erhalten Praktikantinnen und
Praktikanten im Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung. Aber auch hier erhalten sie lediglich 100 Euro monatlich. Das ist ungerecht.
Das ist Ausbeutung. Das schadet den Menschen, und das
schadet der Gesellschaft. Und dafür liefert die Bundesregierung auch noch das Vorbild.
Es ist längst überfällig, die Ausbeutung von Praktikantinnen und Praktikanten endlich zu unterbinden. Dies gilt
in besonderer Weise für Praktikaverhältnisse, die nach
Abschluss einer Ausbildung getätigt werden. Die Fraktion die Linke fordert seit langem, Praktika als Lernverhältnisse gesetzlich zu definieren und an den Vorschlägen
der DGB-Jugend orientierte Mindestanforderungen für
gute Praktikaverhältnisse überall umzusetzen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Volker Schneider ({0})
Immerhin werden Praktikantinnen und Praktikanten in
den Ministerien und im Bundeskanzleramt nicht als billige Arbeitskraft missbraucht. Aber entgegen der Bundesregierung ist die Linke der Auffassung, dass auch Praktikantinnen und Praktikanten in einer Ausbildung
angemessen vergütet werden sollten. Durch die bestehenden Praktikaregelungen können sich nur Privilegierte ein
Praktikum leisten. Wer dagegen zur Finanzierung seines
Lebensunterhaltes auf ein regelmäßiges Einkommen angewiesen ist oder die zusätzlich anfallenden Kosten etwa
für die Unterkunft am Praktikumsort nicht aufbringen
kann, muss auf eine Bewerbung verzichten. Die Bundesregierung trägt somit zur Verfestigung sozialer Ungleichheit bei.
Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung
auf, eine angemessene Praktikumsvergütung zu zahlen,
für eine qualifizierte Betreuung Sorge zu tragen, jedem
Praktikanten und jeder Praktikantin einen Praktikumsvertrag sowie ein qualifiziertes Praktikumszeugnis auszustellen. Es muss endlich Schluss sein mit der „Generation
Kantinengutschein“, wie dies die „Süddeutsche Zeitung“
nennt. Um Scheinpraktika auszuschließen und um für
mehr Qualität und Gerechtigkeit bei echten Praktika zu
sorgen, muss die Bundesregierung zuerst bei sich selbst
aktiv werden. Eine Orientierung bietet der Leitfaden für
ein „faires Praktikum“ der DGB-Jugend.
Selbst die Abgeordneten des Deutschen Bundestages
haben diesbezüglich einen ersten Schritt getan: Der Ältestenrat sprach sich in seiner Sitzung am 26. April 2007
fraktionsübergreifend dafür aus, die Möglichkeit einer
Praktikumsvergütung für Praktikantinnen und Praktikanten vorzusehen. Es ist mehr als überfällig, dass jetzt auch
die Bundesregierung ihrer Verantwortung gerecht wird.
Wir unterstützen den Antrag der Linken, von der Bundesregierung faire Spielregeln zur Beschäftigung von
Praktikantinnen und Praktikanten einzufordern. Dies ist
ein Gebot der Fairness und Gerechtigkeit. Wer Missstände in der Gesellschaft verändern will - und die Ausnutzung zahlreicher Praktikantinnen und Praktikanten
von einzelnen Unternehmen gehört leider dazu -, der
muss sich in den eigenen Reihen vorbildlich verhalten,
das heißt faire Praktika in Bundesministerien und -behörden garantieren und gewährleisten. Schutzmechanismen
müssen eine Selbstverständlichkeit sein.
Die grüne Bundestagsfraktion geht beim Thema
„Faire Praktika“ längst mit gutem Beispiel voran. Was
wir von Arbeitgebern fordern, haben wir bereits vor zwei
Jahren umgesetzt: Für die Beschäftigung von Praktikantinnen und Praktikanten gelten bei uns klare Mindeststandards. Mit unserer Selbstverpflichtung „Faires Praktikum“ und unserem Fraktionsbeschluss zur Generation
Praktikum sind wir Vorreiter unter den Bundestagsfraktionen. Erfreulich ist, dass sich daraufhin alle Bundestagsfraktionen auf der Ebene des Ältestenrats auf Praktikaregeln verständigt haben, mit deren Hilfe Mindeststandards in allen Bundestagsfraktionen umgesetzt wurden.
Deren Einhaltung ist für die Glaubwürdigkeit dieses
Hauses in der Praktikadebatte unerlässlich.
Von dieser Bundesregierung hingegen wird die Generation Praktikum keine Verbesserungen erwarten können.
