Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten,
möchte ich dem Kollegen Hans Peter Thul zu seinem
60. Geburtstag gratulieren, den er vor einigen Tagen gefeiert hat,
({0})
und ihm dazu alle guten Wünsche auch auf diesem Wege
noch einmal übermitteln.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste
aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
FDP:
Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur
Pendlerpauschale
({1})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({2})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Patrick Döring, Hartfrid Wolff ({3}),
Horst Friedrich ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ausnahmeregelung für Fahrerlaubnisse
von Angehörigen der Feuerwehren, des
Rettungsdienstes und des Katastrophenschutzes schaffen
- Drucksache 16/10884 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5})
Innenausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Klaus Brähmig, Klaus Riegert, Jürgen
Klimke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Annette Faße,
Dr. Reinhold Hemker, Dr. Peter Danckert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Potentiale von Tourismus und Sport erkennen und fördern
- Drucksache 16/11402 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Klaus Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. HansPeter Friedrich ({7}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Annette Faße,
Dr. Reinhold Hemker, Gregor Amann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Potentiale von Migranten für den internationalen Tourismus nutzen
- Drucksache 16/11403 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({9})
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes
({10}) zu dem Gesetz zur
arbeitsmarktadäquaten Steuerung der
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Zuwanderung Hochqualifizierter und zur
Änderung weiterer aufenthaltsrechtlicher
Regelungen ({11})
- Drucksachen 16/10288, 16/10722, 16/10914,
16/11166, 16/11390 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Röttgen
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes
({12}) zu dem Gesetz zur
Abwehr von Gefahren des internationalen
Terrorismus durch das Bundeskriminal-
amt
- Drucksachen 16/9588, 16/10121, 16/10822,
16/11167, 16/11227, 16/11391 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Oppermann
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes
({13}) zu dem Gesetz zur
Förderung von Familien und haushaltsnahen Dienstleistungen ({14})
- Drucksachen 16/10809, 16/11001, 16/11172,
16/11191, 16/11329, 16/11392 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Meister
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christian Ahrendt, Dr. Max Stadler, Gisela
Piltz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Notfinanzierungsmittel für EXIT-Deutsch-
land zur Verfügung stellen
- Drucksache 16/11378 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 506 zu Petitionen
- Drucksache 16/11393 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 507 zu Petitionen
- Drucksache 16/11394 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 508 zu Petitionen
- Drucksache 16/11395 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 509 zu Petitionen
- Drucksache 16/11396 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 510 zu Petitionen
- Drucksache 16/11397 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 511 zu Petitionen
- Drucksache 16/11398 -
k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 512 zu Petitionen
- Drucksache 16/11399 -
l) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 513 zu Petitionen
- Drucksache 16/11400 -
m) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 514 zu Petitionen
- Drucksache 16/11401 ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rücknahmesystem für gebrauchte Energiesparlampen im Handel einrichten
- Drucksache 16/11387 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({24})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Götz, Dirk Fischer ({25}), Dr. Klaus W.
Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Petra Weis, Klaas
Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Die integrierte Stadtentwicklung weiter ausbauen
- Drucksache 16/11414 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({26})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Döring, Gisela Piltz, Horst Friedrich ({27}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Innenstädte stärken - Kooperationen fördern Städtebauförderung weiter entwickeln
- Drucksache 16/8076 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({28})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Kerstin Müller ({29}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine restriktive Rüstungsexportpolitik Parlamentarische Kontrollmöglichkeiten verbessern
- Drucksache 16/11388 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({30})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 8a)Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Modernisierung des Vergaberechts
- Drucksache 16/10117 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({31})
- Drucksache 16/11428 Berichterstattung:
Abgeordneter Reinhard Schultz ({32})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({33})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Martin Zeil, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Novellierung des Vergaberechts für Bürokratieabbau nutzen - Bundesweit einheitliches Präqualifizierungssystem für Leistungen einführen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,
Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bei öffentlichen Aufträgen sozial-ökologische Anliegen und Tariftreue durchsetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,
Werner Dreibus, Dr. Diether Dehm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Tariftreue europarechtlich absichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Dr. Thea Dückert, Margareta Wolf
({34}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ökoeffiziente Beschaffung auf Bundesebene
durchsetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Dr. Thea Dückert, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vergaberecht reformieren - Rechtssicherheit schaffen - Eckpunkte für die Reform
des Vergaberechts
- Drucksachen 16/9092, 16/6930, 16/9636, 16/6791,
16/8810, 16/11428 Berichterstattung:
Abgeordneter Reinhard Schultz ({35})
ZP 9 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Energieeinsparungsgesetzes
- Drucksachen 16/10290, 16/10331 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({36})
- Drucksache 16/11417 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Hettlich
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 32, der bisher als letzter
Punkt am morgigen Freitag vorgesehen war, wird zusammen mit der gleich folgenden Regierungserklärung
aufgerufen.
Die Tagesordnungspunkte 18, 31 und 34 b sollen abgesetzt werden.
Daraus ergeben sich einige Änderungen bei der Reihenfolge der Tagesordnung: Der Tagesordnungspunkt 19,
bei dem im Übrigen eine namentliche Abstimmung verlangt wird, soll bereits nach dem Tagesordnungspunkt 9
aufgerufen werden, die nachfolgenden Tagesordnungspunkte 10 und 11 werden getauscht, die Tagesordnungspunkte 20 und 22 rücken aufgrund der Absetzung des
Tagesordnungspunktes 18 entsprechend vor, und
schließlich wird der Tagesordnungspunkt 13 erst nach
dem Tagesordnungspunkt 20 aufgerufen.
Das hat sicher jeder jetzt sofort verstanden. - Jedenfalls gibt es keinen erkennbaren Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 und 32 auf:
4 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister des Auswärtigen
zu den Ergebnissen des Europäischen Rats am
11./12. Dezember 2008
32 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({37}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm,
Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Das Ratifizierungsverfahren zum Vertrag von
Lissabon aussetzen - Ein Sozialprotokoll vereinbaren
- Drucksachen 16/8879, 16/10832 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth ({38})
Dr. Diether Dehm
Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch dazu kann ich Einvernehmen feststellen. Dann können wir so verfahren.
Ich erteile das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung dem Bundesminister des Auswärtigen,
Dr. Frank-Walter Steinmeier.
({39})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordneten! Hinter uns liegen in
der Tat bewegte Monate. Unter der französischen Ratspräsidentschaft hatte Europa ganz außerordentliche Belastungen und Bewährungsproben zu bestehen. Ich
glaube, wir dürfen heute mit Genugtuung und auch mit
etwas Erleichterung sagen: Europa hat sich all diesen
Krisen wirklich gewachsen gezeigt. „Wo aber Gefahr ist,
wächst das Rettende auch“, wurde Hölderlin am vergangenen Wochenende in einer großen deutschen Tageszeitung zitiert. Das hätte nicht gereicht, sage ich. Als es darauf ankam, haben wir als Europäer gemeinsam
gehandelt. Wir haben einig und vor allen Dingen wirksam gehandelt.
({0})
Die Europäische Union hat die Waffen zum Schweigen gebracht, als im Sommer im Südkaukasus, gleich in
unserer Nachbarschaft, der Krieg ausgebrochen war. Die
EU hat eine neue Finanzarchitektur auf die internationale Tagesordnung gesetzt. Das war eine schnelle Reaktion auf die historische Krise auf den weltweiten Finanzmärkten.
In der vergangenen Woche - darüber diskutieren wir
heute - hat sich die Europäische Union auf dem Europäischen Rat auf sehr konkrete zukunftsweisende Entscheidungen verständigt: erstens auf ein Konjunkturpaket von 200 Milliarden Euro, das ein deutliches Signal
an die Wirtschaft bedeutet, zweitens auf einen zukunftsweisenden Durchbruch in der Klimapolitik mit - hoffentlich - Signalwirkung für unsere Partner weltweit,
drittens auf ein eindeutiges Bekenntnis zum Vertrag von
Lissabon, der Ende 2009 in Kraft treten soll.
({1})
Das ist eine gute Bilanz in wahrhaft schwieriger Zeit;
darüber bin ich froh. Sie straft Gott sei Dank all jene Lügen, die der Europäischen Union schon wieder eine Eurosklerose bescheinigen wollten. Stattdessen haben sich
in Europa die alten europäischen Tugenden - Berechenbarkeit, Nachhaltigkeit, auch Solidarität - erneut bewährt und Europa wieder handlungsfähig gemacht. Ich
darf Ihnen sagen: Ohne die mutige Führung der französischen Ratspräsidentschaft wäre das nicht möglich gewesen. Unseren französischen Freunden sagen wir deshalb
an dieser Stelle Dank für die Arbeit in schwierigstem
Gelände. Ich finde, das verdient auch Anerkennung in
diesem Hohen Hause.
({2})
Meine Damen und Herren, vom Europäischen Rat am
11. und 12. Dezember geht eine klare Botschaft aus. Mit
der Verständigung auf ein europäisches Programm zur
Belebung der Konjunktur hat Europa sich seiner Verantwortung für Wachstum und Beschäftigung gestellt. Wir
haben früh darauf hingewiesen: Diese Verantwortung
liegt bei den Mitgliedstaaten, aber gleichzeitig auch auf
der europäischen Ebene. Das gehört zur Logik eines offenen europäischen Binnenmarktes. Abstimmung, Koordinierung und, wo immer möglich, gemeinsames Vorgehen liegen auch im Interesse der Mitgliedstaaten, gerade
bei der Bekämpfung der Krise, in der wir uns zurzeit befinden.
({3})
Das Konjunkturprogramm in der Größenordnung
von 1,5 Prozent des EU-weiten Bruttoinlandsproduktes
ist aus meiner Sicht ein starkes Signal. Die Botschaft
lautet: Die Staaten Europas werden sich gemeinsam mit
aller Kraft gegen den Abschwung stemmen und Arbeit
erhalten, wo immer das möglich ist. Es ist gut für uns,
dass sich alle in Europa darüber einig sind.
({4})
Das Brüsseler Konjunkturprogramm enthält auf nationaler und auf europäischer Ebene Instrumente, die
sich gegenseitig ergänzen werden und sollen. Ich darf
Ihnen nach den Diskussionen der vergangenen Woche
sagen: Bei den nationalen Maßnahmen steht DeutschBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
land in Europa bisher gut da. Noch nicht einmal die
Hälfte der Mitgliedstaaten hat vergleichbare Maßnahmenpakete, wie wir sie in diesem Hohen Hause in den
vergangenen Wochen beschlossen und verabschiedet haben, auf den Weg gebracht. Gleichwohl - das ist verständlich angesichts der Wirtschaftsdaten, denen wir entgegensehen - tobt natürlich auch in Deutschland eine
Debatte darüber, ob in der Krise genügend nationale Gegenwehr gegeben ist. Die Zahl der Vorschläge - Sie erkennen das auch - wird nach und nach unüberschaubarer.
Wir wissen, meine Damen und Herren, wenn Konjunktur und Beschäftigung massiv einbrechen, dann
werden wir gegebenenfalls neu entscheiden müssen, um
Arbeitsplätze zu schützen und Jobs zu erhalten. Wir werden dabei kraftvoll und - so darf ich Ihnen versprechen auch überlegt handeln. Wir werden wirksame Maßnahmen ergreifen, die konkret und langfristig zugleich sind.
Darauf kommt es nämlich an.
({5})
Wirksam können Konjunkturprogramme nur dann
sein, wenn wir in Europa gemeinsam handeln, wenn Europa und die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in
dieselbe Richtung marschieren. Ich glaube, dass wir nur
so eine Konjunkturkrise wirklich abfedern können. Deshalb müssen wir in Europa ein Dreifaches gemeinsam
tun: Beschäftigung sichern, Infrastruktur ausbauen und
Zukunftstechnologien fördern. Das Programm, das wir
gerade in Brüssel beschlossen haben, greift viele unserer
Vorschläge auf. Ich finde, das ist keine schlechte Auszeichnung für uns in Deutschland.
({6})
Ein wichtiger Punkt für mich ist: Wir müssen stärker
in Energieeffizienz und auch in die Zukunftsfähigkeit
der ländlichen Gebiete investieren. Wir dürfen diese Gebiete nicht abhängen, auch nicht bei uns in Deutschland.
Wir brauchen auch im ländlichen Raum eine technische
Infrastruktur. Breitbandnetze sind Lebensadern für Modernisierung, Wachstum und Innovation in den ländlichen Räumen. Sie wissen aus Ihren Wahlkreisen, dass
das Vorhandensein von Breitbandnetzen mittlerweile
auch ein Gesichtspunkt für mögliche Ansiedlungen ist.
Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir das auch von
europäischer Ebene aus auf den Weg bringen, dass wir
bürokratische Hemmnisse beseitigen und dass wir den
Ausbau auch fördern.
({7})
Ein zweiter Punkt, den ich herausstellen möchte, ist
die Ausweitung der Kredite der Europäischen Investitionsbank zugunsten kleiner und mittlerer Unternehmen. Auch das hatten wir von deutscher Seite bereits
früher angeregt. In letzter Zeit haben wir auch in
Deutschland oft gehört, dass Kredite so etwas wie der
Blutkreislauf der Wirtschaft sind. Das ist ein gutes Bild.
Wenn dies zutrifft, dann brauchen viele Betriebe gerade
jetzt in der Krise eine Blutzufuhr, damit sie innovativ
bleiben. Wir dürfen den Kreislaufkollaps nicht zulassen.
Ich finde, die europäischen Beschlüsse, aus denen ich
gerade zitiert habe, sind eine gute Hilfe, um genau dies
zu verhindern. Deshalb sind es gute Beschlüsse.
({8})
Mehr Investitionen und Beschäftigung versprechen
wir uns im Übrigen auch von einfacheren Beihilfe- und
Ausschreibungsverfahren. Bisher werden Beihilfen ab
200 000 Euro in Brüssel geprüft. Künftig werden Beihilfen erst ab einem Betrag von 500 000 Euro geprüft. Das
bedeutet mehr Planungssicherheit für viele Vorhaben,
die in dem Umfang bisher nicht gegeben war. Hinzu
kommt, dass die Ausschreibungsfrist bei Großprojekten
von derzeit 87 auf künftig 30 Tage verkürzt wird. Auch
damit gewinnen Unternehmen wertvolle Zeit. Deshalb
ist dies ein guter Beschluss aus der vergangenen Woche.
({9})
Nicht zuletzt werden auch der Europäische Sozialfonds und andere europäische Instrumente - wie wir es
gefordert haben - noch einmal daraufhin durchforstet,
wie Beschäftigung gesichert und wie die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt gefördert werden kann. Eine
der Lösungen, die wir im Vorfeld diskutiert haben, war:
Wenn kleine Unternehmen einen Arbeitslosen einstellen,
dann können künftig Lohnnebenkosten unter Zurückgreifen auf europäische Mittel - auch ESF-Mittel - befristet übernommen werden. Ich finde, wenn Europa für
die Menschen Gestalt annehmen soll, dann müssen wir
an solchen lebensnahen Lösungen mehr arbeiten als bisher. Davon werden wir alle profitieren.
({10})
Alle diese Maßnahmen entsprechen einer Prämisse,
die wir auch für uns gelten lassen: Vorfahrt für Arbeit.
Darum geht es uns. Das müssen wir auf der nationalen
und der europäischen Ebene umsetzen, damit wir die Rezession so gut wie nur irgend möglich abpuffern. Ich
habe an anderer Stelle gesagt: 2009 darf kein Jahr der
Entlassungen werden. Das müssen wir mit unseren Möglichkeiten so gut wie möglich verhindern.
({11})
Die Beschlüsse des Europäischen Rates - auch das
haben Sie gesehen - geben den nationalen Mitgliedstaaten Möglichkeiten, je nach den unterschiedlichen Bedingungen ergänzende, weiter gehende Maßnahmen zu ergreifen. Man kann - das ist mittlerweile Allgemeingut die Mitgliedstaaten der EU nicht über einen Kamm scheren. Die Volkswirtschaften haben eine unterschiedliche
Struktur, und von dieser Vielfalt haben wir in Europa sogar ganz gut gelebt. Was zur Bewältigung der Krise etwa
in der britischen Dienstleistungs- und Finanzdienstleistungswirtschaft hilft, das muss noch keine Hilfe für eine
aus guten Gründen nach wie vor - wir sind froh darüber industriell geprägte deutsche Volkswirtschaft sein. Deshalb war es klug, dass wir nicht alles über einen Kamm
geschert haben, uns nicht auf einige wenige Instrumente
verständigt haben, sondern weiterhin von der Anwendung eines Instrumentenkastens ausgehen.
Wo einheitliches Handeln nicht zwingend und sogar
untauglich ist, da stimmen wir uns über den Rahmen nationalen Handelns gemeinsam ab. Das haben wir in der
vergangenen Woche getan; das werden wir auch in Zukunft tun müssen. Warum? Weil zu dem Rahmen für nationales Handeln weiterhin natürlich auch zum Beispiel
der Stabilitäts- und Wachstumspakt gehört. Wir haben
uns in Brüssel vonseiten der deutschen Regierung dafür
starkgemacht, dass dieser Pakt nicht komplett unterlaufen und nicht gänzlich ausgehebelt wird. Dieser Pakt
bietet nämlich auch für die kommende Zeit Flexibilität.
Er erlaubt, wie Sie wissen, ein zeitlich befristetes Überschreiten der 3-Prozent-Verschuldungsgrenze. Klar ist
aber auch - auch das ist enthalten -: Alle sind gehalten,
die Verschuldung unverzüglich zurückzuführen und für
ausgeglichene Haushalte zu sorgen, sobald der nächste
Aufschwung beginnt. Dabei bleibt es.
({12})
Das zweite große Thema neben der Finanz- und Wirtschaftskrise beim Gipfel war natürlich das Klimapaket.
Auch bei der Klimakonferenz in Posen oder anderswo überall zweifelte man, ob die Europäische Union ihre
ehrgeizigen Klimaschutzziele bei der ersten Gelegenheit,
wenn es denn passt, gleich wieder in die europäische
Schublade zurücklegt. Es klingt in der Tat nicht ganz
mutlos, was wir uns vorgenommen haben. Bis 2020 wollen wir in Europa 20 Prozent weniger Treibhausgase als
1990 haben. Wir wollen den Anteil der erneuerbaren
Energien am Energieverbrauch auf 20 Prozent steigern.
Dann gab es tatsächlich welche - Unternehmen, Staaten und auch manche aus der Politik, wie ich Ihnen sagen kann -, die natürlich die Gunst der Stunde nutzen
und den Klimaschutz von den vorderen Rängen der politischen Tagesordnung - auch der internationalen Tagesordnung - herunterziehen und von dort verdrängen wollten. Ich sage Ihnen offen: Auch aus meiner Sicht lag in
den letzten Wochen vor dem Gipfel die Verschiebung
des gesamten Paketes manchmal näher als die Möglichkeit, sich noch vor Weihnachten auf einen gemeinsamen
Kompromiss zu verständigen.
Nach diesem Gipfel können wir aber sagen: Die EU
hat Wort gehalten. Wir haben die Ziele bekräftigt und die
Last konkret und verbindlich auf die EU-Staaten aufgeteilt. Ich finde, die Eckpunkte dieser Verständigung, die
ich Ihnen jetzt vortragen werde, zeigen das knapp, aber
auch ebenso klar:
Erstens. Wir werden einen gemeinsamen europäischen Emissionshandel einführen, der die bis dahin
bestehenden nationalen Regelungen ablöst. Alle energieintensiven Unternehmen in Europa bekommen jetzt
endlich - das war notwendig - gleiche Wettbewerbsbedingungen.
Zweitens. Kraftwerke, auch energieintensive Industriebetriebe dürfen jedes Jahr weniger Treibhausgase
ausstoßen. Bis 2020 sinkt die Obergrenze schrittweise
um 21 Prozent gegenüber 2005.
Drittens. Grundsätzlich bekommt kein Energieerzeuger in Europa Emissionsrechte geschenkt. Nur manchen
Ländern in Osteuropa werden Übergangsregelungen eingeräumt, weil sie fast komplett von Strom aus alten Kohlekraftwerken abhängen.
Viertens. Auch beim Ausbau der erneuerbaren Energien haben sich die europäischen Mitgliedstaaten auf
dem Rat zu verbindlichen Zielen verpflichtet. Wir Deutsche wollen bis 2020 18 Prozent der Energie aus erneuerbaren Energiequellen erzeugen. 2005 waren es noch
5,8 Prozent. Auf diesem Gebiet wartet viel Arbeit und
vor allen Dingen viel kluge Politik auf uns. Die wollen
wir miteinander machen.
({13})
Diese vier Punkte, die ich Ihnen kurz vorgetragen
habe, sind aus meiner Sicht unter Klimaschutzgesichtspunkten ganz wichtige Schritte nach vorn. Zum ersten
Mal werden in einem wirklich großen Wirtschaftsraum
Ziele und Deklarationen, die bisher unverbindlich waren, in Regelungen und Maßnahmen umgesetzt. Das ist
ein Erfolg, den wir hier im Hause und möglichst auch
außerhalb dieses Hauses nicht kleinreden sollten. Das ist
ein Erfolg.
({14})
Ich darf hinzufügen, dass damit den Erwartungen
Rechnung getragen wurde, die uns der Umweltausschuss
des Deutschen Bundestages im Mai 2008 vorgetragen
hat. Der Bundesumweltminister hat das in der gestrigen
Sitzung des Umweltausschusses, wie ich gehört habe,
ausführlich und überzeugend dargestellt. Ich danke ihm
dafür.
({15})
Das Ergebnis beweist, dass man Klimaschutz und Arbeitsplatzschutz nicht gegeneinander ausspielen muss,
sondern dass es sinnvolle Verknüpfungen gibt. Ich sage
hier ganz klar: Wer eine breite Akzeptanz für den Klimaschutz will, der darf diese notwendige Anstrengung
nicht auf dem Rücken von Arbeitnehmern durchsetzen.
Nach dieser Überzeugung haben wir - ich zähle auf Ihr
Verständnis - auch auf diesem EU-Gipfel gehandelt.
Zur Wahrheit gehört auch, dass Deutschland ein starkes Industrieland bleiben muss. Wir brauchen produzierende Betriebe. Mit Dienstleistungen allein - das wissen
Sie - können wir unseren Wohlstand nicht sichern. Deshalb - das ist der Grund, meine Damen und Herren - haben wir Regeln vereinbart, die die energieintensiven
Betriebe in Deutschland wettbewerbsfähig halten und
nicht aus dem Land treiben. Das ist für mich und für die
gesamte Bundesregierung verantwortungsvolle Politik.
Dafür stehen wir. Dafür haben wir auch in Brüssel gestanden.
({16})
Wir kommen an den schwierigen Themen nicht vorbei; ich weiß das. Die Kohlekraft gehört dazu. Ich
glaube aber, dass wir nur dann Standards setzen und in
den noch problematischeren Regionen der Welt Vorbild
bleiben können, wenn wir eine verantwortungsvolle
Politik machen. Mit einem Verbot von Kohlekraftwerken, das manche fordern, werden wir in China niemanden überzeugen.
({17})
Wir werden eher Kopfschütteln hervorrufen, Herr Kuhn.
Wenn Kohlekraft weltweit genutzt wird - das wird auf
Sicht in vielen Regionen dieser Welt so sein -, dann dürfen gerade wir als Technologietreiber - hören Sie ruhig
zu - uns nicht aus der Verantwortung stehlen. Ein gutes
Gewissen, das manche sich davon versprechen, macht
noch kein gutes Klima. Deswegen war das, glaube ich,
ein richtiger Kompromiss.
({18})
Mit Blick auf manche Debatten, die uns bei den Verhandlungen in Brüssel begleitet haben, muss ich sagen:
Ich verstehe manches von dem, was an Vorwürfen öffentlich gehandelt worden ist, nicht. Wie kann man denn
glauben, dass eine solche Debatte, die wir in Brüssel geführt haben, in einem völlig luftleeren Raum stattfindet?
Wenn dort Regierungschefs aus 27 Staaten zusammensitzen, sprechen sie natürlich auch über alles andere, was
uns gegenwärtig plagt und umgibt: über die wirtschaftliche Situation und auch über die Sicherung von Arbeitsplätzen. Was soll also der Vorwurf, dass das bei der Diskussion über Klimafragen eine Rolle spielt?
Entscheidend nach diesem Gipfel ist, dass Europa
trotz dieser Diskussion - wir haben einen guten Kompromiss erzielt - weiterhin Vorreiter beim Klimaschutz bleibt. Die EU kann im nächsten Jahr die Verhandlungen über das Nachfolgeabkommen zum KiotoProtokoll glaubwürdig beginnen. Ich sage Ihnen auch:
Wir freuen uns über einen amerikanischen Präsidenten,
der dem globalen Kampf gegen Erderwärmung einen
wirklich neuen Schub gibt.
({19})
- Sie haben jetzt eine Sekunde zu früh geklatscht; ich
wollte noch einen Satz hinzufügen.
({20})
Ich verfolge im Augenblick die inneramerikanische
Diskussion. Die USA wollen - vorausgesetzt, Obama
setzt sich mit seinen Vorstellungen durch - eine CO2-Reduzierung, eine Reduzierung der Treibhausgase auf den
Stand von 1990 erreichen. Das ist vor dem Hintergrund
der amerikanischen Diskussion sehr ehrgeizig; aber wir
in Europa wollen weiter. Deshalb sage ich: Wir müssen
uns angesichts dessen, was in Brüssel erreicht und bestätigt worden ist, nicht verstecken. Die Ziele bleiben. Wir
sind aber weiter, weil wir sie jetzt mit Maßnahmen und
konkreten Verabredungen unterlegt haben.
({21})
Ob im Kampf gegen die Rezession oder beim Klimaschutz - überall zeigt sich, dass wir in Europa gemeinsam mehr schaffen als jeder für sich allein. Aber Politik
ist eben auch Organisation. Da haben manche recht und
viele Erfahrung. Deshalb müssen wir Europas Handlungsfähigkeit auf Dauer sichern. Dafür steht der Vertrag von Lissabon, für den wir alle gemeinsam gekämpft haben. Ich glaube, wir haben beim Europäischen
Rat einen Weg gefunden, wie der Vertrag im nächsten
Jahr hoffentlich doch noch in Kraft treten kann. Das war
nur möglich, weil die irische Regierung Mut gezeigt und
ein weiteres Referendum im nächsten Jahr in Aussicht
gestellt hat. Dies begrüße ich in der Tat sehr.
({22})
Wir jedenfalls wollen diesen Vertrag. Deshalb sind
wir trotz mancher Kritik bereit, Irland entgegenzukommen. Wir werden das Prinzip „Ein Land - ein EU-Kommissar“ nicht im Jahre 2014 abschaffen. Das ist in der
Tat eine bedeutsame Konzession, die uns nicht einfach
gefallen ist. Aber wir sagen: Der Vertrag selbst muss in
Kraft treten, und zwar wie geplant. Das heißt, Nachverhandlungen über den Vertrag darf es nicht geben. Das ist
gesichert. Ich bin froh darüber, dass der Weg zur Ratifizierung jetzt auch in Irland beschritten wird.
({23})
Ich komme zum Schluss. Frieden in Europa gibt es
nur, wenn auch Frieden um Europa herum herrscht. Wie
schnell Situationen eskalieren, haben wir gerade in diesem Jahr mit einigem Schrecken im südlichen Kaukasus
erlebt. Wir in Europa arbeiten gemeinsam dafür, dass
sich diese oder ähnliche Situationen nicht wiederholen.
Darum wollen wir Stabilität und Sicherheit in der östlichen Nachbarschaft der Europäischen Union stärken.
Das ist eine unserer Antworten auf die Georgien-Krise.
Das ist gelebte praktische Verantwortung. Das ist, wenn
Sie so wollen, nachhaltige Politik im Bereich der Außenpolitik.
Konkret heißt das: Wir werden im März 2009 die
europäische Nachbarschaftspolitik durch eine östliche
Partnerschaft stärken. Erste Vorschläge dazu haben wir
gemacht. Sie wurden von den Polen und Schweden aufgegriffen und sind in ein Konzept der Europäischen
Kommission eingeflossen. Diese östliche Partnerschaft
umfasst die Ukraine, Moldau und die Staaten des südlichen Kaukasus. Wenn sich die Entwicklung in Weißrussland positiv fortsetzt - ein paar Anzeichen dafür waren
in den letzten Wochen zu sehen -, dann wird auch Weißrussland zu dieser östlichen Partnerschaftspolitik dazugehören können.
({24})
Die tschechische Präsidentschaft wird dies zu einem
Schwerpunkt ihres Vorsitzes machen. Der tschechische
Außenminister war gerade erst hier. Ich habe ihm versprochen, dass wir diesen Schwerpunkt von deutscher
Seite aus nach Kräften unterstützen wollen.
Meine Damen und Herren, nächstes Jahr wird für die
Europäische Union ein wichtiges Jahr, nicht nur, weil
Europawahlen anstehen. Vor uns liegt eine Zeit der Veränderungen. Wir haben jetzt die Chance, auf die Globalisierung der Märkte mit kluger gemeinsamer Politik die
politische Globalisierung folgen zu lassen. Die neue Architektur der Finanzmärkte wird dabei nur ein erster
Schritt sein.
Es geht aber auch darum, wie wir die verschobenen
Gewichte auf der internationalen Bühne neu austarieren,
wie wir möglichst viele Akteure in eine internationale
Verantwortungsgemeinschaft einbeziehen und integrieren. Das muss gelingen, und das kann nur gelingen,
wenn wir in Europa gerade dabei eine gemeinsame Haltung entwickeln.
Die wichtigste Antwort auf die Globalisierung lautet
für unser Land immer noch Europa, nicht nur ein Europa
der Märkte, sondern auch ein Europa für alle Menschen,
ein Europa, das nicht nur mit feierlichen Erklärungen
und Dokumenten glänzt, sondern auch richtige Antworten auf die großen Zukunftsfragen gibt. Der Europäische
Rat jedenfalls hat dafür in der vergangenen Woche aus
meiner Sicht ein sehr ermutigendes Signal gegeben.
Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({25})
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich die Gelegenheit nutzen, auch der Kollegin Renate Schmidt
herzlich zu ihrem Geburtstag, den sie vor wenigen Tagen
begangen hat, zu gratulieren und die guten Wünsche auf
diesem Wege noch einmal öffentlich zu bekräftigen. Alles Gute!
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Werner Hoyer
für die FDP-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Noch vor
zwei Monaten, im Zusammenhang mit dem Europäischen Rat im Oktober dieses Jahres, hat die Bundesregierung jede Regierungserklärung verweigert. Dieses
Mal haben wir schon zwei Regierungserklärungen gehört: Vor 14 Tagen hat uns die Kanzlerin einen Ausblick
auf den letzten Europäischen Rat gegeben, heute durfte
der Außenminister zwecks koalitionspolitischer Ausbalancierung einen Rückblick wagen.
({0})
Wir sind froh darüber. Denn das gibt uns die Gelegenheit, Themen zu debattieren, die in Brüssel behandelt
worden sind und die weiß Gott sehr, sehr wichtig sind.
Die Lage ist in der Tat sehr ernst. Ich bin kein Schwarzmaler, sondern eher struktureller Optimist; aber ich
weiß, dass die Politik ganz leicht Vertrauen verspielen
kann, wenn der Eindruck entsteht, es werde Realitätsverweigerung betrieben.
Noch im September dieses Jahres hat die Bundesregierung alle Anzeichen für eine Finanz- und Wirtschaftskrise geleugnet, obwohl sich die Rezession
schon damals deutlich abzeichnete. Selbst der Begriff
„Rezession“ ist noch vor zwei Monaten bestritten worden. Wir können froh sein, dass die Stimmung im Lande
zurzeit besser ist als die Lage; das ist übrigens ein Befund, der mit unserem Nationalcharakter eigentlich
kaum in Einklang zu bringen ist. Die Konsumnachfrage
ist gegenwärtig die Hauptstütze der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage; auch das ist in Deutschland nicht gerade oft der Fall.
Politik muss über den Tag hinaus denken und vorbereitet sein. Manchmal hat man allerdings den Eindruck,
dass der eine Teil der Mannschaft des deutschen Kreuzfahrtschiffes noch auf dem Sonnendeck die Stühle sortiert, während der andere Teil unten bereits schuftet, um
die größten Lecks abzudichten. In dieser Situation muss
Europa handeln. Europa ist ja ebenso wie der Euro ein
Pfund, mit dem wir heute wuchern können, im Gegensatz zur Situation vor 80 Jahren.
Wo aber steht Europa, wo steht die Europäische
Union, und wo steht Deutschland in der Europäischen
Union? Im Jahre 2009 wird es die EU nicht leicht haben.
Die Kommission wird neu zu bestimmen sein; das Parlament wird gewählt; von der tschechischen Präsidentschaft erwarte ich, ehrlich gesagt, nicht unbedingt den
ganz großen integrationspolitischen Elan, und die Zukunft des Lissabon-Vertrages steht in den Sternen. Ich
hoffe, dass an Ihrem Optimismus bezüglich des zweiten
Referendums in Irland mehr als nur Wunschdenken dran
ist.
Es wird also ganz besonders auf die Mitgliedstaaten
ankommen, und das heißt, ganz besonders auf die größte
Volkswirtschaft, also auf Deutschland. Deutschland hat
in der Geschichte der Europäischen Union stets die Lokomotive gemacht, und der deutsche Regierungschef war
immer im Führerhaus dieser Lokomotive. Aber als sich
zur Vorbereitung dieses Gipfels Premier Brown, Staatspräsident Sarkozy und Kommissionspräsident Barroso
trafen, war die Bundeskanzlerin 800 Kilometer entfernt.
Das ist ein ziemlich unglaublicher Vorgang.
({1})
Gleichzeitig hat es an Belehrungen und Beschimpfungen unserer Partner durch den Bundesfinanzminister
nicht gefehlt. So muss man sich nicht wundern, wenn
man auf der Bühne der Europapolitik plötzlich im Abseits steht oder sogar die Rolle des Buhmanns zugewiesen bekommt. Zumindest bei unseren Partnern ist der
Eindruck eines unsolidarischen und kraftlosen Deutschland entstanden. Die Meinungsführerschaft haben längst
andere übernommen.
({2})
Dabei stimme ich dem Finanzminister in einigen wesentlichen Punkten ja durchaus zu. Er warnt zum Beispiel davor, Geld zu sehr mit der Gießkanne zu verteilen.
Das ist nie gut. Im Gegenteil: Wir sollten uns all denen
entgegenstellen, die die Krise nutzen wollen, um endlich
den Staatsanteil am Sozialprodukt wieder nach oben zu
treiben. Wir sollten uns denen entgegenstellen, die das
Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes endgültig über
Bord gehen lassen wollen, denen, die den Stabilitätspakt
sowieso am liebsten loswerden wollen, denen, die der
Meinung sind, Politiker und Beamte seien ohnehin die
besseren Unternehmer und Banker, oder denen, denen
angesichts der großen Krise der ordnungspolitische
Kompass völlig abhanden zu kommen droht.
({3})
Nein, ein rationales und entschlossenes Handeln ist sowohl bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen - gewissermaßen der Leitplanken, mit deren Hilfe unsere soziale Marktwirtschaft wieder wetterfest gemacht werden
muss -, als auch bei der Bekämpfung der Nachfrageschwäche gefragt, die im nächsten Jahr gefährliche Dimensionen annehmen wird.
Schauen wir uns die einzelnen Elemente der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage an:
Erstens. Die Auslandsnachfrage wird erheblich in
Schwierigkeiten geraten. Das war immer die Stütze der
deutschen Konjunktur. Hier besteht die Gefahr, dass die
Lehren aus der Krise von vor 80 Jahren eben nicht gezogen werden und den Versuchungen des Protektionismus
von einigen wieder nicht widerstanden wird. Hier müssen Berlin und Brüssel ohne Wenn und Aber in der Freihandelsspur bleiben. Niemand würde sonst so viel Schaden wie Deutschland nehmen.
({4})
Zweitens: Staatsnachfrage. Hier kann und muss der
Staat handeln. Entscheidend ist dabei, dass damit zugleich Strukturschwächen entgegengewirkt und Zukunftsperspektiven eröffnet werden. Das heißt, neben
der Verbesserung der Infrastruktur - übrigens nicht nur
durch Geld, sondern auch durch Bürokratieabbau - geht
es insbesondere auch darum, dass in den Bereichen Bildung, Forschung, Wissenschaft und Umwelt geklotzt
werden muss.
({5})
Drittens: Investitionsnachfrage. Hier geht es darum,
diese nicht völlig absaufen zu lassen. Das ist nicht gerade leicht, wenn man schon in der Keynes’schen Liquiditätsfalle angekommen ist. Durch die Geldmengensteuerung kann dann nicht mehr viel geholfen werden, vor
allem dann nicht, wenn die Banken ihre Liquidität lieber
über Nacht bei der Zentralbank parken und sogar Bilanzverkürzung betreiben als Mittelstandskredite zu vergeben.
Ich habe übrigens die Sorge, dass die Volkswirtschaft
durchaus auch in Liquidität ersaufen kann. Das heißt,
dass man die Liquidität eines Tages auch wieder wird
abschöpfen müssen;
({6})
denn sonst wäre es geradezu vorprogrammiert, dass eines Tages auf die jetzt zu befürchtende Deflation später
eine schwere Inflation folgen würde.
({7})
Hier zeigt sich, dass es ein Fehler gewesen ist, beim
Bankenrettungsschirm nicht alle Institute in die Pflicht
zu nehmen. Deswegen bleibt die steuerliche Entlastung
des Mittelstandes die wichtigste Stellschraube.
({8})
Viertens: Konsumnachfrage. Hier gilt erst recht, dass
eine steuerliche Entlastung das Gebot der Stunde ist.
Noch wird konsumiert; Weihnachtsstimmung und jetzt
zufließende Lohnerhöhungen tragen dazu bei. Aber vertun wir uns nicht: Anfang des neuen Jahres wird die
Sorge um die Arbeitsplätze mehr und mehr um sich greifen, und die Leute werden mit Grausen feststellen, wie
viel von dem Mehr an Brutto durch die kalte Progression
und die Sozialabgaben weggefressen wird. Mehr Netto
vom Brutto ist jetzt das Gebot der Stunde.
({9})
Natürlich kommen Sie jetzt mit dem Argument, dass
all das die Verschuldungssituation verschärft. Stimmt!
Anfang des nächsten Jahres wird diese Bundesregierung
die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts
feststellen, um überhaupt verfassungsrechtlich und europarechtlich noch über die Runden zu kommen. Es rächt
sich eben jetzt, dass diese Regierung der Großen Koalition in ihren vier Jahren trotz 160 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen, also in den fetten Jahren, nichts auf
die hohe Kante gelegt, sondern die Staatsverschuldung
noch erhöht hat.
({10})
Deswegen kann es nicht sein, dass die Bundesregierung zögerlich handelt, dass sie die Abfolge ihrer Maßnahmen von wahltaktischen Erwägungen abhängig
macht. Sie handelt nicht dann, wenn es erforderlich ist,
sondern dann, wenn es wahltaktisch passt. Das ist unverantwortlich. Schnelle, breit angelegte Steuerentlastungen
vor allem für kleinere und mittlere Einkommen sind jetzt
in dieser Situation das richtige Signal und, nebenbei bemerkt, das richtige Signal an unsere Partner in der Europäischen Union.
Vielen Dank.
({11})
Michael Stübgen ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
befinden uns am Ende einer in jeder Beziehung bemerkenswerten Ratspräsidentschaft Frankreichs, bei der
schon die Person des Ratspräsidenten Sarkozy versprochen hat, dass es eine spannende Zeit wird.
Diese Ratspräsidentschaft war allerdings auch noch
durch äußere Einflüsse geprägt, die von uns nicht gesteuert werden konnten und sie in besonderer Weise
schwierig machten, sodass sie über weite Zeiträume eine
reine Krisenpräsidentschaft war. So hatte die französische Ratspräsidentschaft von Anfang an mit dem ungelösten Problem des gescheiterten irischen Referendums
zu tun. Hinzu kamen die Georgien-Krise und die internationale Finanzkrise.
Ein Vorhaben der französischen Ratspräsidentschaft,
das von uns unterstützt wurde, war, dass das, was unter
der deutschen Ratspräsidentschaft als allgemeine Ziele
für den Einstieg in die aktive Klimapolitik der Europäischen Union beschlossen worden ist, jetzt in den schwierigen Details mit klaren Vorgaben für die Industrie festgelegt und umgesetzt wird. All das sind extrem
schwierige Dinge. Am Ende dieser Ratspräsidentschaft
kann man feststellen, dass die französische Ratspräsidentschaft erfolgreich war. Der französischen Regierung
gebührt dafür unser Dank.
({0})
Dabei ist gerade zum Ende dieser Präsidentschaft ein
Phänomen für mich besonders bemerkenswert: Am Ende
hat die französische Ratspräsidentschaft letztlich das
umsetzen müssen, was die deutsche Ratspräsidentschaft
vorgegeben hat. Ich will hier an die Frage des LissabonVertrages erinnern. Nur durch das Agieren der deutschen
Bundesregierung und von Bundeskanzlerin Angela
Merkel war es möglich, den gescheiterten Verfassungsvertrag als Lissabon-Vertrag wieder auf die Schiene zu
setzen.
({1})
Es war nicht geplant, dass wir uns noch damit beschäftigen. Aber es war Frankreich möglich, einen Zeitplan
festzulegen, wie wir eine klare Chance eröffnen können,
um am Ende des nächsten Jahres den Lissabon-Vertrag
doch zu implementieren.
({2})
Es war auch die Fortführung der deutschen Ratspräsidentschaft, beim Klimapaket zu klaren Beschlüssen zu
kommen. Hier war es - das muss man sagen - für Frankreich noch etwas schwieriger; denn allgemeine Ziele
festzulegen, wie die dreimal 20 Prozent, ist in jedem Fall
leichter, als zum Beispiel eine klare Umsetzung mit klaren Belastungen zu beschließen. Auch da sind wir zum
Schluss zu einem vernünftigen Kompromiss gekommen.
Auch der Europäische Rat in der vergangenen Woche
am 11. und 12. Dezember ist insgesamt als Erfolg zu
werten.
({3})
Drei Schwerpunkte gab es auf der Tagesordnung des
Europäischen Rates, wobei ich nur auf einen in besonderer Weise eingehen will. Die Frage war: Wie geht es mit
dem Lissabon-Vertrag weiter? Es ist vernünftig und
richtig, dass sich die irische Regierung verpflichtet hat,
bis zum 31. Oktober des nächsten Jahres die Ratifizierung in ihrem Land durchzuführen. Im Gegenzug haben
die Staats- und Regierungschefs der irischen Regierung
Garantien gegeben, um den irischen Bedenken Rechnung zu tragen. Ich glaube, es ist in der Tat nicht besonders gut, die Zahl der Kommissare letztlich doch wieder
bei 27 bzw. 28 in der nächsten Legislaturperiode zu belassen. Sie alle wissen, dass wir richtigerweise die Forderung vertreten haben, die Zahl der Kommissare so zu
reduzieren, dass die Kommission in Zukunft in der Lage
ist, eine Art Regierung mit verschiedenen Ressorts zu
bilden. Das ist nämlich mit 27, 28 oder mehr Kommissaren nur bedingt möglich. Wir haben zum Beispiel jetzt
einen Kommissar, der für das bemerkenswerte Thema
Sprachenvielfalt zuständig ist, aber letztlich in der Frage
nichts erreicht hat.
Ich glaube, wir müssen dafür sorgen, dass die Europäische Kommission intern zu Strukturen kommt, in denen
nicht wie bisher jeder Kommissar für bestimmte Bereiche zuständig ist; vielmehr müssen die Zuständigkeiten
gestrafft werden, sodass wir auch bei Kommissaren, die
keine direkte oder sozusagen eine untergeordnete Zuständigkeit haben, zu einer klaren Regierungsstruktur
kommen.
({4})
Ich glaube auch, dass die Beschlüsse zum Konjunkturpaket der Europäischen Union sehr wichtig waren.
Dabei ist in besonderer Weise hervorzuheben, dass es
eine Reihe von Erleichterungen geben wird, zum Beispiel
die Erweiterung der sogenannten De-minimis-Regelung,
die Verkürzung der Ausschreibungsfristen für Infrastrukturprojekte und - das muss noch umgesetzt werden - die
Erhöhung des Volumens, ab dem eine europaweite Ausschreibungspflicht für öffentliche Aufträge gegeben ist,
und zwar von 5 Millionen auf 10 Millionen Euro.
Ich will ausdrücklich
dass sie in dieser Frage trotz Kritik und Anfeindungen einen klaren Kurs gehalten und verhindert hat,
dass der Europäische Rat in finanzpolitischem Aktionismus alles Mögliche beschließt, nur weil das vielleicht
gerade populär ist, und dass die Finanzielle Vorausschau
ausgeweitet wird. Angela Merkels Position war zwar
über weite Strecken unpopulär, aber extrem wichtig. Ich
glaube, es ist richtig - das ist der deutschen Bundesregierung zu verdanken -, dass sich der Europäische Rat
darauf einigen konnte, den Umfang des Konjunkturpakets auf 1,5 Prozent des europäischen Bruttosozialproduktes zu begrenzen, dass der europäische Anteil daran
knapp ein Siebtel beträgt und dass nicht von vornherein
eine Ausweitung der Finanziellen Vorausschau angestrebt wird.
({0})
Am strittigsten - das war zu erwarten - war die Diskussion um das Klimapaket. Bei aller Kritik, die von allen Seiten vorgetragen wird, muss man einige grundsätzliche Punkte festhalten. Die Europäische Union ist in der
Tat - das war unser Ziel, und es ist auch notwendig - die
erste Völkergemeinschaft, die aktiv in den Klimaschutz
einsteigt und dies auch umsetzt. Aber bei der konkreten
Umsetzung musste von Anfang an beachtet werden, dass
es in den europäischen Mitgliedsländern höchst unterschiedliche Industriestrukturen und Energieerzeugungsstrukturen gibt. Bedauerlicherweise haben die von der
Europäischen Kommission vorgeschlagenen Richtlinien
zum Klimapaket darauf nicht ausreichend Rücksicht genommen und waren insofern untauglich.
Es bringt letztlich nichts, wenn wir Belastungen für
die Industrie beschließen, die sie gar nicht bewältigen
kann, selbst wenn sie dazu bereit ist, und das zum Zusammenbruch und zur Abwanderung industrieller Strukturen führt. Das schädigt Europa, und es nützt nicht einmal dem Klima. Denn wenn die Produktion in andere
Länder verlagert wird, in denen es keine entsprechenden
Auflagen gibt, dann schadet dies dem Klima.
({1})
Ich glaube, dass der gefundene Kompromiss vernünftig ist. Es war eine sehr schwierige Gratwanderung, und
es war klar, dass Deutschland in dieser Diskussion gleich
zweifach in einer schwierigen Situation ist. Zum einen
haben wir eine Industriestruktur, die in der Europäischen
Union ihresgleichen sucht. Sie ist obendrein noch stark
exportabhängig. Das heißt, sie steht im internationalen
Wettbewerb mit Ländern, in denen es noch keine Klimaschutzvorgaben gibt. Zum anderen haben wir in
Deutschland eine Energieerzeugungsstruktur, die sehr
stark - zu über 40 Prozent - auf der Verbrennung von
fossilen Energieträgern beruht. Auch hierbei bringt es
nichts - wenn wir zu Ergebnissen kommen wollen -, ab
2013 sozusagen einen Schnitt zu machen und zu einem
Knockout der bisher sehr erfolgreichen und auch technisch sehr fortschrittlichen und innovativen Energieproduktion in Deutschland zu kommen.
Ich glaube, dass die Ausnahmen für exportabhängige
Industrien, die durch die Einführung der Auktionierung
besonders betroffen sind, richtig und ausreichend sind.
Wichtig ist auch, dass die sogenannte indirekte Carbon
Leakage auch durch die Kommission so berücksichtigt
wird, dass wir auf nationaler Ebene in der Lage sind, Industriebetriebe, die zwar nicht direkt durch die Auktionierung von Emissionszertifikaten betroffen, aber durch
einen im Verhältnis zu ihrer Bruttowertschöpfung hohen
Stromverbrauch belastet sind, zu entlasten. Auch hier ist
es wichtig, zu wissen: Es bringt niemandem etwas, wenn
diese Industrie Deutschland verlässt und an das andere
Ende der Welt geht.
Nun möchte ich noch ganz kurz auf die Frage der
Energieerzeugung eingehen.
Das wird allerdings schwierig.
({0})
Dann wird einer meiner nachfolgenden Redner noch
ausreichend darauf eingehen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Sehr schön. Ich habe übrigens den begründeten Eindruck, Herr Kollege, dass dieser Schluss den meisten
Kollegen mindestens so gut wie das gefallen hat, was Sie
eigentlich noch vortragen wollten.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Oskar Lafontaine für
die Fraktion die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich stimme dem Bundesminister des Auswärtigen
zu: Europa stand in den letzten Monaten vor großen Herausforderungen. Das ist überhaupt nicht zu bestreiten.
Ich stimme ihm auch darin zu, dass wir Veranlassung haben, dem französischen Präsidenten für seine Amtsführung in den letzten Monaten zu danken; denn er hat in
dieser schwierigen Situation eines sofort erkannt: Auf
diese Herausforderung kann man nicht durch nationalstaatliches Handeln reagieren, vielmehr muss man gemeinsame europäische Antworten finden. Dass er dies
erkannt und durchzusetzen versucht hat, dafür gebührt
ihm nach unserer Auffassung Dank.
({0})
Der Bundesaußenminister hat vorgetragen, es sei gut,
dass sich in Europa alle einig sind. An dieser Aussage
bestehen berechtigte Zweifel. Es wäre schön, wenn sich
alle in Europa einig wären und man eine gemeinsame
Antwort fände. Aber festzustellen ist, dass es in Europa
sehr unterschiedliche Auffassungen gab und dass insbesondere die Bundesregierung diejenige war, die eine
einheitliche europäische Antwort auf die Herausforderung eher hintertrieben denn befördert hat.
({1})
Dafür gibt es nun Gründe. Wenn beispielsweise die
Bundeskanzlerin in Frankreich als „Madame Non“ bezeichnet wird, dann kommt dies nicht von ungefähr. Es
kommt schlicht und einfach daher, dass sie am Anfang,
als man versuchte, gemeinsame Antworten zu finden,
nicht bereit war, die notwendigen Kompromisse einzugehen, und gewissermaßen zum Jagen getragen werden
musste. Insofern wäre es redlich, auch dies einmal anzumerken. Deutschland ist die größte Volkswirtschaft in
Europa. Deutschland hätte eigentlich vorangehen müssen, um eine gemeinsame Antwort zu finden, und nicht
als Blockierer dastehen dürfen.
({2})
Wenn irgendjemand Zweifel daran hat, dass diese
Analyse richtig ist, dann erinnere ich daran, dass der
Herr Bundeswirtschaftsminister zu Beginn der Krise sagen zu müssen meinte, ein jeder kehre vor seiner eigenen
Tür. Hätte in Europa wirklich jeder vor seiner eigenen
Tür gekehrt, dann sähe die Situation jetzt noch viel
schlechter aus. Insofern ist es gut, dass es von Anfang an
europäische Staatsmänner gab, die erkannt hatten, dass
wir gemeinsam handeln müssen, und nicht solche dummen Sprüche absonderten, wie es hier in Deutschland
geschah.
({3})
An dieser Stelle ist auch darauf hinzuweisen, dass es
nicht glücklich ist, wenn sich der Bundesfinanzminister
so aufführt, wie er es auf europäischer Ebene getan hat.
Wenn er beispielsweise meint, sich über Gordon Brown
lustig machen zu müssen, dann ist demgegenüber festzuhalten, dass dieser schneller und konsequenter als diese
Bundesregierung reagiert hat. Insofern besteht für solche
Überheblichkeit überhaupt kein Anlass.
({4})
In diesem Zusammenhang hat der Bundesfinanzminister
zum Ausdruck gebracht, die Mehrwertsteuersenkung
in Großbritannien sei lächerlich, weil es schließlich keinen großen Unterschied mache, eine Ausgabe für
97,50 Euro anstatt für 100 Euro zu tätigen. Eine solche
Auffassung kann man zwar vertreten; wenn man selbst
aber vorher in Deutschland der Auffassung war, für ein
paar hundert Euro Kraftfahrzeugsteuerermäßigung kauften sich alle Leute schnell ein Auto, befindet man sich
nicht in einer günstigen Position, sondern dann fällt ein
solcher Vorwurf zumindest auf einen selbst zurück.
({5})
Der französische Ratspräsident hat noch einmal den
von Jacques Delors stammenden Vorschlag - ich sage
dies ganz bewusst - einer europäischen Wirtschaftsregierung eingeführt. Für meine Fraktion erkläre ich, dass
wir diesen Vorschlag nach wie vor für richtig halten,
weil dies am Anfang der europäischen Wirtschaftsunion
völlig unstreitig war. Diejenigen, die die Krönungstheorie vertraten, waren zugleich der Auffassung, man brauche zunächst gemeinsame politische Organe und erst
dann eine gemeinsame Währung. Man kann eine ganze
Reihe von Gründen anführen, um zu einer solchen Auffassung zu kommen. Wenn man sich aber schon für den
umgekehrten Weg aus sachlichen und politischen Erwägungen heraus entschieden hat, zuerst eine gemeinsame
Währung einzuführen, ist es umso logischer, zu sagen:
Dann müssen auch die Wirtschafts- und die Finanzpolitik sowie nach Möglichkeit die Lohnpolitik im gesamteuropäischen Raum koordiniert werden, wenn man optimale makroökonomische Ergebnisse haben will.
({6})
Deshalb begrüße ich, dass dieser Delors-Vorschlag noch
einmal vom französischen Staatspräsidenten auf die Tagesordnung gesetzt wird.
Nun hat der Bundesaußenminister gesagt - ich bedauere,
dass er sich vertieft unterhält; er hat sicherlich Gründe
dafür -: Gut, dass sich alle in Europa einig sind. - Ich
möchte hier für meine Fraktion erklären: Es wäre gut,
wenn sich alle in der Bundesregierung einig wären.
Dann wären wir ein ganz großes Stück weiter.
({7})
Was die Bundesregierung aufführt, ist nichts anderes als
Affentheater. Jeder Minister hat irgendeinen anderen
Vorschlag. Es ist ganz ungewöhnlich, dass eine Regierung zu einem Palaverklub denaturiert, in dem jeder andere Vorschläge in ökonomischen Fragen hat. Der eine
ist für Steuersenkungen, der andere ist dagegen. Der eine
ist für Konjunkturprogramme, der andere ist dagegen.
Der eine sagt: Die Sozialabgaben müssen sinken. Der
andere sagt etwas ganz anderes. Die entscheidende
Frage ist doch: Wie will man denn auf europäischer
Bühne eine überzeugende Figur abgeben, wenn alle Mitglieder des Bundeskabinetts unterschiedliche Auffassungen in den Kernfragen haben? Das ist nicht mehr nachvollziehbar.
({8})
Trotz der Angst, die Sie davor haben, das Wort „Konjunkturprogramm“ in den Mund zu nehmen, möchte ich
sagen: Sie würden allen europäischen Ländern erheblich
helfen, wenn Sie die Strukturdefizite Deutschlands beseitigten. Diese möchte ich für meine Fraktion benennen:
Erster Punkt. Jeder weiß, dass wir 1 Prozent, bezogen
auf das Bruttosozialprodukt, weniger für Bildung ausgeben als die anderen OECD-Staaten im Durchschnitt.
({9})
Daraus wäre der einfache Schluss zu ziehen: Jawohl, wir
beseitigen dieses strukturelle Defizit und geben in Zukunft 1 Prozent mehr für Bildung, Forschung und Wissenschaft aus. Es ist doch nicht so schwer, zu einem solchen Ergebnis zu kommen.
({10})
Zweiter Punkt. Jeder in diesem Hause kann überprüfen, dass wir 1 Prozent weniger in die Infrastruktur investieren als die anderen Staaten der Europäischen Gemeinschaft im Durchschnitt. Angesichts dessen ist es
doch nicht so schwer, zu dem Ergebnis zu kommen:
Lasst uns in Zukunft dafür Sorge tragen, dass wir genauso viel in die Infrastruktur investieren wie die anderen Staaten der Europäischen Gemeinschaft im Durchschnitt!
({11})
Das sind, bezogen auf das Bruttosozialprodukt, saldiert
die 50 Milliarden Euro, von denen immer die Rede ist.
Man kann das für richtig oder für falsch halten, aber
diese Vorschläge sind logisch und liegen vor.
Dritter Punkt. Ein weiteres strukturelles Defizit in
Deutschland stellt - darüber herrscht sicherlich keine
Übereinstimmung in diesem Haus - die Lohnentwicklung dar. Wir haben einen Abfall der Lohnquote zu verzeichnen, der zumindest für die deutsche Volkswirtschaft,
wenn nicht sogar für Gesamteuropa von Bedeutung ist.
Ich will die Zahlen nennen. Hätten wir noch die Lohnquote des Jahres 2000, dann hätten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland rund 140 Milliarden Euro mehr an Bruttolöhnen. Dieses strukturelle
Defizit muss man beseitigen. Daher haben wir Vorschläge
betreffend Hartz IV und den Mindestlohn gemacht; denn
dieses Defizit können wir uns auf Dauer nicht leisten.
({12})
Das vierte strukturelle Defizit ist das, was der Wirtschaftsweise Bofinger als Entstaatlichung bezeichnet.
Er hat die Entstaatlichung der letzten zehn Jahre beziffert. Die Bundesregierung hat uns dankenswerterweise
die Auskunft gegeben, dass wir dann, wenn wir die gleiche Staatsquote wie im Jahr 2000 hätten, Mehrausgaben
in Höhe von 118 Milliarden Euro pro Jahr hätten. Mit
anderen Worten: Erklärte die Bundesregierung nur, sie
beseitigte die strukturellen Defizite, die sich über Jahre
bei Bildung, Infrastruktur, Löhnen und Staatsausgaben
aufgebaut haben, würden wir massiv dazu beitragen,
dass Europa die richtige Antwort auf die Krise fände.
({13})
Ich will noch etwas zu den infrage stehenden Programmen sagen. Natürlich muss man sich entscheiden.
Wenn der Bundesfinanzminister richtigerweise sagt:
„Die Hälfte der Haushalte zahlt keine Steuern“ - er
meint natürlich die andere Hälfte der Haushalte, die
Lohn- und Einkommensteuer zahlt -, dann ist das einfach nur eine statistische Feststellung. Natürlich kann
man daraus die Konsequenz ziehen - wir halten das für
die falsche Antwort -: Wir helfen der Hälfte der deutschen Haushalte, die Lohn- und Einkommensteuer zahlen. Man kann zu diesem Ergebnis kommen. Dies ist
aber rein makroökonomisch nicht so effizient, als wenn
man der Hälfte der deutschen Haushalte hilft, die keine
Lohn- und Einkommensteuer zahlen, indem man ihnen
mehr Einnahmen verschafft; denn diese Haushalte tragen das Geld in die Kaufhäuser. Hier haben wir die
höchste Konsumrate. Das ist die Antwort, die wir empfehlen.
({14})
Nun noch eine Bemerkung zur Umwelt. Natürlich ist
es richtig - wer wollte das kritisieren -, dass Sie, Herr
Bundesaußenminister, Kompromisse schließen müssen.
Es wäre einfach naiv, zu sagen: Um Himmels willen, ihr
dürft keine Kompromisse schließen! - Natürlich kann
man darüber rechten, ob das weite Entgegenkommen gegenüber der Energiewirtschaft richtig war. Eines kann
man auf jeden Fall sagen: Wenn Sie hier - nach unserer
Auffassung richtigerweise - den technologischen Fortschritt reklamieren und sagen, wir müssten einen höheren Anteil an erneuerbaren Energien in der Zukunft erreichen, dann müssen wir im Inland die technischen und
strukturellen Voraussetzungen dafür schaffen. Das heißt
für uns: gesamtstaatliche Verantwortung für die Netze
und Dezentralisierung der Energieversorgung; sonst
werden wir die hehren Ziele, was die erneuerbaren Energien in Deutschland angeht, nicht realisieren.
({15})
Eine letzte Bemerkung, auch wenn Sie das immer
wieder ärgert: Wir definieren Demokratie nicht nur vom
Formalen, sondern auch vom Ergebnis her. Eine demokratische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der sich
die Interessen der Mehrheit und nicht die Interessen der
Minderheit durchsetzen. Das gilt nicht nur für Deutschland, das gilt auch für Gesamteuropa. Deshalb zitiere ich
an dieser Stelle gern Karl Arnold: Formale politische
Demokratie auf der einen Seite, aber Absolutismus in
der Wirtschaft, das wird und kann auf Dauer nicht funktionieren. - Wir wollen zu einem demokratischen und
sozialen Europa kommen. Wir wollen an die Stelle des
Neoliberalismus der letzten Jahrzehnte die Wirtschaftsdemokratie als gesamtgesellschaftliches Konzept setzen.
