Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch
- Drucksache 16/99 -
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 16/688 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Pothmer
bb)Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/689 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Waltraud Lehn
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Claudia Winterstein
Anja Hajduk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Katja Kipping, Kornelia
Möller und der Fraktion der LINKEN
Angleichung des Arbeitslosengeldes II in den
neuen Ländern an das Niveau in den alten
Ländern rückwirkend zum 1. Januar 2005
- Drucksachen 16/120, 16/688 Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Pothmer
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Brandner, SPD-Fraktion.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein guter Tag für die
Menschen in Ost und West.
({0})
Man sollte ganz deutlich daran erinnern - auch Fritz
Kuhn weiß dies -, dass wir im letzten Jahr das Vorhaben
gestartet haben, gleiche Regelsätze in Ost und West
einzuführen. Wir werden dieses Gesetz nun gemeinsam
mit der CDU/CSU verabschieden. Insofern ist es wichtig, heute festzustellen: Das Arbeitslosengeld II ist künftig in Ost und West gleich. Das entsprechende Gesetz
wurde einer kontinuierlichen Bewertung unterzogen.
Wir können heute sagen: Wir haben dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung getragen. So sieht eine lernende
Gesetzgebung aus. Dafür steht die neue Koalition. Daran
wollen wir uns messen lassen.
({1})
Ich will ganz klar feststellen: Wer glaubt, es bedürfe
in Deutschland nur einer abschließenden Reform, irrt.
Die Welt ist nicht statisch. Wir müssen an den Veränderungen arbeiten. Wir haben deshalb Schluss gemacht mit
der Vorstellung, dass das Nettoeinkommen und die Lebenshaltungskosten im Osten niedriger sind, dass es im
Osten ein unterschiedliches Verbraucherverhalten gibt
und dass deshalb ungleiche Regelsätze in Ost und West
gerechtfertigt sind. Wir haben sie auf ein Niveau zusammengeführt. Wir haben damit ein Stück Spaltung
Redetext
überwunden. Das ist das Ergebnis unserer Politik und
das finden wir richtig so.
({2})
Ich sprach von lernender Gesetzgebung. Das heißt
auch, dass wir die aktuellen Entwicklungen nicht aus
dem Auge verlieren dürfen. Dazu will ich ganz deutlich
sagen: Wir müssen den Erwartungen und den Veränderungen Rechnung tragen. Damit meine ich ganz konkret
die Frage, wie sich die Zahl der Bedarfsgemeinschaften
in Deutschland entwickelt hat. Denn die Zahl der Einpersonenbedarfsgemeinschaften ist überdurchschnittlich stark gestiegen: allein von Januar bis September
2005 um 19,5 Prozent.
Doch wer darin Missbrauch sieht - das will ich gleich
klar sagen -, liegt falsch. Denn CDU/CSU, SPD und
Grüne haben es gemeinsam zu verantworten, dass diese
Gesetzgebung ermöglicht worden ist und dies Rechtszustand ist. Deshalb will ich mich klar gegen jegliche Form
von Diskriminierung derjenigen zur Wehr setzen, die nur
ihre rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft haben.
({3})
Ob das sinnvoll ist, ist eine ganz andere Frage. Wir müssen darüber nachdenken, ob bei all den Ausgaben, die
die Gesellschaft zu tragen hat, die Justierung dieser Ausgaben in der bisherigen Form zu Recht erfolgt ist. Denn
es kann nicht Aufgabe des Staates sein, für Jugendliche
ein Auszugsprogramm zu organisieren.
Wir haben diesen Punkt aufgegriffen, wobei wir die
Sorgen der Menschen ernst nehmen. Wir wehren uns
- ich finde, zu Recht - gegen die Hysterie, die in diesem
Lande teilweise entfacht worden ist, dass es ganze Umzugskarawanen gegeben haben soll. Wir weisen ausdrücklich darauf hin: Der Zustand, den wir jetzt erlebt
haben, ist so nicht gewollt gewesen. Aber von massenhaftem Missbrauch kann auch nicht die Rede sein.
Deshalb wollen wir, dass klargestellt wird, dass auch
zukünftig jungen Menschen die notwendige Unterstützung bereitgestellt wird und dass es auch zukünftig keine
Zwangsfamilien geben wird. Um es klar zu sagen: Wer
gute Gründe hat, aus dem Elternhaus auszuziehen, der
hat dazu auch in der Zukunft die Möglichkeit. Wer zum
Beispiel eine Arbeitsstelle fernab vom Elternhaus antreten will, der muss dazu die Möglichkeit haben.
Wir haben diese Jugendlichen nicht zu Bittstellern gemacht. Vielmehr haben wir im Gesetz drei konkrete
Gründe vorgesehen, bei denen man nach wie vor eine
Bedarfsgemeinschaft gründen kann. Denjenigen, die
schwerwiegende soziale Gründe vorweisen können, die
im Elternhaus vorliegen, wird weiterhin ein Umzug ermöglicht. Diejenigen, die zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt einen Umzug in Anspruch nehmen müssen,
können dies. Wir haben hinzugefügt, dass ein sonstiger
schwerwiegender Grund Anlass sein kann, aus der elterlichen Bedarfsgemeinschaft auszuziehen. Wir wissen,
dass dies zwei sehr konkrete Gründe und ein dritter,
nicht so konkreter Grund sind. Letzterer trägt aber den
Lebenswirklichkeiten Rechnung.
Wir haben ein Verhältnis von 75 langzeitarbeitslosen
Jugendlichen pro Fallmanager entwickelt. Wir müssen
erwarten können, dass dieser die Differenziertheit der
Lebenssituation aufgreift und im Notfall denjenigen, die
besonderer individueller Hilfe bedürfen, diese zuteil
kommen lässt.
({4})
Das ist Ergebnis unserer Politik. Da lassen wir auch
nicht nach.
Wir wollen, dass die Jugendlichen in Deutschland
sich auf uns, auf die Politik verlassen können. Denn wer
im Vertrauen auf die bisherige Rechtslage bereits ausgezogen ist, muss nicht ins Elternhaus zurück und erhält
auch weiterhin die 100-prozentige Leistung des
Arbeitslosengeldes II. Das heißt, das Arbeitslosengeld II
und die Kosten der Unterkunft werden wie bisher gezahlt. Weder Zwangsfamilie noch Zwangsräumung ist
hier angesagt. Das muss heute Morgen sehr deutlich
klargestellt werden.
({5})
Meine Damen und Herren, in einer solidarischen Gesellschaft müssen alle Verantwortung füreinander übernehmen. Deshalb sagen wir an diesem Punkt sehr deutlich, dass Jugendliche unter 25 Jahren künftig in der
Regel 80 Prozent der Regelleistung erhalten. Sie werden
damit nicht schlechter gestellt als Ehe- bzw. Lebenspartner. Denn ein Alleinstehender erhält 100 Prozent der Regelleistung; kommt ein Partner hinzu, erhöht sich der
Betrag um 80 Prozent. Genau das regeln wir auch für Jugendliche oberhalb des 18. Lebensjahres, die in der elterlichen Bedarfsgemeinschaft verbleiben. Das ist angemessen. Dazu stehen wir auch.
Manche haben das als Sparen bezeichnet. Aber wofür
sparen? Wir sparen für Investitionen in die Zukunft, in
die bessere Kinderbetreuung, in die bessere Ausbildung,
in mehr Fortbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen.
Darin zu investieren, kann kein Schade sein. Das sind Investitionen in die Zukunft. Dazu stehen wir. Das wollen
wir fortsetzen.
({6})
Worauf kommt es an? Wir wollen den Beitrag an die
gesetzliche Rentenversicherung für Arbeitslosengeld-II-Bezieher zukünftig absenken. Wir senken damit
aber nicht die Rentenzeiten ab. Wir minimieren damit
auch nicht den Versicherungsschutz in der gesetzlichen
Rentenversicherung. Er soll voll erhalten bleiben. Denn
wir wollen nicht, dass Menschen dauerhaft im Arbeitslosengeld-II-Bezug bleiben. Vielmehr wollen wir, dass
Menschen die Chance bekommen, aus dem Arbeitslosengeld-II-Bezug wieder in normale Arbeitsverhältnisse
einzutreten. Insofern ist es uns wichtig, dass keine gebrochenen Erwerbsbiografien entstehen, sondern dass
durchgehende Versicherungsverläufe bleiben, dass
durchgängig Anspruch auf Rehabilitation bleibt und dass
die vollen Leistungen bei Erwerbsminderung möglich
bleiben. Das ist sozialstaatlich geboten. Dazu stehen wir.
Das werden wir auch weiterhin einhalten.
({7})
Ich will in diesem Zusammenhang ganz deutlich sagen, dass wir gemeinsam die Langzeitarbeitslosen, die
in der Vergangenheit oft als Sozialhilfeempfänger nicht
rentenversichert, nicht krankenversichert und nicht pflegeversichert waren, in das solidarische Sozialsystem
aufgenommen haben und damit Rechtsfortschritt in diesem Lande organisiert haben.
({8})
Wir waren es, die dafür gesorgt haben, dass man auf einer sicheren Grundlage die Zukunft angehen kann.
({9})
Ich will ganz deutlich sagen: Dazu gehört auch, dass
diejenigen, die in der Vergangenheit ausgegrenzt waren,
erstmals Anspruch auf alle Leistungen am Arbeitsmarkt
haben. Alle arbeitsmarktpolitischen Instrumente stehen
den Langzeitarbeitslosen zur Verfügung. Das haben wir
durchgesetzt. Uns kommt es darauf an, den Menschen zu
helfen, sie zu unterstützen, sie nicht auszugrenzen.
In diesem Zusammenhang wird in vielen Fällen über
die Frage der Mietschulden - über Einzelfälle - diskutiert und die Frage gestellt: Gibt es auch zukünftig die
Möglichkeit, eine dem Einzelfall angemessene Regelung
zur Begleichung von Miet- oder Energieschulden zu
finden? Ich möchte ganz deutlich sagen: Wir wollen zuallererst, dass diejenigen, die Schulden machen, auch dafür aufkommen müssen. Deshalb müssen sie zuallererst
- ich sage es hier klipp und klar - auf Darlehen verwiesen werden.
({10})
Ich sage aber auch: Da, wo es im Einzelfall notwendig ist, wo Härtefälle auftreten, wo zum Beispiel Wohnungslosigkeit droht, muss es möglich sein, dass anstatt
des Darlehens eine Beihilfe gewährt wird. Wir haben im
Ausschuss sichergestellt - das Ministerium hat das zweifelsfrei beantwortet -, dass der Gesetzestext genau dies
hergibt. Damit geben wir ein Signal an die Fallmanager,
an die Kommunen, an diejenigen, die Leistungen zur
Verfügung stellen, genau so zu verfahren: Die Beihilfe
ist nicht die Regel, aber sie ist im Einzelfall möglich.
Das wollen wir sichergestellt wissen.
Ich bin mir insgesamt darüber im Klaren, dass wir die
Jugend fördern und nicht alimentieren müssen. Das
muss unsere Orientierung sein: Wir müssen all unsere
Kräfte auf das Fördern konzentrieren. 2005, nachdem
dieses riesige Gesetzeswerk in Kraft getreten ist, hat das
noch nicht so geklappt, wie wir uns das vorgestellt haben.
({11})
Wir wissen: Viele Arbeitsgemeinschaften sind erst im
Laufe des Jahres 2005 entstanden; nur etwa 50 Prozent
der Aktivierungsmittel sind abgerufen worden. Das ist
bedauerlich. Das heißt aber nicht, dass der Reformschritt
nicht klug und richtig war. Vielmehr müssen wir genau
hier ansetzen, den Reformschritt mit mehr Fahrt umzusetzen und die Maßnahmen zu unterstützen.
Wir bauen die Chancen für die Jugend aus. Deshalb
sagen wir ganz deutlich: Die Koalition sieht es als eine
Schwerpunktaktivität an, Vorfahrt für junge Menschen
zu gewähren. Der Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs ist ein Element in diesem Paket. Die Vermittlung und Qualifizierung junger Menschen sind ein
Schwerpunkt der Bundesagentur für Arbeit. Wir wissen,
dass auf diesem Gebiet noch viel zu leisten ist. Die Beschäftigten der BA haben unsere volle Unterstützung dabei, sich genau diesem Schwerpunkt stärker als in der
Vergangenheit zu widmen.
Wir müssen auch daran erinnern, dass die Länder eine
große Verantwortung für die Erstausbildung tragen.
Wenn nämlich junge Menschen ohne ein gutes Bildungsniveau die Schulen verlassen, ist ein Eintritt ins Arbeitsleben nicht möglich. Hier haben die Länder zukünftig
ihre Aufgaben und ihre Verantwortung stärker wahrzunehmen.
({12})
Sie können diese Aufgaben nicht einfach der Bundesagentur übereignen. Vielmehr fordern wir die Verpflichtung der Länder ein, hier das zu tun, was ihnen aufgrund
unserer Verfassung gebührt.
Wir wollen, dass die intensive Betreuung Jugendlicher insbesondere in den Arbeitsgemeinschaften verbessert und ausgebaut wird. So verstehen wir die Veränderungen im Sozialgesetzbuch II, bei deren Umsetzung
wir alle mithelfen und mitwirken sollen, damit sie zu einem Erfolg werden, damit zukünftig die arbeitslosen Jugendlichen, von denen - ich sage es deutlich - eine viel
zu große Zahl keine abgeschlossene Berufsausbildung
hat, eine nachhaltige Chance zum Eintritt ins Arbeitsleben erhalten. Das wird unsere Zukunftsaufgabe sein. Dafür sind wir angetreten; dafür haben wir die Veränderungen im Sozialgesetzbuch vorgenommen. Ich bitte Sie,
diese gemeinsam zu unterstützen.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe
und Sozialhilfe sollte unter anderem Kosten sparen und
die Vermittlung in Arbeit verbessern. Beide Ziele sind
offenkundig nicht erreicht worden. Die Vermittlung in
Arbeit, insbesondere der Langzeitarbeitslosen, ist nicht
signifikant besser geworden; aber dafür sind die Kosten
signifikant gestiegen: auf 26 Milliarden Euro statt
14 Milliarden Euro. Von daher ist es bemerkenswert,
dass die Angleichung des Arbeitslosengeldes II Ost auf
Westniveau durchgeführt wird. Wir sind der Ansicht,
dass das Trennende zwischen Ost und West im 16. Jahr
der deutschen Einheit nicht mehr Maßstab für Sozialgesetzgebung sein darf.
({0})
Allerdings gibt es Unterschiede nicht nur zwischen
Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd. Sogar in den ostdeutschen Bundesländern gibt es ganz unterschiedlich strukturierte Regionen, genauso wie in den
westlichen Bundesländern. Von daher wäre es sinnvoll
gewesen, die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
abzuwarten, um zu wissen, wo man im Land wie teuer
lebt, um das Problem dann differenzierter anzugehen.
Bei der Sozialhilfe für Nichterwerbsfähige tun Sie das
immerhin.
Es stellt sich zugleich die Frage, weshalb die große
Koalition nun beim Arbeitslosengeld II eine Angleichung anstrebt, nicht aber bei den Sozialhilfeempfängern, bei den Erwerbsunfähigen, denen es meist noch
schlechter geht als denen, die jung und gesund sind.
Fest steht: Um durch einen regulären Arbeitsplatz das
gleiche Einkommensniveau wie beim Arbeitslosengeld II
erreichen zu können, müssen je nach Familienstand zwischen 8 und 10 Euro brutto pro Stunde verdient werden.
Das kann in der nächsten Debatte über die Mindestlöhne
nicht außer Acht gelassen werden.
In diesem Gesetz sind neben der Angleichung des
Arbeitslosengeldes II auch noch andere Dinge enthalten,
zum Beispiel die Absenkung des Rentenversicherungsbeitrages für Langzeitarbeitslose um 2 Milliarden Euro.
Die maroden Rentenversicherungskassen werden noch
einmal zusätzlich um 2 Milliarden Euro belastet, damit
sich der Staat seinen Haushalt schönrechnen kann,
({1})
obwohl wir seit gestern wissen, dass die Steuerschätzung
ergeben hat, dass wir in diesem Jahr 20 Milliarden Euro
Steuereinnahmen mehr als vorausgesehen haben werden.
Des Weiteren ist in dieses Gesetz die Neuregelung
für die jugendlichen Langzeitarbeitslosen eingearbeitet. Wir sind der festen Überzeugung: Jeder Mensch in
diesem Land darf aus dem Elternhaus ausziehen, wenn
er es sich leisten kann. Wir sind auch der festen Überzeugung: Wer es sich nicht leisten kann und dafür die
Hilfe der Allgemeinheit braucht, der muss sich schärferen Kriterien unterwerfen. In der Art und Weise, wie Sie
diese Regelung allerdings vorsehen, sind die Kriterien
der Überprüfung der schwerwiegenden Gründe für einen
Arbeitsvermittler nicht nachvollziehbar.
Sie schaffen es ja noch nicht einmal, festzustellen, ob
es eheähnliche Gemeinschaften gibt. Sie wollen doch
nicht hinter jeden jugendlichen Arbeitslosen einen Arbeitsvermittler oder einen „Arbeitslosenpolizisten“ stellen, um zu überprüfen, ob die Kriterien tatsächlich erfüllt
werden. Das wird in der Praxis kaum handhabbar sein,
insbesondere weil über die Frage, ob man ausziehen
darf, die abgebende Gemeinde entscheidet und nicht die
aufnehmende. Wenn also der Bezirk Kreuzberg Kosten
sparen möchte und der Jugendliche meint, er müsse dringend ganz weit weg vom Elternhaus, weil es da kriselt,
nach München ziehen, dann kann Kreuzberg das genehmigen und die Münchener müssen das bezahlen. Viel
Freude dabei! Das wird einen enormen Verwaltungsaufwand zwischen den Kommunen verursachen. Das Problem wird dadurch nicht gelöst.
Natürlich ist es problematisch, dass 58 Prozent aller
Bedarfsgemeinschaften Einpersonenhaushalte sind. Das
Gesetz, wie Sie es auf den Weg gebracht haben, hat zu
einer wahren Zellteilung deutscher Familien geführt.
Der Anstieg der Zahl der unter 25-jährigen Arbeitslosen
ist mit 28 Prozent im letzten Jahr doppelt so hoch wie
der Anstieg der Zahl der anderen Langzeitarbeitslosen
mit 14 Prozent.
Das von Ihnen vorgelegte Gesetz setzt das fort, was
Rot-Grün gemacht hat. Ich wundere mich schon, dass
die Union dabei mitmacht. Denn es setzt Flickwerk fort.
({2})
Wie ist die Situation denn tatsächlich bei der Beweisführung der eheähnlichen Lebensgemeinschaften? Was war
mit den zu viel abgeführten Krankenversicherungsbeiträgen der Bundesagentur? Das Geld ist immer noch
nicht zurückgekommen und die Krankenversicherungen
werden natürlich ihre Kostenpauschale abziehen; da haben Sie wieder das Geld anderer Leute verprasst. Was ist
mit dem EDV-Programm A2LL? Ich höre immer wieder,
dass es nicht funktioniert. Bei der Bundesagentur überlegt man sich schon seit langer Zeit, ob man vielleicht
ein teures Nachfolgeprojekt braucht. Es würde mich
nicht wundern, wenn es noch teurer wird, wie alle anderen EDV-Projekte. Aber dass die Bundesagentur und übrigens auch die Bundesregierung wissen, dass das, was
sie hier vorlegen, erst zum 1. Januar 2007 EDV-technisch ernsthaft umgesetzt werden kann und sie es trotzdem zum 1. Juli dieses Jahres einführen, das ist schlichtweg verantwortungslos und führt die Menschen in die
Irre, die glauben, dass es ihnen jetzt besser gehen
könnte, und die darauf setzen, dass Ihre Gesetzgebung
eine minimale Halbwertzeit hat.
({3})
Die Langzeitarbeitslosen müssen dort betreut werden,
wo man sich auf sie einstellen kann: in den kommunalen Job-Centern. Wir müssen endlich von der sozialen
Begleitung der Langzeitarbeitslosigkeit wegkommen
und auf den Pfad einer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik zurückkehren. Denn soziale Größe zeigt
sich nicht an der Höhe einer Transferleistung, sondern
daran, dass die Möglichkeit besteht, einen Arbeitsplatz
zu bekommen, damit man seinen Lebensunterhalt selbst
erwirtschaften kann.
Um das zu erreichen, dafür hat die große Koalition
überhaupt nichts auf den Weg gebracht: weder in ihrer
Koalitionsvereinbarung noch in der Regierungserklärung noch im Rahmen ihrer praktischen Gesetzgebung.
Deswegen werden wir den vorliegenden Gesetzentwurf
mit Enthaltung abstrafen. Denn er ist Flickwerk, bei dem
Sie genauso gemurkst haben, wie es früher Rot-Grün getan hat.
Herr Kollege Niebel, schauen Sie bitte einmal auf die
Uhr.
Ja, Frau Präsidentin. Wie ich sehe, habe ich schon
40 Sekunden überzogen.
({0})
Ich komme zu meinem letzten Satz.
45 Sekunden, Herr Kollege.
Mittlerweile sind es 47 Sekunden.
({0})
Den Entschließungsantrag der Grünen werden wir leider ablehnen müssen; denn in ihm wird eine Ausweitung
der Leistungen gefordert. Hier geht es allerdings um das
Geld anderer Leute, das diese mit ihrer Hände Arbeit zu
erwirtschaften haben. Mit diesen Steuergeldern können
Sie offensichtlich nicht anständig umgehen. Wir Liberale können das.
({1})
Das Wort hat der Kollege Gerald Weiß, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Niebel, wenn Sie sagen, dass Sie
den vorliegenden Gesetzentwurf kraftvoll mit Enthaltung abstrafen werden,
({0})
dann merkt jeder, dass etwas nicht stimmt. Ich selbst bin
gelernter Oppositionspolitiker und sage Ihnen: Wenn wir
uns, als wir noch in der Opposition waren, enthalten haben, war es immer so, dass das, was die Regierung vorgelegt hatte, gar nicht so schlecht war.
({1})
Man muss sich nun einmal entscheiden, wie man abstimmt; das ist Ihr gutes Recht und das respektieren wir
auch.
Wir müssen die knappen Mittel unseres Sozialstaates
zielgenauer einsetzen; denn sie fließen nicht wie Milch
und Honig in einem Land der Verheißung, sondern sie
müssen von den Erwerbstätigen täglich hart erarbeitet
werden. Mit diesen knappen Mitteln müssen wir zielgerichtet und verantwortungsvoll umgehen. Unser Sozialstaat muss mit seinen begrenzten Mitteln mehr erreichen. Eine der großen Fragen unserer Zeit ist, wie wir in
unseren Systemen der sozialen Sicherung für mehr Effizienz und mehr Effektivität sorgen.
Dieses Ziel auf einem wichtigen Sektor zu realisieren,
hat sich die große Koalition vorgenommen. Dabei geht
es um den Bereich der Grundsicherung, vulgo: um das
ALG II und um Hartz IV. Hierbei handelt es sich um
eine Erneuerung in Stufen. Wir wollen das ALG II zielgerechter, sachgerechter und effektiver gestalten. Das
sind wir den Malochern in unserer Gesellschaft schuldig,
denen wir jeden Tag große Solidaropfer zumuten.
Ich will vier Aspekte unseres Gesetzentwurfes darlegen - Überschneidungen mit dem, was der Kollege
Brandner gesagt hat, sind nicht zufällig, sondern großkoalitionär bedingt -:
({2})
Erstens. Das ALG II wird gerechter gestaltet. Wir
gleichen den Zahlbetrag in Ostdeutschland an den Zahlbetrag in Westdeutschland an, wie es uns auch der
Ombudsrat nahe legt. Die Regelleistung in den neuen
Bundesländern wird um 14 Euro - von 331 Euro auf
345 Euro - erhöht. Das muss angesichts des linkspopulistischen Getöses der PDS immer wieder betont werden.
({3})
Um mehr Gerechtigkeit zu schaffen, müssen wir mehr
Geld ausgeben; daher wird diese Leistung erhöht. Dabei
geht es immerhin um einen Betrag von 260 Millionen
Euro, den wir gemeinsam mit den Kommunen zur Verfügung stellen. Nicht nur, aber auch deshalb müssen wir an
den Stellen, an denen wir eindeutig über das Ziel hinausgeschossen sind, Ressourcen einsparen.
({4})
Zweitens. Da wir ein Faible für Fakten haben, sage
ich Ihnen Folgendes: Das neue Recht gilt ab dem
1. Januar 2005. Seit diesem Zeitpunkt - Herr Brandner
hat darauf hingewiesen - ist die Zahl der Einpersonenbedarfsgemeinschaften - so heißt dieses Wortungetüm um 19,6 Prozent gestiegen, sogar noch deutlich stärker
als die Zahl der Mehrpersonenbedarfsgemeinschaften.
({5})
- Ja, das ist deutlich mehr. Der Unterschied beträgt nahezu 4 Prozentpunkte.
Gleichzeitig ist die Zahl der erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen unter 25 Jahre um 28 Prozent gestiegen - Herr
Kurth, doppelt so stark wie die Zahl der erwerbsfähigen
Hilfsbedürftigen über 25 Jahre. Diese beiden statistischen Daten braucht man nur zusammenzubringen, dann
weiß man, was geschehen ist: Junge Leute sind auf
Staatskosten, auf Kosten der Gemeinschaft von zu
Hause ausgezogen; sie haben den zu großzügig bemessenen Rechtsrahmen genutzt, den der Gesetzgeber gestaltet hat. Kollege Brandner, das ist natürlich kein Miss1492
Gerald Weiß ({6})
brauch. Aber es ist ein Mitnahmeeffekt, den wir nicht
wollen können.
({7})
Deswegen verändern wir heute gemeinsam die Rahmenbedingungen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Seifert?
Ja, bitte.
Herr Kollege Weiß, Sie haben gerade von einer zu
großzügigen Ausstattung der jugendlichen ALG-IIEmpfänger gesprochen. Würden Sie mir bitte erklären,
wieso ein 20-Jähriger oder ein 23-Jähriger als Soldat
nach Afghanistan geschickt werden kann,
({0})
aber nicht einmal eine eigene Wohnung haben darf?
({1})
So etwas kann ja nur einem Linken einfallen!
({0})
Wir müssen doch in den Kategorien von Eigenverantwortung, Familienverantwortung und gesellschaftlicher
Verantwortung denken.
({1})
Wir schreiben doch niemandem seinen Lebensstil vor;
wir verordnen niemandem, wie lange er bei den Eltern
- gestern hat jemand vom „Hotel Mama“ gesprochen wohnen muss. Das ist Privatsache; das soll jeder selbst
entscheiden. Allerdings darf die Gemeinschaft mit dieser
privaten Lebenswegentscheidung nicht länger belastet
werden. Das ist die Folgerung aus dem Prozess, den wir
eben dargestellt haben.
({2})
Grundsicherung, Herr Seifert, ist Hilfe für Hilfsbedürftige, nicht aber die Finanzierung bestimmter Lebenswegentscheidungen und persönlicher Lebensstile.
Grundsicherung ist Hilfe, auf die man angewiesen ist.
Deshalb hat Herr Brandner zu Recht die beiden Ausnahmen angesprochen, die wir in den Gesetzentwurf aufgenommen haben. Die Genehmigung zum Auszug aus dem
Elternhaus und zur Gründung eines eigenen Hausstandes
- samt Umzug und Erstausstattung - auf Kosten der Gemeinschaft bleibt möglich, wenn schwer wiegende soziale Gründe gebieten, dass der junge Mensch von zu
Hause auszieht. Manche, Herr Niebel zum Beispiel, halten „schwer wiegende soziale Gründe“ für reichlich unbestimmt. So ist es aber nicht: Die Verwaltung hat viel
Erfahrung und Praxis auf diesem Feld und es gibt eine
umfangreiche Rechtsprechung dazu. Außerdem ist da
noch der gesunde Menschenverstand.
Die zweite Ausnahme greift, wenn jemand eine Arbeitsstelle antritt. Dann ist das Hilfe zur Selbsthilfe.
Wenn jemand in Zukunft seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, beim Start aber auf Hilfe angewiesen ist, müssen wir ihm selbstverständlich helfen. In diesen beiden
Fällen wird Hilfe gewährt; alle übrigen Fälle sind Privatsache.
({3})
Jeder muss sich schon selbst um seinen Lebensunterhalt
kümmern.
({4})
Die Fehlanreize sind damit beseitigt. Die sozialpolitische Wirksamkeit wird erhöht. Wir gestalten diese neue
Norm mit dem allerbesten Gewissen; sie ist eine vernünftige Balance zwischen Eigenverantwortung und gesellschaftlicher Verantwortung.
Dasselbe gilt für meinen dritten Punkt: dass wir die
Bedarfsgemeinschaften präziser definieren. Bisher ist
es so, dass jemand, der volljährig wird, automatisch den
Status einer Bedarfsgemeinschaft erhält, mit 100 Prozent
Regelsatz. Die Lebenswirklichkeit ist doch die, dass jemand, der zu Hause lebt, zu den Generalkosten - Versicherungen, Strom, haushaltstechnische Geräte - in der
Regel nichts beizutragen hat. Da ist es nur recht und billig, wenn wir solche im Elternhaus wohnende junge
Menschen in die elterliche Bedarfsgemeinschaft einbeziehen und ihren Regelsatz auf 80 Prozent kürzen. Auch
das bedeutet eine größere Treffsicherheit im Sozialstaat.
Wir tun etwas Richtiges, wenn wir auf die Fehlentwicklungen, die wir beobachten, entsprechend reagieren.
({5})
Mein vierter Aspekt: Mehr Zielgenauigkeit auch mit
Blick auf die EU-Ausländer. Die Freizügigkeit ist ein
hohes Gut. Gemeint sind auch nicht die EU-Ausländer,
die hier bei uns den Status eines Arbeitnehmers besitzen,
weil sie gearbeitet haben. Wer aber aufgrund des Leistungsrechts nach Deutschland einreisen will, den schließen wir künftig von Leistungen aus.
({6})
Ich denke, auch das ist eine normale und richtige Folgerung. In Zukunft werden wir es nicht mehr zulassen, dass
die Freizügigkeit genutzt wird, um nach der Einreise einzig und allein Leistungen zu beziehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir handeln
verantwortungsbewusst und machen die Statik der
Grundsicherung belastungssicherer und tragfähiger. Das
ist ein erster Schritt einer großen Reform. Ich bin mir sicher, dass es eine kluge Entscheidung ist.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die geplanten Verschärfungen von Hartz IV sind ein Angriff
auf die Eigenständigkeit junger Menschen und auf Bürgerrechte.
({0})
Dabei sind Sie es doch immer gewesen, meine Damen
und Herren von SPD und CDU, die nach mehr Selbstständigkeit, nach mehr Flexibilität bei jungen Menschen
rufen.
({1})
Dann degradieren Sie Volljährige unter 25 Jahre zu
Minderjährigen, dann verdonnern Sie junge Erwachsene
zum Sitzenbleiben im „Hotel Mama“ und kürzen gleich
noch die Regelleistungen auf 276 Euro. Das ist nun
wirklich die falsche Richtung.
({2})
Ich muss mich schon wundern, wie schnell Sie aus
dem Häuschen sind, wenn jemand Ihren Ansatz des
Sozialabbaus grundsätzlich nicht teilt. Daran werden
Sie sich gewöhnen müssen.
({3})
Es kann ja sein, dass Sie in den letzten Jahren etwas verwöhnt wurden. Man war halt mehr unter sich. Von der
Opposition gab es eher Kritik im Detail. Sie werden sich
jetzt aber daran gewöhnen müssen, dass es nicht mehr
nur zwei Frauen von der PDS gibt, die Ihren Grundkonsens durchbrechen, sondern dass im Bundestag jetzt wieder eine gesamte Fraktion sitzt, die der Meinung ist, dass
wir das Problem der Arbeitslosigkeit nicht auf dem Rücken der Schwächsten austragen dürfen.
({4})
- Herr Brauksiepe, anstatt über Leistungskürzungen zu
reden, sollten wir mal darüber reden, was man beim Leben jenseits von Armut eigentlich braucht.
Wenn man im 2. Armuts- und Reichtumsbericht nachschlägt, dann kann man lesen:
In Deutschland beträgt die so errechnete Armutsrisikogrenze 938 Euro...
938 Euro, meine Damen und Herren von der SPD - das
ist die Zahl Ihrer Regierung!
({5})
Folgt man dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, so
stellt man fest, dass der Regelsatz mindestens 420 Euro
betragen sollte. Die Angleichung der Regelsätze Ost
und West ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es ist
wahrlich schon ein Armutszeugnis für die Sozialdemokratie, dass es erst vehementer Montagsdemonstrationen
und der Linkspartei bedurfte, damit Sie überhaupt auf
diese Idee kommen.
({6})
Indem Sie die Angleichung Ost an West mit Kürzungen bei den Rentenbeiträgen und bei den EU-Ausländern
sowie mit einem faktischen Auszugsverbot für junge Erwachsene verbinden, beweisen Sie eigentlich nur eines:
Sie verfolgen nach wie vor die Politik des Gegeneinander-Ausspielens der gesellschaftlichen Schichten, die sowieso am wenigsten haben. Daran werden wir als Linke
uns nicht beteiligen. Da brauchen Sie sich gar keine falschen Hoffnungen zu machen.
({7})
14 Monate lang prellen Sie die ostdeutschen Erwerbslosen nun schon pro Monat um 14 Euro. 14 Euro sind für
einen ALG-II-Empfänger wahrlich kein Klacks. Den offiziellen Berechnungen zufolge hat ein Erwerbsloser
seine gesamten Gesundheitskosten und seine gesamten
Kosten für die Körperpflege pro Monat von 13 Euro und
19 Cent zu finanzieren. Seien wir doch einmal ehrlich:
Wie weit würden wir mit knapp 14 Euro kommen, um
damit die Kosten für Kosmetik und Gesundheit zu decken? Da die Differenz zwischen Ost- und Westdeutschland unrechtmäßig war, fordern wir Sie auf, diesen Betrag rückwirkend nachzuzahlen. Das ist für uns eine
Selbstverständlichkeit.
({8})
Nun wenden Sie ein, das sei ein zu großer bürokratischer Aufwand. Gut, wir müssen keine unnötige Arbeit
verursachen. Lassen Sie uns dann gemeinsam nach einer
unbürokratischen Lösung, beispielsweise einer einmaligen Pauschale, suchen.
({9})
Apropos bürokratischer Aufwand. Sie dürfen nicht so
tun, als ob die von Ihnen geplanten Verschärfungen bei
den unter 25-Jährigen völlig unbürokratisch seien.
({10})
Sie alle kennen die Stellungnahme der Bundesagentur, in
der ausgeführt wird, dass das Softwaresystem die Aufnahme der Kategorie „Volljährige Kinder, die das
25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben“ in eine bestehende Bedarfsgemeinschaft nicht zulässt. Man könnte
fast meinen, das Softwareprogramm verfüge über ein
rechtsstaatliches Verständnis, von dem sich hier so mancher eine Scheibe abschneiden könnte.
({11})
In den Debatten der letzten Tage wurden von den Befürwortern der Kürzung vor allen Dingen vier Argumente genannt, die ich gemeinsam mit Ihnen gerne näher beleuchten möchte.
Erstens. Die Herausbildung falscher Verhaltensmuster
war ein Argument. Die Metapher von der Zellteilung
machte die Runde. Aber wenn man genauer nachfragt,
wo das belastbare Zahlenmaterial sei, dann wurde es
verdammt dünn. Um einmal Herrn Senius von der Bundesagentur - übrigens der Sachverständige, den die großen Koalition benannt hat - zu zitieren: Man habe keine
gesicherten Angaben.
({12})
Der Vertreter der Wohlfahrtspflege wurde noch deutlicher. Ich zitiere: Nach unserer Interpretation - wir sind
sehr tief in die Statistik eingestiegen - gibt es keinerlei
Anzeichen, nach denen man auf ein so genanntes Phänomen der Zellteilung schließen kann. - Sie haben keine
belastbare Grundlage für Ihre Behauptungen. Aber Sie
nehmen Ihr diffuses Empfinden als Grundlage für tiefe
Einschnitte.
({13})
Eine solche Politik aus dem Bauch heraus wird in Zukunft zu weit mehr als Bauchschmerzen führen.
({14})
Zweitens. Menschen unter 25 Jahre - so Ihre Argumentation - sollen sowieso in einen Ausbildungs- oder
Arbeitsplatz vermittelt werden. Dazu kann ich nur sagen: Schön wäre es! Ihr Anspruch nützt jedoch dem Jugendlichen, der bereits seine 50. Bewerbung vergeblich
geschrieben hat, leider sehr wenig.
Drittens. Es handele sich hier - so führen Sie an - um
eine steuerfinanzierte Leistung, für die die Menschen
aufkommen müssten, welche jeden Tag bei Wind und
Wetter zur Arbeit gehen.
({15})
Es ist tatsächlich ein Problem, dass das Steueraufkommen immer mehr von den Menschen getragen wird, die
eine Arbeit haben.
({16})
Hier müssen wir tatsächlich etwas verändern. Also wagen wir uns endlich daran, Gewinne und Vermögen besser zu besteuern, um die Beschäftigten etwas zu entlasten.
Viertens. Sie sagen, die Familie sei eine Verantwortungsgemeinschaft. Als emanzipatorische Linke habe
ich ein anderes Familienverständnis. Das mag Ihnen altmodisch vorkommen, aber ich bin nach wie vor der Meinung: Nicht finanzielle Abhängigkeit, sondern gegenseitige Achtung und gegenseitiger Respekt sollten die
Grundlagen des Zusammenlebens bilden.
({17})
Mit Ihrem Familienverständnis, meine Damen und
Herren von SPD und CDU/CSU, beweisen Sie allerdings, wie Recht Karl Marx hatte, als er im „Kommunistischen Manifest“ schrieb:
Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen
rührend-sentimentalen Schleier entrissen und es auf
ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.
({18})
- Herr Brauksiepe, Sie werden sich wieder daran gewöhnen müssen, dass auch hier im Bundestag der in wissenschaftlichen Schriften am meisten zitierte Autor wieder
eine Rolle spielt.
({19})
Die Argumente, die SPD und CDU/CSU für die Fortsetzung ihres Kürzungskurses vorbringen, überzeugen
einfach nicht. Wenn Frau Connemann argumentiert, der
staatlich finanzierte Auszug sei kein Bürger- und Menschenrecht, dann lässt das aufhorchen. Wollen Sie hier
etwa einen Testballon für weitere Kürzungen steigen
lassen? Ihre Logik, Frau Connemann, zu Ende gedacht, bedeutet, man könne die Grenze genauso gut
bei 35, 55 oder am besten bei 67 Jahren ziehen, um danach nahtlos in Rente zu gehen.
({20})
Die Kürzungen, die heute Erwachsene unter
25 Jahren treffen, können von Ihnen schon morgen für
die unter 35-Jährigen oder für die über 55-Jährigen diskutiert werden. Wir Linken meinen jedoch: Junge Menschen dürfen nicht zum Experimentierfeld für weitere
Leistungskürzungen werden.
({21})
Zusammenfassend ist zu sagen: Hartz IV junior ist
kein Deut besser als Hartz IV senior. Es lohnt sich also,
hier in diesem Haus über Alternativen zu reden.
Erstens sollten wir endlich das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft abschaffen
({22})
und schrittweise das Individualprinzip einführen. Es
geht schließlich um soziale Rechte jedes Einzelnen.
({23})
Zweitens sollten wir das Arbeitslosengeld II durch
eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung ersetzen,
die ein Leben jenseits der Armut und unabhängig vom
Einkommen der Verwandtschaft ermöglicht. Es ist
höchste Zeit dafür.
({24})
Drittens sollten wir - um die Finanzierung dieser
Maßnahmen sicherzustellen - endlich einen Kurswechsel in der Steuerpolitik vornehmen und uns daran wagen,
Vermögen und Gewinne von Unternehmen ordentlich zu
besteuern.
({25})
Ihre bisherige Steuerpolitik hat die Löcher in den Haushalten nur weiter vergrößert.
({26})
Ich denke, wir können es uns nicht mehr leisten, auf
diese Steuereinnahmen zu verzichten.
Es kann nicht sein, dass die Folgen Ihrer verfehlten
Steuerpolitik, die Sie zu verantworten haben, auf dem
Rücken der Ärmsten ausgetragen werden. Es ist höchste
Zeit für einen politischen Kurswechsel in diesem Land.
Besten Dank.
({27})
Das Wort hat der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
An dieser Stelle wird häufig das so genannte strucksche
Gesetz bemüht, demzufolge ein Gesetz nicht so aus dem
Parlament herauskommt, wie es dort eingebracht worden
ist. Meistens wird das in diesem Hohen Hause von Abgeordneten in der Hoffnung geäußert, dass das Gesetz,
das im Parlament beschlossen wird, besser ist als der
eingebrachte Gesetzentwurf. Dass auch der umgekehrte
Fall möglich ist, nämlich dass ein Gesetz das Parlament
in einer schlechteren Fassung verlässt, beweist der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des als Hartz IV
bekannt gewordenen SGB II. Eingebracht wurde nämlich das Vorhaben einer durchaus sympathischen Angleichung der Regelsätze in Ost und West. Herausgekommen ist dagegen ein relativ krudes und unsystematisches
Spargesetz mit weiteren Leistungseinschränkungen.
({0})
Sparen ist an sich keine Sünde, sofern Begründung,
Ziel und Grundannahmen stimmen. Das alles stimmt im
vorliegenden Fall jedoch nicht. Sie behaupten, dass es
bei Hartz IV zu Kostensteigerungen gekommen ist. Sie
widersprechen nicht den öffentlich geäußerten Behauptungen, dass es bei Hartz IV sogar zu einer Kostenexplosion gekommen sei.
({1})
Sie treten auch nicht dem Eindruck entgegen, dass die
Leistungsempfänger dafür verantwortlich sind.
Wahr ist aber - das ist an dieser Stelle festzuhalten -:
Die gesamten Leistungen für Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe und Wohngeld, die zu zahlen gewesen wären, wenn
es nicht zur Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gekommen wäre, hätten sich im vergangenen
Jahr auf 40 Milliarden Euro belaufen. Die Kosten für das
Arbeitslosengeld II und die Kosten der Unterkunft betrugen hingegen 41 Milliarden Euro. Ich kann da keine
Kostenexplosion entdecken.
Berücksichtigt man zudem, dass 4,2 Milliarden Euro
in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt worden
sind und ein zusätzlicher Verwaltungsaufwand entstanden ist, so zeigt sich, dass die Leistungsempfänger - also
die Arbeitslosen - die Letzten sind, die für Kostensteigerungen verantwortlich gemacht werden können.
Das Argument einer vermeintlichen Kostensteigerung
oder gar -explosion kommt Ihnen aber sehr gelegen, um
die Leistungsverbesserungen zu stutzen, die das
Arbeitslosengeld II - jedenfalls bisher - positiv von der
früheren Sozialhilfe unterscheiden.
Es war das erklärte Ziel der rot-grünen Koalition
- vor allem vom Bündnis 90/Die Grünen - in der letzten
Legislaturperiode, mit dem Arbeitslosengeld II den Einstieg in eine Grundsicherung zu erreichen. Bei allen
Mängeln, die das Gesetz zweifellos aufweist, ist diese
Zielsetzung richtig. Wir sind dem Ziel in einigen Punkten schon ein ganzes Stück näher gekommen: gesetzliche Krankenversicherung für alle, Rentenversicherungsbeiträge auf der Basis von 400 Euro, Zugang zur aktiven
Arbeitsmarktpolitik auch für frühere Sozialhilfebeziehende und nicht zuletzt der Anspruch auf eine eigenständige Leistung mit dem Erreichen der Volljährigkeit in
Verbindung mit der Verpflichtung der Job-Center, diesen
jungen Menschen ein Angebot zu machen. Das war kein
Betriebsunfall in der Gesetzgebung; es ist vielmehr ein
wichtiges Element der Grundsicherung des Arbeitslosengelds II.
({2})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
haben Sie nicht selbst noch im Wahlkampf die teilweise
einschneidenden Kürzungen durch Hartz IV mit genau
diesen Verbesserungen begründet und gerechtfertigt?
({3})
Ist denn nicht Ihr Vorsitzender Platzeck im Hartz-Sommer 2003 mit genau den Verbesserungen, die ich gerade
genannt habe, über das Land gezogen, um Stimmen zu
gewinnen, damit Sie mit einem blauen Auge davonkommen?
Jetzt bauen Sie den Popanz einer angeblichen Kostenexplosion und angeblicher Massenauszüge auf, um die
Grundsicherungselemente von Hartz IV zu demontieren.
Sie diskutieren hier hinlänglich über die unter 25-Jährigen; das ist sicherlich ein wichtiger Punkt. Aber bislang
hat niemand erwähnt, dass der größte Kostenblock die
2 Milliarden Euro sind, die zulasten der Rentenversicherung eingespart werden.
({4})
Sie erwecken den Eindruck, die Jugendlichen führten
auf Kosten der Steuerzahler ein Leben in Saus und
Braus. Sie unterschlagen aber geflissentlich, dass die Jugendlichen bei Androhung der vollständigen Leistungskürzung - 100 Prozent Leistungskürzung! - verpflichtet
sind, ein Angebot anzunehmen. Aber wo sind denn die
Angebote? Das Problem ist, dass es an Angeboten mangelt
({5})
und dass der Zugang zur Arbeitsförderung sowie zu
Qualifizierung und Zuschüssen, den wir im Gesetz vorgesehen haben, unzulänglich geblieben ist. Das mag natürlich auch mit dem schleppenden Aufbau der Job-Center zu tun haben. Aber hier müsste der Gesetzgeber
herangehen; hier müsste man etwas machen. Fast die
Hälfte der bereitgestellten Mittel für das Fördern im
Rahmen von Hartz IV ist im vergangenen Jahr nicht ausgegeben worden. Tun Sie wirklich alles, damit sich das
in diesem Jahr nicht wiederholt? Ich habe nicht den Eindruck. Wenn Sie mit der gleichen Anstrengung, mit der
Sie Leistungskürzungen betreiben, Jugendliche förderten, bräuchten wir uns um Auszüge beileibe nicht so
viele Gedanken zu machen.
({6})
Sie unterschlagen des Weiteren, dass es sich keinesfalls um ein Massenphänomen handelt. Herr Weiß und
Herr Brandner haben behauptet, die Zahl der Einpersonenbedarfsgemeinschaften sei um 19 Prozent gestiegen. Tatsächlich ist die Zahl der Bedarfsgemeinschaften
insgesamt angestiegen. Die Zahl der Mehrpersonenhaushalte ist um 16 Prozent angestiegen. Ich kann zwischen
einem Anstieg um 16 Prozent und einem um 19 Prozent
keine so gewichtige Differenz feststellen.
({7})
Es ist erstaunlich, dass Sie das für etwas Gravierendes
und Außergewöhnliches halten. Wenn es das Phänomen
der so genannten Zellteilung, also dass Jugendliche ausziehen und Einpersonenbedarfsgemeinschaften gründen, tatsächlich gegeben hätte, hätte dann in der Statistik
nicht nachweisbar sein müssen, dass die Zahl der Zwei-,
Drei- und Vierpersonenhaushalte in Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist? Genau das Gegenteil ist der Fall.
Das Verfahren im Umgang mit den unter 25-Jährigen
ist exemplarisch. Ich nenne als weiteres Beispiel nur die
Mietschulden. Hier wird ebenfalls auf fadenscheinige
Art und Weise zu kurz gesprungen. Herr Brandner - wo
ist er denn? -, Sie haben behauptet, die Mietschulden
könnten nun auch im Rahmen der Beihilfe übernommen
werden. Tatsächlich deckt dies das Gesetz nicht ab. Ich
habe mir gerade aus meinem Büro den entsprechenden
Änderungsantrag kommen lassen. Hier steht: Geldleistungen sollen als Darlehen erbracht werden. - Dabei hat
die Sachverständige aus der kommunalen Praxis eindeutig gesagt: Die bestehenden Beihilferegelungen sind Praxis in den Kommunen und sind günstig. Es rechnet sich
für die öffentliche Hand, wenn den Hilfsbedürftigen der
Mietschuldenrucksack abgenommen wird und sie sich
auf die Integration in den ersten Arbeitsmarkt konzentrieren können. Aber Sie handeln unwirtschaftlich.
({8})
Wenn sich diese Art der Änderungen des Arbeitslosengeldes II fortsetzt, werden wohl Zug um Zug alle fortschrittlichen Ansätze des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch entfernt, sodass vermutlich am Ende nur noch eine
verschlechterte Sozialhilfe übrig bleibt, die nicht nur auf
der Leistungsseite defizitär ist, sondern das Ganze auch
bürokratischer macht.
Notwendig wären aber ganz andere Verbesserungen
im SGB II. In unserem Entschließungsantrag sind ja die
dringlichsten Vorhaben benannt, die man sofort umsetzen könnte. Wir bräuchten in erster Linie eine generelle
Überprüfung der Regelsätze auf Grundlage der aktuellen
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Wir müssen
die Regelleistung Arbeitslosengeld II in einem transparenten Verfahren anpassen. Reden wir in diesem Zusammenhang einmal über die von Ihnen genannte Zahl, Frau
Kipping. Die 938 Euro umschreiben doch keinesfalls das
soziokulturelle Existenzminimum, um das es in diesem
Fall geht, sondern die Armutsrisikoquote. Das sind doch
ganz unterschiedliche Werte. Sie sollten sich einmal mit
den Eckdaten des Sozialhilferechts und des Sozialrechts
vertraut machen.
({9})
Sie jammern über die Höhe des Arbeitslosengeldes II.
Ich erinnere Sie daran, dass die Regelsatzverordnung
eine Verordnung ist, die nicht im Parlament beschlossen
wird, sondern von der Bundesregierung zusammen mit
den Bundesländern erlassen wird. Sie sind doch in zwei
Bundesländern mit in der Regierung. Schauen Sie sich
einmal das Abstimmungsverhalten des Landes Berlin bei
der Regelsatzverordnung an, bevor Sie hier über die
Höhe des Arbeitslosengeldes II Krokodilstränen vergießen!
({10})
Es sind weiterhin einige Veränderungen zu berücksichtigen. Es ist zum Beispiel nicht nachvollziehbar, warum bei den Stromkosten ein 15-prozentiger Abschlag in
der Regelsatzverordnung vorgenommen worden ist. Angesichts des Anstiegs der Energiekosten gerade der letzten fünf Jahre um fast 26 Prozent ist eine Nachbesserung
erforderlich. Ebenso ist die Gesundheitsreform mit den
Zuzahlungen nicht im Regelsatz systematisch verortet.
Das sind die entscheidenden Punkte. Fangen Sie damit an, Hartz IV zu einer echten Grundsicherung auszubauen! Wenn schon in der aktiven Arbeitsmarktpolitik
im Moment nicht alle Schritte getan werden können,
dann erfüllen Sie wenigstens das verfassungsrechtliche
Gebot der Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Gerd Andres.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Arbeit bedeutet Teilhabe und Teilhabe schafft
gesellschaftliche Chancengerechtigkeit. Diese Formel ist
so kurz wie zutreffend. Sie beschreibt die Zielsetzung,
mit der wir gemeinsam - jetzt schaue ich die Damen und
Herren in der Mitte an - die Arbeitsmarktreformen in der
letzten und in der vorletzten Legislaturperiode auf den
Weg gebracht haben. Wir wollten erreichen, dass diejenigen, die im Sozialhilfesystem, aber erwerbsfähig waren, erstmals Zugang zu allen Leistungen der Bundesagentur für Arbeit erhalten. Wir wollten ihnen Chancen
auf Weiterbildung eröffnen, auf Qualifizierung und Vermittlung. Wir wollten diesen Menschen alle Möglichkeiten eröffnen - das werden wir auch weiterhin tun -, damit sie statt des Verharrens in einem Transfersystem
ihren Lebensunterhalt durch Arbeit selbst bestreiten können. Das ist völlig richtig und das ist die Grundlage dessen, was wir uns in der großen Koalition vorgenommen
haben.
({0})
„Fördern und fordern“ - das will ich nicht auslassen lautete das Schlagwort, mit dem wir die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für Erwerbsfähige zu einer einheitlichen Grundsicherung für Arbeitsuchende beschrieben haben. Dieser Grundsatz gilt
nach wie vor. Der Staat unterstützt diejenigen, die der
Hilfe bedürfen. Deshalb sollen die Leistungen auch nur
diejenigen erreichen, die ohne diese Unterstützung in
ernste Bedrängnis geraten würden. Diese Zielgenauigkeit sind wir allen Steuerzahlern, aber auch den Menschen schuldig, die Tag für Tag durch ihre Arbeitsleistung diese Unterstützung von Hilfebedürftigen in
unserer Gesellschaft ermöglichen.
({1})
Die Einführung des Arbeitslosengeldes II hat in
Deutschland hohe Wellen geschlagen. Daran haben sich
viele die Finger gewärmt und das muss keinen erstaunen. Manchmal kommt der angebliche Fortschritt als
ganz plumper Populismus daher. Ich sage noch einmal
vor dem Hintergrund dessen, was ich hier dargestellt
habe: Wir hielten die Einführung dieses Systems für
richtig und wir halten es nach wie vor für richtig. Wir
lassen uns nicht bange machen. Wir haben versucht, auf
die Proteste und die populistischen Kampagnen großer
Boulevardzeitungen und anderer, die es gegeben hat, zu
reagieren, indem wir den Ombudsrat eingesetzt haben.
Der Ombudsrat hat empfohlen, die Angleichung der
Regelleistung Ost an die Regelleistung West vorzunehmen. Dieser Empfehlung folgen wir hiermit ausdrücklich. Er hat dafür eine ganz einfache Begründung geliefert, die ziemlich stichhaltig ist: Die Löhne und Gehälter
sind ebenso wie Lebenshaltungskosten und Verbraucherverhalten von Region zu Region unterschiedlich. Sie
sind nicht nur unterschiedlich zwischen West und Ost,
sie sind auch unterschiedlich zwischen Nord und Süd,
zwischen ländlichen Regionen und Ballungsregionen
usw. Eine gesonderte Abstufung nur für die östlichen
Bundesländer ist deshalb überhaupt nicht zu rechtfertigen. Wir setzen diese Empfehlung des Ombudsrates deshalb gerne um, und zwar gemeinsam.
({2})
Wir bekennen uns auch weiterhin und unmissverständlich zur Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Wir hatten dabei von Beginn an festgelegt,
dass wir aus Erfahrung lernen und gegebenenfalls die
Konsequenzen ziehen wollen.
Eine derart komplexe und umfangreiche Reform darf
nicht von Anfang an in Stein gemeißelt sein. Sie muss
Raum für Anpassungen lassen, damit die notwendigen
Konsequenzen aus den gesammelten Erfahrungen gezogen werden können.
Dieses SGB II gibt es jetzt 14 Monate. Wir sammeln
Erfahrungen. Wir haben Aufbauerfahrungen gemacht.
Die Koalition hat im Koalitionsvertrag verschiedene
Konkretisierungen für den Regelungsbereich des SGB II
beschlossen. Sie wurde darin nach intensiver Beratung
in den Ausschüssen und in einer öffentlichen Anhörung
von Sachverständigen bestätigt. Teil dieses Paketes ist
die Modifizierung von bisherigen Regelungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Bevor ich die Inhalte darstelle, möchte ich zunächst
etwas zur Kollegin Kipping sagen: Der wissenschaftliche Sozialismus zeichnet sich dadurch aus - das haben
wir gelernt -, dass diejenigen, die sich darauf berufen,
immer nur das zitieren, was man gebrauchen kann; den
Rest lässt man weg. Wenn Sie schon Werke von Marx
und Engels zitieren, dann passen Sie auf, dass Sie nicht
irgendwann bei den Stalin-Bänden landen. Alles, was
darin steht, hat sich ja als äußerst brauchbar herausgestellt.