Seit fast drei Jahren ist hinlänglich bekannt, dass es in
großem Umfang Missbrauch bei Praktika gibt. Jede und
jeder Fünfte im Alter zwischen 18 und 34 Jahren war laut
einer Studie im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums
ein Praktikant und hat dabei durchschnittlich 1,9 Praktika durchlaufen. In derselben Studie berichten mehr als
80 Prozent, überwiegend wie normale Arbeitnehmer eingesetzt worden zu sein. Gleichzeitig werden fast zwei
Drittel aller Praktikantinnen und Praktikanten gar nicht
oder nur gering bezahlt.
Die Bundesregierung kennt diese Fakten. Doch weil
sich Minister Scholz und Ministerin Schavan selbst auf einen Mini-Schutzschirm für Praktikanten nicht einigen
können, werden die jungen Berufseinsteiger auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag vertröstet. Der Arbeitsminister
plante unter anderem kleinere Änderungen im Berufsbildungsgesetz, mit deren Hilfe Praktika als ein Beitrag zur
beruflichen Ausbildung definiert werden sollten und für
die ein schriftlicher Vertrag erforderlich sei. Diese Vorschläge sind zwar halbherzig, dennoch wären sie erste
Schritte in die richtige Richtung gewesen. Aber selbst dieser großkoalitionäre Minimalkompromiss kam nicht zustande, sondern platzte im Dezember. Damit ist klar: In
dieser Legislatur sind gesetzliche Initiativen gegen die
Ausnutzung in Praktika wohl leider vom Tisch. Dies ist
ein armseliges Signal an die junge Generation.
Die Rolle des Arbeitsministers ist geradezu heuchlerisch. Die Praktikanten im Hause Scholz erhalten lediglich Essensgutscheine und Fahrtkostenzuschüsse. Eine
Vergütung ist nicht drin. Auch in anderen Bundesministerien bekommen Praktikanten kein Geld. Diese Praxis der
Bundesregierung ist ein Armutszeugnis. Gerade bei Ministerien und Behörden darf es nur faire Praktika geben.
Von der Arbeit der Praktikanten profitieren beide Seiten. Einerseits erhalten die Praktikanten interessante
Einblicke in die Arbeitswelt eines Ministeriums und können wertvolle Kontakte knüpfen. Andererseits unterstützen sie die Arbeit dort und übernehmen eigenständig Aufgaben. Man hört, dass nicht selten einzelne Abteilungen
auf die Unterstützung von Praktikanten angewiesen sein
sollen. Umso empörender ist es, dass eine starke ideelle
und finanzielle Anerkennung dieser Leistungen unterbleibt; denn wer tatkräftig unterstützt, braucht hierfür
eine Gratifikation.
Wir erwarten, dass Scholz sein Amt als Schirmherr der
Initiative „Fair Company“ zurückgibt. Wer einer Initiative ideell vorsteht, die sich gegen die Ausbeutung in
Praktika richtet und die dezidiert auch eine Aufwandsentschädigung voraussetzt und zwingend beinhaltet, muss
auch als Minister im eigenen Haus danach handeln. Andernfalls kann man kein glaubwürdiger Anwalt für die Interessen von Praktikantinnen und Praktikanten sein.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11662 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Innenausschuss liegen soll. Sind Sie damit
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Peter Hettlich, Dr. Thea Dückert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Versorgung für Geschiedene aus den neuen
Bundesländern verbessern
- Drucksache 16/11684 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sol-
len zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um
die Reden der Kolleginnen und Kollegen Maria
Michalk, CDU/CSU, Gregor Amann, SPD, Dr. Heinrich
Kolb, FDP, Dr. Martina Bunge, Die Linke, Irmingard
Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11684 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Dr. Gesine Lötzsch, Kersten
Naumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Gleichberechtigte Entschädigung von Strahlenopfern in Ost und West schaffen - umfassendes Radaropfer-Entschädigungsgesetz einführen
- Drucksache 16/8116 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um
die Reden der Kolleginnen und Kollegen Jürgen Herrmann,
CDU/CSU, Rolf Kramer, SPD, Birgit Homburger, FDP,
Dr. Gesine Lötzsch, Die Linke, Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen.
Die sogenannte Radarstrahlenproblematik beschäftigt
den Deutschen Bundestag seit Ende des Jahres 2000.