({16})
Ich kann auch nicht nachvollziehen, dass hier begrüßt
wird, dass die Iren noch einmal abstimmen müssen. Es
wäre doch ganz schön, wenn man nicht immer nur auf
der Ebene der Regierungen denken würde und der irischen Regierung Komplimente dafür machen würde,
dass sie bereit ist, noch einmal abstimmen zu lassen. Wir
sind der Auffassung, dass Demokratie ernst zu nehmen
ist. Wir alle haben in den letzten Jahrzehnten die Bevölkerung viel zu wenig an dem Fortschritt der europäischen Einigung teilhaben lassen.
({17})
Deshalb plädieren wir für Volksabstimmungen. Wir
halten es für einen Fehler, immer wieder zu sagen: Wenn
ihr nicht so abstimmt, wie wir wollen, dann müsst ihr
halt noch einmal abstimmen. - So werden wir das demokratische und soziale Europa nicht voranbringen.
Noch eine allerletzte Bemerkung: Wenn jetzt nach
dem Deutschen Gewerkschaftsbund auch die Sozialdemokratische Partei den Vorschlag macht, den wir seit
längerem machen, nämlich eine soziale Fortschrittsklausel in das europäische Vertragswerk aufzunehmen, dann
sollte man versuchen, vor Verabschiedung eines Vertrages eine solche Fortschrittsklausel zu verankern, damit
Europa nicht nur demokratisch, sondern auch sozial
wird.
({18})
Das Wort erhält nun die Kollegin Dr. Angelica
Schwall-Düren für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Vor zwei Wochen stand ich schon einmal hier. Damals
stand die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin vor
dem Gipfel auf der Tagesordnung. Wir haben hier vor allen Dingen unseren Hoffnungen Ausdruck verliehen,
dass die Ergebnisse des Gipfels gute sein mögen und
dass die deutsche Regierung erfolgreich verhandeln
möge.
Der Erfolg, den wir erzielt haben, ist nicht selbstverständlich. Wir haben in der Tat der französischen Ratspräsidentschaft zu danken, die zukunftsweisende Beschlüsse zustande gebracht hat, die zufriedenstellende
Beschlüsse erreicht hat und die Einigkeit erreicht hat.
Gerade das ist in Krisen und vor großen Herausforderungen unabdingbar.
({0})
Lassen Sie mich auf nur einige wenige Punkte eingehen.
Gerade der Erfolg, was das Klimapaket angeht, ist
keine Selbstverständlichkeit gewesen; denn viele haben
versucht, sich von den ehrgeizigen Klimaschutzzielen
zu verabschieden, übrigens auch in der deutschen Politik. Deswegen bin ich besonders froh, dass wir bei der
100-Prozent-Auktionierung geblieben sind.
({1})
Mein Kollege Uli Kelber wird das sicher genauer ausführen.
Ich möchte auf einen Punkt eingehen, nämlich die
Tatsache, dass wir in dieser Hinsicht auch die mittel- und
osteuropäischen Staaten haben mitnehmen können, die
im Jahr 2020 bei einer 100-prozentigen Stromauktionierung landen werden. Sie wollten aufgrund ihrer
Struktur - 95 Prozent der Stromerzeugung basiert auf
Kohle - weitreichende Ausnahmeregelungen erreichen.
Wer dieses Land gut kennt und weiß, vor welchen großen strukturellen Veränderungen es steht - wir haben unsere eigenen Erfahrungen mit Kohleregionen -, der kann
diesen Wunsch nachvollziehen. Es ist wichtig, dass wir
dieses Phasing-in erreicht haben und nun über den Solidaritätsmechanismus Hilfen für Modernisierung, für Investitionen in moderne Technologien gewähren können,
damit auch in den mittel- und osteuropäischen Ländern
der Fortschritt im Bereich Klimaschutz bald sichtbar
werden kann.
({2})
Auch in der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise hat
sich die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union gezeigt. Ich bin sehr froh, dass es bei den verabredeten
Maßnahmen nicht dazu gekommen ist, dass Umwelt und
Arbeit gegeneinander ausgespielt werden. Vielmehr haben wir mit Strategien zur Bekämpfung der Rezession
sowohl den „Vorrang für Arbeit“ - so hat es FrankWalter Steinmeier in seinen neun Punkten formuliert als auch die ökologische Innovation auf die Tagesordnung gesetzt. Das kann man an dem Investitionsprogramm festmachen, an dem sich die Europäische Investitionsbank beteiligen wird. Profitieren werden davon
insbesondere kleine und mittlere Unternehmen - das ist
in der Tat sehr wichtig - und der Bereich „saubere Mobilität“. Das passt hervorragend zu den Maßnahmen, die
wir in unser deutsches Konjunkturprogramm aufgenommen haben, und zu den Maßnahmen, die wir darüber hinaus wahrscheinlich noch verabreden werden.
Das Gleiche gilt für die Investition, was die Breitbandverkabelung anbelangt. Ich freue mich, dass sogar
die Formulierungen von Frank-Walter Steinmeier in dieses Investitionsprogramm aufgenommen wurden.
Unser Außenminister hat dankenswerterweise darauf
hingewiesen, dass wir in dieser Krise nicht allein nationale Maßnahmen ergreifen können, sondern dass es hier
eines ergänzenden europäischen Impulses bedarf. Das
scheint mir selbstverständlich zu sein in einer Gemeinschaft, in der der Export jedes einzelnen Landes und
auch unseres Landes vor allen Dingen auf den europäischen Binnenmarkt ausgerichtet ist. Wenn wir weiterhin
Maschinen exportieren wollen, ist es wichtig, dass auch
unsere Handelspartner in der Europäischen Union gut
dastehen. Deswegen brauchen wir diese verdichtete
Koordinierung.
Herr Lafontaine, ich streite mich überhaupt nicht darüber, ob wir „gouvernement économique“ oder „Wirtschaftsregierung“ sagen. Sarkozy wird mit großer
Sicherheit niemals gemeint haben, dass er staatliche
Souveränität in einer Weise an die Europäische Union
abgeben werde, dass dort eine Regierung für Wirtschaftsfragen im eigentlichen Sinne eingerichtet wird
- aber es macht sehr wohl Sinn, sich hier abzustimmen
und Arbeitsteilung durchzuführen -; denn ein industrielles Kernland wie Deutschland braucht andere Maßnahmen als eine überwiegend von Dienstleistungen geprägte
Volkswirtschaft wie die des Vereinigten Königreiches.
({3})
Wir diskutieren jetzt über ein weiteres Konjunkturprogramm. Herr Hoyer, die Krise ist so ernst, wie Sie
sie beschrieben haben; über die weiteren Entwicklungen
können wir noch nicht sehr viel Genaues sagen. Ich erwarte - das sage ich insbesondere in Richtung der FDP -,
dass sich die Opposition ebenfalls an der Lösung der
Probleme beteiligt und nicht nur bei krittelndem Widerstand verbleibt.
({4})
Ich will an dieser Stelle einmal darauf hinweisen, wie
widersprüchlich Ihre Argumentationen sind. Sie haben
vorhin darauf hingewiesen, dass wir hier keine kurzfristigen Feuer entfachen dürfen, indem wir Sozialabgaben
senken oder Sozialtransfers erhöhen. Gleichzeitig plädieren Sie aber für eine Steuersenkung, die vor allen
Dingen den Gruppen zugutekommen würde, die eine relativ hohe Sparquote haben, weswegen vernünftigerweise gar nicht zu erwarten ist, dass die Entlastung in
Konsum und Nachfrage umgemünzt wird. Insofern müssen wir in unserer Argumentation schon konsequent
bleiben. Deswegen setze ich in erster Linie auf ein Investitionsprogramm, das die Kommunen darin bestärkt,
ökologische Investitionen und Bildungsinvestitionen sowie solche Investitionen zu tätigen, die die Infrastruktur
zum Stichwort „saubere Mobilität“ voranbringen.
({5})
Ein kurzes Wort zum Lissabonner Vertrag. Wir sind
froh darüber, dass die Aussichten wieder besser geworden sind, auch wenn der Preis - die Anzahl der Kommissare - hoch ist. Aber das Referendum ist noch nicht gewonnen. Ich kann langsam nicht mehr hören, Herr
Lafontaine, welche Äußerungen Sie im Hinblick auf den
Lissabonner Vertrag machen und mit welchen Gruppen
Sie sich ins Boot begeben.
({6})
Murdoch und Ganley, das ist eine feine Gesellschaft, mit
der zusammen Sie gegen einen Vertrag vorgehen wollen,
der schneller als die Verabredung einer sozialen Fortschrittsklausel, die wir wollen, Verbesserungen für ein
soziales Europa bringt. Insofern widersprechen Sie sich
hier selber.
({7})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein paar Worte
zur Rolle der französischen Ratspräsidentschaft sagen.
Wenn wir die dynamische und kraftvolle Arbeit des französischen Staatspräsidenten positiv sehen, weil in einer
Krise wie dem Krieg zwischen Georgien und Russland
schnelles Handeln gefordert war, dürfen wir doch nicht
außer Acht lassen, dass auch immer Integrationskraft nötig ist. Hier hat die deutsch-französische Zusammenarbeit eine ganz große Rolle gespielt. Das deutsch-französische Tandem hat Impulse gegeben. Das ist nicht nur
in Bezug auf die Wirtschaftskrise der Fall gewesen; das
ist zum Beispiel auch in der Frage der Beobachtermission in Georgien, in der Frage der Untersuchungskommission der Fall gewesen.
Frau Kollegin, ich darf auch Sie bitten, auf die Uhr zu
achten.
Deswegen, Herr Präsident, will ich zum Abschluss
nur noch sagen:
({0})
Die Ratspräsidentschaft wie die Europäische Union sind
ein ständiger Lernprozess. Dort hat sowohl Gordon
Brown dazugelernt, nämlich dass man eine Finanzmarktregulierung braucht, wie auch Präsident Sarkozy,
der Toleranz gelernt hat und gelernt hat, dass in der
Europäischen Union Kompromisse am Ende zu Erfolgen
führen.
Herzlichen Dank, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss
ehrlich sagen: Ich wundere mich
({0})
über die Versuche, diesen europäischen Regierungsgipfel gesundzubeten. Ich habe viele Menschen getroffen,
Herr Steinmeier, die von den Ergebnissen des europäischen Gipfels enttäuscht sind und die auch sagen, dass
dieser Gipfel eine Blamage für die Bundesregierung ist.
({1})
Nun ja, Frau Schwall-Düren, auch wenn Sie jetzt lächeln,
({2})
Sie haben erklärt, man habe beschlossen - nehmen wir
mal einen zentralen Punkt, das Thema Klimawandel -:
20 Prozent weniger CO2-Ausstoß bis 2020. Dazu kann
ich nur eines sagen: Was auf diesem Klimapaket draufsteht, ist gar nicht drin.
({3})
Es ist machtpolitisches Maulheldentum oder, unter Verbrauchergesichtspunkten - das versteht ja jeder -: Es ist
eine Luftverpackung. So groß ist die Verpackung, und so
klein ist der Inhalt.
Mit tatkräftiger deutscher Hilfe - das muss man ja sagen - sind große Löcher in den Emissionshandel gebohrt
worden. 90 Prozent der Industrie werden ausgenommen,
bekommen gar keine Anreize, in kohlestoffarme Technik
zu investieren. Der notwendige Strukturwandel wird verschleppt. Hier haben einige, auch von der FDP, immer
über Wettbewerb geredet. Sie machen aber Ausnahmen
und diskutieren über Wettbewerb und Arbeitsplätze für
Betriebsbereiche,
({4})
zum Beispiel die Produktion von Zement, die gar keinen
Wettbewerb zu fürchten haben, meine Damen und Herren. Das ist doch kein mutiger Schritt, keine Brücke zu
etwas Neuem, um Arbeitsplätze zu schaffen, sondern das
ist schlicht und einfach die Unterstützung des Alten und
die Päppelung einzelner Industriezweige.
({5})
Sie haben zwar die 100-Prozent-Versteigerung der
Emissionsrechte an die Energieversorger in Deutschland erreicht, aber Sie haben auch eine Subvention für
den Neubau von Kohlekraftwerken organisiert. Wieso
sollen wir ihnen eigentlich, wenn wir vorwärts gehen
sollen, noch bis zu 15 Prozent der Investitionssumme
hinterher werfen? Das Geld brauchten wir an ganz anderer Stelle.
({6})
Sie haben an anderer Stelle diese 100-Prozent-Versteigerung wieder aufgehoben, indem Sie geregelt haben, dass Mittel- und Osteuropa Zertifikate noch lange
umsonst vergeben können. Was wird dort passieren,
meine Damen und Herren? Am Ende werden wieder die
Energieversorger aus Deutschland profitieren, zum Beispiel RWE, die dann dort Gewinne einstreichen, ohne irgendeine Leistung für die Umwelt zu erbringen.
({7})
Am Rande sei erwähnt: Der Parlamentsbeschluss „100Prozent-Versteigerung im Energiesektor“ ist von Ihnen
an der Stelle missachtet worden. Dafür haben Sie sich in
Europa nicht eindeutig eingesetzt.
({8})
Das ist nicht die Antwort auf die Klimakrise.
Frau Merkel, Herr Steinmeier, an der Stelle kann man
auch nicht behaupten, Europa habe Wort gehalten. Im
Gegenteil. Was wir da gesehen haben, ist ein Kniefall
vor der alten Lobby. Bei der Automobilindustrie hat
man voller Freude die Sektkorken knallen lassen, und
Zetsche und Wiedeking haben geweint - vor Glück und
vor Freude. Sie sagen, da sei Klimaschutz drin. Wahr ist:
Die deutsche Automobilindustrie muss bis 2012 überhaupt nichts tun. - Das ist doch kein Klimapaket, meine
Damen und Herren.
({9})
Ich möchte einmal den Klimachefberater von Angela
Merkel zitieren, Herrn Schellnhuber aus Potsdam, Leiter eines der führenden Institute. Auch er hat diese EUBeschlüsse scharf kritisiert. Er hat ganz klar gesagt: Die
behaupteten Ziele Ihrer Beschlüsse werden Sie mit den
vereinbarten Maßnahmen definitiv nicht erreichen. Das ist die Wahrheit.
({10})
Weil immer alle so auf die USA schauen: Obama hat
es anders gemacht.
({11})
Obama hätte so jemanden wie Schellnhuber, statt ihn zu
düpieren, zu seinem Energieminister gemacht.
({12})
- „Warten wir es ab!“, rufen Sie, Herr Kauder.
({13})
Wenn man, wie Obama es macht, so jemanden wie
Herrn Chu, also einen, der die erneuerbaren Energien gedanklich, auch zusammen mit deutschen Wissenschaftlern, zum Beispiel Eicke Weber, entwickelt hat, zum
Energieminister macht, dann ist das keine Düpierung,
sondern vermittelt die Aussage: Wir folgen der modernen technologischen Entwicklung. - Das haben Sie mit
den Beschlüssen nicht geschafft. Wir können nur sagen:
Die Klimakanzlerin Merkel ist an der Stelle entzaubert.
({14})
- Gut, dass Sie das noch einmal sagen. Aber die deutsche Gesetzgebung zu erneuerbaren Energien, Herr
Kelber, ist nicht von dieser Regierungskoalition verabschiedet worden.
({15})
Das waren doch wohl andere Konstellationen.
({16})
Unter Ihrer Regierungskonstellation hat die EU die
Vorreiterrolle im weltweiten Klimaschutz aufgegeben,
und ich finde es bedauerlich, dass es für Entwicklungsund Schwellenländer nicht einmal mehr einen Anreiz für
Modernisierungen in den Bereichen Kohle oder Energieverbrauch gibt.
({17})
Es gibt auch keinen Grund, diesen Gipfel zu loben,
weil man einfach gemerkt hat, dass diese Bundesregierung regelmäßig planlos und zögerlich ist. Andere haben
hier schon erwähnt, welch wundersame Mehrheiten Sie
immer haben. Bei zehn Ministern haben Sie mindestens
acht unterschiedliche Meinungen, und Sie haben im
wahrsten Sinne des Wortes kein Programm. Es kommt
nicht von ungefähr, dass Frau Merkel in Brüssel „Madame Non“ heißt und mittlerweile alle in Europa diesen
Namen übernommen haben. Es kommt nicht von ungefähr, dass Sarkozy und Brown Merkel quasi zum Jagen
tragen müssen. Ich frage mich ehrlich: Womit verbringen Sie die Zeit? Sie haben am letzten Wochenende einen Analysegipfel mit den Vertretern der gesellschaftlichen Beharrungskräfte durchgeführt. Das ist ja kein
Vorreitertum. Was machen Sie danach? Sie schreiten
nicht etwa zur Tat, sondern Sie machen jetzt vier bis fünf
Wochen Weihnachtspause. Aber die Klima- und Konjunkturkrise wird keine Weihnachtspause machen.
({18})
Dann haben Sie noch die Chuzpe, Zufallstreffer in Ihr
Konjunkturprogramm miteinzurechnen. Ich nenne zum
Beispiel die Pendlerpauschale oder die Aussage, die
Sie nach dem Treffen am Wochenende getroffen haben,
dass man jetzt möglicherweise erreicht habe, dass keine
betriebsbedingten Kündigungen mehr ausgesprochen
werden. Wissen Sie was? Die Gewerkschaften haben
längst eine über 2010 hinaus gültige Beschäftigungssicherung vereinbart. Das ist die Wahrheit. Um zu so einem Ergebnis zu kommen, hätten Sie Ihr Sonntagstreffen gar nicht gebraucht.
({19})
Sie könnten aber einmal etwas für die Leiharbeiter in
dieser Gesellschaft tun.
Wo ist Ihr Programm, um Deutschland in den Industrien, die einmal unsere Leitindustrien waren - Maschinenbau, Automobilbranche, Umwelttechnologie -, wirklich nach vorne zu bringen? Da sehen wir bei Ihnen im
wahrsten Sinne des Wortes überhaupt nichts. Bei Ihnen
bleibt alles in altem Denken stecken.
Wir bräuchten jetzt ein ökologisch-soziales Investitionsprogramm, das, Frau Schwall-Düren, mehr beinhalten muss als nur das Vorziehen von Maßnahmen, die
schon planfestgestellt sind. Wir brauchen ein ehrgeiziges
Programm beim Energiesparfonds. Wir brauchen jetzt
wirklich Geld für die Gebäudesanierung. Wir wollen
nicht, dass die chemische Industrie abwandert. Wir wollen vielmehr, dass der chemischen Industrie, die wie
zum Beispiel BASF jetzt so viele Standorte schließen
will, Veranlassung dazu gegeben wird, etwas Neues zu
produzieren
Frau Kollegin!
- sofort -, zum Beispiel in großen Mengen das Material für die Gebäudesanierung. So erhält man Arbeitsplätze in Deutschland, so erhält man Arbeitsplätze in Europa und nicht, indem man Ausnahmeregelungen
organisiert und das Alte finanziert.
Was Sie in Europa erreicht haben, stellt keine Antwort auf die Klimakrise und auch keine Antwort auf die
Konjunkturkrise dar.
({0})
Der Kollege Eduard Lintner ist der nächste Redner
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Künast, dieser europäische Gipfel hat ja nicht im luftleeren Raum
stattgefunden. Sie haben überhaupt nicht die Tatsache
erwähnt, dass ein wahrlich nicht leichter Hintergrund gegeben war. Ich nenne die weltweite Finanzkrise, die Verhandlungen über das Weltklima in Posen und auch die
Unsicherheit hinsichtlich des Vertrags von Lissabon. All
das waren Rahmenbedingungen für diesen Gipfel, all
das hat ihn im Vorfeld belastet und natürlich auch die Erwartungen an die zu erzielenden Ergebnisse gesteigert.
Wenn wir heute das Ergebnis unter dieser Prämisse betrachten, so wird man sagen müssen: Es war trotz dieses
schwierigen Umfelds ein erstaunlich erfolgreicher Gipfel.
({0})
Bei den Beschlüssen zum Klimaschutz und zur Energiepolitik gefällt mir vor allem, dass die EU ihrer weltweiten Vorreiterrolle treu geblieben ist - auch das haben
Sie nicht erwähnt - und wichtige Prinzipien gewahrt
worden sind. Die Süddeutsche Zeitung - man beachte:
keinesfalls ein unionsfreundliches Blatt - schreibt dazu,
dass die Bundeskanzlerin den Gipfel zu einem persönlichen Erfolg gemacht habe, und nennt das europäische
Klimapaket ausdrücklich einen „Quantensprung im globalen Lernprozess“.
({1})
Bemerkenswert ist auch, dass die Mitgliedstaaten
zwar ihren nationalen Besonderheiten vernünftigerweise
Rechnung tragen dürfen, auch wenn die damit verbundenen Belastungen letztlich gleichmäßig verteilt werden
sollen. „Letztlich“ sage ich deshalb, weil bei den Stromerzeugern in Polen und anderen osteuropäischen Mitgliedstaaten noch nachgebessert werden muss; das ist ja
anerkannt worden. Deutschland muss in Zukunft darauf
drängen, dass spätestens ab 2020 tatsächlich die Energiewirtschaft in allen EU-Mitgliedsländern vollständig
in den Zertifikatehandel einbezogen wird. Sonst drohen
unserem Wirtschaftsstandort ernste und schwere Nachteile.
Positiv hervorzuheben ist auch, dass Sektoren des
produzierenden Gewerbes, in denen ein besonderes Risiko von Arbeitsplatzverlusten durch Produktionsverlagerung besteht, ihre Zertifikate bis 2020 kostenlos erhalten. Das ist ein ganz wichtiger Beitrag zum Erhalt vor
allem deutscher Arbeitsplätze und insofern ein besonders lobenswerter Erfolg der Verhandlungsstrategie unserer Bundeskanzlerin.
({2})
Ebenfalls ein wichtiger Bestandteil der europäischen
Klima- und Energiepolitik ist die Stärkung der Energiesicherheit in Europa. Deshalb begrüße ich ausdrücklich,
dass die künftige tschechische Ratspräsidentschaft am
vergangenen Dienstag, also nach dem Gipfel, angekündigt hat, die Realisierung der Nabucco-Pipeline von
Zentralasien nach Mitteleuropa zu einem Schwerpunkt
ihres Handelns machen zu wollen. Das ist eine wichtige
Entscheidung, und wir hoffen, dass sie erfolgreich umgesetzt wird.
({3})
Trotz der Finanzkrise und des aus diesem Grunde notwendigen EU-Konjunkturpakets wurden auf dem Gipfel
die Ziele des Stabilitäts- und Wachstumspaktes bekräftigt. Den Mitgliedstaaten wurde aufgegeben, die bei
der Bewältigung der Finanzkrise entstandenen Haushaltsdefizite mittelfristig wieder abzubauen. Auch dies
entspricht der deutschen Position. Das gilt auch für den
auf dem Gipfel sichtbar gewordenen Konsens, dass ein
schnelles Gegensteuern und ein koordiniertes Vorgehen
innerhalb der EU notwendig sind, um volkswirtschaftlichen Schaden abzuwenden oder zumindest zu minimieren. Damit ist im Übrigen auch jenen Kritikern der Wind
aus den Segeln genommen worden, die in den letzten
Wochen immer wieder behauptet haben, die Bundesregierung stehe mit ihrer Position bezüglich einer europäischen Antwort auf die Krise isoliert da und wirke gar als
Bremser. Lassen Sie mich noch einmal die Süddeutsche
Zeitung zitieren, die ausdrücklich feststellt, dass im
Ratsgebäude zu Brüssel nichts davon zu merken gewesen sei, dass Deutschland isoliert sei. Das ist eine neutrale, unabhängige Stimme, die Sie, Frau Künast, offenbar nicht zur Kenntnis genommen haben.
({4})
Zugleich haben die Staats- und Regierungschefs durch
ihren Verweis auf die uneingeschränkte Einhaltung der
geltenden sogenannten finanziellen Vorausschau der
Kommission ebendieser Kommission klargemacht, dass
überschüssige Haushaltsmittel an die Mitgliedstaaten zurückgegeben werden müssen und nicht durch Umschichtung in ein eigenes Konjunkturprogramm der Kommission umgewandelt werden dürfen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss noch einen weiteren Punkt aus der Masse der auf
dem Gipfel behandelten Themen herausgreifen, der, wie
ich meine, für die Zukunft der EU eine ganz entschei21142
dende Bedeutung hat. Um die nachträgliche Zustimmung der irischen Bevölkerung zum Vertrag von Lissabon zu ermöglichen, wurden Irland Zugeständnisse
gemacht. Damit ist man dem irischen Staat sehr weit entgegengekommen. Ich finde, das war ein notwendiger
Schritt, um die dringend erforderliche Fortentwicklung
der EU zu gewährleisten. Das darf aber am Ende nicht
zulasten der Handlungsfähigkeit der EU gehen. In einem
nächsten Schritt - das wird auch eine Aufgabe für die
Bundesregierung sein - müssen daher kreative Lösungen
für die künftige Struktur der Kommission gefunden werden, zum Beispiel durch die Reduzierung der Zahl der
Ressorts und durch die Einführung von stellvertretenden
Kommissaren mit Stimmrecht. Das ist vielleicht ein
Ausweg aus der gegebenen Situation.
({5})
Als Fazit dieses Gipfels kann man, glaube ich, feststellen: Europa hat sich bei diesem Gipfel vor den Augen
der ganzen Welt unter sehr schwierigen Rahmenbedingungen als voll handlungsfähig und auch als prinzipientreu erwiesen. Wir können gemeinsam dankbar feststellen, dass die Bundesregierung dazu wichtige Beiträge
geleistet hat.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort erhält der Kollege Markus Löning für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich mit dem Klimapaket beginnen. Die Freien Demokraten unterstützen die Ziele des europäischen Klimapaketes. Europa muss eine Vorreiterrolle im Kampf
gegen den Klimawandel einnehmen. Das sind wir uns,
unseren Bürgern, aber auch unserer Verantwortung in
der Welt schuldig.
({0})
Aber das, Frau Bundeskanzlerin, was Sie in Brüssel
verhandelt haben, möchte ich unter den Stichpunkten
Scheckbuch und Chips zusammenfassen. Wer bezahlt
denn die Ausnahmen? Wer bezahlt denn die Modernisierung der polnischen Kraftwerke? Dies ist notwendig.
Was ist aber vereinbart worden? Wer bezahlt am Ende
des Tages die Modernisierung der polnischen Kraftwerke? Es wird doch darauf hinauslaufen, dass dies der
deutsche Steuerzahler oder der deutsche Stromkunde bezahlt. Das ist die typische Politik, die wir in der Europäischen Union nicht brauchen, nämlich die Scheckbuchpolitik vergangener Tage.
({1})
Zu den Chips. Die Ziele sind gut und ambitioniert.
Wir haben zudem ein Trainingsprogramm aufgestellt,
um diese Ziele zu erreichen. Stellen Sie sich einmal vor,
ein Marathonläufer nimmt sich vor, im Jahr 2020 einen
Marathon zu gewinnen. Dann machen wir einen Gipfel
und sagen: Das Trainingsprogramm streichen wir einmal. Wir machen Sonderregeln und Ausnahmen. Dann
stellen wir die Ernährung um. Wir stellen die Ernährung
auf Chips um. Wir behalten aber das Ziel bei, im
Jahr 2020 die Ziele zu erreichen.
Meine Damen und Herren, es ist doch vollkommen
unglaubwürdig, was passiert ist. Die ganzen Sonderregeln und Ausnahmen konterkarieren doch die Ziele, die
richtigen Ziele, die gesteckt worden sind, meine Damen
und Herren.
Lassen Sie mich ein paar Worte zum Vertrag von
Lissabon sagen. Es ist richtig, und wir begrüßen es, dass
ein erneuter Versuch unternommen wird, den Vertrag
von Lissabon in Kraft zu setzen. Die politischen Erklärungen, die gegenüber den Iren im Hinblick auf die Neutralität und andere Punkte, bei denen die irische Wählerschaft empfindlich ist, abgegeben worden sind, sind zu
begrüßen. Herr Außenminister, ich hätte aber auch gern
eine Antwort auf die Frage gehört: Wie soll das in die
Verträge hineingeschrieben werden? Sie haben doch
Rechtsverbindlichkeit zugesagt. Wie soll das aber an
dieser Stelle passieren?
Zu den Kommissaren. Ich glaube, dass Sie einen
Fehler gemacht haben, als Sie gesagt haben, im
Jahr 2014 solle es 27 Kommissare geben. Faktisch ist
zugesagt worden, dass die Regel „ein Kommissar pro
Land“ weiter gelten soll. Ehrlich gesagt kann man nur
noch spotten über diese Art von europäischen Kompromissen, die die Große Koalition eingeht. Wir hängen die
Fahne des Kampfes gegen die Bürokratie heraus. Wir
schreiben uns auf die Fahnen, dass alles schlanker und
schneller werden muss. Am Ende beschließen wir aber,
dass dasselbe alte Lied weiter gespielt wird: 27 Kommissare, jedes Land bekommt einen Kommissar. Meine
Damen und Herren, das war sicher kein Beitrag zu weniger Bürokratie und zu einer Verschlankung der Europäischen Union.
({2})
Herr Lafontaine, lassen Sie mich an dieser Stelle eine
Bemerkung machen. Ihre bemerkenswerte Definition
von Demokratie ist an dieser Stelle untergegangen: Demokratie definiere sich nicht nur durch formale Voraussetzungen, sondern vom Ergebnis her. Ich glaube, Sie
befinden sich in ganz schlechter Gesellschaft, wenn Sie
so etwas behaupten.
({3})
Es gibt andere Leute in der europäischen Geschichte, die
meinten, sie müssten zunächst einmal die Ergebnisse
festlegen. Wer wählt und wie dann gewählt wird, das sei
alles egal. Es ist dekuvrierend, was Sie gesagt haben,
Herr Lafontaine.
({4})
Lassen Sie mich zum Schluss noch einige Worte zu
den Themen EZB und Euro sagen. Es ist wichtig, dass
wir in den Debatten um die Finanz- und Konjunkturkrise
klar herausstellen, dass die auf Geldwertstabilität ausgerichtete Politik der Europäischen Zentralbank die richtige Politik war und auch in Zukunft die richtige Politik
ist. Es ist richtig, es ist gut für uns, und es hat uns in der
Krise geschützt, dass wir den Euro haben. Gemeinsam
sind wir dadurch stärker, dass wir den Euro haben,
meine Damen und Herren.
({5})
Ich denke, es ist jetzt die richtige Zeit, insbesondere
Dänemark und Schweden noch einmal einzuladen, sich
der Eurozone anzuschließen. Je größer die Eurozone ist,
je mehr stabile Volkswirtschaften der Eurozone angehören, umso besser für uns.
({6})
Eines darf in diesem Zusammenhang aber nicht passieren: Es darf keine Aufweichung der Maastricht-Kriterien geben. Dann ist es sofort vorbei mit der Stabilität.
Es darf keine Aufweichung der Kriterien für den Beitritt
zur Eurozone geben. Auch dann ist es nämlich sofort
vorbei mit der Stabilität. Wir werden auch in Zukunft
darauf achten müssen, dass der Euro eine stabile, solide
Währung bleibt. Das heißt: keine Rabatte im Zusammenhang mit den Kriterien, keine Rabatte gegenüber
denjenigen, die jetzt laut an die Tür klopfen. Lassen Sie
uns den Euro auch in Zukunft stabil halten!
Vielen Dank.
({7})
Ulrich Kelber ist der nächste Redner für die Fraktion
der SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Ergebnisse des europäischen Gipfels sind für
den internationalen Klimaschutz eine Lebensversicherung. Die Ergebnisse dieses Gipfels machen möglich,
dass die Weltklimakonferenz 2009 in Kopenhagen zu einem guten Ergebnis kommen kann. Europa hat gehandelt, Europa hat Einigungsfähigkeit bewiesen und hat
damit erreicht, dass jetzt der Druck auf anderen Industriestaaten liegt, vor der Weltklimakonferenz ebenfalls
klar zu sagen, was ihr Beitrag sein soll. Erst das europäische Handeln ermöglicht es dem neuen amerikanischen
Präsidenten Barack Obama, in den USA zu handeln,
weil er darauf verweisen kann, dass Europa zum Beispiel bei der Schaffung eines europäischen Handelssystems in Vorleistung getreten ist.
({0})
Die Europäische Union hat jetzt klar definiert: Wir
werden die CO2-Emissionen bis 2020 gegenüber 1990
um 20 Prozent senken, unabhängig davon, was andere
tun. Handeln die anderen Industriestaaten auch, wird Europa die Emissionen um 30 Prozent senken. Ich erwarte
allerdings von der Europäischen Union, dass sie in 2009
neben der jetzt beschlossenen Strategie zur 20-prozentigen Minderung auch sagt, wie sie diese 30 Prozent erreichen will, um damit in Kopenhagen eine noch bessere
Ausgangsposition zu haben.
({1})
Wir in Deutschland sind ein Stückchen weitergegangen. Wir haben eine 40-prozentige Reduktion bis 2020
zugesagt. Wir haben dafür bereits über 30 Gesetze und
Verordnungen in Kraft gesetzt und die Förderung in vielen Bereichen vervielfacht. Wir haben diese 40 Prozent
noch nicht voll abgedeckt, aber einen großen Teil. Ein
weiteres Beispiel: Die SPD-Fraktion hat in der letzten
Woche einen Antrag zum Klimaschutz in der Landwirtschaft beschlossen, wodurch eine weitere Einsparung
von 50 bis 60 Millionen Tonnen CO2 ermöglicht wird
und damit die 40 Prozent weiter abgedeckt werden.
({2})
Ganz wichtig: Deutschland wird die CO2-Emissionen
bis 2020 um 40 Prozent senken. Wenn die Amerikaner
dem Ziel von Obama folgen, würde dies die Emissionen
weltweit stabilisieren. Wir sollten uns in Europa also
nicht unnötig kleinreden. International wird unsere Führungsrolle im Klimaschutz nach wie vor anerkannt.
({3})
Wir streiten natürlich über einzelne Instrumente; das
macht auch Sinn. Aber eine Sache muss von allen anerkannt werden - ich erwarte dies auch von der Opposition -: Europa hat sich eine feste Obergrenze für die
CO2-Emissionen aus Energieversorgung und Industrieproduktion gesetzt.
({4})
Sie darf nicht überschritten werden, egal ob die CO2Zertifikate gratis oder per Auktionierung zugeteilt werden. Es ist eine feste Obergrenze festgelegt worden.
({5})
Neben dieser festen Obergrenze wird selbst in den
Bereichen, in denen es eine Gratiszuteilung der CO2Zertifikate gibt, mit der Orientierung an der bestverfügbaren Technologie - sprich: wer eine veraltete Anlage
hat, muss zukaufen; wer besonders modern ist, muss
nicht zukaufen - ein Anreiz gesetzt. Dieser Anreiz ist
nicht nur für den Klimaschutz gut, sondern auch für die
Effizienz der entsprechenden Branchen und damit für die
Wettbewerbsfähigkeit. Wir setzen es als ein Innovationsförderinstrument ein. Klimaschutz und Wachstum liegen
in einer Hand.
({6})
Dazu passt natürlich, dass wir gesagt haben: Es bringt
weder dem Klimaschutz noch den Arbeitsplätzen etwas,
wenn wir denjenigen Branchen, die in einem starken internationalen Wettbewerb stehen, zumuten, dass sich
ihre Kosten durch den Kauf von CO2-Zertifikaten erhöhen, und die Produktion dann an anderer Stelle stattfindet. Dass wir diesen Weg gegangen sind, war richtig.
Dies war die Position der Großen Koalition. Dies war
die Position der SPD von Anfang an. Ich hätte mir trotzdem gewünscht, dass einige in Deutschland nicht zu sehr
auf die Lobbyisten gehört hätten; denn einige wenige
Ausnahmen hätten gut funktioniert und hätten dieses Instrument noch handlungsfähiger gemacht.
Aber der Dreh- und Angelpunkt der Ergebnisse des
europäischen Gipfels ist die Entscheidung, dass die Zertifikate für die Stromerzeugung zu 100 Prozent in Gesamtwesteuropa und bis 2020 aufwachsend dann auch in
Osteuropa auktioniert werden. Diese Entscheidung
schafft die große Möglichkeit, dass der bisher nur regional, nur in Teilen Nordamerikas stattfindende Emissionshandel auf die gesamten Vereinigten Staaten ausgedehnt
wird. Allein dieses Ziel war es wert, so zu verhandeln.
Damit kann die Energiewende konsequent fortgesetzt
werden.
({7})
Man muss offen über Geld sprechen. Die Versteigerung der Emissionszertifikate liefert uns das Geld, das
wir brauchen, um die dringend notwendigen internationalen Projekte, die wir zugesagt haben, durchführen zu
können. Das ist erstens wichtig, um die Schwellen- und
Entwicklungsländer in den Klimaschutzprozess einzubinden. Das ist eine Frage der Solidarität; denn in dieser
Welt leiden bereits heute Menschen unter dem Klimawandel, zum Beispiel in Afrika und Teilen Asiens, die
selbst überhaupt keinen Beitrag dazu geleistet haben,
dass es zu einer Temperaturveränderung der Atmosphäre
gekommen ist. Deswegen ist es unsere Pflicht, diesen
Menschen bei der Anpassung zu helfen und ihnen die
Technologien zu liefern, die sie benötigen, um selber
eine saubere Entwicklung zu durchlaufen.
({8})
Die Versteigerung liefert uns zweitens Geld, das wir
brauchen, um die nationalen Maßnahmen zur Förderung
der Energieeffizienz und der erneuerbaren Energien verstärkt fortzusetzen. Seit zehn Jahren investieren wir in
diesen Bereich. Das ist wichtig für die Volkswirtschaft.
Dadurch wird Deutschland fit. So können neue Technologien entwickelt und die Energiekosten gesenkt werden.
Man muss aber auch darüber sprechen, dass es Emissionszertifikate bereits seit 2005 gibt. Sie werden von
Kundinnen und Kunden der Energieversorger bezahlt.
Bisher sind die Gewinne aber bei den großen Energiekonzernen wie Eon und RWE geblieben. Damit ist mit
dem neuen Handel jetzt Schluss. Das Geld gehört den
Menschen, den Kundinnen und Kunden und nicht den
Besitzern einzelner Unternehmen. Deswegen war diese
Entscheidung wichtig, und allein deswegen war der Klimagipfel in Brüssel ein Erfolg.
({9})
Um über die Rolle Deutschlands zu sprechen: Am
Ende war es die klare Haltung Deutschlands, die diese
Entscheidung möglich gemacht hat. Deswegen möchte
ich mich bei der Bundeskanzlerin, beim Bundesaußenminister und beim Bundesumweltminister dafür bedanken, dass sie die Position „100 Prozent Versteigerung“
durchgehalten haben.
({10})
Frau Bundeskanzlerin, Sie wissen aber, dass am Ende
nur die SPD Ihre Position in dieser Frage unterstützt hat,
({11})
nicht Ihre eigene Partei. Weil ich wusste, dass es an dieser Stelle Lachen geben würde, habe ich mir die Zitate
und die Zeitpunkte herausgeschrieben. Wir haben am
28. Mai im Deutschen Bundestag gemeinsam, SPD und
CDU/CSU, 100-Prozent-Auktionierung beschlossen.
Danach waren es Herr Glos, Herr Kauder, Herr
Ramsauer, Herr Wulff, Herr Rüttgers und Herr Seehofer,
die gefordert haben, von dieser 100-Prozent-Auktionierung abzuweichen.
({12})
Ich hatte gehofft, dass wenigstens die Umweltpolitiker
der CDU/CSU in der Debatte bei der 100-Prozent-Auktionierung bleiben. Nein, auch die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Frau Reiche, zuständig für Umwelt, hat sich
dafür ausgesprochen, die 100-Prozent-Auktionierung
aufzugeben.
({13})
Gott sei Dank hat der Druck von Nichtregierungsorganisationen und Medien geholfen, dass sich diese Neupositionierung nicht durchgesetzt hat, sondern die 100-Prozent-Auktionierung gekommen ist.
({14})
Europa hat gehandelt, als viele das der EU nicht mehr
zugetraut haben. Europa hat gehandelt, als die Lobbyisten, die sich schon immer gegen Klimaschutzmaßnahmen ausgesprochen haben, die Finanzkrise als Ausrede
missbrauchen wollten. Wir haben gehandelt, als es notwendig war, auf andere Druck auszuüben. Jetzt stellen
wir fest, dass Investitionen in Klimaschutz eine doppelt
so hohe Rendite erzielen. Sie bieten eine sichere Zukunft
und ermöglichen eine schnellere Überwindung der Wirtschaftskrise. Zu diesem Weg gibt es keine Alternative.
Es ist gut, dass wir ihn gegangen sind und weiter gehen.
Vielen Dank.
({15})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainder
Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Kelber, sosehr ich Sie als Kollegen, der
sich sehr für Umweltpolitik engagiert, schätze, muss ich
doch sagen: Die Rede, die Sie heute zur Bewertung des
Vertrages von Lissabon gehalten haben, ist nicht gerade
Ihre stärkste Rede in diesem Zusammenhang gewesen.
Sie wissen sehr genau, dass das Backing, die Beschlüsse,
die Sie hier mitvertreten haben, alles andere als richtungsweisend sind. Die Bundesregierung - wir wollen
ihre Rolle gar nicht kleinreden - hat eine große Rolle bei
diesem Gipfel gespielt, allerdings als großer Bremser
und Verhinderer einer zukunftsweisenden Energiepolitik.
({0})
Sie haben ja die Rolle der CDU/CSU richtig beschrieben. Aber man muss sehr deutlich sagen: Wir haben hier
im Bundestag eine hundertprozentige Auktionierung beschlossen. Diesen Beschluss hat die Bundesregierung
beim Gipfel nicht vertreten. Diese Vereinbarung ist gebrochen worden.
({1})
Man hat sich auch nicht an die Regeln gehalten, die wir
in der Zusammenarbeitserklärung festgelegt haben. Für
den Fall, dass der Bundestag etwas beschließt und die
Bundesregierung sich nicht daran halten kann, haben wir
ein Verfahren beschlossen. Auch dieses ist an dieser
Stelle nicht eingehalten worden. Deshalb sage ich sehr
deutlich: Hier ist die Bundesregierung dem Parlament
mit dem, was sie ausgehandelt hat, in den Rücken gefallen.
({2})
Wenn ich das betrachte, was in Brüssel in der Sache
und mit welcher Philosophie verhandelt worden ist und
was in der Debatte hier in den letzten Wochen gesagt
worden ist, in der es um das Verhältnis von ökonomischer und ökologischer Entwicklung und die Bedeutung
von Umwelt- und Klimaschutz für die Politik einer Regierung ging, komme ich zu dem Ergebnis, dass wir leider wieder da sind, wo wir schon in den 90er-Jahren waren. Der Trend, der hier in der Argumentation aufgebaut
wird, ist genau der gleiche, den wir mit der rot-grünen
Bundesregierung glücklicherweise erfolgreich bekämpft
haben. Wir haben deutlich gemacht: Umweltschutz und
wirtschaftliche Entwicklung sind keine Gegensätze.
Eine vernünftige nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung braucht gerade in der Energiepolitik vernünftige
ökologische Rahmenbedingungen.
Sie bauen durch das, was in Brüssel gerade unter Mitwirkung der deutschen Bundesregierung massiv vorangetrieben worden ist, eine Rückwärtsentwicklung in der
Umwelt- und Klimapolitik, in der Automobilindustrie
und in der Energiepolitik auf. Denn wenn wir nach vorne
kommen wollen, brauchen wir vernünftige ökologische
Rahmenbedingungen. Das, was Sie machen, ist genau
das Gegenteil dessen. Sie wollen dafür sorgen, dass die
deutsche Zementindustrie zukünftig nicht mit Zement
aus Russland unsere Autobahnen beschicken soll. So ein
Quatsch.
Was Sie sich dort als ökologische Rahmenbedingungen zusammengebastelt haben, macht uns leider nicht
wettbewerbsfähig. Ökologie hat dafür gesorgt, dass wir
in Deutschland als Modell für Europa und für die Welt
Hunderttausende von Arbeitsplätzen in nachhaltiger
Energiewirtschaft geschaffen haben. Umweltpolitik beinhaltet eine technologische Entwicklung; hier sind wir
als Exportnation Weltmeister. Sie bauen hier wieder Gegensätze auf und behaupten, dass die wirtschaftliche
Entwicklung durch Umweltschutz und durch anspruchsvolle Klimapolitik reduziert wird. Das ist auch im Interesse des Arbeitsplatzstandortes Deutschland der völlig
falsche Weg.
({3})
Ich würde es jetzt gern dabei belassen, weil ich noch
ein bisschen zu den anderen Ergebnissen des Gipfels sagen möchte.
Ich glaube, Folgendes bei der Klimapolitik ist richtig
- da unterstütze ich den Außenminister, dem ich dies
noch einmal sagen will -: Es ist keine Technologiepolitik, wenn man versucht, Kohlekraftwerke zu subventionieren, die einen Wirkungsgrad von maximal 44 Prozent
haben, und dann sagt, das sei fortschrittliche Technologiepolitik, die man mit Klimazertifikatehandel noch unterstützen will. So ein Unfug. Wir müssen in eine andere
Richtung gehen.
({4})
Herr Außenminister, das, was Sie zur Handlungsfähigkeit der Europäischen Union gesagt haben, ist
wichtig und richtig. Da haben Sie unsere volle Unterstützung. In Irland über ein neues Referendum auf den Weg
zu kommen und unter der tschechischen Präsidentschaft
bei dem Vertrag, den wir alle wollen - Sie und die Bundesregierung haben sich dafür eingesetzt; Sie haben da
unsere Unterstützung -, einige Schritte voranzukommen,
halte ich für sehr wichtig. Ich glaube, dass die tschechische Präsidentschaft, vor der wir jetzt stehen, unsere
ganze Unterstützung braucht. Denn dieses mitteleuropäische Land - es ist das zweite mitteleuropäische Land
nach Slowenien, das diese Präsidentschaft neu übernimmt - kann all die Fragen, die neben der Klima- und
Umweltpolitik anstehen, also Sicherheit, Verhandlungen
mit Russland, Partnerschafts- und Kooperationsabkommen und Schwerpunkt Israel,
Herr Kollege Steenblock.
- den sich die tschechische Präsidentschaft vorgenommen hat, nicht allein bewältigen. An all diesen Stellen, glaube ich, kommen wir gut nach vorne, wenn die
Bundesregierung und das Parlament diese Ratspräsidentschaft unterstützen. Denn sie steht vor wichtigen Aufgaben.
Das Wichtigste ist, dass wir vorbereiten, dass der Vertrag von Lissabon, der uns eine handlungsfähige und demokratische Europäische Union beschert, durchgesetzt
wird. Deshalb, glaube ich, sollten wir für die Zukunft,
für das nächste Jahr darauf unseren Schwerpunkt legen.
Vielen Dank.
({0})
Die Kollegin Marie-Luise Dött ist die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Europa
bleibt mit seinen Beschlüssen zur Reduktion von Treibhausgasen internationaler Vorreiter beim Klimaschutz.
Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben das
Ziel, die CO2-Emissionen bis 2020 um 20 Prozent zu reduzieren, bestätigt und ein Maßnahmenpaket beschlossen, das den Führungsanspruch für alle sichtbar und sehr
konkret unterlegt. Es ist ein wesentliches Signal für die
Kioto-Nachfolgekonferenz 2009 in Kopenhagen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, auch
wenn Sie nicht müde werden, das Erreichte in Ihren
ständigen Wiederholungen zu zerreden, sage ich: Wir
befinden uns weder in Deutschland noch in Europa in
der klimapolitischen Sackgasse, sondern auf der Überholspur,
({0})
und hinter uns ist meilenweit niemand zu sehen. Das
sollten Sie, vor allen Dingen Sie, Herr Steenblock, zur
Kenntnis nehmen und auch einmal so sagen. Das gehört
für mich zur redlichen und verantwortungsvollen parlamentarischen Arbeit.
({1})
Wir jedenfalls sind stolz, dass wir mit unserer Klimapolitik auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nicht
nachlassen. Das, meine Damen und Herren, ist gerade
unserer Bundeskanzlerin zu verdanken.
({2})
Sie hat in Brüssel ein Klimapaket verhandelt, mit dem
klimapolitisch Kurs gehalten wird und das auch wirtschaftliche und soziale Fragen berücksichtigt.
Es ging in Brüssel um mehr als um die Minderung
von Treibhausgasemissionen. Es ging dieses Mal um die
Fortsetzung unserer gemeinsamen Klimapolitik in einer schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Gesamtsituation. Es ging darum, den Beweis anzutreten, dass
der Klimaschutz nicht zu einer Schönwetterpolitik verkommt.
In diesem Zusammenhang finde ich es sehr eigenartig, dass sich gerade der ehemalige Bundesumweltminister Trittin - ich sehe ihn jetzt leider nicht mehr bemüßigt fühlte, die Ergebnisse zum Emissionshandel
dahin gehend zu kommentieren, 80 Prozent der deutschen Industrie seien von Klimaschutzauflagen befreit,
da sie ihre Zertifikate kostenlos erhielten. Das ist doch
Blödsinn.
({3})
An der Minderungsvorgabe von jährlich 1,74 Prozent wurde nicht gerüttelt. Wir haben allerdings dafür
gesorgt, dass die betreffenden Unternehmen, die in einem zunehmend schwierigen internationalen Wettbewerb und noch dazu in einem zunehmend problematischen konjunkturellen Umfeld agieren, nicht mit
zusätzlichen Kosten in Millionenhöhe belastet werden.
({4})
Wir haben dafür gesorgt, dass keine Standortverlagerungen einschließlich Arbeitsplatzverlagerungen dorthin erfolgen, wo es überhaupt keinen Klimaschutz gibt.
({5})
Wenn Sie an der Ausnahme für energieintensive
Branchen im Hinblick auf die Auktionierung etwas kritisieren können, dann höchstens, dass der Staat auf Einnahmen aus dem Emissionshandel verzichtet. Es ist aber
wirtschaftspolitisch nicht vertretbar, dass wir vormittags
über konjunkturpolitische Maßnahmen zur Unterstützung dieser Unternehmen diskutieren, um am Nachmittag für die gleichen Unternehmen zusätzliche Kosten in
Millionenhöhe zu generieren.
({6})
Meine Damen und Herren, insbesondere die Angriffe
auf das EU-Klimapaket aus dem Lager der Grünen zeigen, dass es Ihnen noch immer nicht gelingt, die klaffende Lücke zwischen ideologischem Anspruchsdenken
und tatsächlich Machbarem zu überbrücken.
Erstens. Fakt ist: Es gab einmal ein nationales Klimaschutzziel, die CO2-Emissionen um 25 Prozent bis 2005
zu reduzieren; Herr Steenblock, Sie erinnern sich.
({7})
Dieses Ziel wurde von den Grünen zunächst als zu wenig ambitioniert kritisiert und anschließend vom grünen
Bundesumweltminister Trittin wegen Unerreichbarkeit
klammheimlich unter den Tisch fallen gelassen.
({8})
Zweitens. Fakt ist: Trotz miserabler Konjunktur ist es
in den sieben Jahren grüner Politik nicht gelungen, die
CO2-Emissionen in Deutschland nennenswert zu senken
oder zu stabilisieren.
Drittens. Fakt ist: Deutschland wurde unter Helmut
Kohl zum Motor des weltweiten Klimaschutzes. Nicht
zuletzt das große Engagement von Klaus Töpfer führte
dazu, dass im Jahre 1992 über 150 Staaten die Klimarahmenkonvention von Rio unterzeichneten. Deutschland war auch auf der dritten Vertragsstaatenkonferenz 1997 in Kioto die treibende Kraft. Nicht zuletzt
dank des Verhandlungsgeschicks von Angela Merkel einigte sich die Staatengemeinschaft auf das verbindliche
Kioto-Protokoll. Dieses Engagement und dieses Verhandlungsgeschick wurden von Deutschland unter Bundesumweltminister Trittin nicht fortgeführt.
({9})
Die Vorreiterrolle bei der Überzeugungsarbeit ist verspielt worden. Lange sechs Jahre wurde es versäumt,
Russland nachhaltig zu einer raschen Ratifizierung des
Kioto-Protokolls zu drängen. Es bedurfte des Engagements der ehemaligen Bundesumweltministerin Angela
Merkel, unserer Bundeskanzlerin, um auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene der Klimapolitik
wieder einen zukunftsweisenden Schub zu verschaffen.
({10})
Klimapolitik ist nicht konjunkturabhängig, aber bei
klimapolitischen Maßnahmen müssen auch wirtschaftliche und soziale Fragen berücksichtigt werden. Sie machen Klimaschutz, wir machen einen wirtschaftlich und
sozial kompetenten Klimaschutz. Das ist der Unterschied zwischen Ihren und unseren Ansätzen. Das verstehen zunehmend auch die Bürger.
({11})
Meine Damen und Herren, die Stromerzeuger müssen die Zertifikate ab 2013 vollständig ersteigern. Das
ist eine sehr anspruchsvolle Vorgabe mit erheblichen
Auswirkungen auf die Stromerzeugung in Deutschland,
weil wir bei uns einen relativ hohen Anteil an Kohleverstromung haben. Wir müssen hier sehr genau beobachten, wie sich die Strompreise und die Erzeugungskapazitäten bei uns künftig entwickeln.
Deutschland liegt zwischen Frankreich, das einen hohen Anteil an Strom aus Kernenergie hat, und Polen, das
zukünftig Standortvorteile wegen des beschlossenen
Phasing-in für neue Kraftwerke haben wird.
({12})
Der Emissionshandel darf nicht dazu führen, dass wir
unseren Strom künftig aus Frankreich oder Polen importieren und unsere eigene energetische Basis veraltet sowie Kapazitäten in nennenswertem Umfang abwandern.
Wir müssen auch in Zukunft Energieproduzent sein.
({13})
Die Möglichkeit, dass in den Jahren 2013 bis 2015 für
neue Kraftwerke Zuschüsse von bis zu 15 Prozent gezahlt werden dürfen, muss unbedingt genutzt werden.
Das ist innovationspolitisch nur ein kleines Zeitfenster.
({14})
Ich appelliere deshalb an die Stromerzeuger, entsprechende Investitionen vorzubereiten.
In Brüssel ist ein klimapolitisch effektives, wirtschaftspolitisch verantwortliches und europäisch faires
Maßnahmenpaket beschlossen worden. Mit der Bereitstellung von finanziellen Mitteln für CCS und erneuerbare Energien haben wir zudem eine gut ausgestattete
Innovationskomponente im Paket. JI- und CDM-Projekte möchte ich nicht mehr ansprechen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Roth, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der EU verhält es sich so wie mit unseren Kirchen: Zu
Weihnachten und in der Krisenzeit sind sie gefragt. Es
ist gut, dass die EU unter Beweis gestellt hat, dass sie in
Krisenzeiten funktioniert. Man mag es kaum glauben:
Länder pochen an die Tür der EU, von denen man es vor
wenigen Monaten und Jahren noch nicht erwartet hätte,
Island beispielsweise.
Wir spannen Schutzschirme und schnüren Konjunkturprogramme bzw. -pakete. Noch wichtiger wäre es
aber, wenn wir die EU in die Lage versetzen würden,
präventiv auf mögliche Krisen zu reagieren bzw. in noch
stärkerem Maße dazu beizutragen, dass Krisen erst gar
nicht entstehen.
({0})
Hierfür brauchen wir entsprechende vertragliche Grundlagen; sie sind zwingend. Wir brauchen handlungsfähige
Institutionen, sinnvolle Instrumente und klare Zuständigkeiten.
Deswegen ist es gut, dass der Gipfel dem Vertrag
von Lissabon abermals eine neue Chance eröffnet hat.
Es ist eine Brücke nach Dublin gebaut worden. Ob diese
Brücke tragfähig ist, wird die Zukunft zeigen; denn
- auch das muss man unter Partnern offen ansprechen es geht hier nicht um eine Einbahnstraße nach Irland,
sondern wir brauchen eine Zweibahnstraße.
Michael Roth ({1})
Die Europäische Union hat jetzt entsprechende Beiträge geleistet. Sie hat Zusicherungen erteilt. Ich erwarte
von den Iren aber auch mehr Mut, gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern deutlich zu machen, was es heißt,
wenn der Vertrag von Lissabon nicht in Kraft tritt. Auch
seitens der irischen Regierung muss deutlich werden: Es
geht eben nicht mehr alleine darum, ob ein neuer Vertrag
in Kraft tritt, sondern auch darum, ob Irland unter den
obwaltenden Bedingungen überhaupt noch Mitglied der
Europäischen Union sein möchte. Das sind klare Worte,
die in schwierigen Zeiten auch einmal auf den Tisch gehören. Die EU hat gezeigt, dass sie dazu in der Lage ist.
Jetzt brauchen wir einen eindeutigen Beitrag von Irland.
({2})
Die Staats- und Regierungschefs haben sich auf Erklärungen verständigt, um den Iren dabei zu helfen, ein
weiteres Referendum erfolgreich durchzuführen. Ich
will aber deutlich sagen, dass dies nicht zu Konsequenzen führen kann, die das gesamte Gemeinschaftsprojekt
infrage stellen: Stichwort „Steuerpolitik“. Eine steuerpolitische Erklärung kann kein Harmonisierungsverbot
bedeuten. Sie kann keine Absage an eine engere Zusammenarbeit in Fragen der Steuer- und Finanzpolitik bedeuten. Wir müssen die Steueroasen in der Europäischen
Union endlich austrocknen. Wir müssen den Kampf gegen unsolidarisches Steuerdumping endlich aufnehmen.
Deswegen brauchen wir perspektivisch auch in der Steuerpolitik eine engere und vertrauensvollere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union. Das darf durch eine neue Erklärung nicht verhindert werden.
({3})
Dies gilt genauso für die Sicherheitspolitik. Wenn
beispielsweise die Vereinigten Staaten jetzt der Europäischen Union die Hand zur kooperativen Zusammenarbeit reichen, dann müssen wir diese Hand ergreifen.
Das heißt, die Europäische Union darf jetzt nicht abwehren und nicht wieder in nationale Egoismen verfallen.
Wir müssen mit einer Stimme sprechen! Auch das darf
durch eine Erklärung, in der man noch einmal die sicherheitspolitische Souveränität der Mitgliedstaaten unterstreicht, nicht infrage gestellt werden.
Wir müssen europäische Beiträge für mehr zivile
Konfliktprävention, für mehr Abrüstung und für die Verhinderung von Konflikten weltweit leisten. Wir müssen
die Entwicklungszusammenarbeit pflegen und noch weiter ausbauen. Dies darf nicht infrage gestellt werden.
Dieses Signal darf von keinem europäischen Gipfel ausgehen. Das müssen wir den Partnern in Irland und anderswo deutlich sagen.
({4})
Die Zusammensetzung der Europäischen Kommission ist angesprochen worden. Wir alle müssen uns vor
Augen halten: Es geht hier nicht darum, den LissabonVertrag nicht in Kraft zu setzen. Es geht hier um „Nizza
minus“. In dem Vertrag von Nizza ist schon jetzt vorgesehen, dass in der neuen Kommission die Zahl der Kommissarinnen und Kommissare unter der Zahl der Mitgliedstaaten liegt. Wir brauchen weniger Kommissare.
Deswegen mahne ich, dass diejenigen, die dieses Zugeständnis in Richtung Irland auf den Weg gebracht haben, intelligente Lösungen finden, wie die Kommission
handlungsfähig bleiben kann. Wir brauchen nämlich
starke Gemeinschaftsinstitutionen und nicht mehr Intergouvernementalität. Wir brauchen nicht mehr nationales
Regierungshandeln. Wir brauchen mehr gemeinsames
Regierungshandeln in der Europäischen Union.
Die Kolleginnen und Kollegen, die eben von dem
Kommissar für Sprachenvielfalt gesprochen haben, haben recht:
({5})
Wir brauchen schon jetzt keinen Kommissar für Sprachenvielfalt. Wir brauchen zukünftig auch keinen Kommissar für die Süßwasserfische und keinen Kommissar
für die Meerwasserfische.
({6})
Wir brauchen eine starke und handlungsfähige Institution, die sich dem Gemeinwohl in der Europäischen
Union verpflichtet fühlt.