({3})
Insoweit wollte ich mich doch mit Ihnen, Frau Kipping,
auseinander setzen, damit klar ist, worüber wir hier reden. Sie waren ja ganz stolz auf das Zitat; deswegen sollten Sie auch fair und korrekt sein. Ich sage Ihnen: Jede
Politik beginnt damit, zur Kenntnis zu nehmen, was ist.
({4})
Sie haben einen Satz des Sachverständigen Senius zitiert. Ich lese Ihnen seine Aussage jetzt im Zusammenhang vor:
Wir haben nur eine eingeschränkte Empirie, auf die
wir zugreifen können. Wir haben keine gesicherten
Angaben, wie groß die Anzahl der Ein-PersonenBedarfsgemeinschaften vor In-Kraft-Treten des
SGB II letztendlich war.
Das kann Ihnen jeder hier bestätigen. Auch das müssten
Sie einmal zur Kenntnis nehmen. Weiter sagt er:
Fakt ist aber, dass seit 1. Januar 2005 die Zahl der
Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaften um 19,6 Prozent angestiegen ist, während die Zahl der MehrPersonen-Bedarfsgemeinschaften um „nur“ 16 Prozent gestiegen ist.
Also haben wir hier zum einen eine deutlich stärkere
Steigerung der Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaften,
zum anderen haben wir einen deutlichen Anstieg der
erwerbsfähigen Hilfebedürftigen unter 25 Jahren. Der
war schlicht und einfach doppelt so stark im Anstieg wie
der Anstieg aller erwerbsbedürftigen Hilfebedürftigen:
14 Prozent zu 28 Prozent bei den über 25-jährigen erwerbsfähigen Hilfebedürftigen.
Nachdem wir diese Zahlen dargelegt haben, will ich
sagen: Weil es so nicht beabsichtigt war, finde ich es völlig korrekt, dass wir „Bedarfsgemeinschaft“ neu definieren. Künftig gehört auch ein unter 25-Jähriger zur Bedarfsgemeinschaft - er bildet nicht automatisch eine
eigene Bedarfsgemeinschaft -, sofern er im elterlichen
Haushalt lebt. Wenn er zur Bedarfsgemeinschaft gehört,
dann bekommt er nicht den vollen Satz von 345 Euro,
sondern nur 80 Prozent davon. Selbst Frau Pothmer hat
sich in der Aktuellen Stunde am vergangenen Mittwoch
dazu herabgelassen, zu erklären - das kann man im Protokoll nachlesen -, dass der Neuregelung eine gewisse
Systematik zugrunde liegt.
({5})
- Ich habe zugehört. Ich komme gleich auf Sie zu sprechen.
Herr Staatssekretär, ich muss Sie fragen, ob Sie eine
Zwischenfrage der Abgeordneten Kipping zulassen.
Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen. Ich
möchte das jetzt hier darstellen.
({0})
- Sie haben Ihr Pulver schon verschossen. Es ist doch
gut.
({1})
Frau Pothmer, Sie haben hier erklärt, dass Sie für die
Neuregelung großes Verständnis haben. Populistisch haben Sie aber hinzugefügt, dass die Reduzierung nicht auf
80 Prozent, sondern auf 90 Prozent erfolgen müsse. Das
habe ich schon verstanden.
Wir halten die Neuregelung für sachgerecht. Sie ist
richtig, weil derjenige, der zur Bedarfsgemeinschaft gehört, anders als der Haushaltsvorstand keine Generalkosten zu tragen hat: Man hat eine Waschmaschine, man hat
eine Küche und man hat bestimmte Aufwendungen nicht
zu erbringen. Deswegen halten wir die Neuregelung für
bedarfsgerecht und richtig.
({2})
Ich komme auf den nächsten Punkt zu sprechen. Manche ziehen hier einen grenzenlosen Populismus ab. Ich
finde die Argumentationsweise teilweise relativ übel. Ich
will noch einmal ganz deutlich sagen: Es geht überhaupt
nicht darum, dass diese Koalition, dass diese Regierung
junge Menschen daran hindern möchte, selbstständig zu
leben. Darum geht es überhaupt nicht. Das ist alles Unsinn. Wir haben ein steuerfinanziertes Bedarfssystem.
Danach bekommt nur derjenige etwas, der bedürftig ist
und diese Bedürftigkeit nachweist. Wenn sich in einem
Jahr oder in 14 Monaten herausstellt - ich habe die entsprechenden Zahlen vorgetragen -, dass dieses System
dazu führt, dass die Selbstständigmachung der Bedürftigen mehr als die anderer gefördert wird, dann stimmt etwas nicht.
Was falsch war, das stellen wir jetzt richtig.
({3})
Wir sorgen dafür, dass ein unter 25-Jähriger nur mit Genehmigung des Leistungserbringers ausziehen kann. Ich
halte das auch für angemessen. Hinzufügen will ich
gleich - wir haben auch das öffentlich erklärt -: Wir
wollen nicht, dass junge Menschen im „Hotel Mama“ leben. Auch das ist Unsinn. Selbst wenn Zeitungen das
schreiben, muss das noch nicht richtig sein. Das wollen
wir gar nicht.
Wir legen mit dem Gesetz mit dem Stichtag heute
fest, dass für die jungen Menschen unter 25 Jahren, die
nicht mehr im elterlichen Haushalt leben und die sich
nach der bisher geltenden Gesetzesregelung verhalten
haben, die gesetzlichen Änderungen, die wir jetzt vornehmen, nicht gelten. Es gibt da also einen Vertrauensschutz. Demjenigen, der bis heute ausgezogen ist und
eine eigene Bedarfsgemeinschaft gegründet hat, wird
diese nicht genommen. Wenn er künftig umziehen
möchte, wird ihm auch nicht gesagt, dass er doch wieder
zu Mama oder Papa zurückgehen soll. Das wäre auch
Unsinn. Das wollen wir nicht.
({4})
Ich sage auch hier noch einmal eindeutig - wir haben
es schon dreimal im Ausschuss erklärt; ich kann es nur
immer wiederholen; Sie wollen es nicht begreifen und
das ist das eigentliche Problem -, dass es diese Sicherung gibt und dass diejenigen, die künftig eine eigene
Bedarfsgemeinschaft gründen wollen, dafür einer
Genehmigung bedürfen. Von diesem Genehmigungserfordernis gibt es Ausnahmen. Die sind auch vernünftig.
Wenn wir nämlich einen generellen Genehmigungsvorbehalt festlegen, schaffen wir als Gesetzgeber nicht die
Möglichkeit, bestimmten Fällen, etwa dem Fall der Arbeitsaufnahme oder dem Fall, dass es den Betroffenen
überhaupt nicht zugemutet werden kann, im elterlichen
Haushalt zu leben, gerecht zu werden. Für diese Fälle
treffen wir Regelungen. Die sind vernünftig. Auch das
kann man öffentlich vertreten.
Als Nächstes komme ich zu dem Rentenversicherungsbeitrag. Ich will auf ein paar Spezialbereiche hinweisen. Es gibt Menschen, die erwerbsfähig und auch erwerbstätig sind und dazu ergänzende Hilfe bekommen.
Weil sie ergänzende Hilfe bekommen, wird für sie ein
Rentenversicherungsbeitrag bezahlt, obwohl sie in einem Beschäftigungsverhältnis stehen und schon aufgrund dieses Beschäftigungsverhältnisses Rentenversicherungsbeiträge gezahlt werden. Können Sie mir
einmal erklären, warum der Staat das zweimal bezahlen
soll?
({5})
Erst wir - ich will das einmal ausdrücklich sagen haben die Rentenversicherungspflicht für diesen Personenkreis eingeführt.
({6})
Wir haben lange darüber diskutiert und uns mit der
Frage auseinander gesetzt, wie wir das ausgestalten. Wir
haben das so ausgestaltet, dass alle Anwartschaftszeiten
genutzt werden können und Maßnahmen der Rehabilitation sowie andere Dinge in Anspruch genommen werden
können. Aber wir reduzieren für den Staat die Beitragszahlung von jetzt 78 Euro auf 40 Euro und sparen damit
- das ist auch überhaupt nicht zu leugnen; wir müssen
nämlich sparen - knapp 2 Milliarden Euro ein, die sonst
steuerfinanziert vom Staat dafür aufgebracht werden
müssten. Auch das halten wir für sachgerecht und regeln
es entsprechend.
Es ist schon einiges über den Leistungsausschluss
für Ausländer gesagt worden. Dazu muss ich noch einmal Folgendes feststellen: Es geht nicht darum, dass
Ausländer nicht die ihnen zustehenden Leistungen erhalten sollen. Aber wenn Personen in die Bundesrepublik
Deutschland einreisen, nur um ALG II zu erhalten, dann
muss dem ein Riegel vorgeschoben werden. Das tun wir
jetzt.
({7})
Ich halte alles das, was wir machen, für sachgerecht
und notwendig. Damit niemand sagen kann, er habe es
nicht gewusst - es steht im Koalitionsvertrag; wir arbeiten auch schon an der Umsetzung -, will ich hier Folgendes ankündigen: Die große Koalition wird in den nächsten Monaten mit einem Optimierungsgesetz in einer
ganzen Reihe von Positionen des SGB II und des
SGB III nachsteuern und da zu Veränderungen kommen.
Das ist auch sinnvoll.
Ich sage noch einmal: Ich halte die Reform, die am
1. Januar des vergangenen Jahres in Kraft getreten ist,
für eine gewaltige Sozialreform. Sie ist nur mit der großen Rentenreform im Jahr 1957 oder mit der Einführung
der Arbeitsförderung im Jahre 1969 zu vergleichen. Sie
müssen sich einmal anschauen, wie viele Menschen davon betroffen sind. Es gibt 3,8 Millionen Bedarfsgemeinschaften. Wir haben festgestellt, dass hier mehr als
300 000 Menschen aufgetaucht sind, die vorher in keinem anderen System waren. Wer sich anschaut, wie sich
das SGB II entwickelt, der muss zugeben: Da muss
nachgesteuert werden; da muss verändert werden. Das
werden wir in diesem Jahre tun. Wir werden dabei auch
über den Ausschluss von Missbräuchen diskutieren. Wir
werden bürokratische Hürden beseitigen. Was die Frage
der Effizienz angeht, werden wir eine ganze Reihe von
Veränderungen vornehmen. Ich bitte Sie herzlich um
Ihre Unterstützung und um Ihre Mitarbeit dabei.
Nun will ich aus meiner eigenen Erfahrung, aus dem,
was ich in den vielen zurückliegenden Jahren in diesem
Arbeitsfeld miterlebt habe, noch etwas zu den Grünen
sagen. Wenn es keine Neuwahl gegeben hätte, meine
sehr verehrten Damen und Herren von den Grünen, dann
hätten wir in der alten Koalition in diesem Jahr genauso
Veränderungen vorgenommen, wie sie die neue Koalition jetzt vornimmt.
({8})
Ich bin mir relativ sicher - das können Sie glauben, weil
wir viele Dinge zusammen mit den handelnden Personen
gemacht haben -, dass viele der Maßnahmen, die wir
jetzt treffen, mit Ihnen ganz genauso getroffen worden
wären. Deswegen habe ich die herzliche Bitte: Kommen
Sie ein bisschen weg von dem platten Populismus!
({9})
Erinnern Sie sich daran, was Sie in den sieben Jahren unserer gemeinsamen Koalition mitgetragen haben! Geben
Sie sich einen Ruck und stimmen Sie diesem Gesetz zu!
Herzlichen Dank.
({10})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort an die
Kollegin Katja Kipping.
Frau Präsidentin! Da Herr Andres den Eindruck erweckt hat, ich hätte beim Zitieren bewusst etwas weggelassen, und dann stolz präsentiert hat, es habe bei der
Zahl der Ein-Personen-Haushalte einen Anstieg um
19 Prozent und bei Mehr-Personen-Haushalten einen
Anstieg um 16 Prozent gegeben,
({0})
möchte ich schon noch einmal darauf verweisen, dass
auch in der Anhörung dargelegt wurde, dass die von Ihnen so stolz zitierten Zahlen nicht das Phänomen der
Zellteilung beschreiben. Als Beleg zitiere ich Herrn
Schneider von der Bundesarbeitsgemeinschaft der
Freien Wohlfahrtspflege:
Für das Phänomen der „Zellteilung“ wird sich jedoch eine Abnahme bei den Mehr-Personen-Haushalten finden lassen müssen. Dann kann man von
einer „Zellteilung“ sprechen. Das ist nicht passiert.
Das heißt, es findet sich nirgendwo eine Auflösung
von Zwei- oder Mehr-Personen-Haushalten wieder.
Weiter führt Herr Schneider aus:
Es finden sich statistisch nicht nur keine Anhaltspunkte für das Phänomen der Zellteilung, sondern
Indizien, dass es dieses nicht gibt.
Wenn Sie, Frau Nahles, dem Vertreter der Wohlfahrtspflege Realitätsverlust unterstellen,
({1})
dann ist das Ihr Ding. Wir meinen, die genauen statistischen Untersuchungen sprechen eine klare Sprache. Das
Phänomen Zellteilung ist so nicht belegbar.
({2})
Herr Staatssekretär, bitte.
Ich bedanke mich herzlich für Ihre Kurzintervention,
weil ich dadurch die Gelegenheit habe, noch etwas zu
den Aussagen des Sachverständigen Schneider zu sagen.
Seine Argumentation ist wirklich toll. Er sagt, von einer
Explosion der Anzahl an Bedarfsgemeinschaften in
Form von Ein-Personen-Haushalten könne nur dann die
Rede sein, wenn es gleichzeitig eine Abnahme bei der
Zahl der Mehr-Personen-Haushalten gebe.
({0})
Das ist blühender Unsinn; der müsste selbst Ihnen auffallen. Wenn aus einer Bedarfsgemeinschaft, die aus vier
Personen besteht, einer auszieht, gibt es nach wie vor einen Mehr-Personen-Haushalt, nunmehr mit drei Personen, und zusätzlich entsteht ein neuer Ein-PersonenHaushalt. So viel zu dem von Ihnen zitierten Herrn
Schneider.
({1})
Ich möchte Ihnen ganz schlicht noch etwas sagen:
Wenn Sie in der Aktuellen Stunde dem zugehört hätten,
was beispielsweise Frau Connemann und andere gesagt
haben, dann wüssten Sie es. So muss ich Ihnen empfehlen, einmal verschiedene Arbeitsgemeinschaften aufzusuchen, sich dort umzuschauen und mit den Fachleuten,
die das genehmigen müssen, zu reden. Dann erhalten Sie
ganz viele Belege dafür, dass insbesondere die Zahl der
Ein-Personen-Haushalte mit unter 25-Jährigen kräftig
explodiert ist. Deswegen ist es richtig, dass wir hier die
Regelungen ändern.
({2})
Das Wort hat der Kollege Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege Brandner - ich freue mich, ihn jetzt wieder
hier im Plenum zu sehen - hat einleitend in seiner Rede
gesagt, heute sei ein guter Tag für die Menschen in unserem Lande. Nun, Herr Brandner, wenn der Tag ein guter
Tag ist, an dem ein stümperhaft gemachtes Gesetz nachgebessert wird, dann mag es heute ein guter Tag sein.
Tatsache ist, Sie handeln auf diesem wichtigen Feld der
Politik nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“.
({0})
An Warnungen vor der Gefahr, dass die Zahl der von unter 25-Jährigen gegründeten Haushalte zunehmen werde,
hat es ja damals im Gesetzgebungsverfahren wirklich
nicht gefehlt. Deshalb muss man hier klipp und klar und
ohne Umschweife feststellen: Mit geordneter Gesetzgebung hat das, was Sie in diesem Bereich in der Vergangenheit getan haben und auch heute wieder tun - das ist
sehr wahrscheinlich; ich komme darauf zurück -, wirklich nichts zu tun.
({1})
Es wird über die Frage diskutiert, ob es massenhaften
Missbrauch gegeben hat. Diese muss man wahrscheinlich mit Nein beantworten, weil diese Möglichkeit, Herr
Brandner, im Gesetz ausdrücklich zugelassen war. Tatsache ist und bleibt aber, Frau Kollegin Kipping,
({2})
dass die Ausgaben für das Arbeitslosengeld II unter anderem auch deswegen gestiegen sind, weil viele volljährige Jugendliche, die ALG II bezogen, eine eigene Bedarfsgemeinschaft gegründet und sich in einer eigenen
Wohnung selbstverwirklicht haben. Ich habe keinen
Zweifel daran, dass es deren persönlicher Entwicklung
gut getan hat und dass das auch ihre Selbstständigkeit
fördert, aber in Ordnung ist das nicht, jedenfalls dann
nicht, wenn es keine zwingenden Gründe dafür gibt und
wenn es auf Kosten der Solidargemeinschaft geschieht.
Das will ich hier sehr deutlich sagen.
({3})
Leistungen der Solidargemeinschaft müssen den wirklich Bedürftigen vorbehalten bleiben. Wir finden es richtig, dass die Familie oder das Elternhaus finanziell wieder stärker in die Pflicht genommen wird, wenn junge
Menschen nicht für sich selbst sorgen können.
({4})
Deswegen, Herr Kollege Brandner - das sage ich
auch den Kollegen von der Union -, finden wir es nicht
in Ordnung, wenn der Status quo jetzt sozusagen honoriert wird. Die Findigen werden belohnt, während die
Anständigen, die die Hausstandsgründungsmöglichkeiten auf Kosten des Steuerzahlers nicht in Anspruch genommen haben, nun die Dummen sind. Wir meinen, wo
es sinnvoll und möglich ist, muss es im Rahmen der
sechsmonatigen Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen auch einen gewissen Druck in Richtung einer
Rückführung in die Haushalte geben, wenn ein offensichtlicher Missbrauch von Steuergeldern zu erkennen
ist.
({5})
Dann haben Sie so getan, Herr Kollege Brandner, als
ob mit diesem Gesetz nichts eingespart würde. Ich habe
mir einmal das Zahlentableau besorgt, das Sie im Gesetzgebungsverfahren vorgelegt haben. Das ist schon
sehr erheblich. Sie führen die Öffentlichkeit hier ein
Stück weit hinters Licht. Die Abschaffung der Rentenversicherungspflicht von erwerbstätigen Leistungsbeziehern zum Beispiel bringt der Haushaltskasse in den
nächsten Jahren 150 Millionen Euro per anno. Hier muss
man eines sehr deutlich sagen: Die Abschaffung der
Rentenversicherungspflicht von erwerbstätigen Leistungsbeziehern ist ein falsches Signal. Da widerspreche
ich ausdrücklich auch dem Kollegen Andres. Das ist
aber offensichtlich soziale Gerechtigkeit nach Lesart der
großen Koalition. Ein reiner ALG-II-Empfänger stellt
sich hinsichtlich der erworbenen Rentenansprüche besser als jemand, der eine Arbeit aufnimmt und hinzuverdient. Auch hier gilt: Die Fleißigen sind die Dummen.
Das ist Ihre Politik.
({6})
Schließlich bleibt die Frage des In-Kraft-Tretens dieses Gesetzes. Ich habe ein Stück weit die Befürchtung,
dass sehenden Auges ein erneutes Chaos im Bereich
Hartz IV angerichtet wird. Sie wollen mit dem Kopf
durch die Wand. Der Ausschussvorsitzende, Herr Weiß,
hat in anderem Zusammenhang - bezogen auf das
Saisonkurzarbeitergeld, das in dieser Woche von der Tagesordnung abgesetzt wurde - in diesen Tagen gesagt,
Sorgfalt gehe vor Schnelligkeit. Bei der Nachbesserung
von Hartz IV allerdings geht Sorgfalt offensichtlich
nicht vor Schnelligkeit, sondern hier soll politisches
Handeln demonstriert werden. Ob das Ganze am Ende
gelingt, ist mehr als fraglich. Es hat jedenfalls mit sorgfältiger Gesetzgebung nichts zu tun.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Unser aller Leben ist gekennzeichnet von
permanenten Veränderungen. Mal sind es gewollte, mal
ungewollte, mal sind es kleinere, mal größere. Jetzt stehen wir am Anfang eines langen Reformweges. Deshalb,
lieber Kollege Kurth: Emotionen runter! Sachlichkeit,
Nüchternheit, Beharrlichkeit und auch Gemeinsamkeit
sind angesagt. Der Herr Staatssekretär hat die Verbindung zwischen der vorigen und der jetzigen Wahlperiode
hergestellt. Herzlichen Dank dafür, auch für die Sachlichkeit in dieser Frage.
Darüber, dass es sich bei der Zusammenführung der
Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe im Januar letzten
Jahres um eine große Veränderung für die betroffenen
Menschen und für unsere Gesellschaft handelt, sind wir
uns, glaube ich, sehr einig. Deshalb ist es ganz natürlich,
dass die Umsetzung dieser Reform einerseits mit besonders hohen Erwartungen verbunden ist. Andererseits ist
es aber auch normal, dass so ein Prozess nicht ohne Fragen und Probleme ablaufen kann.
Da es sich beim Arbeitslosengeld II grundsätzlich um
eine bedürftigkeitsabhängige Leistung handelt, die nur
in der Höhe gewährt wird, in der tatsächlich Hilfebedürftigkeit besteht, und die ausschließlich vom Steuerzahler
erbracht wird, ist Sorgfalt und Kontrolle absolut notwendig.
Einen kritischen Punkt hat die Bundesregierung auf
Empfehlung des Ombudsrates aufgegriffen - nicht, Frau
Kollegin Kipping, weil Demonstrationen kurz vor Landtagswahlen, vor allen Dingen in Sachsen, von Ihnen
missbraucht worden sind; jetzt gibt es nämlich keine Demonstrationen mehr -, der den Prozess sachlich begleitet
hat, und jetzt ein erstes Änderungsgesetz mit den Inhalten, die heute schon angesprochen worden sind, vorgelegt. Ich will mich jetzt aber auf den Kernpunkt dieser
Vorlage konzentrieren, nämlich die Angleichung des
Ostbetrages auf das Westniveau.
Mit der bisherigen Fassung der in den neuen und alten
Bundesländern unterschiedlichen Regelleistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts sollten die Unterschiede
in der Verbrauchsstruktur und im privaten Konsumverhalten berücksichtigt werden. Aber solche Unterschiede
lassen sich eben nicht an Himmelsrichtungen festmachen und gleichen sich, wie wir wissen, in der Summe
der konsumtiven Verhaltensweisen in den Regionen aus.
Es muss der Bedarfsdeckungsgrundsatz erfüllt werden; das so genannte soziokulturelle Existenzminimum
muss sichergestellt werden.
Die Regelsätze der Grundsicherung für Arbeitsuchende sollen die Bedarfe des täglichen Lebens und für
eine Teilnahme am kulturellen Leben der Hilfsbedürftigen decken. Den größten Anteil am Regelsatz haben die
Ausgaben für Nahrungsmittel und Getränke. Von der
amtlichen Statistik werden gegenwärtig jedoch keine regional differenzierten Preisindizes für entsprechende
Warenkörbe ermittelt, aus denen sich eine objektiv nachvollziehbare Differenzierung der Lebenshaltungskosten
nach Ost und West, nach Bundesländern oder gar nach
Kreisen ableiten ließe.
Die augenscheinlichste Differenzierung bei den
Lebenshaltungskosten liegt wohl bei den Wohnungsmieten. Das ist unstrittig. Diese Kosten werden aber
über die Erstattung der Kosten für die Unterkunft separat
gedeckt. Sie beeinflussen die Regelsätze also nicht. Es
ist daher konsequent, das Arbeitslosengeld auf Westniveau zu vereinheitlichen.
14 Euro mehr im Monat ist vielleicht für den einen
oder anderen in diesem Hause gerade einmal der Preis
für ein Mittagessen. Für den Betroffenen ist es eine
große Summe, die ihm hilft. Besser wäre es natürlich,
die Betroffenen hätten einen Arbeitsplatz und sie könnten sich durch ihr selbst verdientes Einkommen ihr Leben gestalten. Auch das ist unstrittig.
Diese Erhöhung um 14 Euro pro Person und Monat
führt zu einer jährlichen Mehrbelastung in Höhe von
260 Millionen Euro. Davon trägt der Bund 220 Millionen Euro und die Länder 40 Millionen Euro, wobei - auf
diesen Punkt möchte ich ausdrücklich hinweisen - diese
in der Revision nach § 46 Abs. 6 SGB II berücksichtigt
werden sollen. Diese Kostenfrage sollte man nicht kleinreden, zumal als mittelbare Folge unserer heutigen Entscheidung, nämlich der Erhöhung von Sozialleistungen,
grundsätzlich mit einer Ausweitung des Kreises berechtigter Personen zu rechnen ist, die dann erstmals - auch
das sollte man nicht verschweigen - Anspruch auf aufgestockte Leistungen nach dem SGB II erhalten werden.
Da die durchschnittlichen Bruttoverdienste in den
neuen Bundesländern derzeit in vielen Branchen noch
deutlich unter den durchschnittlichen Bruttoverdiensten
im alten Bundesgebiet liegen, wird es auch zu einem Anstieg der Zahl der Bedarfsgemeinschaften kommen, was
zu einer Erhöhung des Verwaltungs- und Personalaufwandes zur Betreuung dieser Gemeinschaften führen
kann.
Als Beispiel will ich nur anführen, dass das monatliche Nettoeinkommen von 50 Prozent aller Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern zwischen 400 und
1 100 Euro liegt. Die Bedenken, dass die sozialpolitische
Wirkung eines verringerten Lohnabstandes zur Demotivation der arbeitsuchenden Personen führt, teile ich mit
Blick auf die neuen Bundesländer nicht. Bis auf wenige
Ausnahmen kenne ich ausschließlich Leute, die wirklich
arbeiten wollen, die aber keine Arbeit aufnehmen können, weil ganz einfach die Arbeitsplätze fehlen. Das ist
unser grundsätzliches Problem, an dessen Lösung wir
weiter arbeiten müssen.
Die Mobilität derjenigen, die Arbeit haben und alles
dafür tun, diese zu behalten, können Sie heute am
Freitag spätabends zum Beispiel auf der A 4 bewundern.
Es gibt Kolonnen von Fahrzeugen, die von Westen in
Richtung Bautzen und Görlitz fahren.
Aus fachlicher und rechtssystematischer Sicht kann
man bei der Angleichung des Ostbetrages auf das Westniveau schon Fragen stellen, da die Anpassungssystematik nach § 20 Abs. 4 SGB II eigentlich durchbrochen
wird. Denn die Höhe der Regelleistung orientiert sich an
den Veränderungen des aktuellen Rentenwertes und an
den Regelsätzen des SGB XII.
Wir müssen also sehen: Rechtssystematisch war der
ursprüngliche Ansatz richtig. Wir folgen aber den Empfehlungen des Ombudsrates - insofern ist dies auch
eine politische Entscheidung - und beschließen heute
aus diesen politischen Gesichtspunkten die Vereinheitlichung der Regelsätze. Damit erfüllen wir unsere Verpflichtung, die Festsetzung der Regelsätze nach dem
Gleichheitsgrundsatz vorzunehmen.
Um der Grundsicherung in der Bevölkerung insgesamt mit Blick auf das, was sie eigentlich sein sollte,
nämlich Hilfe zur Selbsthilfe, wie mein Kollege Weiß
schon ausführlich begründet hat, auf die sich jeder verlassen, auf der sich aber keiner zulasten der anderen ausruhen kann, wieder Akzeptanz zu verschaffen, musste
eine neue Balance gefunden werden.
({0})
Ein überteuertes, uneffektiv gewordenes soziales Netz
strapaziert nicht nur unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit. Es droht am Ende ein Wohlstandsverlust für
alle, am meisten für die sozial schwachen Gruppen unserer Gesellschaft, für die wir das soziale System erhalten
wollen.
Deshalb: Wir sind erst am Anfang eines langen Reformprozesses. Ich bitte darum, dass wir diesen in Ruhe
und vernünftig gemeinsam weitergestalten.
Vielen Dank.
({1})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Karl
Schiewerling, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn ich mir die Debatte, die wir in dieser Woche - sei es in der Aktuellen
Stunde und heute Morgen - zu diesem Thema geführt
haben, noch einmal durch den Kopf gehen lasse, dann
habe ich den Eindruck, dass eine ganze Menge an Verwirrung gestiftet worden und Nebel entstanden ist. Es
geht nicht um alle Jugendlichen in dieser Republik. Es
geht um diejenigen, die der Hilfe bedürfen, die arbeitslos
sind, in einer Bedarfsgemeinschaft mit ihren Eltern leben und ausziehen wollen, obwohl sie selbst keine eigenen wirtschaftlichen Grundlagen haben. Um nichts anderes geht es hier.
Ich habe den Eindruck, als sollte nach außen vermittelt werden, wir hätten nichts anderes vor, als junge
Menschen zu ärgern. Es geht nicht um Ärgern und auch
nicht um Sozialabbau. Die Sozialpolitik richtet sich
nicht danach aus, wie viel Geld irgendwohin fließt. Die
Sozialpolitik richtet sich danach aus, was man mit dem,
was man einsetzt, bewirkt und erreicht. Eines der wesentlichen Ziele der Sozialpolitik ist es, Hilfe zur Selbsthilfe zu gewähren. Nichts anderes ist in SGB II vorgesehen.
({0})
Die letzten 14 Monate haben gezeigt - Staatssekretär
Andres hat es eindrucksvoll dargestellt -, dass es mit
dem SGB II ein völlig neues Projekt zur sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland gibt. Das
SGB II ist natürlich an verschiedenen Stellen zu verändern. Es gibt Handlungsbedarf.
Die immense Kostenexplosion, die wir erlebt haben,
hat unter anderem auch damit zu tun, dass vermehrt Arbeitslose zwischen 18 und 25 Jahren auf Kosten des
Staates aus dem Elternhaus ausziehen. Was anfänglich
dafür gedacht war, junge Menschen bei einem Auszug
zu unterstützen, weil sie in einer anderen Stadt einen
Ausbildungsplatz oder eine Arbeit gefunden haben, hat
sich mittlerweile unter jungen Menschen als kostenloses
Umzugspaket herumgesprochen.
Wenn junge Menschen in einer Kommune meines
Wahlkreises auf einen Ausbildungsplatz mit einer Vergütung von knapp 350 Euro im ersten Jahr verzichten,
weil es finanziell attraktiver ist, nach SGB II zu leben,
das heißt eine Grundsicherung plus die Übernahme der
Mietkosten für die lang ersehnte eigene Wohnung und
dazu noch den Umzug finanziert zu bekommen, dann, so
behaupte ich, ist etwas falsch in unserer Gesellschaft, in
unseren Köpfen und damit auch in der Vorgehensweise
unseres Staates.
({1})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wunderlich?
Ja.
Vielen Dank. - Herr Kollege, Sie haben von Hilfe zur
Selbsthilfe gesprochen. Definieren Sie die Senkung der
Rentenversicherungsbeiträge bei ALG-II-Empfängern
und die damit einhergehende Rentenkürzung auch als
Hilfe zur Selbsthilfe?
Die Senkung der Rentenbeiträge hat mit Hilfe zur
Selbsthilfe nichts zu tun, sondern ist Auswirkung der
Einzahlungen in das Rentensystem.
({0})
Deswegen gehört das nicht in diese Diskussion.
({1})
- Regen Sie sich nicht auf! Es geht hier um die Frage, ob
es uns gelingt, junge Menschen und Menschen, die der
Hilfe anderer bedürfen, aus der Sozialhilfe und damit
aus dem SGB II herauszuholen und ihnen eine Perspektive aufzuzeigen. Das hat mit der Rentenversicherung
und mit der Absicherung der Rente nichts zu tun.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Kurth?
Ja, aber dann keine mehr.
Herr Schiewerling, Sie haben gerade einen Auszubildenden, der 350 Euro verdient, einem Bezieher von
Arbeitslosengeld II gegenübergestellt. Würden Sie mir
aber darin zustimmen, dass der Auszubildende, sofern er
in einem eigenen Haushalt lebt, Anspruch auf ergänzendes Arbeitslosengeld II und die Übernahme der Kosten
für die Unterkunft hat und insofern dem Bezieher von
Arbeitslosengeld II, der keinen Ausbildungsplatz hat,
gleichgestellt ist?
Die exakten Regelsätze habe ich im Augenblick nicht
präsent.
({0})
Meine Aussage bezog sich nicht auf die Höhe der Ausbildungsbeihilfe bzw. Ausbildungsvergütung. Meine
Aussage bezog sich vielmehr darauf, dass, wenn jemand
die Chance auf einen Ausbildungsplatz hat, auf diesen
aber verzichtet, weil das aus materiellen Gründen attraktiver ist, die Chancen in unserer Gesellschaft von den
Einzelnen nicht richtig erkannt werden. Das war meine
Botschaft.
({1})
Herr Kollege, wir sind zwar nicht in der Fragestunde,
aber es gibt trotzdem noch die Bitte um Zulassung einer
Zwischenfrage, und zwar von der Kollegin Lötzsch.
Eine Frage lasse ich noch zu. Dann müssen wir aber
sehen, dass wir heute noch fertig werden.
Vielen Dank für die Großzügigkeit, Herr Kollege. Sie haben gerade angemerkt, dass das Thema „Höhe der
Rentenversicherungsbeiträge“ nicht in diese Debatte gehöre. Stimmen Sie mir aber zu, dass mit der Entscheidung über diesen Gesetzentwurf, die jetzt zu treffen ist,
gerade die Kürzung des Rentenversicherungsbeitrages
erfolgt? Ich könnte meine Frage vereinfacht formulieren:
Haben Sie das Gesetz gelesen?
({0})
Durch die Senkung des Beitrags zur Rentenversicherung senkt sich die Rentenanwartschaft von etwas mehr
als 4 Euro im Monat auf 2,18 Euro. Das weiß ich
natürlich. Aber das hat doch mit der Hilfe zur Selbsthilfe, die ich vorhin angesprochen habe, nichts zu tun.
({0})
Bei aller Sympathie für die Emanzipation junger
Menschen: Es ist nicht Aufgabe des Staates, zu finanzieren, dass junge Menschen nicht zu Stubenhockern werden.
Lassen Sie mich auf einen Punkt eingehen, der wichtig ist. Ich gehe davon aus, dass Kinder, die bereits vor
Vollendung des 18. Lebensjahres im Haushalt ihrer Eltern gelebt haben, nicht plötzlich mit Vollendung des
18. Lebensjahres von ihren Eltern an den Kosten der
Wohnung, zum Beispiel für Versicherungen und Fernsehgebühren, beteiligt werden. Deshalb halte ich es für
zumutbar, die Ansprüche junger Menschen auf 80 Prozent zu reduzieren, vor allem dann, wenn sie nicht selbst
für sich sorgen können.
Dass wir hier nicht willkürlich vorgehen, ist im geplanten § 22 Abs. 2 a SGB II des vorliegenden Gesetzentwurfes, über den wir gleich abstimmen werden, geregelt. Heute Morgen wurde schon ausführlich dargestellt,
unter welchen Bedingungen auch ein Auszug aus dem
Elternhaus akzeptiert und mitgetragen wird.
Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass die
geplante Kürzung des Arbeitslosengeldes II keine Erfindung im Rahmen der Hartz-IV-Reform ist. Die Anpassung im Familienbereich ist bereits im SGB XII geregelt
und schon lange bewährte Praxis. Dies wird jetzt im
Prinzip nur auf das SGB II übertragen. Der gekürzte Regelsatz für unter 25-Jährige gefährdet nicht das Existenzminimum dieser jungen Menschen. Wir haben im
SGB XII geregelt, dass Jugendliche, die im Haushalt ihrer Eltern leben, 237 Euro bekommen. Nach SGB II erhalten die Jugendlichen - das ist bereits der gekürzte Betrag - 276 Euro. Das ist nicht weniger, sondern das sind
39 Euro mehr. Nicht alles was neu ist, ist unbedingt
schlecht.
Meine Damen und Herren, mit dem Prinzip des Forderns und Förderns sind wir auf dem richtigen Weg.
Dieses Grundprinzip des SGB II trägt dazu bei, dass
Menschen ohne Arbeit gefordert werden, ihren Lebensunterhalt möglichst rasch wieder aus eigener Kraft bestreiten zu können. Schließlich wollen wir Menschen in
Arbeit bringen und sie somit aus dem Bezug staatlicher
Leistungen herausholen.
Unser oberstes Ziel ist und bleibt die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen alle mithelfen: jeder Einzelne, die Tarifpartner, der
Staat und die Gesellschaft.
Wir haben den Arbeitsgemeinschaften und den optierenden Gemeinden vorgegeben: Vorfahrt für junge Menschen. Junge Arbeitsuchende werden gezielt unterstützt.
Sie sollen umgehend in einen Ausbildungsplatz, ein
Praktikum oder einen Zusatzjob mit Qualifizierung kommen. Dass die Eingliederungsmaßnahmen fruchten, belegt auch die sinkende Zahl arbeitsloser junger Menschen. Sie ist im vergangenen Monat um über 52 000
gesunken.
Es ist meines Erachtens eine Frage der Menschenwürde, dass ein junger Mensch die Möglichkeit und die
Aufgabe hat, mit seines eigenen Kopfes und seiner eigenen Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Falls er das nicht kann, weil er nicht beliebig qualifizierbar ist oder eine leichte Behinderung hat, muss ihm der
Staat helfen. Aber zunächst einmal ist jeder selbst gefordert.
({1})
Wir müssen die jungen Menschen erreichen - das ist
ein Punkt, der mir große Sorge bereitet -, die aus einem
Elternhaus kommen, das bereits in zweiter oder dritter
Generation von Sozialhilfe lebt.
({2})
Das ist ein Themenbereich, der uns sehr bewegt. Ich
glaube, dass es notwendig ist, gerade den jungen Menschen eine Perspektive aufzuzeigen, dass es sich lohnt,
sich zu engagieren, und dass es sich nicht lohnt, ein Leben lang von Transferleistungen des Staates zu leben.
({3})
Mein Appell an die jungen Menschen lautet: Ihr
könnt mehr, als ihr denkt! Ihr könnt mehr, als ihr euch
bis jetzt vielleicht selbst zugetraut habt! Ich appelliere an
die Eltern, gemeinsam mit ihren Kindern die Beratungsmöglichkeiten und Unterstützung bei Berufsorientierung
und Lebenshilfe anzunehmen, die vonseiten des Staates
und der freien Träger angeboten werden, damit sie aus
eigener Kraft die Brücke begehen können, die ihnen der
Staat und die Gesellschaft bauen.
Ich fordere die Arbeitsgemeinschaften und die optierenden Kommunen auf, noch mehr als bisher jungen
Menschen auf ihrem Weg in Arbeit beratend und begleitend zur Seite zu stehen, die vorhandenen Netzwerke zu
nutzen und die Eingliederungsmittel, die der Bund zur
Verfügung stellt, auch wirklich abzurufen und gut einzusetzen.
Eines ist klar: Das SGB II löst keine Probleme wie
Vereinsamung, Schwierigkeiten in der Erziehung oder
Bildungsarmut. Das SGB II gewährt eine Grundversorgung, nicht mehr und nicht weniger. Beim Sprung aus
der Grundversorgung wollen wir helfen, aber springen,
meine Damen und Herren, muss jeder selbst.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung über diesen Tagesordnungspunkt kommen: Mir liegen Meldungen zu drei
mündlichen Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vor, und zwar von Diana Golze, Elke Reinke und
Jörn Wunderlich, die ich dann aufrufen werde. Außerdem liegen mir noch zwei schriftliche Erklärungen zur
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung von
Dagmar Enkelmann und Lutz Heilmann vor.
Das Wort zu einer persönlichen Erklärung hat die
Kollegin Diana Golze.
Ich stimme gegen dieses Gesetz, da ich den Gedanken
der Gleichbehandlung konsequent zu Ende denke. Es
geht nicht, wie vorhin gesagt wurde, um ein staatlich gefördertes Auszugsprogramm. Wir wollen auch keine
Umzugskarawane organisieren. Ich begrüße die längst
überfällige Angleichung der Regelleistungen Ost und
West, aber wir dürfen nicht gleichzeitig beschließen,
dass es Jugendliche erster und zweiter Klasse gibt. Wenn
wir nicht in der Lage sind, jedem jungen Menschen einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu bieten, dürfen wir
sie nicht für unser Versagen bestrafen und zahlen lassen.
Wir führen jede millionenschwere Initiative zur Stärkung des Selbstbewusstseins und des Demokratieverständnisses junger Menschen ad absurdum, wenn wir ihnen gleichzeitig kein eigenständiges Leben ermöglichen
und ihnen immer tiefer in die Tasche greifen. 345 Euro
sind schon zu wenig, aber 276 Euro für unter 25-Jährige
sind ein Skandal. Das hat mit Vorfahrt für Jugend nichts
zu tun.
Danke schön.
({0})
Das Wort zu einer weiteren Erklärung erhält die Kollegin Elke Reinke.
({0})
Ich bedanke mich für die Möglichkeit, hier eine persönliche Erklärung zu meinem Abstimmungsverhalten
abgeben zu dürfen.
({0})
Ich lehne den von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf ab, weil in ein Änderungsgesetz zum
längst überfälligen Ost-West-Angleich in einer Nachtund-Nebel-Aktion zusätzliche Hartz-IV-Verschärfungen
eingeflochten wurden. Sie stopfen Haushaltslöcher auf
Kosten junger Erwachsener und ihrer Familien. Mich erreichen täglich Anrufe, und zwar nicht nur von Hartz-IVBetroffenen. Die Menschen sind enttäuscht und zornig
über dieses Gesetz. Sie meinen, dass das wie Zuckerbrot
und Peitsche und eine riesige Sauerei ist. Sie sagen: Diesem Machwerk dürft ihr als Linke nicht zustimmen.
Danke.
({1})
Zu einer weiteren Erklärung erhält das Wort Jörn
Wunderlich.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich stimme gegen diesen Gesetzentwurf. Denn als das Änderungsgesetz zum SGB II auf
Drucksache 16/99 zum ersten Mal in den Ausschuss
kam, ging es lediglich um die Angleichung des ALG II
vom Ost- auf das Westniveau.
({0})
Dem hätte ich noch zustimmen können. Es wurde dann
aber sofort von der Tagesordnung genommen.
In der jetzigen Form kann ich dem nicht mehr zustimmen. Denn in Drucksache 16/688 sind noch schnell Verschärfungen gestrickt worden, die sozial unerträglich
sind. Ich begrüße ausdrücklich eine Anhebung des
ALG II. Aber aufgrund der massiven sozialen Einschnitte kann ich dem Gesetzentwurf in der vorliegenden
Form nicht zustimmen. Was ich von den neuen Änderungen halte, habe ich - so denke ich jedenfalls - am Mittwoch deutlich gemacht.
Ich stimme gegen diesen Gesetzentwurf, damit ich
morgen noch in den Spiegel schauen kann, ohne mich
schämen zu müssen.
({1})
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, Drucksache 16/99. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/688, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei
Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke und Enthaltung der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? ({0})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit demselben Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung
in der dritten Beratung angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/696 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Ich würde
jetzt gern wissen, wie das Abstimmungsverhalten der
Fraktion der Linken ist. Meiner Ansicht nach hat ein Teil
der Fraktion der Linken dagegen gestimmt und ein Teil
hat sich enthalten.
({1})
- Das ist ihr gutes Recht, sehr richtig, Herr Kollege. ({2})
Damit ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen
von SPD, CDU/CSU und FDP bei einigen Gegenstimmen der Fraktion der Linken und einigen Enthaltungen
der Linken abgelehnt.
({3})
- Es hat kein Teil zugestimmt, Frau Kollegin
Enkelmann.
({4})
- Nein, Sie haben überhaupt nicht abgestimmt.
({5})
- Ich habe Sie gesehen.
({6})
- Frau Kollegin Enkelmann, mein Blick war auf die
Fraktion der Linken gerichtet. Sie haben definitiv überhaupt nicht abgestimmt.
({7})
Tagesordnungspunkt 15 b. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/688 zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Angleichung des
Arbeitslosengeldes II in den neuen Ländern an das Niveau in den alten Ländern rückwirkend zum 1. Januar
2005“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 16/120 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! ({8})
Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die
Grünen und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 sowie Zusatzpunkt 5
auf:
16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner
Dreibus, Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Mindestlohnregelung einführen
- Drucksache 16/398 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Irmingard Schewe-Gerigk, Markus
Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mindestarbeitsbedingungen mit regional und
branchenspezifisch differenzierten Mindestlohnregelungen sichern
- Drucksache 16/656 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahren fordern alle Fraktionen im Deutschen
Bundestag das Gleiche, schlagen allerdings höchst unterschiedliche Wege vor, um die Erwerbsmöglichkeiten
in Deutschland auszubauen und die Arbeitslosigkeit abzubauen. Die unterschiedlichen Vorstellungen, die es
hierzu gibt, haben natürlich auch zu gravierenden politischen Auseinandersetzungen geführt. Dabei spielt zunehmend die Frage eine Rolle, was man eigentlich verdient, wenn man sich in Erwerbstätigkeit begibt,
({0})
und ob man das, wie manche sagen, dem freien Spiel der
Kräfte überlassen kann.
In den letzten Jahren haben wir in Deutschland eine
Entwicklung erlebt, die es erforderlich macht, dass der
Gesetzgeber tätig wird:
({1})
Tariflöhne sind in den neuen Bundesländern zu einer
Ausnahme geworden und es gibt sie auch in den alten
Bundesländern immer seltener. Im Osten kommen sehr
häufig Haustarife zur Anwendung, kaum mehr Flächentarifverträge. In vielen Unternehmen gibt es nicht einmal
einen Haustarifvertrag; dort wird Monat für Monat
entweder ausbezahlt, was da ist, oder es werden andere
Kriterien zugrunde gelegt. Es gibt für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer also keine verlässlichen Maßstäbe mehr.
Solange überall bzw. in zumindest 90 Prozent der
Fälle Tarifverträge gegolten haben und die Gewerkschaften dafür sorgen konnten, dass angemessene Mindestlöhne gezahlt wurden, konnte man auf eine Regelung verzichten; das war in den früheren Jahrzehnten der
Bundesrepublik der Fall. Heutzutage ist das unverantwortlich.
({2})
Man muss sagen, was jemand pro Stunde Erwerbsarbeit
in Deutschland mindestens verdienen muss.
Ich höre schon jetzt, was die Redner der FDP, die ja
immer die Freiheit betonen, vermutlich sagen werden:
dass man all das wunderbar miteinander vereinbaren
kann.
({3})
- Das haben Sie früher immer gesagt. Warum also sollten Sie heute etwas anderes sagen?
({4})
Eines möchte ich Ihnen aber entgegenhalten: Selbst für
Ihre Klientel, die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte
({5})
- leider gibt es eine ganze Reihe von ihnen, die zu Ihrer
Klientel gehören - und die Ärztinnen und Ärzte, gelten
Mindestlöhne. Diese Berufsgruppen haben Gebührenordnungen, in denen steht, wie viel sie mindestens verdienen. Hier haben Sie nichts dagegen. Darüber würde
ich an Ihrer Stelle einmal nachdenken.
({6})
Wir sagen: Diese Art der Sicherheit brauchen auch
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland.
({7})
Inzwischen gibt es in Deutschland mehr als 3 Millionen
erwerbstätige Menschen, die weniger als den pfändungsfreien Betrag - dazu sage ich noch etwas - verdienen.
Darunter befinden sich sehr viele Menschen, die weniger
als 800 Euro im Monat verdienen. Mit Ausnahme jener,
die wirklich in dieser Situation waren, kann niemand
hier im Hause ernsthaft sagen, wie man von diesem Betrag leben kann.
({8})
Da wir diese Frage nicht beantworten können, müssen
wir als Gesetzgeber eine andere Regelung schaffen.
Die Zahl derjenigen, die sich in einer solchen Situation befinden, nimmt zu. Hinzu kommt - auch daran
möchte ich erinnern - die Bolkestein-Regelung. Hier
wurde ein Kompromiss erarbeitet. Dabei handelt es sich
um einen Kompromiss für Rechtsanwälte; denn seine
Formulierungen sind so schwammig, dass darüber - das
ist schon jetzt klar - irgendwann einmal der Europäische
Gerichtshof wird entscheiden müssen. Weil man sich
darauf nicht eindeutig verlassen kann, hilft uns diese Regelung nicht weiter.
Ob in Deutschland oder in Frankreich, bei uns werden
Unternehmen aus anderen Ländern zu ganz anderen
Lohnbedingungen, zu ganz anderen Sozialbedingungen
Arbeit anbieten. Diese Konkurrenz bedeutet Dumping:
weil sie ausschließlich auf das Drücken der Löhne hinausläuft.
({9})
Die Kosten in Deutschland sinken aber doch nicht: Weder wird die Miete geringer noch werden Busfahrten billiger noch Bahnfahrten. Im Gegenteil, alles wird teurer.
Deshalb ist es doch nicht zu viel verlangt, dass der Gesetzgeber von den Unternehmen die Zahlung eines Mindestlohns erwartet und sie dazu verpflichtet.
({10})
- Auf die Arbeitsplätze komme ich noch zu sprechen.
Wenn man für einen solchen Mindestlohn streitet,
muss man auch sagen, wo er liegen soll; dafür braucht
man einen Maßstab.
({11})
Wir können uns nach dem richten, was der Gesetzgeber
als pfändungsfreies Einkommen festgelegt hat. Wenn Sie
jemandem ein Darlehen gewähren, dieser es nicht zurückzahlt und Sie nach drei Jahren endlich Ihren Vollstreckungstitel haben, dann bekommen Sie, wenn diese
Einzelperson nur 985 Euro netto hat, gar nichts davon.
Erst wenn die Person mehr als 985 Euro hat, können Sie
pfänden. Das ist doch ein Maßstab! Damit hat der Gesetzgeber - die Mehrheit im Bundestag - gesagt: An diesen Betrag lassen wir auch einen Gläubiger nicht heran.
Genau dieser Betrag muss der Mindestlohn in Deutschland werden: Wer arbeitet, muss mindestens den pfändungsfreien Betrag verdienen.
({12})
So kommt unsere Rechnung zustande: Bei 8 Euro brutto
pro Stunde kommen Sie bei einer 40-Stunden-Arbeitswoche auf einen Bruttolohn im Monat, dem netto etwa
diese 985 Euro entsprechen. Damit würde jeder mindestens den pfändungsfreien Betrag verdienen. Das ist doch
nicht zu viel verlangt.
Es gibt noch ein Argument für unser Anliegen:
14 europäische Staaten haben einen Mindestlohn eingeführt - und sie haben damit keine schlechten Erfahrungen gemacht.
({13})
Sagen Sie jetzt nicht: Die sind alle doof und wir sind als
einzige schlau. Nein, sie hatten gute Gründe, einen Mindestlohn einzuführen.
({14})
Reden Sie einmal mit einem Taxifahrer, mit einer Friseuse, mit Leuten aus dem Bäckereihandwerk oder gar
mit Wachpersonal!
({15})
- Ja, ich bin jetzt ein paar Jahre einem normalen Beruf
nachgegangen. Da lernen Sie viele Leute kennen. Da
müssen Sie mal wieder rein; das ist zur Abwechslung gar
nicht schlecht.
({16})
Wenn Sie mit diesen Leuten reden, werden Sie eins feststellen: Es gibt Leute, deren Bruttoeinkommen bei
3 Euro, 4 Euro die Stunde liegt.
Herr Kollege, ich möchte Sie an Ihre Redezeit erinnern. Sie reden sonst auf Kosten Ihrer Kollegen.
So viele Überstunden können Sie gar nicht machen,
dass Sie davon Ihren Lebensunterhalt einigermaßen bestreiten können. Ich sage, es ist eine Frage des Anstands,
dass wir - der Bundestag - dafür sorgen, nicht von Armut umgeben zu sein. Dafür brauchen wir den Mindestlohn.
({0})
Das Wort hat der Kollege Ralf Brauksiepe, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Gysi, nach Ihrem Beitrag bin ich in einer Hinsicht erleichtert: Anscheinend gibt es in Ihrer Fraktion
doch Leute, die die freie Rede beherrschen; das klang ja
vorhin bei den abgelesenen Erklärungen anders.
({0})
Mir ist gleichwohl klar, dass die Zettel, die hier eben abgelesen wurden, nicht aus SED-Zeiten stammen.
({1})
Denn zu DDR-Zeiten konnten die Leute auf solche Summen, wie Sie sie hier einfordern, nicht hoffen; das waren
damals andere Zeiten.
({2})
Es war schon etwas gespenstisch, wie das hier eben vorgetragen wurde; die Anmerkung sei mir vorweg gestattet.
({3})
Mit der Forderung, die hier von der PDS erhoben
worden ist, steht sie an der Spitze der Forderungen, die
in Hinsicht auf die Höhe eines Mindestlohns erhoben
worden sind.
({4})
Ich würde Ihnen empfehlen, einmal nachzulesen, was
das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in
Nürnberg dazu gesagt hat, was das für das Lohngefüge
bedeutet, gerade in den neuen Ländern, die Sie hier hervorheben: 34 Prozent der Menschen, die in den neuen
Ländern arbeiten - nehmen Sie den Fall: mit zwei Kindern -, haben ein Einkommen im Monat, mit dem sie
den Betrag, den Sie hier gefordert haben, nicht erreichen. Für 34 Prozent der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten würde das bedeuten: Ihr Arbeitsplatz ist
akut gefährdet, wenn das, was in Ihrem Antrag gefordert
wird, umgesetzt wird. In der Realität einer sozialen
Marktwirtschaft, die sich im weltweiten Wettbewerb behaupten muss, ist so etwas nicht zu machen; das haben
Sie gefälligst zur Kenntnis zu nehmen. Solche Forderungen kosten Arbeitsplätze, sie treiben zusätzlich Menschen in die Arbeitslosigkeit. Das ist reiner Populismus.
({5})
Deswegen lehnen wir diesen Antrag ab.
({6})
Nun wird man natürlich zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich im Bereich des Niedriglohnsektors in den
vergangenen Jahren etwas verändert hat, und zwar auch
zum Negativen. Im Vorgriff auf das, worüber wir gleich
vielleicht noch diskutieren, will ich ausdrücklich sagen:
Auf unserem Arbeitsmarkt und im Niedriglohnbereich
ist eben nicht alles wunderbar geordnet. - Traditionell
und richtigerweise haben wir die Tarifautonomie. Die
Tarifvertragsparteien haben in den letzten Jahren aber an
Bindungskraft verloren.
({7})
Die Wirkungen der Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien haben Bedeutung eingebüßt.
({8})
Deswegen ist es auch richtig, dass wir uns darüber Gedanken machen, wo in diesem Bereich politischer Handlungsbedarf besteht.
({9})
Die große Koalition hat sich das im Koalitionsvertrag
entsprechend vorgenommen. Wir haben uns vorgenommen, die Geltung des Entsendegesetzes zu erweitern.
({10})
- Hören Sie zu, Herr Kollege Niebel! - Wir werden es
auf den Bereich der Gebäudereiniger ausweiten und wir
haben uns vorgenommen, eine weitere Ausdehnung auf
weitere Branchen zu prüfen. Das ist der eine Punkt.
({11})
Daneben haben wir uns vorgenommen, Lösungsmöglichkeiten für den Bereich der Kombilöhne vorzuschlagen - das werden wir im Laufe dieses Jahres machen -,
um auch im Niedriglohnbereich etwas zu tun.