Eine zentrale Forderung des uns heute vorliegenden An-
trages ist die Einführung eines umfassenden Radaropfer-
Entschädigungsgesetzes. Die Schaffung eines Radarop-
1) Anlage 8
fer-Entschädigungsgesetztes wurde bereits 2001 vonseiten
des Bundesministeriums der Verteidigung unter Beteiligung des Bundesministeriums der Justiz, des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung sowie des Bundesministeriums des Innern umfassend geprüft. Im Ergebnis
wurde jedoch von einem solchen Sondergesetz Abstand
genommen, da für die möglicherweise betroffenen Personen bereits Rechtsvorschriften bestehen, die Leistungen
bei einer durch dienstliche Tätigkeiten bedingten gesundheitlichen Schädigung vorsehen.
Bei diesen Rechtsvorschriften handelt es sich für die
Soldaten der Bundeswehr um Versorgungsansprüche wegen einer - strahlenbedingten - Wehrdienstbeschädigung
nach den Bestimmungen des Soldatenversorgungsgesetzes, für Beamte nach den Regelungen des Beamtenversorgungsgesetzes und für Arbeitnehmer nach den Vorschriften
der gesetzlichen Unfallversicherung. Ehemalige Soldaten
der NVA können einen Anspruch auf Dienstbeschädigungsausgleich nach dem „Gesetz über einen Ausgleich
für Dienstbeschädigungen im Beitrittsgebiet“ - sogenanntes Dienstbeschädigungsausgleichsgesetz - geltend
machen.
Im Einigungsvertrag und im Zuge der Gesetzgebung
zur Überleitung von Ansprüchen nach dem Recht der
DDR wurde die Entscheidung getroffen, ehemalige Angehörige der NVA nicht in die Versorgung nach dem Soldatenversorgungsgesetz aufzunehmen. In Bezug auf die in
den Versorgungssystemen erworbenen Ansprüche und
Anwartschaften auf Leistungen wurde des Weiteren die
Systementscheidung getroffen, die Rentenansprüche aus
Sonderversorgungssystemen ausschließlich in nur eine
Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu überführen. Es ist somit auch keine Möglichkeit vorgesehen,
Witwen von Angehörigen der ehemaligen NVA mit Witwen von Soldaten der Bundeswehr versorgungsrechtlich
gleichzustellen. Hinterbliebene haben nach dem Dienstbeschädigungsausgleichsgesetz keinen Anspruch auf
Leistungen. Die Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung bestehen jedoch fort.
Des Weiteren führt die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag unterschiedliche Regelungen bei geschädigten
Grundwehrdienstleistenden der NVA im Gegensatz zu Regelungen für Wehrdienstleistende der Bundeswehr an.
Auch dies resultiert aus den vom Gesetzgeber als angemessen erachteten und getroffenen Regelungen. Ansprüche, die ehemalige Wehrpflichtige wegen Unfällen bei der
NVA nach den Gesetzen der DDR aus der allgemeinen
Sozialversicherung hatten, sind in die gesetzliche Unfallversicherung übergeleitet worden. Solche Unfälle waren
in der DDR Arbeitsunfällen gleichgestellt. Die Überleitung ist folglich sachgerecht. Die Hinterbliebenen bleiben nicht unversorgt, vielmehr haben sie die gleichen Ansprüche wie die Hinterbliebenen der Opfer von
Arbeitsunfällen.
Die soeben aufgeführten Unterschiede in den Versorgungsvorschriften ehemaliger Angehöriger der NVA im
Vergleich zu Angehörigen der Bundeswehr basieren auf
gesetzlich gewollten Unterscheidungen. Bei der Frage,
inwieweit Soldaten durch Radargeräte Gesundheitsschäden erlitten haben und wie mit diesen GesundheitsschäJürgen Herrmann
den umzugehen ist, handelt es sich jedoch um eine
schwierige und komplexe Thematik, die weit über die gesetzlichen Versorgungsvorschriften hinausgeht.
Messwerte über die Strahlenemission von Radargeräten, die in den 50er- bis 70er-Jahren in der Bundeswehr
betrieben wurden, liegen nur in wenigen Einzelfällen vor.
Somit können die damaligen Arbeitsplatzsituationen nur
noch schwer oder gar nicht mehr rekonstruiert werden.
Darüber hinaus sind Vergleiche mit ähnlichen Personengruppen aus dem zivilen Bereich nicht möglich. Für die
ehemalige Nationale Volksarmee, NVA, stellt sich die Situation noch weitaus schwieriger dar. Aus diesem Bereich
stehen noch weniger Unterlagen und Dokumente zur Verfügung.