({7})
Die Iren haben zu Recht deutlich gemacht: Wir brauchen ein soziales Europa. Wir brauchen ein Europa der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dann müssen
aber auch die Iren vor ihrer eigenen Haustüre kehren;
denn ein neoliberaler Dinosaurier erster Güte ist der irische Kommissar McCreevy. Er hat sich in den vergangenen Monaten nicht mit Ruhm bekleckert, indem er sich
deutlich gegen Mindestlöhne im Postbereich in der Bundesrepublik Deutschland gewandt hat oder indem er einen Kampf gegen das VW-Gesetz führt. Es steht in keinem Vertrag und in keinem europäischen Gesetz, dass es
kein VW-Gesetz und keine Mindestlöhne in der Europäischen Union und erst recht nicht in Deutschland geben darf.
Hier muss man handeln und nicht nur darüber reden.
Da muss man für entsprechende politische Mehrheiten in
der Europäischen Union kämpfen. Bei aller gerechtfertigter oder in Richtung Linkspartei auch ungerechtfertigter Kritik an dem Vertrag von Lissabon: Kein Vertrag allein sichert soziale Rechte.
({8})
Wir brauchen dafür gesellschaftliche und vor allem politische Mehrheiten. Deswegen wird das Jahr 2009 so
spannend für uns. Am 7. Juni besteht eine Chance, deutlich zu machen, dass das soziale Europa - das Europa
der Beschäftigten - eine reale Chance hat. Lassen Sie
uns gemeinsam dafür arbeiten.
Vielen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Hans Peter Thul für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin, gestatten Sie mir zunächst einmal,
mich sehr herzlich dafür zu bedanken, dass Sie mir heute
Morgen gute Wünsche zu meinem 60. Geburtstag ausgesprochen haben. Bei dieser Gelegenheit auch heftigen
Dank an alle Kolleginnen und Kollegen, die das in
schriftlicher, mündlicher oder SMS-Form und in allen
möglichen anderen Darbietungen getan haben.
({0})
- Sogar durch die Post. Herzlichen Dank!
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zur Sache selber: Wer heute über die Europäische Union redet, der kommt nicht umhin, trotz der
französischen Ratspräsidentschaft in ganz besonderer
Weise die Verdienste unserer Bundeskanzlerin, Frau
Dr. Angela Merkel, zu loben.
({1})
Mehr noch: So, wie Helmut Kohl den europäischen
Einigungsgedanken verkörpert hatte, personifiziert
Angela Merkel ein gemeinsam handelndes Europa. Wer
wollte bestreiten, dass in dieser Situation gemeinsames
Handeln - möglicherweise auch auf gemeinsam vereinbarte Ziele abgestimmt - das Gebot der Stunde ist? Ich
möchte das gerne anhand von einigen Punkten diskutieren.
({2})
- Herr Steenblock, Ihnen mag eine gewisse Feindlichkeit in Sachen Industriedarbietung immanent sein, aber
sie bringt uns nicht weiter. Auch darauf werde ich noch
eingehen.
Es war diese Bundesregierung, die unter Leitung der
Kanzlerin die mutigen Meseberger Beschlüsse formuliert und während der eigenen Ratspräsidentschaft im
Jahre 2007 bereits als Planziele für den gesamten EURaum definiert hat. Die jetzt als Bestandteile des Energie- und Klimaschutzpaketes bis 2020 verbindlich und
voller Mut beschlossenen Ziele - die Minderung des
CO2-Ausstoßes um 20 Prozent, die Steigerung der Energieeffizienz um 20 Prozent und der Anteil von 20 Prozent der erneuerbaren Energien am gesamten Energieverbrauch - sind unter deutscher Ratspräsidentschaft
formuliert worden, und das bereits im März 2007.
Ich verstehe an dieser Stelle die Vorbehalte nicht, die
von der linken Ecke dieses Hauses formuliert werden. In
dieser Sache vorauszugehen, ist allemal besser, als sich
davonzustehlen, Herr Lafontaine.
Dass diese Ziele in der vergangenen Woche von niemandem mehr infrage gestellt wurden, ist auf die vielen
intensiven Gespräche zurückzuführen, die wiederum die
Bundeskanzlerin mit Sarkozy, dem italienischen und
dem polnischen Ministerpräsidenten und vielen anderen
Staats- und Regierungschefs geführt hat. Ich bin übrigens fest davon überzeugt, dass fundierter Sachverstand
und fundierte Kenntnisse der physikalischen Grundwahrheiten mit dazu beigetragen haben, die anderen EUPartner zu überzeugen.
({3})
Es hat sich wieder einmal gezeigt, dass diese Fragen
eben nicht ideologisch zu lösen sind, sondern sehr viel
besser technologisch begründet und pragmatisch angegangen werden können.
({4})
Es ist für unsere Volkswirtschaft und unseren Produktionsstandort Deutschland von geradezu existenzieller
Bedeutung, dass wir auch in Zukunft über eine verlässliche, bezahlbare und gleichermaßen umwelt- und ressourcenschonende Energieversorgung verfügen. All
den kritischen Stimmen, die jetzt lauthals ein Einknicken
der Klimakanzlerin vor der Industrielobby beklagen,
möchte ich mit einem Zitat begegnen. Ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin:
Wenn Herr Töpfer, Herr Schellnhuber, die Umweltverbände diese Ausnahmen in der Industrie kritisieren, dann muss ich ganz offen sagen, dann dürfen
wir diesen Vorschlägen dieser Leute nicht folgen,
weil es im Zweifel für den Klimaschutz nichts
bringt, aber wir hier in eine Situation geraten, wo
wir die Unterstützung verlieren. Wir können nicht
so tun, als ob die Menschen in der Stahlindustrie
oder in der Autoindustrie nicht Angst um ihre Jobs
hätten aktuell. Denen dann zu sagen, die gute Idee
der Woche ist, wir packen euch noch ein bisschen
was oben drauf, wissend, dass in China, Indien,
USA, Japan das alles nicht passiert, und dann
schauen wir mal, was passiert, das ist ziemlich naiv.
Und deswegen finde ich, dass gestern die Staatsund Regierungschefs etwas beschlossen haben, was
wirklich verantwortungsbewusst in jede Richtung
ist.
Dieses zugegebenermaßen etwas holprige wörtliche
Zitat stammt von unserem Umweltminister, so von ihm
im Deutschlandfunk am 13. Dezember dieses Jahres gesagt. Selten genug, aber an dieser Stelle teile ich die
späte Einsicht des Umweltministers voll und ganz. An
den EU-Klimazielen, den besten der Welt, ist nicht gerüttelt worden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, solange es
kein internationales Klimaabkommen gibt, wäre es grob
fahrlässig und klimapolitisch kontraproduktiv, das europäische produzierende Gewerbe einseitig zu belasten.
Carbon Leakage bedeutet in diesem Zusammenhang
doch nichts anderes als die Verlagerung von Arbeitsplätzen, Wertschöpfung und schädlichen Emissionen ins außereuropäische Ausland, und zwar für immer; da mache
ich mir keine Illusionen.
Deutschland hat die Zielvorgaben des Kioto-Protokolls schon heute mehr als erfüllt. Dort, wo wir schon
vor Verabschiedung eines international gültigen Nachfolgeprotokolls handeln können, tun wir es: Die beschlossene Auktionierung von Verschmutzungsrechten
im stromproduzierenden Sektor trifft besonders
Deutschland sehr hart, weil wir bei über 50 Prozent unserer Stromproduktion Braun- und Steinkohle einsetzen.
Dennoch halte ich vor dem Hintergrund der klimapolitischen Herausforderungen die getroffene Vereinbarung
für mehr als richtig.
Die Erlöse aus dem Zertifikatehandel werden uns ab
2013 die Möglichkeit geben, die dringend notwendigen
Investitionen in neue Kraftwerke mit bis zu 15 Prozent
der Investitionssumme zu unterstützen. Ich bin allerdings auch der Meinung, dass wir einen größeren Teil
dieser Erlöse in die Erforschung moderner und möglichst verlustarmer Speichertechnologien stecken sollten. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass wir in unserem Lande mehr erneuerbare Energien einsetzen können
und so in 2020 den Anteil von 35 Prozent an erneuerbarer Energie im Stromsektor erreichen werden.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einige wenige
Worte zur aktuellen konjunkturellen Entwicklung sagen: Deutschland muss sich mit seiner bisherigen Antwort auf die Finanzkrise und die wirtschaftlichen Abschwünge nicht verstecken. Ich gebe all denen recht, die
sagen, dass wir zurzeit alles daransetzen sollten, auf
Sicht zu fahren; denn das ermöglicht uns, auf die jeweiligen Veränderungen flink zu reagieren. Wir sind bestens
aufgestellt, was den Arbeitsmarkt und die Beschäftigungslage anbelangt. Es ist nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die Finanzblase im Jahre 2005 geplatzt
wäre.
Wenn wir in den nächsten Wochen und Monaten zusätzliches Geld in die Hand nehmen, dann nur, wenn
sich zu dem kurzfristigen Konjunktur- und Beschäftigungsimpuls ein nachhaltiger Wertzuwachs gesellt, zum
Beispiel bei der energetischen Sanierung von Schulen
und öffentlichen Gebäuden. Dies hilft sowohl dem
Handwerk - in der Regel dem örtlichen Handwerk - als
auch der Umwelt.
Deutschland und die Europäische Union gehen gut
aufgestellt in das kommende Jahr. Unser Dank sollte daher Angela Merkel, unserem Außenminister und natürlich auch dem französischen Präsidenten Sarkozy gelten.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und schöne
Feiertage!
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Gert
Weisskirchen für die SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Was ist die eigentlich große Herausforderung, vor der die Europäische Union steht? Im
Grunde genommen dreht es sich darum, drei Ziele aufeinander zu beziehen und, wenn es geht, diese drei Ziele
gleichzeitig zu verfolgen.
Das erste zentrale Ziel ist, die industrielle Basis innerhalb der Europäischen Union so zu verändern, dass die
Energieeffizienz erhöht wird und wir am Ende von den
bisherigen Kohlendioxidemissionen Schritt für Schritt
wegkommen. Wenn wir uns dieses Ziel vor Augen führen und es da-raufhin prüfen, was der Europäische Rat
erreicht hat, dann finde ich, dass wir einen Durchbruch
erzielt haben, sicherlich nicht so, wie wir das am 28. Mai
im Bundestag beschlossen haben, lieber Kollege
Steenblock; das stimmt. Aber wir müssen sehen, dass
wir hier einen ganz zentralen, strukturellen Fortschritt
erreicht, eine fundamentale Reform durchgeführt haben.
Allein die Tatsache, dass der Europäische Rat das beschlossen hat, ist wichtig.
({0})
Ein zweiter Punkt ist - das ist mindestens genauso
wichtig -, dass der Europäische Rat der Gefahr, dass
man angesichts der Finanzkrise die Umweltziele aus den
Augen verliert, in der Tat begegnet ist. Nicht allein die
ökonomischen Ziele im Hinblick auf die Bewältigung
der Finanzkrise haben sich durchgesetzt. Vielmehr wurden diese Ziele mit den ökologischen Zielen in Zusammenhang gesetzt, nicht zuletzt in der Absicht, Arbeitsplätze zu sichern. Lieber Kollege Steenblock und Oskar
Lafontaine, wenn man das, was der Europäische Rat beschlossen hat, fair beurteilt, wird man zu dem Ergebnis
kommen, dass das ein wesentlicher Schritt ist. Wir werden 2009 in Kopenhagen deutlich machen: Die Europäische Union will an den Zielen des Kioto-Protokolls festhalten und wird dafür sorgen, dass konkrete Beschlüsse
gefasst und diese Ziele real erreicht werden. Das ist das
Signal, das die Europäische Union in ihrer globalen Verantwortung aussendet. Ich finde, dass das ein gutes, nach
vorne weisendes Signal ist.
({1})
- Natürlich muss man auch über die Instrumente debattieren.
Eines der zentralen Instrumente wurde bereits installiert; der Kollege Kelber hat bereits darauf hingewiesen.
({2})
Der Emissionshandel wird so unverrückbar durchgesetzt, dass später das richtige Instrument eingesetzt werden kann, um die historische Chance zu nutzen. Daran
müssen wir uns alle messen lassen. Die Europäische
Union muss beweisen, dass sie an diesem Instrument
nicht nur festhält, sondern es auch über das Kioto-ProtoGert Weisskirchen ({3})
koll global durchsetzt, um die weitere Entwicklung positiv zu beeinflussen.
Wenn das gelingt, dann kann die Europäische Union
- ich hoffe, dass mich Karl Schlögel für die Verwendung
seines Begriffs nicht kritisieren wird - zu einem Laboratorium der Moderne werden. Sie kann dann die industrielle Basis revolutionieren und dafür sorgen, dass
Energieeffizienz die höchste Priorität hat und ein fester
Bestandteil unseres Modernisierungsbegriffs wird. Das
wäre ein gewaltiger Fortschritt, übrigens einer, für den
Erhard Eppler seit Jahrzehnten kämpft. Wenn das jetzt
durchgesetzt werden könnte, wäre das historisch gesehen ein qualitativer Fortschritt. Ich bedanke mich bei der
Bundeskanzlerin und beim Bundesaußenminister dafür,
dass dieser Durchbruch nun in der Europäischen Union
gelungen ist.
Das Europaparlament hat im Übrigen die entsprechenden legislativen Akte durch seine Beschlüsse umgesetzt, und zwar mit großer, überwältigender Mehrheit.
Ich weiß nicht, ob sich Herr Cohn-Bendit daran beteiligt
hat. Ich wünsche mir aber, dass diejenigen, die seit Jahrzehnten in der Europäischen Union im Hinblick auf eine
Verbindung von ökologischer und sozialer Reform und
damit im Hinblick auf eine Veränderung der industriellen Basis zusammengearbeitet haben, diesen Fortschritt
ernst nehmen, ihm zum Durchbruch verhelfen und 2009
dafür sorgen, dass das global realisiert werden kann.
Herzlichen Dank, Herr Außenminister.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11404.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist
dagegen? - Enthaltung? - Der Entschließungsantrag ist
damit abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und den Stimmen der FDP-Fraktion gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion - ({0})
- Frau Kollegin Schewe-Gerigk, dann würde ich die Ab-
stimmung gerne wiederholen; denn das Bild, das die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgegeben hat, war
eindeutig das einer Enthaltung.
Dann wiederholen wir die Abstimmung. Wer ist für
den Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Enthal-
tung? - Der Entschließungsantrag ist damit mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, den Stimmen der
FDP-Fraktion und den Stimmen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 32: Dabei geht es um die Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Das
Ratifizierungsverfahren zum Vertrag von Lissabon aus-
setzen - Ein Sozialprotokoll vereinbaren“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/10832, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/8879 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? -
Enthaltung? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der
FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Kauder, Renate Schmidt ({1}), Johannes
Singhammer und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes
- Drucksache 16/11106 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christel
Humme, Irmingard Schewe-Gerigk, Elke Ferner
und weiterer Abgeordneter
Wirkungsvolle Hilfen in Konfliktsituationen
während der Schwangerschaft ausbauen Volle Teilhabe für Menschen mit Behinderung
sicherstellen
- Drucksache 16/11342 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Kerstin Griese, Katrin Göring-Eckardt, Andrea
Nahles und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten
- Drucksache 16/11347 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ina
Lenke, Sibylle Laurischk, Ulrike Flach und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes
- Drucksache 16/11330 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Diana Golze, Elke Reinke
und weiterer Abgeordneter
Späte Schwangerschaftsabbrüche - Selbstbestimmungsrecht von Frauen stärken
- Drucksache 16/11377 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Diese
Zeit soll nach dem Stärkeverhältnis der Anzahl der Unterzeichner verteilt werden.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Johannes Singhammer das Wort.
({7})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Vor elf Jahren wurde das schreckliche Schicksal
des Oldenburger Babys Tim bekannt. Seither ist klar:
Die derzeitige Praxis und Regelung später Schwangerschaftsabbrüche bedarf dringend einer Änderung.
Schwangere Frauen, die sich alleingelassen fühlen,
Ärzte und Pflegepersonal, die sich überfordert fühlen,
und der nicht ausreichende Schutz behinderter ungeborener Kinder verlangen von uns, dem Gesetzgeber, eine
Entscheidung, eine Entscheidung in einem Grenzbereich
der Politik, wobei sich die Politik gleichwohl nicht um
eine Entscheidung drücken kann.
Die Kirchen, die Behindertenverbände, die Bundesärztekammer und viele andere fordern seit langem auf,
zu handeln. Wir wollen Frauen, die sich in einer existenziellen Notlage befinden, nachhaltig helfen, und wir
wollen mit unserem Vorschlag behindertes ungeborenes
Leben besser schützen.
Seit 1995 ist die sogenannte embryopathische Indikation abgeschafft, weil sie eine Diskriminierung Behinderter bedeutet. Aber mit der erweiterten medizinischen
Indikation werden nun neue Herausforderungen sichtbar. Im Jahr 2007 gab es laut Statistischem Bundesamt
insgesamt 3 072 Schwangerschaftsabbrüche, die mit einer medizinischen Indikation gemeldet wurden, 631 davon ab der 20. Schwangerschaftswoche. Das ist der Zeitpunkt, ab dem ein Kind außerhalb des Mutterleibs
lebensfähig sein kann.
Studien haben ergeben, dass neun von zehn Schwangerschaften mit Kindern, die das Downsyndrom haben,
abgebrochen werden. Es gibt Hinweise auf ähnliche
Konstellationen bei Spina Bifida, offener Rücken.
Wir wollen jeden Automatismus zwischen einer Eröffnung der Diagnose und einem Schwangerschaftsabbruch vermeiden. Keine Mutter und kein Vater dürfen in
einen Rechtfertigungszwang geraten: Das behinderte
Kind hätte vermieden werden können, und Belastungen
der Gesellschaft und des Staates finanzieller Art hätten
erst gar nicht entstehen müssen.
({0})
Mit Sorge hören wir die bittere Klage, beispielsweise
der Bundesvereinigung Lebenshilfe, „wie verletzend
eine gesellschaftliche Praxis ist, die etwa Menschen mit
Down-Syndrom gezielt sucht, um anschließend ihr
Recht auf Leben infrage zu stellen“.
Wenn eine schwangere Frau die Nachricht erhält, dass
ihr ungeborenes Kind behindert ist, bricht für sie eine
Welt zusammen. Wer mit den betroffenen Frauen und ihren Angehörigen gesprochen hat, weiß, welche Belastungen mit einer solchen Nachricht verbunden sind. Wer
erfahren hat, wie oft sich Schwangere in einer Notsituation dieser Art alleingelassen fühlen, der wird alles
Denkbare tun, um ihnen die nötige Unterstützung zukommen zu lassen, und er wird auch alles tun, um jede
betroffene Frau vor dem Vorwurf in Schutz zu nehmen,
sie habe bei ihrer Entscheidung leichtfertig gehandelt.
Für viele Frauen und auch ihre Männer ist das Leben
mit einem behinderten Kind zunächst kaum vorstellbar.
Deshalb brauchen betroffene Frauen erst einmal alle
wichtigen Informationen zum Leben mit behinderten
Kindern - durch den Arzt, durch Aufklärungsmaterialien
und durch psychosoziale Beratungsstellen. Jede Schwangere in dieser Krisensituation soll - so sieht es unser Entwurf vor - direkt mit Selbsthilfegruppen, aber auch mit
betroffenen Familien Kontakt aufnehmen können, wenn
sie es wünscht.
Es ist bekannt, dass ein später Schwangerschaftsabbruch für die Frau auch eine starke Belastung bedeuten
kann, unter der sie möglicherweise lange zu leiden hat.
Darüber sollte jede betroffene Frau ehrlich und frühzeitig aufgeklärt werden.
Unser Entwurf will die schwangeren Frauen in dieser
Situation nicht zusätzlich beschweren, ihnen keine
neuen Lasten aufbürden; es soll keinerlei Art von Sanktionierung geben. Wer sich nicht beraten lassen will, der
kann darauf verzichten. Der Arzt aber wird verpflichtet,
die umfassende Beratung über die medizinischen Aspekte hinaus zu gewährleisten. Unsere glasklare Regelung heißt deshalb: Beratungsrecht für die schwangere
Frau, Beratungspflicht für den behandelnden Arzt.
Die Verarbeitung einer schockierenden Nachricht
braucht Zeit. Soweit keine Gefahr für Leib und Leben
der Frau besteht, ist eine mindestens dreitägige Bedenkzeit nach der ärztlichen Beratung notwendig. Wir
wollen keinen zeitlichen Druck. Wir wollen nicht, dass
Frauen vor einer Entscheidung mit großer Tragweite unter zeitlichen Druck gesetzt werden. Auch wir wissen,
dass eine qualifizierte Beratung und ausreichend Zeit eines nicht können: Leid, schmerzliche Entscheidungsprozesse und auch qualvolles Abwägen vermeiden. Wohl
aber wissen wir eines: dass damit dringend benötigte
Hilfe angeboten wird, dass umfassende Informationen
angeboten werden und dass wir Mut machen können.
Experten gehen von einer Dunkelziffer aus. Wir wollen die Dimension der Problematik besser erkennen, um
besser helfen zu können. Wir wollen die Statistik aussaJohannes Singhammer
gefähiger gestalten und haben mit dem Statistischen
Bundesamt deshalb auch den Datenschutz intensiv besprochen. Mit unserer Regelung wird die Anonymität jeder betroffenen Frau gewährleistet.
Wir freuen uns, dass eine Reihe von Institutionen und
Verbänden unser Vorhaben unterstützt: die Bundesärztekammer, die Bundesvereinigung Lebenshilfe, Donum
Vitae ebenso wie viele andere. Wir haben mit allen Beteiligten gesprochen. Unser Weg ist ein ausgewogener
Vorschlag für die Regelung nach Mitteilung eines Befundes. Das Gendiagnostikgesetz ist ein guter Ort, um
insbesondere die ärztliche Beratung vor vorgeburtlicher
Diagnostik zu regeln. Das Gendiagnostikgesetz kann
aber eben nur einen Ausschnitt regeln. Beispielsweise
Herzfehler und Ähnliches können mit Gendiagnostik
nicht erkannt werden. Deshalb brauchen wir die Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes. Selbstverständlich sind Mutterschaftsrichtlinien und Mutterpass
willkommene Möglichkeiten der Hilfe, aber wir sollten
ein Risiko nicht in Kauf nehmen: dass wir am Schluss
weiße Salbe anbieten. Wir brauchen echte Besserung.
Die Evangelisch-Lutherische Kirche Bayern hat in
der Landessynode vor wenigen Tagen formuliert:
Menschliches Leben ist uns von Gott gegeben. Es
ist in jeder Phase zu bewahren und zu schützen.
Ich meine deshalb, dass die Verpflichtung des Gesetzgebers noch weiter geht. Wir müssen alles daransetzen,
dass ein Leben mit behinderten Kindern, ein Leben mit
behinderten Menschen in jedem Lebensalter gelingen
kann: mit ausreichenden finanziellen Rahmenbedingungen, mit Offenheit und Akzeptanz der Gesellschaft sowie mit der Achtung der Würde des Lebens am
Anfang wie am Ende.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Christel Humme.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ja, Spätabbrüche sind schrecklich, am
schrecklichsten für die betroffenen Frauen selbst, Herr
Singhammer. Darüber reden wir heute. Wir reden über
mögliche Abbrüche in einem fortgeschrittenen Stadium.
Die Schwangere und ihr Partner freuen sich auf das
Kind; denn es ist in der Regel ein Wunschkind. Ich sage
Ihnen an dieser Stelle: Keine Frau entscheidet sich in
dieser Situation leichtfertig für einen Abbruch.
({0})
Deshalb dürfen wir hier im Deutschen Bundestag keine
gesetzliche Änderung vornehmen, die den Frauen das
unterstellt. Aber genau das ist Ihr Ansatz, Herr
Singhammer. Mit diesem Frauenbild helfen Sie den betroffenen Frauen und Männern nicht.
({1})
Sie setzen sie in einer ohnehin schwierigen Notlage zusätzlich unter Druck.
({2})
- Keine Zwischenrufe!
Frauen brauchen auch keine staatlich verordnete
Wartezeit von drei Tagen. Warum überhaupt drei Tage?
Die Frist ist völlig willkürlich. Fragen Sie doch die Praktiker, die niedergelassenen Frauenärzte! Sie berichten
uns, dass die Frauen sich von Beginn ihrer Schwangerschaft an mit dem Gedanken auseinandersetzen: Was
passiert, wenn? Deshalb sind wir der Auffassung: Eine
bessere Beratung für Schwangere muss viel früher ansetzen.
Wir stellen eines fest: Der technische Fortschritt
bietet schwangeren Frauen eine Vielzahl von Untersuchungen an, die alle ein Ziel verfolgen, nämlich nach
Abweichungen beim ungeborenen Leben zu suchen.
Nimmt die Frau dieses Angebot wahr, so ist das oft der
Beginn eines Untersuchungsmarathons, der zutiefst verunsichern kann.
Hier setzt unser Antrag an. Wir wollen zusätzlich die
Qualität der Beratung vor solchen Untersuchungen
verbessern. Der Arzt soll über die Chancen und Risiken
informieren, und er muss schon zu diesem Zeitpunkt die
Pflicht haben, auf die Möglichkeit einer psychosozialen
Beratung hinzuweisen. Ein schlüssiges Konzept, qualitativ gute Beratung vor einer pränatalen Untersuchung
und auch danach - damit, glaube ich, geben wir den
Frauen und ihren Partnern die notwendige Bedenkzeit,
die wesentlich länger ist als die Dreitagesfrist, die nach
Ihrem Entwurf gesetzlich vorgeschrieben werden soll.
({3})
Das ist die wirkungsvolle Hilfe, die wir meinen, wenn
wir von dieser Konfliktsituation sprechen.
Mehr noch, meine Damen und Herren: Mit diesem
Beratungsangebot geben wir den Frauen den Informationshintergrund, den sie brauchen, um zu den Untersuchungen, die wie selbstverständlich vorgenommen werden, auch einmal Nein sagen zu können. Das ist das, was
wir meinen, wenn wir von dem Recht der Frau auf
Nichtwissen sprechen.
({4})
Herr Singhammer, Sie wollen behindertes Leben
schützen. Wir auch, dass ist kein Zweifel. Sie meinen,
das erreichen zu können, wenn Sie Spätabbrüche vermeiden. 80 Prozent der Spätabbrüche werden vorgenom21154
men, weil das Ungeborene nicht lebensfähig ist. Diesen
Kindern fehlt ein lebenswichtiges Organ. Sie haben kein
Gehirn, es fehlen beide Nieren, oder das Herz ist schwer
geschädigt. Die Kinder sind dem Tod geweiht. Niemand
leidet darunter mehr als die betroffenen Eltern. Wie müssen sowohl Ihre gesetzliche Dreitagesfrist als auch Ihr
gesetzlicher Hinweis auf eine bessere Information über
das Leben mit einem behinderten Kind auf diese Eltern
wirken?
Meine Damen und Herren, die unter anderem von der
Union vorgeschlagenen staatlichen Einmischungen in
höchstpersönliche Entscheidungen sind nicht geeignet,
um Frauen und Männern in schwierigen Konfliktsituationen während der Schwangerschaft wirkungsvoll zu
helfen. Was Frauen wirklich hilft, ist ein zusätzliches
besseres und frühzeitiges Beratungs- und Unterstützungsangebot. Genau diesen Weg gehen wir mit unserem Antrag, und dabei sind wir fest davon überzeugt,
dass Frauen sehr verantwortungsvoll mit ihrer Konfliktsituation umgehen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir alle wissen es
sehr genau, und an dieser Stelle sollten wir uns nicht
selbst belügen: Gesetzliche Regelungen, zusätzliche
Dreitagefristen, Beratungspflicht und was auch immer
werden nicht helfen, die gesellschaftliche Einstellung zu
behindertem Leben positiv zu verändern.
({5})
Dazu gehören veränderte Rahmenbedingungen, wie wir
sie in unserem Antrag fordern. Ich hätte mir gewünscht,
meine Damen und Herren, Sie hätten in den vergangenen Jahren gemeinsam mit uns ebenso viel Energie in
die Frage gesteckt, wie wir die Bedingungen für ein Leben mit einem behinderten Kind verbessern können. Das
wäre eine redliche und sinnvolle Arbeit gewesen, die
dieses Hohen Hauses würdig gewesen wäre.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Griese.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist ein schwieriges Thema, das wir hier diskutieren,
eine Gewissensfrage. Die Frage, wie wir Frauen in der
schwierigsten Konfliktsituation in einer fortgeschrittenen Schwangerschaft sinnvoll helfen können, hat mich
sehr bewegt, und - ich sage es offen - ich habe mich
auch schwergetan, dazu eine Position zu finden. Nach
vielen Gesprächen mit Betroffenen, mit Verbänden wie
der Lebenshilfe und auch mit Beratungsstellen habe ich
mich gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus der
SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
entschlossen, einen Gesetzentwurf zu formulieren. Wir
wollen die Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes auf einen zentralen Punkt konzentrieren: auf die
Vermittlung in psychosoziale Beratungsstellen.
Um immer wieder geäußerten Vorwürfen direkt vorzubeugen, will ich ausdrücklich sagen: Niemand will
den § 218 ändern. Wir alle sind uns einig, dass keine
Frau leichtfertig abtreibt. Im Gegenteil: Das ist eine
schwerwiegende Entscheidung mit vielen Nachwirkungen.
({0})
Wir sind uns sicherlich auch alle darin einig: Werdendes
Leben kann nur mit der Mutter, nicht gegen sie geschützt
werden.
Ich warne davor, aus dieser Debatte einen Kulturkampf zu machen. Es geht nicht um die Änderung der
bisherigen Indikationsregelungen beim Schwangerschaftsabbruch, sondern es geht in unserem Gesetzentwurf allein um eine bessere Beratung in der fortgeschrittenen Schwangerschaft, in einer Phase, in der sich die
Frau eindeutig für das Kind entschieden hat.
Ich will die drei wichtigsten Argumente für unseren
Gesetzentwurf nennen:
Erstens. Wir haben in Deutschland die Regelung, dass
bis zur 12. Schwangerschaftswoche Abtreibung nach
Pflichtberatung und nach drei Tagen Bedenkzeit straffrei
ist. Wir werden demnächst nach dem Gendiagnostikgesetz die Regelung haben, dass vor und nach gendiagnostischen Untersuchungen Beratung erfolgt. Das ist gut
und richtig. Aber im schwierigsten aller Fälle, im
Schwangerschaftskonflikt nach der 13. Woche bis hin
zur 22. oder 23. Woche, wenn das Kind schon lebensfähig ist, in der Phase, in der die Entscheidung für das
Kind schon gefallen ist - es geht hier um Wunschkinder -,
können wir uns nicht sicher sein, dass die Frau nach einer meist schockierenden Diagnose eine psychosoziale
Beratung bekommt, und das wollen wir ändern.
({1})
Zum Beispiel führt auch die große Ultraschalluntersuchung zu der Diagnose einer eventuellen Behinderung.
Diese Untersuchung ist vom Gendiagnostikgesetz nicht
erfasst. Da gibt es eine Lücke. Warum wir diese Lücke
nicht auch gesetzlich schließen sollen, leuchtet mir nicht
ein. Das ist widersinnig.
({2})
Es geht zweitens darum, wie Frauen oder Paare damit
umgehen, wenn sie die Diagnose bekommen, dass ihr
Kind mit der Wahrscheinlichkeit eins zu hundert, eins zu
zweihundert oder eins zu dreihundert behindert sein
könnte. Wie gehen wir mit dem technischen Fortschritt
um? Müssen wir alles wissen? Ich teile ausdrücklich all
das, was zum Recht auf Nichtwissen und zu mehr Beratung vor der Diagnostik gesagt wurde. Aber - das weiß
ich aus vielen Gesprächen - es gibt immer wieder den
Fall, dass Ärzte bei der Diagnose einer eventuellen Behinderung sehr schnell zum Abbruch raten,
({3})
sei es offensichtlich - ich kenne Fälle, wo Ärzte gesagt
haben, das lohne sich nicht mehr -, sei es unterschwellig, sei es aus Angst vor Haftungsklagen, was ich übrigens besonders perfide finde, sei es aus mangelnder Sensibilität, sei es aus reiner Konzentration auf die
medizinisch-technische Seite, was ja beruflich bedingt
ist, oder aus Hilflosigkeit. Ich mache diesen Vorwurf
nicht allen Ärztinnen oder Ärzten,
({4})
aber ich bin nach reiflicher Überlegung mit den Kolleginnen und Kollegen, die mit mir diesen Antrag stellen,
zu der Überzeugung gekommen, dass genau hier die
Schwachstelle ist und dass wir genau hier etwas ändern
müssen. Die Frauen sollen also nicht mit der medizinischen Diagnose alleingelassen werden, sondern auch
eine psychosoziale Beratung bekommen.
({5})
Deshalb wird in unserem Gesetzentwurf der Arzt oder
die Ärztin - ich sage ausdrücklich: „der Arzt oder die
Ärztin“, nicht: „die Frau“ - zu ergebnisoffener Beratung verpflichtet. Das ist uns wichtig, damit es nicht zu
einem voreiligen Automatismus „Behinderung gleich
Abtreibung“ kommt. Der Arzt oder die Ärztin werden
also verpflichtet, in eine psychosoziale Beratung zu vermitteln. Hier wird keinerlei Zwang ausgeübt. Diese Beratung kann auch abgelehnt werden. Hier geht es um
Hilfe und Unterstützung.
Ein drittes wichtiges Argument unseres Antrages: Wir
wollen, dass die Ärzte Kontakte zu Selbsthilfegruppen
und Behindertenverbänden vermitteln. Ein Gesetzgeber
kann natürlich die gesellschaftliche Debatte beeinflussen, indem er in Gesetzen Werte und Normen setzt.
Deshalb sagen wir auch hier: Behindertes Leben ist gelingendes und erfülltes Leben. Das können wir auch mit
gesetzlichen Normen deutlich machen.
({6})
Mich haben die Zuschriften von Eltern behinderter
Kinder sehr berührt, die mir erzählt haben, welch ein
Schatz dieses Kind für ihr Leben ist, die aber auch davon
berichtet haben, dass sie darauf angesprochen werden,
ob das denn sein musste,
({7})
ob man das heute nicht hätte verhindern können. Das
zeigt einfach, dass es den genannten Automatismus gibt.
Auch wenn er rechtlich nicht in Ordnung ist - es gibt
ihn. Das wollen wir ändern.
({8})
Unser Gruppenantrag formuliert die Vermittlung in
psychosoziale Beratung noch deutlicher und verbindlicher als Ihr Antrag, Herr Kollege Singhammer. Unser
Gruppenantrag geht auch über das hinaus, was Sie, Frau
Kollegin Humme, fordern: Er sieht eben eine gesetzliche
Regelung vor und beschränkt sich nicht auf Appelle. Wir
wollen keine statistische Erfassung, wir wollen keine
statistisch feine Aufschlüsselung der Abtreibungsgründe. Hier sehen wir die Gefahr, dass die Anonymität
der Frauen nicht mehr gewahrt würde. Vielmehr konzentrieren wir uns tatsächlich auf Hilfen und Unterstützung.
Ich komme zum Schluss. Ich werbe für diesen Vorschlag, weil ich möchte, dass wir Frauen in der schwierigen Konfliktsituation, ob eventuell eine Spätabtreibung vorgenommen werden soll, direkt Hilfe und
Unterstützung zukommen lassen. Ich werbe dafür, damit dieses Haus ein eindeutiges Zeichen setzt, dass Behinderung nicht der Grund für eine Abtreibung sein darf.
({9})
Es ist eine Frage, mit der sich - das weiß ich - viele
schwertun. Ich glaube, es ist eine ethische Frage, über
die nicht anhand von Partei- oder Fraktionsgrenzen entschieden werden darf. Jeder Einzelne von uns wird hier
eine Entscheidung treffen müssen. Wir werden im März
dazu eine Anhörung im Familienausschuss durchführen
und im April hier wieder darüber beraten. Ich hoffe, dass
wir über all die wichtigen Appelle hinaus - ich sage ausdrücklich, dass ich die alle unterstütze - auch eindeutige
gesetzliche Zeichen setzen. Diese sind nötig, damit den
betroffenen Frauen geholfen werden kann.
Vielen Dank.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ina Lenke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwei
Drittel der Abgeordneten der FDP-Bundestagsfraktion
legen Ihnen heute einen Gruppenantrag für einen Gesetzentwurf zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes vor. Wir wissen: Spätabtreibungen sind
für alle Beteiligten mit großen Belastungen verbunden,
besonders für Schwangere. Das haben alle Redner vor
mir hier auch sehr deutlich gesagt.
Unser gemeinsames Ziel muss es sein, die Zahl von
Abbrüchen so gering wie möglich zu halten.
({0})
Notwendig sind deshalb Maßnahmen, die die Situation
der betroffenen Frauen und der ungeborenen Kinder verbessern. Mit unseren Vorschlägen wollen wir voreilige
Entscheidungen und überstürztes Handeln vermeiden
helfen.
Unser Gesetzentwurf verpflichtet Ärzte, vor, während
und nach der Pränataldiagnostik medizinisch zu beraten. Für die Eltern - das sagte schon Frau Griese - ist
eine solche Diagnose ein schwerer Schock. Wir Frauen
können uns das sicher persönlich sehr gut vorstellen.
Deshalb soll der Arzt dafür sorgen, dass ein Angebot
zur psychosozialen Beratung gemacht wird. Zusätzlich
soll er darauf hinwirken, dass die Schwangere die Beratung auch wahrnimmt.
Diese Beratung dient dem Schutz des ungeborenen
Lebens und der Schwangeren. Dazu gehört natürlich
auch das Angebot vielfältiger Hilfen für ein Leben mit
einem Kind, das eine Behinderung hat. Die Beratung
soll durch erfahrene und entsprechend ausgebildete Beraterinnen erfolgen. Dazu ist ausreichend Zeit erforderlich, die auch in unserem Gesetzentwurf vorgesehen ist.
({1})
Die Feststellung nach § 218 a Abs. 2 Strafgesetzbuch
soll nicht vor Ablauf einer Frist von drei Tagen nach der
Beratung durch den Arzt erfolgen. Wenn Gefahr für Leib
und Leben der Schwangeren besteht und ein sofortiger
Abbruch vorgenommen werden muss, gilt diese Frist natürlich nicht.
In der Begründung unseres Gesetzentwurfes betonen
wir, dass die werdende Mutter neben dem Recht auf
Wissen auch ein Recht auf Nichtwissen hat. Das haben
wir schon in einem Fraktionsantrag in der letzten Legislaturperiode dargelegt. Die werdende Mutter soll selbst
entscheiden, ob sie sich dem heute medizinisch möglichen Untersuchungsmarathon unterziehen will. Frau
Humme hat schon darauf hingewiesen. Wir haben Vertrauen in die umfassende medizinische Beratung des behandelnden und die Indikation feststellenden Arztes, in
die psychosoziale Beratung durch dazu ausgebildete
Beraterinnen und in die Entscheidungsfähigkeit der
Schwangeren.
({2})
Deshalb sprechen wir uns gegen eine Beratungspflicht
für die Frau aus.
({3})
Im Gesetzentwurf Singhammer ist unter anderem eine
Verdoppelung der Strafe für Ärzte vorgesehen, wenn sie
Dokumentationspflichten nicht nachkommen. Das halten wir für entbehrlich. Das würde auch das Problem
nicht lösen.
({4})
Frau Humme, in Ihrem Antrag schlagen Sie eine
untergesetzliche Regelung vor, nach der die 16 Ärztekammern der Länder Richtlinien für verbindliche Informationen schaffen sollen. Meines Erachtens ist das nicht
praktikabel. Vielleicht können Sie da noch einen anderen
Vorschlag entwickeln.
Am 16. März nächsten Jahres wird es im Bundestag
eine Anhörung von Experten und Expertinnen zu den
vorliegenden Anträgen und Gesetzentwürfen geben. Wir
laden Sie alle, nicht nur die familien- und frauenpolitischen Sprecherinnen, ein, an dieser Anhörung teilzunehmen. Wir werden ausreichend Zeit haben, alle Vorschläge einer gewissenhaften Überprüfung zu
unterziehen. Das haben wir auch in der Arbeitsgruppe,
die den Gruppenantrag entwickelt hat, so verabredet und
beschlossen. Ich hoffe auf gute und ernsthafte Beratungen. Angriffe persönlicher oder parteipolitischer Natur
sollten wir bei den anstehenden Beratungen unterlassen.
Vielen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Ich spreche für den Gruppenantrag von 50 Abgeordneten der Linken. Er beruht auf der
einstimmig beschlossenen Position des Frauenplenums
meiner Fraktion. Natürlich wollen wir partnerschaftliche
Entscheidungen. Aber in der Realität greift eine
Schwangerschaft oder auch ihr Abbruch vor allem in das
Leben von Frauen ein. Deshalb ist uns Linken ihr Votum
in dieser sensiblen Frage besonders wichtig.
Der eigentliche Grundkonflikt der heutigen Debatte
muss ehrlich benannt werden: Trauen wir als Gesetzgeber Schwangeren zu, mit Unterstützung ihrer Ärztinnen
und Ärzte selbstbestimmt eine verantwortungsvolle
Entscheidung zu fällen? Das bejaht unser Antrag und
auch der Antrag von Kollegin Humme und Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern.
Die drei Gesetzentwürfe dagegen setzen Frauen und
Ärzteschaft mehr oder weniger unter Generalverdacht
und fordern eine Verschärfung der staatlichen Kontrolle bei Schwangerschaftsabbrüchen mit medizinischer Indikation. Dabei hat die Bundesrepublik bereits
seit 1995 eine der EU-weit restriktivsten gesetzlichen
Regelungen. Schwangerschaftsabbrüche sind grundsätzlich rechtswidrig und nur unter bestimmten Bedingungen nicht strafbar.
Das widerspricht übrigens internationalen Erfahrungen. So haben die Niederlande trotz liberaler Regelungen
seit 20 Jahren deutlich weniger Schwangerschaftsabbrüche je tausend Lebendgeborene als wir. Die Vorgängerinnen meiner Fraktion haben seit dem Jahr 1990 deshalb
immer wieder die ersatzlose Streichung des § 218 geDr. Kirsten Tackmann
fordert. Es ist für mich als frauenpolitische Sprecherin
bitter, diese restriktiven Regelungen heute gegen weitere
Verschärfungen verteidigen zu müssen.
({0})
Das zeigt, dass wir in der gesellschaftlichen Debatte zum
Selbstbestimmungsrecht von Frauen nicht weitergekommen sind, im Gegenteil.
({1})
Selbst im 1995er-Gesetzgebungsverfahren wurde bei
Schwangerschaftsabbrüchen mit medizinischer Indikation ausdrücklich auf ein normiertes und formalisiertes
Beratungserfordernis verzichtet. Diese Gesetzeslage soll
mit diesen drei Gruppenanträgen jetzt korrigiert werden.
Damit setzen sie genau an der Stelle auf gesetzgeberischen Druck, wo nach unserer Überzeugung Vertrauensbildung, Information und Unterstützung dringend erforderlich und auch erfolgreich sind.
Pro Familia schrieb dazu gestern:
Alle vorgeschlagenen Änderungen des Schwangerschaftskonfliktgesetzes … richten sich gegen Frauen
und Paare und werden keinen Schwangerschaftsabbruch nach medizinischer Indikation verhindern, sie
richten sich auch gegen die Ärzteschaft.
Interessant ist, womit sich die drei Gesetzentwürfe
nicht befassen. Der Sinn vorgeburtlicher Untersuchungen und ihre Risiken spielen keine Rolle, aber die
Verwendung der Information soll eingeschränkt werden.
Die Defizite bei der Integration behinderter Menschen und ihrer Familien in die Gesellschaft werden ausgeblendet, aber diese Defizite sind Teil der seelischen
Notsituation.
Genau an diesen Stellen setzt unser Antrag an. Wir
fordern unter anderem einen Rechtsanspruch auf medizinische und psychosoziale Beratung, und zwar kostenfrei und flächendeckend erreichbar.
({2})
Vor jeder vorgeburtlichen Untersuchung muss das
Recht auf informierte Einwilligung, auf Nichtwissen
oder nur therapierelevante Informationen gesichert werden. Das steht übrigens auch im aktuellen Schattenbericht zur UN-Frauenrechtskonvention.
({3})
Nach einem Befund muss das Recht auf eine umfassende, vertrauensvolle und ergebnisoffene medizinische
und psychosoziale Beratung gelten. Dies muss - was oft
vergessen wird - auch nach einem Schwangerschaftsabbruch gelten. Ärztinnen und Ärzte, Krankenhauspersonal und Hebammen brauchen spezifische Fort- und Weiterbildung. Ferner fordern wir die wirkungsvolle und
vollumfängliche Umsetzung der UN-Konvention über
die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind für uns unverzichtbare Bestandteile der Lösung von Schwangerschaftskonflikten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Renate Schmidt.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Eltern, bei deren Kind in der 20. Schwangerschaftswoche ein Downsyndrom festgestellt wurde, haben mir Folgendes geschrieben:
Der diagnostizierende leitende Oberarzt an der Uniklinik war sicher fachlich hochkompetent. Menschlich war er der Problematik nicht gewachsen und
konnte uns auch nicht außer-medizinisch beraten.
Es war eine Katastrophe. Gott sei Dank ließen wir
uns von den mit der Diagnose einsetzenden Automatismen ({0}) und
unseren Gefühlen nicht überrumpeln und durften
glückliche Eltern werden. Leicht wird einem dies
nach geltendem Recht nicht gemacht. Vielen hilft in
der schweren Situation der Enttäuschung, Zukunftsangst und Trauer sicher schon ein Funken
Hoffnung.
Das war ein Auszug aus einer der vielen Zuschriften,
die mich erreicht haben.
Um diese Hoffnung geht es, wieder zu sich zu kommen - in einer Situation, in der die betroffenen Frauen
und die Eltern außer sich sind. Es geht um Beratung
und Hilfe im umfassenden Sinne. Es geht um ausreichend Zeit für die Entscheidungsfindung. Nur wenn sich
die Frau, die Eltern gut informiert und unterstützt fühlen,
können sie zu einer Entscheidung kommen, mit der sich
auch langfristig gut leben lässt. Es geht darum, der Frau,
den Eltern zu helfen, den für sie gangbaren Weg zu finden. Es geht darum, sich der schleichenden, verdeckten
Wiederkehr der embryopathischen Indikation zu widersetzen. Es geht darum, dass Eltern mit Blick auf ihr behindertes Kind nicht mehr gefragt werden, ob das denn
sein musste. Mit „das“ sind liebenswerte, lebensfrohe
Kinder gemeint. Um sie, um ihre Väter und Mütter geht
es.
({1})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ist medizinische,
psychosoziale, das Leben mit Behinderten beinhaltende
Beratung, auf die es schon heute einen Anspruch gibt,
nicht eigentlich selbstverständlich? Leider nein. Dies
zeigen Untersuchungen zum Beispiel der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die zu dem Ergebnis kommen, dass die medizinische Information bei der
Pränataldiagnostik überwiegend als gut, die umfassende
Renate Schmidt ({2})
psychosoziale Beratung mehrheitlich als schlecht bzw.
als nicht vorhanden bewertet wird. Dies zeigen Schilderungen von Betroffenen, die in ihrer Not alleingelassen
wurden. Dies zeigen mir auch die vielen positiven Reaktionen von Kirchen, Verbänden und einzelnen Betroffenen auf unsere Gesetzesinitiative. Denn dort, wo
schwere psychische Beeinträchtigungen wegen der Erwartung eines behinderten Kindes eine medizinische Indikation rechtfertigen, ist heute guter Rat buchstäblich
teuer. Dies heißt, er ist allzu häufig schlicht und einfach
nicht vorhanden.
Es wird Zeitdruck erzeugt, wo es ihn nicht gibt. Es
wird die Zeit zu trauern nicht gegeben, wenn es sich um
ein nicht lebensfähiges Kind handelt. Zu selten wird in
solchen Fällen überlegt, ob nicht das Fortsetzen der
Schwangerschaft für die Mutter, für das Kind, für die Familie das Beste wäre. Aber es geht nicht nur um diese
Spätabtreibungen, sondern auch um die mehreren Tausend zum Beispiel in der 16. Woche Schwangeren, bei
deren Kind zuvor ein Downsyndrom festgestellt wurde.
Ich unterstütze - vielleicht etwas ungewöhnlich zwei der Gruppengesetzentwürfe und werde auch dem
Forderungsteil des Antrags von Christel Humme zustimmen, weil ich den im Mutterpass verankerten Beratungsanspruch für ebenso dringend notwendig halte wie, um
nur zwei Dinge herauszugreifen, die Beratung vor der
Pränataldiagnostik, wie sie im Entwurf des Gendiagnostikgesetzes vorgesehen ist. Ich unterstütze zwei Gesetzentwürfe, weil ich die Hoffnung habe, dass wir am
Schluss nach der Anhörung doch noch zusammenkommen und einen gemeinsamen Gesetzentwurf verabschieden. Das wäre auch und gerade bei einem solchen
Thema kein Umfallen, zumal wir bei unseren Zielen
wahrhaftig nicht so weit entfernt voneinander sind: nämlich Müttern, Eltern in einer extremen Notsituation die
bestmögliche Beratung und die Zeit zu bieten, um zu einer eigenen, selbstverantworteten Entscheidung zu kommen.
({3})
Um das zu erreichen, sollten wir mit gegenseitigen
Unterstellungen aufhören. Weder wird im Gesetzentwurf
von Johannes Singhammer Schwangeren in irgendeinem
Punkt Leichtfertigkeit unterstellt, noch wird ihnen eine
irgendwie geartete neue Pflicht aufgebürdet, noch wird
gar § 218 StGB geändert. Im Gegenteil: Nicht die
Schwangeren werden verpflichtet, sondern die Ärzte. Es
ist auch kein Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht
der Frauen geplant. Im Gegenteil: Durch Beratung wird
das Fundament für das Selbstbestimmungsrecht überhaupt erst geschaffen.
({4})
Selbstverständlich soll und wird die Schwangere nach
wie vor selbst entscheiden und kann nach diesem Gesetzentwurf jedwede Beratung ablehnen.
In meiner Rede kommt das Wort „Hoffnung“ häufig
vor. Hoffnung hat mit unserem Thema sehr viel zu tun.
Schwanger sein bedeutet, guter Hoffnung zu sein. Deshalb sollte manch unsinnige Pränataldiagnostik unterbleiben.
({5})
Ich wünsche mir ein sehr deutlich verankertes Recht auf
Nichtwissen im Gendiagnostikgesetz.
({6})
Ich hoffe, dass wir diese Debatte zum Anlass nehmen,
das Leben mit behinderten Kindern weiter zu erleichtern. Dazu gehören mehr Ansprechpartner und konkrete
Hilfen für die betroffenen Familien. Dazu gehört das
Einbeziehen statt des Ausgrenzens von Behinderten.
Dazu gehört aber vor allem ein Klima in unserer Gesellschaft, das zeigt, dass wir nicht nur auf Leistung und Gewinnstreben setzen, sondern vor allen Dingen auf
Menschlichkeit und Mitgefühl.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard ScheweGerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die heutige Debatte zum Thema späte Schwangerschaftsabbrüche zeigt, dass sich dieses Thema nicht für
laute Töne eignet. Es eignet sich aber auch nicht für
Unterstellungen, nicht gegenüber den Frauen, die sich
seit mehr als 20 Wochen auf ihr Kind freuen und eben
nicht leichtfertig und verantwortungslos einen Abbruch
durchführen lassen,
({0})
aber auch nicht für Unterstellungen gegenüber den Ärztinnen und Ärzten, die die Frauen angeblich zu einer
schnellen Abtreibung drängen, sobald sie bei einem Embryo eine Behinderung erkennen, und die den Frauen angeblich eine Psychose bescheinigen, um die medizinische Indikation zu rechtfertigen, während das Klinikbett
schon bereitsteht.
Ein Arzt, der einen Schwangerschaftsabbruch allein
wegen einer Behinderung des Embryos vornimmt,
macht sich strafbar, verehrte Kollegin Griese.
({1})
Sie wissen: Es gibt auf dieser Welt kein diesbezügliches
Gesetz, gegen das nicht verstoßen wird. Hier ist die
Strafverfolgung gefragt. Hier helfen keine neuen Gesetze, die eine Bedenkzeit vorsehen oder die Pflicht des
Arztes, auf die psychosoziale Beratung hinzuweisen, wie
es in dem Gesetzentwurf von Herrn Singhammer, Renate
Schmidt und anderen steht.
Im Übrigen ist die Bedenkzeit längst Realität. Zwischen dem Befund, der psychosozialen Beratung und der
vorgeschriebenen Zweitdiagnose entsteht Bedenkzeit,
oft mehr als drei Tage. Ich frage mich auch, woher das
große Misstrauen gegenüber den Ärzten und Ärztinnen
kommt. Ihnen wird unterstellt, auch in dem Gesetzentwurf, sie würden einen Abbruch allein wegen eines pathologischen fetalen Befundes vornehmen und - noch
schlimmer - sie würden die Statistik fälschen, indem sie
den Abbruch durch einen Fetozid als Totgeburt und nicht
als Schwangerschaftsabbruch dokumentieren. Was bedeutet es eigentlich für die ärztliche Schweigepflicht,
wenn eine Pflicht zur Dokumentation von Inhalt und
Umfang des Gesprächs sowie eine Offenlegung aller Daten vor einer noch zu bestimmenden Behörde unter Bußgeldandrohung beschlossen wird?
({2})
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Maßnahmen belasten die Frauen zusätzlich in ihrer schwierigen
Situation, statt ihnen zu helfen, und sie zerstören das
ärztliche Vertrauensverhältnis.
({3})
Nun wird vorgetragen, bei einem Abbruch vor der
zwölften Woche gebe es doch auch eine Pflichtberatung,
und das wolle man, was logisch sei, nur ausweiten. Wer
so argumentiert, verkennt, dass in den ersten zwölf Wochen die Entscheidung über einen Abbruch allein bei der
Frau liegt. Da geht es um das Selbstbestimmungsrecht.
Die medizinische Indikation hingegen ist daran gebunden, dass das Leben der Mutter aus medizinischen oder
psychosozialen Gründen gefährdet ist, und das ist nun
wirklich keine Frage der Beratung.
({4})
Daher widerspricht die Beratungspflicht geradezu den
Vorgaben für eine medizinische Indikation, über die in
vielen Kliniken im Übrigen Ethikkommissionen entscheiden, manchmal auch gegen Entscheidungen, die
vorgelegt worden sind.
Den Vorwurf, dass Kindern mit Behinderung das Lebensrecht abgesprochen wird, kann ich nicht teilen; denn
viele Kinder wären außerhalb des Mutterleibes nicht lebensfähig; Frau Humme hat vorhin darauf hingewiesen.
Laut einer Befragung von zwei Unikliniken trifft das auf
80 Prozent dieser Fälle zu.
Ich sehe bei der medizinischen Indikation keinen gesetzlichen Handlungsbedarf. Im Gendiagnostikgesetz,
das die Grünen vor zwei Jahren vorgelegt haben, sind
Beratungen vor und nach der pränatalen Diagnostik vorgesehen. Es ist notwendig, die Qualität der Beratung zu
verbessern. Die Schwangeren haben schon heute einen
Rechtsanspruch auf psychosoziale Beratung. Das muss
deutlicher verankert werden. Das kann aber im Rahmen
der Mutterschutzrichtlinien geschehen, wie es im Antrag von Christel Humme und anderen vorgesehen ist.
Ich werbe um Zustimmung für diesen Antrag.
Ich komme zum Schluss. Der Schwangerschaftsabbruch ist, wenn es sich um ein Wunschkind handelt, zumal so spät, für jede Frau ein qualvoller Schritt. Das
macht keine Frau leichtfertig. Diese Frauen haben während und nach der Entscheidung unseren Respekt verdient, genauso wie diejenigen, die sich für eine Fortsetzung der Schwangerschaft entscheiden. Diesen Respekt
vermisse ich im Antrag der CDU/CSU.
Vielen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin GöringEckardt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! In der bestimmt unverdächtigen taz, die tageszeitung, steht heute in einem Artikel - ich zitiere -:
Die 36-jährige Leipzigerin hat gegoogelt, hat gelesen. Herzfehler, Organfehler, vergrößertes Kleinhirn, Fehlbildungen der Extremitäten. Viele Kinder
sterben vor der Geburt, die meisten Überlebenden
erreichen ihren ersten Geburtstag nicht. Die Gynäkologin sagte, dass es die Möglichkeit der Spätabtreibung gibt.
Etwas später:
Allein entscheiden. Dass es Beratungsstellen gibt,
die einen auf diesem Weg begleiten, erwähnte die
Frauenärztin erst, als Jutta Gelhaus sie fragte.
Das ist ganz offensichtlich Realität. Es ist Realität,
auch wenn Gesetze und Richtlinien etwas anderes vorsehen. Heute geht es um die Frage, ob wir etwas anderes
vorschreiben, ob wir deutlich machen, was wir wollen,
und ob wir über die Gesellschaft, in der wir leben wollen, anders reden als bisher. Das hat nichts mit staatlicher
Einmischung in höchst persönliche Fragen zu tun, sondern mit staatlicher Einmischung in eine zutiefst gesellschaftliche Frage.
Wir können heute entscheiden, ob wir den Familien,
bei deren Kind Downsyndrom diagnostiziert wird, schon
vor der Geburt sagen: Ja, wir wollen euch. Vor dieser
Entscheidung stehen wir; sie können wir treffen. Ja, es
geht um bessere Rahmenbedingungen und um mehr und
qualifizierte Beratung. Darüber reden wir seit vielen Jahren in unterschiedlichen Regierungskonstellationen. Die
Situation ist dennoch immer noch genau so, wie sie hier
beschrieben ist.
Es geht nicht um Misstrauen gegenüber den Frauen.
Herr Singhammer hat das hier ganz ausdrücklich gesagt.
Wir können heute auch zum Ausdruck bringen, wie ernst
wir uns eigentlich untereinander nehmen. Die Unterstel21160
lung gegenüber Herrn Singhammer bewirkt erst, dass
Frauen etwas unterstellt wird. Ich finde das falsch; wir
sollten das lassen.
({0})
Ja, es geht um Wunschkinder, und es geht nicht um
Misstrauen gegenüber den Frauen. Es geht aber auch um
die Situation, in der sich Ärztinnen und Ärzte befinden,
die zutiefst verunsichert sind, die das Richtige tun wollen, die Sorge vor Klagen haben etc. Auch hier geht es
um etwas, bei dem wir nicht sagen können, dass nicht
sein kann, was nicht sein darf, sondern wir anschauen
müssen, was ist. Es geht nicht allein um Zahlen, mit denen hier jongliert wird, sondern es geht vor allem um
Menschen, denen wir wirkliche Unterstützung gewähren
müssen. Es geht um die Gesellschaft, in der wir leben
wollen.
Ich will in einer Gesellschaft leben, in der zukünftige
Mütter und Väter, die eine so schwere Diagnose bekommen, gesagt bekommen können: Ihr habt jetzt Zeit, in aller Ruhe zu entscheiden. Ihr habt jetzt Zeit, diesen Weg
zu gehen, der schwer für euch wird. Ich kann euch als
Ärztin oder Arzt medizinisch beraten, es gibt eine Beratungsstelle, bei der ihr Hilfe findet; ich rufe dort für euch
an und mache einen Termin aus. Ihr seid gerade in einer
großen Notsituation, und das ist ein schwerer Weg. Lasst
euch Zeit dafür. Wir werden alles dafür tun, dass ihr in
Ruhe entscheiden könnt. Diese Gesellschaft wird alles
dafür tun, dass ihr mit einem Kind, egal wie es ist, gut leben könnt. Darauf kommt es an.
Vielen Dank.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Laurischk.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befassen uns heute mit einer Fragestellung, die immer wieder zu sehr grundsätzlichen Diskussionen führt und sich
sicherlich nicht für eine kontroverse Diskussion eignet.
Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber in
seiner Entscheidung vom Mai 1993 aufgegeben, sich aus
Gründen des Schutzes des ungeborenen Lebens um die
weitere Entwicklung seines Konzepts zu kümmern, es
im Auge zu behalten und gegebenenfalls Korrekturen
daran vorzunehmen. Wir haben nicht vor, den § 218 zu
ändern. Diese sehr grundsätzliche Aussage ist aus Sicht
der FDP notwendig, und sie entspricht auch unserem
Selbstverständnis.