Hier geht es natürlich darum, dass wir den Staat und
die Steuerzahler vor Ausbeutung schützen. Deswegen
wird darüber zu reden sein, wie man das, was ein Arbeitnehmer durch sein Markteinkommen und die hinzukommenden staatlichen Transfers erhält, justieren und in ein
vernünftiges Verhältnis zueinander setzen kann. Aus diesem Grund ist im Koalitionsvertrag an dieser Stelle auch
der Zusammenhang mit den Themen Mindestlohn und
Entsendegesetz aufgeführt. Wir haben deutlich gemacht,
dass eine Debatte über den Kombilohn natürlich auch
diese Themen berührt. Die Bundeskanzlerin hat in den
vergangenen Wochen mehrfach völlig zu Recht auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Wir sind an dieser
Stelle offen, uns auch Gedanken darüber zu machen, wie
wir im Bereich des Niedriglohns vorankommen. Wir
sind hier offen und wir werden unaufgeregt, mit der nötigen Sorgfalt und ohne irgendwelche ideologischen Vorbehalte an diese Fragen herangehen.
({12})
Ich möchte das ausdrücklich auch vor dem Hintergrund der Vereinbarungen sagen, die gestern im Europäischen Parlament getroffen worden sind. Wir haben
nun die Dienstleistungsrichtlinie. Ich denke, das geht
im Grundsatz in die richtige Richtung. Ich finde es richtig, dass der Bundesarbeitsminister und der Bundeswirtschaftsminister auch vor diesem aktuellen Hintergrund
gemeinsam bekräftigt haben, dass die Koalition bei ihrem Willen bleibt, den deutschen Arbeitsmarkt gegen
Lohndumping zu schützen und rechtzeitig entsprechende
gesetzgeberische Maßnahmen zu ergreifen.
Ich denke, für die Koalitionsfraktionen gilt gemeinsam, dass tarifliche Lösungen immer Vorrang vor gesetzlichen Lösungen haben. Deswegen werden die Möglichkeiten, die uns durch das Entsendegesetz geboten
werden, in diesem Zusammenhang zu prüfen sein. Dabei
werden wir insbesondere auch unsere Möglichkeiten
prüfen, ein Absinken der Löhne ins Bodenlose zu verhindern.
({13})
Im Übrigen will ich in diesem Zusammenhang deutlich sagen: Die Frage, was denn nun eigentlich eine anständige Entlohnung für eine Arbeit ist, ist sehr alt. Ich
darf das sagen: Dies ist eine sehr christliche Frage und
sie hängt mit unserem Verständnis von Menschenwürde
und mit unserem christlichen Menschenbild zusammen.
Wer anständig arbeitet, hat auch einen Anspruch auf einen anständigen Lohn.
({14})
Das ist nicht Gegenstand einer neuen Debatte. Schon
Papst Leo XIII. hat Ende des 19. Jahrhunderts die ersten
Gedanken zu dieser Frage formuliert. Papst Pius XI. hat
dann in seiner Sozialenzyklika von 1931 darauf hingewiesen, dass bei der Bemessung eines gerechten Lohns
verschiedene Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind,
eben auch die allgemeine Wohlfahrt. Ich zitiere ihn sehr
gerne. Schon damals hat er gesagt:
Die Gemeinwohlgerechtigkeit verbietet daher, ohne
Rücksicht auf das Gemeinwohl nur dem eigenen
Vorteil gemäß die Löhne über den zulässigen Spielraum hinaus hinabzudrücken oder hinaufzutreiben;
…
Das schrieb Pius XI. schon vor gut 80 Jahren. Da war er
schon sehr viel weiter als die Linke heute.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kolb?
Aber gerne, Herr Kolb.
Herr Kollege Brauksiepe, nachdem ich Ihnen aufmerksam zugehört habe, weiß ich zwar jetzt, was Papst
Leo XIII. und Papst Pius XI. in dieser Frage gedacht haben. Aber so recht hat sich mir noch nicht erschlossen,
wie Ihre persönliche Position oder die Position Ihrer
Fraktion zu dem Thema Mindestlohn aussieht.
Wäre es zu viel verlangt, mir in Kürze zu sagen, ob
Sie dafür oder dagegen sind?
({0})
Nein, das ist nicht zu viel verlangt, Herr Kollege
Kolb. Ich habe noch 3,25 Minuten an Redezeit, die ich
diesem Thema widmen werde.
({0})
- Ja, jetzt habe ich noch mehr Redezeit. - Ich will Ihnen
deutlich sagen: Es geht in der Tat darum, dass wir verschiedene Gesichtspunkte gleichermaßen berücksichtigen, auf die ich im Laufe der nächsten Minuten noch zu
sprechen kommen werde. Ich beginne mit dem Punkt,
der eben angesprochen worden ist.
Ich sage Ihnen erst einmal etwas zu der Frage der in
den anderen europäischen Ländern so weit verbreiteten
Mindestlöhne, die angeblich dafür sprechen, Mindestlöhne auch in Deutschland einzuführen. Es heißt, dass es
in 14 Ländern einen Mindestlohn gibt. Ich will Ihnen die
Mindestlöhne in ein paar Ländern nennen: Lettland:
71 Cent die Stunde, Litauen: 85 Cent die Stunde, Estland: 93 Cent, Slowakei: 93 Cent. So viel zum Mindestlohn in anderen Ländern und den angeblich guten Gründen, die dafür sprechen. Genau das wollen wir nicht.
({1})
Jetzt zu der Frage, wie es in Deutschland sinnvollerweise laufen soll. Ich habe eben darauf hingewiesen: Es
gibt bei uns die Tradition der Tarifautonomie, die unser
Land aus guten Gründen von anderen Ländern unterscheidet. In Großbritannien gibt es seit 1909 Mindestlöhne, in Frankreich seit 1915 und in anderen Ländern
sieht es ähnlich aus. Bei uns steht anstelle der Tradition
der Mindestlöhne die Tarifautonomie.
({2})
Diese hat für uns Vorrang; das will ich Ihnen deutlich sagen.
In der Frage, wie wir bei Niedriglöhnen, Kombilohn
oder Mindestlohn vorankommen können, sind drei Leitlinien im Auge zu behalten. Ich hoffe, Herr Kollege
Kolb, dass wir darin mit Ihnen einig sind. Die erste Leitlinie ist: Die Löhne in diesem Land dürfen nicht ins Bodenlose sinken. Es muss eine sittliche Untergrenze geben, unterhalb derer niemand arbeiten muss. Derjenige,
der anständig arbeitet, muss einen angemessenen Lohn
bekommen. Sollten die Tarifvertragsparteien bei den
Löhnen etwas übersehen haben, ist der Gesetzgeber gefordert, dem Einhalt zu gebieten.
({3})
Die zweite Leitlinie, die zu beachten ist - ich denke,
auch da werden Sie uns zustimmen -: Es dürfen keine
zusätzlichen Anreize für Schwarzarbeit geschaffen werden. Das setzt allen Regelungen, die wir treffen, Grenzen nach oben.
Die dritte Leitlinie ist: Die Löhne müssen für die Unternehmen finanzierbar bleiben. Es dürfen keine zusätzlichen nicht tragbaren Belastungen für den Haushalt
entstehen. Das haben wir im Koalitionsvertrag im Zusammenhang mit dem Kombilohn festgehalten. Es wird
und darf keine flächendeckende Subventionierung von
Unternehmen geben. - Um diese Leitlinien geht es.
({4})
Also: Erstens. Kein Absinken der Löhne ins Bodenlose! Zweitens. Keine zusätzlichen Anreize für Schwarzarbeit! Drittens. Das Problem muss in einer Weise gelöst
werden, die den Staat insgesamt nicht finanziell überfordert. Von diesen Linien lassen wir uns leiten. Wir haben
uns vorgenommen, dieses Thema in diesem Jahr anzugehen, und das werden wir auch tun. Wir werden Lösungen
finden, von denen ich sicher bin, dass sie tragfähig sein
werden.
Wir müssen aber von dem Denken in ideologischen
Kampfbegriffen wegkommen. Ich bin froh, dass im Zusammenhang mit der Dienstleistungsrichtlinie dieses
Gerede um das Herkunftslandprinzip vom Tisch ist. Es
geht um die Sache, nicht um das Hochhalten irgendwelcher Prinzipien.
({5})
Auch bei dieser Debatte geht es darum, wie wir im Niedriglohnbereich vorankommen. Die Sozialdemokraten
entwickeln ihre Vorstellungen und wir entwickeln unsere
Vorstellungen. In dieser Frage werden wir zu einer gemeinsamen Lösung kommen:
({6})
unideologisch, unaufgeregt und nach dem Motto
„Gründlichkeit vor Schnelligkeit“, anstelle kurzfristiger
populistischer Erfolge, die den Menschen im Niedriglohnsektor nicht helfen. Um sie geht es uns.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Wolfgang Gehrcke.
Sehr geehrter Herr Kollege Brauksiepe! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem sich das Parlament nun
eine Vorlesung, eine geschichtliche Abhandlung zu den
Mindestlöhnen, angehört und man vielleicht aufgrund
des rhetorischen Feuerwerks die Logik nicht verstanden
hat, bleibt für mich eine einfache Frage. Sie haben Lösungen angekündigt. Wann werden Sie diese Lösungen
vorstellen? In Ihrer Rede haben Sie das jedenfalls nicht
getan.
Ich habe noch eine Frage. Waren die Angaben zu den
Mindestlöhnen in Litauen, Estland und Lettland vielleicht ein Hinweis darauf, welche Mindestlöhne in
Deutschland zu erwarten sind, wenn Sie darüber entscheiden könnten?
({0})
Herr Kollege Brauksiepe, bitte.
Herr Kollege, Sie wissen, dass ich genau das Gegenteil gesagt habe. Mit uns wird es kein Abgleiten der
Löhne ins Bodenlose geben. Wir werden dazu Vorschläge erarbeiten, die wir noch in diesem Jahr vorlegen
werden.
Die von mir genannten Zahlen belegen eines: Je stärker der real existierende Sozialismus in der VergangenDr. Ralf Brauksiepe
heit verbreitet war, desto größer ist das Elend der arbeitenden Menschen heute. Das und nichts anderes belegen
diese Zahlen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Heinrich Kolb, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Linke und Grüne wollen mit der heutigen Debatte Druck
auf die zerstrittene Koalition ausüben, Mindestlöhne einzuführen. In der Tat ist zu befürchten - das ergibt sich
auch aus dem, was Herr Kollege Brauksiepe gesagt bzw.
nicht gesagt hat -, dass die Koalition ernsthaft einen solchen Schritt erwägt. Auch Äußerungen von Bundesarbeitsminister Müntefering lassen diesen Schluss zu.
({0})
In der Tat, es klingt durchaus heimelig, Herr Kollege
Brandner, wenn Herr Müntefering feststellt: „Wer seinen
Job richtig macht, muss auch so viel Geld bekommen,
dass er seine Familie davon ernähren kann.“
({1})
Im Ergebnis stimme ich ihm zwar zu - das wird Sie
sicherlich wundern, Herr Kollege Brandner -, aber das
erreicht man nicht dadurch, dass man die Löhne auch für
einfache Tätigkeiten per Gesetz hochschraubt
({2})
- hören Sie zu, Herr Brandner! -, sondern dadurch, dass
man Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht durch
ihre eigene Tätigkeit finanzieren können, bei Bedarf einen ergänzenden staatlichen Transfer gewährt, wie es die
FDP mit ihrem Konzept des Bürgergeldes vorgeschlagen hat.
({3})
Ich stelle für die FDP-Bundestagsfraktion klipp und
klar fest: Gesetzliche Mindestlöhne - egal, in welcher
Form - lösen keine Probleme; sie verschärfen sie.
({4})
Das hat der jetzige Unionsfraktionsvorsitzende, Volker
Kauder, am 9. April 2005 in einem Interview mit der
„Welt“ noch genauso gesehen. Es ist wirklich erschreckend, festzustellen, wie sich zwischenzeitlich die CDU/
CSU in dieser Frage immer mehr sozialdemokratischen
Positionen annähert.
({5})
Mindestlöhne sind faktisch Arbeitsplatzvernichtungsprogramme. Sie führen - besonders im Bereich
der gering Qualifizierten - zu einer Verdrängung von Arbeitsplätzen und fördern die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland. Im Übrigen fördern sie auch die
Schwarzarbeit.
({6})
Ich wundere mich, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition, dass Sie das nicht sehen wollen. Jeder
Mindestlohn - ob kollektiv oder staatlich vorgeschrieben grenzt einen unteren Produktivitätsbereich aus dem Arbeitsmarkt aus.
({7})
Schon jetzt wirken die staatlichen Transfers der sozialen Sicherung - auch das ALG II - faktisch wie ein
Mindestlohn. Überproportionale Lohnerhöhungen bzw.
Sockellohnanhebungen haben schon in der Vergangenheit dazu geführt, dass in vielen Bereichen gering Qualifizierte verdrängt worden sind. Unter gesetzlichen Mindestlöhnen haben in der Regel gering qualifizierte
Langzeitarbeitslose zu leiden.
({8})
- Melden Sie sich doch zu einer Zwischenfrage, Herr
Brandner!
Die Forderung nach Mindestlöhnen lässt die aus meiner Sicht entscheidende Frage offen, wer zu solchen Bedingungen noch Arbeitsplätze schaffen soll. Die deutsche Volkswirtschaft leidet schon jetzt unter massiven
Problemen: unter zu geringen Wachstumsraten, unter
überzogener Bürokratie, unter den hohen Steuer- und
Abgabelasten und der zu hohen Regelungsdichte im Arbeits- und Tarifrecht.
Ich finde, es ist eher mehr als weniger Flexibilität notwendig.
({9})
Wir brauchen ein flexibleres Tarifrecht, damit sich die
Löhne wieder an der Produktivität orientieren können.
Notwendig sind auch Öffnungsklauseln für betriebliche
Bündnisse für Arbeit und ein funktionierender Niedriglohnsektor, damit sich auch die Aufnahme einer gering entlohnten Tätigkeit gegenüber der Inanspruchnahme staatlicher Transferleistungen lohnt.
({10})
Ich habe bereits festgestellt, dass das von der FDP
vorgeschlagene Bürgergeld - also das System einer negativen Einkommensteuer - in diese richtige Richtung
wirkt. Ich kann Sie nur ermuntern, Herr Brandner, sich
damit zu befassen.
({11})
Abschließend stellt sich die Frage - die auch der Kollege Gysi bereits angesprochen hat -, wie hoch der Mindestlohn sein soll. Wir glauben, dass der Markt diese
Frage beantwortet. Ich habe Ihre Angaben, meine Damen und Herren von der Linken, nachvollzogen und bin
- diese Rechenaufgabe habe ich ohne Taschenrechner
gelöst - bei 985 Euro und einer Arbeitszeit von rund
160 Stunden im Monat - das ist zwar etwas mehr als
eine 35-Stunden-Woche, aber so rechnet es sich besser auf einen Stundenlohn von 6,15 Euro als gesetzlichen
Mindestlohn gekommen.
({12})
- 985 Euro netto? Dann wird es ja sogar noch mehr. Ich
rechne gerne noch einmal nach
({13})
und werde mich nachher vielleicht noch einmal zu Wort
melden. Aber besser wird es dadurch nicht, Herr Gysi.
({14})
- Hören Sie mir zu! Ich entschuldige mich ja. Aber dadurch wird es, wie gesagt, nicht besser; denn dann werden noch mehr Arbeitsplätze und noch mehr Menschen
in Beschäftigung aus dem ersten Arbeitsmarkt verdrängt. Ich frage Sie, ob Sie das ernsthaft wollen.
Es bleibt festzuhalten: Mindestlöhne lösen keine Probleme, sondern schaffen welche.
Ein weiteres Problem, das noch zu nennen wäre, ist
die Bürokratie. Es bedarf letztendlich eines riesengroßen Kontrollapparates, um festzustellen, ob die Mindestlohnregelungen eingehalten werden. Der Präsident des
Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Ludwig
Georg Braun, warnt daher zu Recht vor den bürokratischen Folgen einer solchen Regelung.
Wir können klipp und klar, ohne Wenn und Aber,
ohne Wackeln und Herumeiern sagen: Wir sind gegen
gesetzliche Mindestlöhne in Deutschland.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Nahles,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Für die ostdeutsche Floristin, die für
1 000 Euro brutto 41 Stunden in der Woche arbeitet,
muss es wie Hohn klingen, wenn Sie, Herr Kolb, sagen,
dass der Markt dieses Problem letztlich schon lösen
werde. Das kann ich nur zurückweisen.
({0})
Wir werden über diese Frage noch einmal ernsthafter
diskutieren müssen.
Gestern ist im Europäischen Parlament eine Entscheidung getroffen worden, über die wir uns in Deutschland
sehr freuen dürfen. Gemeinsam mit den christlich-konservativen haben die sozialistisch-sozialdemokratischen
Abgeordneten einerseits die Dienstleistungsfreiheit
durchgesetzt und damit unnötige Hemmnisse für den
freien Dienstleistungsverkehr in ganz Europa beseitigt.
Andererseits ist das Herkunftslandprinzip, das einen
weiteren unseligen Dumpingwettlauf um niedrige Löhne
sowie geringe Umwelt- und Sozialstandards ausgelöst
hätte, auf dem Abfallhaufen der Geschichte gelandet.
Dorthin gehört es auch. Darüber dürfen wir uns sehr
freuen.
({1})
Nun ist das Herkunftslandprinzip zwar weg. Aber wir
haben im Zielland unsere Hausaufgaben noch nicht gemacht. Dass im gesamten europäischen Umland bei der
Umsetzung der Entsenderichtlinie der Europäischen
Union viel mehr Branchen als in Deutschland einbezogen worden sind, ist nun für uns ein Problem. Wenn in
den nächsten Jahren in Deutschland die volle Freizügigkeit gilt, dann sind wir - unabhängig von der Dienstleistungsrichtlinie - ohne eine Ausweitung der Entsenderichtlinie und des Entsendegesetzes auf weitere
Branchen verwundbar. Dann haben wir unsere Interessen nicht adäquat vertreten. Wir brauchen also eine Ausweitung des Entsendegesetzes hier in Deutschland.
({2})
Es ist Angela Merkel gewesen, die festgestellt hat,
dass es in 19 europäischen Ländern einen Mindestlohn
gibt und dass es daher nur schwer zu erklären ist, warum
wir in Deutschland noch nicht einmal darüber sollen reden dürfen.
({3})
Die entscheidende Frage, die sich hier stellt, ist, warum
wir überhaupt über die Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohns diskutieren müssen. Dass es Steuerdumping in Europa gibt, wissen wir alle. Es gibt aber auch
Lohndumping. Wir müssen darüber nachdenken, wie
sich das verhindern lässt. In Deutschland gibt es mittlerweile 3 Millionen Menschen, die Vollzeit arbeiten und
Armutslöhne bekommen. Es gibt dafür einen ganz klaren Gradmesser. Die Armutslohngrenze liegt nämlich
bei 1 400 Euro brutto. Jeder fünfte ostdeutsche Arbeitnehmer arbeitet zurzeit für weniger als 1 300 Euro. Das
sind Armutslöhne. Das heißt, dass das, was in den USA
als Working Poor bezeichnet wird, längst Deutschland
erreicht hat.
({4})
Es gibt nämlich Armut trotz Arbeit. Das können wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht hinnehAndrea Nahles
men, das können wir nicht akzeptieren. Ich hoffe, das
gilt auch für die Bundesregierung.
({5})
Es geht aber nicht nur darum, dass wir Armutslöhne
in Bereichen haben, in denen wir keine tarifvertraglichen
Regelungen haben.
({6})
Mittlerweile sind in Ostdeutschland nur noch
54 Prozent der Unternehmen tarifvertraglich gebunden.
Zieht man davon den öffentlichen Dienst ab, dann wird
man feststellen, dass die Zahl der tarifvertraglich nicht
gebundenen Unternehmen relativ noch höher ist.
({7})
Es reicht also nicht, Löhne tariflich abzusichern oder
eine Tarifgruppe für allgemeinverbindlich zu erklären.
Das wird denen, die überhaupt nicht mehr tariflich eingebunden sind, weil deren Arbeitgeber sich aus der Tarifgemeinschaft herausgestohlen haben, nichts nützen.
({8})
Deswegen müssen wir über diese tarifliche Absicherung
hinausgehen und auch deshalb brauchen wir Mindestlöhne. Das steht für mich außer Frage.
Frau Kollegin Nahles, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Gerne.
Vielen Dank, Frau Kollegin. Sie haben eben beklagt,
dass die verfügbaren Einkommen von vielen Menschen, insbesondere in den neuen Bundesländern, nach
Ihrem Dafürhalten zu gering sind. Widerspricht das nicht
dem Willen der großen Koalition, die auch von der SPDFraktion mitgetragen wird, die Mehrwertsteuer um
3 Prozentpunkte zu erhöhen, weil damit den Menschen
noch mehr Kaufkraft entzogen wird?
({0})
Herr Niebel, erstens wird diese große Koalition nicht
auch, sondern ganz ausdrücklich von der SPD mitgetragen. Zweitens ist es selbstverständlich richtig, dass wir
die Frage der Mehrwertsteuererhöhung, die Sie offensichtlich in jede Debatte hier im Deutschen Bundestag
einfließen lassen
({0})
- das ist Ihr wichtigster Profilierungspunkt -, gerne an
anderer Stelle diskutieren können. Wenn Sie aber sagen,
dass Sie ausdrücklich keinen gesetzlichen Mindestlohn
wollen, dann ist das eine weitaus größere Bedrohung für
untere Einkommensgruppen in Deutschland
({1})
als die Mehrwertsteuererhöhung. Lassen Sie uns darüber
streiten, wenn das Thema an der Reihe ist. Machen Sie
jetzt bitte keine Show zu einem Thema, das heute gar
nicht zur Debatte steht.
({2})
Man kann feststellen, dass das Problem der unteren
Einkommensgruppen durch tariflich festgesetzte
Löhne leider nicht gelöst wird. In den unteren Einkommensbereichen gibt es Tariflöhne, die 4 Euro betragen,
teilweise sogar weniger. Es reicht also nicht, wie es
heute von den Grünen vorgeschlagen wird, beispielsweise durch das Gesetz zur Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen die unteren Tarifgruppen festzuschreiben. Ich kann Sie nur auffordern, sich einmal die
Tabellen mit den tariflich festgelegten Löhnen im unteren Einkommensbereich anzusehen. Da wird Ihnen einiges auffallen. Sie sind den entscheidenden Schritt nicht
gegangen. Sie vermeiden ja heute eine klare Aussage
zum Mindestlohn. Das trauen Sie sich offensichtlich
nicht. Ihre Vorschläge reichen nicht aus, um das Niveau,
das wir brauchen, zu erreichen und die Leute aus der Armut zu holen.
({3})
Ich glaube auch, dass wir uns heute von der Linkspartei nicht in eine Debatte treiben lassen sollten, in der es
um 20 oder 50 Cent mehr oder weniger Mindestlohn
geht.
({4})
Es geht zunächst einmal nicht um die Höhe des Mindestlohns, sondern um die Frage, ob wir eine untere Haltelinie brauchen. Ich sage Ihnen: Ja. Muss das im Verbund
mit den Tarifparteien und unter Berücksichtigung der
Tarifautonomie in Deutschland geschehen? Da sage ich
auch: Ja. Brauchen wir aber auch jenseits der Tarifverträge, die nicht mehr verhindern, dass die Löhne in
Deutschland abrutschen, zusätzliche Regelungen? Auch
dazu sage ich: Ja. Wir brauchen Mindestlöhne.
Warum schlagen Sie vor, dass das alles gesetzlich
festgelegt wird? Warum soll das alles über einen Kamm
geschoren werden? Sie treten hier dafür ein, dass ein bestimmter Betrag festgelegt wird. Wir hingegen wollen
eine unabhängige Kommission - es gibt ein sehr gutes
Vorbild in Großbritannien -, die die Tarifparteien einbezieht und die ein Mindestentgelt festlegt. Das ist ein anderer Ansatz als der, dass wir hier im Bundestag
versuchen, einmal ein bisschen mehr oder ein bisschen
weniger gesetzlich festzulegen.
Mein Petitum hier ist: Lassen Sie uns denen, die von
der Sache wirklich etwas verstehen, beispielsweise den
Tarifparteien, eine Mitsprachemöglichkeit in Bezug auf
das, was auf diesem Gebiet in diesem Lande geschieht,
einräumen. Das ist besser, als hier von vornherein über
20 Cent mehr oder weniger zu streiten. Das ist kein hilfreicher Weg.
({5})
Wenn wir uns an dieser Stelle über Mindestlöhne
streiten, dann darf dabei nicht vergessen werden, was
Löhne eigentlich sind. Löhne sind eben mehr als ein
Kostenfaktor oder eine Variable im Standortwettbewerb.
Löhne stehen zunächst einmal für die schiere Existenz
vieler Menschen. Löhne bedeuten darüber hinaus ein
Stück weit die Absicherung des Lebensstandards. Löhne
haben aber auch etwas mit Würde zu tun: Für gute Arbeit bekommt man auch gutes Geld. Das hat auch etwas
damit zu tun, dass man überhaupt die Eintrittskarte für
diese Gesellschaft erhält.
({6})
Es muss uns heute darum gehen, dafür zu sorgen, dass
der eigentliche Zweck von Löhnen - Menschen erhalten
den Verdienst für ihre eigene Arbeit - gesichert und befördert wird.
({7})
In den letzten Jahren haben wir Folgendes erlebt: Auf
der linken Seite wurde so getan, als gäbe es irgendwo
eine Quelle der Geldvermehrung und als ginge es nur
noch darum, Grundeinkommen zu verteilen. Von dieser
Vorstellung ist auch das Modell des Bürgergeldes nicht
weit entfernt. Auf der anderen Seite wurde der Eindruck
erweckt, das Manko in Deutschland sei der Niedriglohnbereich und man müsse dafür sorgen, dass möglichst
viele Menschen in diesem Bereich tätig sind. Wir sind
ein Hochlohnland und wir wollen es bleiben. Deswegen
müssen wir in diesem Land in Bildung, Innovation und
Wachstum investieren.
Aber wir dürfen nicht zulassen, dass der untere Rand
unseres Hochlohnlandes entkoppelt wird, sodass ganze
gesellschaftliche Gruppen aus der Armutsfalle - sie existiert, auch wenn wir sie nicht bewusst herbeigeführt haben - nicht mehr herauskommen. Wir wollen Möglichkeiten des Ausstiegs aus dem Niedriglohnbereich
organisieren. Deswegen wollen wir mehr Geld in Prävention und Aktivierung investieren. Das bringt mehr,
als immer nur Transferleistungen zu erbringen. Die gesamte Arbeitsmarktpolitik, die wir in den letzten Jahren
vertreten haben, folgt dieser Logik.
({8})
Demzufolge ist eine Hochlohnlandstrategie ohne eine
Definition von Mindestabsicherung, von würdigem Entgelt für Arbeit in diesem Land nicht möglich. Wir können uns nicht damit zufrieden geben, dass die Mindestabsicherung auf dem Niveau von ALG II liegt.
Uns muss doch klar sein, dass Arbeit anders als Transferleistungen die Schaffung von Mehrwert bedeutet. Die
Höhe eines Mindestlohns sollte sich deshalb ganz
schlicht daran orientieren, dass diejenigen, die Vollzeit
arbeiten, mehr verdienen als diejenigen, die Sozialgeld,
zum Beispiel ALG II, beziehen.
({9})
Hier wird immer wieder behauptet - das fand ich sehr
interessant, Herr Kolb -, der Mindestlohn würde schaden.
({10})
Das kann ich nicht feststellen.
({11})
Wir haben diese Debatte in Großbritannien und in den
USA gehabt. In unserer Arbeitsgruppe Wirtschaft war
vor einigen Tagen Herr Zimmermann vom DIW. Obwohl er ein Gegner des Mindestlohns ist, hat er, möglicherweise zähneknirschend,
({12})
sagen müssen: Die Einführung von Mindestlöhnen hat
auf die Beschäftigung weder einen positiven noch einen
negativen Einfluss. - In Großbritannien, wo man 1999
einen Mindestlohn eingeführt hat - da wurde für die
Wirtschaft sozusagen der Untergang des Abendlandes
beschworen -, hat es nicht nur keinen negativen, sondern
sogar einen positiven Effekt auf dem Arbeitsmarkt gegeben.
Das heißt, es geht bei der Frage Mindestlohn nicht um
eine Schwächung des Arbeitsmarkts,
({13})
sondern um die Stärkung von Arbeit gegenüber Transfer.
Es geht um Würde und es geht darum, dass wir Armutslöhne und Sozialdumping in diesem Land verhindern.
Deswegen brauchen wir das.
({14})
Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen erhält
nun das Wort die Kollegin Brigitte Pothmer.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Nahles und Herr Brauksiepe als Vertreter der großen
Koalition haben hier den Vorteil, dass sie wahrlich komfortabel mit Redezeit ausgestattet sind.
({0})
Sie haben aber wieder unter Beweis gestellt: „Viel hilft
viel“ trifft nicht immer zu. Sie haben hier viel geredet,
aber nicht gesagt, was sie wollen.
({1})
Frau Nahles, das trifft auch auf Sie zu, und ich finde
es schon ein bisschen absurd, dass Sie uns vorwerfen,
wir hätten keine klare Linie. Wir haben einen Antrag
vorgelegt, der sehr klar und sehr differenziert darstellt,
wofür sich die Grünen in dieser Frage einsetzen.
({2})
Wir setzen uns dafür ein, weil wir sehen, dass Sozialund Lohndumping inzwischen tatsächlich die Substanz
unserer Wirtschaftsordnung zu zerstören droht. Herr
Kolb, da hilft auch kein Mantra: „Die soziale Marktwirtschaft wird es schon richten“. Da hilft auch kein intensives Wünschen. Da müssen Sie schon handeln, wenn Sie
verhindern wollen, dass immer mehr Beschäftigte unterhalb der Bedingungen des Mindeststandards arbeiten.
Es trifft inzwischen nicht nur den nicht organisierten
Bereich im Niedriglohnsektor. Es trifft inzwischen auch
den tariflich organisierten Niedriglohnbereich.
({3})
Wir sehen, dass die Einkommen insgesamt immer stärker unter Druck geraten. Natürlich müssen wir auf das
reagieren, was durch die Erweiterung der Europäischen
Union und durch die angekündigte Dienstleistungsrichtlinie auf uns zukommt, wenn wir verhindern wollen, dass die Lohnspirale immer weiter nach unten geht.
({4})
Ich frage Sie, Herr Kolb, und Ihre Kollegen von der
FDP-Fraktion: Was ist eigentlich Ihre Antwort auf eine
Situation zum Beispiel im Bereich der Gebäudereiniger,
in dem es inzwischen Löhne von 3 Euro bis 4 Euro die
Stunde gibt? Das zeigt doch das Ausmaß dieser wirklich
irrwitzigen Entwicklung. Da können Sie nicht einfach
sagen: Die Marktwirtschaft wird es schon richten.
({5})
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir von den Grünen
wollen unbedingt ein offenes und auch freizügiges Europa, weil wir im Gegensatz zu vielen von Ihnen darin
eine richtig große Chance auch für unsere Unternehmen
und für unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehen; denn denen wird es erleichtert, ihre hoch qualifizierten Dienstleistungen unbürokratisch im europäischen
Ausland zu erbringen. Das schafft Arbeitsplätze auch in
Deutschland.
Was wir aber nicht wollen, ist: Hungerlöhne und miserable Arbeitsbedingungen, die das Ergebnis von Unterbietungskonkurrenz und von Schmutzkonkurrenz
sind. Dagegen müssen wir ganz deutlich Stellung beziehen.
({6})
Ich will Sie noch einmal an den Fleischskandal des
letzten Sommers erinnern. Allein in Nordrhein-Westfalen sind durch die Kontrollaktion der dortigen Landesregierung 50 Verdachtsfälle von illegaler Beschäftigung
zur Anzeige gekommen.
({7})
- Wir müssen aber schauen, wie wir auch darauf reagieren.
Statt zwischen acht und zehn Stunden - das wären die
normalen Arbeitszeiten - ist da zum Beispiel
19,5 Stunden gearbeitet worden.
({8})
Die Unterbringung hatte mit Menschenwürde wirklich
nichts mehr zu tun. Arbeiter sind zum Teil im Schweinestall untergebracht worden. Das ist soziale Realität!
({9})
- Ja, genau, darauf komme ich jetzt. - Wir meinen, dass
die Abschottung des deutschen Arbeitsmarktes keinen
Beitrag dazu leistet, solche Situationen zu verhindern,
sondern im Gegenteil immer noch so wie in der Vergangenheit dazu führen kann, dass solches Handeln eher gefördert wird, weil die Menschen in die Illegalität getrieben werden.
({10})
Wir sind also der Auffassung, dass es falsch ist, die
Arbeitnehmerfreizügigkeit noch einmal, wie es die
Bundesregierung plant, für weitere drei Jahre einzuschränken. Das ist der falsche Weg. Wir setzen auf eine
umfassende Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen, die für in- und ausländische Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer gleichermaßen gelten müssen.
Folgendes möchte ich an die Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei sagen:
({11})
Mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns begibt man sich auf einen sehr schmalen Grat zwischen
Schutz und Verderben gerade für diejenigen, für die wir
uns in besonderer Weise einsetzen wollen, nämlich für
die Geringqualifizierten. Mindestlöhne können nämlich tatsächlich zum Einstellungshindernis werden, wenn
sie, gemessen an der Produktivität der Arbeitskräfte, zu
hoch festgesetzt werden. Wenn sie hingegen zu niedrig
festgesetzt werden, können sie gleichsam eine staatliche
Legitimation für einen Niedriglohnbereich schaffen. Wir
brauchen also eine sehr fein taxierte Regelung, die auf
der einen Seite Lohndumping verhindert, auf der anderen Seite aber nicht zur Ausgrenzung derjenigen führt,
um die es uns in besonderer Weise geht. In dieser Frage
haben Sie sich - das muss ich ganz ehrlich sagen - im
letzten Jahr nun nicht gerade mit Ruhm bekleckert.
Ursprünglich hatten Sie nämlich in Ihrem letztjährigen Wahlprogramm 1 400 Euro Mindestlohn gefordert.
In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurden aus den
1 400 Euro ganz schnell 1 000 Euro.
({12})
Ich frage mich, wie lang die Halbwertzeit Ihrer heutigen
Forderung nach 8 Euro Stundenlohn ist.
({13})
Mit dieser 8-Euro-Forderung laufen Sie Gefahr, dass
ganze Branchen plattgemacht werden.
({14})
Die Arbeitsbereiche von Wachpersonal, Verkäuferinnen, Floristinnen - dieser Bereich wurde ja schon angesprochen -, aber auch Hilfstätigkeiten in der Landwirtschaft könnten so verloren gehen.
({15})
Damit ist niemandem geholfen.
({16})
Wir wollen regional- und branchenspezifisch differenzierte Lösungen. Wir schlagen Ihnen deswegen folgenden Dreischritt vor:
Erstens wollen wir die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Branchen ermöglichen.
Zweitens wollen wir eine Reform der Allgemeinverbindlichkeitserklärung im Tarifvertragsgesetz, um
Mindestlöhne unterschiedlich gestalten zu können.
Drittens wollen wir eine Reform des Mindestarbeitsbedingungengesetzes von 1952.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass wir mit
diesem Dreischritt tatsächlich die Gratwanderung zwischen Lohndumping auf der einen Seite und Ausgrenzung von Geringqualifizierten und Berufseinsteigerinnen und -einsteigern auf der anderen Seite
hinbekommen.
({17})
In Deutschland hat die Debatte um den Mindestlohn
ja leider eine lange und nicht immer rühmliche Geschichte. Einer der Protagonisten war immer der Ex-Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie
Michael Rogowski. Er hat gesagt, wir brauchen auf gar
keinen Fall einen Mindestlohn, im Gegenteil, die tariflichen Untergrenzen müssen weiter durchbrochen werden.
Ich hoffe zutiefst, dass diese Position eine Position aus
einer anderen Zeit ist. Diese Hoffnung speist sich aus
meinem Eindruck, dass sich etwas bewegt, sogar bei der
CDU/CSU, auch wenn die Formulierungen in der Rede
von Herrn Brauksiepe noch sehr vorsichtig waren.
({18})
Kanzlerin Merkel jedenfalls hat da schon einmal Position bezogen. Bei Herrn Glos sieht das noch anders aus,
wenn ich das richtig gelesen habe.
Insgesamt hat sich die große Koalition bis jetzt diesem Thema verweigert. Nun kommt der Arbeitsminister
in die Strümpfe. Fehlt nur noch, dass die Regierung jetzt
tatsächlich in die Siebenmeilenstiefel steigt. Unser Vorschlag zur Einführung von branchen- und regionalspezifischen Mindestlöhnen könnte dafür vielleicht ein ganz
geeigneter Schuhanzieher sein.
Ich danke Ihnen.
({19})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Gysi das
Wort.
Herr Präsident! Frau Pothmer, ich wollte eine Sache
klarstellen. Man muss politische Entwicklungen in anderen Parteien richtig verfolgen, wenn man sich dazu äußern will. Es gab bei uns immer den Unterschied zwischen 1 400 Euro brutto und 1 000 Euro netto
Mindestlohn.
({0})
- Darf ich zu Ende sprechen? Ich sage gleich noch etwas
zu dem Unterschied, den auch die FDP offensichtlich
nicht mehr begreift. Früher kannten Sie den.
Der Parteitag hat ganz klar beschlossen, dass es bei
1 400 Euro brutto bleibt. Wir hatten einen Nettobetrag
vorgeschlagen; aber er hat ganz klar so entschieden. Insofern gab es da keine Änderung.
Nun sage ich Ihnen, dass unser Antrag damit in Übereinstimmung steht. 985 Euro beträgt der pfändungsfreie
Nettobetrag, der einer Bürgerin oder einem Bürger bleiben muss. 985 Euro netto entsprechen etwa 1 440 Euro
brutto. Das ist die Situation in Deutschland. Die 8 Euro
pro Stunde, die wir fordern, sind brutto. Netto sind das
weniger. Mit diesen 8 Euro brutto kommen Sie in etwa
auf das Bruttogehalt von 1 440 Euro und damit netto auf
die 985 Euro, die in Deutschland pfändungsfrei sind.
({1})
Ich will das einfach einmal sagen, weil das ein Maßstab
ist.
Jetzt wollen Sie das nach Branchen unterscheiden.
Die Lebenskosten in Deutschland sind aber gleich, unabhängig davon, ob ich in der einen Branche oder in der
anderen Branche arbeite.
({2})
Es kann Branchen geben, die so produktiv sind, dass es
dort gar keine Mindestlöhne gibt, sondern höher bezahlt
wird. Aber der Mindestlohn in Deutschland ist die Mindestanforderung, die wir an Arbeitgeber stellen.
Ich nenne einmal ein Beispiel. Die Union plädiert für
Kombilöhne. Wir sind nicht dafür. Aber wie wollen Sie
denn Kombilöhne einführen, wenn es keinen Mindestlohn gibt? Sie müssen doch einen Betrag ansetzen, bis zu
dem Sie aufstocken wollen. Da brauchen Sie einen Mindestlohn; darum kommen Sie an dieser Stelle nicht herum.
Das Zweite, was uns in dem Zusammenhang wichtig
ist: Das, was zur Schwarzarbeit gesagt worden ist, ist
wirklich kein Argument. Sie können doch nicht im Ernst
sagen, die Entnahme von Waren im Warenhaus müsse
geduldet werden, damit es weniger Diebstähle gibt. Verstehen Sie? Schwarzarbeit ist eine Straftat. Wenn es
Mindestlöhne gibt, besteht zum ersten Mal ein klarer
Schadenersatzanspruch,
({3})
der sich auf die Differenz zwischen dem, was bezahlt
wurde, und dem Mindestlohn bezieht.
Dann noch ein Satz zu den Unternehmen. Natürlich
wissen auch wir, dass es kleinere Unternehmen gibt, die
heute nicht in der Lage sind, Mindestlöhne zu bezahlen.
Deshalb steht in unserem Antrag, dass es für diese Unternehmen Übergangsregelungen geben muss.
({4})
Aber eines sage ich Ihnen auch: Wenn alle Bäcker, auch
der polnische und der tschechische, die in Deutschland
arbeiten, den Mindestlohn zahlen müssen, dann haben
wir wieder Wettbewerbsgleichheit; dann fällt das keinem
Bäckermeister schwer.
({5})
Das ist Marktwirtschaft; das müsste selbst die FDP begreifen.
Danke.
({6})
Frau Pothmer, möchten Sie erwidern?
Nein. Das war ja weniger an mich gerichtet als vielmehr an die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Wir sind ja jedem dankbar, der sich im Sinne der Bewirtschaftung der Redezeit nicht angesprochen fühlt und
damit keinen zusätzlichen Redeanspruch reklamiert.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Paul
Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Die Linkspartei hat am 18. Januar 2006
den hier vorliegenden Antrag auf Einführung eines Mindestlohns gestellt. Hierbei fällt auf, dass ein Vertreter der
Linkspartei, Herr Lafontaine, noch gestern vor diesem
Hohen Haus gefordert hat, das Steuerniveau müsse deutlich angehoben werden, da die Unternehmensteuern in
Deutschland im internationalen Vergleich viel zu gering
seien.
({0})
- Ja, ich habe aufgepasst.
Mit der nunmehr erhobenen Forderung nach Einführung eines Mindestlohns ohne Berücksichtigung und außerhalb des Kontextes von so genannten Kombilohnmodellen zeigt die Linkspartei abermals unverhohlen ihr
Verständnis von Marktwirtschaft.
({1})
Im Antrag führen Sie noch wortwörtlich aus:
Die Autonomie der Tarifparteien bei der Lohnfindung ist ein hohes gesellschaftliches Gut in
Deutschland. Die Tarifautonomie ist auch in Zukunft zu schützen.
Etwas weiter fordert die Linkspartei die Bundesregierung auf,
schnellstmöglich einen Gesetzentwurf vorzulegen,
der sicherstellt, dass alle Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die in Deutschland arbeiten, einen
rechtlichen Anspruch auf einen Lohn von mindestens 8 Euro/Stunde ({2}) haben.
Der Versuch der Reglementierung von Angebot und
Nachfrage, der Versuch der Reglementierung von Lohnhöhen, aber auch von Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen
hat bei der Vorvorgängerin der Linkspartei, der SED,
über 40 Jahre nicht funktioniert.
({3})
Mit völlig untauglichen Rezepten versucht die Linkspartei nun in offensichtlich populistischer Weise - möglicherweise gar gegen besseres Wissen -, durch Einführung eines Mindestlohnniveaus zum jetzigen Zeitpunkt
abermals eine Vielzahl von gering qualifizierten Arbeitsplätzen zu beseitigen bzw. ins Ausland zu verlagern.
Vom Grunde her wird sich unsere Partei einer Diskussion über Sinn und Höhe möglicher Mindestlohnregelungen nicht entziehen. Zunächst wäre hier aber auch
mit unserem Koalitionspartner, mit unseren neuen
Freunden von der SPD, zu definieren, ob der Mindestlohn die Löhne am unteren Rand der Tariflöhne festschreiben soll, um beispielsweise osteuropäische Billiganbieter abzuwehren und den Niedriglohnsektor
einzugrenzen, oder ob der Mindestlohn eine deutlich
niedrigere Untergrenze darstellen soll, mit der verhindert
werden soll, dass Arbeitgeber den von unserer Fraktion
angepeilten Kombilohn nur dazu nutzen, um die Löhne
allzu stark zu drücken.
Je nach Definition eines so genannten Mindestlohns
liegt hier eine enorme Bandbreite zwischen 3,50 und
7,50 Euro vor, sodass auf dem von der Linkspartei beantragten Niveau von 8 Euro zum jetzigen Zeitpunkt eine
Mindestlohnfestsetzung beim besten Willen nicht erfolgen kann.
({4})
In den Tagesordnungen von Bundestag und Europäischem Parlament gibt es dieser Tage interessante Berührungspunkte. Die Vorredner sind zum Teil bereits darauf
eingegangen. Gestern debattierte das Europaparlament
über die Dienstleistungsrichtlinie; es hat diese mit großer
Mehrheit verabschiedet. Heute reden wir hier über den
gesetzlichen Mindestlohn.
Die Debatte um die Dienstleistungsrichtlinie kreiste
bei uns in der Vergangenheit vielfach nicht nur um
Lohndumping und Billiganbieter aus Osteuropa, sie hat
auch die Diskussion um einen gesetzlichen Mindestlohn
stark beeinflusst. Schon 2001, also im Vorfeld der EUOsterweiterung, hat die Union vor uneingeschränkter
Dienstleistungsfreiheit gewarnt. Wir sind auch heute der
Ansicht, dass gegen unzumutbare Billiglöhne konsequent vorgegangen werden muss. Dabei ist die Autonomie der Tarifparteien auch in Zukunft zu gewährleisten.
Wie das mit einem flächendeckenden Mindestlohn von
8 Euro gehen soll, den Linkspartei und in ähnlicher
Höhe auch einzelne Gewerkschaften fordern, ist mir
schlicht schleierhaft.
({5})
Probleme gibt es ja schon im Niedriglohnsektor insgesamt - dazu gehören Jahreseinkommen unter
20 000 Euro - wie auch in den Branchen, in denen ein
tariflicher Mindestlohn eingeführt wurde. In Tarifverhandlungen der Vergangenheit sind Löhne für einfache
Arbeiten so weit angehoben worden, bis diese für viele
Unternehmen schlicht zu teuer wurden.
({6})
In der niedersächsischen Chemieindustrie werden in
der untersten Tarifgruppe 11,10 Euro gezahlt, in der Metall- und Elektroindustrie von Baden-Württemberg beträgt der niedrigste Stundenlohn 10,42 Euro. Im Baugewerbe - bestes Beispiel für tarifliche Mindestlöhne kommt im Zeitraum vom 1. September 2005 bis
31. August 2006 ein ungelernter Arbeiter im Westen auf
einen tariflichen Mindestlohn von 10,20 Euro und im
Osten auf einen tariflichen Mindestlohn von 8,80 Euro.
({7})
Für Maler und Lackierer liegt der Mindestlohn bei
7,15 Euro im Osten bzw. bei 7,85 Euro im Westen. Bei
Dachdeckern sind es seit dem 1. Januar 2006 10 Euro.
Oft bleiben die niedrigsten Tarifgruppen jedoch unbesetzt. Stattdessen wurden in den vergangenen Jahren in
diesen Branchen Arbeitsplätze zu Hunderttausenden gestrichen oder ins Ausland verlagert, von der Schaffung
neuer Stellen ganz zu schweigen.
({8})
- Warten Sie noch ein wenig, Herr Niebel. Ich sage Ihnen gleich das Ergebnis.
Dasselbe würde - natürlich in größerem Umfang - für
einen gesetzlichen Mindestlohn auf hohem Niveau gelten. Er würde zwar ausländische Billigarbeitskräfte fern
halten, aber auch Beschäftigungschancen für niedrig
Qualifizierte verringern. Wenn ein Mindestlohn höher
ist, als der Arbeitsmarkt eigentlich hergibt, dann sperrt er
gerade diese Menschen aus dem Arbeitsmarkt aus.
({9})
- Sie dürfen ruhig lauter klatschen, Herr Niebel.
Soll ein Unternehmer zwischen den Alternativen
wählen, einen gering Qualifizierten bei hohem Mindestlohn einzustellen oder die Produktion in Länder mit
niedrigerem Lohnniveau zu verlagern, braucht man nicht
viel Fantasie zu haben, um sich vorzustellen, wofür er
sich letztendlich entscheidet. Diese Möglichkeit besteht
für Global Player ungleich stärker als für einen kleinen
mittelständischen Handwerksbetrieb. Kleine und mittelständische Unternehmen, die 75 Prozent der Arbeitsund Ausbildungsplätze in unserem Land stellen, werden
diesbezüglich entsprechend benachteiligt. Das kann aber
eigentlich nicht im Interesse der Tarifvertragsparteien
sein. Es kann nicht darum gehen, das untere Lohnniveau
über einen gesetzlichen Mindestlohn anzuheben und so
als - unerwünschten - Nebeneffekt weite Teile unseres
Arbeitsmarktes von unten stillzulegen.
({10})
Darüber hinaus hat der Mindestlohn, per Gesetz festgelegt, das Potenzial, die Tarifautonomie auszuhebeln.
Der Staat kann aber nicht Ersatz für die Tarifparteien
sein. Zudem würden bei Tarifverhandlungen die Gewichte verschoben: Ein gesetzlich garantierter Mindestlohn birgt die Gefahr, dass dieser über gewerkschaftlichen Druck weiter angehoben wird. Für jede Regierung
wird es dann sehr schwer, diesen Mindestlohn im Sinne
einer dem Markt überlassenen Lohnfindung wieder zu
senken. Letztlich würden so die gesamten Arbeitsmarktreformen konterkariert. Der über das Arbeitslosengeld II gesunkene Anspruchslohn, mit dem gering Qualifizierte integriert werden sollen, würde durch die
Hintertür wieder angehoben.
({11})
Wie soll es nun weitergehen? Unsere Fraktion beschränkt sich nicht auf ein bloßes Nein zum vorliegenden Antrag der Linkspartei. Wir wollen, da die Forderung nach einem Mindestlohnstandard ohne
Einbeziehung der Kombilohndiskussion grundsätzlich
keinen Sinn macht, im Rahmen der Einführung eines
Kombilohnmodells ohne Aufgeregtheit prüfen, ob und,
wenn ja, in welcher Höhe ein Mindestlohn in unser bestehendes System eingeführt werden kann.
({12})
In jedem Fall soll vermieden werden, dass Ähnliches,
wie heute Morgen bei der vorherigen Abstimmung in
diesem Hohen Haus geschehen - als durch die Einschränkung der Bildung von Bedarfsgemeinschaften
durch unter 25-jährige Hartz-IV-Empfänger bestehende
gesetzliche Möglichkeiten zurückgefahren werden
mussten -, bereits nach kurzer Zeit bei der Einführung
eines Mindestlohnmodells droht. Die finanziellen Auswirkungen, die tariflichen Einschränkungen wie auch
die Auswirkungen auf das kollektive Arbeitsrecht sind
mit den jeweils betroffenen Gruppierungen zu erörtern,
bevor eine sinnvolle Diskussion über die Einführung eines Mindestlohnsektors zielstrebig geführt werden kann.
Ich will an dieser Stelle ausdrücklich auf das zutreffende Sprichwort verweisen: Was immer du beginnst,
bedenke das Ende.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Herr Kollege Lehrieder, ich gratuliere Ihnen herzlich
zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere Arbeit.
({0})
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Oskar
Lafontaine, Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In diesem Hause werden drei Positionen zu dem
heute zur Diskussion stehenden Thema vertreten. Ich
will vor dem Hintergrund unseres Antrages auf diese
drei Positionen eingehen.
Da ist zunächst die Position der Freien Demokratischen Partei,
({0})
die klipp und klar gegen Mindestlöhne ist, allerdings nur
für diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die geringe Löhne erhalten. Denn Sie sind sehr wohl
- Kollege Gysi hat bereits darauf hingewiesen - für
staatlich festgelegte Löhne und staatlich festgesetzte
Preise, wenn es um Anwälte, Architekten, Ärzte usw.
geht.
({1})
Mit der Forderung nach einem Honorar von 50 Euro pro
Stunde für diesen Bereich sind Sie für gesetzliche
Löhne. Aber wenn es um geringe Löhne geht, versagt
auf einmal Ihr Denkvermögen. Darin sehen Sie auf einmal eine große Gefährdung für den Arbeitsplatz.
({2})
Insofern nehmen wir zur Kenntnis, dass Sie eine dezidierte Position haben, die im Hinblick auf eine bestimmte Klientel zwar akzeptabel, letztendlich aber unglaubwürdig ist. Denn Sie können wirklich niemandem
erklären, wieso Sie bei Berufsgruppen, die viel verdienen, für Mindestlöhne sind, aber bei Berufsgruppen, die
wenig verdienen, keine Mindestlöhne vorsehen wollen.
Das ist niemandem in Deutschland zu erklären.
({3})
Die große Koalition hat sich noch nicht verständigt.
Es geht uns nicht darum - wie einige gemutmaßt haben -,
der großen Koalition irgendwelche Schwierigkeiten zu
bereiten, indem wir dieses Thema auf die Tagesordnung
gesetzt haben. Wir glauben, dass wir in Deutschland im
Moment die Situation haben, dass die Bruttolöhne sinken; ich sage das immer wieder. Das heißt, Lohndumping wird ohne Einschränkung fortgesetzt. Menschen
werden arbeitslos, weil sie durch andere ersetzt werden,
die bereit sind, für viel geringere Löhne zu arbeiten. Diesen Prozess wollen wir stoppen. Wir haben nicht mehr
die Zeit, noch lange zu quatschen. Wir müssen entscheiden. Deshalb haben wir diesen Antrag auf die Tagesordnung gesetzt.
({4})
Nun möchte ich etwas zu der Argumentation des Kollegen Lehrieder von der CDU/CSU-Fraktion sagen. Es
ist schön, dass Sie, wie ich Sie hier erlebt habe, so für
Tarifverträge eintreten. Es ist gut, dass Sie diese Position einnehmen und auch in Zukunft für Tarifverträge
eintreten. Nur, beim Mindestlohn geht es überhaupt
nicht um diese Position. Sie leben außerhalb der Realität.
Es gibt ganze Bereiche in Deutschland, wo die Tarifverträge überhaupt nicht mehr greifen und die Menschen
gar keinen tarifvertraglichen Schutz mehr haben. Deshalb brauchen wir Mindestlöhne.
({5})
Reden Sie doch nicht völlig an der Wirklichkeit vorbei!
Es ist unglaublich, was man sich hier teilweise anhören
muss.
Wir sind gespannt, was aus dem Gesäusel wird, das
von der Kanzlerin vorgetragen worden ist: Wir brauchen
Mindestlöhne; ich nähere mich diesem Projekt. - Irgendwann muss man sich entscheiden. Die betroffenen Menschen können nicht mehr warten. Sie sind bereits seit
Jahren arbeitslos. Deshalb kann man dieses Thema nicht
in der Form ansprechen, wie Sie es getan haben.
({6})
Natürlich, Frau Kollegin Pothmer, gibt es Argumente
für die Position der Grünen. Sie krankt aber daran, dass
differenzierte Mindestlohnregelungen letztendlich zu
einem Lohn von 3,40 oder 3,90 Euro führen würden.
Wir lehnen dies schlicht ab. 3,40 oder 3,90 Euro stellen
in Deutschland keine Grundlage dafür dar, anständig leben zu können. Hier unterscheiden wir uns von der Position der Grünen.
({7})
Was die Argumentation des Vorredners angeht,
8 Euro seien nun wirklich nicht vertretbar, so frage ich
mich, ob Sie nicht in der Lage sind, einmal über die
Grenze zu schauen. In Frankreich liegt der Mindestlohn
bei 8,13 Euro. Wieso stellen Sie sich also hierher und tun
so, als sei dies nicht machbar, als sei eine Massenabwanderung von Arbeitsplätzen die Folge? Sie betreiben eine
Irreführung der Öffentlichkeit. Was andere europäische
Länder können, können wir auch in Deutschland. Deshalb sind wir für den Mindestlohn.
({8})
Eine letzte Bemerkung.
({9})
Ja, ich weiß, Herr Präsident. - Die Bolkestein-Richtlinie stellt für uns eine Herausforderung dar - - Ach, es
geht um eine Frage. Entschuldigung!