In diesem Zusammenhang wurde im Jahr 2002 auf Ersuchen des Verteidigungsausschusses eine Expertenkommission eingerichtet. Diese Expertenkommission hatte
zur Aufgabe, auf der Grundlage der bestehenden gesetzlichen Vorgaben Lösungswege für die Entschädigung der
Radaropfer zu entwickeln. Hierzu sollten technische und
medizinische Grundlagen für einen praktikablen Umgang mit den Versorgungsanträgen der betroffenen Soldaten der Bundeswehr und der ehemaligen NVA erarbeitet werden. Am 2. Juli 2003 legte die Kommission ihren
Abschlussbericht vor. Die in diesem Bericht erstellten
großzügigen Kriterien bilden bis heute die Grundlage für
die Bearbeitung und Entscheidung der Radarfälle. Die
Empfehlungen der Expertenkommission werden eins zu
eins umgesetzt, ohne dass im Einzelfall konkret nachgewiesen werden muss, dass die jeweiligen Erkrankungen
tatsächlich auf die konkrete Tätigkeit an Radargeräten
zurückzuführen sind. Darüber hinaus wurde die Interpretation der Anerkennungskriterien des Berichts zugunsten
der Betroffenen immer wieder ausgedehnt; Stichwort
Konkurrenzrisiko.
Im Zusammenhang mit der „Radarstrahlenproblematik“ wurden alle möglichen Optionen für eine bestmögliche Lösung zugunsten der Antragsteller in die erwogenen
Maßnahmen einbezogen. Neben der Überlegung, ein Radaropfer-Entschädigungsgesetz einzuführen, wurde in
der Vergangenheit mehrmals auch die Errichtung einer
Stiftung oder eines Fonds angeregt. Dieser Vorschlag
wurde ebenfalls durch das Bundesministerium der Verteidigung unter Einbeziehung weiterer Bundesministerien
geprüft. Da auf der Basis der Empfehlungen des Berichts
der Radarkommission mit großzügigen Anerkennungskriterien über fast alle der eingegangenen Versorgungsanträge auf gesetzlicher Grundlage entschieden wurde,
wird auch die Notwendigkeit für die Einrichtung einer
Stiftung derzeit als nicht gegeben angesehen.
Aufgrund der soeben ausgeführten Aspekte lehnt die
CDU/CSU-Fraktion die Annahme des Antrages der
Fraktion Die Linke und somit die Einführung eines Radaropfer-Entschädigungsgesetzes ab. Die vom Gesetzgeber getroffenen Versorgungsregelungen sowie die Kriterien des Berichts der Radarkommission bilden nach wie
vor eine geeignete und sachgerechte Grundlage für die
Bearbeitung, Entscheidung und Entschädigung in den
Radarfällen sowohl von Angehörigen der Bundeswehr
als auch der ehemaligen NVA.
Die Problematik der Opfer der Radarstrahlen bei der
Bundeswehr und der ehemaligen NVA beschäftigt mich
seit meinem Eintritt in den Bundestag im Jahre 2002. Es
hat sich leider zu einem fast unendlichen Thema entwickelt, was ich sehr bedauere. Ich hätte mir gewünscht,
dass wir hier im Sinne der Betroffenen schneller zu einem
Abschluss gekommen wären.
Der Anfang der parlamentarischen Beschäftigung
liegt bereits im Jahre 2001, unter anderem mit der
Vorlage des Berichtes vom Arbeitsstab Dr. Sommer, der
vom seinerzeitigen Bundesverteidigungsminister Rudolf
Scharping eingesetzt und in dem eine Sachverhaltsaufklärung angemahnt und Empfehlungen zum weiteren Vorgehen bei dieser Problematik vorgeschlagen wurden. Im
September 2002 wurde dann auf Vorschlag des Verteidigungsausschusses des Bundestages vom Bundesverteidigungsministerium eine aus unabhängigen Experten bestehende Kommission, die sogenannte Radarkommission,
eingesetzt, die die gesundheitlichen Gefährdungen durch
Strahleneinwirkungen im Bereich früherer Einrichtungen
der Bundeswehr und ausdrücklich auch der ehemaligen
NVA untersucht und bewertet hat.
Nach Vorlage des Abschlussberichtes billigte der Verteidigungsausschuss am 23. September 2003 die Stellungnahme des Bundesverteidigungsministeriums zu diesem Bericht, die im Anschluss die Grundlage für alle
Entschädigungsverfahren im Bereich der Radarstrahlenproblematik bildet. Das Ministerium sagte zu, „die Empfehlungen unter Ausschöpfen aller rechtlichen Möglichkeiten und Ermessensspielräume im Prinzip eins zu eins
umzusetzen, um damit den drängenden Anliegen der betroffenen Antragsteller bestmöglich Rechnung zu tragen.“
Damit gelten die von der Radarkommission festgelegten Kriterien für die Anerkennung von Versorgungsansprüchen gleichermaßen für die Anträge aus dem Bereich
der Bundeswehr und dem Bereich der ehemaligen NVA.