({0})
Die Diskussionen über das Thema Spätabtreibungen
erfordern allerdings auch eine Antwort des Bundestages.
Ich möchte insbesondere darauf hinweisen, dass es sich
bei sogenannten Spätabtreibungen, also bei Abtreibungen ab der 23. Schwangerschaftswoche, im Verhältnis
zur Gesamtzahl der Abtreibungen glücklicherweise nur
um wenige Fälle handelt; im letzten Jahr gab es wohl
229 solcher Fälle. Es handelt sich also um eine ganz spezielle Fragestellung.
Es geht um eine Situation, in der die Eltern, insbesondere aber die schwangeren Frauen, aufgrund der medizinischen Möglichkeiten vielleicht zum ersten Mal und auf
sehr dramatische Weise mit der Frage konfrontiert werden, wie sie als Eltern und als Mütter mit dieser großen
Belastung und mit dieser Konfliktlage umgehen. Hier ist
ein schneller Prozess weder möglich noch sinnvoll. Es
ist notwendig, dass eine Frau in dieser Situation nachdenken kann und dass sie die Zeit und die Möglichkeit
hat, Beratung zu finden. Das ist das Anliegen, das wir,
Abgeordnete der FDP-Fraktion, mit unserem Gesetzentwurf verfolgen.
Wir wollen, dass eine Frau, die nicht in der Situation
einer Abtreibung ist, sondern vor einer Geburt steht
- nichts anderes ist eine sogenannte Spätabtreibung -,
weiß, worüber sie entscheidet, wie sie die weitere Entwicklung verkraften kann, wie sie Abschied nehmen
kann, wie sie mit der Möglichkeit, dieses Kind zu bekommen, umgehen kann, wie sie vielleicht auch damit
umgehen kann, ein Kind, das nicht lebensfähig sein
wird, auszutragen und von ihm Abschied zu nehmen.
Bei dieser Frage geht es auch um eine Problematik,
die vielleicht noch zu wenig bekannt ist: Wie geht es
weiter, nachdem ein behindertes Kind, das lebensfähig
ist, geboren wurde? Ist es für die Mutter vielleicht möglich, es nach der Geburt abzugeben? Ich weiß, dass es
Pflegeeltern gibt, die schwerbehinderte Kinder aufnehmen. Sie stehen vor der Tatsache, dass sie eine geringere
Vergütung bekommen als Pflegeeltern, die ein - in Anführungszeichen - „nur“ psychisch behindertes Kind zur
Pflege haben. Wir müssen uns fragen: Wie soll mit behinderten Kindern, über die in einer Konfliktlage entschieden worden ist, umgegangen werden?
Wir brauchen eine gute psychosoziale Beratung. Ich
glaube, es ist auch für Ärzte durchaus eine Entlastung,
zu wissen, dass dann, wenn sie eine medizinische Indikation stellen, noch eine zusätzliche Beratung angeboten
werden kann. Nichts anderes wollen die Abgeordneten
der FDP, die diesen Gesetzentwurf vorlegen.
({1})
Wir werden eine Anhörung zu der sehr grundsätzlichen Frage durchführen, wie wir mit den verschiedenen
Vorschlägen umgehen, und verschiedene Fachleute anhören. Ich hoffe, dass wir zu einer gemeinsamen Entscheidung kommen werden, sowohl im Interesse der
Frauen, der Kinder und der Ärzte als auch im Interesse
einer humanen Gesellschaft.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Knoche.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und
Damen! Wir sprechen über eine Konfliktsituation in einer weit fortgeschrittenen Schwangerschaft. Was meine
Vorrednerinnen deutlich zum Ausdruck gebracht haben,
ist, dass sich die Frauen, um die es hier geht, bereits für
dieses Kind entschieden haben und ein Leben mit dem
Kind erwarten, das ihnen Glück, Zuversicht und Lebensfrohheit verspricht.
Die Tatsache, dass sie eine Diagnose erhalten haben,
die beinhaltet, dass das Kind mit Behinderungen - vielleicht mit beträchtlichen und nicht mit dem Leben zu
vereinbarenden Behinderungen - geboren werden soll,
kann sie in tiefe Konflikte stürzen; das kann jeder
Mensch nachvollziehen. Ich befasse mich schon sehr
lange mit medizinischen, frauenrechtlichen und ethischen Fragen, und ich bin wirklich der Überzeugung,
dass es der falsche Weg ist, die Rechtsposition der
Frauen in einem späten Schwangerschaftskonflikt noch
mehr einschränken zu wollen.
Die Beratungspflicht und eine weitere Bedenkzeit
sind - das ist objektiv - ein juristisches Zwangsinstrument, durch das kein Problem, das die schwangere Frau
hat, gelöst werden kann. Im Gegenteil: Dadurch wird ein
Problem individualisiert, das aber in Wirklichkeit ein
Problem aufgrund eines strukturell falschen Familienidylls und eines falschen Behindertenbildes ist. Hier
möchte ich die Ausführungen von Frau Schmidt ausdrücklich unterstützen.
Im tatsächlichen Leben haftet die Frau für die Gesundheit und das Wohl des Kindes. Ihr werden die ganze
Last und die Lebensleistung auferlegt, die durch das
Leben mit einem Kind abverlangt werden. Wir haben
keine frauen-, familien- und behindertenfreundliche
Gesellschaft. Durch weitere Restriktionen kann man es
überhaupt nicht leisten, dies aufzulösen. Das ist ein falsches Herangehen.
Es gibt den § 218 StGB in seiner sogenannten reformierten Form. Konnte dadurch aber wirklich dazu beigetragen werden, dass das allgemeine Menschenbild behindertenfreundlich geworden ist und dass von einem
gewissen Nützlichkeitsbild abgegangen worden ist? Ich
kann diese Beobachtung nicht machen. Die Abschaffung
der embryopathischen Indikation hat dazu geführt, dass
die medizinische Indikation sozusagen stellvertretend
für sie in Kraft tritt.
Darüber hinaus bringt diese medizinische Indikation
die Frau aber eben gerade nicht in die Position, dass sie
nach bzw. mit Beratung eine eigenverantwortliche Entscheidung treffen darf, sondern Tatsache ist, dass der
Arzt alleine entscheidet, ob die Frau seelisch und körperlich in der Lage ist, diese Schwangerschaft fortzuführen
oder nicht. Er kann sich - das beinhaltet jede medizinische Indikation - auch dagegen aussprechen. Ich kann
nicht sehen, dass der Arzt besser darüber Bescheid wissen und entscheiden kann, was das Leben einer Frau mit
einem Kind mit Behinderungen mit sich bringt, als die
Frau selbst.
Die medizinische Indikation hat uns in dem Problembereich der Spätabtreibung keinen Fortschritt gebracht,
sondern die Rechtsposition der Frauen wurde eingeschränkt. Das widerspricht meinem Verständnis vom
Menschenrecht der Frauen in der Schwangerschaft und
bei Fortführung der Schwangerschaft.
Es ist unverkennbar, dass die Diagnose über den Fötus ihr gesamtes Leben vor große und unlösbar erscheinende Probleme stellen kann. Was ich aber nicht unterstreichen kann, ist, den Gesundheitszustand des Fötus
letztlich zum Krankheitsbild der Frau zu erklären. Das
ist ein Problem, das wir anerkennen müssen und das
durch die Reform des § 218 StGB entstanden ist.
Sehr unterstreichen möchte ich - das zeigt auch Lebenserfahrung -, dass es viel Glück und Zufriedenheit
durch das Leben mit einem Kind geben kann, das anders
ist und eine andere Art der Zuwendung und Fürsorge
braucht als andere. Wir sollten alles daransetzen, das
Bild zu vermitteln, dass Leben nicht normierbar ist, sondern anders und trotzdem erfüllt und glücklich sein kann nicht nur für die Eltern, sondern auch für das Kind
selbst.
Ich bin davon überzeugt, dass das eine Aufgabe ist,
die mit den Anträgen, die hier vorliegen und mit denen
weitere Restriktionen geschaffen werden, auf gar keinen
Fall erfüllt werden kann.
Stützen wir Frauen! Verändern wir das Bild über das
Leben von Behinderten! Realisieren wir, dass ein realistisches Bild über Familienglück besser ist als Kleinfamilien- und Reihenhausidylle wie aus einer Werbebroschüre. Sagen wir, wie das Leben ist und dass es ein
Glück sein kann, mit einem Kind mit Behinderung zu leben.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Ilse Falk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Angesichts dieser schwierigen Diskussion um alles, was
sich hinter dem Begriff Spätabtreibung oder Spätabbrüche verbirgt, träume ich in der Tat manchmal von der guten alten Zeit und der Gnade des Nichtwissens. Als ich
schwanger war - zugegebenermaßen ist das schon eine
ganze Weile her -, gab es noch keine Ultraschalluntersuchungen und keine Pränataldiagnostik. Ich wusste weder, ob es ein Mädchen oder ein Junge würde, noch hatte
uns irgendein Arzt vorher gesagt, dass das erste Kind
zwei Kinder sein würden. Ich war einfach „guter Hoffnung“ - eigentlich ein wunderschöner altmodischer Ausdruck - und hatte neun Monate Zeit, Mutter zu werden,
ohne dass mich Gedanken gequält hätten, dass das Kind
vielleicht nicht vollkommen sein könnte.
Heute sind werdende Mütter und Väter mit Segen und
Fluch moderner Diagnosemöglichkeiten konfrontiert.
Einerseits kann ihnen mithilfe der Pränataldiagnostik
Sicherheit gegeben werden, dass wohl alles in Ordnung
ist. Andererseits kann sich aber auch ein Abgrund auf21162
tun, wenn die Untersuchungen ergeben, dass etwas mit
dem Kind nicht stimmt. Hier kann sich die frühzeitige
Diagnostik in Verbindung mit moderner Medizin dann
als Segen erweisen, wenn solche Befunde eine bereits
vorgeburtliche Behandlung ermöglichen. Was aber ist,
wenn sich der Verdacht auf eine geistige oder körperliche Behinderung des Kindes bestätigt, kein medizinischer Eingriff helfen kann und die Schwangere und ihr
Partner vor der Frage stehen: Bin ich, sind wir stark genug, dieses Kind willkommen zu heißen?
Eine weitere Frage, die sich aus den Möglichkeiten
der Gendiagnostik ergibt, müssen wir unbedingt noch im
Zusammenhang mit dem Gendiagnostikgesetz klären:
Wollen wir wirklich, dass die Disposition für eine spätmanifestierende Krankheit bereits vorgeburtlich ermittelt wird,
({0})
wohl wissend, dass unweigerlich ein weiterer Abwägungsprozess darüber eröffnet würde, ob ein Kind eine
Lebenschance bekommt, wenn bei ihm im Erwachsenenalter eine schwere Krankheit ausbrechen könnte?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da ich die Zeit weder zurückdrehen will noch kann, müssen wir uns damit
auseinandersetzen, wie wir verantwortungsvoll mit Wissen umgehen, Wissen, das den Blick auf ein zugedachtes
Schicksal zulässt und damit zugleich die Möglichkeit eröffnet, es noch zu beeinflussen - das hat es so noch nie
gegeben.
Angesichts dieses ungeheuren Konflikts, in den werdende Eltern gestürzt werden können, hält der Gesetzgeber eine vitale Bedrohung des Lebens der Mutter für
realistisch und erkennt die vom Arzt festgestellte medizinische Indikation als Rechtfertigung für einen Schwangerschaftsabbruch nach der 12. bzw. sogar nach der
22. Woche an, wenn also das Kind bereits außerhalb des
Mutterleibes lebensfähig wäre. Es geht also für die werdende Mutter, die werdenden Eltern nicht nur um eine
Entscheidung über Leben und Tod, sondern auch um
eine Entscheidung, die, egal wie sie getroffen wird, ihr
zukünftiges Leben begleiten wird, zumal es sich im Unterschied zu einer Abtreibung vor der 12. Woche in aller
Regel um ein Wunschkind handelt, das voller Freude erwartet wird.
Wie also können Eltern in dieser schwierigen Konfliktsituation so unterstützt werden, dass sie eine gute
und verantwortungsvolle Entscheidung treffen können,
die auch wirklich ein Leben lang trägt? Um Antworten
auf diese Fragen ringen wir seit vielen Monaten, um
nicht zu sagen Jahren. Ich denke, es ist wichtig und gut,
dass die drei vorliegenden Gesetzentwürfe in ihrer Zielsetzung zum gleichen Ergebnis kommen: Frauen und ihren Partnern soll in einer psychischen Ausnahmesituation wirkungsvoller als bisher Beratung und Hilfe
angeboten werden. Die Unterzeichner dieser Entwürfe
sind sich einig, dass eine Gesetzesänderung dazu beitragen kann. Über den Weg hin zu diesem gemeinsamen
Ziel diskutieren wir zwar noch, aber ich bin zuversichtlich, dass wir ihn finden werden.
Entscheidend für mich ist, dass die Schwangeren und
ihre Partner in einer solchen existenziellen Konfliktsituation die Chance zum ausführlichen Gespräch mit ihrem Arzt oder ihrer Ärztin bekommen und Gelegenheit
haben, Fragen zu stellen und Antworten zu finden. Das
gilt sowohl in medizinischer als auch in psychosozialer
Hinsicht. Das kann Gespräche mit Fachärzten, aber auch
mit Beraterinnen in psychosozialen Beratungsstellen
oder erfahrenen Eltern bedeuten.
Dazu bedarf es der Aufklärung über die vielseitigen
Angebote an Beratung und konkreter Hilfe, die viel zu
oft nicht bekannt sind. Hierzu soll nach unserer Meinung
der Arzt oder die Ärztin, die die Diagnose stellen, verpflichtet und dafür auch mit umfassenden Materialien
ausgestattet werden. Die Schwangere kann das Angebot
annehmen, muss aber nicht.
Außerdem bedarf es einiger Zeit, um emotional und
intellektuell zu erfassen, dass das ungeborene Wunschkind möglicherweise behindert oder schwer krank sein
wird. Daher ist uns die Bedenkzeit von mindestens drei
Tagen nach der ärztlichen Beratung und vor der schriftlichen Feststellung der Indikation so wichtig.
Ein weiterer Punkt, der schon verschiedentlich angesprochen worden ist, ist auch mir wichtig. Ob sich Eltern
ein Leben mit einem behinderten Kind zutrauen, hängt
ganz entscheidend auch von der Einstellung der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderungen ab. Ich
denke, dabei haben wir in allen gesellschaftlichen Bereichen noch Nachholbedarf, damit volle Teilhabe möglich
wird. Wir müssen ein Signal aussenden, dass auch oder
gerade das Leben mit Kindern mit Behinderungen glücklich und erfüllt ist. Wir dürfen uns nicht damit begnügen,
das pflichtgemäß zu bekräftigen, sondern müssen dazu
bereit sein, ganz konkret die Rahmenbedingungen dafür
zu verbessern.
({1})
Wenn es uns gelingt - was ich hoffe -, gemeinsam Verbesserungen zur Unterstützung werdender Eltern in
schwierigster Konfliktsituation auf den Weg zu bringen,
dann sollten wir umso mehr ihre gut bedachte Entscheidung akzeptieren, auch wenn sie sich am Ende gegen das
Kind richtet.
Wie gesagt, ich selber bin dankbar, dass ich niemals
vor einer solchen Situation gestanden habe, und bin mir
mitnichten sicher, ob wir damals stark und lebensmutig
genug gewesen wären, uns auf ein Leben mit einem behinderten Kind einzulassen. Ich bewundere alle, die das
gegen eigene Zweifel und gegen Vorurteile anderer tun,
und danke ihnen, dass sie damit unsere Gesellschaft ein
Stück menschlicher machen.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Karin EversMeyer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als Behindertenbeauftragte begrüße ich ausdrücklich die
heutige Debatte über die sogenannten Spätabtreibungen.
Jede Abtreibung - ob mit oder ohne diagnostizierte Behinderung - ist eine gesellschaftliche und persönliche
Tragödie. Ich kenne keine Mutter, die eine solche Entscheidung leichtfertig trifft. Es ist eine sehr persönliche
Entscheidung, die bei den Eltern Spuren hinterlässt. Es
wäre nicht redlich, etwas anderes zu behaupten.
({0})
Die Zahl der Abtreibungen, auch die wegen medizinischer Indikation, sinkt seit Jahren. Werdende Eltern und
werdende Kinder haben ein Recht darauf, geschützt zu
werden. Deswegen gibt es diesen gesetzlichen Schutz.
Ein Arzt, der eine Abtreibung wegen der Behinderung
des Fötus vornimmt, macht sich strafbar. Die Rechtslage
könnte nicht eindeutiger sein.
({1})
Neben Schutz brauchen Eltern und Kinder aber auch
Beratung und Unterstützung. Die Ärzte haben auch
die Pflicht, zu beraten und auf unabhängige Beratungsstellen hinzuweisen. Wer das nicht tut, macht sich strafbar. Verantwortungsvolle Ärzte kommen dieser Pflicht
nach, weshalb sich hierbei aus meiner Sicht nicht die
Frage nach der Frist zwischen Diagnose und Abbruch
stellt. In der Regel vergehen mehrere Tage, zumal zwingend eine Zweitdiagnose durch einen zweiten Arzt erforderlich ist.
({2})
Das Problem sehe ich eher bei denjenigen, die ihrer
Verantwortung nicht nachkommen. Daher gibt es für
mich nicht in erster Linie einen gesetzlichen Handlungsbedarf, sondern eher einen faktischen. Die bestehende
Beratungspflicht muss ernster genommen werden.
({3})
Sie muss früher, besser und umfassender sein und bereits
vor der Diagnostik stattfinden. Es gibt nämlich auch ein
Recht auf Nichtdiagnose; das ist hier schon erwähnt
worden.
Behinderungen schließen ein erfülltes Leben nicht
aus. Das müssen Frauen wissen, und sie müssen die Hilfen kennen, die Medizin und Gesellschaft für dieses Ziel
bereithalten. Diese Hilfen wollen wir ausbauen. Mir ist
aber auch wichtig, dass wir an diesem Punkt der Debatte
ehrlich bleiben: Wenn Eltern trotz Beratung und Unterstützung sagen, das könnten sie psychisch und physisch
nicht, weil sie dazu die Kraft nicht hätten, dann dürfen
diese Eltern nicht an den Pranger gestellt werden.
({4})
Dies halte ich für ebenso unerträglich wie die Fälle, in
denen sich Familien geradezu dafür rechtfertigen müssen, wenn sie sich für ein behindertes Kind entschieden
haben.
({5})
Ich bin der Ansicht, dass diejenigen, die wie ich aus
eigener Erfahrung wissen, wie erfüllt ein Leben mit einem behinderten Kind sein kann, anderen Eltern Mut
machen sollten. Dies funktioniert nicht, wenn man jemanden zwingt, gesellschaftlich bloßstellt oder sich aufschwingt, besser als andere sein zu wollen. Deswegen
stehen für mich eine konsequente Umsetzung der bestehenden Beratungspflichten und eine Verbesserung der
Inhalte dieser Beratungen absolut im Vordergrund.
({6})
Dazu wollen wir Änderungen im Gendiagnostikgesetz
und in den Mutterschaftsrichtlinien vornehmen, die für
die Ärzte verbindlich sind.
Was darüber hinaus die Qualität des Antrags der Kollegin Humme und anderer ausmacht, ist die Tatsache,
dass er auch Antworten auf die Frage nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen liefert. Dies war
mir besonders wichtig; denn wenn wir die Eltern erreichen wollen, die sich heute nicht vorstellen können, ein
behindertes Kind großzuziehen, dann müssen wir die
Rahmenbedingungen deutlich verbessern.
({7})
Behindert zu sein, bedeutet in Deutschland nach meiner Erfahrung als Behindertenbeauftragte immer noch
einen mühsamen Kampf um Teilhabe sowie darum, ein
selbstbestimmtes Leben führen zu können. Dies beginnt
mit der mangelnden Frühförderung und der Suche nach
einem inklusiven Kindergarten. Es geht weiter mit behinderten Kindern, denen ein Platz in einer Regelschule
verwehrt wird, wie es aktuell wieder in Baden-Württemberg der Fall ist, und reicht bis hin zu Diskriminierung in
Alltag und Beruf. Mir liegen Berge von Eingaben vor.
Die endlose Auseinandersetzung mit Behörden, Krankenkassen und Sozialhilfeträgern ist die Realität, und
nicht zuletzt daran gehen die Familien kaputt. Übrigens
gehen manche davon aus, dass rund 80 Prozent der Ehen
mit behinderten Kindern geschieden werden.
({8})
Ich wünsche mir, dass wir diese sozialpolitischen Tatsachen mit der gleichen Energie und vielleicht auch mit
der gleichen Teilnehmerzahl wie das Thema Spätabtreibung diskutieren.
({9})
Dies, meine sehr geehrten Damen und Herren, tun wir
nach meiner Erfahrung eben auch nicht.
Der Antrag, für den ich mich entschieden habe, liefert
eine Reihe sehr konkreter Antworten auf die sozialen
Probleme von Menschen mit Behinderung. Ich hebe hier
noch einmal die Frühförderung hervor, die mir ganz
besonders am Herzen liegt. Nach der Geburt muss gleich
die Frühförderung beginnen, was aber in diesem Land
nicht funktioniert. Dazu führe ich viele Veranstaltungen
gemeinsam mit meiner Kollegin Helga Kühn-Mengel,
der Patientenbeauftragten, durch.
Ich hebe auch noch einmal den Anspruch auf Elternassistenz für behinderte Eltern hervor, den ich ebenfalls
seit langem fordere und daher sehr begrüße.
({10})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Eltern Mut machen, sich für ihr Kind zu entscheiden. Deswegen will ich keine neuen Pflichten und keine neuen
Fristen. Ich will nicht andere kritisieren oder anprangern,
sondern auf die Eltern zugehen und sie fragen, wie wir
ihnen in ihrer ganz persönlichen Situation während der
Schwangerschaft, aber auch danach helfen können. Wir
sollten in dieser Diskussion die Größe und die Kraft aufbringen, den Standpunkt des jeweils anderen zu akzeptieren. Dies wünsche ich mir zu Weihnachten gerade von
Ihnen, lieber Herr Kollege Hüppe.
Vielen Dank.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Marlies
Volkmer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer entscheidet, ob eine Frau körperlich und seelisch in
der Lage ist, ein behindertes Kind auszutragen, anschließend mit ihm zu leben und für dieses zu sorgen? Das entscheidet in letzter Konsequenz die betroffene Frau. Das
ist eine sehr schwierige Entscheidung, weil im Vorhinein
eine Entscheidung für eine Situation getroffen werden
muss, die man nicht beurteilen kann. Angesichts dessen
darf es nicht sein, dass dann, wenn bei einer vorgeburtlichen Untersuchung eine Behinderung des Kindes festgestellt wird, quasi ein Automatismus in Kraft tritt, dem
sich die Schwangere kaum entziehen kann.
({0})
Aus diesem Grund ist eine umfassende Information
und Beratung der Schwangeren zwingend erforderlich.
Ich gehöre zu denjenigen, die das gesetzlich regeln wollen. Ich unterstütze den Gesetzentwurf, den Kerstin
Griese initiiert hat.
Dem Arzt oder der Ärztin obliegt die umfassende medizinische Beratung, die Vermittlung an eine psychosoziale Beratungsstelle und, wo immer das möglich ist,
auch die Vermittlung an eine Selbsthilfegruppe; denn die
betroffene Frau und idealerweise auch deren Partner sollen die Möglichkeit haben, sich zu informieren, wie ihr
Leben durch eine Behinderung des Kindes verändert
wird, welche Schwierigkeiten und Probleme, aber auch
welche Hilfen es gibt. All das kostet Zeit. Aus diesem
Grunde plädiere ich für die Pflicht zu einer dreitägigen
Beratungsfrist. Sicherlich nehmen viele Frauen - das
wurde schon gesagt - eine viel längere Überlegungszeit
in Anspruch. Wichtig ist mir, festzustellen, dass die Beratungspflicht für den Arzt besteht. Beratung ist - das
legt schon der Wortsinn nahe - ein Angebot. Dieses
kann sicherlich abgelehnt werden, wird aber in der Regel
angenommen, weil eine solche Beratung für die Frau,
die sich in einer extremen Situation befindet, eine Entlastung darstellen kann und weil ohne Information und
ohne Beratung eine selbstbestimmte Entscheidung gar
nicht möglich ist.
Es ist richtig, dass sich die derzeit häufig unbefriedigende Praxis nicht allein mit einer gesetzlichen Regelung der Beratung verändern wird. Der Gesetzgeber
sollte aber alles in seiner Macht Stehende tun, um die Situation für alle Beteiligten etwas erträglicher zu machen,
nicht mehr, aber auch nicht weniger.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Fischbach.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir heute über dieses Thema debattieren - ich
sage: endlich; denn seit meinem Einzug in den Deutschen Bundestag vor nunmehr über zehn Jahren wollen
wir über dieses Thema debattieren; deswegen bin ich
froh und dankbar, dass wir heute die erste Chance haben,
über Gesetzentwürfe und Anträge zu diskutieren -, dann
wollen wir dem Problem der späten Schwangerschaftsabbrüche begegnen. Ich hoffe, dass wir gemeinsam das
Ziel verfolgen, dem uneingeschränkten Lebensrecht
ungeborener Kinder hinreichend gerecht zu werden;
denn der Schutz des menschlichen Lebens, unabhängig
von seinem Stadium und seiner individuellen Verfasstheit, ist die oberste Pflicht unseres Staates.
({0})
Wir wollen die Situation von betroffenen Eltern verbessern. Wir sprechen bei den Spätabtreibungen von
schwangeren Frauen und ihren Partnern, die sich aufgrund eines auffälligen Befundes in der vorgeburtlichen
Untersuchung plötzlich in einer existenziellen Krise befinden. Wir alle müssen uns vor Augen führen, dass wir
von Eltern sprechen, die an sich gar keine Abtreibung in
Erwägung gezogen haben, sondern die durch eine Pränataldiagnostik unerwartet in einen für sie unlösbaren
Konflikt geraten sind, zutiefst verzweifelt sind und unter
einem emotionalen Schock stehen. Diese beiden zentralen Bereiche, nämlich der Lebensschutz und die Nothilfe
für betroffene Eltern - das sage ich gleich zu Beginn -,
lassen sich nicht erreichen - das sage ich vorrangig an
die Kollegin Humme und Unterstützer und Unterstützerinnen gerichtet -, ohne dass wir eine gesetzliche Änderung einfordern. Es reicht nicht, wenn Sie, Frau Humme,
nur untergesetzliche Änderungen in den Mutterschaftsrichtlinien oder Eintragungen in den Mutterpass fordern.
Das kann ein zusätzliches Angebot sein.
({1})
Das wird aber den hohen Gütern, über die wir hier zu
entscheiden haben, in keiner Weise gerecht.
Ich möchte ein Weiteres zu Beginn betonen. Der Lebensschutz für das ungeborene Kind, und zwar unabhängig davon, ob es behindert ist oder nicht, und das Wohl
und der Wille der Eltern dürfen nicht gegeneinander
ausgespielt werden, vielmehr müssen wir beide im Blick
haben und die Entscheidung so treffen, dass wir beiden
Komponenten gerecht werden. Wir wissen, dass Frauen
und Paare es sich keineswegs leicht machen und leichtfertig, wie Sie sagten, ein Kind abtreiben, noch dazu zu
einem so späten Zeitpunkt. Wir wissen, dass dann schon
Bewegungen des Kindes im Mutterleib spürbar sind; die
Eltern haben sich vielleicht schon Gedanken über den
Namen des Kindes gemacht und ihre gemeinsame Zukunft geplant. Wie oft berichten Frauen im Nachhinein,
dass sie nur schwer über den Abbruch hinwegkommen
oder dass sie die Schuldgefühle ein ganzes Leben lang
begleiten. Ich wünsche mir, dass wir in der angestrebten
Anhörung dazu auch einmal Betroffene zu Wort bitten.
Wir als Politiker, die in der Verantwortung stehen, die
Rahmenbedingungen zu verbessern, können nicht nur
die Meinung der ärztlichen Experten oder Humangenetiker anhören, sondern für mich sind es vor allem die
Frauen, die berichten können, was es heißt, vor einer
Entscheidung zu einer Spätabtreibung zu stehen. Uns
geht es darum, dem zu begegnen, was die betroffenen
Frauen in der Konfliktsituation wollen und brauchen.
Wichtig ist dabei, auch einmal mit den Hebammen zu
sprechen, die die Eltern, die Frauen begleiten - leider
fast immer zu einem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung schon getroffen worden ist. Deshalb ist es wichtig,
dass wir auch diese Berichte hören und nicht nur die
Sicht der Ärzte.
Es geht nicht darum - das möchte ich an dieser Stelle
ganz deutlich unterstreichen -, Frauen oder Paare zu verurteilen, die für sich in der scheinbar ausweglosen Situation keine andere Alternative sehen, als eine Schwangerschaft, über die sie sich zu Beginn gefreut haben,
abzubrechen. Es geht uns umgekehrt genau darum, diese
Eltern zu unterstützen, aber es geht auch darum, den verunsicherten Eltern Mut zum Kind zu machen. Der späte
Abbruch einer Schwangerschaft ist eben nicht die einzige Alternative nach einem positiven Befund in der pränatalen Diagnostik, sondern er ist nur dann als Ausnahme zugestanden, wenn die schwangere Frau nicht
anders kann, weil die physische und psychische Belastung für sie zu hoch ist. Das bedeutet die medizinische
Indikation. Was nicht sein darf, ist ein Automatismus,
nach dem eine Diagnose über eine Behinderung eines
Kindes nahezu zwangsläufig in eine Abtreibung mündet.
({2})
Unsere Gesellschaft muss Verantwortung übernehmen für Mütter und Väter, die einen positiven Befund in
der pränatalen Diagnostik erhalten. Wir müssen erste
Hilfestellungen anbieten. Wir müssen ihnen - das ist Inhalt unseres Gruppenantrags - das Angebot einer umfassenden Beratung nach der Pränataldiagnostik mitgeben.
Es ist wichtig, die Betroffenen über alle Handlungsmöglichkeiten, Hilfsangebote und Unterstützungen zu informieren und gemeinsam mit ihnen nach möglichen Wegen zur Entscheidung zu suchen. Uns ist dabei das
Recht auf Nichtwissen genauso wichtig. Deshalb ist es
wichtig, dass das im neuen Gendiagnostikgesetz festgeschrieben wird.
Wir dürfen nicht zulassen, dass Eltern, dass Frauen
Schwangerschaften abbrechen, weil sie Angst vor einem
Leben mit einem Kind mit einer Behinderung haben,
weil sie Angst haben, von unserer Gesellschaft alleingelassen zu werden, wenn sie sich bewusst für dieses Kind
entscheiden, weil sie Angst haben, dass ein Kind mit Behinderungen in unserer Gesellschaft nicht erwünscht ist.
Wir brauchen Menschlichkeit und Solidarität in unserer
Gesellschaft.
Frau Humme und Frau Schewe-Gerigk, mit gegenseitigen Vorwürfen, die unhaltbar und unfair sind, kommen
wir nicht weiter.
({3})
- Ich meine die Äußerungen von Ihnen beiden in Ihren
Reden vorhin. Das war nicht fair.
Es ist wichtig, zu einer fairen Auseinandersetzung zu
kommen und ein faires Gespräch zu führen. Ich glaube,
wir anderen sind sehr nahe beieinander. Ich würde mir
wünschen, dass wir endlich zu einem Ergebnis für die
werdenden Eltern und vor allen Dingen für die Kinder
kommen.
Danke schön.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine
Lambrecht.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Fischbach, ich habe die
heutige Debatte die ganze Zeit verfolgt. Trotz aller Ge21166
gensätzlichkeit der unterschiedlichen Vorlagen finde ich,
dass sie von einer großen Sachlichkeit und gerade nicht
davon geprägt ist, sich gegenseitig mit Vorwürfen zu
überziehen. Ich denke, dabei sollten wir es belassen, und
wir sollten uns wieder der Sache zuwenden.
({0})
Frau Göring-Eckardt, ich habe mit Interesse zur
Kenntnis genommen, dass Sie uns aufgefordert haben,
hier heute die Entscheidung zu treffen: Ja, Kinder mit
Downsyndrom, wir wollen auch euch. Wir können diese
Entscheidung hier heute leider nicht treffen: Es geht um
ein anderes Thema.
Aber wir als Gesetzgeber können für die Akzeptanz
eines behinderten Kindes in vielen anderen Bereichen
sorgen, und das haben wir auch getan: Beispielsweise
haben wir durch das Antidiskriminierungsgesetz klargestellt, dass Eltern, die mit einem behinderten Kind essen
gehen wollen, vom Wirt nicht des Lokals verwiesen werden dürfen, weil andere Gäste sich gestört fühlen.
({1})
Außerdem konnten wir durch das Antidiskriminierungsgesetz regeln, dass die Genehmigung zum Bau eines Behindertenwohnheims nicht versagt werden darf, weil
Anwohner sich durch behinderte Menschen gestört fühlen. Die Gesellschaft kann die grundsätzliche Akzeptanz
eines Kindes mit Downsyndrom in vielen anderen Bereichen erlangen, aber nicht mit der hier zur Debatte stehenden Einführung einer Beratungspflicht.
({2})
Ich möchte mich ausdrücklich für den sogenannten
Humme-Antrag aussprechen - er wird von einem Großteil der SPD unterstützt -, weil er in die richtige
Richtung geht. Bei allem Verständnis für das, was Sie,
insbesondere Sie, Herr Singhammer, mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen wollen - er zielt darauf ab, dass die
Anzahl der Spätabbrüche reduziert wird -, glaube ich
nicht, dass Sie das mit der Einführung einer Pflicht zur
psychosozialen Beratung erreichen.
Voraussetzung für eine solche Beratung könnte nur
sein, dass die Entscheidung über einen solchen Abbruch
allein im Belieben der jeweiligen Schwangeren liegt.
Nur das könnte dazu führen, dass diese Schwangerschaft
nicht abgebrochen wird. Das ist aber nicht so; denn der
Arzt erstellt die medizinische Indikation. Nach Ihrem
Gesetzentwurf könnte er zwar an eine Beratungsstelle
verweisen, das hätte aber keinen Einfluss auf seine medizinische Indikation. Die medizinische Indikation ist
nur möglich, solange eine Gefahr für die körperliche
oder seelische Gesundheit der Schwangeren besteht. Das
ist seit 1995 Gesetz. Damals hat der Gesetzgeber bewusst die Gefahr für Leib und Leben der Schwangeren
als Kriterium für den Ausnahmefall der Straffreiheit bei
einem solchen Abbruch herangezogen.
Die alte und von Behindertenverbänden zu Recht kritisierte, als diskriminierend empfundene embryopathische Indikation wurde bereits 1995 gestrichen. Sie ließ
als Grund für den Abbruch eine zu erwartende schwere
Erkrankung oder Behinderung des Kindes gelten; das
war bis dahin ausreichend. Das ist völlig zu Recht geändert worden. Es geht heute bei der medizinischen Indikation alleine um die Gesundheit der Schwangeren.
Jetzt soll eine weitere Beratungspflicht eingeführt
werden. Da frage ich mich: Welchen Einfluss hat das auf
die Entscheidung des Arztes? Der Arzt entscheidet aufgrund der Situation, die er vorfindet, und nicht aufgrund
dessen, was die Schwangere, die in dieser unglaublich
schwierigen Situation eine Entscheidung zu treffen hat,
in einer weiteren Beratungsstelle gegebenenfalls erfahren würde. Deswegen hätte das keine Konsequenz für
diese Möglichkeit der medizinischen Indikation.
Es ist auch kein Automatismus, der in dem Moment
einsetzt, in dem ein entsprechender Befund erhoben
wird. Selbstverständlich kann eine Frau, bei der die medizinische Indikation für einen Abbruch festgestellt
wurde, sagen: Ich will weitere Beratung. - Ich gehe auch
davon aus, dass alle Menschen, die sich in einer solchen
Situation befinden und vor einer so weitreichenden, einschneidenden, für das ganze Leben entscheidenden
Frage stehen, sich die entsprechende Unterstützung einholen und nicht einfach automatisch in den nächsten
Raum des Krankenhauses gehen, um einen Spätabbruch
vornehmen zu lassen. Abgesehen davon entspricht das
auch wirklich nicht der Realität, was die Frage angeht,
wie Ärzte mit dieser Situation umgehen.
Deswegen möchte ich an der Stelle noch einmal darum bitten, nicht zu unterstellen, dass Frauen, die einen
Spätabbruch vornehmen lassen, die Entscheidung dafür
aufgrund eines medizinischen Befundes automatisch
treffen, sondern davon auszugehen, dass sie sehr wohl
viele andere Aspekte in ihre Entscheidung einfließen lassen und dass Ärzte, die diese medizinische Indikation
feststellen, dies nicht leichtfertig tun. Ich weiß, dass
Rechtslage und Lebenswirklichkeit manchmal auseinanderfallen können, aber ich unterstelle allen Ärzten, dass
sie in der von der Sache gebotenen Form handeln.
Deswegen brauchen wir keine weitere Hürde für
Frauen, die sich in solch einer schwierigen Situation befinden. Wir brauchen Beratung. Wir brauchen diese
Trias. Wir brauchen selbstverständlich auch Beratung
darüber, was denn mit einer pränatalen Untersuchung
auf die betroffene Frau zukommt. Das ist der richtige
Weg. Deswegen unterstütze ich mit vielen anderen den
sogenannten Humme-Antrag.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Maria Eichhorn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
1995 wurde die sogenannte embryopathische Indikation abgeschafft und bei der medizinischen Indikation
aufgenommen. Vor allem die Behindertenverbände und
die Kirchen haben uns gemahnt, mit der Diskriminierung von Behinderten durch die embryopathische Indikation endlich aufzuhören. Bei der Begründung zu der
Neuformulierung der medizinischen Indikation haben
wir deshalb klargestellt - ich zitiere -: „daß eine Behinderung niemals zu einer Minderung des Lebensschutzes
führen kann.“
Entgegen der gesetzgeberischen Erwartung aus dem
Jahr 1995 hat sich jedoch gezeigt, dass Schwangerschaftsabbrüche allein wegen einer möglichen Behinderung eines Kindes erfolgen. Wir, die wir 1995 die Gesetzesänderung formuliert haben, haben auf die Fachleute
vertraut. Diese hatten uns versichert, dass sich Abtreibungen nach Pränataldiagnostik auf eng begrenzbare
Fälle beschränken würden.
Die Entwicklung ist jedoch völlig anders gelaufen.
Bereits in den 90er-Jahren hatten Eltern einen Arzt verklagt, weil sie ein behindertes Kind bekamen. Das Gericht verurteilte den Arzt zu Schadensersatz. Er hätte
nicht nur die Pflicht gehabt, so das Gericht, die entsprechenden Untersuchungen zu veranlassen, sondern auch
die Pflicht, auf die Möglichkeit einer Abtreibung hinzuweisen. Das hatte zur Folge, dass mittlerweile etwa zwei
Drittel der Schwangeren nach der zwölften Woche Pränataldiagnostik durchführen lassen und dass bei möglicher Behinderung zur Abtreibung geraten wird.
Die heute mehrmals getroffene Aussage, dass 80 Prozent aller spätabgetriebenen Kinder nicht lebensfähig
seien, ist nirgendwo belegt.
({0})
Aber es gibt immer wieder lebende Beispiele dafür, dass
trotz prognostizierter Behinderung ein gesundes Kind
zur Welt gebracht wird.
Viele Schwangere meinen im Vertrauen auf den Arzt,
alle Untersuchungsangebote wahrnehmen zu müssen. Es
gibt jedoch auch das Recht auf Nichtwissen; denn im
Zweifelsfall kommt es tatsächlich - das kann man nicht
wegreden - zu dem Automatismus: Pränataldiagnostik,
Befund einer möglichen Behinderung des Kindes,
Schwangerschaftsabbruch.
({1})
Deswegen ist eine Beratung vor und nach der Pränataldiagnostik unerlässlich.
Aus Studien ist bekannt, dass viele Frauen das jetzt
schon bestehende kostenlose Angebot einer psychosozialen Beratung im Rahmen einer medizinischen Indikation nicht kennen. Aber psychosoziale Beratung ist gerade in diesen Fällen dringend erforderlich und eine ganz
große Hilfe für diese Schwangeren, für diese Eltern in
großer Not, und deswegen muss sie besser verankert
werden.
Studienbefunde zeigen, dass sich Frauen nach der
Mitteilung über eine Erkrankung oder Behinderung eines ungeborenen Kindes häufig in einem Schockzustand
befinden. Das ist klar. Wenn ich mit einem gesunden
Kind rechne und eine solche Diagnose bekomme, dann
weiß ich zunächst nicht, wie ich damit umgehen kann.
Daher, Frau Lambrecht, ist genügend Zeit für psychosoziale Beratung und für einen Reflexionsprozess unbedingt erforderlich, und zwar für alle Beteiligten. Deswegen fordern die Ärzte schon seit längerem auch bei der
medizinischen Indikation eine Bedenkzeit von drei Tagen. Ich denke, es ist richtig, dass wir das einführen.
({2})
Die Schwangere kann sich in dieser Zeit mit der Frage
auseinandersetzen, ob für sie ein Leben mit dem Kind
vorstellbar ist. Aber auch der Vater des Kindes - das
möchte ich betonen - muss in diese Entscheidung mit
einbezogen werden. Mutter und Vater müssen gemeinsam eine verantwortbare Entscheidung treffen.
({3})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bereits 2001
und 2004 hatte die CDU/CSU-Fraktion Anträge zur Spätabtreibung in den Bundestag eingebracht, leider ohne
Erfolg. Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf der Union
ist ein Ergebnis der Diskussion der letzten Jahre. Unser
Ziel war, zusammen mit dem Koalitionspartner einen
Gesetzentwurf vorlegen zu können. Ich bedauere sehr,
dass das nicht möglich war. Die heutige Debatte gibt mir
jedoch die Hoffnung, dass sich hier im Bundestag doch
eine Mehrheit für eine bessere Regelung von Spätabtreibungen findet; denn auch behinderte ungeborene Kinder
bedürfen unseres Schutzes. Ebenso brauchen Schwangere, die in einer ganz besonders schwierigen Lebenssituation sind, unsere besondere Hilfe und Unterstützung.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Carola
Reimann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Mit der Debatte zu den Spätabtreibungen und
mit den hier vorliegenden Anträgen und Gesetzentwürfen verfolgen wir alle gemeinsam ein Ziel - das will ich
hier einmal unterstellen -, nämlich das Ziel, den
Schwangeren und ihren Lebenspartnern, die eine
schwerwiegende Entscheidung zu treffen haben, in dieser schwierigen und belastenden Situation zu helfen.
({0})
Hilfe und Unterstützung für die betroffenen Frauen
ohne unnötige oder gar bevormundende Vorschriften das ist der zentrale Aspekt des vorliegenden Antrags von
Christel Humme und anderen, die ihn unterzeichnet haben. Diesen Antrag möchte auch ich unterstützen.
({1})
Ich will an dieser Stelle noch einmal ganz konkret
deutlich machen, wovon wir hier reden. Kein Außenstehender kann diesen leidvollen inneren Konflikt, den die
Betroffenen aushalten müssen, wirklich fassen. Führt
man sich die konkrete Situation des Spätabbruchs einmal
vor Augen, lässt sich aber erahnen, in welch schwieriger
Situation sich diese Paare befinden. Der Begriff „Spätabbruch“ entspricht auch nicht der Schwere und der Bedeutung des Eingriffs. Die Begriffe „Spätabbruch“ oder
„Spätabtreibung“ verschleiern es sogar. Zu solch einem
späten Zeitpunkt der Schwangerschaft, also nach der
22. Woche, handelt es sich ja um weit entwickelte Föten.
Dieser Begriff verschleiert, dass es sich hier um Geburten - deutlicher gesagt: um Totgeburten - handelt. Niemand kann allen Ernstes glauben, dass Frauen eine solche Entscheidung leichtfertig treffen,
({2})
zumal es sich in der Regel um gewünschte Schwangerschaften handelt.
Die Zahl der Abbrüche in dem genannten Zeitraum ist
rückläufig. Dieses Faktum haben wir heute mehrfach
vernommen. Wer an dieser Stelle den Frauen eine gesetzliche Bedenkzeit von drei Tagen auferlegen will,
stellt letztlich doch wieder den Vorwurf der Leichtfertigkeit ihres Handelns in den Raum.
({3})
Ich will es hier auch noch einmal sagen: Abbrüche zu
diesem Zeitpunkt sind nur erlaubt, wenn die Fortsetzung
der Schwangerschaft die physische oder psychische Gesundheit der Schwangeren gefährdet. Auch in diesem
Zusammenhang wirft für mich die Einführung einer Frist
eine ganz erhebliche Problematik auf. In Konsequenz
würde das nämlich bedeuten, es gäbe medizinische Indikationen unterschiedlicher Art. Es würde dann eine gesetzliche Unterscheidung geben zwischen Gesundheitsgefährdungen, die ohne Frist einen sofortigen Eingriff
erfordern, und Gesundheitsgefährdungen, bei denen man
erst nach drei Tagen, also einer gesetzlich verordneten
Bedenkzeit, eingreifen darf. Diese Unterscheidung halte
ich für problematisch. Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie das in der Praxis funktionieren soll.
({4})
Kolleginnen und Kollegen, dieser schwere Eingriff
erfordert nicht die Einführung von Fristen, sondern eine
intensive Begleitung und Beratung sowie vor allen Dingen viel Unterstützung. Hier setzt unser Antrag an: Wir
wollen die bislang im Gendiagnostikgesetz nicht erfassten Untersuchungen im Rahmen der Mutterschaftsrichtlinie in analoger Weise mit ärztlicher Beratungspflicht
vor und nach der Diagnostik, mit der Hinweispflicht auf
psychosoziale Beratung und mit einer Qualitätssicherung - auch das wurde schon angesprochen - der Beratung verbinden.
Wir wollen auch, dass das in dieser schwierigen
Situation wirklich wichtige Vertrauensverhältnis zwischen Patientin und Arzt oder Ärztin erhalten bleibt. Die
im Singhammer-Entwurf geforderte Dokumentationspflicht läuft dem komplett zuwider und würde dieses
Vertrauensverhältnis untergraben.
({5})
Auf eine kurze Formel gebracht: Der vorliegende Antrag von Christel Humme wird dieser außerordentlich
schwierigen Konfliktsituation gerecht, weil er für mehr
Beratung, für mehr Hilfe und für mehr Unterstützung
sorgt und keine unnötigen zusätzlichen Hürden, die von
den betroffenen Frauen und ihren Partnern nur als weitere Belastung in dieser Situation empfunden werden
können, aufbaut.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Schmidt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die vorgeburtliche Diagnose „Ihr Kind wird wahrscheinlich behindert sein“ bedeutet für Paare oder für
Frauen eine soziale Herausforderung. Viele reagieren reflexartig zunächst einmal mit dem Satz: Nein, das kann
ich nicht, das will ich nicht. Sie fragen sich: Bin ich dieser Herausforderung gewachsen? Schaffe ich es, das
Mehr an Betreuung zu organisieren? Werden wir isoliert
oder bleiben wir integriert? Hat mein Kind in dieser Gesellschaft Chancen? Hat es das Recht auf Teilhabe? - All
das sind Dinge, die den Eltern behinderter Kinder - das
erzählen diese ja auch - durch den Kopf gehen.
In einer solchen Situation brauchen die Betroffenen
zwei Dinge: Sie brauchen Beratung, wo Hilfen zu erwarten sind, und sie brauchen Zeit. Das Festlegen von Zeiträumen hat nichts damit zu tun, dass irgendjemandem
Leichtfertigkeit unterstellt wird. Vielmehr braucht man
in einer derart schwierigen Situation Zeit, um zur Ruhe
zu kommen, abzuwägen und nachzudenken, ehe man
sich entscheiden kann.
({0})
Ich habe heute gut zugehört. Alle sagen: Wir brauchen mehr Beratung. Das brauchten wir aber nicht, wenn
die derzeitigen Beratungsangebote in Ordnung wären.
({1})
Ulla Schmidt ({2})
Dann müsste man darüber nicht so diskutieren. Alle wollen, dass die Beratungsangebote ausgebaut werden. Für
mich ist ganz selbstverständlich, dass neben der ärztlichen Beratung das Angebot an psychosozialer Beratung
ausgebaut werden muss. Die Erfahrungen der letzten
Jahre zeigen: Notwendig ist eine gesetzliche Verpflichtung des Arztes, eine ärztliche Beratung der Frau anzubieten,
({3})
auf psychosoziale Beratungsangebote hinzuweisen und
an Selbsthilfeorganisationen und Behindertenorganisationen zu vermitteln. Nur so kann deutlich gemacht werden, wie breit das Angebot ist.
Viele Eltern behinderter Kinder sagen, dass sie zunächst Angst gehabt hätten vor dem, was auf sie zukommt, weil sie nicht gewusst hätten, wie sie mit einem
behinderten Kind leben können bzw. wie lebenswert das
Leben mit einem behinderten Kind sein kann. Das zeigt,
dass die Beratung nicht immer die nötige Hilfe gebracht
hat. Viele Eltern sagen: Ich hätte mir mehr Beratung gewünscht; es hätte mir das Leben leichter gemacht, und
ich hätte von Anfang an gewusst, auf welche Hilfen ich
nach der Geburt des Kindes zurückgreifen kann.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich urteile über
keine Frau, kein Elternteil, keine Eltern, die sich in einer
Konfliktsituation, auch nach der zwölften Schwangerschaftswoche, für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, weil sie meinen, dass die psychische und physische Gesundheit der Frau gefährdet ist, und in einem
Abbruch die einzige Lösung sehen. Diese Entscheidung
kann nur die Frau treffen. Aber es ist gut, wenn wir sie
bei dieser Entscheidung nicht allein lassen.
({5})
Dazu gehört für mich, dass nur die Betroffenen entscheiden können, ob sie die Beratung in Anspruch nehmen
wollen. Ich kann niemanden zur Beratung zwingen.
Aber ich kann auch keine Diskriminierung darin sehen,
wenn eine Beratung angeboten wird, zu der eine Frau
auch Nein sagen kann.
({6})
Die heutige Debatte spiegelt das Spannungsverhältnis, das es bei jedem Schwangerschaftsabbruch gibt,
wider. Wir werden nie eine zufriedenstellende Lösung
finden können, weil immer gegensätzliche Interessen abgewogen werden müssen. Auch die vorliegenden Anträge spiegeln die Breite der Diskussion über diese Frage
wider, wie sie in der Gesellschaft stattfindet. Ich bin allerdings dafür, dass wir dabei ehrlich miteinander umgehen. Es geht hier nicht um eine medizinische Indikation
in dem Sinne, dass eine schnelle Entscheidung für das
Leben der Mutter oder das Leben des Kindes getroffen
werden und der Arzt dementsprechend schnell eingreifen muss.
({7})
Vielmehr reden wir über eine medizinische Indikation in
dem Sinne, dass die psychische Gesundheit der Frau infolge der Diagnose, dass ihr Kind wahrscheinlich behindert zur Welt kommen wird, gefährdet ist. Über nichts
anderes reden wir hier.
({8})
Deshalb handelt es sich um eine schwierige Entscheidung. Ich kann hier nur meine Gründe dafür nennen, warum ich den Antrag von Kerstin Griese unterstütze. In
dieser schwierigen Situation, in der es um die Abwägung
zweier Rechtsgüter geht - das Recht des Kindes, das außerhalb des Mutterleibs in den meisten Fällen überlebensfähig ist, ob behindert oder nichtbehindert, und das
Recht der Mutter auf körperliche Unversehrtheit und
Schutz vor psychischen und physischen Gesundheitsrisiken -, ist für mich der Respekt vor den behinderten
Menschen, der Respekt vor den Eltern, die sich für ein
Leben mit einem behinderten Kind entschieden haben,
aber auch der Respekt vor den Frauen, die sich dagegen
entschieden haben, entscheidend. Dieser Respekt gebietet es, die Beratungsangebote auszubauen.
Da sind wir nicht weit auseinander; daran können wir
gemeinsam arbeiten. Wir sollten gemeinsam - das
kommt hier auch zum Ausdruck - dafür sorgen, dass der
Paradigmenwechsel von der Fürsorge zur Teilhabe, zum
selbstbestimmten Leben behinderter und nichtbehinderter Kinder sich durchsetzt. Ich glaube, wir vergeben uns
nichts, wenn wir dem Wunsch der Eltern behinderter
Kinder und auch dem Wunsch von vielen Menschen, die
sich anders entschieden haben, entgegenkommen, indem
wir sagen: Jawohl, wir wollen, dass ein Beratungsangebot verpflichtend wird. Jawohl, wir wollen auch
verankern, dass es dazwischen eine Zeit gibt, in der man
nachdenken kann. Dann werden wir die getroffene Entscheidung respektieren.
Das ist für mich der entscheidende Grund dafür, weshalb ich für den Antrag von Kerstin Griese bin und weshalb ich glaube, dass der Bundestag gut daran tut, diese
Argumente hier zu diskutieren.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Singhammer, Sie haben zur Begründung Ihres Antrages zwei Ziele genannt. Das eine Ziel - ich sage es in
meinen Worten - ist eine Gesellschaft, in der Menschen
mit Behinderungen selbstverständlich dazugehören. Sie
haben Ihre Sorge geäußert, dass insbesondere Menschen
mit Downsyndrom ausgegrenzt werden. Ich glaube, das
Ziel und diese Sorge teilen wir alle, die wir hier sitzen.
An dieser Stelle muss ich Ihnen, Herr Singhammer
- das sage ich in aller Ruhe -, etwas sagen. Ich komme
aus Baden-Württemberg. Sie wissen, dass BadenWürttemberg eine CDU-geführte Landesregierung hat
und der Kultusminister der CDU angehört. Wenn Sie in
der Sorge um die Rechte von Kindern mit Behinderungen nach Baden-Württemberg kommen, dann werden
Sie auf Eltern treffen, die Kinder mit Downsyndrom haben und die einen verzweifelten Kampf darum führen,
dass diese Kinder an einer baden-württembergischen Regelschule am Unterricht teilhaben dürfen.
({0})
Ich kann Ihnen nur raten und Sie nachdrücklich bitten, Herr Singhammer, die Waldorfschule in Emmendingen zu besuchen. Die Waldorfschule in Emmendingen
hat mehrere Jahre lang Kinder mit Behinderungen im
Grundschulalter gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung unterrichtet. Nun ist die Grundschulzeit vorbei, und
es geht um den weiterführenden Unterricht. Was macht
die baden-württembergische Kultusbürokratie? Sie versucht, diese Schule zu zwingen, wegen dieser Kinder
einen eigenen Sonderschulbereich einzurichten. Widrigenfalls wird sie dazu gezwungen, diese Kinder mit Behinderung vor die Tür zu setzen.
({1})
Herr Singhammer, ist das wirklich das, was wir uns
unter einer Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
gemeinsam vorstellen? Ich würde mir wünschen, dass
die CDU - Baden-Württemberg ist nicht das einzige
Land, in dem es solche Probleme gibt - darüber nachdenkt und ihre Politik ändert.
({2})
Kollegin Bender, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Eichhorn?
Nein, im Moment nicht.
Ich habe ein weiteres Anliegen. Da bin ich etwas optimistischer, weil in Ihrer Rede das Stichwort Gendiagnostikgesetz fiel, Herr Singhammer, und weil Sie,
Frau Falk, das Problem vorhin kurz angesprochen haben.
Es liegt ein Regierungsentwurf für ein Gendiagnostikgesetz vor. Es ist gut und richtig, dass darin festgeschrieben
ist, dass vor genetischen Untersuchungen eine Beratung
erfolgen muss. Heute ist es aber technisch möglich, einen Embryo auch auf erblich bedingte Krankheiten hin
zu untersuchen, die erst im Erwachsenenalter ausbrechen werden. Der Gesetzentwurf in der vorgelegten
Form lässt dies ausdrücklich zu.
Frau Falk, Sie haben Ihr Unbehagen darüber geäußert. Ich schließe aus dem Beifall vonseiten der CDU/
CSU und daraus, dass Renate Schmidt gesagt hat, es
müsse nicht jede vorgeburtliche Untersuchung gemacht
werden, dass die Bereitschaft besteht, über den Gesetzentwurf noch einmal nachzudenken. Wenn etwa - leider
ist es nicht Science-Fiction, weil dies in Nachbarländern
schon gemacht wird - bei einem weiblichen Embryo
festgestellt wird, dass ein 60-prozentiges Risiko besteht,
als erwachsene Frau Brustkrebs zu bekommen, dann
kann nach Ansicht der Rechtsexperten des zuständigen
Ministeriums mitnichten ausgeschlossen werden, dass
eine medizinische Indikation ausgestellt wird, es also zu
einer Abtreibung kommt. Aber wir müssen uns natürlich
auch fragen, wie ein Mädchen eigentlich aufwachsen
soll, dessen Eltern von diesem Risiko wissen und dem ja
wohl das Recht auf Nichtwissen genommen wird. Ich
setze darauf, dass wir nach der Anhörung den Entwurf
des Gendiagnostikgesetzes entsprechend ergänzen werden.
Weil meine Redezeit zu Ende geht, will ich zum Abschluss sagen: Ich finde es wichtig, dass wir uns für das
Teilhaberecht von Menschen mit Behinderungen einsetzen. Ob Beratungspflichten, Dokumentationspflichten
und gesetzliche Fristen eine Unterstützung sind für
Frauen, die ganz spät in der Schwangerschaft einen sogenannten auffälligen Befund erhalten - dabei geht es,
Herr Singhammer, in der Regel nicht um das Downsyndrom -, wage ich zu bezweifeln. So werden Sie Ihr zweites Ziel - Hilfe für die einzelne Frau - nicht erreichen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum Schluss der Debatte noch eine Position, die sich
von dem bisher Gesagten in einem Punkt unterscheidet.
Ich rede für eine noch kleine Gruppe von Kolleginnen
und Kollegen aus vier Fraktionen, die sich für eine wirklich verbindliche psychosoziale Beratung durch Beratungsstellen einsetzen. Ich bitte Sie herzlich, alle alten
Grabenkämpfe und auch völlig unpassende RechtsLinks-Einordnungen bei diesem Thema beiseitezuschieben und sich einmal vorurteilsfrei folgender Konfliktsituation zu stellen: Nach dem Befund „behindertes
Kind“ gibt es kein Problem, wenn die betroffene Frau
oder das betroffene Paar auf einen verständnisvollen,
einfühlsamen, verantwortungsbewussten Arzt oder eine
Ärztin trifft, der oder die auch wirklich gut beraten und
die Betroffenen begleiten. Es kann aber auch anders
kommen, wie mir das von mehreren berichtet wurde,
zum Beispiel von einer jungen Frau, die mir geschrieben
hat: Der Arzt zeigte mir das Ultraschallbild und sagte als
Erstes: Sind Sie wirklich sicher, dass Sie das noch austragen wollen?
Ich habe in der eigenen Verwandtschaft den Fall erlebt, dass eine Mutter nach einer entsprechenden DiaThilo Hoppe
gnose gar nicht erst gefragt wurde, wie es ihr damit geht,
sondern dass ihr von zwei Ärztinnen der Abbruch nahegelegt wurde. Sie hat sich trotz großer Zweifel, trotz großer Verunsicherung gegen einen Abbruch entschieden
und ein kerngesundes Kind zur Welt gebracht. Ich weiß
nicht, wie oft so etwas geschieht. Möglicherweise ist das
ein krasser Einzelfall. Aber wir wissen aus Untersuchungen, dass sich viele Frauen, viele Paare schlecht beraten
und alleingelassen fühlen.
({0})
Jetzt möchte ich auf eine Schwachstelle der drei Gesetzentwürfe hinweisen, die wir grundsätzlich sehr begrüßen. Was passiert in einem solchen Fall? Der Arzt,
der zu einer pränatalen Untersuchung geraten und eine
Vielzahl solcher Untersuchungen durchgeführt hat,
würde in die Pflicht genommen, psychosozial zu beraten
({1})
oder auf entsprechende Beratungsstellen hinzuweisen.
Er ist dafür aber gar nicht ausgebildet. Unsere Befürchtung ist, dass diese gesetzliche Pflicht formal abgetan
werden kann, indem ein Arzt ähnlich wie vor einer Untersuchung, vor einer Operation sagt: Aufgrund neuer
gesetzlicher Vorschriften bin ich verpflichtet, Sie auf
dieses und jenes hinzuweisen, Ihnen eine Broschüre zu
überreichen und Sie auf das Angebot von Beratungsstellen aufmerksam zu machen. Dieses Angebot müssen Sie
nicht annehmen. Sie können eine Verzichtserklärung unterschreiben und quittieren, dass ich meine Pflicht erfüllt
habe. - Das Ganze ist dann ein Akt von wenigen Sekunden.