Sie hätten beinahe leichtsinnig die Möglichkeit der
Verlängerung Ihrer Redezeit ausgeschlagen und wir alle
hätten sagen können: Wir sind dabei gewesen.
Vielen Dank für den Tipp, Herr Präsident. Ich sehe,
Sie sind fürsorglich.
Bitte schön, Herr Kollege.
Mir geht es eigentlich nicht um die Verlängerung Ihrer Redezeit. Aber das muss ich wohl in Kauf nehmen.
({0})
Sie reden ja so gerne über Tarifverträge. Nehmen Sie
zur Kenntnis, dass das Land Berlin, in dem die PDS bzw.
Linkspartei mitregiert, Tarifflucht betrieben hat, und
stimmen Sie mir zu, dass hier auch öffentliche Aufgaben
durch 1-Euro-Jobs erfüllt werden?
Herr Kollege, ich habe schon viele Wahlkämpfe geführt. Es ist rührend, dass Sie jetzt versuchen, Wahlkampf zu führen. Ich möchte Sie aber darauf hinweisen,
dass der Tarifvertrag im Land Berlin, unter den der Kollege Bsirske seine Unterschrift gesetzt hat, differenziert
ausgestaltet ist und sogar dafür gesorgt hat, dass Solidarität innerhalb des öffentlichen Dienstes verwirklicht
werden konnte.
({0})
Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen, statt kleinkarierte
Fragen zu stellen, die einfach falsch sind.
({1})
Ich komme zum Schluss: Die Bolkestein-Richtlinie,
die sich zurzeit im Parlament in der Diskussion befindet
- sie ist ja noch nicht verabschiedet worden -, wurde
mittlerweile stark verwässert. Ich will mich gar nicht in
die Diskussion darüber einmischen - so viel Zeit steht
mir auch gar nicht mehr zur Verfügung -, wer sich wo
durchgesetzt hat. Nachdem nun aber die Bereiche Sozialgesetzgebung und Verbraucherschutz herausgenommen worden sind, muss man schon genau hinsehen, was
hier eigentlich passiert.
Die Richtlinie stellt aber auf jeden Fall einen Grund
dar, in Deutschland endlich einen Mindestlohn einzuführen. Sie wird nämlich nicht nur auf die Löhne Druck ausüben, die sich unterhalb der Schwelle bewegen - das ist
in Gesamteuropa mittlerweile akzeptiert -, sondern auch
auf die Löhne, die sich über den Mindestlöhnen bewegen. Das wird bei dieser Diskussion immer ausgeklammert. Deutschland befindet sich mittlerweile in einer
Lohnabwärtsspirale. Es ist höchste Zeit, diese Spirale zu
stoppen, wenn man überhaupt noch ein Herz für diejenigen hat, die den Euro mehrmals umdrehen müssen, weil
sie nicht wissen, wie sie ihren täglichen Lebensunterhalt
bezahlen sollen.
({2})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Kolb
das Wort.
Schönen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege
Lafontaine, damit es sich nicht versehentlich in Ihren
Köpfen festsetzt, will ich auf Folgendes hinweisen: Bei
der Gebühren- und Honorarordnung - das ist ein
Thema, über das man sicherlich trefflich streiten kann handelt es sich, wie Sie zu Recht gesagt haben, um eine
Preisregelung. Wir reden hier über den Umsatz beispielsweise einer Rechtsanwaltspraxis oder eines Architekturbüros.
Ich weiß, dass die Linken ein Problem damit haben,
zwischen Umsatz und Gewinn zu unterscheiden.
({0})
Deshalb will ich noch einmal darauf eingehen. Von dem,
was ein Rechtsanwalt erlöst, muss er noch die Miete für
die Kanzlei und die Löhne und Gehälter der Rechtsanwalts- und Notargehilfin zahlen. Der Kollege Gysi kennt
das. Was am Schluss verbleibt - das hängt von vielen
Faktoren ab, auch davon, wie viele Fälle ein Rechtsanwalt hat -, stellt die Vergütung des Anwalts dar. Dass das
ein gewisser Unterschied ist, sollte man zur Kenntnis
nehmen.
Einmal nachrichtlich zu den Honorar- und Gebührenordnungen: Die für Architekten sind seit Jahren nicht
mehr angepasst worden, die für Anwälte vielleicht, weil
die eine relativ gute Lobby im Deutschen Bundestag haben, Herr Kollege Gysi. Bei den Architekten ist das
schwieriger. So üppig sind die Honorare jedenfalls nicht.
Ich will noch etwas anderes ausdrücklich festhalten:
Ich habe Ihre Anregung aufgenommen, erneut nachgerechnet - das war eigentlich nicht erforderlich, weil Sie
es hier gesagt haben - und festgestellt: Die Linke will einen Mindestlohn von 8 Euro. Sie verweisen auf Frankreich. Das Problem ist nur, dass die Franzosen in der Regel einen Mindestlohn festlegen, diesen ins Schaufenster
legen, ihn dann jedoch mit sehr vielen Ausnahmen aushöhlen, sodass er in der Praxis nicht greift. Wenn wir in
Deutschland flächendeckend einen Mindestlohn von
8 Euro hätten, würde das einen Kahlschlag in vielen Bereichen hervorrufen. Es würden wahrscheinlich Hunderttausende von Arbeitsplätzen in Bereichen entfallen,
in denen die Löhne heute deutlich unter diesem Mindestlohn liegen. Deswegen kann man Ihrem Vorschlag nicht
mit gutem Gewissen und Verstand folgen.
Vielen Dank.
({1})
Zur Erwiderung, Herr Kollege Lafontaine.
Ich verstehe, dass die FDP Schwierigkeiten hat, wenn
man sie mit ihrer Widersprüchlichkeit konfrontiert.
({0})
Ich gehe zunächst einmal auf Ihren Beitrag ein, in
dem Sie so tun, als ginge es nur um eine Preisfestsetzung. Das ist sachlich falsch.
({1})
Selbst wenn man für staatlich festgesetzte Preise ist, verehrter Herr Kollege, ist das für die FDP kein Ruhmesblatt, weil Sie ja in jedweder staatlicher Festlegung von
Preisen ein Teufelswerkzeug sehen. Wieso haben Sie im
Bereich der Selbstständigkeit keine Probleme mit staatlich festgesetzten Preisen?
({2})
Im Übrigen ist Ihr Hinweis schlicht und ergreifend
sachlich falsch. Wir haben Gebühren und Honorare. Die
Gebühren spiegeln - wenn man so will - die Preissteuerung wider. Honorare sind die Stundensätze. Bei Selbstständigen mit höheren Einkommen - da kommen Sie
nicht raus - sind Sie für staatlich festgesetzte ordentliche
Mindestlöhne, während Sie sie den Geringverdienern
verwehren wollen. Das macht Ihre Unglaubwürdigkeit
aus.
({3})
Nun haben sich außer dem Präsidenten auch noch
viele Kolleginnen und Kollegen, Herr Kollege
Lafontaine, an der Vermehrung Ihrer Redezeit wirklich
tatkräftig beteiligt,
({0})
was ich wegen gelegentlicher Beschwerden noch einmal
ausdrücklich festhalten möchte. Ich weise im Übrigen
aber schon jetzt darauf hin, dass ich weitere Kurzinterventionen zu diesem Tagesordnungspunkt nicht mehr
zulassen möchte, weil wir zu Beginn eine Vereinbarung
über die Gesamtdebattenzeit getroffen haben.
Nun erhält als nächste Rednerin die Kollegin Katja
Mast für die SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich mit einem Zitat starten:
({0})
Die Tarifvertragsparteien sind aufgefordert, bundeseinheitliche tarifliche Mindestlöhne in allen
Branchen zu vereinbaren.
({1})
Soweit dies nicht erfolgt oder nicht erfolgen kann,
werden wir Maßnahmen für einen gesetzlichen
Mindestlohn ergreifen.
Ich zitiere das SPD-Wahlkampfmanifest aus dem
Bundestagswahlkampf des letzten Jahres.
({2})
Es macht deutlich, dass die SPD in Gänze hinter dem
Ziel steht: Wer arbeitet, muss auch davon leben können.
({3})
Unser Parteivorsitzender, Matthias Platzeck, hat völlig
Recht, wenn er fordert, existenzsichernde Löhne in
Deutschland zu garantieren.
({4})
Heute diskutieren wir im Bundestag über existenzsichernde Löhne. In jedem Gespräch mit Bürgerinnen und
Bürgern wird die Sorge deutlich: Ein Arbeitstag rund um
die Uhr, ohne den eigenen Kindern eine Ausbildung ermöglichen zu können! Es gibt viele Beispiele, die eines
deutlich zeigen: Unser Handeln als Volksvertreter ist
dringend notwendig. Insgesamt gibt es in Deutschland
zurzeit 3 Millionen Menschen, die Vollzeit arbeiten und
dennoch unter der Armutsgrenze leben. Ich weiß nicht,
ob Sie sich alle vorstellen können, was das heißt, aber
ich denke, die meisten hier im Haus wissen das.
Es gibt Menschen in Deutschland, die bei einer Vierzigstundenwoche weniger als 600 Euro brutto verdienen,
zum Beispiel ein Angestellter im Gartenbau in Sachsen
mit einem Stundenlohn - wenn ich Sie jetzt schätzen
ließe, würden Sie nie auf diesen Stundenlohn kommen ({5})
von 2,74 Euro. Das sind 438 Euro brutto im Monat. Ein
Friseur in Thüringen bekommt 3,18 Euro pro Stunde.
({6})
Nur zum Vergleich: Ein Arbeitslosengeld-II-Empfänger
bekommt inklusive Zuschuss zu Miete und Heizkosten
maximal 665 Euro.
Durch die Freizügigkeit in Europa hat sich unser Arbeitsmarkt verändert. Jeder Europäer kann vom Grundsatz her überall in der Europäischen Union arbeiten.
Aber in den einzelnen europäischen Staaten sind die
Lohnunterschiede enorm. Für uns in Deutschland stellt
sich nun die Frage: Wollen wir uns an das Lohnniveau in
Polen, Rumänien oder Portugal anpassen? In Rumänien
beispielsweise sind Monatslöhne von 150 Euro keine
Seltenheit. Wir von der SPD wollen uns daran nicht anpassen.
({7})
Denn sonst wäre die Sorge der Menschen berechtigt. Sowohl unser Wohlstand als auch unser Sozialstaat basieren auf dem Prinzip: Wer arbeitet, muss davon seine
Existenz sichern können.
Nun ist natürlich die Frage spannend, wie hoch ein
existenzsichernder Lohn sein soll. Unsere Kolleginnen
und Kollegen von der PDS haben sich festgelegt: Mindestens 8 Euro per Gesetz lautet ihre Forderung. Aber so
einfach ist die Welt nicht.
({8})
Selbst der DGB-Vorsitzende Michael Sommer und
Verdi-Chef Frank Bsirske legen sich auf einen Betrag
darunter fest, nämlich 7,50 Euro. Aber ich frage mich:
Sollen wir nun einen Wettlauf starten, in dem jeder eine
andere Zahl nennt und die höchste ist die beste Zahl?
({9})
Mein persönliches Verständnis von Politik sagt mir: Das
ist falsch. Es geht um differenzierte Lösungen, die die
Tarifautonomie berücksichtigen.
Hilfreich finde ich auch einen Blick über die Grenzen.
18 von 25 EU-Mitgliedstaaten haben einen Mindestlohn, davon sind 16 gesetzlich festgelegt. In Großbritannien, zum Beispiel, liegt der Mindestlohn unter
7,50 Euro. Mindestlohn - dies ist vielleicht für die Kolleginnen und Kollegen von der FDP sehr wichtig - ist
schon längst ein international akzeptiertes Instrument als
Antwort auf die Globalisierung.
({10})
Wie soll nun die Höhe des Mindestlohns in Deutschland aussehen? Wir in der SPD sind der Meinung: Sie
muss die Regelungen der Tarifautonomie berücksichtigen.
({11})
Das ist ein komplexes System, aber es hat sich in der Praxis bewährt. Wir in der SPD-Bundestagsfraktion setzen
uns deshalb mit den Gewerkschaften zusammen und diskutieren über Modelle. Unser Ziel ist es, ausgehend von
spezifischen Bedürfnissen der Branchen und auch der Regionen, Instrumente zu entwickeln, die existenzsichernde
Löhne garantieren. Dort, wo es Tarifverträge gibt, sollen
diese für die gesamte Branche gelten. Das erreichen wir
durch das Entsendegesetz oder die Allgemeinverbindlichkeitserklärung. Dort, wo es keine Tarifverträge gibt,
brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn, der sich
ebenfall an den Besonderheiten orientiert.
Dieses komplexe System macht allerdings auch deutlich, dass ein Schnellschuss hierbei alles andere als sinnvoll ist. Wir sind uns sicher, dass wir sowohl in der Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften als auch in
unserer Koalitionsarbeitsgruppe zu guten Ergebnissen
kommen werden.
Woher kommt diese Sicherheit? Die Zahl der Befürworter einer Neuregelung nimmt auch in konservativen
Kreisen zu.
({12})
Gute Lösungen brauchen Zeit. Diese Zeit wollen wir uns
in diesem Jahr nehmen.
Wie gesagt, es gibt in der Europäischen Union bereits
18 Länder mit einem Mindestlohn. Ab nächstem Jahr
sind es 19. Denn dann gehören wir dazu. Das sind wir
den Menschen schuldig, die darauf angewiesen sind.
({13})
Das Wort erhält nun der Kollege Dirk Niebel für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Gysi, wer Mindestlöhne festlegt, der wird
als nächsten Schritt auch die staatlichen Brot- und Butterpreise haben.
({0})
Denn beidem liegt das gleiche Prinzip zugrunde. Deswegen ist Ihr Antrag nicht zielführend.
Das Grundproblem in Deutschland ist ein ganz anderes - es ist bemerkenswert, dass die Bundesregierung in
dieser Debatte überhaupt nicht das Wort ergreift -: Das
Grundproblem besteht darin, dass viel zu viele Menschen in einer dauerhaft gefestigten Arbeitslosigkeit verharren müssen.
Weshalb ist das so? 2 Millionen Menschen bzw.
39 Prozent der Arbeitslosen sind gering qualifiziert. Die
hohe Sockelarbeitslosigkeit, Herr Gysi, ist das Ergebnis
der in den vergangenen Jahrzehnten gut gemeinten und
durchgeführten Sockellohnerhöhungen, bei denen die
Löhne der unteren Lohngruppen deutlich höher - überproportional - angehoben worden sind als die Löhne der
anderen. Das war gut gemeint, aber man hat damit die
Menschen aus dem Arbeitsmarkt gedrängt; denn der
Preis für ihre Leistung war plötzlich zu hoch. Diese
Leistung wurde dann im Inland oder als legale Leistung
nicht mehr nachgefragt. Dass die Schattenwirtschaft mittlerweile ein geschätztes Volumen von 346 Milliarden
Euro hat, ist unter anderem ein Ergebnis dieser gut gemeinten Sockellohnerhöhungen;
({1})
denn der Faktor Arbeit ist darüber hinaus viel zu stark
durch Steuern und Abgaben belastet.
Wenn ich höre, was insbesondere vonseiten der Sozialdemokratie gesagt wird, dann muss ich mich sehr
wundern: Einerseits beklagen Sie, dass die Menschen zu
wenig Geld haben, andererseits tragen Sie die MerkelMünte-Steuererhöhung, die Mehrwertsteuererhöhung
um 3 Prozentpunkte, mit, wodurch Sie den Menschen
noch mehr Geld aus der Tasche ziehen.
({2})
Es ist schlechterdings nicht nachvollziehbar, warum
Sie nicht den umgekehrten Weg gehen: Sie sollten versuchen, die Menschen zu entlasten und dafür zu sorgen,
dass ihnen von ihrem selbst verdienten Geld mehr übrig
bleibt. Dann könnten sie investieren und konsumieren.
Dann könnten auch neue Arbeitsplätze geschaffen werden,
({3})
wodurch die Menschen die Chance hätten, wieder am
gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
({4})
Indem man aber einen staatlich festgelegten Mindestlohn einführt, greift man in die Tarifautonomie ein.
Frau Mast hat bereits angedeutet, dass in all den Bereichen, in denen es keinen Tarifvertrag gibt, ein staatlicher
Mindestlohn eingeführt werden soll. Hier widersprechen
Sie sich selbst. Sie haben ja vorgelesen, wie hoch die Tariflöhne sind. Auch ich habe mich darüber informiert.
Teilweise ist es wirklich beängstigend, zu sehen, welche
Regelungen die Tarifvertragsparteien, also auch die Gewerkschaftsfunktionäre, die Ihrer Partei angehören, unterschrieben haben. So gibt es zum Beispiel im privaten
Transport- und Verkehrsgewerbe in Mecklenburg-Vorpommern einen Tariflohn in Höhe von 3,91 Euro. Jeder
weiß, dass man in Deutschland nicht von einem solch
niedrigen Stundenlohn leben kann.
Aber man kann das Steuersystem auf vernünftige Art
und Weise so organisieren - das hat auch der Herr Bundespräsident Anfang dieses Jahres im „Stern“ vorgeschlagen; wir führen ja nachher noch eine Debatte
dazu - und zu einem negativen Einkommensteuersystem
kommen, dass jemand sowohl durch Arbeit Geld verdienen als auch ohnehin vorhandene Transferleistungen beziehen kann, ohne dass durch Mitnahmeeffekte bei den
Arbeitgebern die Arbeitsplätze „downgegradet“ werden.
({5})
- Herr Präsident, falls Sie Herrn Tauss nicht sehen,
möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass er mich
etwas fragen möchte. Ich würde mich auch fragen lassen.
({6})
Es ist ja sehr schwer, Herrn Tauss nicht zu sehen.
({0})
Das ist wohl wahr, ja.
({0})
Deswegen erweckt Ihre Nachfrage unnötigerweise
den Eindruck einer bestellten Zwischenfrage. Dass dem
so ist, möchte ich ausdrücklich ausschließen. Aber ich
vermute, dass Sie die Zwischenfrage des Kollegen Tauss
genehmigen möchten.
Ich würde mir diese Freude nie entgehen lassen, Herr
Präsident.
({0})
Lieber Herr Niebel, Ihre Freude wird sich noch steigern. Ich will Sie fragen, ob Sie bereit sind, mit mir eine
Wette abzuschließen, und zwar darüber, ob es in den
letzten Jahren Sockellohnerhöhungen gegeben hat oder
nicht. Wenn Sie mir beweisen können, dass es in einem
Tarifvertrag in den letzten Jahren zu Sockellohnerhöhungen gekommen ist, also zu Tariferhöhungen, von denen
die unteren Lohngruppen überproportional profitiert haben, würden Sie von mir eine Kiste unseres guten nordbadischen Weins bekommen,
({0})
und wenn Sie diesen Nachweis nicht erbringen können,
müssten Sie mir eine Kiste geben. Wären Sie bereit,
diese Wette mit mir abzuschließen, damit wir dieses
Thema im Deutschen Bundestag künftig nicht mehr auf
diese Art und Weise erörtern müssen?
Lieber Herr Kollege Tauss, da ich weiß, dass Sie den
guten nordbadischen Wein nach den Landtagswahlen am
26. März dringender benötigen werden als ich, werde ich
diese Wette nicht annehmen;
({0})
denn Sie haben von den „letzten Jahren“ gesprochen.
Diese Formulierung ist zunächst einmal zu definieren.
({1})
- Wenn Sie mir eine Frage stellen, müssen Sie auch mit
meiner Antwort leben.
({2})
- Sie können mich fragen, was Sie wollen, und ich kann
Ihnen antworten, was ich will; so handhaben wir das.
({3})
Wenn Sie sich die Entwicklung der Arbeitslosenquote
in der Bundesrepublik Deutschland ansehen, werden Sie
feststellen, dass die Massenarbeitslosigkeit, die sich seit
dem Ölpreisschock gerade im Bereich der gering Qualifizierten verfestigt hat, das Ergebnis der Sockellohnerhöhungen ist, zu denen es damals gekommen ist.
({4})
Wenn Sie sich die Tarifverträge, die im öffentlichen Sektor in den letzen 15 Jahren abgeschlossen worden sind,
ansehen, werden Sie das ebenfalls feststellen. Aber nun
sollten Sie sich einfach hinsetzen und sich um Ihre eigenen Probleme kümmern.
({5})
Ein Aspekt wurde gar nicht beachtet: das
Arbeitslosengeld II. Sie haben das Arbeitslosengeld II
als soziokulturelles Existenzminimum eingeführt. Im
Rahmen des Vermittlungsverfahrens wurde richtigerweise festgestellt, dass jede legale Arbeit zumutbar ist.
({6})
Mit dem Arbeitslosengeld II, bei dessen Berechnung
Sie leider immer vergessen, die Wohn- und Energiekosten einzubeziehen, gibt es bereits einen staatlich festgelegten Mindestlohn. Wenn Sie nun einen Anreiz dafür
schaffen wollen, dass die Betroffenen aus dem Bezug
von Transferleistungen herausgehen, dann müssen Sie
den Mindestlohn, den Sie neu einführen wollen, deutlich
höher als das Arbeitslosengeld II ansetzen. Denn anderenfalls hätte das den Effekt, dass kein Mensch einen
wirtschaftlichen Anreiz hätte, statt des Bezugs einer
Transferleistung eine Arbeitsstelle anzunehmen.
({7})
Wir wollen doch nicht dauerhaft eine Gesellschaft von
Taschengeldempfängern organisieren, in der den Menschen zuerst womöglich alles Selbstverdiente weggenommen und ihnen dann etwas zugeteilt wird. Wir wollen den Menschen die Möglichkeit geben, durch eigener
Hände Arbeit wieder ein Bestandteil der Gesellschaft zu
werden und ihren Lebensunterhalt - wenigstens teilweise - selbst zu verdienen. Das hat etwas mit der
Würde der Betroffenen zu tun; darum muss es uns gehen.
({8})
Vor dem Hintergrund der heutigen Debatte fordere ich
Sie noch einmal eindringlich auf: Kehren Sie um! Verlassen Sie den Weg, die Bürger immer weiter abzukassieren! Fangen Sie damit an, dass Sie wenigstens auf die
Merkel/Münte-Steuererhöhung verzichten.
({9})
Sorgen Sie dafür, dass in diesem Land investiert und
konsumiert werden kann! Nur das schafft Arbeitsplätze
und nur das bringt die Menschen aus der Sockelarbeitslosigkeit heraus, die unter anderem Sie, Herr Tauss,
durch Ihre falsche Tarifpolitik mit zu verantworten haben.
Vielen herzlichen Dank.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele HillerOhm für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, es war Mitte 2004, als Franz Müntefering mit
seiner Forderung nach Mindestlöhnen die Republik in
Aufregung versetzt hat. Inzwischen hat sich der Pulverdampf zum Glück verzogen.
({0})
Ich erinnere mich noch sehr genau an die Bundestagsdebatte über Mindestlöhne im letzten Jahr,
({1})
als wir mit den Grünen das Entsendegesetz entsprechend
anpassen wollten. Schade, dass die PDS zu diesem ihr
doch so wichtigen Thema damals nichts zu sagen hatte:
Kein einziges Wort zum Mindestlohn in dieser Debatte!
Heute lehnen Sie sich dafür umso weiter aus dem Fenster. Voran bringt uns Ihr Schnellschussantrag leider
nicht. Mit Ihrer pauschalen Forderung von 8 Euro für
alle Tätigkeiten lassen sie die Vielschichtigkeit des Themas vollkommen außer Acht. Die Sorge ist aber berechtigt, dass mit einem beliebig gegriffenen Mindestlohn
- nach dem Prinzip Hoffnung - großer Schaden angerichtet werden kann. Was wir brauchen, sind differenzierte und möglichst branchenspezifische Lösungen.
Informieren Sie sich doch einmal bei den Gewerkschaften! Diese haben inzwischen einen dreistufigen Ansatz zum Schutz vor Lohndumping entwickelt: An erster Stelle Tarifverträge, an zweiter die Ausweitung des
Entsendegesetzes - mit dem Vorteil, dass nicht der Gesetzgeber, sondern die Tarifparteien selbst die Mindestlöhne vereinbaren - und an dritter Stelle gesetzliche
Mindestlöhne. Ich finde diesen Ansatz gut. Er kommt
unseren Vorstellungen sehr entgegen. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, sind die Lösungsvorschläge der Gewerkschaften in dieser für die
Menschen im Niedriglohnbereich so wichtigen Frage offensichtlich egal.
({2})
Wenn man sich Ihren Antrag anschaut, wird man das Gefühl nicht los, dass Sie Angst vor der eigenen Courage
haben. Wie sonst kann es sein, dass Sie Übergangsregelungen für kleine und mittlere Unternehmen einführen
wollen, die damit überfordert sind, 8 Euro die Stunde zu
zahlen?! Wie lange sollen solche Übergangsfristen gelten und wer soll das alles kontrollieren? Dazu finde ich
in Ihrem Antrag kein einziges Wort.
({3})
Zum Antrag der Grünen. Ich will eine gewisse Sympathie für Ihren Antrag nicht verhehlen.
({4})
Aber man merkt, dass er mit heißer Nadel gestrickt ist.
({5})
Bei einem so wichtigen Thema sollten wir uns aber die
nötige Zeit nehmen.
Wir lehnen beide Anträge ab.
({6})
Minister Müntefering hat angekündigt, bis zum Herbst
einen Vorschlag zu Kombi- und Mindestlöhnen vorzulegen. Im Koalitionsvertrag haben wir verabredet, die
Lohnstrukturen am Arbeitsmarkt gemeinsam unter die
Lupe zu nehmen, Kombilohnmodelle zu prüfen und dabei auch das Thema Mindestlohn anzupacken. Ich bin
zuversichtlich, dass uns hier etwas Gutes gelingen wird.
Denn in den Reihen der Union ist Bewegung zu erkennen.
({7})
Wenn der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium
Würmeling offen anspricht, dass er glaubt, dass wir in
mehr Branchen in Deutschland Mindestlöhne bekommen, und betont, dass auch er dafür sei, dann ist das eine
gute Verhandlungsgrundlage.
Diese Aussicht kann Sie, meine Herren von der FDP
- Damen sind keine mehr da, obwohl gerade Frauen dieses Thema enorm interessieren müsste -, natürlich nicht
befriedigen.
({8})
Bei Ihnen ist keinerlei Bewegung zu erkennen. Ich frage
Sie: Warum lösen Sie sich nicht endlich aus Ihrer ideologischen Totenstarre und nehmen zur Kenntnis, dass
Deutschland und Europa nicht nur aus Wettbewerb pur
bestehen? Hier leben Menschen, die ein Recht auf Teilhabe, Chancengleichheit und natürlich auch existenzsichernde Löhne haben. Die Menschen können frei wählen, wo in Europa sie leben und arbeiten wollen. Wir
müssen dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen
stimmen.
Wir haben gerade erlebt, was passiert, wenn wir nicht
aufpassen und den Rahmen nicht richtig setzen. Dann
verlieren die Menschen das Vertrauen in die Politik. Sie
wenden sich von einem Europa ab, das ihnen das Gefühl
vermittelt, Verlierer zu sein. Der massive Protest der Bevölkerung gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie hat
gezeigt: Markt ist nicht alles, er kann nur in Übereinstimmung mit guten Standards im Sozial- und Arbeitsrecht funktionieren. Mindestlöhne sind hier ein wichtiger Baustein.
Herr Niebel, das ist auch ganz unabhängig von der
Mehrwertsteuererhöhung.
({9})
Mit oder ohne Mehrwertsteuererhöhung: Wir brauchen
Mindestlöhne.
({10})
Herr Niebel, stellen Sie also endlich Ihre Nebelmaschine
ab.
({11})
Inzwischen begreifen das immer mehr: Wissenschaftler, Gewerkschafter und zum Glück auch unser neuer
Koalitionspartner.
({12})
Die FDP hingegen verteufelt den Mindestlohn als maximalen Unsinn. Herr Brüderle spricht vom Antikapitalismus der Sozialdemokraten, der sich in dieser Frage offenbare, und erschrickt über die Sozialdemokratisierung
der Union, die sich in erschreckendem Tempo fortsetze.
({13})
Frau Merkel wandele in dieser Frage inzwischen gar auf
den Spuren von Marx und Co.
({14})
Also ehrlich: Wenn es denn so wäre und wenn es den
Menschen dann nützt: Ich könnte nichts Schlechtes daran finden, Herr Niebel.
({15})
Meine Damen und Herren von der FDP: Sie sollten
sich einmal fragen, warum Sie mit Ihrer Einstellung zum
Mindestlohn zunehmend alleine stehen. Ich will es Ihnen
sagen: Sie haben sich zu weit von den Lebenswirklichkeiten der Menschen entfernt.
({16})
Herr Niebel, Sie haben im Oktober einen flotten Spruch
losgelassen.
({17})
Mit Blick auf die SPD haben Sie gesagt:
Wer heute Mindestlöhne fordert, verlangt morgen
staatlich festgelegte Bierpreise.
({18})
Herr Kollege, richtig muss der Satz lauten: Wer heute
Mindestlöhne fordert, setzt sich für die Menschen ein,
die von ihrer Hände Arbeit leben müssen und dafür ihren
gerechten Lohn verlangen. - Das tun wir, Herr Niebel.
Frau Kollegin.
Über die Verstaatlichung der Bierpreise und die
Mehrwertsteuer reden wir dann ein anderes Mal.
({0})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält der
Kollege Laurenz Meyer das Wort.
({0})
Als Vertreter einer einschlägig ausgewiesenen Region
wird er die Frage nach der Entwicklung der Bierpreise
sicher abschließend beantworten.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf
das Thema Bierpreise werde ich mich hier überhaupt
nicht kaprizieren. Ich schlage vor, dass wir das Thema
Mindestlohn so angehen, wie wir viele andere Themen
auch angehen,
({0})
dass wir uns in Europa umschauen und uns ansehen, was
dort funktioniert und was dort aus unserer Sicht möglicherweise auch nicht funktioniert.
Zunächst einmal muss ich dabei feststellen: In 19 von
25 Ländern gibt es einen Mindestlohn. Als Zweites stelle
ich fest - darauf hat der Kollege Brauksiepe schon hingewiesen -, dass die Unterschiede in Europa riesengroß
sind: Der Mindestlohn bewegt sich innerhalb der EU
zwischen 1 300 Euro und 120 Euro. Deswegen werden
wir uns das ansehen und schauen, ob andere es richtig
machen. Wenn es Möglichkeiten gibt, zu sinnvollen Lösungen zu kommen, werden wir sie nutzen.
({1})
Während ich mir heute die Debatte hier angehört
habe, habe ich nicht den Eindruck gewonnen, dass auf
allen Seiten ideologisch schon richtig abgerüstet worden
ist. Bei der Rede von Herrn Gysi und durch den Antrag
der Linken habe ich etwas Bemerkenswertes erfahren.
Wenn ich Journalist wäre, dann würde ich mich bezüglich der Rechnung von Herrn Gysi, mit der er auf seinen
Mindestlohn gekommen ist, nicht nur auf die 8 Euro,
sondern auch auf die 40 Stunden konzentrieren. Als
Überschrift würde ich schreiben: Gysi fällt Bsirske in
den Rücken und akzeptiert die 40-Stunden-Woche.
({2})
Laurenz Meyer ({3})
Das ist die erste Botschaft des heutigen Tages und wir
sollten sie festhalten.
Ich komme nun zu dem, was Herr Lafontaine und
Herr Gysi über Anwälte und Architekten gesagt haben.
Herr Lafontaine, Herr Gysi, wenn Anwälte anders als
Sie nur einen Auftrag in der Woche haben, möglicherweise noch von einem Mandanten mit weniger Geld,
dann ist das für den Mandanten zwar gut, dass er einen
festen Satz bezahlen muss, aber nicht für den Anwalt.
Deswegen ist dieses ganze Gerede einfach nur Klassenkampf pur. Hier müssen wir uns fragen: Was wollen Sie
damit für die Menschen erreichen?
({4})
In der Bauwirtschaft gilt das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Wir wissen aber auch, was in diesem Bereich
passiert. Das brauchen wir uns nur in Ruhe anzusehen.
Wenn einer staatlichen Stelle - Frau Nahles, selbst Gewerkschaften -, die einen Bauauftrag zu vergeben hat,
ein Angebot mit ausschließlich deutschen Kräften für
10 Millionen Euro und ein anderes Angebot mit Subunternehmen aus dem Ausland für 8 Millionen Euro vorliegt, dann ist die Versuchung offensichtlich groß - für
staatliche Stellen wie für Gewerkschaften wie für Arbeitgeber -, das Angebot mit den Subunternehmen für
8 Millionen Euro anzunehmen. Damit sind die ganzen
Regelungen ausgehebelt und wir haben ein Problem.
Wenn dann noch die Arbeitszeiten nicht kontrollierbar sind und die betreffenden Arbeitnehmer bei gleichen
Löhnen fünf Stunden mehr arbeiten als die deutschen
Arbeitnehmer oder sogar Mieten für miserable Unterkünfte bezahlen, wenn ihnen noch die Löhne weggenommen werden, dann ist uns allen nicht geholfen. Damit müssen wir uns beschäftigen. Deswegen müssen wir
mögliche Regelungen kritisch hinterfragen, ehe wir sie
als Lösung akzeptieren.
({5})
Auch bei uns gibt es Mindestlöhne. Wir haben den
Mindestlohn beim Arbeitslosengeld II in vielen Fällen
aufgestockt. Arbeitslosengeld-II-Empfänger können einen 400-Euro-Job oder 1-Euro-Job annehmen, sodass im
Grunde genommen eine Lohnhöhe vorgegeben ist. Jemand, der rational denkt, wird sich also fragen: Nehme
ich jetzt eine Arbeit an oder kombiniere ich das mit
Schwarzarbeit? So ist die Situation.
Frau Nahles, ich will es für uns noch ein bisschen
komplizierter machen. Sie haben gesagt, jedem fünften
Arbeitnehmer in Ostdeutschland stehen weniger als
1 400 Euro zur Verfügung.
({6})
- Gut, also unter 1 300 Euro. Das ist aber für das, was
ich ausdrücken will, nicht entscheidend. Jeder von uns
ist sicherlich der Meinung, dass 1 300 Euro nicht viel
sind.
({7})
- Brutto. Natürlich gönnen wir es jedem, dass er mehr
als nur diese Summe verdient.
({8})
Aber die Fragestellung, die hinter dem steht, was wir
hier diskutieren, ist, offen ausgesprochen, ob wir Gefahr
laufen wollen, dass die 20 Prozent der Arbeitnehmer, die
heute weniger als 1 300 Euro verdienen, arbeitslos werden, wenn wir den Mindestlohn bei 1 300 Euro ansetzen.
({9})
Diese Fragestellung müssen wir diskutieren, bevor wir
Lösungen zustimmen.
({10})
Wir müssen sicher sein, dass dieser Effekt nicht eintritt,
und wir müssen den Menschen helfen, ihren Arbeitsplatz
zu behalten. Wir dürfen sie nicht behindern oder durch
gut gemeinte Regelungen ihren Arbeitsplatz gefährden.
Bei einem anderen Punkt, den Sie genannt haben, will
ich Ihnen aus vollem Herzen widersprechen. Sie haben
gesagt: Lohn hat etwas mit Würde zu tun.
({11})
Ich sage Ihnen: Arbeit hat etwas mit Würde zu tun. Ob
jemand eine Arbeit zu menschenwürdigen Bedingungen
hat, hat etwas mit Würde zu tun.
({12})
- Über diese Überlegungen werden wir sprechen.
Selbstverständlich wollen wir, dass Arbeit - der Kollege Brauksiepe hat darauf hingewiesen - insgesamt so
entlohnt wird, dass ein Mensch davon leben kann. Wenn
es unter den Bedingungen in Deutschland wegen der
Produktivität des Einzelnen nicht möglich ist, dass sein
Lohn ausreicht, dann wollen wir ihn mit staatlichen
Transferleistungen aufstocken. Es sollte nicht so sein,
dass jemand ausschließlich von Transferleistungen lebt;
vielmehr geht es um eine Kombination von Arbeitseinkommen und Transferleistungen.
Schauen Sie sich einmal an, wie viele Menschen
heute einen 1-Euro-Job annehmen wollen, wie die Zahl
der Menschen, die Arbeitslosengeld II beziehen und einen 400-Euro-Job haben, angestiegen ist. Da passiert
einiges. Gleichzeitig sehen wir, dass es natürlich eine
Verlockung ist, neben dem 400-Euro-Job schwarzzuarbeiten. Frau Nahles, auch Sie haben sicherlich schon
festgestellt, dass es sehr schwer ist, Schwarzarbeit in
Kombination mit einem 400-Euro-Job zu kontrollieren,
weil die Betreffenden bei einer Kontrolle erklären, dies
sei der erste Tag ihres 400-Euro-Jobs.
Dabei dürfen wir uns nicht von ideologischen Vorstellungen leiten lassen, sondern es geht in der Diskussion
darum: Was wollen wir erreichen?
Wir wollen erreichen, dass Menschen Arbeit bekommen
und dass die Mitnahmeeffekte in diesem Prozess auf ein
Minimum reduziert werden.
Laurenz Meyer ({13})
Wir sollten insofern - wie es meines Erachtens heute
bei manchen der Fall war - nicht nur aus der Sicht derer
diskutieren, die bereits Arbeit haben, sondern auch aus
der Sicht derjenigen, die Arbeit suchen. Wir haben das
Problem, dass die Hälfte der Arbeitslosen Langzeitarbeitslose sind. Viele von ihnen haben keine Berufsausbildung und auch keinen Schulabschluss. Damit wird
sich die CDU/CSU-Fraktion nicht zufrieden geben.
Vor diesem Hintergrund müssen wir uns fragen: Wollen wir, dass diese Zahlen immer weiter steigen, weil wir
nichts tun, oder wollen wir zumindest den ernsthaften
Versuch machen, auch diesen Menschen in Deutschland
wieder eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu bieten?
Darum geht es - um nicht mehr und nicht weniger.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/398 und 16/656 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 18:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der
Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung
- Drucksache 16/194 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({0})
- Drucksache 16/691 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der FDP, der Fraktion Die Linke und der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Auch
das ist offensichtlich einvernehmlich.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Dr. Marlies Volkmer für die SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Seit der ersten Beratung des Gesetzentwurfs sind
ungefähr zwei Monate vergangen. Wir haben die Zeit
sehr gut dazu genutzt, alle Maßnahmen zu diskutieren.
Ich möchte gleich vorwegschicken: Wir sind der
Überzeugung, dass mit dem Gesetz die notwendigen
Einsparungen erzielt und die hohe Qualität der Versorgung der Versicherten gewährleistet werden können.
({0})
Ich möchte mich bei allen Beteiligten im Gesundheitswesen bedanken, die unsere Diskussion aktiv und
konstruktiv begleitet haben.
Es gibt im Gesundheitswesen aber auch Interessenvertreter - insbesondere unter der Ärzteschaft -, die
durch irreführende Behauptungen die Patienten massiv
verunsichern.
({1})
Ein solches Verhalten ist unredlich und in intellektueller
Hinsicht manchmal schon eine Zumutung. Aber solche
Argumentationen werden sich letztlich gegen die Urheber selbst richten.
Ich kann die Patientinnen und Patienten nur ermutigen, sich nicht beirren zu lassen. Sie bekommen nach
wie vor die für ihre Behandlung notwendigen Medikamente.
({2})
Gelegentlich kann es dazu kommen, dass der Arzt ein
anderes Medikament verordnet als früher. Das ist aber
nicht schlimm. Sie kennen das bereits aus dem Bereich
der rezeptfreien Medikamente: Wenn Sie zum Beispiel
wegen einer starken Erkältung eine Apotheke aufsuchen,
({3})
dann können Sie Aspirin, Acesal oder ASS kaufen. Das
sind verschiedene Medikamente zu unterschiedlichen
Preisen, die aber denselben Wirkstoff enthalten.
({4})
- Ich mache keine Werbung, sondern ich habe alle einschlägigen Medikamente aufgeführt. ({5})
Eine ähnliche Regelung wird in Zukunft auch bei den rezeptpflichtigen Medikamenten gelten.
Etwa 45 Prozent der Ausgabensteigerung werden
durch einen Wechsel zu teureren, aber nicht wirksameren Medikamenten verursacht. Der Arzt entscheidet,
welches Medikament der Patient erhält. Er trägt die Verantwortung für eine wirtschaftliche Arzneimitteltherapie. Er hat den Stift in der Hand. Eine gesetzliche Regelung, die genau an dieser Stelle ansetzt, ist daher
überfällig. Entgegen einer verbreiteten Ansicht ist die
Steuerung der Arzneimittelausgaben über eine Lenkung des ärztlichen Verordnungsverhaltens sehr wohl
möglich. Das zeigt der Blick auf die regionalen Unterschiede bei den Arzneimittelausgaben. Die Ärzte im
Bereich der kassenärztlichen Vereinigungen mit den
niedrigsten Arzneimittelausgaben geben etwa ein Drittel
weniger aus als die mit den höchsten Ausgaben. Das
sind beachtliche Unterschiede.
Vor diesem Hintergrund haben wir uns für eine Regelung entschieden, die Ansporn für alle regionalen Vertragspartner sein soll, zu eigenen Lösungen zu kommen.
Gute Ansätze gibt es zum Beispiel in der KV Nordrhein
und in der KV Sachsen. Nun wird es zwar eine BonusDr. Marlies Volkmer
Malus-Regelung auf Bundesebene geben. Sie kann aber
außer Kraft gesetzt werden, wenn durch fristgerecht vereinbarte regionale Lösungen die Einsparziele der BonusMalus-Regelung erreicht werden. Nur wenn also keine
regionale Regelung vereinbart wird, gilt das BonusMalus-System. Der Malus greift dann, wenn ein Arzt
vereinbarte Durchschnittskosten für verordnungsstarke
Wirkstoffe um mehr als 10 Prozent überschreitet. Ursprünglich sollte diese Zone schon bei 5 Prozent beginnen. Im Übrigen hat ein Arzt, der wirtschaftlich verordnet, auch in Zukunft keinen Regress zu befürchten. Neu
ist, dass bei der Festlegung der Durchschnittskosten je
definierter Dosiereinheit die Besonderheiten unterschiedlicher Anwendungsgebiete berücksichtigt werden
müssen. Hier haben wir die Ergebnisse der Anhörung
berücksichtigt, um die bedarfsgerechte Versorgung der
Patientinnen und Patienten besser zu gewährleisten.
Im Gesetz stellen wir klar, dass der Gemeinsame
Bundesausschuss unzweckmäßige und unwirtschaftliche
Arzneimittel von der Versorgung ausschließen kann. Bei
seiner Entscheidung hat er neben dem Nutzen und der
medizinischen Notwendigkeit die Wirtschaftlichkeit eines Arzneimittels zu bewerten. Dies ist ein Schritt in
Richtung einer Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln, der Ärzten eine verlässliche Orientierung bei
einer wirtschaftlichen Verordnung von Arzneimitteln
bieten kann.
({6})
Ein weiteres wichtiges Thema in der Diskussion war
die Festbetragsregelung. Wir haben klargestellt, dass
das bisherige Verfahren des Gemeinsamen Bundesausschusses weiterhin angewendet werden soll. Die Neuartigkeit allein wird auch künftig keine Freistellung bewirken. Nur wenn ein Arzneimittel eine therapeutische
Verbesserung bringt, ist es vom Festbetrag freizustellen.
Das Festbetragssystem bleibt damit das wichtigste Instrument der Preisregulierung bei den Arzneimitteln. Die
in der Anhörung vorgetragene Befürchtung, die Versorgung der Patientinnen und Patienten mit Medikamenten
zum Festbetrag sei nicht mehr vollständig sichergestellt,
haben wir sehr ernst genommen. Zum einen haben wir
eine Lösung gefunden, die sowohl notwendige Einsparungen erreicht als auch für die Patientinnen und Patienten genügend Arzneimittel zum Festbetrag zur Verfügung stellt. Zum anderen haben wir zusätzlich den
Vorschlag der Spitzenverbände der Krankenkassen aufgegriffen, nach dem besonders preisgünstige Arzneimittel gänzlich von Zuzahlungen befreit werden können.
Die Entscheidung darüber müssen die Krankenkassen
gemeinsam und einheitlich treffen. Wenn die Kassen die
Regelung umgesetzt haben, sollten die Patientinnen und
Patienten den Arzt auf die Verordnung solcher zuzahlungsfreien Arzneimittel ansprechen.
Das Gesetz ist ein Instrument, um die Ausgaben der
gesetzlichen Krankenversicherung für Arzneimittel mittelfristig im Zaum zu halten.
({7})
Natürlich muss es weitere Überlegungen geben, wie die
medizinische Versorgung noch wirtschaftlicher durchgeführt werden kann. Ich denke hier zum Beispiel an die
Arzneimittelversorgung an der Schnittstelle zwischen
Krankenhaus und ambulanter Versorgung. Darüber sind
sich alle Beteiligten sicherlich einig.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Daniel Bahr für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das soll es also nun sein, das erste gesundheitspolitische Gesetz der großen Koalition, das einen Vorgeschmack auf eine grundlegende Gesundheitsreform
geben soll, das unter Beweis stellen soll, dass sich die
große Koalition auf grundlegende Reformschritte einigt,
die die Interessen von Patienten und Versicherten in den
Mittelpunkt stellt?
({0})
Das AVWG, das Arzneimittelspargesetz, ist ein Kostendämpfungsmonstrum. Die Arzneimittelversorgung für
die Patienten in Deutschland wird durch dieses Gesetz
erheblich verschlechtert, die freie Therapiewahl eingeschränkt.
({1})
Frau Kollegin Volkmer, Sie machen es sich meines
Erachtens zu leicht, wenn Sie jetzt nur kritisieren, dass
die Ärzte angeblich Fehlinformationen herausgeben oder
protestieren. Wenn ich in 14 Tagen aus einer Praxis einen großen Stapel von Protestschreiben mit Unterschriften bekomme,
({2})
dann ist das bedenklich. Ignorieren Sie das nicht, sondern nehmen Sie das ernst! Es ist doch nicht normal,
dass 22 000 Ärzte in Berlin auf die Straße gehen, Hausärzte, Fachärzte, Zahnärzte, angestellte und niedergelassene Ärzte. So etwas hatten wir noch nie.
({3})
Das findet in ganz Deutschland statt. Warum gehen sie
auf die Straße und warum protestieren die Patientinnen
und Patienten? Weil sie Angst haben, dass dieses Gesetz
zu einer weiteren massiven Rationierung führt.
({4})
Die Bonus-Malus-Regelung, die Sie, Frau Dr. Volkmer,
angesprochen haben, wird dazu führen, dass der Arzt,
der bei der Verschreibung rationiert, bevorzugt wird.
({5})
Daniel Bahr ({6})
Eine solche Bonus-Malus-Regelung wird das Arzt-Patienten-Verhältnis erschüttern. Ich will nicht den Teufel
an die Wand malen, aber allein die Tatsache, dass Patienten die Sorge haben, dass ein Arzt nach wirtschaftlichen
Gesichtspunkten verschreibt und nicht nach den Prinzipien der freien und richtigen Therapiewahl, wird das
Arzt-Patienten-Verhältnis massiv erschüttern.
({7})
Es ist doch nicht so, als ob wir nicht schon Instrumente
hätten. Wir haben heute schon viele Instrumente, die den
Arzneimittelmarkt regulieren: Arzneimittelrichtlinien, von
der Erstattung ausgeschlossene Arzneimittel, Festbeträge
für Arzneimittel, Nutzenbewertung von Arzneimitteln,
Arzneimittelvereinbarung und Arzneimittelrichtgrößen,
Aut-idem-Regelung, Importförderung, Preisvergleichsliste und gesetzliche Zwangsrabatte. Das Arzneimittelsparpaket wird diese Unübersichtlichkeit und mangelnde
Planungssicherheit noch verschärfen und keine grundlegenden Reformen voranbringen.
({8})
Herr Kollege Bahr, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Zöller?
Bitte sehr.
Herr Kollege Bahr, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass Ihre Äußerung, die Therapiefreiheit
werde eingeschränkt, falsch ist?
({0})
Zu dieser Meinung kann man nur kommen, wenn man
nicht zwischen Wirkstoffgruppen und Wirkstoff unterscheiden kann. In der Änderung ist nämlich klar festgelegt worden, dass der Arzt den Wirkstoff frei wählen
kann. Die Therapiefreiheit bleibt voll erhalten.
({1})
Nur, wenn er sich für einen Wirkstoff entscheidet, soll er
sich preisbewusst verhalten. Bei den Preisen gibt es
Bandbreiten von 300 bis 400 Prozent. Die Therapiefreiheit wird mit diesem Gesetz gegenüber der bisherigen
Regelung sogar verbessert. Möchten Sie das bitte zur
Kenntnis nehmen?
({2})
Nein, Herr Kollege Zöller, das nehme ich so nicht zur
Kenntnis. Wir hatten schon im Ausschuss eine Debatte
darüber, dass es schwer abzuschätzen ist, wie die neue
Regelung der Durchschnittskosten je Dosiereinheit überhaupt wirkt. Die Staatssekretärin hat mir auf Nachfrage
erklärt, dass eine eigene Vereinbarung in der Region
- Frau Volkmer hat ja von unterschiedlichen regionalen
Verhältnissen gesprochen - nur in drei KV-Bezirken
nach heutiger Sicht funktionieren kann. Das heißt, es
wird bundesweit eine Bonus-Malus-Regelung geben, die
meines Erachtens das Therapieverhalten des Arztes erheblich einschränken wird. Wir können das aber gerne in
einem halben Jahr erneut diskutieren.
({0})
Als Begründung wird die Steigerung der Ausgaben
für Arzneimittel herangezogen. Ich wage zu bezweifeln,
dass diese Steigerung der Ausgaben für Arzneimittel
nicht abzusehen war; denn wir hatten mit dem GMG
viele Entscheidungen, die in der Folge dazu führten, dass
die Arzneimittelausgaben stiegen. Wir hatten Vorzieheffekte in 2003, es gab den Wegfall des zusätzlichen
Zwangsrabatts und viele andere Effekte, die dazu führten, dass die Arzneimittelausgaben gestiegen sind. Ich
wage zu bezweifeln, dass das der Grund für das Arzneimittelspargesetz ist. Ich habe den Eindruck, Sie machen
das Arzneimittelsparpaket, um im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung die drohende Mehrwertsteuererhöhung, die ab 1. Januar 2007 geplant ist, zu
kompensieren. Ich vermute, dass das der wahre Grund
für das Zustandekommen dieses Arzneimittelsparpakets
ist.
Wir halten das für einen Fehler. Wir halten die Mehrwertsteuererhöhung für einen grundsätzlichen Fehler.
Gerade für den Arzneimittelbereich bedeutet sie eine erhebliche Einschränkung. Ich weise darauf hin, dass in
den meisten anderen Ländern beim Kauf von Arzneimitteln entweder der niedrigere Mehrwertsteuersatz Anwendung findet oder gar keine Mehrwertsteuer zu zahlen
ist. Mit dem erhöhten Mehrwertsteuersatz beim Kauf
von Arzneimitteln ist Deutschland eine Ausnahme. Sie
hätten einmal darüber diskutieren sollen, den Mehrwertsteuersatz für Arzneimittel erheblich zu senken. Eine
solche Senkung würde die gesetzlichen Krankenversicherungen entlasten.
Die Patienten werden aber auch durch die Neuregelung der Festbeträge massiv belastet. Es ist doch erstaunlich, dass sogar die Krankenkassen vor dieser Neuregelung warnen. Die Krankenkassen haben den
Auftrag, mit den Beiträgen der Versicherten besonders
kostengünstig umzugehen. Es ist doch spannend, dass
die Krankenkassen die Neuregelung der Festbeträge
ganz besonders infrage gestellt haben.
Durch die niedrigeren Festbeträge könnte beispielsweise der Preis für Antidepressiva um 65 Prozent sinken. Die Firmen der Pharmaindustrie werden ihre Preise
aber nicht zwangsläufig auf die Höhe der Festbeträge absenken, sondern vielleicht nur ein bisschen. Das führt
dann zu Aufzahlungen für die Versicherten. Diese Aufzahlungen fallen - anders als die Zuzahlungen, die bestimmten Grenzen unterliegen - nicht unter die Überforderungsregelung, sondern sind voll wirksam. Das heißt,
im Sommer werden die Patientinnen und Patienten
wahrscheinlich massiv belastet.
Daniel Bahr ({1})
Ich will noch etwas anderes aufgreifen, was die Patienten angeht. Frau Volkmer sprach von den regionalen
Unterschieden. Frau Volkmer, soweit ich weiß, sind Sie
aus Sachsen. Schauen Sie einmal nach Sachsen-Anhalt!
Sie können doch nicht die Ärzte für die regionalen Unterschiede im Verschreibungsverhalten verantwortlich
machen. Ein Grund für unterschiedliches Verschreibungsverhalten ist vielmehr, dass beispielsweise die
Morbiditätsstruktur und die Versichertenstruktur in
Sachsen-Anhalt ganz anders als die in der Region Nordrhein sind. Weil es einige wenige KV-Bezirke gibt, in denen dieser Ansatz gut funktioniert, sollen Ihrer Auffassung nach sämtliche KV-Bezirke diese Regelung
übernehmen. Sie sollten schon berücksichtigen, dass es
woanders andere Strukturen gibt. Insofern sehe ich die
regionale Umsetzung sehr kritisch. Ich glaube, dass es
damit eher zu einer bundesweiten Bonus-Malus-Regelung kommt.
Auch die Krankenhäuser werden arg gebeutelt, wie
wir feststellen. Von heute auf morgen erfahren die Krankenhäuser, dass sie ihre Planungen für 2006 über Bord
werfen und auf niedrigerer Basis neu kalkulieren müssen. Ihre Arzneimittel werden teurer, weil die Naturalrabatte wegfallen. Gleichzeitig müssen sie ihre Einkaufspolitik grundlegend ändern; denn zukünftig müssen
sie sich an das halten, was im vertragsärztlichen Bereich
Standard ist. Viele Vertragsärzte wenden sich an uns, um
uns mitzuteilen, dass sie viele ärgerliche Diskussionen
haben; denn sie müssen die Medikamentierung von Patienten umstellen, nachdem die Krankenhäuser sie auf
teure Medikamente eingestellt haben.
Ich wage aber zu bezweifeln, dass diese Regelung
wirklich ihre Wirkung entfaltet. Ich glaube, sie führt
eher zu einer Einschränkung bei der stationären Versorgung. Ich befürchte, dass gerade GKV-Patienten bei der
stationären Versorgung gegenüber Privatpatienten benachteiligt werden.
Gestatten Sie mir, dass ich zum Schluss auf die Naturalrabatte zu sprechen komme. Auch hier gab es sicherlich Auswüchse, über die man nachdenken muss. Die
Ursache dafür ist meines Erachtens die Aut-idem-Regelung. Sie verbieten die Naturalrabatte sogar bei Tierarzneien. Diese Arzneien sind nun wirklich überhaupt nicht
vergleichbar mit der Arzneimittelversorgung von Patientinnen und Patienten über die Apotheken. Das geht
wahrlich zu weit.
Die in diesem Gesetzentwurf verankerte Regelung
werden wir nicht mittragen. Wir haben einen Entschließungsantrag eingebracht. Wir sind auf weitere Vorschläge der großen Koalition gespannt. Das „Arzneimittelspargesetz“ ist der falsche Weg.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Annette
Widmann-Mauz, CDU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Im Gesundheitswesen ist es immer dasselbe: Manche
Hähne glauben, dass die Sonne nur ihretwegen aufgeht.