Allerdings ist die Erfüllung dieser Kriterien auch Voraussetzung für einen Versorgungs- bzw. Entschädigungsanspruch. Dies gilt in Ost wie West. Ich gehe davon aus,
dass, wie auch im Bereich der Bundeswehr, die überwiegende Mehrheit abgelehnter Anträge auf eine Nichterfüllung dieser Kriterien zurückzuführen ist.
Was die im Antrag genannten Probleme beim Kausalitätsnachweis betrifft, so sind diese Vorhaltungen aus meiner Sicht unbegründet, soweit sie den im Radarbericht
festgelegten Zeitraum, der die Zeit bis Anfang der 80erJahre umfasst, betreffen. Hier sehen die Empfehlungen
der Radarkommission eine grundsätzliche Anerkennung
qualifiziert erkrankter Personen vor, soweit sie nachweislich an den betreffenden Radargeräten gearbeitet haben.
Dies bedeutet konkret, dass auf den eigentlich vom Gesetz
in jedem Einzelfall geforderten Kausalitätsnachweis zwischen Tätigkeit und Erkrankung verzichtet wird, eine der
aus meiner Sicht größten Verbesserungen im Verfahrensund Entscheidungsablauf, die durch den Radarbericht erreicht worden ist.
Eine im hier zu diskutierenden Antrag der Fraktion
Die Linke formulierte Diskriminierung und unterschiedZu Protokoll gegebene Reden
liche Behandlung ehemaliger NVA-Angehöriger und deren Hinterbliebenen ist für mich und meine Fraktion nicht
ersichtlich. Sowohl die Bundeswehrverwaltung Ost als
auch die Unfallkasse des Bundes richten sich in ihren
Entscheidungen nach den Empfehlungen der Radarkommission. Das Bundesverteidigungsministerium ist damit
auch seiner Verantwortung gegenüber den ehemaligen
NVA-Angehörigen nachgekommen.
Ob diese Zusage des Bundesverteidigungsministeriums in allen Fällen auch eingehalten wurde, steht heute
hier nicht zur Debatte und würde sowohl den Bereich der
Bundeswehr wie auch den der ehemaligen NVA betreffen.
Hier sind wir aber im Rahmen von Berichterstattergesprächen aller Fraktionen mit dem Bundesverteidigungsministerium in einem konstruktiven Dialog und hoffen auf
eine positive Lösung im Sinne der Betroffenen.
Was die im Antrag angesprochene Ungleichbehandlung aufgrund unterschiedlicher Versorgungssysteme für
Angehörige der Bundeswehr und der ehemaligen NVA
betrifft, so ist den Ausführungen der Bundesregierung in
der Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die
Linke vom 28. Juli 2008, Drucksache 16/2320, nur wenig
hinzuzufügen. Grundlage dieser tatsächlichen Ungleichbehandlung sind die Bestimmungen des Einigungsvertrages vom 31. August 1991. Dort wurde die Systementscheidung getroffen, die Rentenansprüche aus Sonderversorgungssystemen ausschließlich in nur eine Rente
der gesetzlichen Rentenversicherung zu überführen. Für
die ehemaligen Angehörigen der NVA wurde entschieden,
sie nicht in die Versorgung nach dem Soldatenversorgungsgesetz aufzunehmen. Damit sind Entschädigungszahlungen an Soldatinnen und Soldaten der ehemaligen
NVA ausschließlich nach dem übergeleiteten DDR-Recht
im Rahmen sozialversicherungsrechtlicher Abgeltung zu
beurteilen. Dies gilt analog für Ansprüche ehemaliger
Wehrpflichtiger aus Unfällen bei der NVA.
Für meine Fraktion gibt es zurzeit keinen Anlass, an
der grundsätzlichen Entscheidung des Einigungsvertrages in diesem Punkt etwas zu verändern. Damit sehe ich
auch keine Chance für eine Zustimmung zum vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke.
Aus meiner Sicht wäre es zielführender - auch im Hinblick auf noch vorhandene Probleme bei der Behandlung
der Radarstrahlenopfer -, trotz aller bisher von der Bundesregierung aufgezeigten rechtlichen Schwierigkeiten
die Möglichkeit einer Stiftungslösung weiterzuverfolgen.
Bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt, nämlich in der
ersten Jahreshälfte 2001, setzte sich mein Vorgänger
Günther Nolting massiv für eine großzügige Entschädigung der Radarstrahlenopfer ein. Von einer Unterstützung der PDS-Fraktion, Vorgängerin der heutigen Fraktion Die Linke, war zu dem Zeitpunkt noch keine Rede.
Zwar gab der damalige Bundesminister der Verteidigung,
Rudolf Scharping, den Radargeschädigten im selben Jahr
das Versprechen einer „großherzigen und streitfreien“
Entschädigungsregelung, blieb allerdings die Einlösung
des Versprechens schuldig.
Am 2. Juli 2003 wurde der Bericht der Radarkommission vorgelegt. Auf der Basis der vom Verteidigungsausschuss gebilligten Empfehlungen dieses Berichts werden
gegenwärtig die sogenannten Radarfälle bearbeitet, nach
Aussage des Bundesministeriums der Verteidigung „eins
zu eins“. Damit meint das Bundesministerium der Verteidigung, dass jeder Antrag für sich einzeln, objektiv und
wohlwollend geprüft werde.
Ist nun „eins zu eins“ gleich „großherzig und streitfrei“? Offensichtlich nicht. Andernfalls wäre die Zufriedenheit der Betroffenen mit der Arbeit und den Entscheidungen des BMVg größer. Schauen wir uns die Fakten
und Zahlen an! Bis heute wurden circa 3 700 Versorgungsanträge aller Statusgruppen und Hinterbliebener
gestellt, einschließlich des Bereichs der ehemaligen Nationalen Volksarmee. Ebenfalls bis heute wurden 720 dieser Anträge positiv beschieden. Das mag vielleicht „eins
zu eins“ sein, aber wohl nicht großherzig, und deshalb
bleiben die Entscheidungen auch nicht streitfrei.
Laut der Bundestagsdrucksache 16/2320 wurden rund
36 Prozent der Anträge aus dem Bereich der ehemaligen
NVA gestellt. Während die Anerkennungsquote bei allen
entschiedenen Anträgen 14,2 Prozent betrug, lag sie bei
den Anträgen aus dem Bereich der ehemaligen NVA lediglich bei 6,6 Prozent. Ohne die gewissenhafte und objektive Prüfung der einzelnen Versorgungsanträge grundsätzlich anzweifeln zu wollen, lassen diese Zahlen
dennoch Fragezeichen aufkommen, jetzt sogar bezüglich
des „eins zu eins“.
Auch bestes Bemühen der zuständigen Stellen der Bundeswehrverwaltung scheint aufgrund der gegenwärtigen
Rechts- bzw. Entscheidungsgrundlagen nicht auszureichen, großherzig und streitfrei zu entscheiden. Eine politische Lösung dieses Problems ist gefragt, und sie sollte
nun endlich umfassend sein. Der Weg, der zu dieser Lösung führt, ist dabei von nachrangiger Bedeutung. Auf
keinen Fall sollten aus ideologischen oder anderen Gründen Lösungsmöglichkeiten, wie zum Beispiel die Stiftungslösung, von vornherein kategorisch ausgeschlossen
werden. Entscheidend ist das Ergebnis, und das sollte
sehr bald vorliegen, und zwar für die Betroffenen zufriedenstellend. Dass es dabei keine Unterschiede zwischen
strahlengeschädigten Angehörigen der Bundeswehr und
strahlengeschädigten ehemaligen Angehörigen der NVA
sowie jeweils deren Familienmitgliedern und Hinterbliebenen geben darf, ist für die FDP-Fraktion selbstverständlich.
Die Bundeswehr wie auch die NVA haben jahrzehntelang ihr Personal ungeschützt an Radargeräten, die lebensgefährliche Strahlung aussendeten, arbeiten lassen.
Viele Soldaten erkrankten an Krebs. Hunderte starben
ohne jede Ahnung. Mit den Stimmen aller Fraktionen
wurde 2002 eine Radarkommission eingesetzt. Der erarbeitete Radarbericht hat die von den Radargeschädigten
in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Jeder fünfte
Versorgungsantrag wurde anerkannt.
Die Verwaltung verfügt, dass der Antragsteller nach
über 40 Jahren beweispflichtig ist. Nur die damalige VerZu Protokoll gegebene Reden
waltung wusste vom Schädigungspotenzial der ionisierenden Strahlung, nicht der Soldat am Gerät. Die meisten
Ablehnungen beruhen nach belegbarer Auffassung der
Betroffenen auf sachlich und fachlich falschen Argumenten, die von den nicht mit der Materie befassten Richterinnen und Richtern nicht sofort erkennbar sind. Siegt ein
Antragsteller, egal vor welchem Gericht, geht die Verwaltung grundsätzlich in Berufung. Die Antragsteller stehen
vor einem langen Instanzenweg und hohen Kosten.