Wir wollen nicht mehr und nicht weniger als das, was
bereits im „normalen“ Schwangerschaftskonfliktfall gilt:
dass eine psychosoziale Beratung in Anspruch genommen werden muss, bevor dann am Schluss die Indikation
erstellt wird.
Ist man in dieser Debatte ehrlich, so erkennt man: Es
gibt de facto eine Entscheidungsfreiheit. Ich glaube, es
ist auch gut so, dass man keine Frau gegen ihren Willen
zwingt, ein behindertes Kind auszutragen. Wenn das
aber so ist, dann müssen wir wirklich alles dafür tun,
dass diese Frauen, diese Paare optimal begleitet werden
und nicht nur eine Beratung durch den Gynäkologen erhalten, sondern auch Unterstützung seitens einer Beratungsstelle, durch Berater und Beraterinnen, die dafür
auch wirklich ausgebildet sind.
Das ist die Zielrichtung unseres Anliegens. Ich
möchte Sie herzlich bitten, im Rahmen der Anhörung
auch diese Vorschläge vorurteilsfrei zu prüfen.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/11106, 16/11342, 16/11347, 16/11330
und 16/11377 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 d sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c und den Zusatzpunkt 3 d auf:
33 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Mechthild Dyckmans, Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Leerlaufen des Vorrechts der Wohnungseigentümer in der Zwangsversteigerung beenden
- Drucksache 16/9453 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd
Siebert, Ulrich Adam, Ernst-Reinhard Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Rainer Arnold,
Dr. Hans-Peter Bartels, Petra Heß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Betreuung bei posttraumatischen Belastungsstörungen stärken und weiterentwickeln
- Drucksache 16/11410 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({2})
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Schneider ({3}), Dr. Lothar Bisky,
Cornelia Hirsch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Verlässliche Bildungsförderung für Erwachsene noch in dieser Legislatur auf den Weg
bringen
- Drucksache 16/11374 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer ({5}), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan
Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Internationale Ächtung des Söldnerwesens
und Verbot der Erbringung militärischer
Dienstleistungen durch Privatpersonen und
Unternehmen
- Drucksache 16/11375 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Vizepräsidentin Petra Pau
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 2a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Döring, Hartfrid Wolff ({7}), Horst
Friedrich ({8}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Ausnahmeregelung für Fahrerlaubnisse von
Angehörigen der Feuerwehren, des Rettungsdienstes und des Katastrophenschutzes schaffen
- Drucksache 16/10884 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9})
Innenausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Klaus Riegert, Jürgen Klimke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Annette Faße,
Dr. Reinhold Hemker, Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Potentiale von Tourismus und Sport erkennen
und fördern
- Drucksache 16/11402 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter
Friedrich ({11}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Annette Faße,
Dr. Reinhold Hemker, Gregor Amann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Potentiale von Migranten für den internationalen Tourismus nutzen
- Drucksache 16/11403 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({12})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 3d)Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christian Ahrendt, Dr. Max Stadler, Gisela Piltz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Notfinanzierungsmittel für EXIT-Deutschland zur Verfügung stellen
- Drucksache 16/11378 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({13})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Der Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/11378 - das ist der Zusatzpunkt 3 d - soll
abweichend von der Tagesordnung zur federführenden
Beratung an den Innenausschuss und zur Mitberatung an
den Ausschuss für Arbeit und Soziales, den Ausschuss
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie an den
Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 34 a und
34 c bis 34 o sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 c und 3 e
bis 3 m. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 34 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Suchdienstedatenschutzgesetzes ({14})
- Drucksachen 16/10813, 16/10998 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({15})
- Drucksache 16/11253 Berichterstattung:
Abgeordnete Beatrix Philipp
Dr. Michael Bürsch
Gisela Piltz
Jan Korte
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11253, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 16/10813
und 16/10998 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes und des Rinderregistrierungsdurchführungsgesetzes
- Drucksache 16/10994 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})
- Drucksache 16/11413 Berichterstattung:
Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Wilhelm Priesmeier
Hans-Michael Goldmann
Cornelia Behm
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11413, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/10994 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der
Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit demselben Abstimmungsergebnis wie in der
zweiten Lesung angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Omid Nouripour,
Silke Stokar von Neuforn, Wolfgang Wieland,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Schengen Informationssystem im europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und
des Rechts transparent und bürgerrechtsfreundlich gestalten
- Drucksachen 16/5966, 16/8164 Berichterstattung:
Abgeordnete Ralf Göbel
Wolfgang Gunkel
Hartfrid Wolff ({2})
Jan Korte
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8164, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5966 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({3}) zu
der Verordnung der Bundesregierung
Erste Verordnung zur Änderung der Klärschlamm-Entschädigungsfondsverordnung
- Drucksachen 16/11022, 16/11125 Nr. 2.2,
16/11379 Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Röring
Gustav Herzog
Hans-Michael Goldmann
Cornelia Behm
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11379, der Verordnung auf
Drucksache 16/11022 zuzustimmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer möchte sich enthalten? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 34 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 496 zu Petitionen
- Drucksache 16/11280 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 496 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 497 zu Petitionen
- Drucksache 16/11281 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 497 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 498 zu Petitionen
- Drucksache 16/11282 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 498 ist angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 499 zu Petitionen
- Drucksache 16/11283 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Die Sammelübersicht 499 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 500 zu Petitionen
- Drucksache 16/11284 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 500 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 501 zu Petitionen
- Drucksache 16/11285 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Die Sammelübersicht 501 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 502 zu Petitionen
- Drucksache 16/11286 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 502 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 503 zu Petitionen
- Drucksache 16/11287 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Die Sammelübersicht 503 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 504 zu Petitionen
- Drucksache 16/11288 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? -Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 504 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 505 zu Petitionen
- Drucksache 16/11289 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 505 ist angenommen.
Zusatzpunkt 3 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({7}) zu dem Gesetz zur arbeitsmarktadäquaten Steuerung der Zuwanderung
Hochqualifizierter und zur Änderung weiterer
aufenthaltsrechtlicher Regelungen ({8})
- Drucksachen 16/10288, 16/10722, 16/10914,
16/11166, 16/11390 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Röttgen
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Wer
möchte sich enthalten? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Zusatzpunkt 3 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({9}) zu dem Gesetz zur Abwehr
von Gefahren des internationalen Terrorismus
durch das Bundeskriminalamt
- Drucksachen 16/9588, 16/10121, 16/10822,
16/11167, 16/11227, 16/11391 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Oppermann
Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3
Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im
Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam
abzustimmen ist.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ver-
mittlungsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.1)
Zusatzpunkt 3 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({10}) zu dem Gesetz zur Förderung von Familien und haushaltsnahen
Dienstleistungen ({11})
- Drucksachen 16/10809, 16/11001, 16/11172,
16/11191, 16/11329, 16/11392 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Meister
1) Anlage 3
Vizepräsidentin Petra Pau
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion bei
Enthaltung der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zu den Zusatzpunkten 3 e bis 3 m. Dabei handelt es sich um weitere Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses.
Zusatzpunkt 3 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 506 zu Petitionen
- Drucksache 16/11393 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 506 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 3 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 507 zu Petitionen
- Drucksache 16/11394 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 507 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDPFraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 3 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 508 zu Petitionen
- Drucksache 16/11395 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 508 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDPFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 3 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 509 zu Petitionen
- Drucksache 16/11396 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Die
Sammelübersicht 509 ist damit einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 3 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 510 zu Petitionen
- Drucksache 16/11397 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 510 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDPFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 3 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 511 zu Petitionen
- Drucksache 16/11398 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 511 ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Zusatzpunkt 3 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 512 zu Petitionen
- Drucksache 16/11399 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 512 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDPFraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 3 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 513 zu Petitionen
- Drucksache 16/11400 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 513 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 3 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 514 zu Petitionen
- Drucksache 16/11401 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 514 ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der
Vizepräsidentin Petra Pau
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke angenom-
men.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 h sowie
den Zusatzpunkt 4 auf:
6 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Klima- und umweltschädliche Subventionen
abbauen
- Drucksache 16/11206 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({21})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({22})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Hans-Josef Fell, Renate Künast, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Neue Kohlekraftwerke verhindern - Genehmigungsrecht verschärfen
- Drucksache 16/10617 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({23})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Hans-Josef Fell, Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Internationalen Klimaschutz stärken - Missbrauch von CDM-Projekten verhindern
- Drucksache 16/10820 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({24})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Bei Klimaverhandlung in Poznan den Weg für
Kyoto II frei machen
- Drucksache 16/11246 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({25}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, HansJosef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neuer Schwung für die Klimaverhandlungen Poznan zum Erfolg machen
- Drucksachen 16/11024, 16/11415 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({26})
Michael Kauch
Bärbel Höhn
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({27})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Michael Kauch, Angelika
Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Barrieren für die Einführung der CCS-
Technologie überwinden - Voraussetzungen
für einen praktikablen und zukunftsweisen-
den Rechtsrahmen schaffen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Kauch, Horst Meierhofer, Gudrun Kopp, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Potenziale der Abtrennung und Ablagerung
von CO2 für den Klimaschutz nutzen
- Drucksachen 16/9454, 16/5131, 16/10394 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Petzold
Marco Bülow
Eva Bulling-Schröter
g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({28}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Renate Künast,
Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Den Klimawandel wirksam durch Urwald-
schutz bekämpfen - Agrarüberschüsse in den
Erhalt der Urwälder investieren
- Drucksachen 16/7710, 16/8877 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hans-Heinrich Jordan
Gustav Herzog
Hans-Michael Goldmann
Cornelia Behm
h) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({29})
zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Vizepräsidentin Petra Pau
Bärbel Höhn, Undine Kurth ({30}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tropenwaldschutz braucht solide Finanzierung - Entwaldung vermeiden, Klima- und
Biodiversität schützen
- Drucksachen 16/9065, 16/11346 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Christian Ruck
Dr. Sascha Raabe
Hüseyin-Kenan Aydin
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rücknahmesystem für gebrauchte Energiesparlampen im Handel einrichten
- Drucksache 16/11387 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({31})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Bärbel Höhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Von den Sammelübersichten kommen wir jetzt wieder
zu einem inhaltlichen Thema, nämlich zum Klimaschutz.
({0})
Ich muss sagen: Als ich in Poznan war, war ich nicht
auf meiner ersten Klimakonferenz; ich war schon auf
vielen Klimakonferenzen, und es war immer ein gutes
Gefühl, Mitglied der deutschen Delegation zu sein; denn
Deutschland war Vorreiter in der EU, und die EU war
Vorreiter auf diesen Klimakonferenzen. Wenn ich an die
Konferenz auf Bali vor einem Jahr denke, dann erinnere
ich mich, dass die Rede von Minister Gabriel dort mit
großem Beifall aufgenommen worden ist. Die Rolle
Deutschlands auf Bali war sehr aktiv - auch innerhalb
der EU.
Das war in Poznan vollkommen anders, und das hatte
auch damit zu tun, dass die Kanzlerin selber und die
Bundesregierung vollkommen andere Zeichen gesetzt
hatten. Die Kanzlerin war noch einmal zu ihrem Kollegen nach Polen gefahren und hatte um Unterstützung für
die Kohle nachgesucht. Das zweite wichtige Thema dort
waren Ausnahmen für große Spritschlucker, also große
Autos. Genau diese zwei wichtigen Themen haben dazu
geführt, dass es eine Enttäuschung über die EU,
Deutschland und Angela Merkel gab,
({1})
und zwar nicht nur bei der Opposition - so viel Opposition war in Poznan ja gar nicht vertreten, als dass sie das
Klima hätte bestimmen können -, sondern zum Beispiel
auch bei den NGOs.
Angela Merkel hat den Antiumweltpreis „Fossil des
Tages“ erhalten. Es gab eine weitere Demonstration.
Dort standen Eisfiguren, um die Schärpen gebunden waren. Auf jeder stand in einer anderen Sprache: Europa Wo bist du? Tatsächlich haben also alle die Vorreiterrolle
von Europa vermisst.
Für die Debatte heute hat der Kollege Lintner von der
CDU/CSU lange suchen müssen, bis er einen Artikel in
der Süddeutschen Zeitung fand, in dem Angela Merkel
und die Bundesregierung auch gelobt wurden. Es gibt
aber auch noch ganz andere: Die meisten anderen Artikel waren eine massive Klatsche für diese Bundesregierung.
({2})
Dort hieß es nämlich: vom Antreiber zum Bremser. - Ich
nenne hier einmal einige Überschriften: „Abschied von
der Klima-Kanzlerin?“, „EU-Gipfel: Ausgerechnet
Merkel bremst“, „Die Klimakanzlerin dankt ab“, „Aufstieg und Fall der Klimakanzlerin“ und „Merkel entpuppt sich als Klima-Fossil“.
({3})
Das alles steht über Fotos vom letzten Jahr, auf denen
Angela Merkel noch vor den großen Eisbergen stand, als
sie sich ganz groß als Klimaschützerin präsentiert hatte.
Die Bundesregierung hat das Klimapaket verwässert und
nicht verbessert.
({4})
Ganz verheerend war es in diesem Zusammenhang,
dass Angela Merkel immer den Zusammenhang zwischen Klimaschutz und Arbeitsplätzen hergestellt hat:
Wer etwas für die Arbeitsplätze tun will, der darf in diesem Moment nicht mehr viel für den Klimaschutz tun. Der Vertreter der Entwicklungsländer aus Guyana hat
das auf der Eröffnungsveranstaltung der Konferenz aufgegriffen und gesagt: Wenn die EU sagt, dass Klimaschutz nur in wirtschaftlich guten Zeiten funktioniert,
dann frage ich, wie wir unseren armen Ländern erklären
sollen, dass sie etwas für den Klimaschutz tun müssen. Recht hat der Mann. Europa muss hier vorangehen.
({5})
Ban Ki-moon hat für grüne Arbeitsplätze geworben.
Obama gibt ein Zeichen für neue Arbeitsplätze, und die
Industrie hier sagt: Wir haben Angst, dass wir unsere
Vorreiterrolle beim Umweltschutz verlieren, wenn
Obama so vorangeht. Ja, wir müssen Angst haben; denn
das ist ein Riesenpotenzial. Roland Berger und auch
McKinsey - das sind keine Grünen - sagen, dass die
Zahl von 1,5 Millionen Arbeitsplätzen im Umweltbereich bis zum Jahr 2020 auf 3 Millionen gesteigert werden kann. Das ist das Potenzial an Arbeitsplätzen im
Umweltbereich.
({6})
Töpfer hat es mit folgenden Worten auf den Punkt gebracht: „Wir haben es verpasst, zwei Krisen gleichzeitig
in Angriff zu nehmen.“ Es geht darum, den Klimaschutz
nach vorne zu bringen, Arbeitsplätze zu schaffen und damit auch in dieser Finanzkrise ein Zeichen zu setzen,
dass wir zu einem Aufbruch bereit sind und neue Produkte brauchen. Das wäre die richtige Antwort.
({7})
Angesichts der Beschlüsse des Brüsseler Klimapakets
muss ich sagen: Die vereinbarten CO2-Grenzwerte für
Autos sind schon verheerend. Erinnern wir uns: 2008
sollte nach der freiwilligen Selbstverpflichtung der Automobilindustrie der Ausstoß der Autos bei 140 Gramm
pro Kilometer liegen. In Deutschland liegt der Ausstoß
momentan noch bei 168, nicht bei 140. Das, was jetzt
beschlossen worden ist, bedeutet, dass der Ausstoß auch
2012 mit allen Ausnahmen, die es gibt, in Europa bei
durchschnittlich 160 Gramm pro Kilometer liegen darf.
Das wäre eine Pause von vier Jahren beim Klimaschutz
für große Spritschlucker. Das können wir nicht hinnehmen.
({8})
Hinzu kommt noch, dass dies mit einem Dienstwagenprivileg unterfüttert wird, mit dem große Spritschlucker mit 3 Milliarden Euro subventioniert werden.
Hinzu kommt die Tatsache, dass es immer noch kein
Tempolimit gibt und dass mit dem Konjunkturprogramm
neue und insbesondere auch große Autos besonders stark
subventioniert werden. Das ist das Zeichen der Bundesregierung an die Automobilindustrie; es ist das Zeichen
„Weiter so!“. Das ist ein falsches Zeichen.
({9})
Die Autoexperten sagen nämlich sehr deutlich: Hier
muss man etwas ändern. Dudenhöffer zum Beispiel erklärte, die Krise werde auch die deutschen Hersteller
und Zulieferer härter treffen, als bisher gedacht. Wann
hat er das gesagt? Vor der Finanzkrise, am 19. März
2008. Der Autoexperte Helmut Becker hat das Buch geschrieben: Ausgebremst. Wie die Autoindustrie Deutschland in die Krise fährt. Wann hat er das geschrieben? Vor
der Finanzkrise, im August 2007. Das heißt, die Automobilindustrie in Deutschland hat ein Problem. Das wird
durch die Finanzkrise noch verschärft. Deshalb gilt: Die
Bundesregierung gefährdet mit ihrem Kurs Arbeitsplätze. Sie erreicht nicht, dass der Strukturwandel endlich eingeleitet wird.
({10})
Wir müssen natürlich auch über die Kohle reden. Ja,
es gilt in der Tat, dass die Zertifikate für Strom zu
100 Prozent ersteigert werden müssen. Ich muss sagen:
Es gab auch Leute in der Bundesregierung, die wollten
weniger als 100 Prozent, nämlich 90 Prozent. Dies sollte
ein Ausgleich für die Ausnahmen in Osteuropa sein.
Aber das, was jetzt herausgekommen ist, dass nämlich
die Bundesregierung neue Kohlekraftwerke mit 15 Prozent Investitionszulage subventionieren kann, ist verheerend. Neue Kohlekraftwerke sind keine hocheffizienten
Stromlieferanten, wie das immer dargestellt wird. Die
EU gibt einen Wirkungsgrad von 44,2 Prozent an. Dieser
Wert ist heute schlecht und damit schlechter als der
Stand der Technik. Nein, diese Subvention für die Kohlekraftwerke macht Kohlekraftwerke gegenüber erneuerbaren Energien wettbewerbsfähig. Das ist doch wohl das
falsche Zeichen. Das darf nicht sein.
({11})
Deshalb gilt: Wir müssen das Nötige tun. Das Nötige
heißt: keine neuen Kohlekraftwerke, schon gar nicht
staatlich subventioniert, und ehrgeizige Vorgaben für
spritsparende Autos ohne Schlupflöcher und Hintertüren. Außerdem gilt: Wir müssen unsere Klimaschutzaufgaben hier zu Hause erledigen und dürfen sie nicht nach
Indien und China verlagern. Technologietransfer ist gut.
Aber wenn man über 50 Prozent der CO2-Reduktionen,
die bis 2020 erbracht werden müssen, auf andere Länder
verlagern darf, dann sind das Schlupflöcher, die wir
nicht akzeptieren können. Wir wollen richtigen Klimaschutz, nicht das, was die EU hier vorgelegt hat.
Danke schön.
({12})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Andreas
Jung das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Höhn, zunächst darf ich als Mitglied des Petitionsausschusses darauf hinweisen, dass es sich auch
bei den Sammelübersichten durchaus um inhaltliche Fragen handelt.
({0})
Ich darf dann als Mitglied des Umweltausschusses
und auch als Mitglied der Parlamentariergruppe, die auf
der Konferenz von Posen war, zum Thema Klimaschutz
kommen. Ich will Ihnen zunächst in einem Punkt recht
Andreas Jung ({1})
geben. Es wäre falsch, die aktuelle Finanzkrise und auch
die Wirtschaftskrise, die sich global abzeichnet, als Argument dafür anzuführen, beim Klimaschutz zu bremsen. Ich glaube, das ist völlig klar; es liegt auf der Hand:
Nur weil wir noch ein weiteres Problem haben, werden
die Herausforderungen im Klimaschutz nicht geringer.
Es würde uns letzten Endes nichts bringen, das Finanzsystem zu retten, dem Wirtschaftssystem zu helfen,
wenn uns das Ökosystem um die Ohren fliegt.
({2})
Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Bemühungen um
den internationalen Klimaschutz zum Erfolg kommen.
Auf diesem Weg zur Unterzeichnung eines internationalen Klimaschutzabkommens war Posen noch nicht das
Ziel - das war auch nicht beabsichtigt; das Ziel, ein Abkommen zu unterzeichnen, soll im nächsten Jahr, 2009,
in Kopenhagen erreicht werden -, sondern nur eine
Etappe. Ich glaube, man kann zunächst ganz nüchtern
feststellen, dass die Erwartungen, die an diese Etappe
gerichtet wurden, zumindest was Tendenz und Richtung
angeht, erfüllt wurden.
Im Bereich des Anpassungsfonds und beim Waldschutz sind kleine Schritte gemacht worden. Vor allem
aber wurde grünes Licht für die Erstellung der Abschlussdokumente für die Konferenz in Kopenhagen und
für den Endspurt zu dem Klimaschutzabkommen gegeben.
({3})
Ich finde, in den nächsten zwölf Monaten, in denen viel
auf dem Spiel steht, muss unser Handeln darauf gerichtet
sein, gemeinsam alle Kräfte zu bündeln, um unsere
Drähte zu nutzen und unsere Partner einzubinden, um
gemeinsam für diesen Erfolg zu kämpfen.
Diese Gemeinsamkeit stelle ich auch deshalb so in
den Vordergrund, weil Sie die Stimmung auf dem Gipfel
in Posen beschrieben haben. Die Stimmung war in der
Tat in Teilen eine andere als letztes Jahr auf Bali. Ich
will aber auch die Frage stellen, woran dies möglicherweise gelegen hat. Ich fand es nicht hilfreich, dass Vertreter der Oppositionsfraktionen - namentlich auch Sie,
Frau Höhn - auf diesem Gipfel in Hintergrundgesprächen, in Gesprächen mit NGOs und anderen Staaten Gerüchte über die Verhandlungen in Brüssel verbreitet haben, die sich im Nachhinein als falsch erwiesen haben,
({4})
namentlich zu der Frage, ob es gelingt, eine 100-prozentige Auktionierung durchzusetzen. Das hat sicherlich
nicht zu einer positiven Stimmung beigetragen. Das ist
das eine.
Das andere ist die Frage, wer - wenn man sich große
Schritte anstelle von kleinen Schritten wünscht - auf diesem Gipfel größere Schritte, die wir uns in Deutschland
und in der Europäischen Union gewünscht hätten, blockiert hat. Das waren weder Deutschland noch die EU.
({5})
Wir haben keine Angst davor, dass die USA jetzt den
Klimaschutz vorantreiben, sondern wir hoffen darauf.
Diese Hoffnungen haben sich aber bisher nicht bestätigt,
weil in Posen noch die alte Regierung verhandelt hat.
Deshalb sind wir nicht vorangekommen. Wir sind auch
nicht vorangekommen, weil Russland -
Kollege Jung, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höhn?
Ja, gerne.
Herr Kollege Jung, ich will auf die Hintergrundgespräche zurückkommen. Ich habe keine Hintergrundgespräche geführt, in denen ich irgendetwas über irgendwelche Verhandlungsergebnisse in Brüssel gesagt habe.
Ich habe Interviews mit der Presse und dem Rundfunk
geführt, die jedem zugänglich sind. Ich bitte Sie, zu benennen, in welchem Hintergrundgespräch mit welchem
Journalisten ich welches Gerücht verbreitet haben soll.
({0})
- Die NGOs haben uns etwas erzählt. - In welchem Hintergrundgespräch mit Journalisten habe ich welches Gerücht über den Verhandlungsstand in Brüssel verbreitet?
Diese Frage hätte ich gerne von Ihnen konkret beantwortet.
Zum einen konnten wir alle nachlesen, was Sie gegenüber der Presse gesagt haben.
({0})
Zum anderen haben wir ein Gespräch mit den NGOs
geführt, und zwar am Vorabend des Verhandlungsergebnisses in Brüssel.
({1})
- Entschuldigung, dann war es ein offizielles Gespräch.
Das macht es aber nicht besser, sondern sogar schlimmer. Dann haben Sie in einem offiziellen Gespräch gesagt, das Thema „100-prozentige Auktionierung“ im Bereich Energiewirtschaft sei vom Tisch. Das sei ein
Verhandlungsziel, das die Bundesregierung aufgegeben
habe, und es werde am Ende nichts herauskommen.
({2})
- Frau Höhn, das haben Sie so wörtlich gesagt.
Andreas Jung ({3})
Ich füge ein Zweites hinzu, worüber wir uns gestern
im Ausschuss schon unterhalten haben. Herr Minister
Gabriel hat Sie gefragt, an welchen Punkten Deutschland blockiert habe, und Sie haben keinen einzigen
Punkt benennen können.
({4})
Sie haben dann auf Brüssel verwiesen und gesagt, es
gehe um die von Brüssel ausgehenden Signale. Ich bin
gern bereit, dass wir uns in der Sache damit auseinandersetzen. Welches sind denn die Signale von Brüssel? Das
Signal ist, dass die Bundesrepublik und Europa den starken Worten, die die EU im Jahr der deutschen Ratspräsidentschaft fand und die besagten, dass man bereit sei, die
Treibhausgase bis 2020 um 20 Prozent zu reduzieren,
die entsprechenden Taten folgen lassen. Dieses Ziel wird
jetzt mit konkreten Maßnahmen im Emissionshandelsplan umgesetzt.
Wir wollen - das sagen wir auch nicht erst seit der Finanzkrise - Umwelt- und Klimaschutz so umsetzen, dass
wir Arbeitsplätze dadurch nicht gefährden, sondern sie
erhalten und neue schaffen. Das ist doch nicht falsch,
sondern richtig, vor allem dann, wenn man sich als Vorreiter begreift. Jeder, der Vorreiter ist oder sein will,
braucht auch welche, die hinterherreiten. Wenn Entwicklungs- oder Schwellenländer, die unseren Wohlstand erst
erreichen wollen, erkennen müssten, dass unser Klimaschutz uns Wohlstand und Arbeitsplätze kostet, dann
wäre dies für sie kein Vorbild. Deshalb ist es richtig, dass
man einen Kompromiss gefunden hat, bei dem man beides, Klimaschutz und Arbeitsplätze, unter einen Hut
bringt.
({5})
Ich bin auch gern bereit, mich über die Details zu unterhalten. Die Frage der Auktionierung ist schon angesprochen worden. Wir haben zur Kenntnis genommen,
dass gerade Jürgen Trittin diesen Kompromiss angegriffen hat. Hier lohnt sich ein Blick zurück in die Zeit, als
Jürgen Trittin selber Emissionshandelspläne verantwortete - das ist gerade einmal drei Jahre her -: Damals
wurden den Kohlekraftwerken in Deutschland mehr Verschmutzungsrechte geschenkt, als sie überhaupt verbrauchen konnten. Es gab 0 Prozent Auktionierung, heute
sind wir in Deutschland und in weiten Teilen der Europäischen Union bei 100 Prozent Auktionierung. Es ist
nicht schwer auszurechnen, dass wir an diesem Punkt
um 100 Prozent besser als Jürgen Trittin sind.
({6})
Das ist nicht überraschend; aber das sollte bei der einen
oder anderen kritischen Wortmeldung zur Mäßigung beitragen.
Alles in allem bin ich der Überzeugung, dass sowohl
durch die Entscheidungen in Brüssel als auch durch die
Verhandlungen in Posen die richtigen Weichen für die
entscheidenden nächsten zwölf Monate gestellt wurden.
Ich wünsche mir, dass wir alle gemeinsam für einen Erfolg arbeiten. In den nächsten zwölf Monaten steht viel
auf dem Spiel. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst und werden alles tun, damit am Ende ein Erfolg
stehen wird.
Herzlichen Dank.
({7})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Höhn das
Wort.
({0})
Nein, es wird eben nicht peinlich. - Herr Jung, Sie haben eben schon zurückgenommen, dass ich irgendetwas
in einem Hintergrundgespräch mit Journalisten gesagt
hätte. Jetzt geht es um das NGO-Gespräch. Sie erinnern
sich genau daran: Es war ein öffentliches Gespräch, an
dem wir beide teilgenommen haben. In diesem Gespräch
ging es um 100 Prozent Auktionierung sowie darum, ob
der Bundestagsbeschluss eingehalten wird. Ich sage Ihnen: Der Bundestagsbeschluss ist nicht eingehalten worden; es gibt eine Ausnahme von der Auktionierung in
Osteuropa. Hier ist ein großer Fehler gemacht worden.
Deshalb fordere ich Sie auf, keine Gerüchte über das
zu verbreiten, was ich gesagt haben soll, wenn es nicht
stimmt. Das ist eigentlich nicht Ihre Art, Herr Jung. Lassen Sie uns inhaltlich argumentieren und nicht auf diese
Art und Weise vorgehen.
({0})
Kollege Jung, möchten Sie erwidern?
({0})
Dann hat jetzt der Kollege Michael Kauch für die
FDP-Fraktion das Wort.
({1})
- Kollegin Höhn, der Kollege Kauch hat jetzt das Wort. Bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
schon bemerkenswert, wie diese Debatte abläuft. Ich
schicke vorweg: Auch aus unserer Sicht haben Frau
Merkel und Herr Gabriel in Brüssel und in Posen nicht
alles richtig gemacht. Aber das, was die Grünen ausschließlich aus Gründen innenpolitischer Profilierung
jetzt und in der letzten Woche abgezogen haben und
heute wieder abziehen, schadet der Verhandlungslinie
der EU.
({0})
Ihr hysterischer Reflex, dass niemand besser Umweltpolitik machen könne als die Grünen, bringt Sie dazu, alles
und jedes in diesem Haus und der Presse zu behaupten,
ob es stimmt oder nicht, und alles mieszumachen. Eine
verantwortliche Opposition kritisiert die Regierung da
- so halten wir von der FDP das -, wo es richtig und notwendig ist. Aber sie nimmt auch Rücksicht auf das Bild
unseres Landes im Ausland. Trotz der Fehler, die Frau
Merkel begangen hat, macht die Europäische Union
noch immer mehr, als die USA überhaupt nur ankündigen, Frau Höhn.
({1})
Beim Emissionshandel haben wir die ökologischen
Ziele für den Strom- und den Industriesektor erreicht.
Ob die Rechte nun versteigert werden oder nicht, ist eine
ökonomische Frage und hängt davon ab, ob der Staat auf
Einnahmen zugunsten bestimmter Branchen verzichtet.
Das kann man wirtschaftspolitisch gut oder schlecht finden, aber die ökologischen Ziele werden erreicht. Das
weist allerdings auf einen Kardinalfehler des EU-Klimaund Energiepaketes hin. Es gibt andere Bereiche, in
denen das Erreichen der ökologischen Ziele keineswegs
sicher ist. Das sind der Verkehrsbereich und die Wärmeproduktion, also die CO2-Emissionen, die beim Heizen
entstehen. Hier zieht der Emissionshandel keine feste
Obergrenze. Hier versucht man an vielen Stellschrauben,
zum Beispiel mit Grenzwerten für Autos, etwas zu erreichen. Aber was dabei herauskommt, weiß kein Mensch.
Deshalb sagt die FDP ganz klar: Das einzige ökologisch
treffsichere Instrument ist auch in diesem Bereich der
Emissionshandel. Wir Liberale wollen aus Effizienzgründen, aber vor allem auch aus ökologischen Gründen
den Emissionshandel auf den Verkehrsbereich und die
Wärmeproduktion ausweiten.
({2})
Kollege Kauch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fell?
Sehr gerne.
Herr Kollege Kauch, Sie haben gerade den Grünen
Hysterie vorgeworfen, weil die Grünen das EU-Klimapaket kritisieren. Ich frage Sie, ob Sie auch dem Klimaschutzberater der Bundesregierung, Herrn Schellnhuber,
Hysterie vorwerfen. Er hat nämlich gesagt, dass er die
Erreichung der Klimaschutzziele aufgrund der vielen
Ausnahmen in diesem Paket für nicht mehr realistisch
hält. Er hat im Prinzip die Kritik der Grünen bestätigt
und selbst artikuliert. Wie kann man also unsere Kritik
als Hysterie bezeichnen, wenn die Kritik auch aus so berufenem Mund kommt?
Lieber Kollege Fell, ich kenne die Aussagen von
Herrn Schellnhuber nicht im Detail. Ich selber habe gerade darauf hingewiesen, dass es Bereiche im EUKlima- und Energiepaket gibt - das betrifft insbesondere
den Verkehrsbereich und die Wärmeproduktion -, bei
denen ich anzweifle, dass die Ziele erreicht werden. Wo
aber der Emissionshandel wirkt, da werden die Ziele erreicht. Um das einzusehen, muss man nur Mathematik
können. Wenn es eine bestimmte Zahl an Emissionsrechten gibt und eine Absenkung von 20 Prozent bis 2020
vorgesehen ist, dann sind die Ziele automatisch erreicht,
jedenfalls solange unsere Umweltverwaltung kontrolliert, dass niemand emittiert, der keine Rechte hat. Davon gehen wir alle aus; denn diese Verwaltung hat Ihr
ehemaliger Umweltminister Trittin aufgebaut. Dementsprechend werden die Ziele auch erreicht werden.
({0})
Es gibt aber weitere Probleme in diesem EU-Klimaund Energiepaket. Das betrifft unter anderem den Bundestagsbeschluss, den wir gemeinsam als Verhandlungsauftrag für die Bundesregierung gefasst haben. Der
Deutsche Bundestag hat beschlossen, dass einheitliche
Mechanismen in der Europäischen Union notwendig
sind. Nun hat man einheitlich beschlossen, dass es unterschiedliche Mechanismen im Westen und Osten des
europäischen Kontinents gibt. Das ist ein klassisches
Beispiel dafür, wie die Bundesregierung erneut Scheckbuchdiplomatie in Europa gemacht hat: Die Polen und
die Balten haben laut geschrien, und wer laut schreit, bekommt einen Scheck aus Berlin. So funktioniert der Mechanismus, mit dem sich die Bundesregierung Mehrheiten in Brüssel sichert.
({1})
Der Deutsche Bundestag hat weiter gefordert, dass
auf nationaler Ebene über die Versteigerungserlöse entschieden werden soll. Das ist rechtlich erreicht worden.
Es steht im Beschluss, dass die Mitgliedstaaten das entsprechend ihren Haushaltsgesetzen ausgestalten. Auf
diese Regelung wird die FDP pochen.
Die Bundesregierung hat sich politisch verpflichtet,
50 Prozent für Klimaschutzprojekte auszugeben. Dies
- das betone ich hier ausdrücklich - ist vielleicht eine
Verpflichtung der Bundesregierung, aber nicht des Deutschen Bundestages.
({2})
Deshalb insistieren wir als FDP darauf, dass die Kosten
der Versteigerung, die den Stromkunden in Rechnung
gestellt werden, kompensiert werden und dass den Bürgerinnen und Bürgern durch eine Absenkung der Stromsteuer das Geld wieder zurückgegeben wird, was aus den
Erlösen, die der Staat aus der Versteigerung erzielt, finanziert werden kann.
({3})
Wir sollten nicht so tun, als würde sich das Klima
ausschließlich an den Emissionen unserer Industrie ausrichten; es ist vielmehr wichtig, dass wir die Senken für
CO2 in dieser Welt erhalten. Das ist ein zentraler Punkt
des Klimaschutzabkommens, das wir alle gemeinsam erreichen wollen. Dabei geht es insbesondere um den
Schutz der tropischen Regenwälder. Es liegen Initiativen
dazu vor. Ich möchte an der Stelle sehr deutlich sagen:
Wir werden ein Post-Kioto-Abkommen, das jetzt, nachdem die EU vorangegangen ist, klar im Interesse unserer
Wirtschaft ist, nur erreichen, wenn wir in den Waldschutz und in Projekte investieren, die tatsächlich wirtschaftliche Alternativen zur Entwaldung bieten. Es geht
nicht, dass wir die Mittel einfach auf das Konto etwa der
indonesischen Regierung überweisen, was diese gerne
hätte. In diesem Zusammenhang wünsche ich mir mehr
Klarheit insbesondere von der Entwicklungshilfeministerin. Man darf nicht einfach die Eliten in den Hauptstädten finanzieren, sondern man muss den Menschen in
den Waldgebieten Unterstützung gewähren, damit die
Wälder, die für unser Klima so entscheidend sind, erhalten bleiben.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Frank Schwabe für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Man kann lange darüber diskutieren, ob das Glas
nach den Beschlüssen von Poznan und Brüssel halb voll
oder halb leer ist. Da unterscheidet sich sicherlich die
Sichtweise der Opposition von der der Koalition. Darüber muss man sich nicht so erregen. Beide haben die
Aufgabe, ihre Ansichten zu kommunizieren.
Worüber es sicherlich keinen Zweifel gibt, ist, dass
wir in einer ganz entscheidenden Phase des weltweiten
Klimaschutzes sind. Die Phase ist deswegen entscheidend, weil man sich politisch entscheiden muss, ob Klimaschutz ein Teil des Weges in die Krise ist oder ob Klimaschutz ein Teil des Weges aus der Krise ist. Das eine
Problem ist, dass wir viel zu viel aus der Erde herausholen, dieses verfeuern und deswegen irgendwann nichts
mehr haben, und das andere Problem ist, dass wir immer
mehr von dem, was wir herausholen, als Abgase in die
Atmosphäre pusten. Angesichts dieser Probleme kann es
keinen Zweifel geben, dass Klimaschutz und damit die
Energiewende Teil, und zwar ein grundlegender Teil, des
Weges aus der Krise sein muss und dass das die Debatten der nächsten Tage, Wochen und Jahre bestimmen
muss.
Jetzt ist die Zeit der Entscheidungen. Deswegen bin
ich natürlich über die Weltfinanzkrise und die Weltwirtschaftskrise nicht glücklich. Aber für den Klimaschutz
bedeutet das mehr Chance als Risiko, weil sich die Welt
jetzt entscheiden muss, was sie für den Klimaschutz eigentlich machen möchte. Wir müssen Umbauprozesse
organisieren. Ich als Kind des Ruhrgebiets bin nicht sehr
verdächtig, dass ich Brüche, was industrielle Prozesse
betrifft, haben möchte. Ich komme aus einer Bergarbeiterfamilie. Ich bin Mitglied der IG BCE und des örtlichen deutsch-österreichischen Knappenvereins. Insofern weiß ich, dass Brüche völlig falsch wären.
Deswegen ist es richtig, dass wir bei den Beschlüssen in
Brüssel Schutzmechanismen für die deutsche und für die
europäische Industrie eingeführt haben. Auf der anderen
Seite sage ich klipp und klar: Es geht auch um Umbauprozesse. Es gibt mir zu viele, auch hier im Deutschen
Bundestag, die in den letzten Jahren mehr verzagt als
verzückt über Klimaschutz geredet haben und jetzt die
Krise zum Anlass nehmen, sich nicht mehr so für den
Klimaschutz einzusetzen.
Wir können heute noch nicht ermessen, wie wichtig
die Beschlüsse von Brüssel zur 100-prozentigen Auktionierung im Strombereich waren. Das ist ein riesiger Erfolg, der auf europäischer Ebene geglückt ist. Die Beschlüsse sind deshalb wichtig, weil wir zum einen einen
vernünftigen Marktpreis für CO2 bekommen und damit
alternative Technologien marktfähiger machen, als es
bisher der Fall ist, und weil wir zum anderen Finanzmittel für internationalen und nationalen Klimaschutz bekommen.
Ich kann nicht umhin, das hier für die Sozialdemokratie als Erfolg zu reklamieren. Ich will das an dieser Stelle
ganz selbstbewusst tun. Während der Deutsche Bundestag am 28. Mai und am 4. Dezember dieses Jahres unmissverständliche Beschlüsse gefasst hat, der Umweltminister diese vertreten hat und sich durch diese
Beschlüsse hat stützen lassen, die Bundeskanzlerin geschoben und gezogen wurde - ich verweise auf das Presseecho -, waren es maßgebliche Ministerpräsidenten der
Union und leider auch maßgebliche Teile der Unionsfraktion, die eher das Wort der Energieversorger im
Munde geführt haben. Mir liegen zahlreiche Zitate aus
Debatten im Deutschen Bundestag vor, etwa von Frau
Reiche oder von Herrn Silberhorn, der noch vor zwei
Wochen hier in der Debatte gesagt hat, dass er insbesondere mit Blick auf die deutsche Energiewirtschaft dafür
eintritt, dass es nicht zu einer Vollauktionierung der
CO2-Zertifikate kommt. Insofern reklamiere ich dieses
Ergebnis an dieser Stelle selbstbewusst als einen Erfolg
für die Sozialdemokratie.
({0})
In der öffentlichen Debatte wird zu wenig vermittelt:
Das Geld, das wir durch die 100-prozentige Auktionierung der CO2-Zertifikate einnehmen werden, ist das
Geld der Menschen in diesem Land und in Europa; es ist
Geld, das die Energieversorger von den Verbraucherinnen und Verbrauchern zu Unrecht kassiert haben. Wir
haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Staat dieses Geld zunächst einnimmt und es dann den Verbraucherinnen und Verbrauchern zurückgibt.
Ich glaube, dass die Beschlüsse von Brüssel und Poznan Teile eines erfolgreichen Weges zu einem Kopenhagen-Abkommen sind. Ich ermuntere uns zu entsprechenFrank Schwabe
dem Selbstbewusstsein. Das Ganze wird nur dann
funktionieren, wenn sich die Staats- und Regierungschefs im nächsten Jahr in die Debatte einmischen. Ich
denke, das werden sie auch tun.
Für die europäische Ebene möchte ich drei Dinge
festhalten, die im Anschluss an diese Beschlüsse wichtig sind: Erstens. Wir müssen klarstellen, dass wir vom
20-Prozent-Ziel auf das 30-Prozent-Ziel übergehen,
wenn es in Kopenhagen zu Beschlüssen kommt, die andere Industrienationen zu maßgeblichen Reduktionen
des CO2-Ausstoßes verpflichten. Das will der Deutsche
Bundestag, das will das Europäische Parlament. Wir
sollten da-rauf achten, dass das umgesetzt wird.
Zweitens. Wir brauchen in der Tat einen Mechanismus, um die deutsche und die europäische Industrie vor
Carbon-Leakage zu schützen; die Schaffung eines solchen Mechanismus ist jetzt geplant. Wenn in Kopenhagen aber ein Abkommen getroffen wird, in dem andere
Industrieländer dazu verpflichtet werden, maßgebliche
Reduktionen des CO2-Ausstoßes vorzunehmen, müssen
wir über das Thema „Carbon-Leakage“ neu miteinander
diskutieren; denn dann fehlt manchen Regelungen, die
beschlossen worden sind, die Grundlage.
Drittens zum CDM, zu den flexiblen Mechanismen;
Frau Höhn ist bereits darauf eingegangen. Viele sind bezüglich des Instrumentariums CDM zu optimistisch; es
gibt da eine moderne Goldgräberstimmung. Wir müssen
schon intensiv darüber diskutieren, wie viel Klimaschutz
wir - ganz egoistisch - im eigenen Land verwirklichen
wollen, damit Umbauprozesse in der Industrie organisiert werden können, und für wie viel Klimaschutz in
Entwicklungsländern wir eintreten.
Nach diesen Beschlüssen sind zwei Dinge für die
deutsche Debatte wichtig: Erstens. Wir müssen darüber
diskutieren, welche Kraftwerke Investitionszuschüsse
von 15 Prozent bekommen sollen. Nach meiner Ansicht
können das nur Kraftwerke mit Kraft-Wärme-Kopplung
sein. Diese Zuschüsse dürfen nicht an die großen Energieversorger fließen; ansonsten unterstützen wir in
Deutschland weiterhin bestimmte Oligopole.
Zweitens. Es macht keinen Sinn, das eingenommene
Geld aus der Versteigerung der Zertifikate zur Senkung
der Stromsteuer zu verwenden. Herr Kauch, dieses Geld
könnte man dann gleich RWE und den anderen auf das
Konto überweisen; das sagt jeder, der weiß, wie das System in Deutschland funktioniert. Ich glaube, dass wir
demnächst 100 Prozent der Versteigerungserlöse für nationalen und internationalen Klimaschutz einsetzen müssen. Ich unterstütze hier nachdrücklich den Bundesumweltminister.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erst Anfang des Monats wurden Studienergebnisse veröffentlicht, nach denen der atemberaubende Eisschwund
im Nordpolarmeer wahrscheinlich unumkehrbar ist - ein
neues Alarmsignal. Schade: Die UN-Klimakonferenz in
Poznan erfüllte lediglich Minimalerwartungen. Verbindliche Zusagen der Industrie- und Schwellenländer bei
der Reduktion der Treibhausgase blieben aus. Gleiches
gilt für den Technologietransfer und die Reform des
CDM-Systems, das heißt die Möglichkeit, sich Klimaprojekte in Entwicklungsländern gutschreiben zu lassen.
Immerhin wurden Mandate erteilt, nach denen bis zum
Sommer die Vertragstexte vorliegen sollen, über die
dann in Kopenhagen zu verhandeln ist. Das ist ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zu einem KiotoNachfolgeprotokoll für die Zeit ab 2013. Künftige Minderungsziele für Treibhausgasemissionen wurden aber
nicht vorgegeben.
Die Zahl der Staaten, die das 2-Grad-Ziel anerkennen,
wächst weiter - das finde ich sehr positiv -; was dies jedoch für die einzelnen Ländern an Minderungsverpflichtungen bedeuten könnte, blieb unklar. Das ist
meines Erachtens Stillstand, vor allem angesichts der
fortschreitenden Klimaerwärmung. Die Industrieländer
müssten ihre Emissionen bis 2020 um 25 bis 40 Prozent
senken - das wissen Sie -; doch nicht einmal die Industrienationen konnten sich darauf einigen. Das finde ich
persönlich wirklich enttäuschend.
({0})
Wir bedauern auch, dass die UN-Verhandlungen zum
Anpassungsfonds für Entwicklungsländer nur einen
Trippelschritt vorangekommen sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf Bali war der
Schwung zu spüren. In Poznan habe ich und haben auch
viele andere davon nichts mehr gespürt. Das lag sicher
auch an den zeitgleich gefassten Beschlüssen des EURats. Der Ratskompromiss zum Klimaschutzpaket der
EU wurde auf der Klimakonferenz als Rückschritt wahrgenommen. Er fällt auch tatsächlich deutlich hinter die
ursprüngliche Fassung der EU-Kommission zurück. Er
weicht in zentralen Punkten auch von dem Bundestagsbeschluss ab, den wir am 30. Mai gefasst haben.
Mit den Beschlüssen zum EU-Emissionshandel ab
2013 wird der Umbau in der Stromwirtschaft hin zu einer kohlenstoffarmen Energieversorgung in Teilen blockiert. Überwiegend kostenlose Zertifikate für osteuropäische Kohlekraftwerke bringen unserer Meinung nach
nichts als Extraprofite für die Energiekonzerne, die damit ihre überkommenen Strukturen festigen können.
({1})
Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass die Energiekonzerne hier im Land bis 2012 35 Milliarden Euro
Extragewinne einfahren. Sie preisen die geschenkten
Zertifikate ein und geben sie so an die Kunden weiter;
das wurde hier nicht mehr bestritten. Warum also sollen
sie das in Osteuropa nicht tun? Dafür gibt es keinen
Grund. Es sind zum Teil die gleichen Konzerne; wir wissen es. RWE und Vattenfall waren dort als Lobby vertreten.
Zudem erhält die Industrie die CO2-Zertifikate auf
Betreiben der Bundesregierung fast vollständig kostenlos. Auch das ist unseres Erachtens eine sinnlose Subvention zulasten der Umwelt.
({2})
Begründet wird das alles mit der Sicherung der Arbeitsplätze. Ich sage Ihnen einmal etwas: Wir von den Linken
sind die Letzten, die die Arbeitsplätze nicht sehen würden. Aber es gibt viele Studien, die besagen, dass die
Mehrzahl der deutschen Industriebetriebe durch eine
Auktionierung der Emissionsrechte in ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit nicht bedroht wäre.
Bei Freistellungen von der Versteigerung kann es
schließlich nur um jene Branchen gehen, die zwei Kriterien gleichzeitig erfüllen: Erstens. Sie produzieren trotz
fortschrittlicher Technologie sehr energieintensiv. Zweitens. Sie stehen mit ihren Produkten tatsächlich in einem
relevanten Umfang im Wettbewerb mit Unternehmen außerhalb der EU. - Diese beiden Kriterien erfüllen - das
besagen viele Studien - gerade einmal 2 bis 3 Prozent.
Das ist wahrscheinlich zu niedrig - darüber können wir
streiten -, aber freigestellt werden letztlich über 80 Prozent. Hier hat sich die Wirtschaft auf Kosten des Klimaschutzes schamlos durchgesetzt.
({3})
Herr Gabriel, Sie haben uns gestern im Ausschuss dahin belehrt, dass die Ausnahmen von der Versteigerung
nichts an der Reduktionsverpflichtung ändern; der Ausstoß von Treibhausgasen sei durch das Cap, also die festgelegte Emissionsgrenze, vorgegeben. Richtig, rein
rechnerisch stimmt das. Trotzdem wird der Klimaschutz
durch die Ausnahmen praktisch untergraben. Sie plädieren immer dafür, dynamisch zu denken. Das finde ich
auch richtig. Aber was wird wirklich passieren? Die
Ausnahmen für die Industrie verhindern in der Tendenz
eine Erhöhung der Effizienz oder einen Brennstoffwechsel. Das sagen Wissenschaftler, das sagen Naturschutzverbände; das ist belegt. Das gilt natürlich auch für die
osteuropäischen Kohlekraftwerke. Weil sie ihre Zertifikate überwiegend kostenlos erhalten haben, fällt es ihnen leichter, Fehlmengen zuzukaufen. Selbst ein Emissionswachstum ist dann locker finanzierbar. Das kennen
wir ja von Deutschland, Stichwort: Windfall-Profits.
Natürlich müssen die zusätzlich nachgefragten Zertifikate irgendwo herkommen. Weil viele Anlagenbetreiber davon Gebrauch machen werden, Emissionsgutschriften aus dem Süden zuzukaufen, werden jede
Menge dieser Zertifikate in den EU-Markt wandern.
Etwa die Hälfte der EU-Einsparverpflichtung kann ja ab
2013 über Auslandsprojekte abgerechnet werden; das
halten wir im Übrigen für zu viel. Aber was haben wir
dann im Jahr 2020 in Deutschland und Europa? Konservierte Strukturen in der energieintensiven Industrie und
im osteuropäischen Kraftwerkspark. Die für den Neubau
von Kohlekraftwerken und fragwürdigen CCS-Anlagen
vorgesehenen Subventionen tun ihr Übriges. Direkte Finanzströme an Polen oder Ungarn hätten dagegen auch
alternative Energien und Energieeffizienz fördern können und damit neue und zukunftsfähige Arbeitsplätze
gesichert.
({4})
Noch einmal: Wir wollen diese Arbeitsplätze nicht vernichten, wir wollen nur eine Konversion.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie um das Jahr 2020 hier in
Europa jede Menge nagelneuer Kohlekraftwerke haben,
dann bin ich sehr gespannt, wie Sie anschließend neue
ambitionierte Minderungsziele durchsetzen wollen. Wir
wissen doch alle, dass die Ziele nach 2020 deutlich
strenger sein müssten als die jetzigen. Ansonsten kommen wir im Jahr 2050 niemals bei minus 80 Prozent an
und können das Zwei-Grad-Ziel vergessen.
Ganz zum Schluss:
Kollegin Bulling-Schröter, Sie sind schon über die
Zeit. Ich bitte Sie um einen Schlusssatz.
({0})
Ein letzter Satz: Wir halten das Klimapaket für eine
verpasste Chance, aber es ist natürlich besser als der jetzige Rechtsrahmen. Doch angesichts der Herausforderungen ist es deutlich zu mager, auch dank der kurzfristigen Gewinninteressen der deutschen Wirtschaft.
({0})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Josef
Göppel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
wichtigste Botschaft der heutigen Klimadebatte lautet:
Die Stützung der Wirtschaft muss immer mit dem Klimaschutz verbunden sein. - Alle Redner haben das betont, bei vielen Unterschieden in den Instrumenten. Deswegen möchte ich an den Anfang stellen: Es genügt
nicht, mit Konjunkturprogrammen die vorhandenen
Strukturen zu stützen, sondern wir müssen auf mehr Effizienz zielen und auf die Lenkungswirkung der Konjunkturprogramme setzen. Man kann zum Beispiel im
Bereich der Mobilität nicht eine Modellpalette stützen,
die aufgrund zu hohen Energieverbrauchs keine Zukunft
hat. Wir brauchen die Verknüpfung zum Klimaschutz
und damit zur ökologischen Erneuerung unserer Volkswirtschaft.
({0})
Ich finde es schön, dass in diesem Punkt Einmütigkeit
im ganzen Hause besteht.
Ich war als Mitglied der Parlamentarierdelegation in
Posen und muss nach meinen Erfahrungen dort sagen:
Wenn Deutschland auf der internationalen Bühne agiert,
dann ist es nicht gut, wenn in der Heimat zum Beispiel
Frau Künast vorschnell Erklärungen abgibt, die dann in
der Tagesschau gesendet werden, es gehe sozusagen alles in den Graben und Deutschland verfehle seine Ziele.
Es bleibt festzuhalten: Wenn die Termine besser aufeinander abgestimmt worden wären, indem zum Beispiel
die Brüsseler Konferenz nur einen Tag eher beendet
worden wäre,
({1})
dann hätte sich die Stimmung in Posen völlig anders entwickelt.
({2})
Es wäre schön, Frau Höhn, wenn die Grünen einmal anerkennen würden, dass keine andere Person in der internationalen Politik in den Medien dermaßen angegriffen
wurde und mehr Standhaftigkeit beim Klimaschutz gezeigt hat als Frau Merkel.
({3})
Es ist das Recht der Opposition, immer noch etwas
mehr zu fordern. Das ist okay. Aber das, was jetzt erreicht wurde, sollte man sich erst einmal im Detail anschauen. Ich frage mich ohnehin, warum alle nur über
die Versteigerungen reden, aber keiner erwähnt, dass bereits ab dem Jahr 2013 die zulässige Obergrenze der
Emissionen, die in Europa ausgestoßen werden dürfen,
um 1,74 Prozent jährlich gesenkt wird.
({4})
Entscheidend sind doch das Ziel und die Art der Instrumente.
({5})
Ich möchte auch auf die Signale eingehen, die in Poznan von den Leuten des gewählten Präsidenten Obama
bei der Veranstaltung „Climate Action Under a New
U.S. Administration“ ausgesandt wurden. Das sollten
wir uns genau anschauen. Die Amerikaner wollen von
23 Tonnen CO2-Ausstoß pro Kopf auf 20 Tonnen runter.
Das entspräche deren Niveau von 1990. Die Europäer
hingegen haben eine Senkung von 8,5 Tonnen CO2-Ausstoß pro Kopf auf etwas unter 7 Tonnen beschlossen und
instrumentalisiert. Wir beabsichtigen damit eine Senkung um 20 Prozent gegenüber 1990, die Amerikaner
nur um etwa 12 Prozent.
Wir haben aber gespürt, mit welcher Entschlossenheit
die Vertreter der neuen US-Administration aufgetreten
sind. Die Vertreterin der US-Aluminiumindustrie ist zum
Beispiel aufgetreten und hat gesagt: Wir sind nun nach
langen Debatten zu der Auffassung gekommen, dass
Maßnahmen für den Klimaschutz unausweichlich sind.
Nachdem wir das erkannt haben, haben wir uns zum Ziel
gesetzt, möglichst schnell und effizient entsprechende
Maßnahmen umzusetzen. Wir wollen das klimaverträglichste Aluminium auf den Weltmarkt bringen und die
anderen von der Spitze verdrängen.
Es wäre angesichts der Dynamik, die die neue USProgrammatik in diesem Bereich entfalten wird, falsch,
wenn wir uns in Sicherheit wögen, weil wir beim Klimaschutz so hehre Ziele und Vorgaben haben. Die Mengen,
die in den USA im Bereich der Industrie, des Verkehrs
und der Gebäude in Bewegung gesetzt werden, dürfen
nicht unterschätzt werden. Deswegen sage ich noch einmal: Wir müssen jetzt alle unsere konjunkturpolitischen
Maßnahmen mit dem Klimaschutz verknüpfen, damit
wir an der Weltspitze bleiben. Nur so können wir unsere
Arbeitsplätze gegenüber der neuen Konkurrenz sichern.
Ich will es einmal etwas flapsig sagen: Wenn die Amis
mehr Wettbewerb anpacken, dann machen sie das mit
ungeheurer Power. Hier wird also mehr Wettbewerb auf
uns zukommen. Wir tragen daher als deutsche Abgeordnete Verantwortung dafür, dass wir beim Klimaschutz
Kurs halten. Das ist die beste Sicherung, um deutsche
Arbeitsplätze zu erhalten.
({6})
Das Wort hat der Kollege Horst Meierhofer für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir haben uns jetzt viel darüber unterhalten, welche
Ziele wir erreichen wollen, aber relativ wenig darüber,
wie man diese Ziele erreichen kann. Zu Letzterem hat
die FDP-Fraktion zwei Anträge eingebracht, über die
heute mit verhandelt wird.
In dem einen Antrag geht es um die CCS-Technologie, die sich damit beschäftigt, wie Kohlekraft einigermaßen klimaschonend entwickelt werden kann, damit
sie auch in Zukunft eingesetzt werden kann. Ich weiß,
dass es vor allem vonseiten der Grünen und der Linken
große Bedenken gegenüber dieser Technologie gibt, zumindest bei den Linken im Westteil Deutschlands - im
Osten sieht man das ein bisschen anders - und bei den
Grünen außer im Norden, in Hamburg. Aber mir fehlt
die Ehrlichkeit in dieser Debatte. Man spricht sich gegen
Kernkraft aus, gegen Kohle, gegen die Abscheidung von
CO2 aus der Kohle, aber glaubt, dass Deutschland weiterhin Vorreiter in Sachen Klimaschutz sein kann.
({0})
Das halte ich für absurd, um ganz ehrlich zu sein.
({1})
Ich bin begeisterter Anhänger erneuerbarer Energien.
Aber man muss leider auch die realen Entwicklungen
auf der Welt sehen. Wir haben in Deutschland sehr gut
vorgelegt. Weltweit haben wir in den Jahren von 2000
bis 2007 die erneuerbaren Energien um 2,2 Prozent angeschoben.
({2})
Das ist ein kleiner Erfolg, aber noch nicht zufriedenstellend.
({3})
In dem Zeitraum, in dem wir den Einsatz von erneuerbaren Energien um 2,2 Prozent gesteigert haben, ist der
Verbrauch von Kohle weltweit um 4,8 Prozent gestiegen. Darauf müssen wir reagieren, und zwar nicht mit einer Verweigerungshaltung. Es mag für uns in Deutschland schön sein, wenn wir mit einem Solarfahrzeug
spazieren fahren; aber es wird das Klima weltweit nicht
retten. Da fehlt mir der Blick über den Gartenzaun hinaus. Wenn wir nur national denken und nicht darauf
achten, was in anderen Ländern geschieht, dann ist das
zu wenig.
({4})
Da liegt ein riesiges Potenzial.
({5})
Wir haben zum Beispiel die große Chance, deutsche
Technologie zu exportieren, und die Chance, hier tatsächlich Emissionen einzusparen. Wir wissen natürlich,
dass wir nicht allein mit Carbon Capture and Storage,
also der Abscheidung, zu ausreichenden Ergebnissen
kommen können. Aber ohne diese Technologie wird es
definitiv nicht gehen. Ohne sie werden wir aus meiner
Sicht nicht die CO2-Einsparungen, die wir uns vorgenommen haben, erreichen. Deswegen bitte ich da um ein
bisschen mehr Technologieoffenheit. Ich bitte auch darum, dass hier in Forschungsgelder investiert wird und
die Unternehmen, die in diesem Bereich tätig sind, unterstützt werden, damit Deutschland hier federführend
bleibt.
({6})
Es bestehen allerdings - das möchte ich durchaus kritisch ansprechen - hohe Erwartungen an die Umsetzung.
Man denkt an große Transportleitungen und unterirdische Speicherung. Aber wir wissen bisher noch nicht,
was damit gemacht werden kann.
({7})
Es gibt vielleicht auch die Möglichkeit, dass CO2 irgendwann einmal nicht mehr nur als Schadstoff gesehen
wird, sondern auf eine bestimmte Weise genutzt werden
kann, zum Beispiel zum Anbau von Algen, also die
Möglichkeit, damit etwas Neues zu schaffen, was wir
uns heute in der Dimension noch nicht vorstellen können. Deswegen bitte ich darum, hier technologieoffen zu
sein.