Die Gemüter haben sich in den letzten Wochen etwas beruhigt. Das ist zumindest der Anfang aller Vernunft.
Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt,
dass man sie ignoriert. Nüchtern betrachtet ist die Lage
doch klar: Die Arzneimittelausgaben sind im vergangenen Jahr im Vergleich zum Vorjahr um über 16 Prozent
gestiegen. Nicht alles lässt sich dabei mit dem Auslaufen
der 10-Prozent-Zwangsrabatt-Regelung und normalen
Ausgabezuwächsen durch Alterung erklären. Vieles
- das kann doch die FDP nicht leugnen - hat strukturelle
Gründe.
({0})
Dadurch entstehen Kosten im Gesundheitswesen, die
wir nicht einfach hinnehmen können, die wir auch nicht
einfach an die Patienten und Versicherten weitergeben
dürfen. Wir müssen diese Kosten jetzt auffangen.
Das wollen wir mit dem Gesetzentwurf, den wir vorgelegt haben, erreichen. Wir wollen die Senkung der
Arzneimittelausgaben und die nachhaltige Stabilisierung
der Arzneimittelversorgung erreichen.
Das AVWG ist in den vergangenen Wochen heftig
diskutiert worden. Ärzte, Patienten, Apotheker, Arzneimittelhersteller, die Krankenkassen, die Verbände, alle
haben sich zu Wort gemeldet. Da wurde gestreikt und
gestritten, da wurde mobilisiert und polemisiert, aber es
wurde eben auch sehr ernsthaft diskutiert, nicht zuletzt
im zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages;
denn alle wissen, dass es keine Einsparmaßnahme ist,
wenn man sich nur billige Ausreden leistet.
Die zahllosen Gespräche und die Beratungen haben
sich gelohnt. Wir haben viele Anregungen aufgegriffen.
Wir haben Änderungen und Präzisierungen in den Gesetzentwurf eingearbeitet. Viele Aspekte der Diskussion
wurden berücksichtigt. Ich glaube, wir können heute mit
dem Ergebnis zufrieden sein.
({1})
Das AVWG wird insbesondere die Arzneimittelversorgung besser als bisher an dem tatsächlichen medizinischen Versorgungsbedarf der Patienten ausrichten.
Medizinisch nicht notwendige Ausgabensteigerungen
können künftig besser vermieden werden. Dabei bleibt
gewährleistet - das möchte ich ausdrücklich betonen -,
dass Patientinnen und Patienten auch in Zukunft alles,
was medizinisch notwendig ist, auch verordnet bekommen.
({2})
Das erste Ergebnis dieses Gesetzes ist also: Die Versorgung der Patienten ist und bleibt auf hohem Niveau gesichert.
Lassen Sie mich auf die einzelnen Maßnahmen eingehen. Zunächst zur Bonus-Malus-Regelung. Auf unser
Drängen wird die viel gescholtene Bonus-Malus-Regelung jetzt so gestaltet, dass es in der Hand der Ärzte und
der Krankenkassen liegt, ob diese gesetzliche Regelung
zur Anwendung kommt oder nicht. Das heißt, die Ärzte
entscheiden zusammen mit den Krankenkassen, ob diese
gesetzliche Regelung zum Tragen kommt oder nicht. Die
Frage ist, ob sie bessere Alternativen haben. Wenn die
KVen mit den Landesverbänden der Krankenkassen Vereinbarungen treffen, mit denen sie dieselben Ausgabenziele bei den Arzneimitteln erreichen können, dann
kommt die gesetzliche Bonus-Malus-Regelung gar nicht
mehr zum Tragen. Das heißt, Vorfahrt für die Selbstverwaltung!
({3})
Die Selbstverwaltung erhält endlich mehr Verantwortung und einen größeren Spielraum für eine praxisnahe
und partnerschaftliche Gestaltung. Also nur dann, wenn
es nicht zu einer solchen freiwilligen Vereinbarung
kommt, gilt die gesetzlich vorgesehene Bonus-MalusRegelung.
Sie ist jetzt sogar verbessert worden.
({4})
Bei der Ermittlung der Durchschnittskosten je Dosiereinheit, also den Tagestherapiekosten, ist jetzt auch die
Indikationsstellung zu berücksichtigen. Herr Bahr, wenn
Sie es immer noch nicht verstanden haben, dann mache
ich es Ihnen auch hier im Plenum noch einmal an einem
Beispiel deutlich.
({5})
Ein Wirkstoff wie der Betablocker Metoprolol wird je
nach Indikation in unterschiedlicher Dosierstärke angewendet: bei Bluthochdruck 50 Milligramm, bei koronarer Herzkrankheit 100 Milligramm, bei Herzmuskelschwäche 200 Milligramm. Einen Dosiermittelwert über
die einzelnen Indikationen zu legen, ist nicht sachgerecht - da sind wir uns einig -; es könnte - da haben Sie
Recht - zu einer Unterversorgung je nach Patientenklientel in der Arztpraxis führen.
({6})
Deshalb haben wir gesagt: Die durchschnittlichen Dosiereinheiten können nur für die jeweilige Indikation und
nicht über die Indikationen hinweg zur Geltung kommen. Unterschiedliche Behandlungsbereiche müssen berücksichtigt werden.
({7})
Der Malus wirkt auch nicht schon ab einem Überschreitungsbetrag von 5 Prozent. Wir haben jetzt eine
Grenze von 10 Prozent festgelegt.
({8})
Ich will einen Hinweis zu einer Sache geben, die Sie
kritisch hinterfragt haben, zu der Verordnung aus dem
Krankenhaus heraus. Für die Ärzteschaft ist ganz wichtig, dass wir hierbei Verbesserungen erreichen und die
Krankenhäuser in der Weise in die Pflicht nehmen, dass
vor der Entlassung die Präparate angewendet werden,
die auch nachher im ambulanten Bereich, also im niedergelassenen Sektor, wiederum sparsam, verwendet werden müssen.
({9})
Das Eintragen teurer Präparate in die ambulante Versorgung können wir nicht hinnehmen. Das ist eine Abhilfe,
die wir gerade auch für die niedergelassenen Ärzte vereinbart haben.
({10})
Also, die Bonus-Malus-Regelung, wie sie im Gesetzentwurf steht, muss nicht angewendet werden. Sie kann
vermieden werden. Die Therapiefreiheit wird gestärkt
und die Versorgungssicherheit der Patienten bleibt gewahrt.
Ein weiterer Punkt: die Zuzahlungsbefreiung. Wir
haben im AVWG die Möglichkeit geschaffen, dass die
Kassen ihren Versicherten bei der Wahl besonders preiswerter Medikamente die Zuzahlung erlassen können.
Den Krankenkassen wird also zum ersten Mal die Möglichkeit eröffnet, Patientinnen und Patienten einen eigenen ökonomischen Vorteil einzuräumen. Damit wird der
Preiswettbewerb bei den Herstellern unterstützt. Das eigentlich Entscheidende ist aber: Der Patient hat zum ersten Mal ein eigenes ökonomisches Interesse, ein preiswertes Medikament vom Arzt verordnet zu bekommen.
Das bedeutet auch, dass der Arzt erstmals nicht mehr allein die Verantwortung für eine wirtschaftliche Verordnungspraxis trägt und damit in der Kritik steht. All das
sind wichtige Ergebnisse dieses Gesetzes.
Sie haben die Festbetragsregelungen angesprochen.
In den Festbetragsgruppen der Stufen 2 und 3 kann gespart werden. Wir wollen hier die Festbeträge ins untere
Preisdrittel absenken. Wir haben aber wiederum auch Sicherungslinien eingezogen; denn es müssen jeweils ein
Fünftel aller Verordnungen und aller Packungen zum
Festbetrag verfügbar sein. Damit bleibt die Versorgungssicherheit gewährleistet. Das sind wichtige Kriterien.
Wir wissen natürlich, dass diese Regelungen bei der
forschenden und bei der generischen Industrie auf Kritik
gestoßen sind. Die Daten der Kassen zeigen jedoch auf,
dass insbesondere in der Stufe 2, in der Pharmamittel mit
pharmakologisch vergleichbaren Wirkstoffen zusammengefasst sind, noch gespart werden kann. Angesichts
knapper Mittel in der gesetzlichen Krankenversicherung
können wir doch Innovationen nur dann angemessen bezahlen, wenn so genannte Scheininnovationen nicht zu
überhöhten Preisen abgegeben werden. Von daher ist
diese Absenkung vertretbar.
({11})
Wir nehmen aber auch die Sorgen der Unternehmen
ernst, insbesondere hinsichtlich ihres Engagements bei
Forschung und Innovation. Deshalb haben wir in einem
weiteren Schritt die Innovationsschutzklausel verbessert. Wir werden so, wie es im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, den Pharmastandort Deutschland stärken.
({12})
Zwei Regelungen sind hier insbesondere in den Blick zu
nehmen:
Zunächst ermöglichen wir den Kassen, Rabattverträge mit Unternehmen abzuschließen, die ihre Präparate
nicht bis auf den Festbetragspreis absenken wollen. Dies
trifft genau auf das Beispiel zu, das Sie vorhin angeführt
haben, nämlich dass ein Unternehmen nicht bereit ist,
den Preis zu senken. Es kann nun, um den hohen Referenzpreis im europäischen Ausland aufrechterhalten zu
können, Rabattverträge im Interesse der Versicherten
bzw. Patientinnen und Patienten mit den Kassen abschließen, sodass hier überhaupt keine höheren Zahlungen anfallen müssen.
({13})
Frau Kollegin Widmann-Mauz, gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Bahr?
Ich gestatte sie.
Frau Kollegin Widmann-Mauz, sind Sie mit mir der
Meinung, dass Einsparungen über den Weg der Rabattverträge nur bei dem jeweiligen Medikament möglich
sind? Sind Sie außerdem mit mir der Meinung, dass die
Pharmaunternehmen eine so massive Absenkung der
Festbeträge nicht mitmachen werden und es damit zu
massiven Aufzahlungen für Patienten in diesem Sommer
kommen kann?
({0})
Nein, ich bin nicht dieser Auffassung. Ich bin der festen Überzeugung - die Vergangenheit hat es auch gezeigt -, dass der deutsche Arzneimittelmarkt in Europa
von so großer Bedeutung ist, dass die Arzneimittelhersteller in der Regel das Absenken des Preises auf den
Festbetrag für sich selbst als wirtschaftlicher und betriebswirtschaftlich sinnvoller erachten als das Aufrechterhalten eines hohen Preises, was ja zur Folge hätte, dass
sie kaum Umsätze machen würden. Es kann natürlich
Unternehmen geben, für die es interessant ist, bei bestimmten Präparaten den Preis hochzuhalten. Auch diese
Unternehmen wollen das Auslandsgeschäft nicht gefährden. Um nun aber die Möglichkeit zu haben, die Versicherten in der Bundesrepublik Deutschland trotzdem mit
den eigenen Präparaten zu versorgen, ermöglichen wir
das Abschließen von Rabattverträgen. Ob sich das insgesamt auf das Preisgefüge auswirken wird, können wir
heute nicht abschließend beurteilen. Deshalb finden sich
ja im Gesetzentwurf und in den Entschließungsanträgen
Aufforderungen an das Parlament, diesen Prozess zu beobachten.
An dieser Stelle muss man aber der FDP auch noch
etwas anderes zurufen: Wenn wir nie etwas Neues ausprobieren
({0})
und keine Möglichkeiten eröffnen, um neue Instrumente
auszuprobieren, dann treten wir auf der Stelle.
({1})
Deshalb wollen wir neuem Denken eine Chance geben.
Während wir das angehen, werden wir es sorgsam überprüfen und begleiten. Stillstand ist nicht das, was die
Union auszeichnet. Deshalb wollen wir auch hier neue
Wettbewerbsinstrumente zur Anwendung kommen lassen.
({2})
Ich will noch einmal auf das Stichwort Innovation zurückkommen. Wir haben diesbezüglich im Gesetzentwurf weitere Verbesserungen, insbesondere was den therapeutischen Nutzen anbelangt, festgelegt. Dieser
Nutzen kann sich in der Praxis für die Patienten durch
eine Verbesserung der Lebensqualität darstellen. Er kann
sich auch auf einzelne Patientengruppen mit bestimmten
Indikationen erstrecken. Wenn die Verbesserungen nicht
mit klinischen Endpunktstudien, bezogen auf Mortalität
und Morbidität, nachgewiesen werden können, sind
künftig auch andere Studien, die zur Verfügung stehen,
zulässig. Das sind wichtige Erfordernisse, um den Innovations- und Forschungsstandort Deutschland zu stärken.
({3})
Darüber hinaus haben wir neue Regelungen für die
Naturalrabatte vorgesehen. Ich will nur noch kurz darauf eingehen. Die Gewährung von Naturalrabatten an
Offizinapotheken, Krankenhausapotheken und Tierärzte
durch Pharmaunternehmen wird ausgeschlossen. Das
heißt, die Gewährung von unentgeltlichen Packungen eines apothekenpflichtigen Arzneimittels ist künftig nicht
mehr möglich. Möglich bleiben aber Verhandlungen mit
dem Hersteller oder Händler über Mengen und Preise sowie Skonti. Egal ob im Krankenhaus, beim Tierarzt oder
im nicht verschreibungspflichtigen Bereich der Apotheke, es besteht keine Regelung für einen einheitlichen
Verkaufspreis in diesem Sektor.
Frau Kollegin, Sie denken bitte an die Zeit.
Ja. - Das Naturalrabattverbot und die Zertifizierung
von manipulationsfreier Praxissoftware sind ein Anreiz
zu höherer Transparenz bei der Verordnung und der
Preisgestaltung. Damit kommen niedrigere Preise zum
ersten Mal der Solidargemeinschaft zugute. Das war
vorher nicht der Fall. Deshalb ist auch dies ein wichtiger
Beitrag, den dieses Gesetz leistet.
Nicht alles ist neu; viele Instrumente kennen wir. Die
Handhabung erfordert von allen Beteiligten Augenmaß
und Verantwortungsbewusstsein. Das fordere ich von allen ein.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Frank Spieth
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Widmann-Mauz benutzte einen Vergleich mit
Hähnen. Sie sprach davon, dass einige Hähne meinten,
um sie würde die Sonne kreisen. Ich will einen anderen
Bezug herstellen. Es gibt einen alten Spruch, der da lautet: Kräht der Hahn morgens auf dem Mist, ändert sich
das Wetter oder es bleibt, wie es ist. - Ein wenig kommt
mir das auch bei diesem Gesetzentwurf so vor, um das
einmal klar und deutlich zu sagen.
({0})
Das Gesetzgebungsverfahren zum AVWG lässt aus
meiner Sicht schlimme Ahnungen in Bezug auf die weiteren gesundheitspolitischen Projekte der großen Koalition aufkommen. Das Ministerium macht einen Entwurf,
der, weil er nicht passt, von der CDU/CSU einkassiert
und anschließend verschlimmbessert als neuer Entwurf
präsentiert wird. Alle Akteure kritisieren die Unzulänglichkeit dieses dann gemeinsamen Entwurfes und weisen
auf die handwerklichen Fehler hin. Es gibt massenhaft
Proteste. Daraufhin - immerhin - erfolgen vor der abschließenden Beratung noch schnell Korrekturen. Im
Ausschuss werden diese Änderungsanträge - allerdings
ohne dass man wirklich Zeit hätte, die Argumente ausreichend zu bewerten ({1})
durchgepeitscht, sodass dem Bundestag heute der Gesetzentwurf zur Beschlussfassung vorgelegt werden
kann.
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz wird
nach meiner Überzeugung bei den Arzneimittelausgaben
nur ein begrenzter Effekt erreicht und im Kern schon
wieder die nächste Reform mit verankert. Das ist die
Realität. Hoffentlich wird dieses Verfahren nicht zur
Blaupause für die Gesundheitspolitik in der laufenden
Legislaturperiode.
({2})
Die Probleme bei der Preisgestaltung werden nach
unserer Überzeugung eben nicht grundsätzlich angepackt, geschweige denn gelöst. Die Kostenentwicklung
wird lediglich kurzfristig und sehr gering gebremst. Die
Einsparungen werden am Ende durch die Mehrwertsteuererhöhung im Wesentlichen wieder aufgefressen. Dies
hat die Anhörung ganz deutlich erbracht. Ich bin überzeugt, dass hier die Pharmalobby in doppelter Weise hervorragende Arbeit geleistet hat.
({3})
Es ist zwar nachvollziehbar, das Konzept für die Tagestherapiekosten zu modifizieren. Dennoch muss unsere Bewertung an dieser Stelle negativ ausfallen. Die
Bonus-Malus-Regelung ist weiterhin vorhanden. Sie
belohnt im Zweifelsfall die Unterversorgung
({4})
und belastet aufgrund des entstehenden Misstrauens - das
sagen eben nicht nur Ärzte, sondern auch die chronisch
Kranken, die Selbsthilfeorganisationen und die Sozialverbände - das Arzt-Patienten-Verhältnis.
({5})
- Wir haben den Gesetzentwurf sehr genau gelesen und
ausführlich darüber diskutiert.
({6})
Wir meinen, dass es zu dem, was auf den Weg gebracht wird, eigentlich nur eine wirksame Alternative
gibt, nämlich die seit Jahren zunächst immer wieder geschredderte und danach von allen Beteiligten geforderte
Positivliste.
({7})
Denn die Positivliste, Frau Widmann-Mauz, führt zu
mehr Durchblick bei den Ärzten und auch bei den Patienten hinsichtlich ihrer Behandlung. Die Kassen werden die Preisgestaltungsmöglichkeiten und die Kostenentwicklung nachvollziehen können. Auch die Hersteller
wissen genauer, auf was sie sich einlassen werden. Die
Einführung der Positivliste wird am Ende also zu einer
deutlich besseren Versorgung führen.
Wir werden mit einer Positivliste eine gute Arzneimitteltherapie sicherstellen. Die Auswahl zwischen zigtausenden Präparaten ist nicht mehr erforderlich. Ich
sage auch: Durch eine Positivliste werden die Naturheilmittel ebenfalls erfasst. Diese Liste könnte durch das
IQWiG erstellt und ständig aktualisiert werden.
({8})
Ich wundere mich nicht darüber, dass Sie von der
CDU/CSU an dieser Stelle heftig intervenieren. Denn
meine letzten Aussagen sind auch in Veröffentlichungen
des Bundesgesundheitsministeriums zum Thema Positivliste von vor wenigen Jahren zu finden. Wir schließen
uns dieser Position grundsätzlich an.
({9})
Wir weisen darauf hin, dass wir neben der Einführung
der Positivliste auch endlich die Halbierung des Mehrwertsteuersatzes für Pharmaprodukte brauchen. Es ist
doch überhaupt nicht nachvollziehbar - ich bin kein
Tierfeind -, dass in unserem Land für Hundefutter nur
der halbe Mehrwertsteuersatz erhoben wird, während
man für verschreibungspflichtige Arzneimittel nach wie
vor den vollen Mehrwertsteuersatz verlangt.
({10})
Wir brauchen eine Politik, die zum sozialen Ausgleich zurückkehrt. Wir wollen eine Krankenversicherung, in der alle Bürgerinnen und Bürger - unabhängig
von ihrem Einkommen - einen Anspruch auf eine qualifizierte medizinische Versorgung haben. Wir meinen,
dass eine Krankheit nicht zum humanitären und finanziellen Risiko werden darf.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgitt Bender,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Vertreterinnen und Vertreter der Koalition haben ausführlich
dargelegt, wie lange man über den Gesetzentwurf beraten und um Formulierungen gerungen habe. Das kann
ich aus Sicht eines Ausschussmitglieds der Opposition
bestätigen.
({0})
Es gab eine ständige Begleitmusik, nämlich allgemeines Zähneknirschen. Man hat richtig gehört, wie zwischen der SPD und der Union und manchmal auch innerhalb der einzelnen Fraktionen um Positionen gerungen
wurde. Es ging nicht wirklich darum, bessere Lösungen
zu finden. Im Grunde genommen hatte die Gesichtswahrung Vorrang vor der Suche nach überzeugenden Regelungen.
({1})
Wenn dies das Muster ist, nach dem die Koalition die
immer wieder angekündigte Gesundheitsreform stricken
will, dann kann ich nur sagen, dass das kein Vertrauen in
die Reformfähigkeit dieser Koalition geschaffen hat.
({2})
An diesem Gesetz ist nichts wirklich besser geworden. Ich habe Ihnen in der ersten Lesung vorgehalten,
dass Sie durch eine Änderung der Festbetragsregelung
der Strategie der Pharmaindustrie, Scheininnovationen
auf den Markt zu bringen, Tür und Tor öffnen.
Was haben Sie jetzt gemacht? Sie haben in die Begründung geschrieben, so sei es nicht gemeint. Soll ich
das als Verbesserung ansehen? Sie haben - bei wohlwollender Interpretation - Rechtsunklarheit geschaffen.
({3})
Auch dies kann man nicht als Verbesserung bezeichnen.
Es bleibt dabei, dass Sie den Mittelstand mit einem
10-prozentigen Rabatt für die Generikahersteller in die
Bredouille bringen und damit am Ende den Wettbewerb,
den Sie angeblich wollen, beeinträchtigen.
({4})
Auch die Bonus-Malus-Regelung wurde nicht wirklich verbessert. Jetzt soll man - so sagen Sie in der Begründung - Durchschnittskosten je definierter Dosiereinheit - sozusagen die drei D - festlegen. Sie schaffen
damit hohen Verwaltungsaufwand im Vorfeld und hohen
Verwaltungsaufwand bei der Kontrolle und bewirken
viel Ärger bei denjenigen, die diese Regelung umsetzen
sollen. So wird es nicht funktionieren.
({5})
Auch die Alternative, dass die Selbstverwaltung dies
regeln kann, verlagert die Konflikte nur in Richtung
Selbstverwaltung. Strukturell haben Sie nichts verändert.
Frau Widmann-Mauz würde gern eine Zwischenfrage
stellen.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Frau Kollegin Bender, Sie haben gerade dargestellt,
dass wir bei der Festlegung von durchschnittlichen Kosten je Dosiereinheit nur in der Begründung eine Veränderung vorgenommen hätten. Wollen Sie zur Kenntnis
nehmen, dass in Abs. 7 a des § 84 SGB V eindeutig und
klar geregelt wird, dass - ich zitiere - „bei der Festlegung der Durchschnittskosten je definierter Dosiereinheit Besonderheiten unterschiedlicher Anwendungsgebiete zu berücksichtigen sind“? Wollen Sie mir
bestätigen, dass es eine gesetzliche Vorgabe ist, diese
Besonderheiten zu berücksichtigen, und Ihre Interpretation sehr tendenziös war?
({0})
Ich bestätige Ihnen gerne, dass Sie den Gesetzestext
geändert haben. Aber das Gesetz ist dadurch nicht besser
geworden. Das ist meine Kritik.
({0})
Wahr ist - das ist immer Ihr Ausgangspunkt, Herr
Kollege Zöller -, dass natürlich von den Ärzten abhängt,
was verschrieben wird. Nur, man kann die Ärzte nicht
allein lassen und sie nur den Informationen der Pharmareferenten aussetzen. Man braucht eben andere Rahmenbedingungen. Das ist zum einen Aufgabe der kassenärztlichen Vereinigungen. Sie müssen eine ordentliche
Beratung anbieten. Man kann und muss aber auch die
Kassen stärker einbinden. Es bräuchte zudem gewisser
Rahmenbedingungen, damit eine Kosten-Nutzen-Bewertung durchgeführt werden kann, damit die Ärzte wissen, was sie tun. Das wäre unserer Ansicht nach der bessere Weg.
Ein besserer Weg wäre es auch, wenn man das Vertragsgeschehen insgesamt stärkt und mehr Verhandlungen zwischen Arzneimittelherstellern und Kassen auch
unter Einschluss der Apotheken einführt. Wettbewerb ist
letztlich das Instrument, das auch in der Krankenversicherung gelten muss.
Solange dies nicht umfassend gewährleistet ist, sind
Preisregulierungsmechanismen wie Festbeträge notwendig. Wir bedauern, dass Sie diese Regelung verschlechtert haben. Unserer Ansicht nach müsste es darum gehen, die Patienten stärker einzubeziehen und damit zu
einer guten Bewertung des Zusatznutzens zu kommen.
Meine Damen und Herren, ohne stärkeren Wettbewerb in diesem Bereich werden wir kein gutes Gesundheitssystem bekommen. Man kann nicht allen Ineffizienzen, die es gibt, hinterheradministrieren. Ich hoffe,
meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition:
Wenn Sie diesen Gedanken schon nicht in dem vorliegenden Gesetz berücksichtigt haben, dann sollten Sie ihn
zumindest als Leitlinie für die Gesundheitsreform beachten. Denn es gibt einiges zu tun in diesem Sektor.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Caspers-Merk.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über den Beitrag der Kollegin Bender bin ich etwas verwundert. Denn, Kollegin Bender, Sie haben zunächst
ausgeführt, wofür Sie nicht sind und wogegen Sie Bedenken haben. Man muss der deutschen Öffentlichkeit
natürlich aber auch sagen, was wäre, wenn man dieses
Gesetz ablehnt. Wenn man dieses Gesetz ablehnt,
({0})
dann ist man dagegen, dass künftig manipulationsfreie
Praxissoftware benutzt wird.
({1})
Wir beenden nämlich ab einem bestimmten Stichtag die
schlimme Praxis - sie wurde durch den „Stern“ aufgedeckt -, dass Generikafirmen Praxissoftware sponsern
und dadurch verzerrt verschrieben wird. Damit machen
wir Schluss. Dazu haben Sie kein Wort gesagt.
Wer gegen dieses Gesetz ist, ist dagegen, dass Patienten und Patientinnen zukünftig keine Zuzahlungen mehr
leisten müssen, wenn sie sich Arzneimittel verschreiben
lassen, deren Preis um mindestens 30 Prozent niedriger
als der Festbetrag ist. Es ist das erste Mal, dass wir Patienten von der Zuzahlung freistellen und es den Kassen
ermöglichen, hierzu einen einheitlichen Vorschlag zu
machen.
({2})
Sind Sie also dagegen, dass die Patienten entlastet werden?
Wer gegen dieses Gesetz ist, der will nicht, dass die
unsägliche Praxis der Gewährung von Naturalrabatten an Apotheken aufgehoben wird, die sich momentan
in einer Größenordnung von circa 500 Millionen Euro
bewegen. Wer dagegen ist, will nach wie vor, dass dieses
Geld bei den Apotheken verbleibt und nicht den Krankenkassen zukommt, wo es eigentlich hingehört.
({3})
Diese drei Elemente haben Sie nicht ausreichend
gewürdigt. Aber darum geht es bei diesem Gesetzgebungsvorhaben auch. Wir sollten einmal gemeinsam
feststellen, dass diese Elemente Bestandteil früherer Diskussionen im Fachausschuss waren. Deswegen war klar,
dass sich diese Bereiche im Gesetz wiederfinden müssen. Wir sollten auch gemeinsam darüber reden.
Es stimmt, dass es unterschiedliche Auffassungen zu
den Festbeträgen und zur Bonus-Malus-Regelung gibt.
Man sollte aber bitte schön bei der Wahrheit bleiben.
Tatsache ist: Das Verordnungsverhalten der Ärztinnen
und Ärzte ist in der Bundesrepublik Deutschland sehr
unterschiedlich; die Kollegin Volkmer hat darauf hingewiesen. Am sparsamsten verordnen die Ärztinnen und
Ärzte in Bayern und Schleswig-Holstein, auf Platz drei
liegt Baden-Württemberg. In anderen Bundesländern
wird deutlich teurer verordnet.
Herr Kollege Bahr, es stimmt nicht, dass das nur ein
Thema zwischen Ost und West ist.
({4})
Schauen Sie sich die Statistik, die ich Ihnen zugestellt
habe, einmal genau an. Brandenburg ist hier unterdurchschnittlich. Es lohnt sich also, wenn eine gute Beratung
erfolgt und wenn die Selbstverwaltung den Ärzten gute
Informationen an die Hand gibt. Wenn alle Ärzte so verordnen würden wie die Ärzte in Schleswig-Holstein und
Bayern, hätten wir im Arzneimittelbereich 2 Milliarden
Euro gespart, und zwar ohne dass den Patientinnen und
Patienten Medikamente fehlen. Denn weder ist die Lebenserwartung in Schleswig-Holstein und Bayern geringer noch werden die Patienten dort nicht versorgt.
({5})
Auch das muss man der Öffentlichkeit einmal sagen.
Wir wollen hier ein Steuerungsinstrument, durch das
die ärztliche Verantwortung gestärkt wird. Wir haben
zwei Optionen. Die erste Option ist, dass es die Selbstverwaltung künftig in der Hand hat, die Medikamentenkosten selbst zu steuern. Wir stellen ihr dies frei.
({6})
Sie waren es doch, die immer gesagt haben, die Selbstverwaltung müsse gestärkt werden. Warum würdigen Sie
dann nicht, dass wir ihr jetzt die Möglichkeit geben, genau das zu tun? Nur wenn dies nicht greift, kommt es zur
gesetzlichen Bonus-Malus-Regelung.
Hier wird immer so getan, als komme der Bonus dem
Arzt individuell zugute. Das stimmt nicht. Ein Blick ins
Gesetz erleichtert die Wahrheitsfindung. Die Boni kommen den kassenärztlichen Vereinigungen zu und werden
von dort wieder verteilt, gerade um den Arzt gegenüber
dem Vorwurf in Schutz zu nehmen, er verhalte sich so,
um den Bonus einzustecken.
({7})
Wir haben doch reagiert. Man sollte draußen nichts anderes erzählen.
Nun stellt sich die Frage, wie man eine Medikamententherapie wirtschaftlich misst. Mit dem von uns gewählten Konzept haben wir auf ein WHO-Konzept zurückgegriffen. Dieses Konzept, Frau Kollegin Bender,
ist schon im GMG verankert; das haben Sie gemeinsam
mit uns verabschiedet. Es ist nichts Neues, keine neue
bürokratische Herausforderung.
({8})
Im GMG steht bereits, dass man die Wirtschaftlichkeit
aufgrund dieses Instruments ermitteln kann.
Weil auch auf den Bildschirmen in den Berliner U-Bahnen Unsinn verbreitet wird, will ich noch einmal auf das
Konzept eingehen: Es gängelt den Arzt weder bezüglich
der Anzahl der verordneten Pillen noch bezüglich der
Zahl seiner Patienten. Hier ist der Arzt nach wie vor frei.
Das Konzept regelt aber, dass der Arzt, wenn er sich für
einen Wirkstoff entschieden hat, in die Wirkstoffgruppe
schauen und dann das wirtschaftlichere Medikament
verordnen muss. Verantwortungsvolles wirtschaftliches
Handeln und Therapiefreiheit gehören unteilbar zusammen.
({9})
Verantwortliche Ärzte - das ist die Mehrheit - tun das
bereits. Deshalb müssen wir die Mehrheit der Ärzte bei
dem unterstützen, was sie bereits tun, müssen ihnen
mehr Informationen zur Verfügung stellen und uns öffentlich dagegen verwahren, dass mit unsachlichen und
unqualifizierten Äußerungen eine Kampagne gefahren
wird, die jeglicher Grundlage entbehrt.
({10})
Es wäre wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass Sie sich an der Sachaufklärung beteiligen und nicht
weiterhin bewusst die Unwahrheit sagen. Ich wiederhole
noch einmal: Wir wollen eine Steuerung der Arzneimittelkosten. Hierbei wollen wir die Ärzte an unserer
Seite wissen. Wir möchten sie besser informieren und
wir möchten mehr Transparenz und Wirtschaftlichkeit
im Versorgungswesen.
({11})
Nicht gewürdigt wurde, dass zum ersten Mal - hier
bin ich den Koalitionsfraktionen sehr dankbar - die
Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung in einem Gesetzentwurf angegangen wird. Die
niedergelassenen Ärzte warten seit Jahren darauf. Diese
sagen, dass die aus den Krankenhäusern entlassenen Patientinnen und Patienten oft mit der Verordnung eines
sehr teuren Medikaments zu ihnen kommen. Wir wollen,
dass hier zukünftig stärker zusammengearbeitet wird
und bei der Entlassmedikation die Wirtschaftlichkeit in
den Vordergrund gestellt wird.
Herr Kollege Bahr, dazu gibt es eine sehr interessante
Studie
({12})
von Ärzten in Lübeck. Ich stelle sie Ihnen gerne zur Verfügung.
({13})
Es wurden 400 Hausärzte bezüglich der Entlassmedikation befragt. 70 Prozent antworteten, dass der Arztkurzbrief bzw. der Arztbrief keine Informationen zu vergleichbaren Wirkstoffen enthalte. Vielmehr würden
teilweise außer dem Namen des Originalpräparats überhaupt keine Informationen gegeben. Wenn wir hier für
mehr Transparenz und Wirtschaftlichkeit bei der Veränderung dieser Schnittstelle sorgen,
({14})
tun wir das zum Wohle der Patientinnen und Patienten
und weil wir glauben, dass wir damit im System enthaltene Effizienzreserven erschließen können.
Wer wie Sie diese unverantwortliche Kampagne unterstützt, versündigt sich auch ein Stück weit an den
Patientinnen und Patienten
({15})
und sorgt dafür, dass nicht fair und sachlich über das
Thema Arzneimitteltherapie diskutiert wird.
Schönen Dank.
({16})
Das Wort hat der Kollege Jens Spahn, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Ich möchte kurz fünf Anmerkungen zum vorliegenden
Gesetzentwurf machen.
({0})
Zum Ersten geht es um die Ausgangslage. Angesichts
drohender Beitragssatzsteigerungen und Kostensteigerungen möchten wir jetzt, um Beitragssatzsteigerungen
zu vermeiden
({1})
- das ist das, was Sie in Ihrer Kritik ausblenden -, erst
einmal sparen, um im Sinne niedriger Lohnnebenkosten
und der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft die Beiträge gering zu halten.
({2})
Damit bin ich bei meiner zweiten Anmerkung. Ich
kann insbesondere der FDP - der Oppositionsführung,
wie Sie sich immer nennen - nur bedingt folgen. Sie sagen immer nur: Nein, das wollen wir nicht und das wollen wir auch nicht. Gleichzeitig haben Sie Vorschläge,
die Ausgabenerhöhungen bedeuten würden, so etwa bezüglich der Finanzierung der Ärzte und der Krankenhäuser. Das kann man alles wollen; aber zur Wahrheit gehört
dazu, den Versicherten und Patienten zu sagen, dass das
mehr kostet. Diesen Teil jedoch lassen Sie in der Diskussion immer weg.
({3})
Herr Kollege Spahn, möchten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Bender zulassen?
({0})
Bitte schön.
Herr Kollege Spahn, Sie sprachen davon, dass Beitragssatzsteigerungen in der gesetzlichen Krankenversicherung drohen könnten. Sind Sie bereit, zuzugeben,
dass solche Beitragssatzsteigerungen durch Ihre Politik
drohen könnten,
({0})
weil die Koalition entschlossen ist, den Steuerzuschuss
in Höhe von 4 Milliarden Euro aus der GKV herauszuziehen,
({1})
und im Übrigen durch die Mehrwertsteuererhöhung ein
Kostenrisiko von etwa 800 Millionen Euro zusätzlich
schafft?
({2})
Ich bin bereit, zuzugeben, dass in der Zukunft weitere
Beitragssatzerhöhungen drohen können.
({0})
Aber es geht erst einmal um die Situation, wie sie sich
heute darstellt.
({1})
Es geht darum, dass wir bis zum Jahreswechsel die Kosten und die Beitragssätze im Griff behalten müssen, verehrte Frau Kollegin Bender.
Insbesondere in den Entschließungsanträgen der Grünen und der FDP werden an der einen oder anderen
Stelle grundlegende Veränderungen gefordert. Selbst
wenn Sie grundlegende Veränderungen bekämen, kämen
die nicht von heute auf morgen. Sie müssten mit der Situation, wie wir sie heute haben, umgehen und auf jeden
Fall darlegen, wie Sie die Beitragssätze stabil halten
wollen,
({2})
oder aber, wie ich es gerade schon erwähnte, den Versicherten ehrlich sagen - das sollten auch all die, die zu
Demonstrationen aufrufen -, dass es am Ende mehr kosten wird.
Meine dritte Anmerkung ist die, dass viele der Maßnahmen im Sinne der Beitragssatzstabilität natürlich
nicht schön, aber notwendig sind, etwa wenn es um ein
Preismoratorium oder Zwangsrabatte geht. Wir haben in
der Frage der Festbetragsregelung eine Berichtspflicht
eingebaut. Ich bin gern dazu bereit - und ich glaube, die
Koalition ist es auch -, im Zuge des Berichtes über all
die Instrumente, die uns im Arzneimittelbereich zur Verfügung stehen, zu sprechen und zu schauen, welches davon unser Ziel effektiv erreicht und am Ende in klare
und deutliche Regelungen umgesetzt werden kann.
Zu der Bonus-Malus-Regelung und den Veränderungen, die insbesondere in den letzten Tagen vorgenommen wurden und die in den öffentlichen Darstellungen
sowohl im Parlament wie außerhalb des Parlamentes
vielfach nicht gewürdigt worden sind, hat die Kollegin
Widmann-Mauz schon einiges gesagt. Ich finde den Hinweis sehr wichtig, dass es die Möglichkeit gibt, vor Ort
von den Regelungen abzuweichen und eigene Regelungen zu treffen, die unserem Ziel, die Kosten in vertretbaJens Spahn
rem Maße - es geht ja nicht darum, dass es überhaupt
keine Kostensteigerung geben darf - zu halten, gerecht
werden.
({3})
Die Regelung berücksichtigt Besonderheiten bei bestimmten medizinischen Notwendigkeiten. Wenn es um
Wirkstoffe geht, tragen wir in jedem Fall dem Bedürfnis
nach Therapiefreiheit Rechnung; das wollen wir auch.
Viertens möchte ich die guten Ansätze, die dieses Gesetz beinhaltet und die auch Sie unterstützen müssten,
unterstreichen. Es geht um den Preiswettbewerb im Bereich der nicht verschreibungspflichtigen Medikamente, im OTC-Bereich, in dem wir die Naturalrabatte
verbieten. Es gehört auch zur Wahrheit, dass Preis- und
Mengenrabatte in diesem Bereich in Zukunft vollumfänglich möglich sind. Das müssten Sie doch mit kommunizieren. Wir erhoffen uns, dass die möglichen Dimensionen innerhalb der Preisbildung nicht nur bei
denen, die in der Leistungserbringung oder in den Vertriebsstrukturen sind, ankommen, sondern auch bei den
Versicherten. Denn eine Preissenkung hat es in diesem
Bereich bis jetzt nicht gegeben.
({4})
Beim Punkt Innovation stellt sich die Frage: Was ist
therapeutische Verbesserung und welche Studien sind
vorzulegen? Es geht nicht nur um Endpunktstudien, wie
sie etwa im Bereich HIV nur bedingt sinnvoll sind, wenn
es um neue Medikamente geht, sondern eben auch darum, dass es möglich sein muss, international anerkannte
Studien vorzulegen. Damit wird im Übrigen den Anliegen chronisch Kranker Rechnung getragen. Sie, die
Linke, sind dafür bekannt, dass Sie immer gern und viel
auf die Pharmaindustrie schimpfen; so haben Sie es auch
gerade getan. Aber gerade chronisch kranke Menschen
profitieren doch davon, dass es Innovationen und neue
Medikamente gibt.
({5})
Deswegen müssen wir zwischen den Innovationen, die
uns tatsächlich nach vorne bringen und eine bessere Behandlung von chronisch kranken Menschen ermöglichen, und denen, die das eher nicht tun, sauber trennen.
Fünftens und abschließend möchte ich sagen, dass
dies natürlich ein Gesetz ist, das noch ein Stück weit in
der alten Tradition von Spargesetzen steht, die vor allem
unter dem Druck des Beitragssatzes entstehen.
Deswegen lade ich Sie alle herzlich ein, gemeinsam
mit uns an einer großen Reform zu arbeiten, die dem
Ziel näher kommt, aus dieser Beitragssatzdynamik und
dieser Kostensenkungsdynamik herauszukommen, lohnunabhängiger zu finanzieren, mehr Wettbewerb, vor allem mehr Wettbewerb um Qualität, zuzulassen und
damit das Potenzial, das schon heute angesichts von
4,2 Millionen Beschäftigten in dieser Branche liegt, zu
steigern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
wenn Sie heute dabei helfen, den Beitragssatz stabil zu
halten und die Ausgaben in den Griff zu bekommen, und
wenn Sie morgen dabei helfen, dieses Thema grundsätzlich anzugehen, dann tun Sie ein gutes Werk.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Gesetzentwurf zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit
in der Arzneimittelversorgung auf Drucksache 16/194.
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Ziffer 1
seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 16/691,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Unter Ziffer 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der FDP
und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Entschließungsantrag der FDP auf Drucksache 16/697.
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Damit ist dieser Entschließungsantrag mit den Prostimmen der FDP bei Enthaltung des Bündnisses 90/Die
Grünen und bei Gegenstimmen im Rest des Hauses abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/698. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit
ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt. Dafür haben
die Abgeordneten der Fraktion Die Linke gestimmt. Dagegen haben die Abgeordneten von FDP, CDU/CSU und
SPD gestimmt. Enthalten hat sich die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/699. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist abgelehnt
bei Prostimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen, Enthaltung der Fraktion Die Linke und Gegenstimmen im Rest des Hauses.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Damit rufe ich Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Dr. Thea Dückert, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Progressiv-Modell statt Kombilohn
- Drucksache 16/446 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Interfraktionell ist für die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze
einzunehmen bzw. ihre Wochenendverabredungen draußen zu treffen.
({1})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Aus
dem Problem der Massenarbeitslosigkeit ist in Deutschland leider längst eine Dauerkatastrophe geworden.
({0})
Diese Dramatik wird noch dadurch gesteigert, dass die
Zahl der Langzeitarbeitslosen ständig zunimmt. Dabei
handelt es sich um eine Gruppe, die überwiegend sehr
schlecht ausgebildet ist oder gar keine Ausbildung hat.
Aufgrund der wirklich mangelhaften Ausbildungs- und
Bildungssituation in Deutschland steigt die Zahl der
Langzeitarbeitslosen leider von Jahr zu Jahr. Parallel
dazu schwinden die Arbeitsplätze, insbesondere solche
mit einfachen Anforderungen. Deshalb muss es vor allen
Dingen um eines gehen: zu klären, wie wir die Voraussetzungen dafür schaffen können, dass insbesondere für
die Gruppe der gering Qualifizierten Beschäftigungsangebote entstehen.
({1})
- Herr Kolb, die FDP-Fraktion hat in Deutschland sehr
lange mitregiert.
({2})
- „Das waren gute Zeiten“? Herr Kolb, über Ihre Definition davon, was gute Zeiten sind, müssen wir hier noch
einmal reden. Jedenfalls ist das, was damals gut war,
({3})
heute offensichtlich schlecht. Sie hängen doch Ihre
Fahne nach dem Wind!
Die Hauptursache für den Mangel an solchen Arbeitsplätzen muss in den hohen Sozialversicherungsbeiträgen
gesehen werden. Diese sind übrigens auch unter
Schwarz-Gelb ständig angestiegen, Herr Kolb!
({4})
Die hohen Lohnnebenkosten machen diese Arbeitsplätze für die Arbeitgeber unwirtschaftlich und für die
Arbeitnehmer unattraktiv. Das Ergebnis ist ein ständiges
Anwachsen der Schwarzarbeit.
({5})
Wir schlagen mit unserem Progressivmodell vor, die
Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich gezielt zu senken, und zwar nicht um 1 oder 2 Prozentpunkte - das würde gar keine Wirkung entfalten -, sondern nach der Formel „Je geringer das Einkommen,
desto geringer auch die Sozialabgaben“. Wir glauben,
dass wir damit insbesondere im unteren Lohnbereich
deutlich bessere Ergebnisse erzielen werden, als es mit
dem von der CDU favorisierten Kombilohnmodell je
möglich wäre.
Wir lehnen dieses Kombilohnmodell übrigens nicht
aus ideologischen Gründen ab. Sie können sich vielleicht noch daran erinnern, dass wir Grünen seinerzeit
dafür waren, Kombilohnmodelle auszuprobieren. Aber
wir müssen nach der Probephase zur Kenntnis nehmen,
wie die Ergebnisse sind:
({6})
Die Ergebnisse sind grottenschlecht.
({7})
Deswegen sage ich Ihnen: Lassen Sie die Finger davon!
Wir wissen doch inzwischen, dass Kombilohnmodelle
geradezu absurd teuer sind: Je nach Ausgestaltung kosten sie 35 000 bis 70 000 Euro pro Jahr.
({8})
Das ist ein Vielfaches von dem, was die Leute in diesem
unteren Lohnbereich verdienen.
Kombilohnmodelle setzen außerdem falsche Anreize:
Wir haben die berechtigte Sorge, dass durch diese Modelle Arbeit generell zu subventionierter Arbeit würde.
Das können wir nicht wollen. Kombilohnmodelle, zumindest in großem Umfang, sind in Deutschland gescheitert; das ist das Ergebnis.
Mit dieser Skepsis stehen wir Grünen wahrlich nicht
alleine da. Dass wir uns allerdings in Gemeinschaft mit
der FDP wieder finden, lässt mich noch einmal darüber
nachdenken, ob wir uns richtig positioniert haben.
({9})
Wenn aber die Bundesagentur für Arbeit dagegen ist,
wenn die Arbeitgeberverbände, die Gewerkschaften, die
Mitglieder des Sachverständigenrates und große Teile
der SPD-Fraktion dagegen sind, dann muss doch klar
sein: Die Einführung von Kombilohnmodellen wäre ein
großer Fehler.
({10})
Sie müssen bitte zum Schluss kommen, Frau
Pothmer.
Ich komme zum Schluss.
Ich will nur noch darauf hinweisen, dass bei der Einführung unseres Progressivmodells auch die Mini- und
die Midijobs, deren Fehler sich im Rahmen der Evaluierung von Hartz IV gezeigt haben, integriert wären. Damit hätten wir den Vorteil, dass alle, die in diesem Bereich arbeiten, sozialversichert wären - ab dem ersten
Euro. Das ist sicher nicht umsonst zu haben; nach unseren Schätzungen kostet es etwa 13 Milliarden Euro.
Doch das wäre nur ein Bruchteil von dem, was Kombilohnmodelle an Kosten verursachen würden.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Michael Hennrich, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Frau Pothmer, ich fühle mich an alte Zeiten zurückerinnert, als es unter Rot-Grün Schnellschüsse
en masse gab, bei denen dann permanent nachgebessert
werden musste.
({0})
Die SPD hat dazugelernt, sie ist auf den Pfad der Tugend
zurückgekehrt und lässt sich Zeit. Bei Ihnen aber muss
es immer noch schnell gehen.
Sie legen uns heute ein Modell vor, bei dem allenfalls
noch der Name ein gewisses Interesse weckt. Was sich
dahinter versteckt, ist aber eine Luftblase.
({1})
- Doch, dazu kommen wir jetzt gleich noch.
Ich stimme mit Ihnen überein, dass die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit ein ganz zentrales Thema für uns
alle ist. Es ist für die Gesellschaft, für die sozialen Sicherungssysteme in unserem Land, für unsere Finanzen und
in erster Linie für die Menschen in unserem Land ein
zentrales Thema.
Vor einer Woche haben wir den Evaluierungsbericht
zu Hartz I bis III diskutiert. Dieses Projekt wurde von
Rot-Grün auf den Weg gebracht.
({2})
- Wir müssen jetzt ja Rücksicht auf unseren Koalitionspartner nehmen. Deswegen sagen auch wir nur: Es war
nicht ganz so doll.
({3})
- Ja, die zentralen Teile. Bei dem, was gescheitert ist, haben wir eben nicht mitgemacht. Denken Sie nur an die
Personalserviceagenturen: ein Verriss sondergleichen.
Das haben wir vom ersten Tag an angemahnt.
({4})
Jetzt laufen wir wieder in genau die gleiche Richtung.
Der Evaluierungsbericht zu Hartz I bis III sollte uns
deutlich gemacht haben, dass wir jetzt Reformen brauchen, die greifen.
({5})
Da wir Reformen brauchen, die greifen, müssen wir sie
auch sachlich durchdiskutieren und erörtern. Wir müssen
das Pro und Contra abwägen
({6})
und es nicht so machen, wie Sie, nämlich einen Schnellschuss in die Welt setzen und sich dann wieder von der
Diskussion verabschieden.
({7})
- Ja, ja, aber wir sind ja noch am Anfang dieser Legislaturperiode, lieber Herr Kolb.
({8})
Ihre Analyse zum Niedriglohnsektor und zur Beschäftigungsquote ist richtig. Sie sagen, die Beschäftigungsquote im Hinblick auf die Langzeitarbeitslosen
und die Geringqualifizierten ist immer noch zu gering.
Hier sind wir vollkommen d’accord. In einem entscheidenden Punkt liegen Sie meines Erachtens aber falsch.
Wenn Sie sagen, die Lohnzusatzkosten seien der Grund
für die schwache Beschäftigung der Geringqualifizierten
und der Langzeitarbeitslosen, dann haben Sie das Thema
verfehlt. Ich möchte Ihnen das an zwei Beispielen deutlich machen.
Zunächst aus Sicht der Arbeitgeber: Schauen Sie sich
das Grenzgebiet zu Tschechien an. Wenn ein Arbeitnehmer in Bayern 8 Euro verdient, während man hinter der
Grenze in der Slowakei oder in Tschechien vielleicht
zwischen 3 und 5 Euro Lohn erhält, dann spielen Sozialabgaben in Höhe von 10, 15 oder 20 Prozent nur eine absolut untergeordnete Rolle. Dieses Beschäftigungsverhältnis wird nicht attraktiv.
({9})
- Stopp, stopp!
Das zweite Beispiel ist aus Sicht der Arbeitnehmer:
Schauen Sie sich das heutige System mit Hartz IV an.
Ein vierköpfiger Familienvater - ({10})
- Sie wissen, wie ich das gemeint habe. - Schauen Sie
sich einen Familienvater an, dessen Familie vier Personen umfasst - es sind also zwei Kinder, lieber Herr
Kolb - und dessen Stundenlohn, so nehmen Sie an,
9 Euro beträgt. Er arbeitet 160 bis 170 Stunden im Monat. Dadurch kommt er auf einen durchschnittlichen
Bruttolohn von circa 1 500 Euro. Das ist genau der Betrag, den er heute schon durch Hartz IV erhalten würde.
Auch er hat also keinen Anreiz, eine Tätigkeit aufzunehmen, weil er dieses Geld ja bekommen kann, ohne dass
er arbeitet. Auch für ihn spielen die Sozialversicherungsabgaben im Grunde genommen überhaupt keine Rolle. Das sind nur zwei Beispiele, die ich erwähnen wollte.
Jetzt möchte ich aber auch noch ein paar Fragen zu
Ihrem Antrag aufwerfen. Sie haben hier formuliert, dass
zusätzliche Steuergelder in Höhe von 13 Milliarden Euro
erforderlich sind.
({11})
Meine erste Frage lautet: Woher nehmen Sie die?
({12})
- Seien Sie doch bitte mal konkret. Wir wollen hier eine
ernsthafte und seriöse Politik betreiben. Deshalb bitte
ich Sie einmal, diese Frage ganz konkret zu beantworten.
({13})
Meine zweite Frage, Frau Pothmer: Völlig ungeklärt
ist auch, wie sich die Situation im Alter darstellt, wenn
die betroffenen Personen keine Rentenversicherungsbeiträge mehr zahlen. Wer keine Rentenversicherungsbeiträge zahlt, erwirbt auch keine Rentenansprüche.
({14})
- Sie müssen das aber in Bezug zur Erwerbstätigkeit setzen. Wie lösen Sie dieses Problem? Da kommt nur Kopfschütteln und „Weiß ich nicht“.
({15})
Diese Problembereiche zeigen uns deutlich, dass dieser Antrag wenig durchdacht ist. Wie gesagt, damit haben Sie einen Schnellschuss in die Welt abgegeben. Von
seriöser Politik haben Sie leider Gottes Abstand genommen.
({16})
Ich stimme Ihnen völlig zu, dass wir ein Modell brauchen, das Lohndumping eindämmt. Deswegen sollten
die Transferleistungen meiner Meinung nach beim Arbeitnehmer und nicht beim Arbeitgeber ankommen.
({17})
Diese Diskussion müssen und werden wir in der nächsten Zeit seriös führen. Wir haben gesagt, dass wir im
Herbst ein Konzept vorlegen.
Aber ich möchte noch auf einen Punkt ganz deutlich
hinweisen: Wir dürfen nicht dem Irrglauben unterliegen,
zu denken, mit einem Kombilohn- oder Progressivmodell könnten alle Probleme in unserem Land gelöst
werden. Wir brauchen flankierende Maßnahmen, um
Baustellen wie die Deregulierung am Arbeitsmarkt, den
Arbeitsschutz oder den Kündigungsschutz in den Griff
zu bekommen.
({18})
- Ich freue mich, dass Sie applaudieren.
Wir müssen Bürokratie konsequent abbauen. Die
Genehmigungsverfahren sind zu lang. Wer sich heute in
unserem Land selbstständig machen will, braucht für das
Einholen der Genehmigung 46 Tage. In anderen europäischen Ländern - um das einmal zu vergleichen - dauert
das zwischen zwei und zehn Tagen. Das ist ein entscheidender Unterschied. Wir müssen darüber hinaus mehr
Wert auf Qualifizierung und Weiterbildung legen.
Ich habe nur einige Punkte angerissen, um deutlich zu
machen, wo die Baustellen der Zukunft liegen. Sie haben
einen kleinen Teilaspekt herausgegriffen, ohne dies in einem Gesamtzusammenhang zu sehen. Deswegen lehnen
wir Ihren Antrag ab.
({19})
Ich hoffe, Sie kehren auf den Pfad der Tugend zurück.
Konzentrieren Sie sich wieder auf das Wesentliche und
bringen Sie inhaltlich ausgereifte Vorschläge ein!
Herzlichen Dank.
({20})
Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich höre gerade den Zwischenruf „Mehrwertsteuer“ vonseiten der Sozialdemokratie. Sie werden damit leben müssen, dass Sie vor der Wahl etwas anderes
gesagt haben als das, was Sie hinterher machen.
({0})
Natürlich wird auch die Frage der Mehrwertsteuererhöhung in dieser Debatte einen wesentlichen Bestandteil
meiner Ausführungen einnehmen; da können Sie gewiss
sein.
({1})
Nichtsdestotrotz ist der Ansatz, den die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen mit ihrem Antrag verfolgt,
falsch. Sie will die Sozialversicherungsbeiträge im unteren Einkommenssegment absenken und erst ab einem
Bruttoeinkommen von mehr als 2 000 Euro bei Sozialversicherungsabgaben von insgesamt 42 Prozent ankommen. Das ist grundsätzlich falsch, weil die Belastung
von Arbeit mit Steuern und Abgaben in diesem Land
insgesamt zu hoch ist.
({2})
Sie bleiben in dem Korsett, unter dem wir schon jetzt leiden und das unter Ihrer Regierungszeit noch enger geschnürt worden ist - dabei haben Sie die Energiekosten
von Arbeit sogar herausgerechnet -, anstatt zu sagen:
Wir brauchen einfache, niedrige und gerechte Steuern
und wir müssen die Beiträge zu den sozialen Sicherungssystemen in den Griff bekommen.