Im Bericht des Wehrbeauftragten 2006 - Drucksache
16/850 - wird eine Lösung im Sinne der Betroffenen gefordert. Das Bundesverwaltungsgericht hat eine Klage
eines Betroffenen mit der Begründung abgewiesen, dass
die Bundesrepublik nicht generell für in der DDR entstandene Schäden hafte. Das widerspricht dem Radarbericht.
Erforderlich sei ein Gesetz, so das Bundesverwaltungsgericht. Dieses soll nun in Form eines Radaropfer-Entschädigungsgesetzes erarbeitet und dem Deutschen Bundestag vorgelegt werden. Es darf keine biologische Lösung
geben.
Der Wehrbeauftragte hat vergeblich eine Bundesstiftung zur Entschädigung von Strahlenopfern der Nationalen Volksarmee, NVA, der DDR angeregt. Durch die Stiftung sollten betroffene Soldaten, die Röntgenstrahlen von
Radargeräten ausgesetzt waren, effektiv und fair entschädigt werden. Nach Auffassung der Wehrbeauftragten
dürfe sich die Bundesrepublik nicht darauf berufen, dass
sie nicht in der Rechtsnachfolge der NVA stehe.
Auch der Petitionsausschuss kam 2007 zu dem Ergebnis, dass es Fälle gebe, die von den derzeitigen Gesetzen
nicht erfasst würden, und hat hierfür Regelungsbedarf
gesehen; Drucksache 16/4072.
Schließlich gibt es eine Ungleichbehandlung in Ost
und West. Grundwehrdienstleistende, Reservisten, Zivilbeschäftigte und Freiwillige der NVA erhalten eine
Unfallrente, die auf die Altersrente angerechnet wird,
während die Wehrdienstleistenden der Bundeswehr Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz erhalten, die
nicht auf eine Altersrente angerechnet werden.
Spätestens seit 2001 ist im Verteidigungsministerium
bekannt, in welchem Ausmaß Soldaten der Bundeswehr
und der NVA bei ihrer Arbeit an Radargeräten in der
Truppe schädlichen Radarstrahlen ausgesetzt waren und
daran schwer erkrankten. Die Strahlenbelastungen liegen meist Jahre zurück und sind als eindeutige Krankheitsursache oft nur noch schwer zu beweisen. Umso
mehr haben sich die Betroffenen und ihre Angehörigen
auf die Zusage des damaligen Verteidigungsministers
Scharping verlassen, der im Juni 2001 zusicherte, dass
für die Strahlenopfer der Bundeswehr und der ehemaligen NVA eine „streitfreie und großherzige“ Regelung gefunden werden solle.
Auch die auf Ersuchen des Verteidigungsausschusses
eingesetzte unabhängige Radarkommission, die 2003 ihren Bericht vorlegte, formulierte großzügige Kriterien für
die Anerkennung auf Versorgungsleistungen für radarstrahlenerkrankte ehemalige Soldaten der Bundeswehr
und der früheren Nationalen Volksarmee der DDR. Hatte
das Bundesministerium der Verteidigung bei der Übergabe des Berichtes den Geschädigten und Hinterbliebenen von Bundeswehr und NVA noch eine Eins-zu-einsUmsetzung der Empfehlungen zugesagt, vertrauen mittlerweile viele Betroffene und ihre Angehörigen auf diese
Zusagen nicht mehr. Von etwa 3 700 Verfahren sind inzwischen etwa 700 zugunsten der geschädigten Soldaten abgeschlossen. Das ist gerade einmal jeder Fünfte.
Viele betroffene Soldaten und ihre Angehörigen kämpfen mittlerweile einen für sie zermürbenden und frustrierenden juristischen Kleinkrieg mit der Verwaltung um
Anerkennung auf Wehrdienstbeschädigung. Das Ministerium verzichtet noch nicht einmal darauf, nach einem
verlorenen Radarprozess in Berufung zu gehen. Von einer
großzügigen und unbürokratischen Anerkennung der
Radargeschädigten auf Wehrdienstbeschädigung kann
längst keine Rede mehr sein.