Ich bitte allerdings ebenfalls darum, einen Fehler
nicht zu begehen, der in der letzten Zeit vielleicht zu oft
gemacht worden ist, und zwar den Kohlekraftwerksbetreibern, die diese CO2-Anlagen bauen, kostenlose Zertifikate zuzuteilen. Damit erreichen wir nur eines, nämlich
dass noch mehr CO2 ausgeschieden wird. Dadurch, dass
diese Kohlekraftwerksbetreiber kein CO2 mehr emittieren, sparen sie eigentlich ein und brauchen weniger Zertifikate. Deswegen darf man ihnen nicht noch zusätzliche geben. Wenn man das trotzdem tut, erreicht man nur
eines, nämlich mehr Klimaschädigung statt weniger.
Innovationsförderung ist also sinnvoll; aber die Unternehmen müssen in der Lage sein, selbst für die Umsetzung zu sorgen.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Martin
Gerster das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Bündnis 90/
Die Grünen fordern in einem der Anträge, klima- und
umweltschädigende Subventionen abzubauen.
({0})
Ich verhehle nicht die Sympathie für die Ansätze. Das
liest sich zunächst ganz gut. Aber wenn es doch so einfach wäre, wie es sich im Antrag der Grünen liest!
Ich meine, es ist eine sehr eindimensionale Sichtweise,
die in diesem Antrag zutage tritt. Nachhaltige Finanzund Umweltpolitik kann, so meine ich, nicht die Rahmenbedingungen ignorieren, denen wir alle ausgesetzt sind
- aktuelle Entwicklungen, globale und europäische Zusammenhänge -, und auch nicht Zielkonflikte mit anderen Politikfeldern verschweigen.
Es stellt sich die Frage: Sind unsere Probleme dann
gelöst, wenn wir Subventionen kürzen? Ich meine, Nein.
Es droht ein Verschiebebahnhof, womöglich eine Verschlimmerung durch Verlagerung der Emissionen in andere Länder. Wenn Wettbewerbsverzerrungen stattfinden
und Produktion ins Ausland abwandert, ist nicht unbedingt dem Klimaschutz geholfen. Womöglich werden
dadurch Arbeitsplätze aus Deutschland verlagert.
({1})
Ich meine, der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
verkennt, dass sich die Große Koalition und die Bundesregierung in der Subventions- und in der Steuerpolitik
verpflichtet haben, klimapolitische Ziele zu berücksichtigen. Ich bin aber auch der Meinung, dass wir gerade
bei umwelt- und klimapolitischen Maßnahmen schauen
müssen, welche Auswirkungen diese Maßnahmen auf
andere Politikbereiche, auf Wirtschaft und auf Arbeitsplätze haben.
Die Behauptung, die in dem Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen aufgestellt wird, die Bundesregierung verzerre durch Steuerprivilegien den Wettbewerb zugunsten
fossiler Energiequellen, ist bestenfalls die halbe Wahrheit; denn wir fördern erneuerbare Energien massiv, beispielsweise durch das Marktanreizprogramm für den
Wärmebereich, beispielsweise im Strombereich über
Einspeisevergütungen nach dem EEG. Ich denke, auch
das gehört zur Wahrheit. Insofern zeigt die Darstellung
in Ihrem Antrag eine eindimensionale Sichtweise.
({2})
Zu Ihren Forderungen im Einzelnen. Sie fordern den
beschleunigten Abbau der Steinkohlesubventionen.
Das ist genau dieser Zielkonflikt. Wir wollen natürlich
etwas abbauen, aber natürlich sozialverträglich. Sie verkennen, dass ein Großteil der Subventionen für die Stilllegung vorgesehen ist. Ein beschleunigter Abbau wäre
klimapolitisch natürlich wirkungslos, weil die deutsche
Steinkohle durch Importe ersetzt werden würde.
Sie fordern außerdem, Steuerprivilegien für die Nutzung von Stein- und Braunkohle zu beseitigen. Energieerzeugnisse, die für die Stromgewinnung verwendet werden, sind laut Energiesteuerrichtlinie zwingend von der
Energiesteuer zu befreien. 90 Prozent der in Deutschland
verwendeten Stein- und Braunkohle werden für die
Stromerzeugung eingesetzt und sind daher von der Energiesteuer befreit.
Ich habe in Erinnerung, dass wir doch alle in diesem
Hause mitgetragen haben, dass wir von der Möglichkeit
in der Energiesteuerrichtlinie Gebrauch machen, dass
Kohle zu privaten Heizzwecken von der Steuer befreit
wird. Das machen wir befristet bis zum 31. Dezember
2010. Ich meine, dass dies eine richtige Entscheidung
ist, weil dies privaten Haushalten hilft, die sonst Schwierigkeiten hätten, die Heizkosten überhaupt zu stemmen.
({3})
Fazit: Wir streben europäische und globale Lösungen
an. Ich meine, die Finanzmarktkrise ist nicht das Ende
des Klimaschutzes, sondern eine Chance.
Letzter Satz, Frau Präsidentin: Ich unterstütze das,
was Bundesminister Gabriel gesagt hat: Wenn wir im
neuen Jahr ein neues Konjunkturpaket schnüren, sollten
wir natürlich insbesondere die Branchen und Sektoren
einbeziehen, die ökologisch und nachhaltig ausgerichtet
sind. Deshalb glaube ich, dass wir bei all dem, was wir
bislang aus dem Hause von Sigmar Gabriel gehört haben, insgesamt gut aufgestellt sind.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat Herr Kollege Norbert Geis für die
Unionsfraktionen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte auf einen besonderen Aspekt hinweisen, nämlich auf den Zusammenhang zwischen dem
Kampf um den Klimaschutz auf der einen Seite und Entwicklungspolitik und Hilfe für die Entwicklungsländer
auf der anderen Seite.
Zweifellos werden insbesondere die Entwicklungsländer unter den Folgen der Erderwärmung zu leiden haben. Nach einer Studie der Weltbank ist in diesem Jahrhundert allein aufgrund der Erderwärmung, also des
Klimawandels, mit einem Rückgang des Bruttosozialprodukts um 20 Prozent zu rechnen. Dies wird insbesondere die Entwicklungsländer treffen. Sie werden ihre Armut nicht bekämpfen können. Sie werden nicht die
erforderlichen Mittel dazu aufbringen können, um wichtige Infrastrukturmaßnahmen vorzunehmen, um wichtige Institutionen und Einrichtungen in der Bildung zu
schaffen oder um Krankenhäuser zu bauen. Es wird bei
ihnen um das nackte Überleben gehen. Sie werden um
Trinkwasservorkommen kämpfen; sie werden um Agrarflächen kämpfen. Es wird unter Umständen zu einer
Flüchtlingsbewegung kommen, die nicht vor den Toren
Europas haltmachen wird. Der Aspekt, auf den ich hinweisen will, ist die Einbindung der Entwicklungsländer
in den Kampf um unser Klima.
Wir können uns in Europa mühen, so viel wir wollen.
Wir mühen uns auch. Es kann nicht gesagt werden, dass
in der Vergangenheit keine Initiativen ergriffen worden
seien. In Brüssel wurde erneut bestätigt, dass sich die europäischen Länder zumindest zum Ziel gesetzt haben
und daran festhalten, dass bis 2020 eine Reduktion der
Emissionen um mindestens 20 Prozent - vielleicht sogar
um 30 Prozent - erreicht werden soll. In Posen gab es
zumindest insoweit einen Fortschritt, als festgestellt
worden ist, dass an dem Anpassungsfonds festgehalten
wird, der wieder den Entwicklungsländern zugutekommen kann. Ich meine schon, dass wir im Westen einiges
tun, um unseres Klimas Herr zu werden, dass gerade von
der Bundesregierung, von unserem Bundesminister
Herrn Gabriel, auch von unserer Bundeskanzlerin, viele
Initiativen ergriffen worden sind. Aber unsere Mühen
werden umsonst sein, wenn es uns nicht gelingt, die Entwicklungsländer dafür zu gewinnen, in den Fragen des
Klimaschutzes zusammenzuarbeiten.
Wie geht das? Ich glaube, dass zunächst einmal damit
begonnen werden muss, in den Entwicklungsländern
und den Schwellenländern selbst für ein Umdenken zu
sorgen. Wir stellen fest, dass der größte Zuwachs an
Emissionen zurzeit in den Schwellenländern China und
Indien erfolgt. Wir stellen auch fest, dass es dort wenig
Verständnis für unsere Besorgnis gibt. Es fehlt wirklich
an der Sensibilität. Wir müssen mithelfen, dass die Sensibilität dort wächst. Wir müssen ferner mithelfen, dass
die Abholzung des Tropenwaldes von den Entwick21188
lungsländern, in denen Tropenwald vorhanden ist, gestoppt wird. Das geht wiederum nur durch ein Umdenken der Menschen in den Entwicklungsländern selbst.
Nur wenn es gelingt, die Entwicklungsländer für unsere
Vorstellungen vom Schutz des Klimas und von der Sorge
um das Klima zu gewinnen, können wir weltweit vielleicht mit Fortschritten rechnen.
Ein Fakt ist also, dass wir versuchen müssen, dort ein
Umdenken zu erzielen. Aber damit sind wir nicht aus
dem Obligo. Wir selber müssen vorbildhaft vorgehen.
Wir tun das auch. Wir dürfen darin aber nicht nachlassen. Es geht um unsere eigene Glaubwürdigkeit gegenüber den Menschen in den Entwicklungsländern. Nur so
werden sie begreifen können, wie wichtig uns diese
Frage ist.
Es geht natürlich aber auch darum, dass wir Technologietransfer leisten. Hier haben wir Deutsche einiges
anzubieten. Wir haben einen großen Vorsprung in der
Technik der erneuerbaren Energien. Warum sollen wir
diese Technik nicht dorthin transferieren? Wir erreichen
damit einen dreifachen Effekt: Zum Ersten helfen wir
den Menschen, zum Zweiten helfen wir dem Klima, und
zum Dritten schaffen wir vielleicht neue Märkte für unsere eigenen Produkte.
({0})
Ein Weiteres ist uns aufgegeben. Wir können all diese
Leistungen in den Entwicklungsländern nicht erbringen,
wenn wir nicht umfangreiche finanzielle Mittel dorthin
fließen lassen. Das geht zum einen nur über den Haushalt selbst; das geht zum anderen aber auch über den
Verkauf von Emissionszertifikaten. Wir setzen uns dafür
ein, dass zumindest ein Teil der Erlöse in den Anpassungsfonds fließt und auf diese Weise in die Entwicklungsländer gelangt. Wir meinen, dass ein weiterer Weg
- wir haben ihn vorgeschlagen; er wurde bereits eingeschlagen; das Instrument ist vorhanden - die Möglichkeiten des CDM sind. Die Industrieunternehmen haben
auf diesem Weg die Möglichkeit, ihr Zuviel an Emissionen durch Einsatz in den Entwicklungsländern bzw. in
den Schwellenländern auszugleichen, um insgesamt eine
Verminderung der Emissionen zu erreichen.
Meine Damen und Herren, in meinem kurzen Beitrag
wollte ich nur darauf hinweisen, dass ein enger Zusammenhang zwischen Klimaschutz auf der einen Seite und
Entwicklungspolitik auf der anderen Seite besteht. Es
geht darum, dass die Entwicklungspolitik Hand in Hand
mit dem Klimaschutz geht.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
dem Kollegen Geis für seinen Redebeitrag außerordentlich dankbar, weil er den Rahmen dieser Debatte ein
bisschen weiter gesteckt hat. Diese Debatte war, wie
Herr Kauch gegenüber den Grünen zu Recht festgestellt
hat, sehr stark innenpolitisch geprägt. Das, was der Kollege Geis gesagt hat, erfordert drei Entscheidungen:
Erstens. Die Europäische Union muss wirtschaftliches Wachstum und Klimaschutz glaubwürdig miteinander verbinden. Kein Land der Welt wird uns folgen,
wenn man den Eindruck hat, Klimaschutz würde Wohlstandsentwicklung gefährden. Das ist die größte Sorge
der Entwicklungsnationen. Die Europäische Union hat
diese Verbindung mit ihren Beschlüssen in Brüssel in der
letzten Woche eindrucksvoll herausgestellt.
Zweitens. Wir müssen die Führerschaft Deutschlands
innerhalb der Europäischen Union sicherstellen. Das haben die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag
im laufenden Jahr getan. Das Jahr 2008 war das Jahr, in
dem Parlament und Regierung, ich glaube, knapp 30 Gesetze und Verordnungen zum Klimaschutz geschaffen
haben. Dieses Land hat bis 2020 ein Klimaschutzziel
von minus 40 Prozent gegenüber dem Ausgangsjahr
1990. Dieses Land hat sein Kioto-Ziel bereits jetzt erreicht, während andere in Europa sie noch nicht einmal
zur Hälfte erreicht haben. Im Vergleich mit den Vereinigten Staaten heißt das - lassen Sie mich das einmal ein
bisschen flapsig sagen -: Barack Obama müsste 20 Jahre
Präsident der USA bleiben, um auf das Klimaschutzniveau zu kommen, das Deutschland schon heute erreicht
hat. Ich sage das, um die Verhältnisse ein bisschen geradezurücken.
({0})
Drittens. Wir brauchen einen europäischen Emissionshandel. Die Finanzmittel daraus - darauf hat der Kollege
Geis eben hingewiesen -, generieren wir insbesondere
für drei Dinge: erstens für Investitionen im eigenen
Land, insbesondere auf dem Gebiet der Energieeffizienz
- wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern helfen, Geld
zu sparen, zum Beispiel bei den Wärmekosten, das heißt
bei Erdgas und Erdöl -, zweitens für Investitionen zur
Anpassung an den Klimawandel in den Entwicklungsländern und drittens für den Technologietransfer in die
Entwicklungsländer.
Die Europäische Union hat, Frau Kollegin Höhn,
hierzu einen Beschluss gefasst. In der Auseinandersetzung mit Herrn Jung hatte ich eben den Eindruck - das
muss ich einmal sagen -, dass Sie ganz froh gewesen
wären, wenn es nicht so gekommen wäre, weil Sie dann
auf das, was jetzt gemacht wird, noch ein bisschen mehr
hätten draufschlagen können. Mein Eindruck war, dass
Sie immer so lange im Saal waren, wie Sie Kritik gehört
haben. Als aber Vertreter von Entwicklungsländern gesagt haben: „Ihr macht das auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien fantastisch“, als wir unsere Klimaschutzstrategie vorgestellt haben und die Mexikaner, die
Brasilianer, die Inder und viele andere gesagt haben:
„Genau so muss man das machen!“, waren Sie aus dem
Saal schon wieder draußen.
({1})
Daher ist Ihr Eindruck ein bisschen von der Nutzbarkeit
für die innenpolitische Debatte geprägt. Ich muss Ihnen
offen sagen: Wenn ich Ihnen und dem Kollegen Fell zuhöre, habe ich den Eindruck, dass Sie die Vorstellung haben, dass wir einfach mal nach Europa gehen können
und die Polen, die Ungarn und die Italiener dann schon
machen werden, was wir wollen. Herr Fell hat gestern ja
auch noch vorgeschlagen, dass wir durchsetzen, dass die
Italiener und alle anderen ein mit dem deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetz vergleichbares Gesetz machen.
({2})
Als ob Herr Berlusconi auf Anweisung regieren würde!
Sie haben ein etwas unilaterales Weltbild, muss ich einmal sagen. Ich weiß nicht, ob Sie sich um die Nachfolge
von Herrn Bush bewerben wollen.
({3})
Es ist schon so, dass Sie Zustimmung brauchen. Sie können nicht einfach in eine Konferenz gehen, egal ob in
Brüssel oder in Posen, und dort sagen: Alles hört auf
mein Kommando! Das ist vielleicht Ihre Vorstellung.
Bei den Linken überrascht mich diese Vorstellung übrigens nicht mehr. Ich habe heute gehört, wie Oskar
Lafontaine Demokratie definiert. Nach ihm hat das
nichts mehr mit Formalien und Mehrheiten zu tun, sondern: Wer das Richtige meint, der ist Demokrat, und wer
das Falsche meint, ist kein Demokrat. Nachdem ich das
heute gehört habe, überrascht mich Ihr Weltbild nicht
mehr. Ich halte diese Rede von Herrn Lafontaine für eine
der brandgefährlichsten Reden, die ich im Deutschen
Bundestag je gehört habe.
({4})
Wissen Sie, was der eigentliche Mehrwert ist? Die
Europäische Union marschiert als Gemeinschaft. Wir
bringen mehr aufs Tableau als die Summe unserer Einzelinteressen. Es gibt in der Welt keine Region, die so
weit gegangen ist wie die Europäische Union. Es gibt
auf der Welt übrigens auch kein Land, das seine Beschlüsse so weit umgesetzt hat wie die Bundesrepublik
Deutschland. Frau Kollegin Höhn, man kann immer sagen: Man muss noch mehr machen. Da bin ich Ihrer
Meinung. Ich fände es auch schöner, wenn die Osteuropäer auf die Teilauktionierung verzichtet hätten. Der
Mehrwert misst sich aber auch ein bisschen an der Antwort auf die Fragen: Wo stehen wir? Wo stehen die anderen? Wo wollen wir hin? Ich finde, das ist ein gewaltiger Schritt, der da geleistet worden ist. Ich bin ganz
beruhigt. Die Kritik, ob sie von Herrn Schellnhuber
kommt oder anderen, beunruhigt mich nicht besonders.
Ich glaube, dass wir in ein paar Jahren in den
Geschichtsbüchern lesen werden, dass die Umkehr der
Energie- und Klimapolitik zu einer Low Carbon
Economy in Brüssel mit dieser Entscheidung begonnen
wurde. Die Weichen sind unumkehrbar gestellt. Das ist
die eigentliche Botschaft aus Brüssel. Das ist das, was in
der Welt angekommen ist.
({5})
Sie kommen daher und behaupten, die deutsche Industrie sei geschont worden. Ich sage es noch einmal:
Die Tatsache, dass jemand seine CO2-Berechtigungen
nicht ersteigern muss, hat nichts damit zu tun, wie viele
Berechtigungen er bekommt. Auch er muss Jahr für Jahr
reduzieren. Das ist der Druck auf die Effizienz. Das
heißt, es gibt für die Industrie in Deutschland insgesamt
keine Ausnahmen. Lediglich in Polen und auch in
Deutschland bei der energieintensiven Industrie gibt es
Ausnahmen bei der Auktionierung. Das ist auch gut so.
Die Kollegen haben schon darauf hingewiesen, warum
das nötig ist.
Ich sage Ihnen: Das Entscheidende an den Beschlüssen ist, dass wir in Europa verpflichtend für jedes Land
eine Verteilung haben, um wie viel Prozent die erneuerbaren Energien ausgebaut werden müssen, um wie viel
Prozent die Energieeffizienz gesteigert werden muss und
wie in den Bereichen, die nicht vom Emissionshandel
betroffen sind, jedes Jahr die Emissionen gesenkt werden müssen. Davon ist jeder betroffen, der Verkehr genauso wie die Industrie. So etwas finden Sie weltweit
nicht noch einmal.
Darüber in der Art und Weise zu diskutieren, wie die
Grünen es gemacht haben, hilft möglicherweise bei der
Diskreditierung der Innenpolitik - das mag ja sein -, aber
weltweit ist das verdammt kleine Münze.
({6})
Wie sollen wir den Menschen Mut machen, sich auf unseren Weg zu begeben, wenn Sie diesen Weg öffentlich
diskreditieren? Sie sind sehr kurzfristig unterwegs.
({7})
Herr Kollege Gabriel, eine Zwischenfrage kann ich
nicht mehr erlauben, obwohl die Kollegin Höhn sich
dazu meldet. Ich muss Sie darauf aufmerksam machen,
dass Sie jetzt auf Kosten der Redezeit der Rednerin der
SPD-Fraktion weiterreden.
Ja, Frau Präsidentin, ich schließe meine Rede mit dem
außerordentlichen Bedauern, dass ich nicht noch ein bisschen mit Frau Höhn diskutieren kann. Es klärt sehr darüber auf, mit wie kleiner Münze derzeit bei den Grünen
bezahlt wird.
Vielen Dank.
({0})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin
Gabriele Groneberg für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! In der Tat, als letzter Rednerin bleibt einem oft nicht mehr viel. Ich hatte über Strecken den Eindruck, dass wir uns nur über bestimmte Faktoren für den
Klimaschutz hier im Inland unterhalten, aber nicht wirklich über das große Ganze. Deshalb bin ich dem Herrn
Kollegen Geis dankbar, dass er das wieder auf eine vernünftige Ebene zurückgeholt hat. Ich muss allerdings
auch sagen, Herr Kauch, dass mir bei Ihrer Rede einiges
aufgestoßen ist. Sie haben tatsächlich den Eindruck hinterlassen, als ob wir gar nichts für den internationalen
Klimaschutz tun,
({0})
vor allen Dingen nicht für den Schutz und den Erhalt
von Tropenwäldern und für die Biodiversität.
({1})
- Nein, nein, ich habe da sehr gut aufgepasst. Sie können
es selber im Protokoll nachlesen, falls es Ihnen entfallen
sein sollte. Beginnende Alzheimer kann man ja manchmal feststellen.
({2})
Eines muss ich jetzt deutlich sagen. Dafür will ich ein
konkretes Beispiel nennen, Herr Friedrich, und zwar den
Yasuni-Nationalpark in Ecuador. Unter diesem Nationalpark liegen riesige Erdölvorkommen. Natürlich würde
Ecuador als armes Land gerne diese Erdölvorkommen
ausbeuten. Das wären Milliarden US-Dollar an Einnahmen für dieses kleine arme Land.
In diesem Nationalpark steht aber auch der sogenannte Käferbaum. Er wurde so getauft, weil er eine Besonderheit hat. Auf diesem Baum, den mein Kollege
Sascha Raabe ganz besonders liebt, leben mehr Käferarten, als wir insgesamt in Europa finden können. Wenn
das kein Artenreichtum ist, dann weiß ich nicht mehr,
was man als Artenreichtum bezeichnet.
({3})
Von diesem Baum gibt es in diesem Nationalpark
ganz viele. Was tun wir, um diesen Baum zu schützen?
Wir unterstützen die Ecuadorianer dabei, diesen Artenreichtum in ihrem Land zu erhalten, indem sie darauf
verzichten, diese Erdölvorkommen auszubeuten. Wir
unterstützen sie mit Ausgleichszahlungen, dass sie diesen Wald erhalten. Es hat in der Tat länger gedauert, um
zu einem solchen Abkommen zu kommen, das auf internationaler Ebene durchaus vorbildlich ist. Ich hätte mir
wirklich gewünscht, Herr Kauch, dass Sie einmal herausgestellt hätten, dass man in der internationalen Zusammenarbeit solche Projekte machen kann, bei denen
wir uns alle dazu verpflichten, einem armen Land Ausgleich dafür zu bieten, dass es auf die Ausbeutung von
Ressourcen verzichtet und den Artenreichtum erhält.
({4})
Ich will noch kurz ein weiteres Beispiel anführen
- denn ich glaube, das ist auch für andere Fälle sehr
wichtig -: Deutschland unterstützt ganz besonders die
COMIFAC. Was ist die COMIFAC? Die COMIFAC ist
eine Waldkommission in Zentralafrika. In diesem Rahmen setzen sich die Regierungen von zehn Anrainerstaaten des Kongobeckens und 20 internationale Umweltorganisationen - das ist eine Symbiose, die nicht allzu oft
vorkommt - gemeinsam für eine grenzüberschreitende
nachhaltige Waldbewirtschaftung ein.
Wir leisten unsere Unterstützung vor allen Dingen
deshalb, weil die Bevölkerung, die dort lebt, ihre Einnahmen hauptsächlich aus dem Wald generiert. Er ist die
Ernährungsgrundlage. Damit die Bevölkerung darauf
verzichtet, den Wald auszubeuten, unterstützen wir sie.
Wir verbinden also die Vermeidung der Entwaldung mit
den Zielen des Klimaschutzes, der Biodiversität und der
Armutsbekämpfung. Das ist Entwicklungszusammenarbeit, wie wir sie brauchen. Davon profitieren alle.
An dieser Stelle muss ich auch darauf hinweisen: Das
Bundesumweltministerium unterstützt solche Maßnahmen zum internationalen Klimaschutz in Zusammenarbeit mit dem BMZ durchaus großzügig. Deutschlands
Unterstützung kann sich sehen lassen. Alleine im
Jahr 2009 fließen insgesamt über 225 Millionen Euro in
den internationalen Klimaschutz. Herr Kauch, sagen Sie
mir einmal, in welchem anderen Land in diesem Umfang
Geld für den Klimaschutz zur Verfügung gestellt wird!
Ich glaube, wir brauchen uns nicht zu verstecken. Es
wäre schön, wenn wir dies öfter deutlich machen würden, anstatt uns immer nur im eigenen Saft zu suhlen
und zu betonen, was wir alles noch besser machen könnten.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/11206 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen Federführung beim Finanzausschuss.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, also Federführung
beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Vizepräsidentin Petra Pau
Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der antragstellenden Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der FDP-Fraktion und der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Federführung
beim Finanzausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit
den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion
gegen die Stimmen der FDP-Fraktion, der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkte 6 b und 6 c sowie Zusatzpunkt 4. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/10617, 16/10820 und 16/11387
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie mit diesen Überweisungsvorschlägen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 6 d. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/11246 mit dem Titel „Bei Klimaverhandlung in Poznań den Weg für Kyoto II frei machen“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 6 e. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Neuer Schwung für die Klimaverhandlungen - Poznań zum Erfolg machen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11415, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11024 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 f. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 16/10394.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9454 mit dem Titel
„Barrieren für die Einführung der CCS-Technologie
überwinden - Voraussetzungen für einen praktikablen
und zukunftsweisenden Rechtsrahmen schaffen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDPFraktion angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/5131 mit dem Titel „Potenziale der Abtrennung und Ablagerung von CO2 für den
Klimaschutz nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 g. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Den Klimawandel wirksam
durch Urwaldschutz bekämpfen - Agrarüberschüsse in
den Erhalt der Urwälder investieren“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8877, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7710 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 h. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Tropenwaldschutz braucht
solide Finanzierung - Entwaldung vermeiden, Klimaund Biodiversität schützen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11346, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9065 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDPFraktion und der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie die Zusatzpunkte 5 und 6 auf:
7 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Initiative zur Nationalen Stadtentwicklungspolitik
- Drucksache 16/9234 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Sportausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Götz, Dirk Fischer ({1}), Dr. Klaus W.
Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Petra Weis, Klaas
Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Vizepräsidentin Petra Pau
Die integrierte Stadtentwicklung weiter ausbauen
- Drucksache 16/11414 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Döring, Gisela Piltz, Horst Friedrich ({3}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Innenstädte stärken - Kooperationen fördern Städtebauförderung weiter entwickeln
- Drucksache 16/8076 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben
wahrscheinlich damit gerechnet, dass jetzt Bundesminister Wolfgang Tiefensee diese Rede hält.
({0})
Deshalb will ich zunächst erklären, warum es hier zu einem Regiewechsel gekommen ist.
Die Uhr zeigt 14.59 Uhr. Um 15 Uhr beginnt im
Kanzleramt das Gespräch der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten. Hier machen wir Stadtentwicklungspolitik in der Theorie, und im Kanzleramt geht es um die
Praxis.
({1})
Es ist daher wichtig und sinnvoll, dass Herr Minister
Tiefensee die vielen positiven Elemente, die wir gerade
in der Stadtentwicklungspolitik in die Diskussion geworfen haben, in das Gespräch einbringt.
({2})
Nichtsdestoweniger freue ich mich, dass ich an dieser
Debatte teilnehmen kann. Wie Sie wissen, begleite ich
diese Debatte seit zehn Jahren mit vielen eigenen Ideen.
Es ist gut, dass sich der Deutsche Bundestag heute erneut mit dem Thema Stadtentwicklungspolitik beschäftigt.
Sie wissen: In unseren Städten wohnen die Menschen
nicht nur dichter zusammen als auf dem Lande. Auch die
Probleme, die Chancen, die Herausforderungen und die
Möglichkeiten unserer Gesellschaft treten in den Städten
verstärkt und damit auch verdichtet auf. Soziale Gerechtigkeit, ökologische Verantwortung, ökonomisches Fundament, kulturelle Toleranz, gutes Zusammenleben möglichst viel davon soll in den Städten grundgelegt und
von den Städten gewährleistet werden. Städte sollen lebenswert sein, authentisch für die Menschen, die dort leben oder in die Stadt kommen. Das ist eine Aufgabe für
das ganze Land. Ich denke, dass es gut ist, sie unter dem
Dach einer nationalen Stadtentwicklungspolitik zu formulieren.
Was passiert, wenn man die Stadt mit ihren Problemen alleine lässt, die Probleme nicht löst und die Zukunftschancen vernachlässigt? Das kann man immer
wieder sehen, das bleibt auch über die Jahrzehnte fast
unverändert, obwohl die Voraussetzungen und die Vorbedingungen immer etwas anders sind. Man kann in den
Londoner Stadtteil Brixton 1981 zurückschauen. Man
kann sich anschauen, was 2005 in den Banlieues in den
großen Städten Frankreichs passierte. Man kann aktuell
nach Athen und zu anderen griechischen Städten hinüberblicken.
Es ist nie die genau identische Ursache. Aber es sind
immer ähnliche Ursachen. Sie haben immer etwas mit
sozialen Verwerfungen, mit Spannungen, mit schlechter
Integration, mit misslungener Bildung und mit vielen anderen Voraussetzungen zu tun, um die es geht, wenn wir
über Stadtentwicklungspolitik sprechen. Mangelnde Zukunftschancen, die Ausgrenzung einzelner Gruppen,
schlechte Integration und Bildung - all das sind die Elemente solcher Unruhen. Die aufgestaute Wut entlädt sich
am ehesten dort, wo Menschen dicht beieinander sind
und sich ihre Probleme am deutlichsten zeigen: in den
Städten. Es ist das Hauptziel einer guten Stadtentwicklungspolitik, dass so etwas nicht entsteht, dass man es
also vorher verhindert oder dass man relativ schnell,
wenn sich etwas falsch entwickelt, die Weichen neu und
anders stellt.
Das ist auch eine Aufgabe des Bundes. Sie wissen,
dass wir diesen Prozess als Bund moderieren. Wir können viele Ideen anstoßen und etwas bewegen. Aber wir
haben ein föderales System. Deshalb hat der Bund nicht
allein den Hut auf, sondern wir sind darauf angewiesen,
dass wir mit den Ländern, den Kommunen und den Gemeinden gut zusammenarbeiten.
Auch wenn wir heute über die Städte reden, so wissen
wir, dass es auch um den ländlichen Raum und die Region geht; das will ich ausdrücklich sagen. Ansonsten
kommt hier die Diskussion auf: Warum schaut ihr nur
auf die Städte? Warum schaut ihr nicht auch in die anderen Bereiche unseres Landes? Wir wissen, dass die ProParl. Staatssekretär Achim Großmann
bleme, unterschiedlich fokussiert, teilweise etwas anders
gestaltet, auch dort auftreten können.
Mir ist Folgendes ganz wichtig: Wir wollen besser
kooperieren, horizontal zwischen den Ressorts, vertikal
zwischen Bund, Länder und Gemeinden und inhaltlich
zwischen Staat, Wirtschaft, den Bürgern und der zivilen
Gesellschaft. Um es uns noch einmal vor Augen zu führen: Wenn wir von der Stadt sprechen, dann sprechen wir
über 70 Prozent der Bevölkerung und 80 Prozent der Arbeitsplätze. Stadtentwicklungspolitik ist immer eine
Querschnittsaufgabe aus Wirtschaftspolitik, Strukturpolitik, Infrastrukturpolitik, Sozialpolitik, Gesundheitspolitik, Bildungspolitik, Integrationspolitik, Kulturpolitik
und Umweltpolitik. Im Grunde könnte man alle politischen Bereiche aufzählen, weil sie dort in einem
Schmelztiegel der Interessen, der Probleme, der Chancen und der Herausforderungen miteinander verschmolzen werden. Das ist der Ansatz der nationalen Stadtentwicklungspolitik.
Aber was bedeutet das konkret? Was haben die Menschen von einer solchen nationalen Stadtentwicklungspolitik? Wir wollen erreichen, dass durch die gebündelte
Kraft aller Beteiligten unsere Städte lebenswert bleiben,
und zwar in jedem Stadtteil. Wenn wir hier nicht handeln, bringen wir die Menschen in den benachteiligten
Stadtteilen um ihre Chancen.
Wir wollen nicht nur etwas tun, um die Fassaden und
die Mobilität zu verbessern, sondern wir müssen auch
deshalb handeln, damit die Menschen in ihren Städten
und Stadtteilen bleiben wollen und dort auch leben können. Dafür ist sozialer Zusammenhalt nötig, und die
Chancen auf Bildung und Teilhabe und die Möglichkeiten zur Integration müssen vielfältig sein.
({3})
Der Bund - das habe ich schon erwähnt - kann das
nicht alleine schaffen, und er will das auch nicht. Die
Länder, die Kommunen und vor allen Dingen die Menschen vor Ort - die betroffenen Bürger selbst, die sich
für ihre Stadt und ihren Kiez engagieren - sind die entscheidenden Akteure in diesem Politikbereich. Aber der
Bund kann konkret helfen, Ziele mitentwickeln und finanzielle Mittel zur Verfügung stellen.
Ein hervorragendes Beispiel für eine solche Kooperation ist das Programm „Soziale Stadt“. Um die Erfolge
zu sehen, muss man nicht weit gehen. Wir haben inzwischen 500 Stadtteile in das Programm „Soziale Stadt“
aufgenommen. Ich will ein Beispiel aus Berlin-Neukölln
nennen, weil wir gerade in Berlin sind. Aber ich könnte
noch viele andere Städte und Quartiere anführen, in denen wir mit diesem Programm zuhause und erfolgreich
sind.
({4})
In Berlin-Neukölln zum Beispiel kann man sehen,
was die Stadtteilmütter leisten. Stadtteilmütter sind
Frauen mit Migrationshintergrund. Sie bauen Kontakte
zu Familien ihrer ethnischen Herkunftsgruppe auf und
beraten sie bei Hausbesuchen, gerade in Bildungs- und
Erziehungsfragen. Dadurch ermutigen sie Familien, aktiv am gesellschaftlichen Leben in Deutschland teilzunehmen. Das ist eine von Tausenden solcher Initiativen,
die ich jetzt nur kurz anreißen kann.
An diesen Stellen werden mit großem Engagement
beträchtliche Erfolge erzielt, durch Akteure auf allen
Ebenen, aber vor allen Dingen durch die Bürgerinnen
und Bürger vor Ort: die Menschen, die dort leben. Genau
darum geht es: Die Programme mit ihren verschiedenen
Ansätzen zusammen unter einem gemeinsamen Dach
mit allen dafür notwendigen Akteuren zu entwickeln.
({5})
Ich habe in vielen Reden darauf hingewiesen, dass
wir oft so tun, als würden wir zum ersten Mal mit einem
Problem konfrontiert. Wenn mir die schnelllebige Zeit
und die Herausforderungen im politischen Alltag die
Zeit lassen, dann nehme ich wie viele von Ihnen auch
hin und wieder ein Buch zur Hand. Zurzeit liegen die
Historien von Herodot auf meinem Nachttisch, die er
vor rund 2 500 Jahren geschrieben hat. Legen Sie mich
aber nicht auf das genaue Jahr und den Monat fest. Ich
habe eben von kultureller Toleranz gesprochen. Dazu
will ich einen kurzen Passus zitieren:
Mir ist es ganz klar,
- schreibt Herodot dass Kambyses wahnsinnig war.
- Das war wohl ein ziemlich nationalistischer Geselle. Er hätte sonst die fremden Gottheiten und Gebräuche nicht verhöhnt. Denn wenn man an alle Völker
der Erde die Aufforderung ergehen ließe, sich unter
all den verschiedenen Sitten die vorzüglichsten auszuwählen, so würde jedes, nachdem es alle geprüft,
die seinigen allen anderen vorziehen. So sehr ist jedes Volk überzeugt, dass seine Lebensformen die
besten sind. Wie kann daher ein Mensch mit gesunden Sinnen über solche Dinge spotten!
Kulturelle Toleranz und Integrationspolitik sind also
nicht nur ein Thema, mit dem wir uns heute beschäftigen
müssen, sondern das gab es schon immer. Wir wissen,
dass Städte gedeihen und schrumpfen, dass sie ihre Blüte
haben, in Krisen kommen, wachsen und wieder
schrumpfen. All das ist ein Prozess der Geschichte. Wir
müssen uns diesem Prozess immer wieder stellen und
ihn beherrschbar machen.
({6})
Ich will nur kurz anreißen - vieles wird bereits in den
vorliegenden Anträgen ausgeführt -, dass wir uns diesen
Herausforderungen auf vielfältige Weise stellen werden.
Wir haben die integrierte Stadtentwicklungspolitik seit
zehn Jahren weitergeführt und neue Programme wie das
Programm „Soziale Stadt“, den Stadtumbau West und
den Stadtumbau Ost aufgelegt. Wir haben die Städtebauförderung weiterentwickelt und auf die familien- und
altengrechte Stadt fokussiert. Wir haben die Probleme
der Innenstadt herausgestellt und den städtebaulichen
Denkmalschutz auch für den Westen wieder aktiviert,
({7})
nachdem die städtebaulichen Entwicklungsprogramme
in den neuen Bundesländern sehr erfolgreich gelaufen
sind. Außerdem haben wir uns seit geraumer Zeit auch
um die klimapolitischen Schwierigkeiten der Städte und
die Umweltbedingungen, die zunehmend schlechter geworden sind, gekümmert. Wir tun etwas für die Gebäudesanierung, aber wir unterstützen die Kommunen über
einen Infrastrukturpakt auch ganz gezielt beim Erhalt ihrer sozialen Einrichtungen wie Schulen, Kindertagesstätten und Sportstätten.
Wir sind sehr gut aufgestellt, und ich freue mich auf
die Diskussion. Ich verspreche Ihnen - das soll mein Fazit sein -, dass wir bei der Stadtentwicklungspolitik auch
weiterhin die Avantgarde in Europa sein werden.
Vielen Dank.
({8})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Patrick Döring,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Herr Staatssekretär hat zu Recht festgestellt, dass es
in den Stadtentwicklungsprogrammen viele positive Akzentveränderungen gibt, die wir als FDP unterstützt haben und unterstützen. Aber ich hätte mir schon gewünscht, Herr Großmann, dass Sie in den zehn Minuten,
gerade nachdem Sie mit dem aktuellen Bezug begonnen
haben, auch etwas zur Position des Bundesbauministeriums zu einem Konjunkturprogramm für Kommunen unter dem Aspekt Ost oder West - dies beherrscht ja, wenn
ich es richtig sehe, die heutige Medienlandschaft - gesagt hätten. Diese Gelegenheit haben Sie leider ausgelassen.
Auch ist von Ihnen der Eindruck erweckt worden, das
Bündeln vorhandener Förderprogramme sei schon eine
Strategie. Das ist es nicht.
({0})
Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Stadtentwicklungspolitik Querschnittspolitik ist. Da man eine
solche Debatte als Oppositionsfraktion mit nur acht Minuten Redezeit nicht dazu nutzen sollte, der Regierung
zu bestätigen, was man genauso sieht, werde ich deutlich
machen, wo im Hinblick auf die Strategie die Programme, die Reden und die Lyrik mit der praktischen
Politik der Bundesregierung einfach nicht in Einklang zu
bringen sind.
({1})
Sie haben bei der Unternehmensteuerreform dafür gesorgt, dass die Kosten für Mieten und Pachten in den guten Einzelhandelslagen unserer Städte nicht mehr voll
steuermindernd absetzbar sind. Das ist schlecht für die
Stadtentwicklung.
({2})
Sie haben durch monatelange komplizierte Debatten
darüber, ob diejenigen, die mit Nachtspeicheröfen heizen, ihren Nachtspeicherofen am besten morgen, in fünf
Jahren oder erst in zehn Jahren abreißen müssen, ein
Jahr lang jegliche Investition in diesem Bereich verhindert, weil die Eigentümer dieser Wohnungen und Häuser
von den klimapolitischen Säuen, die seit Meseberg
durchs Dorf getrieben wurden, völlig verunsichert waren.
({3})
Des Weiteren weigert sich die Bundesregierung, das
Mietrecht so anzupassen, dass Investitionen in die energetische Sanierung für diejenigen, die nicht in kommunalen Wohnungen, sondern in ihren eigenen Wohnungen
oder in den Wohnungen privater Vermieter wohnen,
praktisch umsetzbar sind. Weil beim Mietrecht die falschen Akzente gesetzt sind, geht davon kein Anreiz aus,
solche Investitionen vorzunehmen.
Diese praktischen Dinge, die zugegebenermaßen alle
in anderen Häusern stattfinden, passen nicht zu den
Förderprogrammen und insbesondere nicht zu Ihren
weitestgehend unterstützenswerten Vorschlägen, Herr
Großmann. Ihre Kollegen in den anderen Häusern tun
wenig für eine solide und fortschrittliche Stadtentwicklungspolitik. In Wahrheit hat doch der Bundesumweltminister und nicht der Bundesbauminister über das letzte
Jahr hinweg die Debatte über die Frage geprägt, wie sich
Wohnungspolitik entwickeln soll.
({4})
Bevor man heute Nachmittag darüber streitet, wo und
wie Förderprogramme aufgelegt werden, soll man sich
ein bisschen an das erinnern, was man selber einmal gesagt hat. Ich wundere mich, dass Bundesminister
Tiefensee - insofern ist es schade, dass er heute an dieser
Debatte nicht teilnehmen kann; aber der Zeitverlauf ist
so, wie er ist - die Bundeskanzlerin nach ihrem Vorschlag, zusätzliche Investitionsmittel für die westdeutschen Städte zu aktivieren, kritisiert hat. Der Bundesminister selbst hat am 12. August in der Welt gesagt - ich
zitiere -:
Ein neues Kapitel der Solidarität wird wichtiger.
Auch Städte wie Duisburg, Gelsenkirchen, Bremerhaven oder das ehemalige Zonenrandgebiet in Bayern brauchen Finanzhilfen.
Er hat recht. Der gleiche Minister hat aber gestern und
heute mehrfach gesagt - ich zitiere wieder aus der Welt -:
Bei der Ostförderung geht es nicht um Bevorzugung, sondern um die Erfüllung des Solidarpaktes
zur Behebung flächendeckender Strukturschwächen. Wir haben den Westen nicht vernachlässigt.
Nur eines von beiden kann stimmen. Ich glaube, seine
erste Bemerkung vom August und die Bemerkung der
Bundeskanzlerin von gestern sind in diesem Punkt richPatrick Döring
tiger als die heutige Bemerkung aus dem Hause. Deshalb
wäre es schön, zu wissen, was Sie eigentlich wollen.
Angesichts der vielen vorhandenen Förderprogramme
muss man fragen: Was steckt wirklich dahinter? Sie haben zu Recht auf die vielen Vereinbarungen mit den Ländern auf der Wohnungsbauministerkonferenz hingewiesen. Verbesserung der Wohnverhältnisse, Einleitung
neuer wirtschaftlicher Tätigkeiten, Schaffung und Sicherung von Beschäftigung auf lokaler Ebene, Verbesserung
der sozialen Infrastruktur, Verbesserung des Angebots an
bedarfsgerechten Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten,
Integration von Migrantinnen und Migranten, Maßnahmen für eine sichere Stadt, Umweltentlastung, ÖPNV,
Wohnumfeldverbesserung, Stadtteilkultur und Freizeit,
das alles ist Bestandteil des Förderprogramms Stadtumbau West. So sieht die Vereinbarung mit den Ländern
aus. Aber im Bundeshaushalt sind dafür gerade einmal
76 Millionen Euro eingestellt. Das wird für diese vielen
tollen Maßnahmen nicht reichen. Konkrete Politik muss
etwas mit den Dingen zu tun haben, die man überall vorträgt.
Ich möchte noch einen allerletzten Punkt ansprechen,
weil auch er etwas mit Wahrheit und Wirklichkeit zu
tun hat. Ich finde es bemerkenswert, dass immer wieder
- völlig zu Recht - darauf hingewiesen wird, die energetische Gebäudesanierung biete die Möglichkeit, mit relativ geringem Mitteleinsatz relativ viel CO2 einzusparen.
Die FDP-Fraktion fand es richtig, dass der Bundesbauminister darauf gedrungen hat, in den Jahren 2007, 2008
und 2009 jeweils 120 Millionen Euro für die Sanierung
der bundeseigenen Liegenschaften in den Haushalt einzustellen. Genauso bemerkenswert ist aber, dass im ersten Jahr 8 Millionen Euro, im zweiten Jahr 32 Millionen
Euro und im dritten Jahr 48 Millionen Euro von diesen
120 Millionen Euro in Anspruch genommen werden können, weil Ihre Bundesbehörde die vielen Anträge - es sind
über 1 600 Anträge, übrigens alle von Mitarbeitern des
Bundes, die gerne die Liegenschaften, in denen sie sind,
sanieren wollen - nicht bearbeitet. Sie selbst, Herr
Großmann, haben uns in Ihrer Antwort auf unsere
Kleine Anfrage bestätigt, dass mehr als 230 Anträge auf
Sanierung von Bundesbauten seit mehr als einem Jahr
nicht bearbeitet werden können. Es gehört aber auch zur
praktischen Politik, dass man das, was man sagt, in dem
Haus, in dem man Verantwortung trägt, umsetzt.
({5})
Sie können sicher sein, dass wir Sie bei der Akzentverschiebung und der Verbesserung unserer Stadtentwicklungs- und Städtebauförderungsprogramme weiter
unterstützen, dass wir aber auch Wert darauf legen, dass
die Programme und die Theorie annähernd etwas mit der
Praxis zu tun haben. Wir wünschen uns mehr. Aber das
ganze Drama ist im Sommer nächsten Jahres vorbei.
Dann werden wir es besser machen.
Vielen Dank.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion gebe ich das Wort dem
Kollegen Peter Götz.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Stadtentwicklung ist ein dynamischer Prozess. Das Leben in unseren
Städten verändert sich, und die Städte verändern sich.
Globalisierung mit allen Auswirkungen, wie wir sie in
diesen Wochen erleben, aber auch Migration, demografischer Wandel, strukturelle Veränderungen der Wirtschaft,
ökologische Probleme und Klimawandel beeinflussen die
Zukunft der Städte mit großer Geschwindigkeit in einem
ungeheuren Ausmaß. Mit unserem fraktionsübergreifenden Antrag zur integrierten Stadtentwicklung, über den
wir heute debattieren, wollen wir versuchen, die Fragestellungen der Zukunft auf diesem Gebiet zu vernetzen,
sowie gleichzeitig Potenziale und Perspektiven ansprechen.
Wir halten es für dringend geboten, dass dem zunehmend wichtiger werdenden Thema Stadtentwicklung national und international ein höherer Stellenwert eingeräumt wird. Dazu gehört auch, dass die auf diesem
Gebiet international führende deutsche Forschung in ihrer Schrittmacherfunktion gestärkt wird sowie politische
Trends und Innovationen über Netzwerke frühzeitig erkannt und international ausgetauscht werden.
Die Bundesregierung hat in ihrem Bericht zu Recht
die Bedeutung der Städte aufgezeigt und auf die Brückenfunktion zwischen den Städten und Regionen in
Deutschland und Europa besonders hingewiesen. In dem
Bericht werden die regionalen Unterschiede zwischen
wachsenden und schrumpfenden Städten sichtbar. Das
heißt, wir brauchen bei unterschiedlichen Entwicklungen sehr differenzierte Antworten. Wachsende Metropolen wie Frankfurt am Main, Stuttgart oder München stehen sich entleerenden Räumen mit stark schrumpfenden
Städten und Gemeinden gegenüber. Mit weiteren Polarisierungen ist zu rechnen, und zwar nicht nur zwischen
den Regionen, sondern auch zwischen Stadt und Umland. Umso wichtiger wird die Zusammenarbeit der
Städte mit ihrem Umland.
({0})
Nicht ein Gegeneinander, sondern mehr Miteinander erhöht die Zukunftsfähigkeit.
Unsere Städte befinden sich regional, national und
global zunehmend im Wettbewerb um Wirtschaftsansiedlungen, um Wissenschaft und Kultur, um Arbeitsplätze und um die besten Köpfe. Gleichzeitig entwickelt
sich ein Wettbewerb um Familien mit Kindern. Vor diesem Hintergrund wird es wichtiger denn je, dass Bund,
Länder und Kommunen ressortübergreifend denken und
abgestimmt handeln. Die Gestaltung unserer Städte ist
eine Gemeinschaftsaufgabe der demokratisch gewählten
Vertreter vor Ort zusammen mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern, mit den Unternehmen und Unternehmern, aber auch mit vielen anderen stadtgestaltenden
Akteuren. Diese Gestaltungsfreiheit darf nicht eingeengt
werden, weder durch den Bund noch durch die Verordnungsflut der Europäischen Kommission.
({1})
Was die Städte, Gemeinden und Kreise eigenverantwortlich erledigen können, muss nicht von Europa durchreguliert werden. Wir brauchen hier keine europäische Gesetzgebung, weder beim Wohnungsbau noch bei der
Gestaltung unserer Fußgängerzonen.
({2})
Natürlich stehen wir weltweit vor riesigen Herausforderungen, die weder lokal noch national bewältigt werden können. Gegen die Finanzmarktkrise kann nur international abgestimmt vorgegangen werden. Dies gilt auch
für die Krise der Realwirtschaft und für die notwendigen
Entscheidungen zum Klimawandel. Die Bundesregierung mit unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel an der
Spitze hat in einer weltweit schwierigen Phase national
und international eindrucksvoll, schnell, gut und richtig
reagiert. Viele der getroffenen Entscheidungen entfalten
ihre volle Wirkung allerdings nur, wenn sie vor Ort in
den Städten und Gemeinden zügig umgesetzt werden.
Die Kommunen sind in der Lage, schnell und flexibel zu
handeln. Man muss sie nur lassen.
In den letzten drei Jahren haben wir in der Großen
Koalition sehr viele kommunalfreundliche Entscheidungen getroffen, die bei der Stadtentwicklung positive Wirkungen zeigen.
Erstens. Das hat unter anderem dazu geführt, dass die
in Schieflage geratenen kommunalen Haushalte heute
besser dastehen als je zuvor. Nach dem kommunalen Defizit zu Beginn dieser Legislaturperiode haben die Kommunen im vergangenen Jahr einen Überschuss von
8 Milliarden Euro erwirtschaftet. Dadurch war es in vielen Städten und Gemeinden möglich, die allernotwendigsten Investitionen bei Schulen, Kindergärten und
Straßen überhaupt anzugehen. Trotzdem besteht nach
wie vor auf kommunaler Ebene großer Handlungsbedarf, und zwar in Ost und West. Wir sollten die sich abzeichnende Wirtschaftskrise nutzen, die kommunale Infrastruktur zügig in Ordnung zu bringen.
({3})
Investitionen in Bildung und Infrastruktur werden dafür
sorgen, dass Deutschland gestärkt aus der Krise hervorgeht.
Zweitens. Wir haben im Baugesetzbuch das Planungsrecht modernisiert und damit Vorfahrt für die Innenstadtentwicklung gegeben. Mit der Vereinfachung
von Bebauungsplanverfahren im Innenbereich stärken
wir die Reaktivierung der Innenstädte und Stadtteilzentren als wichtige Orte sozialer und kultureller Begegnung und sichern zusätzlich eine verbrauchernahe Versorgung.
Drittens. Ich gehe davon aus, dass wir morgen über
die Modernisierung des Vergaberechts entscheiden. Dort
wird unter anderem klargestellt, dass Grundstücksveräußerungen der Kommunen und städtebauliche Verträge
nicht vom Vergaberecht erfasst werden. Damit können
Kommunen in Zukunft wieder mit privaten Partnern Kooperationen bei Stadtentwicklungsmaßnahmen eingehen und gemeinsam Projekte entwickeln. Die durch einige Oberlandesgerichte und den EuGH entstandene
Unsicherheit wird damit beseitigt. Diese Klarstellung im
Gesetz löst mit einem Schlag einen Investitionsstau in
Millionenhöhe im kommunalen und im privaten Bereich, ohne dass es den Steuerzahler zusätzlich Geld kostet.
Viertens. Die Unterstützungen im finanziellen Bereich beim Ausbau der Kinderbetreuung helfen nicht nur
Familien, sondern auch den Kommunen bei der Weiterentwicklung der sozialen Infrastruktur. Mit Blick auf die
Länder würden wir uns wünschen, dass die zur Verfügung gestellten Gelder vor Ort etwas schneller ankommen. Ich bin fest davon überzeugt: Für eine positive
Stadtentwicklung sind in Zukunft familiengerechte Angebote von besonderer Bedeutung.
Fünftens. Voraussetzung für ein besseres Leben ist
eine energieeffiziente und klimagerechte Stadtentwicklung. Bei der Bekämpfung des Klimawandels sind die
Städte besonders gefordert. Wir wissen: In den Städten
wird am meisten Energie verbraucht, aber auch am meisten CO2 erzeugt. Deshalb ist es richtig und konsequent,
dass wir vor drei Jahren mit dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm hier einen Schwerpunkt gelegt haben.
Wenn öffentliche Einrichtungen und Wohnungen energetisch auf den neuesten Stand gebracht werden, ist dies
ein großes Beschäftigungsprogramm für die Bauwirtschaft. Es hilft beim Energiesparen und erhöht den Wert
der Gebäude, und schließlich ist es gut für das Klima.
Wenn wir wollen, dass in Zukunft noch mehr private
Vermieter ihre vermieteten Wohnungen energetisch sanieren, sind Änderungen beim Mietrecht - da teile ich
Ihre Auffassung - notwendig.
({4})
Wir brauchen bei Wohnungssanierungen und Modernisierungen Rechtssicherheit für Mieter und Vermieter.
Die Verankerung des Klimaschutzes im Mietrecht kostet
den Steuerzahler nichts, hilft aber Mietern und der Umwelt.
Damit allein ist es jedoch noch lange nicht getan.
Menschen in den Städten leiden unter zunehmendem
Verkehr und seinen negativen Wirkungen wie Lärm,
Luftverschmutzung, Unfallgefahr und Staus. Es ist daher
erforderlich, Mobilität städteverträglich auszugestalten.
Wir brauchen die Stadt der kurzen Wege. Durch eine
günstige Mischung von Nutzungen ist dies durchaus
machbar. Es macht eigentlich wenig Sinn, am einen
Ende der Stadt zu wohnen und am anderen Ende zu arbeiten und täglich mit dem Auto morgens und abends
quer durch die Stadt zu fahren, um zum Arbeitsplatz
oder nach Hause zu kommen.
Sechstens. Einen wichtigen Anteil der Entwicklung
unserer Städte hat in den letzten Jahrzehnten die klassische Städtebauförderung eingenommen. Vom Bund wurPeter Götz
den bis Ende dieses Jahres insgesamt 12,5 Milliarden
Euro an Finanzhilfen zur Verfügung gestellt. Der Auftrag der Städtebauförderung ist allerdings noch nicht erfüllt. In vielen Kommunen gibt es nach wie vor großen
Handlungsbedarf. Innerstädtische Brachflächen der Industrie oder ehemaliger militärischer Liegenschaften
warten dringend auf ihre Aktivierung. Die wenigsten
Kommunen können diese Aufgabe allein schultern. Sie
sind auf die Solidarität von Bund und Ländern angewiesen. Wir sollten prüfen, Herr Staatssekretär, ob und wie
wir den investiven Teil der Städtebauförderung noch
weiter aufstocken können. Die klassische Städtebauförderung gehört zu den erfolgreichsten Förderinstrumenten für unsere Innenstädte der letzten 30 Jahre.
({5})
Sie weiterzuentwickeln und auf hohem Niveau zu verstetigen, wäre durchaus sinnvoll.
Ein Hinweis, der mir sehr am Herzen liegt, sei mir in
diesem Zusammenhang gestattet: Die meisten Natursteinmaterialien, die bei Stadtsanierungsvorhaben verwendet werden, kommen aus Indien. Sie kosten etwa ein
Fünftel eines Steines aus deutscher Produktion. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass von der Million Menschen, die in indischen Steinbrüchen arbeiten,
etwa 150 000 minderjährig sind. Deren Arbeitsbedingungen kann sich jeder vorstellen. Die Lebenserwartung
dieser Menschen liegt bei 35 bis 38 Jahren.
Inzwischen gibt es viele Städte in Deutschland, die
sich selbst verpflichtet haben, keine Baumaterialien zu
kaufen, bei denen nicht zweifelsfrei nachgewiesen ist,
dass sie nicht durch Kinderhand hergestellt wurden.
({6})
Das kostet sicher mehr, aber wir müssen unsere Fußgängerzonen nicht auf dem Rücken von Kindern pflastern,
die dafür ihre Gesundheit und ihr Leben ruinieren.
Unsere Städte besitzen ein hohes Maß an Lebensqualität. Sie vermitteln ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit. Die meisten Menschen identifizieren sich mit
der Stadt, in der sie leben. Viele, vor allem ältere Menschen, ziehen aus dem Speckgürtel zurück in die Innenstädte. Wir erleben so eine Renaissance der Stadt. Die
Kommunen stellen sich durch einen altersgerechten Umbau darauf ein.
Die Städte und Gemeinden sind das Fundament unseres Staates. Unser Ziel muss sein, sie als Motoren für die
Wirtschaft zu stärken.
Internationale Wettbewerbsfähigkeit, sozialer Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und eine nachhaltige
Entwicklung sind maßgeblich von gesunden und attraktiven Städten abhängig. Wir sollten uns im Deutschen
Bundestag öfter damit auseinandersetzen.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Heidrun Bluhm,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erlauben Sie mir heute einmal eine etwas andere Sicht
auf dieses Thema, als bisher vorgetragen wurde.
Die Geschichte der Urbanisierung ist alt. Sie reicht
sieben Jahrtausende zurück. Auch die mitteleuropäische
Stadt existiert schon gut tausend Jahre. Die Geschichte
der Urbanisierung ist eine höchst lebendige Geschichte.
Immer wieder gab und gibt es Veränderungen, Brüche,
Entwicklungen. Städte wurden und werden von jeher so
aufgebaut und umgebaut, wie es den Vorstellungen ihrer
jeweiligen Bürgerinnen und Bürger, ihrer Bewohner,
entspricht, wenn sie denn Gelegenheit haben, ihre Bedürfnisse, Wünsche und Träume in die Pläne, Konzepte
und Strategien von Politik und Planern einzubringen,
wenn sie denn eine Stadt nach ihren Vorstellungen mitgestalten können.
Eine zentrale Frage in diesem Zusammenhang ist:
Wessen Stadt ist die Stadt? Was haben diejenigen zu sagen, die in den Städten leben, arbeiten oder wohnen? Immerhin leben auch in Deutschland zwei Drittel aller Einwohner in Städten, etwa 40 Prozent in mittleren und
kleinen Städten, rund 30 Prozent in Großstädten. Stadt
ist für ihre Einwohnerinnen und Einwohner jener Ort, in
dem sie nicht nur wohnen, sondern ihr gesamtes Leben
gestalten. Hier erleben sie alle gesellschaftlichen Entwicklungen ganz persönlich. Hier wird Politik auf ihre
konkreten Lebensumstände umgesetzt. In diesem Sinne
schafft Stadtentwicklung Voraussetzungen für die Bewohnerinnen und Bewohner - im Positiven, aber auch
im Negativen. Stadt ist die äußere Hülle für ihren öffentlichen und privaten Alltag.
Wie aber kann und soll eine Stadt aussehen, die ihren
Bewohnerinnen und Bewohnern Gelegenheit gibt, sich
als Subjekte und nicht als Objekte des Handelns zu erweisen? Gerade die europäische Stadt war in ihrer Geschichte das Stein gewordene Versprechen, dass sich
Städter aus beengten politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnissen befreien können. - So heißt es in
einer hochkarätigen Aufsatzsammlung zu Genesis, Geschichte und Zukunft der europäischen Stadt. Dieses
Versprechen, dieser Anspruch kann und darf auch heute
als Maßstab zur Beurteilung von Stadtentwicklung und
Stadtentwicklungspolitik genommen werden: Welche
Portion Befreiung und Selbstbefreiung bietet Stadt? Wie
viel Zukunft erlaubt die Stadtentwicklung?