({3})
Wir Liberale haben in zwei Bereichen Vorschläge gemacht. Wir sind der festen Überzeugung: Kombilöhne
als flächendeckendes Modell werden das Problem der
Massenarbeitslosigkeit gerade für Geringqualifizierte
nicht dauerhaft lösen, auch wenn zum Beispiel ältere Arbeitnehmer durch einzelne solcher Elemente - das entnehmen wir dem Evaluierungsbericht - in einem begrenzten Umfang durchaus wieder integriert werden
können.
Wir müssen den Menschen und den Betrieben mehr
von ihrem selbst verdienten Geld übrig lassen, um so
Möglichkeiten für Investitionen und Konsum zu schaffen. Deswegen haben wir vorgeschlagen und werden es
auch in dieser Legislaturperiode in den Bundestag einbringen: ein einfaches, niedriges und gerechtes Steuersystem mit einem Grundfreibetrag von 7 700 Euro für
jeden Menschen, egal ob klein oder groß, und mit einem
Stufentarif mit drei Stufen von 15, 25 und 35 Prozent.
Das ist einfach: Jeder, der weiß, was er verdient, weiß,
was er an Steuern zu zahlen hat. Die Steuersätze sind
niedrig, sodass jedem Steuerzahler mehr bleibt als bei
der heutigen Regelung,
({4})
und das System ist gerecht, weil 35 Prozent von
50 000 Euro mehr sind als 35 Prozent von 15 000 Euro.
({5})
Wir wollen das alles kombinieren, um die Menschen
zu unterstützen, die derzeit vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden. Statt Kombilöhne zu planen oder ein Progressivmodell zu entwickeln, das nur an den Symptomen
herumdoktert, stellen wir zunächst einmal fest: Es gibt
auf dem deutschen Arbeitsmarkt einen Bereich, der in
der legalen Wirtschaft nicht nachgefragt wird, weil die
Gesamtkosten der Arbeit zu hoch sind. Bestimmte Tätigkeiten werden hier in der legalen Wirtschaft nicht mehr
angeboten.
Weil wir aber wissen, dass dauerhafte Arbeitslosigkeit Freiheitsberaubung ist, wollen wir den Menschen
die Möglichkeit geben, wenigstens einen Teil ihres Unterhalts wieder durch eigene Arbeit zu erwirtschaften.
({6})
Deswegen haben wir das so genannte Bürgergeldmodell vorgeschlagen.
({7})
Wir haben von unserem Herrn Bundespräsidenten eine
bemerkenswerte und für uns sehr erfreuliche Unterstützung bekommen, als er Ende des vergangenen Jahres in
einem Interview im „Stern“ angeregt hat, in Deutschland
über ein System der negativen Einkommensteuer nachzudenken.
In dem von uns vorgeschlagenem Bürgergeldmodell
werden Einkommensteuer und Transfersystem zusammengefasst. In Deutschland gibt es 138 steuerfinanzierte
Transferleistungen - sehr große wie das Arbeitslosengeld II, aber auch sehr kleine wie die Heizkostenbeihilfe.
Diese 138 steuerfinanzierten Transferleistungen werden
von 45 verschiedenen Behörden verwaltet. Wer da noch
durchblickt, ist so clever, dass er die Hilfe nicht braucht.
Wer aber Hilfe braucht, der blickt in dem System nicht
mehr durch. Das müssen wir ändern.
({8})
Deswegen müssen wir die steuerfinanzierten Transferleistungen mit dem Steuersystem verbinden. Wer ein
geringes Einkommen hat, weil seine Arbeit eine geringe
Wertschöpfung aufweist - notwendig sind produktivitätsorientierte Löhne -, dem wird eine negative Einkommensteuer angerechnet. Wer leistungsfähig ist und
Wert schöpfende Löhne erzielen kann, der unterliegt der
Steuerpflicht. Das ist vernünftig, weil wir damit den
Menschen unterstützen statt einen Arbeitsplatz oder Betrieb. Das würde nur zu einem Downgrading der Arbeitsplätze in Bezug auf die Bezahlung und zu Mitnahmeeffekten führen.
({9})
Die Grünen schlagen ein Modell vor, in dem die
Mini- und Midijobs absorbiert werden. Das ist in arbeitsmarktpolitischer Hinsicht Unsinn, weil erstens die
Minijobs nach sieben Jahren rot-grüner Regierung die
einzigen noch verbliebenen flexiblen Möglichkeiten am
Arbeitsmarkt sind. Sie haben nämlich den gesamten Arbeitsmarkt zubetoniert. Es ist auch deshalb Unsinn, weil
zweitens durch die Minijobs zumindest die Schwarzarbeit eingedämmt worden ist. Dadurch haben Menschen wieder Zugang zur legalen Wirtschaft gefunden.
Das Prinzip erklären Sie in Ihrem Antrag auch für richtig, nämlich die Entlastung der Einkommen im Bereich
gering bezahlter Tätigkeiten.
Wir schlagen in unserem Bürgergeldkonzept vor, die
Grenze für Minijobs von 400 Euro auf 600 Euro zu erhöhen und das Ganze in das geplante Steuer- und Transfersystem aus einem Guss zu integrieren, um die Chancen
zur Erwerbsaufnahme im Bereich gering qualifizierter
Beschäftigung in der legalen Wirtschaft im Inland zu erhöhen.
Deswegen können wir dem Modell in seiner jetzigen
Fassung nicht zustimmen.
Vielen herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat Gabriele Lösekrug-Möller, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Seit neun Uhr heute Morgen
verfolgen viele diese Plenardebatte. Was denken sie
wohl über uns? Wenn sie den Wortbeiträgen der Oppositionsparteien zuhören, dann meinen sie sicherlich, dass
heute ein Tag der Vereinfachung ist. Denn Ihre Beiträge
waren von Vereinfachung und Schlichtheit geprägt und
es war auch hin und wieder Nachhilfe nötig. Aber auch
das gehört sicherlich zu einer Plenardebatte.
Es mag aber auch als ein Tag des Verschwendens erscheinen, wenn wir uns in Erinnerung rufen, worüber
wir seit neun Uhr heute Morgen diskutieren: Wir diskutieren aus gutem Grund über arbeitsmarktpolitische
Aspekte und Argumente - es ist bitter nötig, darüber zu
reden -, aber nun steht der Antrag der Grünen zur Diskussion. Sein Titel klingt sehr fortschrittlich; wer kann
schon gegen ein Modell sein, das sich „progressiv“
nennt. Das muss doch wohl Fortschritt pur enthalten.
Aber schon die ersten fünf Punkte machen deutlich, dass
sich das Progressive auf die Überschrift beschränkt.
Frau Pothmer, Sie haben unterstrichen, dass Sie bereits eine klare und abschließende Einschätzung haben.
Wie Sie dazu gekommen sind, weiß ich nicht. Jedenfalls
gehen Sie wohl davon aus, dass es sich nicht lohnt, die
Idee von Kombilöhnen zu verfolgen. Das erscheint Ihnen als kleinliche Lösung. Sie aber sind für den großen
Wurf. Das finde ich gut.
Ich denke, Sie haben sich mit Ihrem Antrag Skandinavien zum Vorbild genommen. Sie glauben sicherlich,
wenn das Modell umgesetzt wird, dann schaffen unsere
Unternehmer viele neue Arbeitsplätze. Der Vorschlag erscheint Ihnen bestechend einfach. Ich sehe ihn in der
Tradition des merzschen Bierdeckelkonzepts. Ich würde
sagen, Ihr Vorschlag passt auf ein Taschentuch oder eine
Serviette. Mein Kollege von der Union hat schon deutlich gemacht, wo überall offene Posten sind. Mit diesen
muss man sich ganz sicher näher beschäftigen.
Ihrem Progressivmodell liegt zugrunde, die Beiträge
zur Sozialversicherung analog zum Steuerrecht zu gestalten, also mit gleitender, stufenloser Steigerung bis zu
einem Beitragssatz von 42 Prozent, wohlgemerkt: 42 Prozent für Arbeitnehmer und Arbeitgeber in toto. Das bekannte Prinzip aus dem Steuerrecht soll übertragen werden. Das klingt sehr einfach. Es bleiben aber ein paar
Kleinigkeiten, beispielsweise die von Ihnen geschätzten
- selbstverständlich dann steuerfinanziert - Kosten in
Höhe von circa 13 Milliarden Euro. Mein Gott! Wer redet schon über eine so läppische Summe? Man ist direkt
versucht, von Peanuts zu sprechen, wenn man die Gewaltigkeit Ihres Entwurfes sieht.
In Ihrem Antrag gibt es aber einen Punkt, in dem Sie
in Ihrer Argumentation absolut unlogisch sind. Sie meinen, mit Ihrem Antrag ausschließlich denjenigen zu helfen, die mit geringer Qualifikation Beschäftigung auf
dem Arbeitsmarkt suchen. Fakt ist aber, dass Ihr Modell
lediglich jene Arbeitsuchenden begünstigt, die ein nicht
so hohes Einkommen haben. Wenn man genauer hinschaut, dann stellt man fest, dass das möglicherweise
zwei verschiedene Personengruppen sind. Ich kenne
viele Kolleginnen und Kollegen - nicht aus dem Bundestag, sondern von meiner alten Arbeitsstätte -, die
durchaus für einen geringen Lohn oder Teilzeit arbeiten,
die aber sehr wohl einer hochwertigen Tätigkeit nachgehen. All diese Arbeitnehmer wären ebenfalls betroffen.
Aber darüber gehen Sie großzügig hinweg. Das heißt,
der Verzicht auf Zielgenauigkeit ist ein wesentliches
Element Ihres Antrages.
({0})
Das Progressivmodell ist keine Alternative zum
Kombilohn. - Auch wenn Sie den Kopf schütteln, Frau
Pothmer, möchte ich Ihnen sagen, worum es eigentlich
geht, wenn wir über Kombilöhne reden. In der Tat haben
wir drei bundesweite, unbefristete Modelle - davon war
schon die Rede -: Minijobs, Midijobs und den anrechnungsfreien Hinzuverdienst zum ALG II. Ich erwähne
das nur, weil diese Details, die für viele den Alltag bestimmen, gelegentlich völlig aus dem Blickfeld geraten.
Darüber hinaus gibt es bundesweite, aber befristete
Kombilöhne: das Einstiegsgeld nach § 29 SGB II, den
Kinderzuschlag, die Entgeltsicherung für Arbeitslose ab
50 sowie Lohnkostenzuschüsse für Langzeitarbeitslose.
Das sei der Vollständigkeit halber einmal erwähnt. Zusätzlich gibt es noch sehr viele regional begrenzte Modelle, die sich in der Erprobung befinden.
Das alles ist sicherlich ein bisschen viel. Wir müssen
das konzentrieren und bündeln; darin werden mir sicherlich alle im Haus zustimmen. Es ist aber notwendig, dass
wir das sorgfältig und gut entwickeln. Genau das sieht
der Koalitionsvertrag vor. In einem Punkt unterscheidet
er sich allerdings völlig von dem, was Sie vorgeschlagen
haben. Wir wollen nicht, dass ein Kombilohn, wie er in
der politischen Debatte ist, zu dauerhaften Subventionen
von Unternehmen führt. Die Koalition steht im Wort und
hat eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die nach sorgfältiger
Prüfung bis zum Herbst dieses Jahres einen konkreten
Vorschlag erarbeiten wird. Dieser wird - im Gegensatz
zu Ihrem Modell - keine Antworten schuldig bleiben.
Was Sie vorschlagen, ist nichts anderes als eine grundlegende Neuausrichtung der anteiligen Beitragsfinanzierung der Sozialversicherungssysteme. Wenn Sie
schon davon sprechen, dann hätte ich es gut gefunden,
wenn Sie dargelegt hätten - wie eine Entzauberung -,
wie Sie das Ganze finanziell gestalten wollen. Im Ausschuss wie im Plenum reden wir oft über die Probleme,
die wir mit der Finanzierung unserer Sozialversicherungssysteme, insbesondere der Kranken- und der Rentenversicherung, haben. Aber Sie machen keinen Vorschlag zur Finanzierung, sondern sorgen für neue Löcher.
Das ist einer der großen Nachteile Ihres Antrags. Nun haben Sie vorgetragen, dass Sie alles, was fehlt, nachliefern
werden. Das mag ja sein. Aber mit dem Nachliefern ist
das so eine Sache. Besser wäre es gewesen, wenn Sie ein
komplettes Angebot gemacht hätten, über das man abschließend urteilen könnte.
({1})
Dann ist mir eingefallen, woran das Ganze grundsätzlich krankt. Mir kam Ihr Vorschlag von Anfang an so bekannt vor. Das stimmt auch. Sie haben etwas aus der
Schublade gezogen, was Sie im letzten Sommer entwickelt haben, als Sie in den Wahlkampf zogen und meinten, Sie müssten eine Alternative entwickeln.
({2})
Das ist das gewesen, was heute auf den Tisch flattert und
hier zu beraten ist. Es ist keinen Deut anders als der Vorschlag des letzten Jahres. Der Vorschlag ist so ungenügend und undetailliert wie vor einem Jahr.
({3})
Deshalb sage ich: Gut, dass wir heute darüber geredet
haben. Etwas schade um die Zeit. Ich bin sehr gespannt,
ob es Ihnen gelingen wird, einen Gesamtzusammenhang
herzustellen. Das Ganze muss sich nicht nur für die gesamte Gesellschaft rechnen, sondern auch für den Staat;
denn mit den 13 Milliarden Euro sind Sie an der unteren
Grenze dessen, was man überhaupt kalkulieren kann. Ich
fürchte, es würde wesentlich mehr kosten. Abgesehen
davon geht es um die Etablierung eines Systems, über
dessen Sinnhaftigkeit man genau nachdenken sollte. Andere europäische Staaten haben anders finanzierte Sozialversicherungssysteme. Sie haben zwar abgeschrieben, aber wenn man abschreibt, dann sollte man richtig
abschreiben und nicht so wie Sie.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Werner Dreibus von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der Grünen hat
für ihr Vorhaben den Titel „Progressivmodell“ gewählt.
({0})
Das ist ohne Zweifel eine innovative Leistung.
({1})
Das Wort „progressiv“ bezieht sich zwar in erster Linie
auf den Anstieg der Sozialabgabensätze, es soll aber irgendwie nach Fortschritt klingen.
({2})
- Frau Pothmer, entschuldigen Sie bitte, aber ich kann
Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, dass Sie uns unter der
neuen Überschrift Ihres so genannten Progressivmodells
tatsächlich alten Wein in neuen Schläuchen servieren.
({3})
Sie behaupten, Ihr Modell sei eine Alternative zu traditionellen, auch hier in der Debatte bereits angesprochenen Kombilohnkonzepten. Kombilohnmodelle in der
Art, wie wir sie auch hier gehört haben, sind zunächst
einmal nichts anderes als eine staatliche Subvention.
Auch Ihr Modell sieht staatliche Subventionen vor.
Kombilohnmodelle beinhalten eine Subventionierung
von Löhnen und Sozialabgaben. Ihr Modell will einen
Teil der Sozialabgaben subventionieren. Kombilohnmodelle sehen ab einer Einkommensgrenze die Reduktion
oder den vollständigen Wegfall der Subvention vor. Ihr
Modell will das auch. Mir erschließt sich nicht, was daran wirklich progressiv oder neu ist. Allein ein Blick auf
die Bilanz von Kombilöhnen hätte Ihnen zeigen können,
dass es vollkommen unzureichend ist, untauglichen Instrumenten zumindest dieser Art einfach nur einen neuen
Anstrich zu verpassen. Wenn Sie den CO2-Austoß Ihres
Autos reduzieren wollen, fangen Sie doch auch nicht damit an, Ihren Wagen grün zu streichen.
Was lehren uns die Erfahrungen mit den diversen
Kombilohnmodellen, soweit wir sie bisher überhaupt bilanzieren können? Die Arbeitsmarktstatistik zeigt, dass
Kombilöhne traditioneller Art nicht zu einem nennenswerten Aufbau von Beschäftigung geführt haben. Die
Beispiele sind genannt worden. So ist etwa das so genannte Mainzer Modell, auch mit Ihrer Unterstützung
eingeführt, kaum nachgefragt worden. Es wurden nicht
einmal 20 000 Beschäftigungsverhältnisse gefördert.
Dieser Misserfolg - das sollten sich die Kolleginnen und
Kollegen der Grünen bei ihren Kombilohnfantasien mit
der Marke „progressiv“ ins Gedächtnis rufen - hat bereits im Jahr 2003 zur Einstellung des Mainzer Modells
geführt.
Mein Fazit lautet zunächst jedenfalls: Diese Art von
Kombilöhnen schafft keine Arbeitsplätze. Kein Unternehmen beschäftigt Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, weil sie billiger oder teurer sind, sondern nur dann,
wenn tatsächlich zusätzliche Arbeit - also Nachfrage vorhanden ist.
({4})
An der Stelle ein Hinweis auf Ihre Begründung: Sie
schreiben, Hauptursache für den Mangel an solchen Arbeitsplätzen seien vor allem die höheren Sozialversicherungsabgaben. Nun einmal in allem Ernst: Es ist doch
wirklich unter Niveau, auch unter Ihrem Niveau,
({5})
davon auszugehen, dass es an den Sozialversicherungsabgaben liegt, dass wir zu wenig Arbeitsplätze haben.
({6})
Kombilöhne sind eine Subvention für die Unternehmen, nicht für die Arbeitnehmer. Die Unternehmen werden solche Subventionen kassieren, eventuell Arbeitslose
einstellen, aber - wenn es keine zusätzliche Nachfrage
gibt - zu teure Beschäftigte entlassen. Kombilöhne setzen
damit zwangsläufig eine Lohnspirale nach unten in Gang.
Das schwächt die Nachfrage und führt eher zu weiteren
Arbeitsplatzverlusten - ganz abgesehen von den horrenden Kosten dieser Subventionen. Herr Steinbrück wird
sich freuen.
Unsere Position ist: Wir brauchen eine andere Beschäftigungspolitik, eine andere Wirtschaftspolitik, Reallohnsteigerungen und eine deutliche Stärkung der
Massenkaufkraft, eine Erhöhung der öffentlichen Investitionen und den Ausbau eines modernen Dienstleistungssektors. Außerdem brauchen wir - das sage ich an
diesem Freitag ganz bewusst, auch aus aktuellen Gründen - keine Arbeitszeitverlängerung, sondern eine Arbeitszeitverkürzung, um den geringeren Arbeitsumfang
besser und gerechter zu verteilen und mehr Beschäftigung zu schaffen.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist die Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 16/446 an die in der Tagesordnung ausgeführten Ausschüsse verabredet. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika
Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Offene Fragen zur Entsorgung radioaktiver
Abfälle klären - Verantwortung für nachfolgende Generationen übernehmen
- Drucksache 16/267 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Angelika Brunkhorst, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Umweltminister Gabriel, nach sieben Jahren Stagnation unter Ihrem Vorgänger Trittin ist es nun endlich
an der Zeit, in der Frage der Endlagerung radioaktiver
Abfälle zu einer Lösung zu kommen. Das sind wir den
nachfolgenden Generationen schuldig. Herr Gabriel, ich
fordere Sie wirklich auf, Mut zu zeigen und einen Kontrapunkt der Vernunft zu setzen.
({0})
Die FDP bekennt sich in Übereinstimmung mit anderen Staaten in der Europäischen Union zu einer ZweiEndlager-Konzeption. Die sicherheitstechnischen Anforderungen an die Endlagerung hoch radioaktiver
Abfälle einerseits und schwach radioaktiver und mittelradioaktiver Abfälle andererseits sind sehr unterschiedlich: Es bedarf einer getrennten Behandlung und Lagerung. Das wurde uns von allen Experten bestätigt. Nicht
eine einzige wissenschaftliche Expertise hat in der EinEndlager-Lösung einen Vorteil konstatiert, nicht einmal
der AK End, der nur diese Lösung bewerten sollte.
({1})
Ich fordere die Bundesregierung deshalb auf, sich von
der Ein-Endlager-Konzeption deutlich zu distanzieren.
({2})
Die Verschiebetaktik des ideologisch motivierten ehemaligen Ministers Trittin wird höchstwahrscheinlich
dazu führen, dass unser Ziel, 2030 ein Endlager für hoch
radioaktive Abfälle bereitzustellen, in weite Ferne gerückt ist. Fachleute sprechen davon, dass wir wahrscheinlich von einer Zeitachse 2050 bis 2062 ausgehen
müssen. Ich finde das fatal, auch unter dem Gesichtspunkt, dass wir damit ein neues Problem heraufbeschwören: Die Nutzungsdauer der Zwischenlager an
den Kernkraftwerken beträgt nur 40 Jahre. Wir wissen
nicht, ob wir nach diesen 40 Jahren schon ein Endlager
haben. Falls nicht, werden die Zwischenlager zu Endlagern. Das ist die Realität, mit der wir es zu tun haben.
({3})
Die Situation stellt sich heute so dar: 85 Prozent aller
radioaktiven Abfälle sind schwach radioaktiv oder mittelradioaktiv. Sie kommen aus Forschungseinrichtungen
und aus medizinischen Einrichtungen. Für zwei Drittel
der Gesamtmenge ist der Bund verantwortlich. Herr
Minister, deshalb appelliere ich hier an Sie. Wir haben
ein planfestgestelltes Endlager für diese Art von Abfall,
nämlich den Schacht Konrad. Herr Minister, ich möchte
Sie daran erinnern, dass diese Planfeststellung erfolgt ist,
als Sie Ministerpräsident und Wolfgang Jüttner Umweltminister in Niedersachsen waren.
({4})
Sie erinnern sich sicherlich daran.
Die noch anhängigen Klageverfahren sollen Anfang
März entschieden werden. Ich möchte Sie wirklich bitten, nach Rechtskraft dieser Urteile das Ihnen direkt unterstellte Bundesamt für Strahlenschutz anzuweisen, sofort den Antrag auf eine Nutzung zu stellen und die
Inbetriebnahme des Schachts Konrad auf den Weg zu
bringen.
({5})
Das ist, finde ich, erforderlich, weil sonst die Notwendigkeit von Umkonditionierungen droht, was noch einmal wieder Kosten verursacht.
Als möglicher Endlagerstandort für hoch radioaktive Abfälle - das sind die abgebrannten Brennstäbe aus
den Kernkraftwerken - wurde seit 1979 das Forschungslager Gorleben erkundet. Die wissenschaftlichen Erkundungen sind weit fortgeschritten. Investitionen in Höhe
von 1,4 Milliarden Euro wurden getätigt. Herr Minister,
ich fordere Sie auf, das Moratorium, welches von Ihrem Vorgänger im Jahre 2000 verhängt wurde, sofort
aufzuheben und die Erkundung unverzüglich weiterzuführen, natürlich ganz ausdrücklich ergebnisoffen.
({6})
- Herr Trittin, hören Sie doch bitte zu!
Als Begründung für das Moratorium wurden vom damaligen BMU unter Beteiligung des Bundesamts für
Strahlenschutz und der RSK insgesamt zwölf konzeptionelle und sicherheitstechnische Fragestellungen, so genannte Zweifelsfragen, formuliert. Die Ergebnisse der
Klärung dieser Zweifelsfragen wurden im September
2005 von den Fachleuten zugestellt. Es wurde des Weiteren ein nicht öffentlicher Workshop veranstaltet, auf dem
nochmals diskutiert und bewertet wurde. Der Synthesebericht wurde am 4. November 2005 vorgelegt.
In dem Bericht wird ganz eindeutig festgestellt, dass
alle zwölf Fragen abgearbeitet und beantwortet sind. In
dem Bericht wurde kein Negativvotum für Gorleben
ausgesprochen. Damit wurden eigentlich die wissenschaftlich begründeten anderen Stellungnahmen zu Gorleben, die es vorher schon gegeben hat, nach denen dort
eine langzeitsichere Endlagerung höchstwahrscheinlich
möglich ist und Eignungshöffigkeit gegeben ist, auf jeden Fall - das will ich hier betonen - gestärkt.
Herr Minister, die Begründung des Moratoriums ist
weggefallen. Ich bitte Sie: Heben Sie das Moratorium
auf!
({7})
In der Presse der vergangenen Wochen erfuhren wir,
Herr Minister Gabriel, dass Sie erwägen, den Vorschlag
des AK End aufzugreifen und alternative Standorte erforschen zu lassen - unter der Prämisse, den bestmöglichen Standort zu finden. Auch diese Argumentation erklärt sachlich in gar keinem Fall die fortgesetzte
Unterbrechung der wissenschaftlich-technischen Erkundungsarbeiten.
Sie müssen bitte zum Ende kommen, Frau
Brunkhorst.
Sofort. - Es müssen jetzt endlich Entscheidungen getroffen werden.
Zum Schluss möchte ich einen Appell an die Union
richten. Angesichts der inhaltlichen Ähnlichkeit der Argumente - die Pressemitteilung Ihrer Kollegin Reiche
vom heutigen Tag lässt mich zuversichtlich sein - kann
ich Sie eigentlich nur ermuntern: Stimmen Sie unserem
Antrag zu! Unterstützen Sie uns! Dann sind wir auf einem guten Weg.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Herr Minister! Liebe Kolleginnen
und Kollegen!
Zwischen CDU, CSU und SPD bestehen hinsichtlich der Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung unterschiedliche Auffassungen.
({0})
Dies ist, wie Sie, meine Damen und Herren, sicherlich
bemerkt haben, ein Zitat aus dem Koalitionsvertrag. Auf
die Verdeutlichung dieses Sachverhalts haben Mitglieder
der Bundesregierung zu Anfang dieses Jahres einige
Energie verwendet. Diese Frage ist zwischen den Koalitionspartnern - das ist klar - unstrittig strittig.
({1})
Ich zitiere weiter aus dem Koalitionsvertrag:
Deshalb kann die am 14. Juni 2000 zwischen Bundesregierung und Energieversorgungsunternehmen
geschlossene Vereinbarung … nicht geändert werden.
Das heißt, die Koalition hat noch einmal unterstrichen, dass die friedliche Nutzung der Kernenergie in
Deutschland für die nächsten beiden Jahrzehnte festgeschrieben ist und eine Strommenge von über
1 600 Terawattstunden aus Kernenergie erzeugt werden
soll.
Zur Erinnerung: Derzeit werden circa 28 Prozent des
Stroms durch Kernenergie erzeugt. Auch wenn dieses
Land den Anschein erweckt, es habe sich längst aus der
Kernenergie verabschiedet, profitiert es derzeit und zumindest auch noch in den kommenden beiden Jahrzehnten von relativ preiswertem Strom aus Kernenergie.
({2})
Daher ist es eine Frage von ethischer Dimension, eine
Frage von Generationengerechtigkeit, dass die heutige
Generation, die von Kernkraft unmittelbar profitiert, die
Kehrseite der friedlichen Nutzung der Kernenergie,
nämlich die Beseitigung der langlebigen und hochgiftigen Abfälle, nicht den kommenden Generationen überlässt. Deshalb hat sich die große Koalition - ich zitiere
erneut aus dem Vertrag, den wir geschlossen haben zur nationalen Verantwortung für die sichere Endlagerung radioaktiver Abfälle
bekannt und vereinbart,
die Lösung dieser Frage zügig und ergebnisorientiert
anzugehen und noch
in dieser Legislaturperiode zu einer Lösung zu
kommen.
Neben den radioaktiven Abfällen, die bei der Stromerzeugung anfallen und stark Wärme entwickelnd sind,
fallen bei der Anwendung von Radioisotopen in Industrie, Gewerbe und Medizin zum Beispiel im Rahmen der
Krebstherapie, aber auch im Rahmen von Computertomographien schwach oder mittel Wärme entwickelnde
Abfälle an, übrigens auch und gerade bei der Forschung.
Die will die neue Regierung ja insbesondere im Rahmen
der Sicherheitsforschung - dazu verweise ich ein letztes
Mal auf den Koalitionsvertrag - intensivieren. Deshalb
wird sich auch hier das Abfallaufkommen bzw. -volumen möglicherweise noch erhöhen.
Derzeit werden alle radioaktiven Abfälle in - natürlich - oberirdischen Zwischenlagern gesammelt, unter
Inkaufnahme entsprechender Kosten sowie einer Gefährdung durch Unfälle oder gar Attentate. Die Lösung
der Endlagerfrage steht also gerade auch aus diesen
Gründen an.
({3})
Wärme entwickelnde Stoffe brauchen aus physikalischen Gründen andere Lagerbedingungen als nicht oder
vernachlässigbar Wärme entwickelnde Stoffe. Dabei
sind 85 Prozent des Volumens - Frau Kollegin
Brunkhorst, da stimmen wir völlig überein - aller radioaktiven Abfälle schwach oder mittel radioaktiv und viele
der Zwischenlager für diese Stoffe haben ernsthafte Kapazitätsprobleme. Der Bund ist hier ganz besonders in
der Pflicht, aber auch in der Bredouille; denn zwei Drittel der derzeitigen schwach bis mittel radioaktiven Stoffe
stammen aus seinem Verantwortungsbereich.
Wie sieht nun die weitere Agenda aus? Derzeit ist ein
Klageverfahren gegen den Planfeststellungsbeschluss
für das Endlager Konrad für schwach radioaktive Abfälle vor dem OVG Lüneburg anhängig; die Entscheidung steht Anfang März an. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie sollten die Urteile mit Respekt
vor dem Gericht abwarten
({4})
und bei Rechtssicherheit die anstehenden politischen
Entscheidungen treffen.
({5})
Es gibt aus meiner Sicht überhaupt keinen Grund, die
Bundesregierung zum Handeln zu mahnen, zumal es die
damalige niedersächsische Regierung Gabriel war, die
den Planfeststellungsbeschluss im Juni 2002 für das
Endlager Konrad genehmigt hat.
Bezüglich eines Endlagers für hoch radioaktive Abfälle sind im so genannten Ausstiegsvertrag Zweifelsfragen benannt, die vor einer weiteren Erkundung des
Salzstocks Gorleben ausgeräumt werden müssten. Zu
diesem Ziel wurde das drei- bis maximal zehnjährige
Moratorium vereinbart. Nun ist man dabei, letzte Zweifel, die noch bestehen, auszuräumen. Da an der Ernsthaftigkeit und Vertragstreue der Bundesregierung keine
Zweifel bestehen, wird man dann auch Gorleben, wo seit
1979 erkundet wird, in die Suche nach einem geeigneten
Standort einbeziehen.
Ein letztes Wort - auch als Niedersächsin - zur Forderung eines Lastenausgleichs für die Standortkommunen:
Wie auch immer und wo auch immer eine Standortentscheidung getroffen wird, es steht fest, einige Kommunen werden die nationale Aufgabe atomarer Endlagerung in besonderer Weise tragen müssen. Daher muss es
selbstverständlich sein, dass sie dafür einen angemessenen Ausgleich erhalten.
({6})
Ich bin froh
Kommen Sie bitte zum Ende.
- ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin -, dass
die Zeiten des Taktierens und Verschiebens von notwenDr. Maria Flachsbarth
digen Untersuchungen und Entscheidungen auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag vorbei sind. Ich bin sicher, diese
Regierung, allen voran ihr Umweltminister Gabriel, wird
sich ihrer Verantwortung für diese Zukunftsfrage mit nationaler Bedeutung nicht entziehen.
Vielen Dank.
({0})
Es spricht für die Linke Hans-Kurt Hill.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich müssten wir der FDP
dankbar sein.
({0})
Mit Ihrem Antrag stellen Sie völlig zu Recht fest, dass
ein gefährliches Problem auf Halde liegt. Nach sieben
Jahren grüner Ankündigungspolitik gibt es noch immer
keine Lösung für die Unmengen giftigen Strahlenmülls.
({1})
Das muss man sich einmal bewusst machen: Dieses
Land betreibt atomare Anlagen ohne funktionierendes
Entsorgungskonzept. Das Problem lagert in den Schubladen. Dabei reden wir hier wirklich nicht über Altpapier.
Der Antrag der FDP zerfällt aber dennoch in seine widersprüchlichen Einzelteile. Um es noch einmal deutlich
zu machen: Voraussetzung für die Endlagersuche ist der
Atomausstieg. Die Linke verlangt einen schnellstmöglichen Betriebsstopp der Atommeiler.
({2})
Es ist unverantwortlich, auch nur 1 Gramm Strahlenmüll
zu erzeugen, ohne eine sichere Entsorgung vorzuweisen.
Verantwortungslos, werte Liberale, ist der Betrieb der
Kernkraftwerke: Sie sind nach wie vor technisch nicht
beherrschbar, der Beitrag zum internationalen Klimaschutz ist gleich null und die Importabhängigkeit beim
Uran beträgt 100 Prozent.
Im Übrigen: Wer Gorleben als Endlageroption ansieht, lässt jede Verantwortung gegenüber den Menschen
im Wendland vermissen.
({3})
Wir wissen alle, dass die Entscheidung für den Salzstock
vor fast 30 Jahren aus rein willkürlichen politischen
Gründen getroffen worden ist. Die damalige Zonenrandlage zur DDR war Ihnen von der CDU/CSU Argument
genug. Man rechnete mit wenig Widerstand der betroffenen Menschen. Doch diese Rechnung ist nicht aufgegangen.
({4})
Aktuelle Gutachten zeigen, dass Salzstöcke keinerlei
Vorteile gegenüber anderen Gesteinen aufweisen. Gorleben erfüllt nicht einmal die fachlichen Mindestvoraussetzungen. Mindestens 1,3 Milliarden Euro wurden in
Gorleben bereits verbuddelt. Wie viel Geld wollen Sie
denn noch dafür ausgeben, um immer wieder festzustellen, dass Gorleben nicht geeignet ist? Das ist und bleibt
verantwortungslos.
({5})
Muss jetzt, nur weil wir da angefangen haben, alles nach
Gorleben? Das darf nicht die Prämisse sein.
Ein seriöses Suchverfahren muss folgende Punkte
erfüllen: Festhalten am Erkundungsstopp in Gorleben,
Suche nicht nach dem besten, sondern dem geeignetsten
Standort, umfassende öffentliche Beteiligung - darauf
haben die Menschen nämlich einen Anspruch -, volle
Kostenübernahme für Suche, Bau und Betrieb durch die
Atomkraftbetreiber.
({6})
Jetzt noch ein Wort zum Schacht Konrad. Frau
Dr. Flachsbarth ist eben darauf eingegangen. Obwohl
das zuständige OLG den Planfeststellungsbeschluss erst
am 28. Februar prüft, verlangen Sie, dass bereits heute,
nach Abweisung in der ersten Instanz, Schacht Konrad
in Betrieb geht. Wenn das Ihre Rechtsauffassung ist,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dann sage
ich Ihnen: Ihnen sind die Männer, Frauen und Kinder,
die dort leben müssen, egal. Wenn Sie, wie in Ihrem Antrag beschrieben, Transparenz schaffen wollen, wenn Sie
für Vertrauensbildung in der Öffentlichkeit sind, dann
müssen Sie auch gerechte und umfassende Beteiligungsrechte für die betroffenen Bürger und Bürgerinnen unterstützen. Aber das wollen Sie wohl nicht.
({7})
Ihre Vorlage, meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen von der FDP, ist nichts anderes als der plumpe
Versuch, Gorleben und Schacht Konrad durchzudrücken.
Das geht auf Kosten der Frauen, Männer und Kinder, die
dort leben. Das ist ebenfalls verantwortungslos.
({8})
Es grenzt schon an politische Selbstüberschätzung,
wenn Sie nach dem Sachstand in Gorleben glauben, der
Fachwelt ein funktionierendes System vorstellen zu können. Ich sage Ihnen: Sowohl in Gorleben als auch am
Schacht Konrad ist nur das Versagen des Atomzeitalters
zu besichtigen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Für die Bundesregierung spricht der Bundesminister
Sigmar Gabriel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege, Sie haben in Ihrem Wortbeitrag kritisiert, dass
sich die letzte Bundesregierung noch nicht für ein Endlager entschieden habe. Es ist besser, man untersucht ein
bisschen länger, als dass man gleich alles nach Morsleben kippt. Da gibt es ja eine Verantwortung in Teilen Ihrer Partei. Von daher wäre ich bei der Frage, wie man mit
so etwas umgeht, nicht ganz so forsch.
({0})
Sie repräsentieren ja Gott sei Dank nicht das Saarland,
sondern eine Partei, und die trägt zum Teil die Verantwortung für ein nukleares Endlagerproblem, das andere
Leute lösen mussten. Ich unterstelle, dass man daraus etwas lernen kann. Aber dann sollten Sie ein bisschen weniger forsch auftreten.
Man kann zu Recht sagen - darüber gibt es keinen
Streit unter den meisten Mitgliedern dieses Hauses -,
dass wir das Endlagerproblem lösen müssen. Es kann
dabei nicht um die Frage gehen, ob man für oder gegen
Kernenergie ist; denn sowohl Gegner als auch Befürworter der Kernenergie müssen dafür sorgen, dass mit den
Abfällen nach bestem Wissen und Gewissen im Interesse der zukünftigen Generationen adäquat umgegangen wird.
({1})
Ich will offen sagen: Weil die Lösung dieses Problems
so umstritten ist, hat die große Koalition in dieser Frage
eine große Verantwortung.
Zur Redlichkeit in der Debatte gehört aber auch, nicht
so zu tun, als habe eine Partei oder eine Parteienkonstellation in Deutschland bei der Lösung dieser Probleme
versagt. Ich erinnere gerade die Kollegin aus der FDP
daran, dass es CDU und FDP in Niedersachsen waren,
die damals die Lösung dieses Problems mithilfe der
Wiederaufbereitung aufgegeben haben. Der damalige
Ministerpräsident Albrecht kommentierte dies mit den
Worten, dass diese politisch nicht durchsetzbar sei. Auch
die FDP hat die Wiederaufbereitung nicht durchsetzen
können.
Der CSU ist es mit Wackersdorf nicht anders gegangen. Auch die rot-grüne Koalition hat es während ihrer
Regierungszeit nicht geschafft, das Endlagerproblem zu
lösen, das in den Vorgergrund rückte, weil man von der
Wiederaufbereitung weggekommen ist. Wir alle miteinander haben bislang nicht die Kraft aufbringen können,
dieses schwierige Problem zu lösen. Daran sieht man
auch, welche dramatischen Auswirkungen der Einstieg
in die Kernenergie auf die Zukunft hat.
Ich glaube, es geht nicht so sehr um die Frage, wem
man Versagen in der Vergangenheit vorwerfen muss,
sondern darum, dass wir jetzt den Mut aufbringen müssen, diese Probleme zu lösen. Ich persönlich bin der
Überzeugung, dass wir dazu eine historisch große
Chance haben.
({2})
Denn die beiden großen Volksparteien stellen die Regierung und akzeptieren ihre Verantwortung in dieser
Frage. Wir können nun einen Zug aufs Gleis setzen, was
unter späteren Regierungskonstellationen, wie immer sie
auch aussehen werden, verhindert, dass man sich durch
taktisches Verhalten vor der Lösung dieser Probleme
drücken kann.
({3})
- Auch Sie in Niedersachsen.
({4})
- Wenn Sie schon einen Zuruf machen, dann müssen Sie
auch eine Antwort riskieren.
Sie können nicht fordern, dass wir Gorleben weiter
erkunden und dieses Endlager eventuell fertig stellen,
wenn Sie mir gleichzeitig Briefe schreiben, ich möge
doch bitte im Interesse von Baden-Württemberg dafür
sorgen, dass sich die Schweizer nicht auf ein Endlager
festlegen, sondern dass man die möglichen Standorte
erst einmal vergleiche. Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie wollen.
({5})
Was für die Schweiz gilt, gilt auch für Deutschland.
Sie können sich im Pressespiegel einmal die Position
der FDP in Baden-Württemberg zu dieser Frage anschauen. Es gab auch entsprechende Anfragen. Ich finde
es richtig, dass Sie wollen, dass in der Schweiz Standorte
verglichen werden und der geeignetste Standort herausgesucht wird. Aber die Bürgerinnen und Bürger in Niedersachsen dürfen nicht schlechter gestellt sein, indem
dort nur ein „geeigneter“ Standort gesucht wird. Zwischen einem „geeigneten“ und einem „geeignetsten“
Standort besteht nämlich ein großer Unterschied. Wir
wollen, dass in Deutschland auf Basis gesicherter Kriterien untersucht wird, welcher von den geeigneten Standorten der „geeignetste“ ist.
({6})
Wenn Sie das nicht wollen, dann haben Sie nur ein
einziges Ziel - das werden wir Ihnen in jeder Debatte
vorhalten -, nämlich dass Sie in Ihren eigenen Wahlkreisen nicht von der Debatte um die Endlagersuche belastet
werden wollen. Diesen Versuch unternehmen Sie hier.
Ich finde, das hat mit Redlichkeit in der Debatte nichts
zu tun. Wir brauchen Kriterien für die Auswahl eines
geeigneten Endlagers. Diese werden wir vorlegen. Sie
müssen bereit sein, die geeigneten Standorte zu vergleiBundesminister Sigmar Gabriel
chen. Wenn der geeignetste Standort Gorleben wäre,
dann könnte niemand etwas dagegen sagen, dass Gorleben Endlager wird. Aber bis das festgestellt ist, müssen
auch andere Standorte untersucht werden. Das bedeutet,
dass Sie in Ihren eigenen Wahlkreisen und in Ihren eigenen Landesverbänden den Mut aufbringen müssen, zu
sagen, dass sie dafür einstehen, dass bei Ihnen zu Hause
im Interesse unserer Kinder, Enkel und Urenkel und aller
nachfolgenden Generationen entsprechende Untersuchungen stattfinden.
({7})
Ich sagen Ihnen: Den Mut werden wir haben. Wenn
Sie ihn nicht haben, dann ist das Ihr Problem. Damit katapultieren Sie sich aus der Debatte heraus.
Beim Thema Schacht Konrad hatte ich mir erhofft,
dass die Bürgerrechtspartei FDP, die ansonsten von sich
sagt, dass sie etwas von Recht und Gesetz versteht, wenigstens erklärt, dass man die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts abwarten muss und dass sich je
nach Ausgang des Verfahrens der nächste Instanzenweg
ergibt. Ich habe mir bislang eingebildet, dass man sich
bei Ihnen wenigstens darauf verlassen kann, ein Urteil
abzuwarten, bevor Sie erklären, was man danach unternehmen soll. Dass wir uns im Falle des Schachts Konrad
an die Gerichtsurteile zu halten haben, gilt für uns alle.
Das gilt übrigens auch für mich. Denn Schacht Konrad
liegt in meinem Wahlkreis. Ich werde mich in dieser
Frage nicht, je nachdem wie das Urteil ausgeht, wegducken. Aber ich erwarte von Ihnen, dass Sie bei der Debatte um die Frage, ob ein oder zwei Endlager errichtet
werden sollen, und bei der Suche nach alternativen
Standorten den gleichen Mut aufbringen.
Wenn Sie im Übrigen schon so mutig für Gorleben
eintreten, dann sollten Sie aber den Teil Ihres Antrages
einstampfen, in dem Sie sagen, das Ein-Endlager-Konzept sei vom Tisch. Gorleben ist nämlich als ein EinEndlager-Projekt beantragt worden.
Herr Bundesminister, die Frau Homburger würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. Ist das möglich?
Aber liebend gern.
Herr Minister, wollen Sie zur Kenntnis nehmen und
hier bestätigen, dass es, bevor es zu einer weiteren Erkundung von Gorleben kam, sehr wohl ein sehr langes
Prozedere gab und Abwägungsprozesse stattgefunden
haben, man seit langer Zeit eine Zwei-Endlager-Strategie verfolgt, der AK End, der nicht von der FDP, sondern
von Rot-Grün eingesetzt wurde, eindeutig bestätigt hat,
dass es aus fachlichen Gesichtspunkten und vor allem
aus Sicherheitsgründen Sinn macht, zwei Endlager zur
Verfügung zu haben - dies ist der internationale Standard -, und dass der gesamte Ablauf, den Sie hier so vehement einfordern, in der Vergangenheit als Vorlauf
vollzogen worden ist?
Die zweite Frage, Herr Minister: Wollen Sie zur
Kenntnis nehmen, dass die FDP stets betont hat: „Wir
warten das Gerichtsurteil ab“? Sollte allerdings das Gerichtsurteil die Zulassung des Schachtes Konrad ermöglichen, dann fordern wir Sie auf, einen Sofortvollzug
vorzunehmen. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass wir
als Rechtsstaatspartei selbstverständlich Gerichtsurteile
abwarten.
Ich nehme zum Ersten zur Kenntnis, dass zum Zeitpunkt der Erkundung von Gorleben keine Kriterien vorgelegen haben - diese haben wir bis heute nicht angewandt -, anhand deren wir untersuchen können, welcher
Standort geeignet ist. Damit geht es einmal los. Das
heißt, dass ein Vergleich auf der Grundlage einer gemeinsamen Basis bis heute gar nicht möglich ist. Sie
wollen, dass wir die Erkundung von Gorleben vorantreiben, und fordern gleichzeitig, dafür zu sorgen, dass sich
die Schweiz nicht auf einen Endlagerstandort konzentriert, weil Ihnen dieser unangenehm nahe ist. - Das
nehme ich einmal zur Kenntnis.
Ich nehme zum Zweiten zur Kenntnis, dass Sie in Ihrem Antrag und in Ihren Reden bereits sagen, was man
nach einem Gerichtsurteil machen soll, obwohl es noch
gar nicht vorliegt. Ich nehme zur Kenntnis, dass im
Rechtsstaat Deutschland nach dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts möglicherweise ein weiterer Rechtsweg offen ist, nämlich der vor den Bundesgerichtshof.
Auch diese Möglichkeit sollten wir bitte schön einmal
abwarten.
({0})
Ich nehme zum Dritten zur Kenntnis, dass wir gegenüber dem Deutschen Bundestag nach Durchsicht aller
Akten zu erklären haben, wie wir die Frage eines EinEndlager-Konzeptes bewerten. Das werden wir tun.
Übrigens, Frau Kollegin, hat die Frage, ob ein oder zwei
Endlager errichtet werden, mit Gorleben nichts zu tun.
Auch bei der Konzentration auf ein Zwei-Endlager-Konzept sollten Sie mit Blick auf die Endlagerung hoch radioaktiver Abfälle den Mut aufbringen, zu sagen: Ich als
FDP-Politikerin in Baden-Württemberg bin bereit, dafür
einzutreten, dass zur Not auch bei uns Standorte untersucht werden. Dann sind Sie in dieser Frage glaubwürdig.
({1})
Ich nehme zum Vierten zur Kenntnis, dass für die
Frage des Sofortvollzuges beim Schacht Konrad Ihr Parteikollege Sander zuständig ist. Der ist nämlich Umweltminister in Niedersachsen. Ich gebe zu: Ich bedauere es
ein bisschen, dass es dazu gekommen ist. Aber Sie wollten die Verantwortung. Jetzt haben Sie sie.
({2})
Wenden Sie sich in der Frage des Sofortvollzugs an ihn!
Meine Damen und Herren, ich habe deshalb ein bisschen engagierter zu dieser Frage gesprochen, weil es am
Ende nicht darum gehen wird, ob wir uns auf Konzepte
und Kriterien einigen. Ich glaube, das werden wir schaffen. Am Ende geht es um die Frage, ob wir den Mut haben, Konsequenzen zu ziehen. Ich sage Ihnen: Diese
Regierung hat den Mut. Da sind sich CDU/CSU und
SPD einig. Wir wollen das Projekt „Endlager“ endlich
zu einem Ende bringen, damit wir sicher sein können,
wo wir die Endlagerung der Abfälle vornehmen.
Aber ich sage Ihnen auch: Wir brauchen dafür den
Mut aller. Wir sollten nicht ständig in der Öffentlichkeit
schwarzer Peter spielen und sollten zumindest für einen
gewissen Zeitraum den Mut aufzubringen, auch einmal
zu Hause mögliche Standorte zu untersuchen.
Dass man das tun muss - das ist meine letzte Bemerkung -, zeigt sich gut an dem Versuchsendlager
Asse II. Auch dieses befindet sich in meinem Wahlkreis.
Als wir das erste Mal - damals war ich 17 oder 18 Jahre
alt - dort hinfuhren, gab es drei Salzstöcke. Die
Salzstöcke I und II waren wegen Wassereinbrüchen abgesoffen. Zu Asse II haben wir die Ingenieure gefragt:
Wenn zwei von drei Salzstöcken unmittelbar abgesoffen
sind, wieso sind Sie dann eigentlich so sicher, dass man
in dem dritten Salzstock ein Endlager errichten kann?
Die Ingenieure haben uns damals gesagt, das sei alles
kein Problem. Wir haben als Schüler staunend vor ihnen
gestanden und natürlich war keine Frage mehr offen. Seit Ende der 80er-Jahre gibt es in Asse II Salzlaugeneinbrüche und wir wissen nicht, warum dies geschieht.
Wir wissen auch nicht, wie wir das in den Griff bekommen können.
Vorsicht ist hier ein guter Ratgeber. Man sollte nicht
mutig sagen, man wisse schon, wo der radioaktive Abfall endgelagert werden könne. Es geht hier um den „geeignetsten“ Endlagerstandort und nicht darum, aus der
Tiefe des Gemüts und aus Angst davor, selber einmal
mit diesem Problem konfrontiert zu werden, munter Forderungen zu stellen. Das reicht nicht aus. Sie werden sehen, wir werden es besser machen.
Vielen Dank.
({3})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin
Sylvia Kotting-Uhl.
Liebe Frau Präsidentin! Verehrter Herr Minister! Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Brunkhorst!
Schön war nicht nur die Rede des Umweltministers.
Schön ist, dass nun auch die FDP in Verbindung mit
Atomkraft endlich von ernst zu nehmenden Sicherheitsproblemen spricht, bisher aber lediglich bezogen auf
eine befürchtete „Diskrepanz zwischen der ... Nutzungsdauer der Zwischenlager und der ... Inbetriebnahme eines Endlagers“, so zu lesen in der Begründung Ihres Antrags. Aber immerhin wird damit der real existierende
und der noch zu produzierende Atommüll auch von diesen Kolleginnen und Kollegen endlich als Sicherheitsrisiko benannt. Ich sage dazu nur: Welcome.
({0})
Erkenntnis ist der erste Schritt zur Einsicht. In einem
nächsten oder übernächsten Schritt wird dann die Frage
der Verlängerung von AKW-Laufzeiten vielleicht
auch mit der weiteren Zunahme von Atommüll in Verbindung gebracht. Lebenslanges Lernen ist die schöne
erste Pflicht auch des Parlamentariers.
Jetzt zum Inhalt des Antrags. Der Antrag bleibt bei
richtiger Nennung des Problems im falschen Ansatz stecken. Richtig ist, dass die Endlagersuche aufgenommen
werden muss. Richtig ist, dass wir hier eine Menge Verantwortung zu übernehmen haben. Falsch ist dagegen
die Ansicht, wir könnten hier Verantwortung für nachfolgende Generationen übernehmen. Verantwortung für
die nachfolgenden Generationen der nächsten
140 000 Jahre übernehmen zu wollen - das ist die Kurzfassung; viele Experten reden von einer 1 Million oder
sogar mehreren Millionen Jahren -, ist nichts weniger
als Hybris. Deshalb ist es auch absurd, von einem
„sicheren“ Endlager zu sprechen. Wir können nur ein
nach heutigem Kenntnisstand „möglichst sicheres“ Endlager suchen. Die Schlussfolgerung des FDP-Antrags,
man müsse nun die Erkundung des Salzstocks Gorleben
zügig zu Ende bringen, ist daher aus mehreren Gründen
verfehlt.
Die Vorfestlegung auf Gorleben - genauso übrigens
wie auf Schacht Konrad - wurde von der damaligen Regierung, also von Ihnen gemeinsam mit der Union, unter
Verzicht auf ein transparentes, offenes, vergleichendes
Auswahlverfahren vorgenommen. Ihre Wahl fiel wahrscheinlich nicht zuletzt deshalb auf Gorleben, weil es so
schön am Ende Republik liegt; Gleiches gilt für Benken
in der Schweiz. Die Folge für Gorleben sind nicht zur
Ruhe kommende grundsätzliche Kritik an der Geeignetheit des Salzstocks und noch viel weniger zu Ruhe kommender Widerstand der dortigen Bevölkerung. Will man
nicht ignorant an der Bevölkerung vorbeiregieren, muss
man beides ernst nehmen. Deshalb kam es zum Moratorium der rot-grünen Regierung.
({1})
Die Aufnahme eines Endlagers kann der Standortregion nur zugemutet werden, wenn der ausgewählte
Ort bei Anwendung von rechtlich verbindlichen Auswahlkriterien im Vergleich nachweislich die beste Voraussetzung für eine sicherheitstechnisch optimierte
Endlagerung besitzt. Besonders wichtig ist dabei, dass
dieser Nachweis auch in den Augen und Ohren der betroffenen Bevölkerung gelingt. Deshalb bedarf es eines
fairen und transparenten Auswahlprozesses unter umfassender Beteiligung der Öffentlichkeit. All dies war, wie
wir wissen, bei der Festlegung auf Gorleben und Schacht
Konrad nicht der Fall.
({2})
- Kommt noch. Ich möchte zunächst zu Ihrem Antrag
reden. Das ist im Moment viel spannender.
Wenn Sie in Ihrer Begründung von „bis 1998 entwickelten und im internationalen Vergleich vorbildlichen
Entsorgungsstrukturen in Deutschland“ reden, kann man
das vielleicht gerade noch unter dem Aphorismus „Unter
Blinden ist der Einäugige König“ abhandeln. Es gibt
weltweit immer noch kein einziges genehmigtes Endlager für radioaktiven Abfall. Wohl aber gibt es seit jüngster Zeit Standortauswahlprozesse in einigen Ländern
- ich nenne hier Finnland, Schweden und Japan -, die
sich mit unserem Ansatz auf den Weg gemacht haben
und damit weit bessere Erfahrungen machen als
Deutschland mit Gorleben oder die Schweiz mit Benken.
Ich stimme Ihrer ersten Forderung, Frau Brunkhorst,
zu, dass sich die Regierung ihrer Verantwortung in der
Endlagerfrage stellen muss. Ich möchte aber an dieser
Stelle noch einmal betonen, dass wir als heutige Generation uns zwar der Verantwortung stellen können, die
bleibende Verantwortung vielen nachfolgenden Generationen aber nicht abnehmen können. Genau das war für
uns Grüne schon immer eng mit der Frage grundsätzlicher Verantwortbarkeit von Atomkraftnutzung verbunden.
Die weiteren Forderungen Ihres Antrags sind in unseren Augen keineswegs das, was auf der Basis der Begriffe „Sicherheit“ und „Verantwortung“ jetzt ansteht.
Deshalb lehnen wir ihn ab.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Eine verantwortungsvolle Endlagerfestlegung muss
Kriterien folgen, wie sie heute hier schon ansatzweise
beschrieben wurden und wie sie vom vorigen Umweltminister bereits in ein Gesetz gegossen wurden, das wie
manch anderes dann Opfer der Neuwahlen wurde. Hast
allerdings kann bei Fragen, die eine Reichweite von
140 000 bis Millionen Jahren haben, nicht das erste Kriterium sein.
Frau Kotting-Uhl, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss.
Die Zukunft wird für unüberschaubar lange Zeit von
den Hinterlassenschaften der Atomstromproduktion belastet sein. Der immer weiteren Produktion von Atomstrom kann die Zukunft schon allein aus diesem Grund
nicht gehören. Sie muss und wird den erneuerbaren
Energien gehören und damit der gestern hier so genannten grünen Energie.
Vielen Dank.