Zu Recht empfinden die Betroffenen und ihre Familien
das Vorgehen von Verwaltung und Ministerium als unzumutbar. Eine Hinhaltestrategie, mit der Verfahren möglichst lange hinausgezögert werden oder auf Verjährung
der Schadensersatzansprüche gesetzt wird, ist zynisch
und nicht hinnehmbar. Der ehemalige Dienstherr steht in
der Verantwortung, seiner Fürsorgepflicht gegenüber
Soldaten und ehemaligen Soldaten, die zu Zeiten des OstWest-Konfliktes ohne eigenes Wissen ihre Gesundheit und
ihr Leben riskiert haben, rasch und vollständig nachzukommen. Die vom Verteidigungsausschuss beschlossenen
Empfehlungen des Radarberichtes müssen daher ohne
Wenn und Aber umgesetzt werden. Zusätzlich ist es notwendig, Möglichkeiten einer Wiederaufnahme des runden Tisches für strittige Fälle sowie die Aussetzung von
Verfahren vorbehaltlos zu prüfen. Ministerium und Verwaltung müssen zurückkehren zum Prinzip des Dialogs
mit den Betroffenen. Auch eine bereits seit längerem diskutierte Stiftungslösung darf nicht leichtfertig vom Tisch
gewischt werden. Damit könnten auch die Ansprüche auf
Versorgungsleistungen von Radargeschädigten der NVA
und ihren Hinterbliebenen besser berücksichtigt werden.
Die Versorgungsleistungen für Strahlenopfer der Bundeswehr und der NVA sowie deren Hinterbliebene sollen
laut Empfehlungen der Radarkommission einheitlich beurteilt werden. Das ist ausdrücklich zu begrüßen. Allerdings greifen für die Versorgungsleistungen von radargeschädigten Soldaten der Bundeswehr und der NVA
unterschiedliche Rechtsgrundlagen. Während radargeschädigte Soldaten der Bundeswehr Leistungen nach
dem Soldaten- und Bundesversorgungsgesetz erhalten,
haben ehemalige Soldaten der NVA entsprechend dem
Einigungsvertrag und laut Dienstbeschädigungsausgleichsgesetz im Beitrittsland Anspruch auf eine Unfallrente. Zudem werden die Unfallrenten auf die Altersrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung teilweise
angerechnet. Das Dienstbeschädigungsausgleichsgesetz
sieht außerdem keine eigene Zusatzversorgung für Hinterbliebene von Radargeschädigten der NVA vor. Hinterbliebene von radargeschädigten Soldaten der NVA sind
mit Hinterbliebenen von Opfern von Arbeitsunfällen
gleichgestellt und erhalten daher Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Diese Praxis hat der Bundesgerichtshof in einem Urteil vom Februar 2008 bestätigt. Demnach haben Soldaten der NVA, die durch ihre militärische Tätigkeit Strahlenschäden erlitten haben, keinen generellen Anspruch
auf Schadenersatz durch die Bundesregierung. Etwaige
Ansprüche aus Zeiten der DDR sind laut Urteilsbegründung mit der Wiedervereinigung nicht auf die Bundesrepublik übergegangen. Auch die Vorinstanzen hatten die
Klage abgewiesen. Der Einigungsvertrag bildet laut Urteil des Bundesgerichtshofes keine Grundlage für Haftungsansprüche.
Die Fraktion Die Linke fordert nun in ihrem Antrag die
versorgungsrechtliche Gleichstellung von Radargeschädigten der Bundeswehr mit Radargeschädigten der NVA.
Das ist grundsätzlich richtig. Wenn die Fraktion Die
Linke in ihrem Antrag allerdings fordert, die Bundesregierung müsse sich ihrer Verantwortung für strahlengeschädigte ehemalige NVA-Angehörige stellen und auch
die Passiva der NVA übernehmen, dann muss sich die
Linke, die zu erheblichen Anteilen Nachfolgepartei der
SED ist, eine Frage an ihre Glaubwürdigkeit gefallen lassen: Warum setzt sie sich nicht mit demselben Engagement auch für die Rehabilitation und Entschädigung von
politischen Opfern des SED-Regimes ein?
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8116 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Verteidigungsausschuss liegen soll. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth ({0}), Bärbel Höhn, Krista Sager,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Experimente zur Meeresdüngung dürfen marine Ökosysteme nicht belasten
- Drucksache 16/11760 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Federführung strittig
Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt wol-
len wir zu Protokoll nehmen. Es handelt sich um die Re-
den der Kolleginnen und Kollegen Michael Kretschmer
und Ingbert Liebing, CDU/CSU, Heinz Schmitt und
René Röspel, SPD, Angelika Brunkhorst, FDP, Dr. Petra
Sitte, Die Linke, Undine Kurth und Krista Sager, Bünd-
nis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11760 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen die Federführung beim Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht die Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Überweisungsvorschlag bei Zustimmung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD - Federführung
beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung - abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 30. Januar 2009,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.