Gerade in der Stadt als einem revolutionären Ort spiegeln sich in aller Deutlichkeit, Klarheit und Wahrheit die
gesellschaftlichen Veränderungen und deren Dynamik
wider. Stärker als je zuvor hat Stadtentwicklung zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch eine europäische und vor
allem internationale Dimension. Stärker als je zuvor
greift heutige Stadtentwicklung weit in das Leben künf21198
tiger Generationen ein und hat auf jeden Fall nachhaltige
Wirkungen für sie.
Stadtentwicklung und Stadtentwicklungspolitik brauchen ein kreatives Vorausdenken, kühne Fantasie und
gesellschaftliche Utopie. Ich verstehe und verwende den
Begriff der Utopie hier als Aufforderung, sich Gedanken
über eine Stadt der Zukunft zu machen, die sowohl ökonomisch als auch ökologisch, politisch wie sozial auf der
Höhe ihrer Zeit ist, wenn es geht, ihr auch ein Stück voraus ist.
Stadt hat Zukunft. Stadt braucht Zukunft. Wie gestalten wir heute diese Zukunft? Meine Fraktion hat sich in
dieser Wahlperiode sehr intensiv mit dem Thema Stadt
der Zukunft/Zukunft unserer Städte im europäischen
Kontext befasst. In mehreren Konferenzen zum Stadtumbau Ost und auch zum Stadtumbau West - und damit
schon weit vor der Bundeskanzlerin - wurde öffentlich
die leicht provokante Frage gestellt: Was kann in diesem
Fall der Westen vom Osten lernen und auch umgekehrt?
Zu diesem Thema gab es ausführliche und sehr lebendige Diskussionen mit Experten, aber vor allem auch mit
Bewohnerinnen und Bewohnern der Städte Bitterfeld,
Eisenhüttenstadt und Essen. Es entstanden Umrisse einer
linken Stadt der Zukunft, in welcher folgende Aspekte
verwirklicht werden sollen: ein menschenwürdiges Leben für alle ihre Einwohnerinnen und Einwohner. Es soll
eine soziale und ökologische Stadt geben, die sich eben
nicht sklavisch den Gesetzen des Marktes unterwirft,
nicht Kultur gegen Natur stellt, nicht Stadt gegen NichtStadt, also gegen das Umland, stellt, die eben keine Einwohner erster und zweiter Klasse sowie gute und
schlechte Wohnquartiere, die keine abgehängten Stadtteile und Parallelgesellschaften, keine Bühne der Ungleichheit kennt und die nicht zuletzt die Kommunen
nicht in eine Konkurrenz gegeneinander zwingt, die
letztlich keinen Sieger kennt.
Für die Linke bedeutet das Nachdenken über die Stadt
der Zukunft gleichsam, ein neues Versprechen auf Hoffnung zu geben: Stadt soll wieder ein Ort der Hoffnung,
ein Ort der Integration statt Segregation, ein Ort der
Emanzipation statt Kapitulation und schließlich ein Ort
der Zivilisation statt Isolation sein. Stadt soll zugleich
öffentlicher und privater Raum sein,
({0})
zugleich Kommunikation und Rückzug. Stadt soll Raum
für große und kleine Angelegenheiten geben. Kurzum:
Stadt soll ein Ort sein, der den Menschen gut tut, und ich
meine ausdrücklich alle Menschen.
Das Projekt linke Stadt der Zukunft hat in diesem
Sinne durchaus emanzipatorischen Charakter. Dafür stehen für uns folgende Prinzipien: keine Ausgrenzung,
egal aus welchen Gründen, kein einseitiger Stadtumbau
nur auf die Wohnungswirtschaft ausgerichtet, sondern
am menschlichen Bedürfnis des Zusammenlebens orientiert. Stadtumbau soll verstanden werden als ein komplexer, die gesamte Kommune fordernder und sich ständig
selbst verändernder Prozess. Dieser Prozess reicht von
der Wohnungswirtschaft - aber nicht eben nur von dieser
aus gesehen - über Versorgungs- und Entsorgungssysteme, über den öffentlichen Personennahverkehr, die
Wirtschaft, vor allem aber und in erster Linie bis zu den
sozialen Aspekten sowie zu Kultur, Bildung und Ökologie.
Stadtumbau kann und muss die Chance nutzen, die
mit und durch das Industriezeitalter im 19. Jahrhundert
geraubte und teilweise zerstörte Natur wieder zurückzugewinnen - oder wie es der streitbare Berliner Architekturkritiker Wolfgang Kil formuliert hat:
Wie eine Welt jenseits von industriell geprägten Erwerbsstrukturen und traditionellen Arbeitsbiografien aussehen könnte, darüber gibt es noch wenig
konkrete Vorstellungen, allenfalls vage Ideen. Eine
Annahme dürfe allerdings mit Sicherheit getroffen
werden: Diese Welt wird sich von unserer jetzigen
erheblich unterscheiden. Der Wandel hat längst begonnen …
Allerdings fallen die Reaktionen auf diesen Wandel
- Stadtumbau Ost und neuerdings Stadtumbau West merkwürdig aktionistisch und reagierend statt überlegt
und strategisch-agierend aus. Es fehlt an Erfahrungen, an
Leitbildern, aber auch an der Bereitschaft und Fähigkeit
zum radikalen Umdenken, der Bereitschaft und Fähigkeit zur Utopie.
Angesichts schrumpfender Städte, Abwanderung im
großen Stil sowie wirtschaftlicher und kultureller Verödung scheint auch politische und planerische Fantasie
geschrumpft zu sein. Die Linke dagegen will die Bedürfnisse, Biografien und Potenziale der Menschen respektieren, berücksichtigen und diese zum Ausgangspunkt
von Stadtentwicklung machen.
Unsere linke Stadt der Zukunft ist offen und freundlich, tatsächlich bürgerfreundlich und demokratisch verfasst, menschlich, bunt und in jeder Beziehung vielfältig
in internationaler und europäischer Dimension. Sie ist
eben der Ort, an dem ich lebe, und nicht der Beton, der
mich umgibt.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Peter Hettlich,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Eine Bemerkung
vorweg kann ich mir nicht verkneifen. Lieber Patrick
Döring, vielleicht erklärst du mir, was Nachtspeicheröfen mit Stadtentwicklungspolitik zu tun haben.
({0})
Das habe ich nicht verstanden, aber vielleicht haben wir
am Rande des Plenums noch einmal Zeit, uns darüber
auszutauschen.
Ich fand, dass das Thema verfehlt war. Du hast ein
Sammelsurium von allen möglichen Punkten zusammengepackt, das du unbedingt loswerden wolltest. Wir
diskutieren heute aber über den Tagesordnungspunkt 7
- Stadtentwicklung - und nicht über das Thema Energieeinsparungsgesetz.
({1})
Über den Sinn oder Unsinn von Nachtspeicheröfen können wir beispielsweise morgen diskutieren.
({2})
Die meisten meiner Kollegen haben ja schon gesagt:
Die Städte stehen vor gewaltigen Herausforderungen,
und zwar nicht erst seit heute: Ich nenne beispielsweise
den demografischen Wandel und die Tragfähigkeit der
Infrastruktur. Mit all diesen Dingen werden wir uns in
den nächsten Jahren und Jahrzehnten ausgiebig auseinandersetzen müssen.
Mir ist aber auch wichtig, in dieser Debatte noch einmal anzumerken, dass es eine sehr starke heterogene
Entwicklung gibt und wir nicht alles über einen Kamm
scheren dürfen, dass wir Stadtentwicklungspolitik also
immer sehr stark nach regionalen Spezifika betrachten
müssen. Selbst im Osten fällt die Entwicklung schon
wieder auseinander. Auch die im Westen ist nicht homogen. Schrumpfende Regionen und wachsende Regionen
stehen nebeneinander. Insofern können die Fragen, denen wir uns stellen müssen, nicht mit einem Patentrezept
beantwortet werden. Wir müssen intelligente Lösungen
finden, die in einem hohen Maß integrierte und integrative Stadtentwicklungspolitik berücksichtigen.
Aus meiner Sicht geht es darum, dass wir denjenigen
möglichst viel Autonomie zubilligen, die vor Ort die Sachen umsetzen müssen. Das heißt, die Akteure stehen
aus meiner Sicht gerade bei einer künftigen intelligenten
Stadtentwicklungspolitik im Zentrum. Wir erleben es
heute auch immer wieder, dass wir hier einen Spagat machen. Wenn wir als Bundespolitiker hier über Stadtentwicklungspolitik diskutieren, kommt reflexartig immer
wieder der Vorwurf, wir griffen in die kommunale Planungshoheit ein. Wir haben das ja schon oft genug diskutiert, lieber Peter Götz. Ich glaube, es besteht kein Anlass zu der Befürchtung, dass irgendjemand aus diesem
Gremium oder aus dem Ministerium die Axt an die Wurzel der kommunalen Planungshoheit legt.
Ich denke, dass wir aber auch die Verpflichtung haben, über diese Themen zu diskutieren. Die Gedanken
sind frei, und ich lasse mir nicht verbieten, auch auf
Bundesebene über Stadtentwicklung zu diskutieren. Es
ist dabei wichtig, wie der Kollege Großmann eben schon
zu Recht gesagt hat, dass nicht nur ein vertikaler, sondern auch ein horizontaler Gedankenaustausch stattfindet, also Kommunikation zwischen den Akteuren in
Bund, Ländern und Kommunen. Ich denke, das ist eine
der zentralen Aufgaben. An der Stelle wünsche ich dem
Bundesminister Tiefensee viel Erfolg bei seinen Besprechungen mit den Ministerpräsidenten. Ohne die Mitwirkung der Länder können wir an dieser Stelle nicht erfolgreich sein.
({3})
Zu den Strategieelementen, die wir ja im Rahmen einer nationalen Stadtentwicklungspolitik auf den Weg gebracht haben. Wir haben das jetzt ja erst im Sommer in
München erleben können. Da sind wirklich beeindruckende Projekte vorgestellt worden. Ich finde, dass in
den Strategieelementen der „Guten Praxis“ - ich nenne
die Handlungsfelder „Städtebauliche Sanierung und Entwicklung“, „Erhaltung historischer Städte“, das Programm „Soziale Stadt“, die Handlungsfelder „Stadtumbau Ost“ und „Stadtumbau West“ sowie „Klimagerechte
Stadt“ - die richtigen Akzente schon gesetzt worden
sind. Man kann sich natürlich immer darüber streiten, ob
man sich nicht an der einen oder anderen Stelle noch etwas stärker finanziell engagieren könnte.
Ihnen, lieber Patrick Döring, möchte ich sagen: Der
Stadtumbau West stellt uns vor ganz andere Herausforderungen als der Stadtumbau Ost. Wir müssen hier eine
ganz starke Heterogenität feststellen. Hier kann man
nicht mit einem einfachen Programm kommen, sondern
es ist eine große Vielfalt von Maßnahmen notwendig.
Ich denke, dass diese im Augenblick durch die Programme auch entsprechend gewährleistet wird. Deshalb
sollte man auch so ehrlich sein, einzugestehen, dass es
insbesondere für den Stadtumbau West keine Patentrezepte gibt.
Als Sprecher der Arge Ost kann ich an dieser Stelle
sagen: Wir verfolgen all das sehr aufmerksam. Wenn
man irgendwo wirklich noch einmal eine Schippe drauflegen könnte, dann sind wir die Letzten, die das verhindern. Wir sollten aber wirklich den Fokus wieder etwas
stärker auf die verschiedenen Akteure und ihre jeweiligen Probleme richten.
Für mich ist auch ein weiterer Punkt wichtig, den
Staatssekretär Großmann eben angesprochen hat, nämlich Toleranz. Gerade in Verbindung mit dem Programm
„Soziale Stadt“ stehen wir hier vor einer ganz zentralen
Herausforderung. Bei uns in der Fraktion haben wir oft
auch im Zusammenhang mit der Frage Aufbau Ost dieses Thema behandelt. Laut Richard Florida sind erfolgreiche Regionen solche, die Technologie, Talente und
Toleranz in den Vordergrund stellen. Ohne Toleranz wird
man die anderen beiden Bereiche nicht mit Leben erfüllen können. Insofern ist es wichtig, dass Städte auch weiterhin - sie sind es ja traditionell immer gewesen - Horte
von Toleranz gegenüber Andersdenkenden und auch gegenüber Migrantinnen und Migranten bleiben. Insofern
ist das Programm „Soziale Stadt“ - es war ja immer etwas schwierig, es in dem politischen Umfeld hier zu
präsentieren; Petra Weis nickt, zu Recht - wirklich eine
Perle neben all den anderen Projekten. Es lohnt sich
wirklich, dieses Programm auch in den nächsten Jahren
kontinuierlich weiterhin zu begleiten und finanziell zu
unterstützen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Thema kommt
mir in der Debatte etwas zu kurz. Peter Götz hat es in
seiner Rede kurz angerissen. Es handelt sich um das
Thema „Städtischer Verkehr“. Ich möchte Ihnen dazu
kurz etwas zitieren:
Es ist noch viel zu tun, um unsere Städte wieder lebenswert zu machen und zu erhalten. Zu lange sind
wir der Faszination des Autos erlegen. Zu lange haben wir offenen Auges mit angesehen, wie unsere
Siedlungen für den Individualverkehr zerstört wurden, an Humanität verloren … für viele Menschen,
insbesondere für alte Leute und Kinder, ist das Leben in einer Stadt oft eine Bedrohung. … Viele der
Bedrohungen gehen vom Auto aus: Lärm, Abgase,
Unfälle, Schäden an Umwelt und Gebäuden, Verlust an Urbanität.
Wer hat das geschrieben? Es war Oscar Schneider, damals, nämlich 1986, CSU-Minister für Raumordnung,
Bauwesen und Städtebau. Das macht deutlich: Bei dem
Thema „Stadt und Verkehr“ ist es nicht so, dass wir
keine Erkenntnisse hätten. Vielmehr besteht ein Umsetzungsdefizit. Es ist allerhöchste Eisenbahn, dass wir uns
mit dem Thema stärker auseinandersetzen und im Kontext einer nationalen Stadtentwicklungspolitik - die
Bundesregierung hat ja angekündigt, am Aktionsplan
„Stadtverkehr“ der EU mitzuwirken - über dieses
Thema diskutieren.
({5})
Wir können das Thema nicht einfach ausblenden. Ich
denke, dass ich dazu nicht mehr viel sagen muss, weil
den meisten die Dimension des Problems bewusst ist. Im
Zusammenhang mit dem Thema Verkehr spielt auch die
Suburbanisierung eine Rolle, die offensichtlich unverändert bestehen bleibt. Wenn man den Zahlen des Statistischen Bundesamtes Glauben schenken darf, dann beträgt
der Flächenverbrauch nach wie vor 114 Hektar pro Tag.
Das ist viel zu viel.
({6})
Offensichtlich kommen wir da mit unserer ursprünglichen Strategie nicht voran, mit der der Flächenverbrauch
auf 30 Hektar pro Tag reduziert werden sollte. Da Verkehr und Suburbanisierung zusammengehören, müssen
wir die Themen auch ganzheitlich betrachten und diskutieren.
({7})
Last, but not least eine Bemerkung zu den Kommunen. Die Kommunen sind auf der einen Seite durchaus
Opfer von bestimmten Entwicklungen. Auch hinsichtlich der Finanzausstattung der Kommunen müssen sowohl der Bund als auch die Länder einmal in sich gehen.
Aber die Kommunen haben nicht nur Rechte, sondern
auch Pflichten. Auch sie müssen in diesem Kontext eine
Rolle spielen und diese ernst nehmen. Sie können nicht
auf der einen Seite auf den Bund schauen, wenn es um
das Finanzielle geht, aber auf der anderen Seite fordern,
dass der Bund sich heraushält.
Herr Hettlich.
Ich bin sofort fertig. - Ich plädiere dafür, dass wir die
Kommunen aktivieren und dass wir sie stärken und unterstützen. Ich jedenfalls bin bereit dazu. Ich freue mich
auf spannende Debatten zu diesem Thema im Ausschuss.
Danke schön.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Weis, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestatten Sie
mir eine kleine Vorbemerkung. Statt meiner üblichen
Kritik an der nächtlichen Stunde, zu der wir in der Regel
über die Themen Stadtentwicklung, Städtebau und Wohnungswesen diskutieren, will ich heute einmal ein kleines Lob aussprechen. Wir debattieren heute immerhin
bei Tageslicht. Vielleicht sollten wir uns vornehmen, in
dieser Legislaturperiode noch zu erreichen, dass wir einmal zur Kernzeit diskutieren. Das wäre mein innigster
Wunsch.
({0})
Wenn wir heute über die Initiative zur Nationalen
Stadtentwicklungspolitik sprechen, über den Antrag der
Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion und
über den Antrag der Koalitionsfraktionen zur Fortsetzung der integrierten Stadtentwicklung, dann tun wir vor
allem eines: Wir ziehen schon jetzt, auch wenn die Legislaturperiode noch nicht ganz zu Ende ist, eine überaus
positive Bilanz unserer Arbeit. Wir verpflichten uns darüber hinaus zu weiteren Anstrengungen, die weit über
diese Legislaturperiode hinausweisen und insofern auch
unsere - ich kann jedenfalls für mich sprechen - Nachfolger und Nachfolgerinnen beschäftigen werden.
Die Initiative zur Nationalen Stadtentwicklungspolitik, die, wenn wir uns recht erinnern, in ihrer Entstehungsphase zunächst ein wenig kritisch beäugt worden
ist, hat sich, wie ich meine, in ganz kurzer Zeit zu einer
Erfolgsgeschichte gemausert. Zum einen hat sich die Bedeutung der Städte und Regionen für die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes im Angesicht großer Herausforderungen, aber auch großer Chancen im Bewusstsein
aller Beteiligten festgesetzt. Zum anderen hat sich die
Bedeutung aller Akteure im Rahmen der Stadtentwicklung - nicht nur des Staates, sondern auch all derer, die
Staatssekretär Großmann schon genannt hat - im Sinne
einer echten Gemeinschaftsaufgabe erhöht. Man spricht
wieder über die Stadt und über die Stadtpolitik. Die NaPetra Weis
tionale Stadtentwicklungspolitik schafft eine Plattform,
die Entscheidungen auf allen Ebenen wirkungsvoll vorbereitet, indem sie, wie ich meine, Trends formuliert und
nachahmenswerte Handlungs- und Lösungsansätze aufgreift und sie konsensfähig macht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unter der deutschen
EU-Ratspräsidentschaft und mit der Verabschiedung der
Leipzig-Charta haben wir die Grundlage für eine europäische Stadtpolitik nach unserem Vorbild geschaffen.
Ich denke, das ist eine ganz große Leistung in dieser Legislaturperiode und unseres Hauses.
({1})
Die Nationale Stadtentwicklungspolitik ergänzt und
komplettiert das bisher Erreichte. Wir haben die Vorgaben der Vorgängerregierung - wenn ich mir das mit
Blick auf unseren jetzigen Koalitionspartner zu sagen erlauben darf - weiterentwickelt und können heute selbstbewusst feststellen, dass wir in dieser Legislaturperiode
die Politik für eine zukunftsgerichtete Entwicklung unserer Städte zu einem öffentlichen Thema gemacht haben, das es, wie ich freudig zur Kenntnis genommen
habe, nicht nur in die Fachredaktionen, sondern gelegentlich auch auf die Titelseiten und in die Feuilletons
der Tageszeitungen geschafft hat.
Wir haben ebenso - das ist natürlich zum Großteil ein
sicheres Fundament unserer Arbeit - die Fördermittel
des Bundes in diesem Bereich auf einem hohen Niveau
verstärkt und verstetigt - Herr Kollege Götz hat bereits
darauf hingewiesen - sowie durch die Entwicklung innovativer, kreativer und vor allen Dingen problemlösungsorientierter Programmansätze die notwendigen Handlungsanreize gesetzt, damit sich unsere Städte nachhaltig
entwickeln können. Umso mehr sollten wir weiter an der
Optimierung des bisher Erreichten arbeiten.
Die großen Herausforderungen, denen die Stadtentwicklungspolitik begegnen muss, sind schon angesprochen worden. Ich will sie noch einmal ganz kurz nennen.
Es geht natürlich darum, dem demografischen Wandel
und dem Klimawandel zeitgemäß zu begegnen. Zudem
geht es um die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund und nicht zuletzt darum, den sozialen Zusammenhalt in unseren Städten zu sichern.
Darauf antworten wir meines Erachtens nicht nur mit
unseren profilierten ziel- und ergebnisorientierten Programmen, sondern auch mit unserem klaren gesellschaftspolitischen Anspruch. Wir wollen uns aktiv an
der Entwicklung der sozialen und klimagerechten Stadt
beteiligen. Dabei setzen wir auf eine intensive Kooperation aller Akteure vor Ort und in der Region sowie auf
eine ebensolche Kooperation der beteiligten staatlichen
Ebenen. Ich habe mich sehr gefreut, dass Staatssekretär
Großmann diesen Aspekt vorhin in den Mittelpunkt seiner Rede gestellt hat.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Städte und
Stadtregionen sind stark und leistungsfähig. Sie sind - ganz
im Sinne des Modells der europäischen Stadt - kompakt,
vielfältig, sozial und auch grün. Sie haben ihre eigene
Geschichte, ihre eigene Mentalität und ihre eigene Kultur. In ihnen konzentrieren sich die politischen Herausforderungen und gesellschaftlichen Potenziale für die
Zukunft gleichermaßen.
So, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch unsere
Politik ausgerichtet. Sie entspricht unserer Haltung, Veränderungen nicht nur als Risiko, sondern auch als
Chance zu begreifen. Deshalb haben wir uns in den vergangenen Jahren den Herausforderungen aktiv gestellt
und werden dies sicherlich auch in Zukunft tun. Mit unseren integrierten Programmen haben wir dazu beigetragen, dass Städte und Regionen neue Möglichkeiten erhalten, ihre Zukunftsfähigkeit durch maßgeschneiderte
Lösungsansätze eigenverantwortlich zu entwickeln.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch einmal betonen, was ich schon einmal an anderer Stelle ausgeführt habe. Es ist gut und richtig, dass es uns gelungen
ist, die Stadtentwicklung auch in Zukunft als ein Gemeinschaftswerk von Bund, Ländern und Gemeinden zu
begreifen. Der Bund übernimmt in diesem manchmal etwas schwierigen Beziehungsgeflecht eine Koordinierungs- und Netzwerkfunktion im Rahmen einer professionellen Arbeitsteilung zwischen allen beteiligten und
betroffenen Ebenen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist heute nicht
die Zeit, alle Handlungsfelder der Nationalen Stadtentwicklungspolitik zu skizzieren, obwohl sie es alle verdient hätten. Aus aktuellem Anlass möchte ich die klimagerechte Stadt noch einen Augenblick lang in den
Mittelpunkt rücken.
Wir haben mit dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm und dem Investitionspakt von Bund, Ländern
und Kommunen zur energetischen Modernisierung der
sozialen Infrastruktur in den Städten meines Erachtens
ein Förderinstrumentarium geschaffen, das deutliche
Anreize zur energetischen Sanierung setzt. Die Programme tragen nicht nur zur Entlastung der Umwelt bei,
sie reduzieren darüber hinaus die Wohnnebenkosten und
sichern und schaffen Arbeitsplätze im Handwerk vor
Ort. Ich glaube, dies ist einer der ganz wichtigen Effekte,
den wir auch in Zukunft weiter vorantreiben müssen.
({3})
Nicht umsonst sind die Mittel für diese Programme
vor dem Hintergrund der Finanzkrise noch einmal deutlich erhöht worden. Ihr Nebeneffekt ist eine sinnvolle
Mittelstandsförderung mit nachhaltigen Ergebnissen. Ich
begrüße es ganz ausdrücklich, dass ein zweites Konjunkturprogramm die Investitionen vor Ort deutlich befördern wird.
Ich setze darauf, dass wir zufriedenstellende Lösungen für haushaltsschwache Kommunen erarbeiten. Ich
fordere die Länder auf, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden und selbst entsprechende Mittel bereitzustellen.
Es ist sicherlich schon fast überflüssig, zu erwähnen,
dass wir uns auf unseren Erfolgen nicht ausruhen wollen
und werden. Wir wollen bundesweit Modellvorhaben
zur effizienteren Energienutzung im Rahmen einer ökologischen Stadterneuerung durchführen. Mit der Stärkung der kompakten und durchmischten Stadt der kurzen Wege schaffen wir Anreize für eine stärkere
Nutzung energiearmer Verkehrsmittel, vor allem für das
Fahrrad und den ÖPNV.
Arbeiten und Freizeit müssen sich in den Städten wieder stärker miteinander vermischen, ohne dass Lärm und
Luftverschmutzung dabei zunehmen.
Zum Schluss möchte ich ein zweites Thema in der gebotenen Kürze streifen. Der Integration von sozial benachteiligten Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund muss unser zukünftiges Augenmerk gelten.
Herr Kollege Hettlich hat das Programm „Soziale Stadt“
angesprochen. Ich komme natürlich nicht darum herum,
auch darauf einzugehen. Das Programm „Soziale Stadt“
feiert im nächsten Jahr sein zehnjähriges Jubiläum.
Ich denke, das ist eine ganz beeindruckende Erfolgsgeschichte. Wir sollten dieses Datum nutzen, um dieses
Programm auch zukünftig zu einem zentralen Instrument
weiterzuentwickeln, um Quartiere und Stadtteile aufzuwerten, aber vor allen Dingen auch, um den dort lebenden Menschen neben einem annehmbaren Wohnumfeld
Möglichkeiten zu eröffnen, ihr Leben wieder selbstbestimmt und eigenständig in die Hand zu nehmen.
({4})
Die soziale Stadt muss immer auch eine generationengerechte Stadt sein. Ich bin außerordentlich froh darüber,
dass unsere Initiative zur Förderung des seniorengerechten Umbaus in diesem Jahr Erfolg hatte und wir diese
wichtige Aufgabe seitens des Bundes mit immerhin
80 Millionen Euro fördern.
({5})
Denn Barrierefreiheit erleichtert das Leben für alte und
junge Menschen, für bewegungseingeschränkte und für
Menschen mit uneingeschränkter Mobilität gleichermaßen. Deswegen sollten wir dies stärker in das Zentrum
unserer Wohnungspolitik rücken.
Zum Schluss bleibt mir nur noch der Hinweis darauf,
dass ich das Thema Stadtumbau bewusst ausgelassen
habe, weil die Koalitionsfraktionen zur Zukunft des
Stadtumbaus Ost in Kürze einen eigenen Antrag vorlegen werden und wir dieses Thema in diesem Rahmen
noch einmal debattieren können.
Ich glaube, dass wir eine Bilanz vorweisen können,
die sich wahrhaftig sehen lassen kann. Wir bekennen uns
zu unserer Verantwortung für die Entwicklung unserer
Städte und Regionen. Wir entwickeln die Instrumente
konsequent weiter und passen sie an die neuen Herausforderungen an. Wir können mit Fug und Recht sagen:
Unsere Aktivitäten und Programme sind innovativ. Sie
sind zielgenau, und damit sind sie natürlich auch nachhaltig.
Mit der Initiative zur Nationalen Stadtentwicklung
und unserem Antrag zu einem weiteren Ausbau der integrierten Stadtentwicklung gewährleisten wir, dass sich
die Menschen mit den Städten und Gemeinden, in denen
sie leben, identifizieren können, weil sie dort ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Basis finden. Kollege
Götz hat von Heimat gesprochen; ich nehme an, wir
meinen in etwa dasselbe.
({6})
In diesem Sinne freue ich mich auf die weitere Beratung
im Ausschuss und auf die zweite und dritte Lesung.
Herzlichen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
({7})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Renate Blank, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Suchet
der Stadt Bestes“ - das ist ein bekannter alter biblischer
Imperativ, dem bis heute oft nur mit Schwierigkeiten gefolgt werden kann. Das Beste der Stadt zu finden, ist
zweifellos die elementare Aufgabe moderner Stadtentwicklung.
Vor dem Hintergrund tiefgreifender Veränderungen
und Herausforderungen für die Städte und Regionen
finde ich es wichtig, dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden eine nationale Stadtentwicklungspolitik auf den
Weg gebracht hat. Ich finde, es lohnt allemal, den Pfad
vom Suchen zum Finden im Rahmen der vorgelegten
Handlungsansätze des Bundes zu gehen; denn die Entwicklung unserer Städte ist von wesentlicher Bedeutung
für den nationalen Wohlstand und für das weitere wirtschaftliche Wachstum in Deutschland.
({0})
Natürlich ist es in erster Linie die Aufgabe der Städte,
ihre eigene Entwicklung in die Hand zu nehmen; doch
können und müssen Bund und Länder die Kommunen
nicht nur finanziell unterstützen. Auch wenn sich angesichts der Finanzkrise dunkle Wolken am Konjunkturhorizont bilden, müssen alle Bemühungen in einem zweiten Konjunkturprogramm unterstützt werden, damit
weitere Mittel zum energetischen Um- bzw. Ausbau und
zur Sanierung von Schulen und Kindergärten zur Verfügung gestellt werden.
({1})
Stadtentwicklung mit der nötigen Baukultur schafft nicht
nur die Möglichkeit, aktuelle stadtgeschichtliche und
städtebauliche Trends zu thematisieren, sondern sichert
auch konkret Arbeitsplätze insbesondere im Mittelstand.
Erlauben Sie mir zum Thema „Baukultur und Denkmalschutz“ den Hinweis, dass die wirtschaftliche Bedeutung von Baukultur und Denkmalschutz oft unterschätzt
wird. Städtisches Leben und Wirtschaften braucht urRenate Blank
bane Atmosphären und unverwechselbare bauliche Profile.
({2})
„Nationale Initiative zur Stadtentwicklungspolitik“
klingt zunächst theoretisch. Praktisch könnte man auch
sagen: Es werden Antworten auf Fragen gegeben, wie
die Bürgerinnen und Bürger in ihren Städten morgen und
übermorgen bauen, wohnen und arbeiten. Es geht nicht
darum, menschliches Leben durch staatliches Handeln
zu verplanen, sondern den Menschen ein urbanes Lebensumfeld zu erhalten bzw. neu zu schaffen, in dem sie
ein selbstbestimmtes Leben erfahren können. Deshalb
darf nicht nur gefördert, sondern müssen auch Ziele definiert und Ergebnisse kontrolliert werden, um starke
Städte und Gemeinden mit Menschen voller Kreativität
als stabile Fundamente und Garanten für eine in die Zukunft tragende Entwicklung zu schaffen. Stadtpolitik
und insbesondere Bau- und Entwicklungsplanung sind
steingewordene Gesellschaftspolitik.
Der demografische Wandel wirkt sich mit all seinen
Veränderungen, die er für das Verhältnis zwischen den
Generationen und innerhalb der Generationen mit sich
bringt, sehr stark auf die Großstädte, aber auch auf das
flache Land aus. In unseren Städten treffen unterschiedliche Gesellschaftsgruppen aufeinander. Die Bewältigung
der latent vorhandenen Konflikte, der soziale Sprengstoff,
stellt Politik und Gesellschaft vor gewaltige Herausforderungen. Das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ hat
sich seit 1999 zum zentralen Handlungsinstrument entwickelt, um problematischen sozialräumlichen Entwicklungen entgegenzuwirken und gemeinsam mit den Akteuren vor Ort eine Stabilisierung und Aufwertung
einzuleiten und zu stützen.
In meinem Wahlkreis habe ich zwei erfolgreiche Beispiele für das Modell „Soziale Stadt“: In der Nürnberger
Südstadt gibt es deutlich sichtbare Aufwärtsentwicklungen beim Zusammenleben zwischen Alt und Jung sowie
Deutschen und Ausländern. In Schwabach wurden in der
Altstadt Projekte gestartet, unter anderem mit einem
Planspiel. Dort gibt es einen gut laufenden Secondhandshop, in dem dauerhaft Arbeitsplätze geschaffen wurden.
Ich finde, das Programm „Soziale Stadt“ hat in einigen
Städten hervorragend gewirkt.
({3})
Auch das Wohngeld ist ein bewährtes Instrument unserer sozialen Wohnungspolitik. Einkommensschwache
Haushalte werden unterstützt, damit sie sich am Wohnungsmarkt mit angemessenem, familiengerechtem
Wohnraum versorgen können. Die altersgerechte Anpassung des Wohnungsbestandes wird eine große Aufgabe
der Zukunft sein. Die Politik muss Verantwortung übernehmen, damit alte Menschen möglichst lange in ihren
vier Wänden bleiben können.
({4})
Die Ansätze des Bundes für eine nachhaltige Stadtentwicklung sind zu Recht vielseitig. Sie umfassen das Baugesetzbuch als rechtlichen Rahmen, die finanzielle Unterstützung durch die Städtebauförderung, die Stärkung von
Baukultur und städtebaulichem Denkmalschutz, das Eintreten für das Welterbe, ferner das Begreifen der Städte
als soziale Orte und Wirtschaftszentren sowie die Bildung von Netzwerken. Dabei ist es ganz wichtig, die
nachhaltige Stadtentwicklung als Querschnittsaufgabe
zu begreifen, die integriertes Handeln verlangt, klassisches Ressortdenken überwindet und fachliche Ressourcen bündelt.
({5})
Gerade im Bereich der Stadterneuerung hat sich in der
letzten Zeit enorm viel verändert. Neben den bekannten
Handlungsfeldern der Sanierung, Modernisierung und
Instandsetzung von Gebäuden und der Neuordnung des
öffentlichen Raumes, die zu Beginn der Städtebauförderung - ich sage das in Anführungszeichen - der Behebung städtebaulicher Missstände zugeordnet wurden,
sind zahlreiche neue Handlungsfelder entstanden. Bei
dieser Gelegenheit danke ich allen an der Stadterneuerung und Stadtentwicklung Beteiligten. Ich glaube, das
ist eine Aufgabe für die Zukunft.
Es ist gut, dass sich auch die Bürgerinnen und Bürger
mit dem Programm „Soziale Stadt“ beschäftigen, dass
sie eingebunden sind und aktiv zur Umsetzung beitragen. Es gibt Kooperationen mit vielen Institutionen zum
Aufbau von Stadtteilnetzwerken, die langfristig die Stabilisierung und Eigenständigkeit von Quartieren sichern.
Vielfach werden auch Integrationsbemühungen von Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund verstärkt.
Die Mittel sind bei der Städtebauförderung übrigens
gut angelegt: 1 Euro Städtebauförderungsmittel löst
8 Euro an bauwirksamen Folgeinvestitionen aus. Bekanntlich kommt dies vor allem örtlichen Unternehmen
zugute. Diese Investitionen zahlen sich also aus.
({6})
Frau Präsidentin, ich muss leider zum Schluss kommen. Das beste Rezept für gute Stadtentwicklung ist,
mehr auf die Ideen der Bürger zu vertrauen und einen
Rahmen zu schaffen, in dem sie ihre Kreativität bestmöglich entfalten können. 2003 hat der Deutsche Städtetag ein Leitbild für die Zukunft der Städte verabschiedet.
Darin heißt es:
Auf keiner anderen als der örtlichen Ebene haben
Bürgerinnen und Bürger, gesellschaftliche Gruppen
und Unternehmen so große Chancen … das Gemeinwesen selbst zu gestalten.
In diesem Sinne unterstützen wir die nationale Stadtentwicklung des Bundes. Der Erfolg kommt uns allen zugute.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/9234, 16/11414 und 16/8076 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Laurenz Meyer ({0}), Dr. Heinz Riesenhuber,
Veronika Bellmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Rainer Wend, Ute
Berg, Reinhard Schultz ({1}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Effizienz der Fördermaßnahmen und Querschnittsaktivitäten für den innovativen Mittelstand
- Drucksachen 16/8950, 16/10209 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Heinz Riesenhuber, CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Unser Präsident, Norbert Lammert, hat in einer
der letzten Sitzungen hier empfohlen, dass man das, was
einem besonders wichtig ist, am Anfang seiner Rede
sagt, damit man es nicht vergisst. Ich möchte nur einen
einzigen Punkt vorneweg stellen: Vor 15 Jahren hatten
wir einen massiven Einbruch in unserer Wirtschaft. Unter dem Druck hat die Wirtschaft innerhalb kürzester
Zeit die Einstellungsraten für junge Naturwissenschaftler drastisch reduziert. Sie wurden bei der Chemie fast
halbiert. Bei Ingenieuren und bei Physikern war es nicht
besser. Die Folge war, dass wir Jahre gebraucht haben,
bis die Zahl der Studienanfänger in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern wieder auf das alte
Niveau gekommen ist. Sie war in der Chemie um die
Hälfte eingebrochen.
Deshalb finde ich es prima, dass Herr Hambrecht, der
Chef der BASF, für den Stifterverband dieser Tage gesagt hat, dass man auch in einem schrumpfenden Markt
an der Forschung nicht sparen darf.
({0})
Das Entscheidende wird sein, dass alle mitmachen - die
Großen, die Mittleren und die Kleinen -, dass man hält,
was man an Forschungskapazität hat, und jungen Leuten, die anfangen wollen, eine Chance gibt. Denn nur das
ist ein Zeichen dafür, dass es gut weitergeht.
Dass es bis jetzt in dieser Legislaturperiode gut gegangen ist, zeigen die Große Anfrage und insbesondere
die Antwort der Bundesregierung. Wir haben eine Reihe
von Eckpunkten sauber durchgezogen. Ein Kernpunkt
war, dass wir 3 Prozent des Bruttosozialproduktes in
2010 für Forschung ausgeben sollen. Der Bund hat seinen Anteil, den ich jetzt nicht im Einzelnen definiere
- Frau Flach, wenn wir uns da uneinig sind, werde ich
das nachholen -, weitestgehend geleistet. Wir sind auf
diesem Weg ziemlich gut vorangekommen. Wir haben in
dieser Legislaturperiode 7 Milliarden Euro zusätzlich ausgegeben. Die Jahresraten von 2009 liegen um 2,5 Milliarden Euro über den Jahresraten von 2005. Das heißt, wir
sind hier enorm weitergekommen. Es gab noch nie einen
solchen Zuwachs bei Forschungsmitteln des Bundes wie
in diesen letzten drei Jahren.
({1})
Beim Mittelstand sind die Zahlen ein wenig unsicher.
({2})
Aber es ist jedenfalls so - das schreibt die Bundesregierung in ihrer Antwort -, dass es von 2005 auf 2007 einen
Zuwachs der Ausgaben für den Mittelstand um 20 Prozent gab. Diese Wachstumsrate war und ist durchaus angestrebt. Das heißt, das Geld war da.
Andererseits geht es um die Frage, was man damit
macht. Die vielfältigen Fragen in der Großen Anfrage
sind ein bisschen zu umfassend, als dass ich sie jetzt hier
im Einzelnen interpretieren kann. Aber schauen Sie es
sich einmal an: Die 17 Felder der Hightech-Strategie, die
Querschnittsprogramme über ganz unterschiedliche Bereiche - Beratung, Patentverwertung, Normen und Standards und öffentliche Nachfrage -, die vielfältigen Programme für die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft
und Wirtschaft, die für uns immer noch ein Problem darstellt - wir müssen beim Mittelstand noch mehr tun -,
dies alles ist klug und vernünftig angelegt.
Aber Geld allein bringt die Sache noch nicht voran.
Intelligenz ist öfter hilfreich. Der Versuch, mangelnde
Intelligenz durch mehr Geld zu ersetzen, misslingt meistens. Hier ist es gelungen, das zusätzliche Geld vernünftig und erfolgreich einzusetzen, sodass sich die Landschaft entwickelt hat.
({3})
In den letzten Jahren hat der Mittelstand seine Forschungsanstrengungen intensiviert. Laut KfW-Panel
herrscht allerdings nach wie vor Skepsis und Sorge.
({4})
Diese Sorge kann ich insbesondere bei jungen Unternehmen sehr gut nachvollziehen. Über die Gründe haben
wir bereits diskutiert, als es um das Wagniskapital ging.
({5})
Zwischen 2004 auf 2007 - die Zahlen für das Jahr
2007 sind die aktuellsten, die uns vorliegen - ist der Anteil, den mittelständische Unternehmen an den Forschungsausgaben der Wirtschaft insgesamt übernommen
haben, von 11,2 Prozent auf 14 Prozent gestiegen. Das
ist beachtlich.
({6})
Wir hoffen sehr, dass sich diese Entwicklung fortsetzt.
Denn davon, dass der Mittelstand Forschung betreibt,
nutzt und einsetzt, hängt die Dynamik unserer gesamten
Industrielandschaft entscheidend ab.
({7})
In den letzten Jahren kam es insbesondere im Mittelstand zu einem Zuwachs an Arbeitsplätzen, vor allem in
den mittelständischen Unternehmen, in denen Innovationen betrieben wurden.
Die Antwort auf eine Große Anfrage am Ende einer
Legislaturperiode ist auch ein Stück weit Zwischenbilanz. Im Zusammenhang mit einer solchen Zwischenbilanz muss man sich fragen: Was macht man daraus?
Was passiert als Nächstes? Diese Fragen kann ich jetzt
nur in Stichworten beantworten; denn daran werden wir
noch zu arbeiten haben.
({8})
Das erste Stichwort ist das 3-Prozent-Ziel. Meine Partei tritt dafür ein, dass wir bis zum Jahr 2015 sogar
4 Prozent unseres Bruttosozialproduktes für Forschung
ausgeben. Dies ist notwendig. Jeder, der die gleiche Linie wie wir verfolgt, ist uns willkommen. Natürlich muss
sich uns aber nicht jeder anschließen. Schließlich sind
wir alle eigenständig.
Der zweite Punkt betrifft das Oberziel: Wir brauchen
mehr forschende kleine und mittlere Unternehmen. Es
gibt in Deutschland 3,5 Millionen kleine und mittlere
Unternehmen. 100 000 von ihnen betreiben Innovationen, 30 000 von ihnen forschen. Diese Anteile müssen
wir stetig und zügig steigern. Denn unsere Gesellschaft
braucht einen gewissen Schwung, damit schnell genug
neue Arbeitsplätze entstehen.
Dazu gehört auch, dass wir die einzelbetriebliche Förderung im Rahmen des Zentralen Innovationsprogramms Mittelstand auf ganz Deutschland ausweiten.
Das ist übrigens schon jetzt möglich; denn das Programm ist fertig. Wenn man etwas tun will, was kurzfristig hilft, dann ist dieses Programm wahrscheinlich ein
guter Ansatzpunkt.
Drittens müssen wir die kleinen und mittleren Unternehmen näher an Spitzentechniken heranführen; das
wird ein entscheidender Aspekt sein. Das Expertengremium für Forschung und Innovation hat gesagt, dass wir
nicht mehr nur als Meister der Systeme auftreten können, sondern auch Spitzentechniken beherrschen müssen. Hier spielen insbesondere die kleinen und mittleren
Unternehmen eine Rolle; denn sie setzen neue Technik
schnell um.
Außerdem brauchen wir Neugründungen. Denn durch
Neugründungen gelangen Spitzentechniken aus den Universitäten auf den Markt. Was Neugründungen angeht,
haben wir noch einiges vor uns - darüber haben wir bereits diskutiert; jetzt können wir diesen Faden wieder
aufgreifen -: Im Kern geht es darum, dass wir beschlossen und den Ländern versprochen haben, das Wagniskapitalbeteiligungsgesetz - leider hat dieses Gesetz einen
so scheußlichen Namen - zwei Jahre nach seinem Inkrafttreten zu evaluieren. Dann werden wir feststellen,
was wir noch besser machen können. Unsere Gründungslandschaft hat noch nicht die Dynamik, die sie
braucht. Die Zahl der neu gegründeten Unternehmen ist
noch zu klein - hier haben wir unser Potenzial noch
nicht ausgeschöpft -, und die Zahl der Wagniskapitalgesellschaften und das einsatzbereite Kapital sind zu gering.
Dazu gehört natürlich auch, dass wir über die Steuergutschriften, die sogenannten Tax-Credits, sprechen
müssen.
({9})
Die Bundesregierung hat die Prüfung der steuerlichen
Forschungsförderung im Unternehmensteuergesetz angekündigt und inzwischen ein glänzendes Papier zu diesem Thema erarbeitet. Wir arbeiten voller Zuversicht auf
die Entscheidungen hin, die auf diesem Gebiet zu treffen
sind. Insbesondere für die mittelständischen Unternehmen ist dies ein schneller, gezielter und unbürokratischer
Ansporn, Forschung aufzugreifen. Die Lust daran, etwas
zu tun, was andere mitbezahlen, ist in Deutschland weit
verbreitet und wirkt beglückend.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn diese
Wahlperiode zu Ende geht, gehen wir in den Wahlkampf, und die tüchtigen Beamten fangen an, neu zu
denken. Dann werden sie nicht mehr durch Große Anfragen von uns in Bedrängnis gebracht. Sie können dann
anfangen, konzeptionell zu arbeiten.
Herr Kollege Riesenhuber, ich muss Sie leider an Ihre
Redezeit erinnern.
Ja, ich bin jetzt gleich fertig, liebe Frau Präsidentin.
Lassen Sie mich noch die Schlusskurve bekommen. Wir haben hier dann die Situation, dass in den gut geführten Ministerien alle anfangen, darüber nachzudenken, mit was man in der nächsten Legislaturperiode startet. Ich habe hier ein paar Stichworte angeboten. Es gibt
noch andere, zum Beispiel die Validierungsprogramme,
damit wir von der Forschung schneller in den Markt
hineinkommen.
Wir vertrauen darauf, dass unsere von Annette
Schavan und Michael Glos so vorzüglich geführten Ministerien vor Ende dieser Legislaturperiode eine glänzende Arbeit machen, sodass wir voll Schwung und Un21206
ternehmungsgeist in eine neue Phase starten und unsere
Unternehmen im Aufschwung, den wir dann wieder erarbeiten werden, glanzvoll in die internationalen Märkte
starten und dort Arbeitsplätze schaffen und Neues für die
ganze Welt.
({0})
Ich gebe der Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion,
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Professor Riesenhuber, ich schätze Sie und Ihre Arbeit ja, aber im Prinzip war das, was Sie eben gesagt haben, eigentlich nur der Beweis dafür, dass wir jetzt drei
Jahre der Großen Koalition hinter uns haben, in denen
sich nichts bewegt hat.
({0})
Sie haben uns eine wunderschöne Fleißarbeit in Form
einer Großen Anfrage und einen Entschließungsantrag
vorgelegt, bei dem es zur Hälfte um Prüfaufträge geht.
Sie reden vom Verstetigen von Mitteln und vom Festhalten an Konzeptionen. Der Höhepunkt Ihrer Rede bestand
darin, dass Sie uns eben gesagt haben, dass jetzt die Beamten damit anfangen würden, nachzudenken. Ein
schlimmeres Fazit kann man über eine Regierungsperiode im Hinblick auf den sogenannten innovativen
Mittelstand eigentlich kaum ziehen, Herr Riesenhuber.
({1})
Lassen Sie uns zu dem kommen, was Sie auch erwähnt haben, was Sie in diesen dreieinhalb Jahren zu
Recht immer wieder betont haben und bei dem wir völlig
einer Meinung mit Ihnen sind. Sie bringen es erneut fertig, in Ihrem Antrag zu schreiben, dass wir eine steuerliche Förderung von FuE brauchen. Ehrlich gesagt: Dass
sich nach dreieinhalb Jahren noch immer jemand aus der
CDU/CSU vor dieses Plenum hinstellt, diese Forderung
aufstellt und dabei darauf verweist, dass der Finanzminister das leider nicht mitmacht, weshalb man das nicht
könne, sodass man inniglich auf die FDP wartet, ist doch
kein politisches Handeln, Herr Riesenhuber.
({2})
Wir leben inzwischen in einer Welt, in der es in den
meisten Staaten in unserem unmittelbaren Konkurrenzumfeld eine steuerliche Förderung gibt. Das wissen Sie
genauso gut wie ich. Inzwischen besteht sogar eine wirkliche Verzerrung der Konkurrenzsituation unserer Unternehmen. In diesem Umfeld überlegen Sie, ob wir TaxCredits haben sollten oder nicht. Machen Sie es, Herr
Riesenhuber! Dafür sind Sie gewählt.
({3})
Durch all das, was Sie uns auch heute hier wieder vorlegen, kommt an vielen Stellen einfach immer wieder
die Frage auf - das muss ich zum Beispiel auch in Richtung von Frau Berg sagen -: Denken Sie eigentlich nicht
darüber nach, wenn Sie einen Antrag schreiben, dass wir
einen solchen von Ihnen ungefähr schon fünf- oder
sechsmal gelesen haben? Sie waren immerhin neun
Jahre lang an der Regierung.
Zum wunderschönen Thema Frauenförderung, das
die SPD immer wieder anspricht: Wenn es denn so gut
ist, dass es die SPD gibt, dann hätten Sie die Frauenförderung längst einmal umsetzen können. Stattdessen
taucht sie in Ihrem Antragswust erneut auf. Ich glaube,
Frau Schavan hat gestern im Haushaltsausschuss die einzig richtige Antwort darauf gegeben. Sie hat gesagt: Ehrlich gesagt habe ich gar keine Lust mehr, darüber zu reden. Ich will das jetzt einfach einmal tun.
Das alles ist doch einfach nur der Ausdruck des
Elends Ihrer Situation. Sie blockieren sich offensichtlich
gegenseitig, Sie haben drei Jahre verschenkt, und im
Endeffekt langweilen Sie uns mit Themen, die wir längst
hätten erledigt haben müssen.
({4})
Herr Riesenhuber, Sie haben ja eben auf den Mangel
an Fachkräften hingewiesen. Hier bin ich völlig einer
Meinung mit Ihnen. Seit fast 20 Jahren reden wir nun
schon darüber. Wenige Sätze später haben Sie dann den
Mangel an Wagniskapital erwähnt.
Ich erinnere mich an wunderbar lebhafte Debatten,
die wir beiden zu diesem Thema hier geführt haben. Sie
haben das entsprechende Gesetz, das dafür sorgt, dass
junge, innovative Unternehmen in diesem Lande Probleme haben, in Ihrer Regierungszeit doch mit verabschiedet. Wir haben weder Wagniskapital, noch haben
wir die nötigen Gründungsvoraussetzungen, die solche
Jungunternehmen brauchen. Das ist unter Ihrer Ägide
passiert, nicht unter irgendeiner bösen Macht in diesem
Lande. Die CDU/CSU hat die erforderlichen Rahmenbedingungen nicht geschaffen.
({5})
Frau Kollegin Flach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Riesenhuber?
Ja, selbstverständlich.
Liebe Frau Flach, mit Blick in die Tiefe der Zeit:
Würden Sie mir zustimmen, dass wir damals die Programme für technologieorientierte Unternehmensgründungen aufgebaut haben? Dazu gehörten das BJTUProgramm, das BTU-Programm, die Bürgschaftsprogramme und auch die Darlehensprogramme. Wir haben
eine Landschaft mit Innovationszentren und mit Technologieparks aufgezogen. In dieser Zeit wurden die VoDr. Heinz Riesenhuber
raussetzungen dafür geschaffen, dass wir in den 90erJahren eine blühende Gründungslandschaft bekommen
haben. Auf dem Neuen Markt gab es später Schwierigkeiten.
Würden Sie sich nicht der Auffassung anschließen,
dass wir gemeinsam preisen sollten, was die Regierung
Erfolgreiches umgesetzt hat, als Sie unser Regierungspartner waren? Das haben wir gemeinsam verantwortet.
Sie haben uns zugestimmt.
({0})
Wir haben dies alles gemeinsam getan. Frau Kollegin,
denken Sie bitte an Ihre ruhmreiche Vergangenheit und
schauen Sie voller Zuversicht in eine glanzvolle Zukunft.
({1})
Lieber Kollege Riesenhuber, ich nähere mich zwar inzwischen einem Alter, in dem ich mich freue, dass ich
Enkel habe, aber so alt bin ich nun doch noch nicht.
({0})
Wir beide haben diese ruhmreiche Zeit leider nicht
zusammen erlebt. Selbstverständlich hat es in der Vergangenheit aber Bemühungen vonseiten der schwarzgelben Koalition gegeben.
({1})
Deswegen habe ich eben auf die Notwendigkeit, diese
wieder aufleben zu lassen, hingewiesen. Sie haben in
den letzten dreieinhalb Jahren aber nun einmal nicht mit
uns regiert, sondern mit jemand anderem.
Rot-Grün hat nicht dazu beigetragen, dass wir über
die Situation für unsere innovativen Unternehmen froh
sein können. Denken Sie an das Thema Verlustvorträge.
Denken Sie an das Thema Zinsschranke. Das alles sind
Sachen, die im Hinblick auf junge Unternehmen wirklich schädlich wirken. Darin sind wir beide uns einig. Sie
haben es aber nicht verhindert. Das ist das Problem, über
das wir an dieser Stelle eigentlich reden.
({2})
- Na gut. Ich tanze dann doch lieber mit den Jungs, lieber Herr Riesenhuber.
({3})
Lassen Sie uns über etwas anderes reden, was neben
der steuerlichen Förderung immer ein Thema war: die
Forschungsprämie. Diese wurde unter Ihrer Regierungsbeteiligung auf den Weg gebracht. Inzwischen wird sie
von der Bundesforschungsministerin selbst als Flop bezeichnet. An dieser Stelle erwarte ich eine Nachbesserung und nicht einen Entschließungsantrag, bei dem ich
davon ausgehen muss, dass man wahrscheinlich auch im
nächsten Jahr keine Weichen mehr stellen wird.
Unter dem Strich: Wir erleben eine sehr aufgeregte
Zeit mit vielen Diskussionen darüber, was man hätte tun
können und was man tun sollte. Ich glaube, in diesem
Bereich - gerade im Hinblick auf den Mittelstand - ist
viel versäumt worden. Entscheidende Weichen hätten
gestellt werden können. Wenn man sich die Zahlen anschaut, stellt man fest: Im Jahr 1998, am Ende der von
Ihnen eben so hoch gelobten Regierungszeit, gab es im
Bereich der Spitzentechnologie 3 150 Unternehmen.
2007 waren es nur noch 2 600. In den gesamten Jahren
unter Rot-Grün und Rot-Schwarz sind Sie an die Zahl
von 3 650 Unternehmen, die es 1995 gab, nicht herangekommen. Das ist keine gute Bilanz, liebe Kollegen. Ich
wünsche uns allen, dass wir nach der nächsten Wahl zu
einem deutlich besseren Ergebnis kommen.
Lassen Sie mich ganz zum Schluss noch auf einen
Punkt hinweisen, von dem ich glaube, dass Sie jetzt
noch etwas tun können: den Hightech-Gründerfonds.
Wir haben, auch im Haushaltsausschuss, einen Bericht
vorliegen, der zeigt, dass Sie stolz darauf sind, dass nicht
so viel ausgegeben worden ist, wie man eigentlich hätte
ausgeben sollen und müssen. Das können Sie in diesen
Zeiten noch tun. In dieser Krisensituation sollten Sie
Geld dazulegen. Sie sollten sich nicht rühmen, dass Sie
nur 4 Millionen Euro ausgegeben haben. Der Rest wurde
im Endeffekt von den Unternehmen gestemmt. Das sind
Sachen, mit denen Sie wirklich etwas bewegen können.
Tun Sie es bitte, und warten Sie nicht auf die nächste
Wahl.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Berg, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Flach, ich habe fast immer das Glück, nach Ihnen
zu reden. Ich hoffe, dass ich Ihre Ausführungen ein bisschen zurechtrücken kann. Man wird sonst depressiv,
wenn Sie nur alles schlechtmachen.
({0})
Ich möchte mit einer Situation beginnen, über die wir
in letzter Zeit schon häufiger gesprochen haben, die aber
auch auf den innovativen Mittelstand erhebliche Auswirkungen hat, und zwar die Finanz- und Wirtschaftskrise,
die uns seit Monaten erschüttert und noch einmal deutlich macht, dass wir nicht auf der Insel der Glückseligen
leben. Die globale Vernetzung trifft uns alle, in diesem
Fall negativ. Wir alle wissen, dass die Globalisierung
uns als Exportnation Chancen bietet. Wir haben dadurch
riesige Absatzmärkte. Aber sie birgt auch Risiken, die in
dieser Situation besonders deutlich werden.
Die Risiken treffen auch den innovativen Mittelstand.
Derzeit erreichen uns sehr viele Hiobsbotschaften. Innerhalb eines Monats kam es zu Auftragsrückgängen um
6 Prozent. Dazu mehren sich die Prognosen, dass im
nächsten Jahr ein deutlicher Rückgang des Bruttoinlandsproduktes zu verzeichnen sein wird. „Was die
Welt derzeit erlebt, ist kein normaler Konjunkturabschwung, es ist ein ökonomischer Herzinfarkt“, wie es
Holger Schmieding, der Chefvolkswirt Europa der Bank
of America, formuliert hat.
Einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
PricewaterhouseCoopers zufolge hat jetzt schon jedes
vierte mittelständische Unternehmen wegen der Finanzkrise Auftragsrückgänge zu verbuchen. 44 Prozent der
Mittelständler erwägen, ihre Investitionen zurückzufahren. Die Situation ist aber in den einzelnen Branchen unterschiedlich.
Das ist alarmierend, weil der Mittelstand eigentlich
der Motor unserer Wirtschaftskraft ist. Kleine und mittlere Unternehmen sorgen für rund 70 Prozent der Arbeitsplätze und für über 50 Prozent der Wertschöpfung
in Deutschland. Sie verfügen zudem über ein enormes
Innovationspotenzial, das uns in der Krise unter keinen
Umständen verloren gehen darf. Innovative Produkte
und Dienstleistungen liefern nämlich Antworten auf die
brennenden Fragen unserer Zeit, zum Beispiel was die
alternde Gesellschaft oder die Knappheit der Energieressourcen angeht.
Deshalb ist die Unterstützung durch die Politik gefragt. Denn wie wir wissen, ist es für kleine und mittelständische Unternehmen sehr viel schwerer als für Großunternehmen, innovative Projekte zu finanzieren. Sie
haben zwangsläufig einen geringeren finanziellen Spielraum und auch geringere personelle Ressourcen. Deshalb ist eine verlässliche staatliche Unterstützung sehr
wichtig.
Wir müssen also neben den Maßnahmen, die wir für
Wachstum und Beschäftigung ergreifen und die die
Wirtschaft insgesamt stärken, konsequent unsere Innovationsförderung fortsetzen. Das tun wir auch.
({1})
In dieser Legislaturperiode investieren wir insgesamt
15 Milliarden Euro in die Hightech-Strategie. Das ist
doch schon etwas, Frau Flach. Unser Ziel ist es dabei,
die wichtigsten Zukunftsmärkte zu erschließen. Wir wollen, dass diese Märkte hier bei uns entstehen. Dafür
schlagen wir Brücken zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. So geben wir neue Impulse für eine direkte Umsetzung von Forschungsergebnissen in neue Märkte. Besonders für kleine und mittlere Unternehmen werden die
Rahmenbedingungen erheblich verbessert.
Das Wirtschaftsministerium hat seine Innovationsförderung neu strukturiert. Mit dem Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand wurden große Teile dieser Förderung unter einem Dach zusammengefasst und effizienter
und kundenorientierter gestaltet. Der Bedarf ist riesengroß. Zurzeit gibt es einen Antragsstau. Der Antragseingang beim ZIM liegt um circa 20 Prozent über den Erwartungen bei steigender Tendenz.
({2})
Aber auch vom Staat in seiner Rolle als Nachfrager
- das möchte ich betonen - müssen Signale für Innovationen kommen. Das Einkaufsvolumen staatlicher Instanzen ist schließlich beträchtlich. Es liegt bei
12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenn staatliche
Instanzen auf innovative und ressourcenschonende Produkte und Dienstleistungen setzen, dann fördert das gerade auch die Absatzchancen kleinerer Unternehmen.
Von daher ist die Vereinbarung von bisher sechs Bundesministerien als positiv zu bewerten, die mehr innovative
Produkte und Dienstleistungen einkaufen werden. Ich
halte es natürlich für gut, dass der Bund hier mit gutem
Beispiel vorangeht, und hoffe, dass dies Kreise zieht.
({3})
Oft hakt es beim Innovationsprozess aber schon ganz
am Anfang, nämlich bei den Gründungen. In diesem
Punkt hatten Sie recht, Frau Kraft.
({4})
- Ich sage immer „Frau Kraft“; Entschuldigung, Frau
Flach. Wenn ich Ihnen recht gebe, dann denke ich immer
an den Namen Kraft.
Was Menschen mit kreativen Ideen häufig fehlt, ist
das Einstiegskapital, das man braucht, um ein Unternehmen zu gründen. Selbst wenn dieser Schritt gelungen ist,
drohen manche Gründer in der Markteinführungsphase
noch zu verdursten, wenn der Geldstrom versiegt.