({0})
Für die CDU/CSU spricht der Kollege Dr. Georg
Nüßlein.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kotting-Uhl, Sie haben mit Verantwortung und
Verantwortbarkeit argumentiert, was mich zu einer sehr
grundsätzlichen Bemerkung veranlasst: Die Grünen haben das Thema Kernenergie sieben Jahre lang federführend - der Bundesminister a. D. sitzt da - verantwortet.
Verantworten kann man aber nur etwas, was man für
verantwortbar hält.
({0})
- Das ist völlig logisch; ich verantworte nichts, was ich
für unverantwortbar halte, wie Sie das tun. Wenn Sie
jetzt sagen, das sei unlogisch, dann haben Sie Recht: Das
wäre unlogisch.
Verantworten kann man nur Dinge, die man für verantwortbar hält. Damit ist die Sicherheitsdiskussion, die
von Ihnen immer so gern geführt wird, aus meiner Sicht
etwas, was die Leute auf sehr unredliche Art und Weise
verunsichert.
Dasselbe gilt für das Thema Zwischenlager. Die
grüne Basis hat die Zwischenlager in Gorleben und
Ahaus immer als Blechhütten oder Zeitbomben bezeichnet. Demgegenüber hat die grüne Spitze beschlossen,
dass diese Zwischenlager so sicher sind, dass man die
Nutzungsdauer immerhin zwölffach multiplizieren kann.
In meinem Wahlkreis, zu dem Gundremmingen gehört, gibt es nun auch ein Zwischenlager. Auch dort
- das gebe ich gern zu - gab es ein gewisses Unbehagen,
als beschlossen wurde, dort eine Zwischenlagerung vorzunehmen. Mit dem Hinweis, dass es die Grünen sind,
die das Thema letztendlich zu verantworten haben,
konnte man das Unbehagen etwas ausräumen, wenn
auch nicht ganz. Nun hat dieses Zwischenlager 30 Millionen Euro gekostet. Nimmt man diese Summe mal
zwölf, kommt man auf 360 Millionen Euro. So hoch ist
der volkswirtschaftliche Schaden. Ich sage das deshalb,
weil die Transporte, die man offenkundig hat verhindern
wollen, irgendwann stattfinden müssen. Mir ist klar, dass
der damalige grüne Umweltminister nicht Dinge genehmigen wollte, gegen die er früher demonstriert hat.
({1})
Das ist mir völlig klar, aber Sie werden sehen, dass hier
nur nach dem Motto verfahren worden ist: Lasst uns dieses Thema bis nach der Amtszeit der Grünen verschieben. Das ist nun offenkundig gelungen.
Jetzt sind wir bei der Endlagerung. Hier darf man
nicht genauso verfahren und sagen: Wir verschieben die
Entscheidung immer und immer wieder. Herr Minister
Gabriel hat eines richtig formuliert: Unabhängig von der
Frage, ob man für oder gegen den Ausstieg ist, ein Endlager muss man am Ende haben.
Deshalb ist die Koalitionsvereinbarung an dieser
Stelle vollständig, logisch und konsequent. Wir sagen:
Wir sind uns über den Ausstieg uneinig, aber wir sind
uns darüber einig, dass wir Endlagerung brauchen. Entscheidend ist, dass wir sagen: Wir brauchen die Endlagerung und eine Lösung dieses Themas noch in dieser Legislaturperiode. Dazu hat sich der Herr Minister bekannt.
Das finde ich ganz besonders bemerkenswert. Ihnen,
Herr Minister, an dieser Stelle dafür herzlichen Dank.
Vielen Dank.
({2})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/267 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, dass Sie
damit einverstanden sind. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 sowie Zusatzpunkt 6 auf:
21 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Norman Paech, Wolfgang Gehrcke, Monika
Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Weiter verhandeln - kein Militäreinsatz gegen
den Iran
- Drucksache 16/452 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Winfried Nachtwei, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für ein friedliches Vorgehen im Konflikt über
das iranische Atomprogramm - Demokratische Entwicklung unterstützen
- Drucksache 16/651 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, für die Beratung eine halbe Stunde vorzusehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst erteile ich das
Wort dem Kollegen Oskar Lafontaine für die Linksfraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Bei der Behandlung dieses Tagesordnungspunktes befinden wir uns heute in einer ungewöhnlichen Situation, und zwar deshalb, weil innerhalb der großen Koalition gegenseitige Vorwürfe erhoben werden, die
- wenn man die Erfahrungen der Republik der letzten
Jahrzehnte betrachtet - nicht alltäglich sind.
({0})
Der kleine Koalitionspartner unterstellt dem größeren
Koalitionspartner, dass die Vorsitzende militärische
Optionen gegenüber dem Iran erwäge. Anders sind die
Ausführungen und Auseinandersetzungen der letzten
Tage nicht zu verstehen.
({1})
Dass Sie versuchen, dies unter der Decke zu halten und
gleich vielleicht wortreich bekunden, dass das alles gar
nicht so sei, ist verständlich. Aber es ändert nichts an
dem Sachverhalt, der öffentlich bekannt ist.
Ich will das für unsere Fraktion so kommentieren:
Entweder meint die SPD das ernst; dann würde ich mir
als Sozialdemokrat die Frage stellen, ob ich mit so einer
Kanzlerin in einer gemeinsamen Regierung sein möchte.
({2})
Oder sie meint es nicht ernst; dann ist es zumindest ein
verantwortungsloser Umgang mit diesem Thema. Denn
das Thema ist zu ernst, als dass man es auf diese Art und
Weise behandeln könnte.
Ich will nun zum Thema selbst etwas sagen: Ich unterstelle der Kanzlerin nicht, dass sie auf militärische
Optionen zielt.
({3})
Ich will das hier im Deutschen Bundestag ausdrücklich
festhalten. Die Frage ist allerdings, ob die Iranpolitik der
Bundesregierung, wie sie derzeit angelegt ist, richtig ist,
um solche militärischen Optionen nicht weiter zu befördern. Dazu von unserer Seite folgende Bemerkung: Wir
glauben, dass die Politik des Westens gegenüber dem
Iran im Grundsatz nicht aufrechtzuerhalten ist. Warum?
Erstens gibt es eine ganze Reihe von Staaten, die immer noch sagen: Wir selbst wollen Atomwaffen haben,
wir verbieten es aber anderen, Atomwaffen herzustellen.
Auf dieser Grundlage wird es keine atomare Abrüstung
in der Welt geben. Es wird immer so sein, dass es Staaten gibt, die ebenfalls Atomwaffen haben wollen. Auf
der Grundlage eines solchen Widerspruchs kann man
keine friedliche Politik machen.
({4})
Im Übrigen ist es selbstverständlich, dass der Iran
Atomwaffen anstrebt. Alles andere wäre völlig unrealistisch. Sie können in jeder Tageszeitung des Vorderen
Orients und darüber hinaus nachlesen, dass die Staaten
dort aus den kriegerischen Auseinandersetzungen der
letzten Jahre den Schluss gezogen haben: Nur derjenige,
der Atomwaffen besitzt, läuft keine Gefahr, von den Vereinigten Staaten angegriffen zu werden. Ob es uns passt
oder nicht, das ist die Haltung dort. Diese muss man zur
Kenntnis nehmen. Deshalb ist es selbstverständlich, dass
sie Atomwaffen anstreben.
Nun zum zweiten Widerspruch. Es ist nicht nur so,
dass man eine Politik macht auf der Grundlage: Wir wollen Atomwaffen haben, ihr dürft sie nicht haben. Man
sagt auch: Wir halten uns nicht an den Atomwaffensperrvertrag und euch verbieten wir, die Möglichkeiten
des Atomwaffensperrvertrages zu nutzen. Wie kann man
mit einer solch widersprüchlichen Politik überhaupt
Frieden erreichen wollen?
({5})
Die Anreicherung von Uran ist im Atomwaffensperrvertrag ausdrücklich erlaubt. Die gegenwärtigen Atommächte, die ihn unterschrieben haben - das liegt schon
Jahrzehnte zurück -, haben sich bereit erklärt, international kontrolliert zu werden und vollständig abzurüsten.
Wenn man sich vor Augen hält, dass sie den Atomwaffensperrvertrag gebrochen haben, dann erkennt man,
dass auf dieser Grundlage der Frieden nicht erhalten und
dieser Konflikt nicht geschlichtet werden kann.
Daher glaubt die Fraktion Die Linke, dass man vom
Grundsatz her anders vorgehen muss: Wir müssen gegenüber dem Iran ein faireres Verhalten an den Tag
legen, auch wenn sich das dortige Regime zurzeit tatsächlich auf eine Art und Weise verhält, die die Weltöffentlichkeit nicht akzeptieren kann. Deshalb fordern wir
nach wie vor eine Friedenskonferenz für den Nahen Osten. Wir fordern allerdings auch, Gewaltverzicht gegenüber jedermann anzustreben und Nichtangriffsgarantien
auszusprechen; das ist ganz entscheidend.
({6})
Selbstverständlich streben wir ebenso die Garantie
des Existenzrechts Israels an. Mit demselben Nachdruck
setzen wir uns allerdings auch für die Gründung eines
unabhängigen Palästinenserstaates ein. Hier im Deutschen Bundestag möchte ich betonen, dass dies für uns
eine genauso große Verpflichtung ist wie der Einsatz für
die Anerkennung des Existenzrechts Israels.
({7})
Denn aufgrund unserer Geschichte haben wir auch gegenüber dem palästinensischen Volk eine Verantwortung.
Herr Lafontaine, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja.
Mein letzter Punkt. Wie Sie dem von uns vorgelegten
Antrag entnehmen können, sind wir der Meinung, dass
wir die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone im Vorderen Orient anstreben sollten; dabei sollten wir das einbeziehen, was ich gerade gesagt habe. Auch wenn es um
den Vorderen Orient geht, kann man nicht einfach sagen:
Die einen dürfen Atomwaffen besitzen, die anderen
nicht. So werden wir niemals Frieden erreichen.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege
Joachim Hörster.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weiß
gar nicht genau, wozu die Diskussion, die wir aufgrund
der Anträge des Bündnisses 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke in diesem Hohen Hause führen, dienen und wem sie nutzen soll.
Wenn ich mir den Gegenstand dieser Debatte und den
Weg vor Augen führe, der bisher zurückgelegt worden
ist, um dem iranischen Atomprogramm zu begegnen und
dem Land zu helfen, auf den richtigen Weg zurückzukehren, dann sieht die gegenwärtige Situation, die sehr
ernst ist, so aus: Die Europäische Union - vertreten
durch die E 3 - und die USA, aber auch Russland und
die Vereinten Nationen vertreten gemeinsam die Position, dass der Iran sein Nuklearprogramm, das darauf
ausgerichtet ist, waffenfähiges Material herzustellen, beenden und sich vollständig der Kontrolle durch die Internationale Atomenergiebehörde unterstellen muss. Angesichts dessen, was der Kollege Lafontaine gesagt hat,
muss ich mich ein bisschen wundern. Denn der größte
Teil Ihrer Ausführungen findet sich in dem Antrag, den
Sie von der Fraktion Die Linke vorgelegt haben, nicht
wieder.
({0})
Vor allem haben Sie sich in einem Widerspruch zu Ihrem Antrag verfangen. Denn dort heißt es:
Der Deutsche Bundestag appelliert an den Iran, die
Drohungen gegenüber Israel unverzüglich einzustellen,
({1})
sich an seine Verpflichtungen aus dem Vertrag über
die Nichtverbreitung der Kernwaffen zu halten
({2})
und alles zu unterlassen, was zu einer Eskalation
des Konflikts um sein Atomprogramm beitragen
könnte.
({3})
- Nein, Sie haben vorhin gesagt, es sei unsinnig, an diesen Verpflichtungen des Atomwaffensperrvertrages festzuhalten, weil es in dieser Region und auch darüber hinaus viele Staaten gebe, die ebenfalls Atomwaffen
besitzen wollten.
({4})
Meine Damen und Herren, wir sollten uns vergegenwärtigen, wie dieser Konflikt überhaupt entstanden ist
- ich will jetzt allerdings nicht alle Stationen
aufzählen -: Im Jahre 2003 hat die IAEO Teheran vorgeworfen, verschwiegen zu haben, bestimmte nukleare
Materialien hergestellt und entsprechende Aktivitäten
durchgeführt zu haben. Dann ist es zu Verhandlungen
gekommen. Später hat die IAEO die Feststellung getroffen, dass waffenfähiges nukleares Material hergestellt
worden ist, von dem auch Spuren nachgewiesen werden
konnten. Letztlich mündete das Ganze in einer Erklärung Teherans, die dazu führte, dass die Urananreicherung im Iran ausgesetzt wurde.
Der Iran hat daraufhin ein Zusatzprotokoll zum
Atomwaffensperrvertrag unterschrieben, dass er die
Urananreicherung unterlassen werde. Allerdings hat er
in der Folgezeit nur unzureichend mit der IAEO kooperiert, sodass es erneut zu Beanstandungen gekommen ist.
Im Anschluss daran gab es das Pariser Abkommen. Aber
im April 2005 - da liefen die Verhandlungen schon gut
zwei Jahre - hat der Iran angekündigt, sein Programm
zur Anreicherung von Uran wieder aufzunehmen. Der
neue iranische Präsident Ahmadinedschad hat angekündigt, dass das Land an seinen Atomplänen festhalten
werde; das war im Juni 2005. Im August 2005 hat der
Iran die umstrittene Atomanlage Isfahan wieder voll in
Betrieb genommen sowie Europa und die USA davor gewarnt, das Land im Atomstreit vor den Weltsicherheitsrat zu zitieren. Dabei ist der Weltsicherheitsrat nach den
Regeln des Atomwaffensperrvertrages das Organ, das
sich damit befassen muss, wenn sich ein Staat, der dem
Atomwaffensperrvertrag beigetreten ist, nicht an die Regeln hält. Es war ein ständiges Hin und Her. Im
September 2005 hat der iranische Präsident bekräftigt,
dass er am Atomprogramm festhalten werde. Er hat das
umfangreiche Programm, das die EU ihm für den Verzicht auf sein Atomprogramm angeboten hat - umfängliche Wirtschaftshilfen und Kooperationen -, abgelehnt.
Mit anderen Worten: Der Konfliktkurs gegenüber der internationalen Gemeinschaft ist eindeutig vom Iran gefahren worden.
Es ist schade, dass ich die Begründung des Antrages
der Grünen erst am Ende der Debatte mitbekommen
werde. Ich will aber auf diesen Antrag verweisen; denn
er ist ausgesprochen lesenswert, was die Darstellung der
Verhältnisse im Iran anbetrifft. Die Grünen schreiben:
Die Entwicklung des Iran während der Amtszeit
des Präsidenten Khatami von 1997 bis 2005 war
widersprüchlich: Einerseits gelang es den reformorientierten Kräften in der iranischen Zivilgesellschaft, sich sukzessive größere politische, gesellschaftliche und kulturelle Freiräume zu erobern.
Andererseits blieb die fundamentale Machtstruktur
des Staates unangetastet. Massive Menschenrechtsverletzungen waren weiterhin an der Tagesordnung,
politische und bürgerliche Freiheitsrechte wurden
weitgehend missachtet.
Dann schreiben Sie:
Innenpolitisch ist die Entwicklung im Iran seit der
Wahl des Präsidenten Ahmadinedschad durch die
Verschärfung der Verfolgung der Minderheiten, die
Einschränkung gesellschaftlicher Freiräume und
die wieder zunehmende Unterdrückung der Opposition gekennzeichnet.
Dann verweisen Sie auf den Fall Gandji und einige
andere Fälle:
Auch andere grundlegende politische Rechte werden im Iran regelmäßig missachtet. Jüngstes Beispiel ist die gewaltsame Verhinderung eines Streiks
bei den Teheraner Verkehrsbetrieben.
Sie beschreiben also in Ihrem Antrag permanente,
grobe Menschenrechtsverletzungen, die die iranische
Regierung begeht. Hinzu kommen die Äußerungen des
iranischen Präsidenten, der im Zusammenhang mit Israel
vom „Mythos eines Massakers an den Juden“ redet und
darüber schwadroniert, der Westen habe eine Legende
geschaffen, die er höher als Gott, die Religion an sich
und die Propheten stellen würde. Wiederholt erhebt
Ahmadinedschad seine Forderung, dass der Staat Israel
in eine andere Weltgegend verlagert wird. Da frage ich
mich, wie Sie angesichts Ihrer eigenen Bewertungen des
politischen Systems und der inneren Verhältnisse im Iran
sowie angesichts dieser Äußerungen über den Staat Israel - die übrigens genauso verwerflich wären, wenn sie
im Hinblick auf irgendeinen anderen Staat geäußert worden wären - zu einer Formulierung kommen können, die
vom Iran nur als Appeasement verstanden werden kann.
({5})
Diese Reaktion ist der Situation nicht angemessen.
Angemessen ist, dass die Europäische Union, vertreten
durch die E 3 - Deutschland, Frankreich und Großbritannien -, ihre außerordentlich erfolgreiche Arbeit fortsetzt, die dazu geführt hat, dass der Iran am Verhandlungstisch geblieben ist.
Es ist in den Jahren der Verhandlungen gelungen, eine
gemeinsame Position mit den Vereinigten Staaten und
der UNO zu finden. Bemerkenswert ist auch die Äußerung des russischen Außenministers Lawrow, der gesagt
hat: Unter rationalen Gesichtspunkten ist nicht nachvollziehbar, warum der Iran ein Atomprogramm will. Unter
Energiegesichtspunkten braucht er es nicht. Das legt den
dringenden Verdacht nahe, dass es hier darum geht, die
Voraussetzungen zum Bau einer Atomwaffe zu schaffen.
Wenn wir diese Perspektive vor Augen haben, die von
allen Mächten der Welt, von der internationalen Gemeinschaft, geteilt wird, dann müssen wir uns doch fragen, ob
wir sehenden Auges auf eine Situation zutreiben wollen,
in der am Schluss ein Staat, dessen Präsident eine solchen Geisteshaltung hat, über Atomwaffen verfügt. Dem
müssen wir von Anfang an mit Festigkeit begegnen.
Die Grünen schreiben in ihrem Antrag ja selbst, dass
notfalls Sanktionen gebraucht werden müssen. Das will
ich auch noch in Erinnerung rufen. Gleichzeitig will ich
dabei festhalten, dass im Augenblick niemand an Sanktionen denkt.
({6})
Im Augenblick denkt jedermann nur daran, den Iran auf
den Pfad der Tugend zurückzuführen.
In diesem Zusammenhang darf ich auch die Erklärung der E3/EU-Minister vom Januar zitieren, in der es
heißt:
Wir bekennen uns auch weiterhin dazu, diese Frage
diplomatisch zu lösen. Wir werden uns in den kommenden Tagen und Wochen mit unseren internationalen Partnern eng abstimmen. Wir sind der Auffassung, dass die Zeit jetzt gekommen ist, den
Sicherheitsrat einzuschalten, um die Autorität der
IAEO-Resolutionen zu stärken. Wir werden daher
eine außerordentliche Tagung des IAEO-Gouverneursrats beantragen,
- sie hat inzwischen stattgefunden damit dieser die hierzu erforderlichen Schritte ergreift.
Herr Hörster, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das ist die Position der Bundesregierung und auch die
Position der großen Koalition. Jeder, der bezüglich dieser Position vordergründig versucht, Streit zu stiften, der
dient dem Nuklearprogramm des Iran, aber nicht der
Festigkeit und Sicherheit der Region.
({0})
Jetzt erhält der Kollege Dr. Werner Hoyer von der
FDP-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Krise aufgrund des iranischen Nuklearprogramms ist
weiß Gott eine der ernsthaftesten Sicherheitsbedrohungen unserer Zeit. Dies verlangt ein besonnenes, verantwortliches Handeln. Handeln heißt hier natürlich auch
wirklich handeln und nicht nichts tun; denn eines ist
auch klar: Die Zeit arbeitet bei diesem Thema gegen uns.
Deutschland, Frankreich und Großbritannien haben
gemeinsam mit dem Partner jenseits des Atlantiks einiges erreicht. Daran ist weiter zu arbeiten. Diese diplomatischen Bemühungen müssen natürlich auch weiterhin
im Vordergrund stehen.
({0})
Ich stimme all denen zu, die bei einem solchen Thema
immer sagen: Versetzt euch doch einmal in die Lage des
betroffenen Landes. - Wäre es für den Iran, wenn er eine
rationalere politische Führung hätte, eine angenehme
Situation, wenn man sich einmal das nukleare Umfeld
ansehen würde? Ich habe durchaus Verständnis dafür,
dass man diese Frage mit Nein beantworten kann. Es
geht hier aber nicht um einen demokratischen, aufgeklärten Iran, der sich diese Frage stellt, sondern um eine
iranische Führung, die das Ausradieren des Staates Israel
an die Wand malt, eine Regierung, die uns zumindest mit
Worten direkt bedroht, eine Regierung, die keinen Beitrag zur Befriedung der überaus schwierigen Situation
im Nahen Osten leistet. Deswegen ist das nicht
irgendeine, sondern eine sehr problematische Regierung.
Ich finde es beachtlich, dass in dem Beschluss des
Gouverneursrats der IAEO, der durch eine große diplomatische Leistung herbeigeführt wurde, der Begriff
„massenvernichtungswaffenfreie Zone“ steht. Das ist ein
großer Schritt, zu dem zum Beispiel unsere amerikanischen Freunde erst einmal bewegt werden mussten.
Kompliment, dass das gelungen ist.
({1})
Dieser Beschluss enthält Elemente, die Hoffnung verheißen. Es sind Angebote darin, und zwar gerade auch an
die aufgeschlossene und nach Westen - übrigens mehr
nach Amerika als nach Europa - orientierte junge Generation im Iran. Sie müssen wir gewinnen. Wir dürfen sie
nicht vor den Kopf stoßen. Wir dürfen diese junge Generation dem iranischen Staatspräsidenten nicht geradezu
in die Arme treiben.
Hier ist noch sehr viel zu tun. Das, was bisher geleistet worden ist, war nur möglich, weil geschlossen und
entschlossen gehandelt worden ist. Deswegen ist es für
mich von herausragender Bedeutung, dass diese Geschlossenheit und Entschlossenheit erhalten bleiben. Ich
halte nichts davon, Fragen zu beantworten, die sich uns
gegenwärtig noch gar nicht stellen - uns sowieso nicht.
Natürlich denkt in Deutschland keiner über militärische Optionen nach. Wir haben auch gar keine und
halten sie auch nicht für wünschenswert. Diejenigen, die
sehr viel stärker betroffen sind, mögen Überlegungen
anstellen, in der gegenwärtigen Situation kein taktisches
Mittel aus der Hand zu geben, um bei ihrem Gegenüber
einen Zustand der Unsicherheit und Verunsicherung zu
bewahren. Das muss man respektieren. Dafür die Gemeinsamkeit und Geschlossenheit des Westens und darüber hinaus der Völkergemeinschaft aufs Spiel zu setzen, halte ich für nicht sonderlich klug.
({2})
Was uns aber in Wahrheit darob droht, ist eine innenpolitische Dimension. Ich hoffe, es wird gelingen, sie
außen vor zu lassen; denn der Versuch ist erkennbar
gewesen, hier gewissermaßen - da war doch einmal etwas - einen virtuellen Marktplatz von Goslar aufzumachen. Diesen Versuch an dieser Stelle erneut durchzuführen, halte ich für unverantwortlich. Deswegen sollten wir
es lassen. Ich hoffe, dass dies in diesem Hause insgesamt
so gesehen wird.
({3})
Ich füge allerdings hinzu: Um der Glaubwürdigkeit
der Bundesrepublik Deutschland willen wünsche ich
mir, dass wir seitens des Westens, der Europäischen
Union, der NATO und auch der Bundesrepublik
Deutschland etwas sichtbarer aktiv werden, wenn es darum geht, bei der Nichtverbreitung und der Abrüstung
weiterzukommen.
({4})
Dort hat es in den letzten Jahren eine große Lücke gegeben. Hieran muss deutlicher gearbeitet werden; denn nur
dann werden wir denjenigen unter den gutwilligen Iranern, die sich Gedanken darüber machen, was um sie herum los ist, eine befriedigende Antwort geben können.
Wenn aber in der Frage der iranischen Nuklearbewaffnung die rote Linie überschritten wird, dann stehen
wir vor einem Dammbruch und einem totalen Kollaps
jeglicher Abrüstungs- und Nonproliferationspolitik.
Deswegen wünsche ich mir, dass die Bundesregierung
gemeinsam mit ihren Partnern in Europa, in Amerika, in
Russland und in China mit ihren Bemühungen Erfolg
hat.
({5})
Jetzt hat der Kollege Mützenich, SPD-Fraktion, das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Ausgang der iranischen Atomkrise wird
sowohl die Entwicklung im Mittleren und Nahen Osten
als auch die Hoffnung im internationalen nuklearen Bereich insgesamt beeinflussen. Deswegen ist es gut, wenn
der Deutsche Bundestag erneut über den Iran debattiert.
Die Öffentlichkeit hat meines Erachtens ein Interesse
und ein Bedürfnis, dieses Thema zu erörtern.
Es ist aber unangemessen, die Menschen wissentlich
zu verunsichern.
({0})
Nichts anderes aber tun Sie. Sie unterstellen, dass die
Atomkrise militärisch beantwortet werden soll. Kein
Mitglied der Bundesregierung aber hat eine militärische
Option ins Spiel gebracht. Im Gegenteil: Der Außenminister hat vor einer Militarisierung des Konflikts gewarnt. Die Bundeskanzlerin hat gestern in Interviews erneut die diplomatische Lösung unterstrichen. Ich sage
Ihnen ganz ehrlich: Sie unterstellen etwas und führen auf
dieser Grundlage eine falsche Debatte.
({1})
Herr Lafontaine, Sie haben die Sicherheitskonferenz
angesprochen. Ich glaube, Sie waren dort nicht dabei,
aber man kann sich die Mühe machen, das Protokoll
nachzulesen. In der Diskussion mit dem Vizeaußenminister des Irans hat die Bundeskanzlerin unter anderem gesagt, es gehe hier gar nicht um eine militärische
Option, sondern es gehe um diplomatische Mittel. Damit
hat sie klar gemacht, was geht und was nicht geht. Deutlicher, Herr Lafontaine, kann man nicht werden. Sie führen eine Scheindebatte zulasten der Diplomatie und
eines einheitlichen Auftretens der internationalen Gemeinschaft gegenüber dem Iran.
({2})
Zugleich - das muss ich Ihnen ehrlich sagen - ist der
Antrag der Linken eine grobe Verzerrung. Sie erwähnen
- das haben Sie eben auch in der Debatte gesagt - Drohungen Irans gegen Israel. Das ist zu wenig. Mehr noch:
Ich nenne das eine Verharmlosung des Gesagten. Warum
verschweigen Sie in Ihrem Antrag, dass der iranische
Präsident den Holocaust leugnet? Warum schreiben Sie
nicht, dass er das Existenzrecht Israels infrage stellt?
Das sind nicht nur Drohungen. Das derzeitige Verhalten des iranischen Präsidenten ist eine zutiefst inhumane
Manipulation der Geschichte.
({3})
Dieses Schüren von Hass und Unfrieden hätten Sie benennen sollen und müssen. Warum sagen Sie nicht, dass
der Iran in den vergangenen 18 Jahren gegen die Regeln
des Atomwaffensperrvertrages verstoßen hat? Warum
erwähnen Sie nicht, dass der Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde, al-Baradei - aus meiner Sicht
ein besonnener und unparteilicher Diplomat -, immer
noch nicht ausschließen kann, dass der Iran ein militärisches Atomprogramm betreibt?
Herr Mützenich.
Sofort. - Warum verschweigen Sie, dass der Iran in
der Regel den Inspekteuren nur das zeigt oder berichtet,
was bereits bekannt ist? Warum übergehen Sie die Tatsache, dass Trägersysteme entwickelt werden, die bis
Europa reichen? Warum berichten Sie nicht, dass der
Iran das europäische Angebot ohne genaue Prüfung zurückgewiesen hat?
Wenn Sie schon über die iranische Atomkrise debattieren wollen, dann müssen Sie auch etwas über den
Kern des Konflikts sagen.
({0})
Herr Mützenich, möchten Sie jetzt die Zwischenfrage
von Frau Pau zulassen?
Wenn es nicht zulasten meiner Redezeit geht.
Natürlich nicht. - Bitte schön.
({0})
Ich habe die ganze Zeit zugehört!
({0})
Haben Sie sich jetzt darauf geeinigt, dass Frau Pau die
Zwischenfrage stellt, Herr Lafontaine, oder wollen Sie
das gerne übernehmen? - Bitte schön, Frau Pau.
Wir könnten den eindrucksvollen Katalog sowohl der
Bewertungen als auch der Vorwürfe gegenüber dem Präsidenten des Irans sicherlich noch fortsetzen.
({0})
- Sie sind völlig richtig. Deswegen stellt sich für mich
die Frage, warum sie in dem vorliegenden Antrag noch
einmal aufgezählt werden sollen. Denn wir haben vor
Weihnachten der gemeinsamen Resolution des Deutschen Bundestages zur Verurteilung der Äußerungen
des iranischen Präsidenten, der abscheulichen Leugnung des Holocaust und der falschen Politik zugestimmt.
Waren Sie an dieser Resolution beteiligt und haben Sie
ihr - so wie die gesamte Fraktion der Linken - zugestimmt? Etwas wird doch nicht dadurch besser, dass man
es immer wiederholt.
Der Punkt ist doch: Sie äußern sich zu der iranischen
Atomkrise und den militärischen Mitteln, die dort möglicherweise eingesetzt werden. Seit dem Einbringen des
Antrags sind aber täglich neue Vorwürfe gegenüber Israel erhoben worden. Warum nehmen Sie das nicht in
den Antrag mit auf, wenn er ohnehin auf Wiedervorlage
liegt? Das gehört doch alles mit in diese Debatte hinein.
({0})
Herr Kollege Mützenich.
Die rot-grüne Bundesregierung hat zusammen mit
den europäischen Partnern vor mehr als zwei Jahren das
Richtige getan. Sie hat mit zivilen diplomatischen Mitteln versucht, die Atomkrise zu entschärfen und zu lösen.
Herr Mützenich, es gibt noch eine zweite Zwischenfrage, und zwar von der Kollegin Monika Knoche.
({0})
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie kaprizieren sich im Moment sehr
darauf, der linken Fraktion zu unterstellen, ihr mangele
es an Sensibilität hinsichtlich der Bedrohung Israels
durch die Äußerungen des iranischen Präsidenten.
({0})
Dabei beziehen Sie sich auf unseren Antrag.
({1})
Darf ich Sie bitten, zu kommentieren, wie Sie zu Ihrem Urteil kommen? Wir haben in den dritten Absatz
unseres Antrags Folgendes aufgenommen:
Der Deutsche Bundestag appelliert an den Iran, die
Drohungen gegenüber Israel unverzüglich einzustellen, sich an seine Verpflichtungen aus dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen zu
halten und alles zu unterlassen, was zu einer Eskalation des Konflikts um sein Atomprogramm beitragen könnte.
Sind Sie bereit, dies zur Kenntnis zu nehmen und Ihre
vorhergehenden Äußerungen über die Haltung der Linken zum Existenzrecht Israels zurückzunehmen?
({2})
Nein. Wenn Sie zugehört hätten, liebe Kollegin, dann
wüssten Sie, dass ich aus Ihrem Antrag zitiert habe. Ich
habe aber auch das aufgezählt, was Sie unterlassen.
Ich darf Sie an unsere Diskussion im Auswärtigen
Ausschuss über das Thema erinnern - Sie waren dabei -,
als der Kollege Paech sich dazu in keiner Weise geäußert
hat.
({0})
Tun Sie also nicht so, als hätten Sie eine Position vertreten! Beschreiben Sie Ihre Position und diskutieren Sie
sie mit uns! Das wäre viel besser.
({1})
Der Ansatz, den die damalige rot-grüne Bundesregierung gewählt hat, hat weiterhin eine Chance. Die Unterstützung der Bundesregierung besteht auch fort. Am
Montag beispielsweise wird in Moskau mit Vertretern
Russlands und des Irans zu klären sein, ob auf russischem Boden eine Urananreicherung möglich ist.
Der russische Vorschlag bedeutet zweierlei: Angesichts der zahlreichen, langjährigen und bisher nicht aufgeklärten Verstöße des Irans gegen die Regeln des
Atomwaffensperrvertrags soll das Land den Brennstoffkreislauf nicht schließen. Die Anreicherung und Abzweigung von Uran für militärische Zwecke wäre demnach ausgeschlossen. Damit wäre die Atomkrise zwar
noch nicht gelöst, aber mithilfe dieser vertrauensbildenden Maßnahme könnten weitere Fragen in Ruhe angegangen werden. Deswegen verstehe ich nicht, Kollege
Lafontaine, warum Sie beispielsweise diesen Vorschlag,
den die Russen eingebracht haben und den die Chinesen
und die Brasilianer unterstützen, nicht in Ihrem Antrag
und in Ihrer Rede aufgegriffen haben. Dieser Vorschlag
zeigt doch, dass diplomatische Lösungen möglich sind.
Darauf müssen wir bauen und daran müssen wir arbeiten.
({2})
Der Iran sollte im eigenen Interesse diesen Vorschlag
aufgreifen. Das würde neues Vertrauen bilden. Danach
könnten weitere sicherheitsfördernde Schritte folgen.
Unverzichtbar ist dabei die politische Mitwirkung der
USA.
Des Weiteren brauchen wir - darüber haben wir schon
vor zwei Wochen im Rahmen einer Aktuellen Stunde
diskutiert; es herrschte damals großes Einvernehmen im
Haus; wahrscheinlich haben Sie, Herr Lafontaine, nicht
teilgenommen - regionale und weltweite Initiativen für
Rüstungskontrolle und Abrüstung. Wir müssen über die
atomare Rüstung, die Rolle und die Verbreitung von
Kernwaffen, sprechen. Solange Atomwaffen ein Bestandteil der militärischen Ausrüstung und Planung in
wenigen, in der Regel mächtigen Ländern sind, werden
sich Fälle wie die des Irans oder Nordkoreas wiederholen. Deshalb müssen Rüstungskontrolle und Abrüstung die Bemühungen um die Lösung der iranischen
Atomkrise flankieren.
({3})
Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands, Matthias Platzeck, hat dies erst vor wenigen Tagen wiederholt; darin unterstützen wir ihn.
({4})
Wir brauchen eine weitere internationale Debatte.
Einzelne Staaten, vor allem die Atomwaffenstaaten, reklamieren für sich das Recht, allein zu entscheiden, ob
militärische Gewalt ein legitimes und angemessenes
Mittel sein kann, wenn nationale Interessen gefährdet zu
sein scheinen. Damit wird ein Prinzip ausgehöhlt, welches nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eigentlich
hätte wieder belebt werden müssen: das Gewaltverbot.
Dieses Verbot zum Gegenstand der internationalen Politik zu machen, ist auch Aufgabe dieser Bundesregierung.
Darin unterstützen wir, die sozialdemokratische Fraktion, sie. Es geht nämlich auch um die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung nach der UN-Charta. Das alles ist
in die Bemühungen um eine friedliche Beilegung des
Konflikts mit dem Iran einbezogen. Es wäre gut, wenn
der Deutsche Bundestag diesen Weg gegenüber der Bundesregierung unterstützte.
({5})
Es ist wichtig, dass die iranische Atomkrise mit friedlichen Mitteln gelöst wird. Das wäre nicht nur ein unschätzbarer Vorteil für die Region und ein Beispiel für
eine gemeinsame europäische Außenpolitik, sondern
auch stilbildend für die Lösung anderer internationaler
Krisen. Wir wollen daran mitwirken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche
Ihnen ein schönes Wochenende.
({6})
So weit sind wir noch gar nicht, Herr Mützenich.
Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege
Jürgen Trittin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Oxford-Friedensforscher Paul Rogers hat dieser Tage einen
Aufsatz bzw. eine Studie veröffentlicht, in der er sich mit
der Frage nach den Folgen eines solchen von einigen angedachten Militärschlags beschäftigt hat. Er kommt zu
einem ganz einfachen Ergebnis: Eine Militäroperation
gegen den Iran wäre keine kurzfristige Angelegenheit,
sondern würde ein Zusammenspiel komplexer und lang
anhaltender Konfrontationen auslösen. Daraus folgt,
dass militärische Aktionen strikt ausgeschlossen und alternative Strategien entwickelt werden sollten. Genau
das ist der springende Punkt. Auch wir sind der Meinung, dass militärische Lösungen ein unkalkulierbares
Eskalationsrisiko haben. Ich sage Ihnen: Diejenigen,
die als erstes die Zeche dafür zahlen müssten, wären Israel und die Menschen im gesamten Nahen Osten. Deswegen sind wir gegen eine militärische Lösung.
({0})
Wenn man aber Alternativen entwickeln will, dann
darf man zwei Fehler nicht machen. Auf der einen Seite
darf man sich die Situation nicht schöner reden, als sie
ist. Auf der anderen Seite darf man die eigenen Überlegungen nicht schlechter reden, als sie sind. Das Erste haben Sie gemacht, Herr Lafontaine. Dem Iran ist doch die
Einrichtung einer massenvernichtungsfreien Zone angeboten worden. Das war Bestandteil des Vorschlags der
EU 3. Ich bin völlig dagegen, dass dieser Vorschlag geändert wird. Es ist falsch, zu behaupten, der Iran habe
sich völkerrechtskonform verhalten. Tatsächlich befindet
er sich im Zustand von Non-Compliance gegenüber dem
Atomwaffensperrvertrag. Das hat eine übergroße
Mehrheit der Mitglieder der Staatengemeinschaft festgestellt. Wenn man Multilateralismus und Völkerrecht
hochhält, dann muss man die Ergebnisse von Multilateralismus und Völkerrecht an bestimmten Stellen auch
einmal akzeptieren.
({1})
Außerdem - es fällt mir als Atomkraftgegner schwer,
das zu sagen - haben wir den Iran nicht einmal aufgefordert, er solle nicht anreichern. Wir beziehen uns ausdrücklich darauf, dass die Anreicherung ausgesetzt
wird, aber unter internationaler Aufsicht in Russland
stattfinden soll. Wir unterstützen das, gerade weil wir
nicht der Logik folgen wollen, einem Land willkürlich
die Rechte abzusprechen, die andere Länder selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen, auch wenn das
Ökologen und Atomkraftgegnern an dieser Stelle schwer
fällt.
Ich bin ein Befürworter der Klarheit. Klarheit heißt
auch, den Charakter des iranischen Regimes klar zu benennen und klar zu machen, dass der Iran mehr als ein
verbrecherisches Regime ist, dass er vielmehr ein Land
mit einer vielfältigen Zivilgesellschaft ist. Wenn man
über alternative Strategien spricht, dann ist es unsere
Aufgabe, diese Vielfalt der Zivilgesellschaft zu stützen
und zu stärken. Das ist der Kern unseres Antrags, den
wir hier vorgelegt haben.
({2})
Es geht um mehr Meinungsfreiheit und Unterstützung
dieser Kräfte.
Lieber Herr Kollege Hörster, Sie haben zu Recht einige Stellen unseres Antrages zitiert. Wie Sie nach der
Lektüre dieses Antrags dazu kommen können, unsere
Forderung nach einer zivilen Lösung des Konfliktes
mit dem Wort „Appeasement“ zu belegen, ist unverständlich. Es ist genau der andere Fehler, die eigenen Instrumentarien schlecht zu reden. Wir waren uns bis zum
Gebrauch des Wortes „Appeasement“ darin einig, dass
wir versuchen müssen, den Griff des iranischen Regimes
nach der Bombe mit zivilen, mit diplomatischen Mitteln
zu unterbinden. Das ist kein Appeasement. Wenn Sie
den Antrag zu Ende gelesen hätten, wäre Ihnen vielleicht
auch die Ziffer II. 4 aufgefallen. Darin steht - ich lese
Ihnen das gerne vor -:
4. Gemeinsam mit den Partnern der EU und den internationalen Partnern einen abgestuften Katalog
realistischer nichtmilitärischer Sanktionsmaßnahmen zu entwickeln.
Wer das zu Appeasement erklärt, lieber Herr Hörster, der
steht in der Tat im Verdacht, dass er eine offene Flanke
hat und zu der Lösung tendiert, die ich am Anfang genannt habe. Deswegen glaube ich, dass unser Antrag
mehr als nötig gewesen ist.
Vielen Dank.
({3})
Damit ist die Aussprache geschlossen.
Es ist verabredet worden, die Vorlagen auf den
Drucksachen 16/452 und 16/651 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Damit
sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 8 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP:
Haltung der Bundesregierung zum Urteil des
Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz
Ich gebe als erstem Redner dem Kollegen Ernst
Burgbacher, FDP-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Bundesverfassungsgericht hat am Mittwoch ein Urteil gesprochen, mit dem wahrlich Rechtsgeschichte geschrieben wurde. Dieses Urteil hat allerdings niemanden
wirklich überrascht; denn spätestens nach der mündlichen Verhandlung war klar, dass § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes mit dem Grundgesetz unvereinbar
und nichtig ist. So hat es das Bundesverfassungsgericht
am Mittwoch festgestellt.
({0})
Dieses Urteil erfüllt uns Liberale mit aufrichtiger
Freude; denn damit ist ein Sieg für den Rechtsstaat errungen worden.
({1})
Gerne danke ich unserem ehemaligen Kollegen und Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages Dr. Burkhard
Hirsch, der in brillanter Weise rechtsstaatliche Grundsätze vertreten und durchgesetzt hat.
({2})
Überraschend war das Urteil für die FDP schon gar
nicht. Die FDP hat in den Beratungen in den Ausschüssen deutlich gemacht, dass eine Abwägung von Leben
gegen Leben - dies ist beim Abschuss eines Flugzeuges
der Fall - mit Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht vereinbar ist.
({3})
Die Sachverständigen hatten dies bestätigt. Trotzdem
sind die damaligen Regierungsfraktionen stur geblieben.
Wenn ich jetzt Kommentare der Grünen höre und
lese, dann muss ich die Kollegen von den Grünen schon
daran erinnern: Sie haben diesem Gesetz damals zugestimmt.
({4})
Auch die Ausrede, Kollege Ströbele, dieses Gesetz betreffe den genannten Fall gar nicht, wurde vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich abgelehnt. Hören Sie
also bitte damit auf, den Menschen Sand in die Augen zu
streuen! Haben Sie wenigstens den Mut, sich zu dem,
was Sie entschieden haben, zu bekennen!
({5})
Auch die Bundesregierung muss jetzt klarstellen, welche Konsequenzen sie aus diesem Urteil ziehen will. Innenminister Schäuble und andere wollen nach wie vor
einen Einsatz der Bundeswehr im Innern, wohl auch zur
Fußball-WM, durchsetzen.
({6})
Innenstaatssekretär Altmaier hält dies für schwierig. Der
Verteidigungsminister Jung lehnt es ab. Die SPD weist
entsprechende Forderungen aus der Union zurück.
({7})
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
dieses Urteil war doch absehbar. Sie hätten sich doch
darauf vorbereiten können. Die Regierung der großen
Koalition ist völlig uneins und ordnungslos.
({8})
Wir erwarten, dass die Bundesregierung jetzt Stellung
nimmt. Hier ist insbesondere die Kanzlerin gefordert,
auch wenn bei dieser Frage kein roter Teppich vor ihr
ausgerollt wird.
({9})
Ich fordere Sie, Herr Minister Schäuble, auf: Beenden
Sie endlich die Phantomdiskussion eines Bundeswehreinsatzes bei der WM.
({10})
Wir, die FDP, wollen diesen Einsatz nicht. Das war und
das ist die Überzeugung der FDP. Da sind wir übrigens
im Einklang mit vielen Betroffenen, zum Beispiel mit
dem Bundeswehr-Verband oder mit der Gewerkschaft
der Polizei.
Das Luftsicherheitsgesetz enthält weitere problematische Regelungen. So wird in § 7 dieses Gesetzes eine
Zuverlässigkeitsüberprüfung für alle Piloten von motorgetriebenen Luftfahrzeugen vorgeschrieben, die alle drei
Jahre wiederholt werden muss. Diese Vorschrift ist völlig überzogen und realitätsfern. Ich kündige deshalb für
die FDP-Fraktion an, dass wir Änderungen von § 7 beantragen werden, um die vielen Hobbypiloten von dieser
unsinnigen und kostspieligen Bürokratie zu befreien.
({11})
Der Rechtsstaat ist mit dem Urteil von Mittwoch gefestigt worden. Heribert Prantl schreibt in der „Süddeutschen Zeitung“ - ich zitiere -:
Bei der Verteidigung des Rechts gegen den Terror
darf das Recht dem Terror nicht geopfert werden das ist das große Fazit dieses Urteils.
({12})
Es liegt jetzt an uns, dem Parlament, dass wir im Reden
und im Tun uns an diesem Urteil orientieren und damit
für den Rechtsstaat und gegen den Terror kämpfen. Dieser Aufgabe haben wir jetzt alle miteinander nachzugehen.
Die Bürgerinnen und Bürger sollen es wissen: Es gibt
eine politische Kraft, deren Politik mit dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts nahtlos übereinstimmt: Das
ist die FDP. All denen, die uns heute zuschauen, sage
ich: Sie können sich auf die FDP als Rechtsstaatspartei
verlassen.
Herzlichen Dank.
({13})
Für die CDU/CSU spricht der Kollege Wolfgang
Bosbach.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man
mag die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
begrüßen, wie es der Kollege Burgbacher getan hat. Man
mag diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
wegen möglicherweise schwerwiegender Folgen für die
Bevölkerung bei einem terroristischen Anschlag bedauern. Ganz gleich, wie man es sieht: Wir müssen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts respektieren
und daraus die notwendigen gesetzgeberischen Konsequenzen ziehen.
Herr Kollege Burgbacher, gestatten Sie mir zwei Hinweise zu dem, was Sie gesagt haben, weil ich das sehr
ernst nehme.
Erstens - ich sage das, weil auch ich damals das Luftsicherheitsgesetz im Grundsatz für richig gehalten habe -:
Denjenigen, die damals zugestimmt haben, liegen die
Menschenwürde und der Respekt vor dem menschlichen
Leben ebenso am Herzen wie denen, die das Gesetz abgelehnt haben.
({0})
Das Zweite. Wir sollten uns gegenseitig zumindest
zugestehen, dass es Fälle gibt, in denen der Staat in einem echten Dilemma steckt. Es kann fatal falsch sein,
eine Maschine mit Waffengewalt zu stoppen, also abzuschießen. Es kann aber auch fatal falsch sein, eine Maschine nicht zu stoppen - mit der Folge, dass möglicherweise Tausende unschuldiger Menschen ihr Leben
verlieren.
Vielleicht sind wir auch an den Grenzen dessen angelangt, was ein Gesetzgeber regeln kann.
({1})
Vielleicht sind wir tatsächlich nicht in der Lage, alle
Fälle des Lebens zu regeln. Vielleicht - das hat das Bundesverfassungsgericht offen gelassen - muss man die
Entscheidung darüber, wie in einem konkreten Einzelfall
hätte gehandelt werden müssen, auch einmal einer politischen und möglicherweise sogar strafrechtlichen Würdigung überlassen.
({2})
Vielleicht können wir gar nicht alle Fälle vorhersehen,
die das Leben für uns bereithalten kann.
Über den § 7 des Luftsicherheitsgesetzes - auch wenn
das nur ein Randproblem ist - sollten wir uns - das
möchte ich Ihnen ausdrücklich zugestehen - noch einmal in Ruhe unterhalten. Wir erachten nicht die Intention
des Gesetzgebers als falsch, aber wir müssen auch die
praktischen Auswirkungen sehen, die eine gesetzliche
Neuregelung zur Folge haben kann.
({3})
Das Bundesverfassungsgericht hat auch entschieden,
dass bei einem unbemannten Flugobjekt das Gesagte
nicht gilt. Wenn in einer entführten Maschine nur Angreifer sind, nur Entführer, aber kein entführter Passagier ist, dann gilt das nicht.
({4})
Der Staat muss doch dann die Möglichkeit haben, eine
solche Maschine zu stoppen, wenn die Gefahr droht, dass
Tausende ihr Leben verlieren. In einem solchen Fall hat
nach unserer Kompetenzordnung die Polizei die Kompetenz zur Gefahrenabwehr, aber sie hat gar nicht die technischen Möglichkeiten; die technischen Möglichkeiten,
den Angriff abzuwehren, hat die Bundeswehr, aber sie
hat nicht die Kompetenz. Deswegen müssen wir für genau diese Fallkonstellation das Grundgesetz ändern.
Nichts anderes kann für Angriffe von See her gelten.
Wenn nur die Bundeswehr die Fähigkeit hat, einen terroristischen Angriff abzuwehren, dann wäre es nicht nur
fahrlässig, sondern sogar unverantwortlich, wenn wir die
Bundeswehr nicht einsetzen dürften, um unsere Bevölkerung zu schützen.
({5})
Wir wissen spätestens seit dem 11. September: Wir
haben eine völlig andere Bedrohungslage als zur Zeit des
Kalten Krieges, aber es ist keine minder gefährliche. Wir
wissen, dass nichtstaatliche Akteure mit militärischen
oder paramilitärischen Mitteln aus dem Inland heraus
Angriffe, Attentate verüben können - mit Folgen in militärischer Größenordnung, mit Tausenden von Toten. Ich
darf bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass bei den
Anschlägen am 11. September doppelt so viele Menschen gestorben sind wie beim Angriff auf die amerikanische Pazifikflotte in Pearl Harbor. Wir müssen das
Grundgesetz dieser neuen Bedrohungslage anpassen.
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes sind bei der
Wehrverfassung von einer völlig anderen Gefahrenlage
ausgegangen, als wir sie heute haben.
Das bedeutet nicht, dass CDU und CSU die innere Sicherheit militarisieren wollen.
({6})
Niemand hat das vor. Wir wollen der Bundeswehr nicht
peu à peu Polizeiaufgaben übertragen. Wir wollen die
Bundeswehr nicht zu einer zweiten Bereitschaftspolizei
machen.
({7})
- Nein.
({8})
- Nein, auch Herr Schäuble möchte nicht,
({9})
dass die Bundeswehr den Schutz der Fußballweltmeisterschaft übernimmt. Herr Schäuble sagt vielmehr: Wenn
eine Kombination von einer besonderen Bedrohungslage
durch den internationalen Terrorismus und von Großveranstaltungen vorliegt, bei der wir Polizeikräfte in einem
Maß binden, dass die Polizei ihre eigentlichen Aufgaben
nicht mehr wahrnehmen kann, dann muss es möglich
sein, dass die Bundeswehr Teile der Objektschutzaufgaben übernimmt, damit wir die Bevölkerung so schützen
können, wie wir sie schützen müssen.
({10})
Im Übrigen - auch das sollte an dieser Stelle einmal
gesagt werden, weil ich glaube, dass das zwar nicht bei
allen, aber doch bei manchen im Hinterkopf eine Rolle
spielt -: Die Bundeswehr verdient exakt das gleiche Vertrauen, das unsere Polizei verdient.
({11})
Das ist der Grund dafür, dass wir die Kolleginnen und
Kollegen nicht nur des Koalitionspartners, sondern des
ganzen Hohen Hauses zu einem Gespräch darüber einladen, wie wir Deutschland sicherer machen können.
Danke fürs Zuhören.
({12})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt Petra Pau.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Bundesverfassungsgericht hat vorgestern das so genannte Luftsicherheitsgesetz für verfassungswidrig und
damit für null und nichtig erklärt. Ich persönlich möchte
anmerken: Ich bin darüber sehr froh. Das Luftsicherheitsgesetz war eine Lizenz zum Töten.
({0})
Noch vor ein paar Jahren hätte ich nicht geglaubt, dass
ausgerechnet Rot-Grün so etwas beschließen würde. Sie
taten es dennoch.
Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt: Niemand hat das Recht, Menschenwürde zu gewichten und
das Leben der einen zu schützen, indem man das Leben
der anderen dem Tode weiht. Niemand heißt, auch der
Staat darf es nicht, nicht die Regierung, nicht das Parlament. Karlsruhe hat mit diesem Urteil zugleich die Kernargumente der FDP und der damaligen PDS im Bundestag bestätigt.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen es:
Es ging beim Luftsicherheitsgesetz nicht nur um die
Frage, ob ein von Terroristen entführtes Flugzeug mitsamt der als Geiseln genommenen Passagiere abgeschossen werden darf. Es ging immer auch um die Frage,
ob die Bundeswehr umfassender, als es im Grundgesetz
ohnehin erlaubt ist, im Innern der Bundesrepublik eingesetzt werden darf. Die Linksfraktion sagt dazu Nein.
({2})
Es gibt gute Gründe für das Gebot der Trennung von
Polizei und Bundeswehr: historische, politische und
sachliche. Es gibt auch gute Gründe dafür, dass die Bundeswehr Bundessache ist und die Polizei Ländersache.
Die Erfinder des Luftsicherheitsgesetzes wollten beides
umgehen: das Trennungsgebot und die jeweiligen Zuständigkeiten. Das Bundesverfassungsgericht hat das in
seiner Begründung als Kompetenzüberschreitung des
Parlaments kritisiert. Seitdem - so liest und hört man jedenfalls - grübeln insbesondere Unionspolitiker darüber,
wie sie trotz des Karlsruher Urteils die Bundeswehr im
Innern einsetzen könnten. Ich finde, das ist arrogant und
auch tollkühn.
({3})
Es gibt hierzulande eine Gruppe, die in letzter Zeit auffällig oft mit der Verfassung bricht, nämlich ausgerechnet die Minister, die für den Schutz der Verfassung zuständig sind. Die regelmäßige Folge des Ganzen ist, dass
wir uns immer wieder vor dem Bundesverfassungsgericht treffen.
Die Frage nach dem Einsatz der Bundeswehr im Innern ist inzwischen uralt und wird immer wieder einmal
von der Union aufgeworfen, so auch schon vor 15 Jahren, als Wolfgang Schäuble ebenfalls Innenminister war.
Seitdem sucht sich die Union für die Umsetzung dieses
Vorhabens ständig neue Anlässe. Nunmehr ist es die
Fußballweltmeisterschaft. Der Anlass ist gut gewählt,
denn angesichts der zunehmenden Euphorie werden
Grundrechte ganz schnell an den Rand gedrängt. Gerade
deshalb mahne ich: Die Weltmeisterschaft soll kommen,
aber die Grundrechte müssen bleiben. Ich appelliere
auch an Sie: Die Fußballweltmeisterschaft darf nicht länger mit Ängsten beladen und politisch missbraucht werden. Jeder weiß, Großveranstaltungen sind immer besondere Herausforderungen für die innere Sicherheit. Eine
seriöse Debatte darüber wäre durchaus sinnvoll, eine
Geisterdebatte zum Einsatz der Bundeswehr ist es nicht.
Dieser Tage fand übrigens hier in Berlin ein europäischer Polizeikongress statt. Auf ihm sprach auch Brandenburgs Innenminister Schönbohm. Er sprach verblüffend offen und für mich auch erhellend. Es könne sein
- so sein Szenario -, dass sich 1.-Mai-Krawalle in Berlin
hinziehen, bis die Polizei erschöpft ist. Dann müsse doch
die Bundeswehr eingreifen; das müsse sie dann auch
dürfen. Ich danke Herrn Schönbohm für diese Offenheit.
Ich gehöre nicht zu denen, die alles schwarzweiß oder
schwarzrot sehen.
({4})
Aber zur selben Zeit, da der Ex-General über Bundeswehreinsätze in Berlin-Kreuzberg nachdenkt, erhalten
wir Botschaften aus Osnabrück. Dort soll die Polizei
1-Euro-Jobbern den Weg gebahnt haben, damit diese
den aktuellen Verdi-Streik brechen. Das wäre ein Eingriff in die Tarifautonomie. Das alles lässt natürlich
nichts Gutes ahnen. Im Gegenteil, es nährt den Verdacht,
die Koalition bereite sich sehr wohl auf verstärkte soziale Auseinandersetzungen und Unruhen vor und benötige dafür die Bundeswehr im Innern.
Auch deshalb vermute ich, Ihr Kollege Schönbohm
hat Ihnen, Herr Bundesinnenminister Schäuble, mit seinen offenen Worten hier in Berlin einen Bärendienst erwiesen. Allerdings ist das Ihr Problem. Schönbohm hat
bestätigt, was ohnehin in der Luft liegt: Es geht gar nicht
um die Fußballweltmeisterschaft, sondern um die Militarisierung der Innenpolitik. Ich denke, genau das dürfen
Demokraten und Liberale nicht zulassen.
({5})
Der Kollege Fritz Rudolf Körper spricht jetzt für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
Karlsruher Urteil, so darf man wohl sagen und formulieren, beschäftigte sich mit einem Spezialfall eines terroristischen Angriffes aus der Luft. Der Beratung zum
Luftsicherheitsgesetz, an der ich - dazu bekenne ich
mich auch - teilgenommen und bei der ich mich eingebracht habe, lag die Erfahrung des terroristischen Ereignisses vom 11. September 2001 zugrunde. Es gab dann,
Herr Ströbele, noch einen besonderen Anlass, als ein
geistig Verwirrter mit einem Kleinflugzeug um den
Frankfurter Henninger-Turm flog.
({0})
Das Karlsruher Urteil - ich glaube, da gibt es überhaupt kein Problem, es zu respektieren - ist meiner Auffassung nach klar und eindeutig: Der Staat darf nicht
zum Täter und der Mensch nicht zum Objekt gemacht
werden.
Das Luftsicherheitsgesetz hatte das Ziel, den Abschuss eines von Terroristen entführten und als Waffe
eingesetzten Passagierflugzeuges als so genanntes letzFritz Rudolf Körper
tes Mittel zu erlauben, um eine noch schlimmere Katastrophe zu verhindern. Das war die Fragestellung, mit
der wir uns auseinander gesetzt haben. Ich muss es auf
einen einfachen Nenner bringen, lieber Herr Burgbacher:
Eine solch schwierige Frage, der wir uns zugewendet
und für die wir Lösungen gesucht haben, ist für eine
platte parteipolitische Auseinandersetzung völlig ungeeignet.
({1})
- Lesen Sie einmal Ihre Rede nach, Herr Burgbacher. Ich
bin ein bisschen enttäuscht darüber. Denjenigen, die damals mit darüber entschieden haben, den Vorwurf zu
machen, sie wollten die Menschenwürde mit Absicht
verletzen, halte ich für abstrus und absonderlich. Einen
solchen Vorwurf finde ich ungeheuerlich.
({2})
Das Urteil kommt zu dem klaren Ergebnis, dass die
Abwägung Leben gegen Leben nicht erlaubt und somit
nicht verfassungsgemäß ist. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde machten die Beschwerdeführer geltend, sie
würden durch das Luftsicherheitsgesetz unmittelbar in
ihren Grundrechten beeinträchtigt. Das Gericht kommt
zu dem Ergebnis, dass eine Abwägung Leben gegen Leben nach dem Maßstab, wie viele Menschen möglicherweise auf der einen und wie viele auf der anderen Seite
betroffen seien, unzulässig sei. Die angegriffenen Regelungen, so das Gericht, verletzten auch den verfassungsrechtlichen Vorbehalt in Art. 87 a Abs. 2 Grundgesetz,
nach dem die Streitkräfte außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden dürfen, soweit das Grundgesetz dies ausdrücklich zulässt.
Das Gericht bestätigt uns damit in der Auffassung,
dass ein bewaffneter Einsatz der Bundeswehr im Inland
verboten ist.
({3})
Dem Bund ist ein Kampfeinsatz der Streitkräfte mit spezifisch militärischen Waffen weder bei der Bekämpfung
besonders schwerer Unglücksfälle noch bei einem überregionalen Katastrophennotstand erlaubt.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts kann
die Bundeswehr auch in Zukunft nur zur Landesverteidigung oder im Rahmen der Amtshilfe eingesetzt werden.
Darüber hinausgehende Forderungen, die Bundeswehr
auch zu polizeilichen Aufgaben einzusetzen, sind meiner
Meinung nach unzulässig, weil sie nicht verfassungsgemäß sind.
({4})
Trotz der neuen und schwierigen Bedrohungslage
sollte es bei der Trennung zwischen der inneren und der
äußeren Sicherheit bleiben.
({5})
Soldaten sind weder Ersatz- noch Hilfspolizisten. Wir
werden sie auch nicht zu solchen machen.
Ich wäre im Übrigen dankbar, wenn die öffentliche
Debatte und die Erörterung dieses Urteils ein bisschen
weniger heftig und dafür sachlicher geführt würden. Ich
bin der Bundeskanzlerin sehr dankbar, dass sie sich in
ähnlicher Weise geäußert hat. Ich denke, das ist sehr
wichtig.
Wir werden uns das Urteil genau anschauen und werden es prüfen. Dann werden wir sehen, was getan werden kann, aber auch, was vielleicht nicht getan werden
kann.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat der Kollege Hans-Christian Ströbele,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat im
Jahr 2004 diesem Gesetz zugestimmt.
({0})
Ich selber war an der Ausarbeitung und Formulierung
gerade dieses in Rede stehenden Absatzes des § 14 des
Luftsicherheitsgesetzes beteiligt.
({1})
Trotzdem muss ich feststellen:
({2})
Wir, Bündnis 90/Die Grünen, und ich selber respektieren
nicht nur, sondern wir begrüßen diese Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts aus voller Überzeugung und
mit ganzem Herzen, weil sie historisch zu nennen ist,
weil sie richtig ist und weil in ihr die Würde des Menschen als unantastbar bezeichnet wird, wie es in Art. 1
des Grundgesetzes verankert ist.
({3})
Jetzt komme ich zu der Frage, wie man diesen Widerspruch auflösen kann.
({4})
Wir haben mit diesem Gesetz das Richtige gewollt und
bei der Einbringung in den Deutschen Bundestag entsprechend zum Ausdruck gebracht.
({5})
Allerdings haben wir dann eine falsche Formulierung ins
Gesetz geschrieben.
({6})
Ich will ohne Wenn und Aber die Kritik an unserem Verhalten akzeptieren.
Ich persönlich habe die Formulierung „den Einsatz
unmittelbarer Waffengewalt zulassen“ so verstanden,
dass damit nicht gemeint ist, ein Passagierflugzeug mit
in der Tat unbeteiligten Passagieren abschießen zu dürfen.
({7})
So habe ich das hier im Bundestag formuliert und so
habe ich auch auf eine Frage eines Kollegen von der
FDP seinerzeit geantwortet, der auf das Dilemma hingewiesen hat. Ich habe klar gesagt, dass das mit unseren
moralischen Grundsätzen und auch mit Art. 1 des
Grundgesetzes nicht zu vereinbaren ist.
Wir akzeptieren diese Kritik. Wir haben das Problem
nicht mit der genügenden Klarheit gesehen und das Gesetz nicht mit der genügenden Klarheit formuliert. Wir
begrüßen, dass das Bundesverfassungsgericht diesen
Fehler glücklicherweise richtig gestellt hat.
Wir haben vorher diese Kritik in den Diskussionen in
der Öffentlichkeit wahrgenommen. Zu dieser Formulierung ist es gekommen - daraus mache ich keinen Hehl -,
weil der Koalitionspartner ein Recht auf Abschuss in
einer Notsituation auch für Passagierflugzeuge, in dem
unbeteiligte Passagiere sitzen, schaffen wollte. Die damalige Bundesregierung, insbesondere der damalige
Bundesinnenminister, wollte das von uns. Wir wollten
das aber zu keinem Zeitpunkt der Verhandlungen. Wir
haben gesagt, dass das nicht in Betracht komme. Wir haben versucht, eine Formulierung zu finden, mit der beide
Koalitionspartner - wie das leider in Koalitionen so ist;
davon wissen auch Sie von der FDP und andere ein Lied
zu singen - leben können. Wir dachten, wir hätten eine
geeignete Formulierung gefunden. Aber wir haben die
falsche gewählt.
Jetzt ist die Frage, welche Schlussfolgerung man aus
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zieht. Die
Schlussfolgerung darf keinesfalls lauten, dass wir erneut
Versuche unternehmen, der Bundeswehr zusätzliche
Rechte im Inneren unseres Staates zuzubilligen.
Ein Grund, uns für einen Kompromiss auszusprechen
und zu einem Kompromiss zu kommen, war für uns damals, dass wir befürchteten, dass, wenn wir diesem
Kompromiss nicht zugestimmt hätten, in den Verhandlungen mit der Opposition bzw. der Union, also sozusagen in einer großen Koalition - auch damals wäre für
eine Grundgesetzänderung die Zustimmung der CDU/
CSU notwendig gewesen -, ein Kompromiss herausgekommen wäre, der einen zusätzlichen Einsatz der Bundeswehr im Inneren möglich gemacht hätte.
({8})
Das war für uns ein unerträglicher Gedanke.
({9})
Deshalb war schon damals der Hintergrund unserer
Überlegungen, das auf gar keinen Fall zuzulassen.
({10})
Denn wir wussten, dass dies die Union und Teile der
SPD seit dem Erlass der Notstandsgesetze immer wieder
gefordert haben, auch vor zehn bzw. 15 Jahren. Wir
wussten, dass dies nach wie vor auf der Agenda der
Union und von Teilen der SPD stand.
Heute stehen wir vor dem Problem: Wollen wir in der
Auseinandersetzung über die Schlussfolgerungen aus
diesem Urteil einen zusätzlichen Einsatz der Bundeswehr im Inneren schleichend möglich machen? Dazu sagen wir genauso eindeutig: Nein. Wir wollten damals
nicht, dass das Grundrecht in Art. 1 des Grundgesetzes
tangiert wird,
({11})
und wir wollen jetzt nicht, dass die Bundeswehr im Inneren zusätzliche Aufgaben übernimmt, für die die Polizei
zuständig ist. Das ist weder richtig noch notwendig. In
einer Zeit, in der Polizeistellen abgebaut und der Objektschutz nicht nur an Kasernierungsstandorten der Bundeswehr, sondern auch beim Polizeipräsidium in Berlin
von Privatfirmen übernommen wird, ist es völlig unzulässig und neben der Sache, zu fordern, dass die Bundeswehr im Inneren Polizeiaufgaben zusätzlicher Art übernimmt.
Herr Ströbele, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Das ist der falsche Weg. Das wäre genau die falsche
Schlussfolgerung aus diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes.
({0})
Für die Bundesregierung spricht der Bundesminister
Dr. Wolfgang Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Anlass dieser Debatte ist so ernst, dass ich der Versuchung
widerstehen will, Herr Kollege Ströbele, Ihre Art von
Rabulistik zu sehr aufzuspießen. Es ist ehrenwert, dass
Sie sich dazu bekannt haben, dass Sie dem Luftsicherheitsgesetz zugestimmt haben. Der Versuch der Irrtumsbegründung war ein bisschen mühsam.
({0})
Frau Kollegin Pau, Sie sollten in Zukunft ein bisschen sorgfältiger formulieren. In meiner Verantwortung
als Bundesinnenminister können Sie mir keine Verfassungsbrüche vorwerfen. Was immer Sie ansonsten sagen
wollen, dies sollten Sie bitte nicht tun. Meine jetzige
Amtszeit ist noch ein bisschen kurz. Schauen Sie einmal
genau nach, ob Sie in meiner früheren Amtszeit irgendetwas dazu finden.
({1})
- Gut, dann sind wir uns schon einig.
Ich möchte diese Gelegenheit gern zum Anlass nehmen - denn es ist ein ernstes Thema -, dafür zu werben,
das wir beim Umgang miteinander unterscheiden zwischen der Frage, was nach dem geltenden Grundgesetz
erlaubt ist und was nicht - da gilt natürlich das Urteil des
Verfassungsgerichts; es legt das geltende Grundgesetz
verbindlich aus -, und dem legitimen politischen Anliegen, zu sagen: Ich schlage eine Ergänzung bzw. Änderung des Grundgesetzes vor. Darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein.
({2})
Aber es wäre falsch - das ist völlig klar -, daraus den
Vorwurf abzuleiten, derjenige, der dies sagt, wolle die
Verfassung brechen. Für alle Mitglieder des Bundestages, alle Mitglieder der Bundesregierung und alle Landesminister gilt: Sie alle wollen und werden nur im Rahmen der Verfassung handeln. Wir alle haben übrigens
unseren Amtseid darauf geschworen, das Grundgesetz
und die Gesetze des Bundes zu achten und zu respektieren.
Niemand will in irgendeiner Weise außerhalb des
Grundgesetzes handeln. Trotzdem kann man unterschiedlicher Meinung sein. Das muss in einer Demokratie erlaubt sein. Man kann darüber streitig diskutieren,
ob es richtig ist, zu sagen: Wir müssen das Grundgesetz
an dem einen oder anderen Punkt ergänzen.
Ich füge ganz leise hinzu:
({3})
Die damalige Opposition hat nicht zuletzt unter Federführung des Kollegen Bosbach und mir gesagt - wie es
im Übrigen die Bundesregierung nach dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts getan hat -, dass sie das
Schutzanliegen des Gesetzes für richtig hält. Deswegen
haben wir zugestimmt. Wir haben aber gleichzeitig gesagt, dass wir nicht glauben, dass es eine hinreichende
verfassungsrechtliche Grundlage dafür gibt. Das ist die
historische Wahrheit.
({4})
- Langsam, Herr Kollege Ströbele. Wir sollten dem
Thema angemessen darüber diskutieren.
Die Sicherheit während der Fußballweltmeisterschaft
ist ein ganz anderes Thema. Mit der Entscheidung zum
Luftsicherheitsgesetz haben wir das Problem, dass wir
für den Fall eines 11. September eine Regelungslücke
haben. Ich will übrigens darauf aufmerksam machen,
dass der Weltsicherheitsrat nach den Terroranschlägen
vom 11. September 2001 gemäß Art. 51 der UN-Charta
festgestellt hat, dass es sich um einen Angriff gegen die
Vereinigten Staaten von Amerika und einen Anschlag
auf den Weltfrieden handelt. Am Tag danach hat die
NATO - übrigens mit Zustimmung der damaligen Bundesregierung - beschlossen, dass hier nach Art. 5 des
NATO-Vertrages - wenn Sie mögen, lese ich Ihnen die
Passage vor - ein bewaffneter Angriff gegen ein Land
vorliegt. Das war die Situation nach dem 11. September
2001.
Der gestrige Empfang der Sozialdemokratischen Partei für Hans-Jochen Vogel hat mich veranlasst, an München 1972 zu denken. Den wenigsten von Ihnen wird bewusst sein, dass wir schon einmal einen 11. September
hatten - der 11. September scheint ein schwieriges Datum zu sein -, nämlich im Jahr 1972. Wenn Sie mögen,
können Sie das in den Memoiren des damaligen Bundesverteidigungsministers Georg Leber mit dem Titel „Vom
Frieden“ nachlesen, die 1979 erschienen sind. Darin
schildert er die Abschlussfeier am 11. September 1972
und die Situation, als - das war nach dem Anschlag - die
Meldungen kamen, dass ein Flugzeug im Anflug auf das
Olympiastadion sei und Bomben auf das Stadion abgeworfen werden sollten. Zum Glück ist es dazu nicht gekommen.
Machen Sie es sich und uns nicht zu einfach! Ich habe
gerade davon gesprochen, dass der Amtseid des Ministers beinhaltet, das Grundgesetz zu achten. Darin heißt
es aber auch, Schaden vom deutschen Volk zu nehmen.
Auch das ist vom Amtseid umfasst. Deswegen müssen
wir über diese Fragen sorgfältig nachdenken. Das wird
nach diesem Urteil nicht einfacher. Aber es enthebt uns
nicht unserer Verantwortung.
Ich möchte eine zweite Bemerkung machen. Es ist
doch völlig klar - das hat in der gemeinsamen Sitzung
von Innen- und Sportausschuss der hessische Kollege
Bouffier diese Woche sehr eindrucksvoll gesagt -, dass
die Innenminister von Bund und Ländern bei den Sicherheitsvorbereitungen für die Fußballweltmeisterschaft
- die auf einem guten Wege sind, obwohl die Herausforderungen insbesondere wegen des Phänomens des Public Viewing eine Dimension haben, wie wir sie bisher
nicht gekannt haben - nur im Rahmen dessen planen,
was das Grundgesetz erlaubt. In diesem Rahmen leistet
die Bundeswehr übrigens wie bei vergangenen Großveranstaltungen jede Menge. Sie hat daher Anspruch auf
Respekt und Anerkennung, auch auf Dank.
({5})
Ich sage dies auch, weil ich zunehmend die Sorge
habe, dass von irgendjemandem - das könnte auch ich
sein; ich will es aber nicht - der Vorwurf der Militarisierung der Innenpolitik erhoben wird. Das klingt so, als
seien die Soldaten der Bundeswehr schießwütige Cowboys. Das sind sie nicht. Der Kollege Bosbach hat zu
Recht gesagt, dass sie dasselbe Vertrauen verdienen wie
die Polizeibeamten von Bund und Ländern.
({6})
Die Frage, was wir tun können, wenn wir an die
Grenzen dessen gestoßen sind, was die Polizei zu leisten
im Stande ist, kann man unterschiedlich beurteilen. Solange wir hier nicht zu einer Grundgesetzänderung kommen - der Zeitraum ist eng; das ist mir klar -, bereiten
wir uns so gut wir können im Rahmen dessen vor, was
das Grundgesetz erlaubt. Über alles andere können wir
streitig diskutieren. Dies enthebt uns aber nicht unserer
Verantwortung. Um nicht mehr, aber auch um nicht weniger möchte ich anlässlich dieser Debatte werben.
Wir freuen uns alle auf die Fußballweltmeisterschaft.
Wer wird denn so blöd sein, im Zuge dessen immer von
Sicherheit zu reden? Am liebsten würden wir nicht darüber reden. Das enthebt uns aber nicht unserer Verantwortung. Wir sind in Vorfreude auf eine hoffentlich tolle
Weltmeisterschaft, zu der viele Zehntausend Menschen,
vielleicht 1 Million, zu uns kommen und bei der Milliarden Menschen auf unser Land schauen. Das ist eine
großartige Chance, uns als Gastgeber zu erweisen und
eine fröhliche Fußballweltmeisterschaft zu veranstalten.
Wir dürfen aber die Sicherheitsbelange nicht vernachlässigen; sonst würden wir unserer Verantwortung nicht gerecht werden.
Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes können
sich darauf verlassen, dass diese Bundesregierung und
diese Koalition ihrer Verantwortung im Rahmen des
Grundgesetzes gerecht werden.
Herzlichen Dank.
({7})
Der Kollege Dr. Westerwelle spricht für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst
zwei Vorbemerkungen machen. Erstens. Herr Kollege
Körper, ich halte es für nicht richtig und für nicht angemessen, dass Sie Herrn Burgbacher in Heftigkeit etwas
unterstellen, was er nicht gesagt hat, um sich rhetorisch
dagegen aufbringen zu können. Das gehört sich meines
Erachtens nicht.
Zweitens möchte ich denjenigen etwas sagen, die dieses Gesetz schließlich beschlossen haben; mittlerweile
will ja niemand mehr Vater des Gesetzes gewesen sein.
({0})
- Sie sagen, Sie seien es gewesen, aber so gemeint hätten Sie es nicht.
({1})
Das ist eine drollige Verdrehung von Tatsachen.
({2})
Ich will Ihnen an dieser Stelle einmal sagen: Sie
müssten sich heute nicht dieser Kritik stellen, wenn Sie
es nicht gewesen wären, und zwar SPD und Grüne, die
die verfassungsrechtlichen Bedenken der Freien Demokraten in Bausch und Bogen abgetan haben.
({3})
Es ist sogar der Verfassungsminister Ihrer Regierung
gewesen, Otto Schily, der der Freien Demokratischen
Partei wörtlich unterstellt hat, sie sei ein Sicherheitsrisiko für Deutschland. Weil wir die Menschenwürde
schützen wollten, ist uns unterstellt worden, wir seien
ein Sicherheitsrisiko.
({4})
Ich finde, es wäre an der Zeit, dass Sie sich heute in der
Debatte für solche Entgleisungen entschuldigen, um das
einmal klar auf den Punkt zu bringen.
({5})
Jetzt kommen wir aber zu dem eigentlichen Gehalt.
Interessant ist, dass ein Teil hier erklärt, er will das
Karlsruher Urteil achten, sich ein anderer Teil aber
längst Gedanken darüber macht, wie man von dem Urteil wegkommt. Die Reaktion der Politik auf das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts ist es nicht gewesen, in
weiten Teilen anzuerkennen, was das Verfassungsgericht
aus Sorge um das Recht auf Leben und die Menschenwürde entschieden hat. Das Erste, was die Ministerpräsidenten von Hessen und Bayern, der Kollege Koch und
der Kollege Stoiber, getan haben, ist, zu sagen, jetzt gebe
es eine große Lücke im Gesetz, ein Sicherheitsrisiko sei
wieder entstanden. Jetzt müsse man neue Initiativen ergreifen, um die Verfassung zu ändern. Das ist die völlig
falsche Konsequenz.
So, wie Sie bei der Frage der Menschenwürde, der
Verfassung, der Rechtsstaatlichkeit falsch lagen, als Sie
dieses Gesetz beschlossen haben, so liegen Sie falsch,
wenn Sie meinen, Sie könnten die Menschenwürde oder
das Recht auf Leben, also das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, durch einen neuerlichen Anlauf relativieren. Die Menschenwürde, das Recht auf Leben kann
durch keine Mehrheit im Deutschen Bundestag und
durch keine Mehrheit im Bundesrat beseitigt werden.
Gott sei Dank gibt es noch eine Partei und Gott sei Dank
gibt es noch ein Verfassungsgericht, das dies so klar und
deutlich formuliert.
({6})
Sie fragen: Wer will das denn? Darf ich Sie darauf
aufmerksam machen, dass es genau diese Abwägung gewesen ist. Man kann das Leben von Unschuldigen nicht
gesetzlich gegeneinander abwägen. Das ist im Kern die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Das ist
die Garantie der Menschenwürde. Wenigstens jetzt sollten Sie dieses Prinzip anerkennen und sich nicht Gedanken darüber machen, wie man möglicherweise durch
eine Verfassungsänderung diesem klaren Auftrag des
Bundesverfassungsgerichts entgehen kann.
Herr Kollege Schäuble, ich hatte eigentlich gehofft
und auch darauf gewartet, dass Sie neben den richtigen
allgemeinen Betrachtungen - dass Ihnen keiner unedle
Motive unterstellt, wenn Sie beispielsweise Ihre Pläne
vertreten, ist doch selbstverständlich - auch die Konsequenzen, die für Ihre bisherige Politik aus diesem Urteil
zu ziehen sind, erläutern. Dazu haben Sie keinen Ton gesagt.
Ich mache darauf aufmerksam, was am heutigen Tag
in der Zeitung steht. Die eine Zeitung schreibt: Schäuble
beharrt auf Grundgesetzänderung und zitiert Sie. Die
nächste Zeitung, die einen etwas späteren Andruck hatte,
schreibt: Merkel gibt Schäubles Plan für die WM auf.
Das ist die derzeitige Lage. Ich finde, der Deutsche
Bundestag muss schon erwarten können, dass wir bei so
einer empfindlichen Frage, nämlich des Einsatzes der
Bundeswehr im Inland, von Ihnen jetzt eine Antwort bekommen, und zwar hier im Plenum. Ich bitte Sie, das
Wort zu ergreifen und das für die Bundesregierung klarzustellen.
({7})
Wir Freie Demokraten begrüßen ausdrücklich, dass
die Bundeskanzlerin diese Pläne des Bundesinnenministers fallen lassen will. Wir erwarten vom Innenminister,
dass er dies akzeptiert und beidreht. Das ist das Allermindeste, was man von Ihnen als Konsequenz aus dem
Karlsruher Urteil erwarten kann.
({8})
Damit komme ich zum letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. Das hört sich gut an: Die Soldaten haben
dasselbe Vertrauen verdient. Als ob irgendjemand in diesem Raume nicht den Damen und Herren Soldatinnen
und Soldaten vertrauen würde. Selbstverständlich! Aber
Soldaten sind eben keine Hilfspolizisten. Sie sind vielmehr für die äußere Sicherheit zuständig. Für die innere
Sicherheit sind die Polizei bzw. die Polizeibehörden zuständig. Diese klare Trennung muss so bestehen bleiben.
Besser wäre es, die Polizei ordentlich auszustatten und
sie entsprechend in die Lage zu versetzen, unsere Sicherheit besser zu gewährleisten, statt eine Hilfspolizei gründen zu wollen, indem man die Bundeswehr regelmäßig
im Inneren einsetzt. Das ist gegen die Verfassung und
übrigens auch gegen die Sicherheit unseres Landes.
Vielen Dank.
({9})
Für die Fraktion der SPD spricht der Kollege Frank
Hofmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte am Anfang meiner Rede die zwei Beiträge
der FDP ansprechen. Sie haben für heute eine Aktuelle
Stunde zur Haltung der Bundesregierung zum Urteil des
Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz
beantragt. Doch es ging Ihnen - ich spreche über die
Beiträge von Ihnen, Herr Burgbacher und Herr
Westerwelle - nicht darum, die Haltung der Bundesregierung zu erfahren.
({0})
Denn auch Sie wissen: Wenn die Bundesregierung zwei
Tage nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
eine abschließende Bewertung zum Urteil abgeben
würde, wäre das fahrlässig.
({1})
Erwarten Sie hier etwa tatsächlich von den Rednern,
dass sie in ihren Redebeiträgen von fünf Minuten dieses
wichtige Urteil richtig einschätzen,
({2})
analysieren und künftige Gesetzesvorhaben daraus skizzieren? Das kann nicht Ihr Ernst sein. Sie wollten eine
Selbstbeweihräucherung der FDP. Das war alles.
({3})
Sie haben eben gesagt, dass die Bundeskanzlerin dies
konnte. Wenn Sie die Meldung genau gelesen hätten,
wüssten Sie, dass sie so einen Einsatz nur für die Fußballweltmeisterschaft ausgeschlossen hat. Ansonsten
kenne ich keine Aussage der Bundesregierung dazu, wie
es insgesamt weitergehen soll.
({4})
Frank Hofmann ({5})
Ich will für mich sagen: Ich war Berichterstatter der
SPD zum Luftsicherheitsgesetz. Wir hatten Vertreter des
Innenministeriums und des Justizministeriums in vielen
Sitzungen dabei, die es verfassungsrechtlich beurteilt haben. Wir haben eine Sachverständigenanhörung durchgeführt, in der die Meinungen unterschiedlich waren.
Eine Eindeutigkeit, wie sie jetzt dargestellt worden ist,
hat es nicht gegeben. Es war für mich mehr als überraschend, dass sich das Bundesverfassungsgericht so eindeutig geäußert hat. Das war aus meiner Sicht vorher
nicht erkennbar.
Wir sind nun in einem moralischen Dilemma, das sich
rechtsstaatlich nicht lösen lässt. Das wurde schon von
Herrn Bosbach angesprochen. Das Urteil lässt nur die
Möglichkeiten zu, ein unbemanntes oder nur mit Terroristen besetztes Flugzeug mit militärischen Mitteln zu
bekämpfen, und zwar nur dann, wenn zuvor das Grundgesetz geändert und die Bundeswehr damit in diesem
speziellen Fall zum Einsatz ermächtigt wird. So verstehe
ich im Moment das Urteil.
Nicht einfach ist es für mich, damit umzugehen, dass
man nicht tätig werden darf, wenn Unbeteiligte involviert sind. Denn das Bundesverfassungsgericht untersagt
den Einsatz von Waffen bei entführten Passagiermaschinen, die nach dem Muster des 11. September 2001 gekapert werden.
Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass das Luftsicherheitsgesetz wesentlich weiter geht. Der Grundsatz
des Luftsicherheitsgesetzes lautet: Entführungen werden
am Boden ermöglicht und sollten dort verhindert werden. Wir tun das meiste vorher am Boden durch die
Überprüfungen im Flughafen. Ich denke, man muss das
Luftsicherheitsgesetz insgesamt sehen.
Gestört hat mich auch, dass nach dem Bekanntwerden
des Urteils Teile der CDU und der CSU sehr hektisch reagiert haben; ich meine, auch ein bisschen hysterisch.
Der „Spiegel“ hat nur zwei Stunden später berichtet:
„Union drängt auf Grundgesetzänderung“. Auf diese
Weise wird schon wieder Zeitdruck erzeugt, damit man
quasi mit heißer Nadel die eigene Position innerhalb der
Koalition verbessern kann. Ich finde, so geht das nicht.
Wir halten uns an die Koalitionsvereinbarung. Dort heißt
es:
Angesichts der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus greifen äußere und innere Sicherheit immer stärker ineinander. Gleichwohl gilt die
grundsätzliche Trennung zwischen polizeilichen
und militärischen Aufgaben. Wir werden nach der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum
Luftsicherheitsgesetz prüfen, ob und inwieweit verfassungsrechtlicher Regelungsbedarf besteht.
Im Koalitionsvertrag steht nicht - auch daran will ich erinnern -, das dieses Gesetz vor Beginn der
Fußballweltmeisterschaft 2006 im Gesetzbuch zu stehen hat.
Der Druck, der im Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft aufgebaut wurde - ich hoffe, damit ist
es nun vorbei -, verdeutlicht das Dilemma, in dem sich
die Innenminister der Länder befinden: In den letzten
Jahren kam es bei der Polizei in den Ländern zu tausendfachem Stellenabbau, allein in den letzten fünf Jahren
um 7 100 Stellen. Jetzt wird so getan, als stünde die WM
überraschend vor der Tür. Die einzige Lösung des Problems sieht man nun in der Einbeziehung der Bundeswehr. Das ist, finde ich, eine Bankrotterklärung der Innenminister, die jetzt laut nach der Bundeswehr rufen.
({6})
CDU und CSU haben möglicherweise ein Konzept
für den Einsatz der Bundeswehr im Innern im Kopf, sie
verschweigen es aber. Lange bevor der neue internationale Terrorismus aufkam, hatte Innenminister Schäuble
sich bereits für einen Einsatz der Bundeswehr im Innern
ausgesprochen. Dabei geht es nicht lediglich um Objektschutz. Nein, vielmehr hatten schon immer einige führende Köpfe in der CDU/CSU die Sehnsucht, eine Nationalgarde aufzubauen. Das wollen wir aber nicht. Für
so etwas wollen wir nicht unsere Hand reichen.
Ich erinnere daran, dass es noch nicht einmal ein Jahr
her ist, dass Bayerns Innenminister Beckstein nach Luftabwehrraketen und Kampfhubschraubern der Bundeswehr, die gegen Modell- und Kleinstflugzeuge eingesetzt werden sollten, rief. Herr Schönbohm hat in den
letzten Tagen allerdings den Vogel abgeschossen, als er
sagte, die neue Bedrohungslage durch den Terrorismus
stelle so etwas Ähnliches wie einen Spannungsfall dar.
Herr Hofmann, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ja, nur noch eine Sekunde. - Damit hat er auch die
Frage der Wehrpflicht verknüpft. Das geht aber zu weit.
Ich erwarte von unserem Koalitionspartner, dass er sich
an den Koalitionsvertrag hält und alle Kämpfe unterlässt, die die Stabilität einer auf vier Jahre angelegten
Koalition untergraben.
Herzlichen Dank.
({0})
Der Kollege Hermann Gröhe spricht für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat: Die heutige Aktuelle Stunde kann nur der Beginn der Debatte über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom vorgestrigen Tage sein. Denn die
Begründung der Entscheidung, die Vorschrift des § 14
Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz für nichtig zu erklären, verlangt nach einer eingehenden Prüfung, um den Umfang
des nunmehr gebotenen gesetzgeberischen Handelns
auszuloten.
Verehrter Kollege Hofmann, insbesondere dann,
wenn man möglicherweise noch keine Zeit hatte, diese
eingehende Prüfung vorzunehmen, sollte man diese Debatte nicht nutzen, um über Themen zu sprechen, die mit
dieser Entscheidung nichts zu tun haben.
({0})
Obwohl es in den letzten beiden Tagen zu manch
schneller, ja sogar vorschneller Kommentierung der Entscheidung gekommen ist, sei festgehalten: Die vom
Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärte Bestimmung wurde in der letzten Legislaturperiode von der damaligen rot-grünen Mehrheit auch gegen die Stimmen
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beschlossen. Soweit
das Bundesverfassungsgericht erklärt hat, für die für
nichtig erklärte Vorschrift gebe es keine Gesetzgebungskompetenz des Bundes, entspricht diese Auffassung genau jener rechtlichen Bewertung, die seinerzeit die
Union veranlasste, gegen den damals vorgelegten Gesetzentwurf zu stimmen,
({1})
und die die Landesregierungen Bayerns und Hessens
veranlasste, ebenfalls das Bundesverfassungsgericht anzurufen.
Das Bundesverfassungsgericht hat die angegriffene
Bestimmung auch in materieller Hinsicht für mit dem
Grundgesetz unvereinbar erklärt. Auch angesichts
manch anderer Debatte über den Schutz der menschlichen Würde am Beginn und am Ende menschlichen Lebens halte ich das kraftvolle Bekenntnis des Gerichts zur
Unbedingtheit der menschlichen Würde für begrüßenswert. Ich bin gespannt, ob wir im Rahmen anderer Debatten ähnlich konsequent über die Schlussfolgerungen,
die gezogen werden sollen, nachdenken. Allerdings bekenne ich: Auch ich habe, was die konkreten Schlussfolgerungen des Gerichts betrifft, noch einige Fragen.
Die Union hat sich stets zum Schutzzweck des Luftsicherheitsgesetzes bekannt; darin waren wir uns mit der
damaligen rot-grünen Mehrheit einig. Wir sollten gemeinsam die verfassungsrechtlichen Grundlagen dafür
schaffen, diesen Schutzzweck innerhalb der vom Bundesverfassungsgericht gezogenen Grenzen zu erreichen.
Insofern kann von einem Ende der Debatte über notwendige Grundgesetzänderungen nicht die Rede sein, zumal
- auch dies wurde erwähnt - die Koalitionsvereinbarung
ausdrücklich auch das Ziel eines „Seesicherheitsgesetzes“ benennt.
Wo auch das Bundesverfassungsgericht materiell
Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren ausdrücklich für
zulässig hält, beispielsweise bei einem unbemannten
Flugzeug oder bei einem Flugzeug, in dem sich ausschließlich die Entführer befinden, bleibt gleichwohl
eine Verfassungsänderung geboten, um eine notwendige
Gesetzgebungskompetenz zu schaffen. Wir sollten daher
mit allem Ernst prüfen, worin wir schon heute übereinstimmen, was sachlich zusammengehört und was noch
die Erarbeitung einer mehrheitsfähigen Position verlangt. Zu prüfen wird ferner sein, welche Möglichkeiten
die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur
Abwehr der Gefahr durch ein entführtes Flugzeug voller
unschuldiger Fluggäste bietet, wenn dieses Flugzeug
gleichsam als Waffe gegen Wohngebiete oder industrielle Anlagen gerichtet wird.
Das Bundesverfassungsgericht gibt in seiner Entscheidung lediglich den Hinweis, nicht über eine nachträgliche strafrechtliche Bewertung einer Entscheidung
in einer konkreten Situation entschieden zu haben. Aber
ist die Möglichkeit strafausschließender Entschuldigungsgründe - Stichwort: übergesetzlicher Notstand wirklich der einzige und ist sie ein geeigneter Ausweg
aus einem derart dramatischen Dilemma? Ein durch einen übergesetzlichen Notstand entschuldigtes Verhalten
kann seinem Wesen nach nicht Bestandteil einer Befehlskette sein; denn rechtswidriges Handeln kann nicht
befohlen werden. Was bedeutet dies aber, wenn Entscheidungen innerhalb von Minuten und damit zugegebenermaßen mit dem Risiko einer Fehlentscheidung getroffen werden müssen? Es gibt eben nicht nur die
dramatische Ausweglosigkeit der unschuldigen Opfer
terroristischer Entführer, die das Bundesverfassungsgericht so eindringlich beschrieben hat; es gibt auch die
dramatische Ausweglosigkeit jener, die entscheiden und
handeln müssen und die wissen, dass nicht nur jedes
Handeln, sondern auch jedes Nichthandeln sie gegebenenfalls - zumindest moralisch - schuldig werden lässt.
Auch diese Menschen haben einen Anspruch auf eine
verlässliche Rechtsgrundlage für ihr Entscheiden und
Handeln.
({2})
Bei allen Schwierigkeiten, dafür eine generalisierende
Regelung zu finden, dürfen wir doch nicht darauf hoffen,
dass in solchen Situationen erst der Gehorsam gegenüber
offen rechtswidrigen Befehlen den Schutz großer Menschenmengen, die bedroht sind, möglich macht.
Lassen Sie uns also gemeinsam prüfen, wie wir im
Respekt vor unserem Grundgesetz und vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts den bestmöglichen
Schutz unserer Bevölkerung vor dramatischen Bedrohungen erreichen - in der Hoffnung, dass uns, vor allem
aber den Entscheidern und den Handelnden sowie den
von diesen Entscheidungen Betroffenen solche Konfliktlagen erspart bleiben.
Vielen Dank.
({3})
Es spricht Jörn Thießen für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Bundesverfassungsgericht hat vorgestern klargestellt: Eine Abschussbefugnis, wie sie im Luftsicher1572
heitsgesetz vorgesehen war, gibt es unter keinen Umständen. Der Einsatz der Bundeswehr zur akuten
Bekämpfung terroristischer Gefahren - ob aus der Luft
oder von der See - im Inneren ist mit diesem Urteil erschwert, wenn nicht verboten worden. Das Bundesverfassungsgericht hat jede Möglichkeit ausgeschlossen,
beispielsweise gegen Passagierflugzeuge vorzugehen,
die von Verbrechern als Waffen genutzt werden. Der
Staat darf sich demzufolge nicht der gleichen Handlungen schuldig machen, die von Terroristen begangen werden. Das ist richtig und das ist gut. Aber es bietet keine
Veranlassung, die grundlegende Absicht des Luftsicherheitsgesetzes zu diffamieren.
Im Koalitionsvertrag hat sich die Regierung bereits
auferlegt, nach diesem Urteil zu prüfen, „ob und inwieweit … Regelungsbedarf besteht“. Es ist sinnvoll und im
Sinne aller Betroffenen, sich einer klarstellenden Änderung der Gesetzeslage, die sich auf spezifische Fälle einer Bedrohung aus der Luft oder von der See bezieht,
nicht von vornherein zu verschließen. Wenn eine solche
Bedrohung ausschließlich mit militärischen Mitteln und
nur von der Bundeswehr tatsächlich bekämpft werden
kann, dann muss dazu eine Grundlage geschaffen werden.
Der Einsatz gegen unbemannte oder nur mit Terroristen besetzte Flugzeuge wird nicht ausgeschlossen. Er ist
heute allein deshalb nicht möglich, weil nach geltendem
Recht keine militärischen Mittel dafür eingesetzt werden
dürfen. Bei einer möglichen Änderung des Art. 35 des
Grundgesetzes wird man sich aber höchstens darauf beschränken, den Einsatz der Bundeswehr gegen solche
Bedrohungen rechtlich überall dort abzusichern, wo es
notwendig ist, zu Waffen zu greifen, die der Polizei nicht
zur Verfügung stehen.
Wir wissen, dass moralische Dilemmata nicht durch
Gesetzestexte zu lösen sind. Wir als Gesetzgeber sind
dennoch in der Pflicht, auch in unwahrscheinlichen Fällen für die straf- und zivilrechtliche Sicherheit der Handelnden zu sorgen. Wir müssen diejenigen absichern, die
unsere staatlichen Instrumente unmittelbarer Gewalt am
Ende in den Händen halten. Diesen Schutz haben alle
verdient und diesen Schutz müssen wir ihnen gewähren.
Aus dem Urteil folgt: Auch in Zukunft kann die Bundeswehr selbstverständlich zur Landesverteidigung und
im Rahmen der Amtshilfe eingesetzt werden. Weitergehende Forderungen, Soldaten auch für polizeiliche Aufgaben einzusetzen, sind ausgeschlossen. Nicht ausgeschlossen sind akute und präventive Maßnahmen zur
Abwehr möglicher nationaler Unglücksfälle. Dazu gehört eben auch der Schutz vor einer denkbaren terroristischen Bedrohung. Hier können und dürfen Einrichtungen der Streitkräfte angefordert und verwendet werden.
Diese Amtshilfe wird schnell und erfolgreich geleistet.
Das ist heute der Fall und das wird auch morgen der Fall
sein. Damit können wir dieses Kapitel schließen.
Ein zeitliches Zusammentreffen von Ereignissen ist
aber mitnichten auch ein inhaltliches Zusammentreffen
in der Sache. Wenn die Fußballweltmeisterschaft die
Länder in Schwierigkeiten bringt, weil sie bei ihren Polizeien zu viel gespart haben, dann können wir allenfalls
prüfen, was die Bundespolizei tun kann, mehr aber nicht.
Personelle und materielle Nöte sind keine ausreichenden
Gründe, die Bundeswehr zu einer Reservetruppe zu erklären. Mit diesem Vorschlag nimmt man weder die Polizisten noch die Soldaten mit ihren jeweiligen Ausbildungen, Kernkompetenzen und Berufsbildern ernst.
({0})
Auf diese Ausbildungen, Kernkompetenzen und Berufsbilder ist unser Land nach innen und nach außen angewiesen.
2 000 Soldatinnen und Soldaten werden ihre Kräfte
und Mittel während der Weltmeisterschaft in den Bereichen Sanität, ABC-Schutz und Verpflegung zur Verfügung stellen. Das ist gut, das können sie, das ist vom Gesetz gedeckt und das reicht.
Klug handelt, wer gerade diejenigen Dinge sorgfältig
ein zweites Mal anschaut, bei denen er sich auf den ersten Blick nicht ganz sicher war. - Dieser weise Satz gilt
auch für erfahrene Bundesminister, insbesondere dann,
wenn sie den Bereich des Inneren verantworten. Einer
Verschmelzung von polizeilichen und militärischen Aufgaben - und sei sie zeitlich noch so begrenzt - wird die
Sozialdemokratie keinen Vorschub leisten.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Durch
die Entscheidung über das Luftsicherheitsgesetz hat das
Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber bei der Bekämpfung von terroristischen Bedrohungen im Luftraum
enge Grenzen gesetzt.
Das hat zumindest viele Juristen nicht wirklich überrascht, es hinterlässt aber doch zwiespältige Gefühle.
Denn zum einen ist der Staat verpflichtet, seinen Bürgern den größtmöglichen Schutz zu gewähren, zum anderen steht fest, dass die Abwägung von Leben gegen
Leben den Kernbereich aller Ethik und allen Rechts betrifft. Konkret geht es um die Opferung der Leben einer
verhältnismäßig kleinen Zahl Unschuldiger, um die Leben einer größeren, möglicherweise sehr viel größeren
Zahl Unschuldiger zu retten. Hier stoßen wir an die
Grenzen unserer gesetzgeberischen Möglichkeiten.
Diese hat Karlsruhe klar gezogen.
Wir müssen aber auch erkennen, dass Terrorangriffe
wie die vom 11. September in New York eine völlig
neue Dimension von internationaler politischer Gewalt
bedeuten, die uns zwingt, diese Kampfansage des internationalen Terrors als Kriegserklärung an die westliche
Welt und ihre Werte zu begreifen. Das bedeutet: Wir
müssen das herkömmliche Verständnis der Abgrenzung
von Krieg und Kriminalität, von Kriegsführung und VerDr. Wolfgang Götzer
brechensbekämpfung überwinden und diese neu definieren.
Völlig neue Bedrohungen verlangen neue Schutzkonzepte. Mit dem Urteil vom vergangenen Mittwoch ist es
jedenfalls nicht mehr möglich, diesen Bedrohungen so
zu begegnen, wie es mit dem Luftsicherheitsgesetz geplant war. Das hat die Politik zu respektieren. Allerdings
hat das Bundesverfassungsgericht immerhin die Möglichkeit eröffnet, ein Flugzeug abzuschießen, das allein
mit Terroristen besetzt ist, ohne dabei gegen das Recht
auf Leben oder die Menschenwürde zu verstoßen. Doch
brauchen wir hierzu eine Grundgesetzänderung, da der
militärische Einsatz der Bundeswehr im Innern in diesen
Fällen vom Grundgesetz nicht zugelassen ist. Das hat die
Union schon im Jahre 2004 - das ist bereits angesprochen worden - bei den Beratungen zum Luftsicherheitsgesetz erkannt und damals einen entsprechenden Antrag
zur Änderung des Grundgesetzes vorgelegt.
Deshalb ist es jetzt umso wichtiger, dies unverzüglich
nachzuholen und den gesetzgeberischen Spielraum, den
uns Karlsruhe gelassen hat, auszuschöpfen, also die vorhandene Ermächtigung im Grundgesetz auf eine breitere
Basis zu stellen. Ich hoffe, wir sind uns alle darüber einig, dass der Gesetzgeber die Voraussetzungen schaffen
muss, um derartige terroristische Attacken wirksam bekämpfen zu können. Dies ist von Staats wegen zum
Schutz der bedrohten Menschen dringend geboten.
({0})
Im Übrigen müssen wir unverzüglich gewissenhaft
prüfen, welche weiteren Gestaltungsspielräume uns
überhaupt noch bleiben, um die Sicherheit der Bevölkerung in den Fällen bestmöglich zu gewährleisten, in denen uns nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
die Hände gebunden sind. Hier ist meines Erachtens
Handlungsbedarf gegeben. Die „Frankfurter Allgemeine
Zeitung“ hat zu Recht am 16. Februar dieses Jahres geschrieben - ich zitiere -:
Durch das Gerichtsurteil ist die Sicherheitslücke
objektiv vergrößert worden … Also muß man sich
um so intensiver bemühen, die Lücke wieder zu
verkleinern.
Dabei gilt es, für die Sicherheitskräfte im Ernstfall
eine präzise und verfassungsrechtlich unzweifelhafte
Rechtslage zu schaffen. Das sind wir nicht nur der Bevölkerung, sondern auch den Soldaten schuldig. Möglicherweise bleibt für diese wahrlich furchtbare Situation
nur das Rechtsinstitut des übergesetzlichen Notstands.
({1})
Ein Satz in der Urteilsbegründung, der auf das Strafrecht
Bezug nimmt, könnte dahin gehend zu verstehen sein.
({2})
Unabhängig von dieser speziellen Problematik brauchen wir eine stärkere Verzahnung aller Sicherheitskräfte, um den Schutz der Bevölkerung im Inland besser
gewährleisten zu können, insbesondere im Falle der Bedrohung aus der Luft, für den nur die Bundeswehr gerüstet ist. Dass dies mit einer Grundgesetzänderung möglich ist, darin sehen wir uns durch Karlsruhe bestätigt.
Diesen Weg sollten wir jetzt gehen.
Ich bedanke mich.
({3})
Für die SPD spricht Gerold Reichenbach.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will nicht verhehlen, dass das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung die Abwehr terroristischer
Gefahren aus der Luft oder von See deutlich erschwert
hat. Wenn ein von Terroristen gekapertes Flugzeug mit
Unschuldigen an Bord dazu benutzt wird, eine Katastrophe mit dem Ziel herbeizuführen, weitere unschuldige
Menschen zu töten, so sind dem Gesetzgeber nach dem
Urteil unverändert die Hände gebunden. Für eine undifferenzierte Einwirkung mit Waffengewalt bleibt lediglich das Konstrukt des übergesetzlichen Notstandes.
Das Verfassungsgericht hat uns aber mit seiner Entscheidung etwas anderes deutlich gemacht. Bei der Lösung des moralischen Dilemmas, das durch die Formen
des Terrorismus entstehen kann, springt derjenige zu
kurz, der zur Ultima Ratio nur auf undifferenzierte militärische Waffen zurückgreifen kann. Wir sind nach dem
Urteil vielmehr gefordert, noch mehr in die Entwicklung
und den Ausbau polizeilicher Fähigkeiten zu investieren,
weil diese im Gegensatz zu militärischen Mitteln schon
aufgrund ihrer Natur zielgenauer auf die Täter einzuschränken sind. Nur so - mit polizeilichen Mitteln wird das Dilemma aufzulösen sein, das uns das Verfassungsgericht mit seiner klaren Aussage zum Schutz des
Lebens Unbeteiligter in solchen Terrorszenarien aufgegeben hat. Deswegen springen auch alle zu kurz, die
nach dem Urteil nur in Richtung militärischer Mittel diskutieren.
Es bleibt nur ein schmaler Bereich, wenn es darum
geht, ein unbemanntes oder nur mit Tätern besetztes
Flugobjekt unschädlich zu machen, und der Polizei die
dafür notwendigen technischen Möglichkeiten fehlen.
Ausschließlich über diesen schmalen Bereich werden
wir reden können. Das gilt analog auch für den Seebereich. Das haben wir in der Koalition hinsichtlich der
Prüfung der gesetzlichen Möglichkeiten nach dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts vereinbart.
Die Forderungen, die Bundeswehr voll bewaffnet
auch für polizeiliche Aufgaben einzusetzen, sind von
den Richtern in ihrer Urteilsbegründung zurückgewiesen
worden. Die Richter haben in ihrer Begründung klar
zwischen militärischem und polizeilichem Handeln unterschieden. Genau diese Trennung entspricht dem Geist
unserer Verfassung und wird von uns bekräftigt.
Natürlich gehen wir nicht davon aus, dass Soldaten
schießwütig sind, wie kolportiert wurde. Der in diesem
Zusammenhang immer wieder geäußerte Hinweis - etwa
von dem Verfassungsrechtler Scholz -, die Bundeswehr
übernehme schließlich auch im Ausland Polizeiaufgaben, trifft nicht den Kern der Sache. Das ist zwar richtig,
aber die Bundeswehr nimmt diese Aufgaben nur hilfsweise und unter großen Schwierigkeiten wahr. Sie
nimmt diese hilfsweise wahr, weil in den Ländern entweder kriegs- oder bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen oder weil es keine funktionierende Polizei gibt.
Wir haben aber in Deutschland keine bürgerkriegsähnlichen Zustände und wir haben eine funktionierende
Polizei. Wir haben sogar eine sehr gut funktionierende
Polizei.
Herr Götzer, wir sollten unser Land nicht in eine Art
permanenten unerklärten Kriegszustand hineinreden, um
einen Waffeneinsatz der Bundeswehr im Inneren zu legitimieren.
({0})
Das sollten wir auch und gerade vor dem Hintergrund
des internationalen Terrorismus nicht tun. Denn in einem
solchen Denken verschwimmt das zivile Bild unserer
Gesellschaft und erleidet auf Dauer Schaden. Damit arbeiten wir indirekt denen in die Hände, die diese offene
und freie Gesellschaft diskreditieren wollen.
({1})
Nun wollen Ministerpräsidenten der Union die Bundeswehr für den Objektschutz einsetzen. Lassen Sie
mich ein Beispiel nennen. In meinem Heimatbundesland
Hessen sind nach Aussagen des Innenministers 900 bis
1 000 Polizisten im Objektschutz gebunden. Demgegenüber sollen bis 2007 bei der hessischen Polizei 2 300 Stellen abgebaut werden. Das übertrifft die theoretisch mögliche Entlastung um das Mehrfache.
({2})
Das ist ein Offenbarungseid.
({3})
Denn es heißt letztlich: Grundgesetz nach Kassenlage.
Das ist mit uns Sozialdemokraten nicht zu machen.
({4})
Für uns gilt, was im Koalitionsvertrag festgeschrieben
ist: die grundsätzliche Trennung zwischen militärischen
und polizeilichen Aufgaben. Diese Aufgaben werden
wir auch nicht vermischen.
({5})
Das Wort hat der Kollege Bernd Siebert, CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer in dieser Situation Schadenfreude zeigt oder eine
ideologische Grundsatzdiskussion führt, setzt sich meiner Ansicht nach mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht solide auseinander.
Man muss sich länger Zeit nehmen, als das bis zur heutigen Diskussion möglich war, um das Urteil im Detail zu
analysieren, die schriftliche Begründung entsprechend zu
bewerten und daraus die notwendigen Schlüsse zu ziehen. Für mich gibt es gar keinen Zweifel, dass sich die Sozialdemokraten, die Christdemokraten, die Christsozialen und - ich gehe noch weiter - auch die FDP darüber
verständigen - das muss sein -, welche Rechtsgrundlagen
wir angesichts der terroristischen und anderer Gefahren
brauchen, um die Sicherheit Deutschlands und insbesondere unserer Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten.
({0})
Wir müssen aber auch Rechtssicherheit für denjenigen herbeiführen, der die Entscheidung umsetzen muss.
Dabei spielen natürlich die Bundeswehr und insbesondere der in der Handlungskette stehende Soldat eine
wichtige Rolle. Wer sonst sollte einer Bedrohung aus der
Luft oder über See mit Aussicht auf Erfolg entgegentreten? Wer sonst außer der Bundeswehr hat im Bereich der
ABC-Abwehr eine schnelle Reaktionskompetenz im gesamten Spektrum möglicher Gefahren?
({1})
Es geht nicht darum - darin sind wir uns alle sicherlich
einig -, dass unsere Soldaten als Hilfspolizisten beim
Wacheschieben vor Bahnhöfen oder Fußballstadien zum
Einsatz kommen sollen. Wenn es aber darum geht, Einflugschneisen von Flughäfen gegen Raketenbeschuss zu
sichern, Kernkraftwerke oder große Industrieanlagen,
chemische Anlagen zum Beispiel, zu schützen oder
Bahnlinien abzusichern, muss man sagen: Hier verfügt
die Bundeswehr über eine sehr hohe Kompetenz. Das
Gleiche gilt für das Herstellen einer schnellen Führungsfähigkeit bei großen Katastrophen oder terroristischen
Anschlägen.
Ich kann wirklich nicht nachvollziehen, dass wir im
Ausland die Bundeswehr dort quasi im Innern zur Sicherheit der dortigen Bevölkerung einsetzen, aber in
Deutschland in dieser Frage einen rechtsfreien Raum
entstehen lassen. Mit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil ist eben nicht alles erledigt. Ganz im Gegenteil: Wir
sind nun zu besonders besonnenem Handeln und zu verantwortungsbewussten Entscheidungen aufgefordert.
Wir müssen ausloten, wo und was wir im Grundgesetz
ändern müssen, damit wir optimal gegen asymmetrische
Bedrohungen aufgestellt sind. Ich habe den Eindruck
- auch nach dieser Aktuellen Stunde -: Die Tür zu einer
vernünftigen Lösung ist noch nicht zugestoßen. Eine solche Lösung erwarten die Menschen in unserem Land
und insbesondere die Soldaten von uns zu Recht.
Herzlichen Dank.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aktuelle Stunde.
Wir sind am Ende unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung auf Mittwoch, den
8. März 2006, 13 Uhr, ein.
Nehmen Sie die gewonnenen Erkenntnisse mit und
genießen Sie sie am Wochenende.
Ich schließe die Sitzung.