Wir wollen die Mutigen stützen, die Unternehmen
gründen und damit Arbeitsplätze schaffen. Wir wollen
- hier gebe ich Ihnen ebenfalls recht - auch die mutigen
Unternehmerinnen stützen, die Unternehmen gründen.
In der Tat gibt es noch viel zu wenige Frauen, die sich
diesen Schritt zutrauen. Deshalb helfen wir mit dem
Hightech-Gründerfonds. Dass es hier noch ein bisschen
hapert, liegt nicht daran, dass unsere Bereitschaft dazu
nicht vorhanden wäre, sondern daran, dass nicht genügend abgefragt wird und dass die Wirtschaft - das muss
man einmal ganz deutlich sagen - viel zu zurückhaltend
investiert. Was einmal als Fifty-fifty-Aktion gedacht
war, ist ein Schlag ins Wasser geworden. Aber das ist
nicht Schuld des Bundes.
({5})
Wir helfen mit steuerlichen Vergünstigungen für
Business Angels und mit besseren Verlustverrechnungsmöglichkeiten für Wagniskapitalbeteiligungsgesellschaften.
Auch im Rahmen des Pakets „Beschäftigungssicherung durch Wachstumsstärkung“ setzen wir auf die Stärkung von Innovationen und Energieeffizienz. Wir haben
daher die Mittel für die entsprechenden ERP-Programme
bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau deutlich aufgeUte Berg
stockt, und zwar insgesamt um 1 Milliarde Euro. Allein
auf das Förderprogramm zur Steigerung der Energieeffizienz in kleinen und mittleren Unternehmen haben
wir noch einmal 300 Millionen Euro draufgepackt, denn
wir wollen die ökologische Erneuerung unserer Volkswirtschaft forcieren. Damit machen wir uns fit für die
Zukunft und verschaffen uns Wettbewerbsvorteile auf
den internationalen Märkten.
Mit dem KfW-Sonderprogramm 2009 werden kleinen und mittleren Unternehmen weitere 15 Milliarden
Euro für Kredite bereitgestellt, damit sie eben nicht,
wie PricewaterhouseCoopers prognostiziert hat, Investitionen zurückhalten.
Frau Kollegin, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Ich sehe, dass es bei mir blinkt, und komme zum
Schluss. Wie sagte schon der französische Schriftsteller
Helvétius? Aktivität ist nun einmal die Mutter des Erfolgs. Dies gilt für die Wirtschaft, aber auch für die Politik. Lassen Sie uns unser Augenmerk und unsere Aktivitäten weiterhin gezielt auf den innovativen Mittelstand
richten. Das heißt auch, dass wir die Menschen, die dort
arbeiten, nicht aus dem Blick verlieren dürfen.
Frau Kollegin, Sie wollten zum Schluss kommen.
Wir brauchen ihre Kompetenz, ihr Engagement, ihre
Kreativität und ihre Leistung: kurzfristig, um die Krise
zu meistern, und langfristig, um die Zukunftsfähigkeit
unseres Wirtschaftsstandortes zu sichern.
({0})
Ich gebe das Wort der Kollegin Ulla Lötzer, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt von Herrn Riesenhuber und Frau Berg viele
Beispiele gehört, die auch in der Antwort auf die Große
Anfrage oder in Ihrem Entschließungsantrag aufgeführt
sind. Sie listen aber nicht nur auf, was längst bekannt ist,
keine Neuerung bietet und sich nicht ernsthaft mit den
Problemen befasst, sondern Sie betreiben auch noch
simple Selbstbeweihräucherung. Dies wird dem Mittelstand nicht gerecht. Tatsächlich müsste man sich ernsthaft mit den Problemen befassen, die im Zusammenhang
mit der Krise jetzt für den Mittelstand entstehen.
Frau Berg, Sie haben diese Probleme aufgezählt. Herr
Riesenhuber hat davon gesprochen, man dürfe in der
Krise nicht an der Forschung sparen, und sich dabei insbesondere auf Unternehmen bezogen. Aber wo ist denn
beispielsweise Ihre besondere Anstrengung, dem Forschungsproblem, dem Innovationsproblem und dem
Mittelstandsproblem in der Krise gerecht zu werden?
Wo ist bis heute Ihr Konjunkturprogramm, das auch einen Fonds für Innovationsförderung und ökologische Erneuerung beinhaltet, um damit Nachfrageimpulse in
Richtung einer ökologischen Industriepolitik und einer
innovativen Mittelstandspolitik zu begründen? Bis heute
liegt von Ihnen dazu nichts vor als die Ankündigung eines breiten Konjunkturprogramms.
({0})
Was steht denn Neugründungen entgegen? Die Kreditanstalt für Wiederaufbau kommt in ihrem Gründungsmonitor zu dem Schluss: schlechtes konjunkturelles Umfeld und mangelnde Nachfrage. Das ZEW hat schon
2006 festgestellt: Für den Verzicht auf Innovationsaktivitäten spielte den Angaben der Unternehmen zufolge
die fehlende Nachfrage nach Erneuerungen eine Rolle.
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung hat in der laufenden Legislaturperiode in einem Bericht festgestellt, die Nachfrageorientierung sei in Deutschland absolut unterbelichtet. Nun heißt
es - Frau Berg, Sie haben das gerade angeführt -, je
mehr staatliche Instanzen innovative Produkte und
Dienstleistungen nachfragten, desto besser seien die Absatzchancen gerade der kleinen Unternehmen. Was
schlussfolgern Sie aus dieser bahnbrechenden Erkenntnis? Nichts, außer der Verabredung, man wolle in Zukunft beim Einkauf darauf achten, innovative Produkte
zu bevorzugen! Im Vergaberecht, das morgen Thema
sein wird, findet man dazu nichts. Aber gerade das hätte
die Chance geboten, die Innovationsförderung im Vergaberecht ernsthaft zu verankern. Tatsächlich passiert
nichts.
({1})
Manchmal kann man allerdings froh sein, wenn Sie
nichts tun, weil Ihre Aktivitäten mehr schaden als nutzen, zum Beispiel beim Problem der Finanzierung des
Mittelstands. Nach wie vor fällt Ihnen dazu vor allem die
steuerliche Begünstigung von Private-Equity-Fonds ein.
Sie ziehen keinerlei Lehren aus der Finanzmarktkrise.
Erste Insolvenzen gerade von kleinen und mittleren Unternehmen zeigen: Besonders die von Private-EquityFonds nach dem Prinzip der maximalen Rendite geführten Unternehmen sind jetzt vom Aus bedroht, abgesehen
von der allgemeinen Kreditkrise. Wenn einem Unternehmen nahezu das gesamte Eigenkapital zum Beispiel
durch Wiederverkauf entzogen wird, mangelt es bei der
kleinsten Erschütterung an Reserven, diese durchzustehen. Die Fonds sind nicht geeignet, eine stabile und
nachhaltige Finanzierung von Neuerungen zu gewährleisten.
Ein letztes Problem stellt Ihre Politik betreffend das
geistige Eigentum dar. Sie stellen fest: Mittelständler haben oft Probleme mit einem umfassenden Patentschutz;
das ist richtig. Anstatt aber darüber zu diskutieren, welche Maßnahmen man ergreifen sollte, ob zum Beispiel
die umfassende Patentierung überdacht werden muss,
setzt die Bundesregierung auf Kommunikationsmaßnah21210
men zur Sensibilisierung der Bedeutung des Themas.
Dadurch soll das Problem gelöst werden. Der Innovation
erweisen Sie damit aber einen Bärendienst. Eine flächendeckende Patentierung hindert schließlich andere
Erfinder an der Nutzung und Weiterentwicklung des
Wissens. Das ausufernde System des Patentrechts verhindert Innovationen, statt sie zu fördern. Mittlerweile
werden Patente explizit für den Zweck angemeldet, andere an der Forschung zu hindern. Das ist keine Problemlösung.
Was Sie hier als Innovationsstrategie ausgeben, ist
tatsächlich alter Wein in noch älteren Schläuchen. Von
Sensibilität für kleine und mittlere Unternehmen oder Innovation keine Spur!
Danke.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Die Grünen
sind eine Partei, für die die Förderung von kleinen und
mittleren Unternehmen sowie von Innovation schon immer eine wichtige Rolle gespielt hat. Insofern finden wir
es grundsätzlich gut, wenn die Koalitionsfraktionen die
Bundesregierung auffordern, etwas für kleine und mittlere Unternehmen zu tun. Aber wie Frau Flach schon
sagte, kommt das nach drei Jahren vielleicht ein bisschen zu spät.
({0})
Sie haben noch ein Jahr Zeit. Vielleicht passiert etwas.
Das Schauspiel, das sich hier darbietet, ist interessant.
Da die Regierungsfraktionen die Regierung befragen,
überrascht es nicht, dass dabei eine Antwort herauskommt, die nur so vor Eigenlob strotzt. Es scheint auch
alles irgendwie sehr gut zu sein. Aber wenn man sich das
genauer anschaut, wenn man die rosarote Brille der Bundesregierung absetzt und sich andere Quellen ansieht,
zum Beispiel die Studie „Innovationsindikator Deutschland 2008“, dann stellt man nicht fest, dass Deutschland
an der Spitze steht, sondern man sieht, dass es Mittelmaß
ist und auf Platz 8 von 17 untersuchten Ländern steht,
wobei Schweden, die Schweiz, die USA, Finnland und
Dänemark an der Spitze sind. Man findet also wieder
einmal skandinavische Länder an der Spitze. Dahin
sollte man vielleicht schauen, wenn man Vorbilder sucht.
Auch das Gutachten 2008 der von der Bundesregierung eingesetzten Expertenkommission für Forschung
und Innovation, EFI, stellt erhebliche Mängel bei der
Förderung der Innovationen fest. Ein wichtiger Hemmschuh für Innovationen, so die beiden Studien, ist die
mangelnde Bildung. In dieser Hinsicht müssen wir noch
viel tun. Wir wissen nicht erst seit PISA, dass es um die
Bildung in Deutschland schlecht bestellt ist. In diesem
Zusammenhang liegt in der ökonomischen Krise tatsächliche eine Chance. Wenn man bedenkt, dass die Bildungsausgaben bei etwa 5 Prozent des BIP liegen, im
OECD-Durchschnitt aber bei ungefähr 6 Prozent, dann
sieht man, dass diese Lücke von 1 Prozent mit einem Investitionsvolumen geschlossen werden könnte, das dem
Investitionsprogramm entspricht, das der Sachverständigenrat vorschlägt. Geben Sie sich einen Ruck! Nutzen
Sie die Chance, handeln Sie und legen Sie ein Investitionsprogramm für Bildung und Innovationen auf! Das
nützt der Gesellschaft und den kleineren und mittleren
Unternehmen.
({1})
Ein weiterer Punkt fällt bei der Lektüre der Studie
von BDI und Telekom-Stiftung auf. Bei der Bereitschaft
zum unternehmerischen Risiko liegt Deutschland auf
dem allerletzten Platz. Wenn man sich nun die Regierung anschaut, wundert einen das nicht. Aber die ist
nicht repräsentativ für alle Deutschen. Unseres Erachtens liegt das nicht daran, dass die Deutschen grundsätzlich keine Lust haben, irgendwelche Risiken einzugehen,
sondern das hat etwas mit den Rahmenbedingungen zu
tun. Das hat mit den finanziellen Rahmenbedingungen
- Stichwort: Zugang zu Wagniskapital; dazu haben wir
eben schon etwas gehört - zu tun, aber auch damit, dass
in Deutschland die soziale Sicherung für Selbstständige
mehr als löchrig ist. In einem Land, in dem die Armutsquote von Selbstständigen höher als die von abhängig
Beschäftigten ist, wundert es nicht, dass Menschen weniger bereit sind, das Risiko einer Selbstständigkeit einzugehen. Auch die Angst vor Armut im Alter kann
durchaus eine Hürde sein, sich selbstständig zu machen.
Deshalb brauchen wir eine bessere Grundsicherung für
Selbstständige, und wir brauchen eine Einbeziehung der
Selbstständigen in die Rentenversicherung.
({2})
Ein besonderes Problem bilden die kleinen Unternehmen. Die Bundesregierung schreibt selbst in ihrer Antwort auf die Anfrage, dass Unternehmen mit 50 bis
499 Beschäftigten - immerhin rund 70 Prozent - mindestens eine Prozess- oder Produktinnovation hervorbringen. Das ist schon einmal nicht schlecht. Bei den
Unternehmen mit 5 bis 49 Beschäftigten ist es aber lediglich jedes zweite bis dritte Unternehmen. Die zentrale
Frage ist also: Wie können Innovation und Eigeninitiative gerade bei den kleinen und Kleinstbetrieben geweckt und gefördert werden?
Wir haben darauf eine Reihe von Antworten, von denen ich aus Zeitgründen jetzt nur noch ein paar in einigen Stichworten ansprechen kann. Zum Beispiel fordern
wir eine partizipative Unternehmenskultur, also eine
stärkere Mitbestimmung der Beschäftigten, verbunden
mit einer stärkeren Partizipation auch am Ertrag von Unternehmen. Dies könnte insbesondere in kleineren Unternehmen zu mehr Innovationen führen, weil stärker im
Team gearbeitet wird und die Kreativität der Beschäftigten gefördert wird.
({3})
Ein weiterer Punkt, der auch schon angesprochen
wurde, ist die Frauenförderung. Sie wird zwar genannt,
aber es werden weitgehend keine konkreten Maßnahmen
erwähnt. Dazu wären unter anderem ein Aufbau von
spezieller Beratung - übrigens nicht nur für HightechUnternehmen - und ein Abbau von Diskriminierung bei
der Kreditvergabe wichtig. Völlig vernachlässigt wird
bei den Überlegungen der Regierung und der Regierungsfraktionen die Innovativkraft von Unternehmen,
die von Migrantinnen und Migranten betrieben werden
und die angesichts der Globalisierung - aber nicht nur
deswegen - ein großes Potenzial für Innovationen aufweisen.
({4})
Außerdem fordern wir eine verbesserte Förderung von
Existenzgründerinnen und Existenzgründern. Hierzu haben wir bereits einen Antrag vorgelegt, auf den ich hier
nur verweisen kann, weil meine Zeit langsam abläuft.
Letzter Punkt: Positiv finden wir, dass in dem Entschließungsantrag darauf hingewiesen wird, dass insbesondere Innovationsförderung in den Bereichen Umwelt,
Gesundheit und Energie wichtig ist. Das sind urgrüne
Themen. Aber schauen Sie sich an, wie auf der einen
Seite die SPD stur und strukturkonservativ an dem Bau
von Kohlekraftwerken festhält und auf der anderen Seite
Roland Koch - ich komme aus Hessen - in den letzten
neun Jahren die erneuerbaren Energien gefördert hat.
Herr Kollege, Sie müssen in der Tat zum Ende kommen.
Letzter Satz. - Schauen Sie sich die innovativen Konzepte des Wirtschaftsministers im Bereich Umwelt- und
Energiepolitik an. Zu all dem kann ich nur sagen: Wenn
die Böcke die Gärtner sind, kann die Innovationsförderung in Deutschland nicht wirklich vorankommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Alexander Dobrindt,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Strengmann-Kuhn, bei allen Problemen, Ideen und
Lösungsvorschlägen, die Sie angesprochen haben, müssen Sie eines in den Vordergrund stellen: Wir können
nicht über Ansätze zur Lösung von Problemen der Forschungsförderung diskutieren, ohne auf die aktuelle
wirtschaftliche Gesamtsituation Bezug zu nehmen. Gerade jetzt, da negatives Wachstum zu erwarten ist, kann
es sehr schnell sein - die Kollegin Berg hat darauf hingewiesen -, dass gerade mittelständische Unternehmen in
eine Situation kommen, in der sie Investitionen und Forschungsprogramme zurückfahren, in der sie weniger
Geld für das ausgeben, was zukunftsfördernd ist. Dies ist
und bleibt genau die falsche Strategie, auch wenn man
sie nachvollziehen kann. Wenn wir die Krise überwinden
wollen, dann ist es unsere Aufgabe, möglichst schnell
die innovativsten Lösungen der Zukunftsprobleme unserer Gesellschaft zu befördern. Daran muss die Politik einen erheblichen Anteil haben. Sie muss ihre Möglichkeiten nutzen, um die Forschung in Bereichen wie Umwelt,
Gesundheit, Energie, Informationstechnologie, Kommunikationstechnologie und der Materialforschung verstärkt zu fördern. Wir wollen klarmachen, dass die Zukunft unseres Wohlstandes von dem Erfolg dieser
Technologien abhängt. Deswegen wollen wir an diese
Aufgabe mit zusätzlicher Kraft herangehen.
({0})
Ich bitte, zwei Dinge in den Fokus zu rücken. In der
momentanen Situation müssen wir auf der einen Seite
dafür sorgen, dass Arbeitsplätze in Deutschland erhalten
bleiben. Auf der anderen Seite müssen wir die Grundlage für Wachstum und Beschäftigung in der Zukunft legen. Es gibt einen Satz, der das Ganze einfach umschreibt - er ist heute noch nicht gefallen -: Unser Land
muss nach der Krise moderner und innovativer sein als
vorher, und dafür müssen wir jetzt die richtigen Impulse
setzen. Annette Schavan, unsere Bundesministerin, hat
das in dieser Woche mehrmals getan. Sie hat das mit folgenden Worten deutlich gemacht: Ein zweites Konjunkturprogramm, das die Bundesregierung aufstellen kann,
könnte steuerliche Anreize geben, um gerade kleinen
und mittelständischen Unternehmen die Forschung und
Entwicklung leichter zu machen, als es mit der bisherigen Projektförderung geht.
Das Schlüsselwort lautet hier „kleine und mittelständische Unternehmen“. 65 Prozent der KMUs in
Deutschland gelten als mögliche Innovationsträger. Das
heißt, dass sie für den Innovationsprozess, der kommen
soll, eine ganz zentrale Rolle spielen werden. Der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft hat gestern die
neuesten Zahlen vorgelegt: Die Investitionen in Forschung und Entwicklung gerade beim Mittelstand wurden um 12 Prozent gesteigert. Das wäre das richtige
Signal, wenn nicht inzwischen fast 50 Prozent der Unternehmen darüber nachdächten, ihre Forschungsaktivitäten im nächsten Jahr etwas zu reduzieren.
Der Mittelstand ist also auch bei Forschung und Entwicklung das Schwungrad. Dieses Schwungrad müssen
wir weiter antreiben, um den Innovationszyklus in Bewegung zu halten. Damit sich dieses Schwungrad weiterdreht, müssen wir drei wesentliche Punkte beachten:
Erstens. Wir müssen die Liquidität der mittelständischen Unternehmen sicherstellen.
Zweitens. Wir müssen einen unkomplizierten Zugang
zu unseren Forschungsprogrammen und zu unserer Forschungsförderung gestalten.
Drittens. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen,
die innovationsfreundlich sind.
Zu erstens. Wie können wir die Liquidität sicherstellen? Wir haben in der letzten Woche den Zugang zum
Maßnahmenpaket „Beschäftigungssicherung durch
Wachstumsstärkung“ offengelegt. Die Unternehmen
können bei der KfW inzwischen zusätzlich 15 Milliarden Euro an Krediten einfordern, nicht nur für Investitionen, sondern auch - das ist das Wesentliche - für Betriebsmittel, für Warenlager, für alles, was im Kern mit
Liquidität zu tun hat. So sorgen wir dafür, dass die Unternehmen zukünftig ausreichend Kredite erhalten können.
Zu zweitens. Wir haben einen unkomplizierten Zugang zur Forschungsförderung geschaffen. Das entsprechende Instrument, das das Ministerium entwickelt hat,
heißt KMU-innovativ. Es gibt einen tollen Fahrplan, den
ein Unternehmen nutzen kann, wenn es an Forschungsgelder kommen will. Er funktioniert ganz einfach in
sechs Schritten:
Erstens: mit dem Lotsendienst im Ministerium telefonisch Kontakt aufnehmen und darüber reden, was man
machen kann. Zweitens: eine Skizze des Projektes erstellen und dem Ministerium zukommen lassen. Das
funktioniert einfach über eine Maske im Internet. Drittens. Innerhalb von zwei Monaten wird über diese
Skizze beschieden. Viertens. Nach einer positiven Begutachtung kann - auch im Internet - ein Förderantrag
gestellt werden. Fünftens. Dieser wird gegebenenfalls
innerhalb von zwei Monaten bewilligt.
({1})
Sechstens. Wenn alles klappt, steht das Geld für Forschung und Entwicklung zur Verfügung.
Die Tatsache, dass sich 50 Prozent der Unternehmen,
die versuchen, über dieses Verfahren an Forschungsmittel zu kommen, zum allerersten Mal um Forschungsmittel bemühen, zeigt, dass das vom Ministerium auf den
Weg gebrachte Instrument gerade für junge, neue Unternehmen interessant ist.
({2})
Zu drittens: die Rahmenbedingungen. Genauso wichtig wie Geld ist das Know-how, die Umgebung, in der
eine Forschungskooperation stattfindet. Wir haben Spitzenclusterwettbewerbe veranstaltet und in diesem Rahmen Cluster gefördert. Unter Cluster verstehen wir
Schwerpunkte, an denen Wirtschaft, Hochschule und
Forschungseinrichtungen zusammenkommen, um Innovationen zu schaffen. Wir haben hier ausreichend Erfahrungen gesammelt, um zu wissen, dass zusätzliche Kraft
und zusätzliches Geld in die Clusterpolitik investiert
werden müssen.
Herr Kollege!
Frau Präsidentin, ich komme zum Ende. - Die drei
Punkte, die ich aufgezählt habe, und die Lösungsvorschläge, die wir gemacht haben, haben aus Sicht der
kleinen oder mittleren Unternehmen unter dem Strich zu
einem großen Erfolg geführt. Finanzielle Fördermöglichkeiten sind vorhanden; wir müssen sie richtig einsetzen. Wir wollen in diesem Sinne weitermachen. Dann
können wir die Finanz- und Wirtschaftskrise überwinden.
Danke schön.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es wäre schon eine eigenartige Innovationsdebatte, wenn man nur in den Rückspiegel schaute und
nur sagen würde, was man schon geleistet hat - das ist
beachtlich -, ohne gleichzeitig zu sagen, wie es eigentlich weitergehen soll. Eine wesentliche Voraussetzung
für Innovationsprozesse in der Wirtschaft ist, dass auch
die Politik innovativ bleibt.
Wenn die Koalition eine Anfrage macht, die zu einer
Bestandsaufnahme mit einer beachtlichen Leistungsbilanz führt, dann ist es selbstverständlich, dass wir, die
Parlamentarier, skizzieren, wo die nächsten Ufer sind,
auf die man zusteuern will; denn auch bei uns darf es
keinen Stillstand geben. Das ist doch der Sinn des dialogischen Verhältnisses zwischen Regierung und Parlament.
({0})
Frau Flach, da finde ich es geradezu albern, wenn Sie sagen, wir forderten die Bundesregierung auf, etwas zu
tun, was sie seit Jahren hätte tun können. Wir haben dargelegt, was in den vergangenen Jahren getan worden ist
- diese Regierung und die Vorgängerregierung haben
Beachtliches geleistet -, aber auch, was zu tun ist, um
noch einen Schritt weiterzukommen.
({1})
Die Bilanz ist unter dem Strich - auch im internationalen Vergleich - überhaupt nicht schlecht. Es kommt
immer darauf an, welche Zahlen man betrachtet. Natürlich gibt es Statistiken, bei denen wir, was die Zahl der
forschenden Unternehmen angeht, maximal im Mittelfeld, vielleicht sogar im unteren Mittelfeld, stehen. Wenn
man sich aber die OECD-Statistik zur Produkt- und Prozessinnovation in einem Dreijahreszeitraum anschaut,
erkennt man: Etwa 45 Prozent der KMU haben Produktund Prozessinnovationen eingeführt. Damit liegen wir in
Europa an der zweiten Stelle und unter den gesamten
OECD-Ländern an der dritten Stelle. Das heißt, im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen, im Bereich des Mittelstandes, sind wir absolut an der Spitze.
Dann wird das Defizit wohl woanders liegen, nämlich
Reinhard Schultz ({2})
bedauerlicherweise bei den größeren Strukturen, die wir
weder mit Beihilfen noch sonst wie steuern können.
({3})
Ein Teil der Innovationen, die von den großen Industrien vorgezeigt werden, stammen gar nicht aus den großen Industrien selbst, sondern wurden aus kleinen Unternehmen, die sich etwas Besonderes haben einfallen
lassen, zugekauft oder stammen aus dem Zuliefererbereich oder dem hochschulnahen Bereich. Das können Sie
auch in der Automobilindustrie, beim Anlagenbau und
bei modernen Techniken rund um den älter werdenden
Menschen beobachten. Das alles wird in kleinen und
mittleren Unternehmen entwickelt und dann von größeren Einheiten wie Siemens, VW, Daimler usw. übernommen.
({4})
- Ich frage mich ohnehin, warum wir noch einen nennenswerten Teil von FuE-Aufwendungen in sehr große
Strukturen stecken, wenn unterm Strich, gesehen für die
Gesellschaft, so wenig herauskommt. Im Bereich der
KMU kommt bei einem wesentlich geringeren Mitteleinsatz wesentlich mehr heraus. Auch darüber kann man
bei Gelegenheit sehr gründlich nachdenken.
Wenn man betrachtet, welche Wachstumsstrategien
zum Beispiel McKinsey, die keine sozialdemokratische
Denkfabrik sind, im Szenario Deutschland 2020 vorschlägt, dann liegen für deutsche Unternehmen die
Chancen darin, die weltwirtschaftliche Entwicklung zu
nutzen. Um was geht es? Es geht um die Klimafrage
bzw. die Umweltfrage. Ich glaube, auf diesem Gebiet
sind wir - das zeigt auch die Große Anfrage - auf dem
Innovationspfad an der Spitze, über den es leichter wird,
in den nächsten Jahren entsprechende Produkte überall
in der Welt zu verkaufen.
Darüber hinaus stellt sich die Mobilitätsfrage. Diesbezüglich hängen wir noch ein bisschen hinterher. Die Automobilkrise ist nicht nur eine Finanzmarktkrise, sondern auch eine Krise des Produkts. Ich denke, da wird
der nächste Schub kommen müssen, wenn wir nicht völlig abgehängt werden wollen. Hier liegt die Chance natürlich auch im mittelständischen Zuliefererbereich.
Ein weltweiter Trend ist die immer älter werdende
Gesellschaft.
({5})
Gesundheit und Älterwerden ist ein ganz großer Bereich,
in dem wir vorne liegen und auch noch besser werden
können, um sowohl die Probleme im eigenen Lande zu
lösen, als auch um anderen Gesellschaften überall in der
Welt etwas anbieten zu können.
Ein Problem, das aus der Großen Anfrage, aber auch
aus allen anderen zur Verfügung stehenden Quellen erkennbar wird, ist, dass das Innovationstempo mit der
Qualifikation der Menschen zu tun hat. Wir haben schon
jetzt einen erkennbaren Ingenieur- und Fachkräftemangel im akademischen Bereich. Deshalb muss man sich
überlegen, wie man dieses Problem löst.
Ich plädiere sehr dafür - diese Anregung ist nicht unmittelbar der Großen Anfrage zu entnehmen -, bessere
Voraussetzungen für berufsbegleitende Studien zu schaffen. Wir müssen aus Facharbeitern Ingenieure machen.
Dafür gibt es Beispiele.
({6})
In meinem Wahlkreis gibt es drei große Unternehmen,
die in Zusammenarbeit mit einer Fachhochschule in Siegen - das ist vom Kreis Warendorf weit entfernt - an
drei Standorten berufsbegleitende Ingenieursstudiengänge anbieten, um aus ihren eigenen Facharbeitern Ingenieure zu machen, die dann später die Entwicklung
vorantreiben. Ich glaube, das muss man so organisieren.
({7})
- Das wird in Hamm auch gemacht. Wir sind ja Nachbarn. - Ich glaube, es wäre der richtige Weg, auch seitens des Bundes, das ein oder andere anzustoßen.
Ich bin davon überzeugt, dass die Förderprogramme
durchaus erfolgreich und zielgenau sind und auch den
europäischen Vergleich nicht zu scheuen brauchen, weil
sie hinsichtlich der Größenordnung alle anderen EULänder - die vielleicht andere Förderwege haben - deutlich schlagen.
In der Frage direkte Förderung oder Steuerbonus
muss man nicht gegeneinander diskutieren. Man kann
das Thema aber auch nicht beliebig additiv diskutieren.
Denn es gibt bei allem Wünschenswerten, was man sich
vorstellen kann, auch Ressourcengrenzen. Ein Steuerbonus ist - wie im Ausland zu beobachten ist - nicht bürokratieärmer, weil sozusagen im Nachhinein nachgewiesen werden muss, ob man etwas Sinnvolles, das mit
Forschung zu tun hat, bewerkstelligt hat. Man bekommt
die Steuergutschrift natürlich nur dann, wenn der Nachweis gelingt, das heißt, man weiß vorher nicht, ob das
Finanzamt hinterher seinen Stempel draufsetzt.
({8})
Das ist die Kritik, die von den Ländern, in denen das so
gehandhabt wird, kommt. Insofern muss man genau beobachten, inwieweit das funktioniert. Ich glaube, wir
sollten in den nächsten Jahren zumindest ideologiearm
an diese Frage herangehen.
({9})
Das betrifft ebenfalls die Frage - Herr Riesenhuber, ich
gebe Ihnen völlig Recht -, ob die Zahl der Business Angels und Venture Capital nicht etwas großzügiger aufgestockt werden können,
({10})
aber das natürlich im Rahmen der Möglichkeiten.
Im Bereich Produkt- und Prozessinnovation sind wir
mit an der Weltspitze, und zwar ohne Steuerbonus, Ven21214
Reinhard Schultz ({11})
ture Capital und mit relativ geringem Einsatz von Business Angels. Wir könnten wahrscheinlich auch das Universum erobern, wenn wir diese zusätzlich aufnehmen
würden. Auf jeden Fall ist bewiesen: Es geht auch so. Es
würde vielleicht noch etwas besser und windschnittiger
mit diesen Instrumenten gehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass wir
insgesamt eine ausgesprochen gute Bilanz mit Blick auf
die Zukunft vorweisen können, und zwar nicht nur im
Bereich der Wirtschafts- und Forschungsförderung im
engeren Sinne,
Herr Kollege Schultz.
- sondern auch im Bereich der Rahmenbedingungen,
die wir gesetzt haben: Mit diesen regen wir die Unternehmen an, die Herausforderungen des Klimawandels,
des Älterwerdens und der Mobilität anzunehmen und
sich noch mehr anzustrengen, um die damit zusammenhängenden Probleme zu lösen. Die Suche nach Lösungen für Probleme ist nämlich Antrieb für Innovation und
nicht die Knete.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 16/11405. Wer stimmt für den Entschlie-
ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der
Koalition bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und
Enthaltung der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen
und der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Daniel Bahr
({1}), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad
Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Gesundheitsfonds stoppen - Beitragsautonomie der Krankenkassen bewahren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Daniel Bahr
({2}), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad
Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Gesundheitsfonds und staatliche Beitrags-
satzfestsetzung in der gesetzlichen Kranken-
versicherung nicht einführen
- Drucksachen 16/7737, 16/9805, 16/11089 -
Berichterstattung:
Abg. Dr. Carola Reimann
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt
Bender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald
Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesundheitsfonds stoppen - Morbiditätsorien-
tierten Risikostrukturausgleich einführen
- Drucksachen 16/8882, 16/11090 -
Berichterstattung:
Abg. Dr. Carola Reimann
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Frank
Spieth, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Das Gesundheitssystem nachhaltig und paritätisch finanzieren - Gesundheitsfonds, Zusatzbeiträge und Teilkaskotarife stoppen
- Drucksachen 16/10318, 16/11091 Berichterstattung:
Abg. Dr. Carola Reimann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir werden in diesem Jahr das letzte Mal über das
Thema Gesundheitsreform miteinander streiten. Noch
immer ist es so, dass die Oppositionsfraktionen nicht
ganz davon überzeugt sind, dass dieser Gesundheitsfonds eine gute Sache ist.
({0})
- Ihr Zwischenruf ist schade, Herr Kollege Bahr. Ich
glaube ja eigentlich an die Lernfähigkeit von Abgeordneten. Dass Sie aber schon am Anfang der Debatte sagen, Sie wollten nichts dazulernen, das trübt doch meine
Adventsstimmung erheblich.
({1})
- Herr Lanfermann, Sie sagen, Sie befänden sich in
Übereinstimmung mit vielen außerhalb und innerhalb
dieses Hauses. Angesichts dessen bitte ich Sie, die Sie ja
die Fahne so stark gegen diesen Fonds hochhalten, sich
doch einfach einmal umzudrehen. Hinter Ihrer Fahne
sind gar nicht mehr so viele versammelt. Die Hauptkritiker des Fonds sind doch schon umgeschwenkt.
Namhafte Ökonomieprofessoren beschäftigen sich in
ihren Analysen mit der Frage, welche guten Ergebnisse
dieser Gesundheitsfonds bringt. Ich darf Ihnen vielleicht
mit Erlaubnis der Präsidentin hierzu ein kleines Zitat
vortragen. Sie wissen, dass der Kollege Rebscher von
der DAK ein erklärter Kritiker des Gesundheitsfonds
war. Ich glaube, er ist in dieser Angelegenheit sogar im
Kanzleramt vorstellig geworden und hat dort vorgetragen, welche schlimmen Auswirkungen dieser habe.
({2})
Jetzt liest man in der neuesten Ausgabe des Mitgliedermagazins der DAK folgende Einlassung:
Der neue Gesundheitsfonds
Der Fonds kommt zum 1. Januar 2009 - und mit
ihm die größte Reform im deutschen Gesundheitswesen seit Jahrzehnten.
({3})
Sie bringt einen Einheitsbeitrag für alle Mitglieder
gesetzlicher Krankenkassen.
({4})
Erstmals kann man sich für eine ausgezeichnete
Kasse entscheiden, ohne für deren besondere Leistungen mehr zu zahlen. Bildlich gesprochen, gibt es
jetzt Gourmet-Plätzchen zum selben Preis wie Discounter-Kekse. Bei gleichem Beitrag kann sich jede
und jeder in Zukunft für bestmögliche Qualität entscheiden. Sicher, süße Backwaren sind kein gutes
Beispiel, wenn es um Gesundheit geht, aber ich
weiß, Sie greifen zu Qualität. Die DAK lässt sich
übrigens immer wieder von unabhängigen Institutionen testen. Da wissen Sie, was Sie haben. In diesem Sinne frohe Feiertage und ein gesundes neues
Jahr!
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so ändern sich die
Zeiten. So werden aus denjenigen, die einst erbittert gegen den Fonds gewettert haben, plötzlich über Nacht solche, die den Fonds ganz okay finden,
({6})
und zwar spätestens dann, wenn sie bemerkt haben, dass
das Grundziel des Fonds ist, diejenigen, die kranke Menschen versorgen, besser auszustatten. Das ist die Grundidee.
({7})
Das bedeutet, die großen Versorgerkassen profitieren
von dem Fonds. Denn wie war es bislang ohne Fonds?
Die Beitragssätze lagen zwischen rund 12 Prozent und
rund 17 Prozent. Aber diejenigen, die bei der einen
Kasse 12 Prozent, und diejenigen, die bei der anderen
Kasse 17 Prozent gezahlt haben, lagen im selben Krankenhaus, gingen zum selben Arzt und haben die gleichen
Medikamente erhalten. Der Unterschied in den Beitragssätzen war nur dadurch begründet, dass die eine Kasse
die Risiken junger, gesunder Menschen versichert hat,
während bei der anderen Kasse viele chronisch Kranke
und Ältere versichert waren. Was ist daran gerecht? Wir
wollen, dass kranke Menschen gut versorgt werden und
dass die Versorgerkassen dazu in die Lage versetzt werden. Das geschieht adäquat mit dem Gesundheitsfonds.
({8})
Noch nie - auch das muss hier gesagt werden - konnten gesetzliche Kassen so ruhig den Jahreswechsel abwarten wie diesmal.
({9})
Sie wissen ganz genau, welche Summen fließen werden
und dass der Bund die Einnahmerisiken ein Stück weit
abfedert. Auch das gehört zur Wahrheit: Wir stellen
nächstes Jahr 167 Milliarden Euro für die Versorgung
von kranken Menschen in der Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung. Das sind 11 Milliarden Euro mehr
als in diesem Jahr. Dafür kann es doch auch eine gute
Versorgung geben. Wir tun mehr für den Bereich der
Krankenhäuser - auch das wird heute Abend noch ein
Thema sein -, wir geben mehr für den Bereich der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte aus,
({10})
und wir haben 11 Milliarden Euro mehr für die Versorgung im Topf.
Worüber wird hier also eigentlich noch gestritten?
Das Einnahmerisiko trägt im nächsten Jahr unterjährig
der Bund, und das in Zeiten der Wirtschaftskrise, wo die
Kassen in der Vergangenheit immer bangen mussten,
dass sie die Einnahmen nicht bekommen. Denn während
einer Wirtschaftskrise sinkt die Beschäftigung, und in
der Folge sinken die Einnahmen der sozialen Sicherungssysteme. Da der Bund jetzt das Einnahmerisiko
übernimmt, können die Kassen sehr ruhig in das neue
Jahr gehen.
In diesen Zusammenhang passt ein Zitat von Herrn
Hecken, der im Rheinischen Merkur treffend feststellt:
„Die Kranken gewinnen.“ Sie gewinnen durch den
Fonds. Sie gewinnen dadurch, dass ihre Krankenversicherung mehr Sicherheit für die Finanzierung der Krankheitslast hat, und sie gewinnen durch ein solidarisches
System, das durch Steuermittel und durch einen transparenten Risikostrukturausgleich in die Lage versetzt wird,
eine gute Versorgung zu gewährleisten.
Schönen Dank.
({11})
Der Kollege Heinz Lanfermann hat jetzt das Wort für
die Fraktion der FDP.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Bundesverband der Betriebskrankenkassen
hat kürzlich in einem Brief formuliert, am 1. Januar
2009 komme es zur „Scharfschaltung des Gesundheitsfonds“. Das ist eine sehr treffende Wortwahl. Denn der
Gesundheitsfonds ist eine Art Waffe des Gesundheitsministeriums, die sogar eine gewisse Streuwirkung entfaltet. Sie richtet sich zunächst gegen die Unabhängigkeit und Beitragshoheit der gesetzlichen Krankenkassen;
({0})
denn die gibt es dann nicht mehr.
({1})
Die Krankenkassen werden in der Welt von Ulla
Schmidt und offensichtlich auch in der Welt der Kollegin Widmann-Mauz
({2})
nur noch als Vollstreckungsorgane der Staatsmedizin gebraucht, in der alles reguliert und zugeteilt werden soll.
({3})
Die Waffe Gesundheitsfonds richtet sich gegen das
Portemonnaie der Beitragszahler; denn 90 Prozent von
ihnen müssen höhere Beiträge bezahlen. Dieser Hinweis
fehlte bei Ihnen, Frau Staatssekretärin. Im Falle eines
durchschnittlich verdienenden Angestellten sind das
420 Euro mehr im Jahr. Rechnen Sie es ruhig nach, Frau
Kollegin!
({4})
Die Waffe Gesundheitsfonds richtet sich auch gegen
alle Unternehmen, die insbesondere bei ihren Betriebskrankenkassen durch höhere Beiträge zusätzlich belastet
werden und sogar dann, wenn ihre Mitarbeiter eine
Rückerstattung erhalten sollten, leer ausgehen.
({5})
Letztlich richtet sich die Waffe Gesundheitsfonds
auch gegen alle Steuerzahler, die in den nächsten Jahren
zusätzlich stark steigende Staatszuschüsse in Milliardenhöhe bezahlen sollen.
({6})
Selbst wenn auch die Gesundheitsministerin gegen
jede Vernunft, gegen alle Argumente, gegen alle Zahlen
und gegen die große Mehrheit - offen in der Bevölkerung und etwas verdeckt in diesem Hause - die Fakten
ignoriert und unbelehrbar ist, so bleibt es dabei: Dieser
Gesundheitsfonds ist ein Bürokratiemonster. Altkanzler
Gerhard Schröder hat ihn als einer der Ersten so bezeichnet. Jetzt sagt es auch Herr Söder, bekanntlich CSU-Mitglied und Mitglied der Bayerischen Staatsregierung.
Man lernt halt auch dazu.
Eines ist leicht zu erkennen. Die Kassen bemühen
sich schon jetzt, möglichst viel Geld aus dem Fonds zu
schöpfen, und machen dabei sogar systematisch Jagd auf
chronisch kranke Patienten. Die AOK Niedersachsen
beispielsweise schickt Mitarbeiter in die Praxen, um mit
den Ärzten die Akten von Patienten durchzusehen, mit
dem Ziel, die Kodierung der Krankheitsbilder der Patienten den Morbiditätszuschlägen anzupassen. Im Gegenzug erhalten die Ärzte für jede kontrollierte Akte
10 Euro. Das ist ein Geschäft, das sich für beide Seiten
lohnt und wie so oft zulasten Dritter geht; denn die Patienten bezahlen solche Aktionen am Ende natürlich mit
einem noch höheren Kassenbeitrag.
({7})
Auch hinsichtlich der Bürokratiekosten, die wegen
des Gesundheitsfonds bei den Krankenkassen anfallen,
weil 51 Millionen Beitragskonten eingerichtet und geführt werden müssen, schweigt die Ministerin beharrlich. Bereits zweimal habe ich an dieser Stelle im
Bundestag darauf hingewiesen, dass der AOK-Bundesverband hierfür Kosten von 1,5 Milliarden Euro errechnet hat. Hier werden Gelder für neue Bürokratie verschleudert, die den Versicherten dann für Leistungen
nicht mehr zur Verfügung stehen. Hierzu schweigt Frau
Schmidt beharrlich, sowohl in diesem Hause als auch in
der Öffentlichkeit.
({8})
Meine Damen und Herren, dass die Gesundheitsministerin Kritik aus dem Parlament ignoriert, kann ich
zur Not noch in der Kategorie „Gefühlte Stärke und gelebte Schwäche“ einordnen.
({9})
Doch heute entsteht sogar der Eindruck, als habe sie ein
gestörtes Verhältnis zur Pressefreiheit. Die Bild-Zeitung
hatte kritisch über einen 400 000 Euro teuren Kinowerbespot für die gesetzlichen Krankenkassen berichtet, ein
Werbespot für eine Veranstaltung, die ohnehin Pflicht für
90 Prozent der Bevölkerung ist. Die Bild-Zeitung hat
diesen Spot als überflüssig bezeichnet und den Kollegen
Bahr mit den Worten zitiert: Das ist rausgeworfenes
Geld. - Damit hat er natürlich recht.
({10})
Daraufhin wurde laut dpa-Meldung von heute Mittag
eine für Anfang Januar geplante und bereits bezahlte Anzeige storniert. Weiter heißt es in dieser dpa-Meldung,
das Ministerium habe angekündigt, „die Schaltung weiterer Anzeigenprojekte kritisch überprüfen zu lassen“.
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Frau Ministerin oder auch
Frau Staatssekretärin Caspers-Merk - Sie haben das
nicht erwähnt, obwohl das heute in allen Zeitungen die
Szene beherrscht -, wenn Sie sich gleich ans Pult stellen
- als Regierungsmitglied dürfen Sie ja jederzeit reden und uns sagen würden, wie es nun wirklich ist, damit wir
erkennen können, wer was behauptet und was denn nun
stimmt. Bitte erwähnen Sie dabei auch, ob es sich nur
um Anzeigen bei der Bild-Zeitung handelt oder auch um
sonstige Anzeigen beim Springer-Verlag; denn auch darüber wurde gesprochen.
({11})
Meine Damen und Herren, das Versprechen von Ulla
Schmidt, im ersten Jahr werde es eine 100-prozentige
Erstattung für die Krankenkassen geben - Frau CaspersMerk hat uns das gerade noch einmal schöngeredet -, ist
mittlerweile als Taschenspielertrick entlarvt worden.
Schon vor dem Start des Gesundheitsfonds vermeldet
der Schätzerkreis, dass wegen der einsetzenden Wirtschaftskrise Beitragsausfälle von 440 Millionen Euro zu
erwarten sind. Das ist ein kleiner Vorgeschmack auf das,
was tatsächlich kommen wird. Wenn die Bundesregierung intern schon mit einem Wirtschaftsrückgang von
3 Prozent rechnet, wird dies in der Folge eher eine milliardenschwere Unterdeckung sein, die zwar im Jahr
2009, durch das Gesetz veranlasst, von dem Finanzminister durch Kredit vorfinanziert wird, die aber im
Jahr 2010 den Kassen als Rechnung präsentiert wird und
von den Beiträgen abgezogen wird. Das sind Zwangsschulden, die im Jahr 2010 zurückgezahlt werden müssen. Dieses Geld fehlt dann für die Versorgung.
Frau Staatssekretärin, wenn Sie von unterjährig sprechen, dann ist das für mich nahe an der Täuschung der
Öffentlichkeit - ich sage das so, damit niemand überempfindlich reagiert -, weil Unterjährigkeit nämlich nur
bedeutet: Schulden nicht in diesem, sondern im nächsten
Jahr. Schulden sind aber Schulden, und Unterdeckung ist
Unterdeckung. Das können Sie nicht einfach nur um ein
Jahr verschieben.
({12})
Die Kassen wissen, dass viele von ihnen das nicht
überleben werden. Sie dürfen sich aber noch die Todesart aussuchen: chronische Leistungsauszehrung oder
plötzlicher Zusatzbeitragskollaps. Beides führt zu Mitgliederschwund und damit zur Schließung oder Zwangsfusion.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Der Kollege Willi Zylajew hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte sehe ich recht zwiespältig. Auf der einen
Seite bietet sie uns die Chance, den Kollegen
Lanfermann und Bahr sowie den anderen Kolleginnen
und Kollegen der FDP und der übrigen Opposition noch
einmal deutlich zu machen, welche Chancen der Gesundheitsfonds bietet.
({0})
Auf der anderen Seite bietet sie die Möglichkeit, das,
was in der interessierten Öffentlichkeit zwischenzeitlich
akzeptiert wird, nach vorne zu stellen. Die Anträge der
vereinigten Opposition sind 13 Tage vor dem 1. Januar
ein wenig seltsam. Die Kollegin Hildegard Müller hat es
in einer Debatte vor einigen Wochen richtig und treffend
formuliert: Das sind nichts anderes als Schaufensteranträge.
({1})
Denn Sie glauben doch nicht im Ernst daran, dass wir
noch etwas verändern können. Alle notwendigen Entscheidungen, Frau Bender, sind getroffen. Rechtliche
und organisatorische Maßnahmen sind ergriffen worden.
Nehmen Sie zur Kenntnis: Der Gesundheitsfonds startet
am 1. Januar 2009, also in 14 Tagen.
({2})
Finanzströme werden neu geregelt. Das Verfahren
wird insgesamt transparenter. Das Finanzierungssystem
wird gerechter. Es wird einen einheitlichen Beitrag geben. In Bezug auf Lasten und Risiken findet ein Ausgleich über den Morbi-RSA statt. Der Wettbewerb zwischen den Kassen wird deutlich stärker. Es ist sicherlich
nicht im Interesse der Kassen, dass wir mehr Wettbewerb bekommen.
({3})
Wir meinen aber, dies ist im Interesse der Versicherten.
Sie werden profitieren. Wir haben nun gleiche Beitragssätze. Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass sich die
jeweilige Kasse nicht mehr über den Beitrag, sondern
über die Leistungen profilieren muss.
({4})
Davon werden vielleicht nicht die Kassen, aber mit Sicherheit die Versicherten profitieren.
({5})
Die Kassen können den Wettbewerb nicht mehr nur
über den Beitragssatz gestalten, sondern müssen deutlich
machen, wo sie Qualität und wo sie Effizienz fördern.
Das sind nun einmal Wettbewerbsmerkmale, die man
schwieriger realisieren kann als den Wettbewerb um einen niedrigen Beitrag für junge, gesunde, wenig kranke
Menschen.
Die Opposition ist in dem, was sie fordert und was sie
will, ein Stück weit uneins.
({6})
Mehr Geld für die Reha, für Pflegepersonal, für bessere
Arzthonorare, für ärztliche Fort- und Weiterbildung und
für Krankenhäuser fließt in das System. Dies fordern
auch alle Oppositionsfraktionen. Nur, keiner von Ihnen
hat bis heute gesagt, woher dieses Geld kommen soll.
Wir glauben, dass wir hierzu einen guten Beitrag leisten.
Auch ohne den Fonds hätten wir zur Finanzierung dieser
von allen erwarteten Mehrleistungen sicherlich Beitragserhöhungen zum Jahresanfang erlebt.
Man muss deutlich sagen: Wir haben ein neues Systemelement. Dieses neue Systemelement bietet viele Chancen für Versicherte, sich für bestimmte Leistungen zu
entscheiden und abzuwägen, was sie zusätzlich erwarten. Dies sind Chancen für die Kassen. Sie können eine
effizientere Versorgungsstruktur anbieten. Die Kassen
erhalten die Chance, Leistungen zu optimieren. Die Versicherten haben die Chance, sich für gute und auch, Herr
Lanfermann, für bessere Leistungen zu entscheiden. Was
soll uns denn nun glücklicher machen als diese Möglichkeit?
Herr Rebscher ist nicht der Einzige - die Staatssekretärin hat es angesprochen -, der sich in diesem Advent
vom Saulus zum Paulus entwickelt hat. Ich bin sicher,
Herr Lanfermann: Ihr Zitat vom Bundesverband der Betriebskrankenkassen ist vermutlich sehr alt; denn auch
dort hört man in diesen Wochen ganz andere Töne. Ich
vermute, Sie mussten bis zum Juni oder Juli dieses Jahres zurückgehen. Danach haben sich die Aussagen nämlich gewandelt.
Es gibt kein Bürokratiemonster - der Einzug bleibt
bei den Kassen -, im Gegenteil: Wir erreichen Entlastungen in den Personalabteilungen unserer Betriebe. Das ist
eine Entlastung der Arbeitgeber. Dies sollte man als Vorteil sehen.
Herr Lanfermann, wir verzichten auf Schönreden.
Wir sind einfach zufrieden mit dem, was wir auf den
Weg gebracht haben. Ich denke, Ihr Schlechtreden beruht teilweise auf Uneinsichtigkeit, ein Stück weit vielleicht auch auf Bösartigkeit. Die vereinigte Opposition
({7})
ist sich in der Sache - ich wiederhole das, Frau Bender nicht einig. Die einen träumen vom VEB Gesundheitswesen, und die anderen wollen einen Fonds, der auf
wundersame Weise für Geldvermehrung sorgt. Aus diesem Fonds soll möglicherweise das Geld für die Mehrleistungen generiert werden, die ihr von der FDP, Herr
Kollege Bahr, den Krankenhäusern, den Ärzten, den
Apothekern und der Pharmaindustrie doch immer versprecht.
({8})
40 Jahre lang haben Unionskanzler, teilweise gemeinsam mit der FDP, das deutsche Gesundheitswesen entscheidend mitgestaltet.
({9})
Wir denken, dies waren gute Jahre. Das deutsche Gesundheitswesen ist gut, sogar sehr gut für über 80 Millionen Versicherte. Es ist gut für Kranke und potenziell
Kranke. Es ist gut für über 5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in dieser Branche.
Wir haben bei jeder Reform, bei jeder Veränderung
ein Riesengetöse erlebt. Immer herrschte Weltuntergangsstimmung, mal ein bisschen stärker auf dieser, mal
ein bisschen stärker auf jener Seite des Hauses.
({10})
Im Endeffekt waren aber alle mit der guten Weiterentwicklung zufrieden. Wir sind uns sicher, dass das auch
bei diesem Fonds der Fall sein wird. Nach dem 1. Januar
wird ein Antrag dieser Art von Ihnen vermutlich nicht
mehr vorgelegt werden. Zwar haben Sie keine Hoffnung,
demnächst mitzureagieren
({11})
- mitzuregieren -, den Fonds werden Sie aber mit uns
gestalten müssen, egal auf welcher Seite Sie sitzen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Frank Spieth spricht jetzt für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es interessant, wie
hier aus Sicht der Koalition und der Bundesregierung die
für die meisten gesetzlich Krankenversicherten im kommenden Jahr anstehende gigantische Beitragserhöhung
schöngeredet wird.
({0})
Für ein neues Kalenderjahr wünscht man den Menschen normalerweise alles Gute. Den Menschen in diesem Land kann man aber weiß Gott nicht wünschen,
dass sie zum Teil mit bis zu 400 Euro mehr Krankenkassenbeitrag im kommenden Jahr bestraft werden.
({1})
Da können Sie hier erzählen, was Sie wollen: Das ist die
Realität.
({2})
Das werden die Menschen im kommenden Jahr im
Portemonnaie massiv spüren. Genau darüber wollen Sie
hinwegtäuschen. Das ist Ihre Strategie. Das werden wir
aber nicht mitmachen. Dafür werden Sie wohl Verständnis haben.
({3})
Tatsache ist - darüber schweigt sich die Koalition
peinlicherweise aus -, dass in Deutschland drei von vier
Rentnern im kommenden Jahr mit Beitragserhöhungen
zu rechnen haben.
({4})
Wenn Sie mir das nicht glauben, dann empfehle ich Ihnen in die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken zu schauen. Darin wurde genau das erklärt. Aber auch dort wurde getarnt, getäuscht und
getrickst. Nur am Ende wurde klar, dass rund 75 Prozent
mehr zahlen werden. Tatsache ist, lieber Kollege
Zylajew, dass mehr als 84 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im kommenden Jahr mehr Beitrag zahlen müssen.
({5})
Wie gesagt: Mit bis zu 400 Euro mehr pro Jahr sind sie
dabei.
({6})
Ein Erfurter Rentnerehepaar, welches zusammen
1 600 Euro Rente hat, zahlt bei der AOK gegenwärtig
13,8 Prozent und zukünftig 15,5 Prozent. Im Ergebnis
sind das 163 Euro mehr. Das ist die Realität. Ich kann Ihnen die entsprechenden Rechnungen gern darlegen,
wenn Sie wollen.
({7})
- Stellen Sie eine Frage, dann kann ich es Ihnen genau
belegen.
Ein Erfurter Rentnerehepaar, welches bei der IKK in
Thüringen versichert ist, wird sogar mit 221 Euro zusätzlich belastet.
({8})
- Im Jahr.
({9})
- Das habe ich mehrfach gesagt. Wenn Sie hier Demenzprobleme haben, kann ich das gern wiederholen.
Sie haben vergessen, darauf hinzuweisen, dass es eine
große Anzahl von Krankenkassen in Deutschland gibt,
deren Beitragssatz deutlich unter 15,5 Prozent liegt. Jetzt
kommt Herr Zylajew daher und sagt: Ja, wir müssen den
Krankenhäusern und den Ärzten mehr Geld geben. Das
stimmt; das wird im Kern von uns allen gefordert.
({10})
Aber das Problem, dass Sie den Gesundheitsfonds unsozial und unsolidarisch finanzieren, bleibt. Das ist das
Kernproblem des Fonds.
({11})
Machen wir einmal ganz konkret eine Rechnung auf.
({12})
Wir als Bundestagsabgeordnete bekommen im kommenden Jahr monatlich 7 668 Euro Abgeordnetendiät. Wir
zahlen aber nur Beiträge bis zu einer Grenze von rund
3 700 Euro. Das heißt, bis zu diesem Betrag müssen wir
unseren Anteil zur gesetzlichen Krankenversicherung,
sofern wir überhaupt Mitglied sind, zahlen. Wenn man
nur den Arbeitnehmeranteil rechnet, zahlen wir wie jeder andere auch einen Beitrag von 8,2 Prozent, aber eben
nur bis zu dieser Beitragsbemessungsgrenze.
({13})
Im Verhältnis zu seinem Einkommen zahlt er real nur
3,93 Prozent.
Dann kommt 2010 noch ein besonderes Schmankerl
obendrauf. Sie planen aller Voraussicht nach, es zu ermöglichen, dass die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung zukünftig im Rahmen der Steuererklärung
abgesetzt werden können. Hier findet eine weitere Steuerentlastung der Gutverdienenden statt; im Wesentlichen
werden nur sie davon profitieren können.
({14})
Das heißt, real zahlt dann ein Bundestagsabgeordneter ich kann Ihnen diese Rechenmodelle alle auf den Tisch
legen - nur noch 2,36 Prozent.
Was ist daran sozial und gerecht, wenn man die Kleinen mit maximal 8,2 Prozent belastet, aber die gutverdienenden Bundestagsabgeordneten am Ende real nur
noch mit 2,36 Prozent zur Krankenkassenfinanzierung
beitragen lässt? Das halte ich für ungerecht und unsozial.
Das muss endlich gestoppt werden.
({15})
Wir werden dies nur stoppen können, wenn wir in der
Zukunft zu einer Bürgerinnen- und Bürgerversicherung
kommen, in der alle Mitglied werden müssen, in der wir
die Beitragsbemessungsgrenze, diese soziale Guillotine,
abschaffen und von allen den gleichen prozentualen Beitrag verlangen, ({16})
Herr Spieth, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
- also auch von den Bundestagsabgeordneten. Dann
wäre kein Beitragssatz in Höhe von 15,5 Prozent erforderlich, sondern dann würden wir das Ganze mit einem
Beitragssatz in Höhe von 10 Prozent finanzieren.
Herr Spieth!
Das ist die Wahrheit. Deshalb ist der Gesundheitsfonds zu stoppen. Er ist sozial ungerecht.
({0})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Birgitt Bender
für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass
man im Advent Kerzen anzündet, ist mir bekannt. Dass
die Regierung Nebelkerzen wirft, ist durch die Jahreszeit
wohl weniger zu erklären. Die Staatssekretärin erklärte
uns hier wortreich, dass es schön sei, dass die Kassen
durch den Gesundheitsfonds demnächst mehr Geld für
Kranke bekommen. Aber, Frau Staatssekretärin, das
Prinzip, dass die Kassen mehr Geld für Kranke bekommen - das ist im Übrigen richtig -, hat mit dem Gesundheitsfonds so viel zu tun wie die Kuh mit dem Sonntag.
Diesen neuen Finanzausgleich hätte man auch ohne
Fonds erreichen können und müssen.
({0})
Wenn Sie hier so etwas erzählen, tragen Sie gerade
für die Versicherten absolut nichts zur Klarheit bei. Niemand wird verstehen, was der Gesundheitsfonds eigentlich genau sein soll, genauso wenig wie wir etwa diese
Übersetzung des Gesundheitsfonds verstehen. Ich
nehme an, Sie können sie alle genauso wenig lesen und
verstehen wie ich.
({1})
Beim Gesundheitsfonds kann man Folgendes verstehen: Jetzt setzt die Bundesregierung den Beitragssatz
fest, und sie lässt sich von dem bisher schon bestehenden
Schätzerkreis, der für die Prognosen zur Ein- und Ausgabenentwicklung der Krankenkassen zuständig ist, beraten.
Schauen wir uns einmal an, wie das aussieht. Bei seinem letzten Treffen hat sich der Schätzerkreis nicht auf
eine gemeinsame Prognose einigen können. Warum eigentlich? Weil die vom BMG entsandten Beamten geimpft waren, die Ausgaben möglichst niedrig anzusetzen. Denn klar war, dass die Beitragssatzsteigerung nicht
höher als der Senkungsspielraum werden darf, den der
Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung ermöglicht.
Einig war man sich im Schätzerkreis immerhin über die
Prognose der Beitragseinnahmen.
Aber der Schätzerkreis - so durften wir dieser Tage
im Ausschuss erfahren - hatte sich verschätzt. Die Einnahmen werden im nächsten Jahr um 440 Millionen
Euro niedriger ausfallen, als noch vor acht Wochen gedacht. Knapp zwei Monate nach der Prognose ist diese
also hinfällig. Das liegt gewiss auch an der Wirtschaftskrise;
({2})
dafür kann die Gesundheitspolitik nichts.
({3})
Reden wir aber einmal über die Folgen. Die Regierung beeilt sich, zu versichern, das alles sei kein Problem, alles sei im grünen Bereich und der Gesundheitsfonds werde so viel Geld an die Kassen weiterleiten wie
versprochen,
({4})
obwohl die genannten 440 Millionen Euro fehlen.
({5})
Werter Herr Kollege, dafür braucht der Gesundheitsfonds allerdings ein Darlehen aus dem Bundeshaushalt.
({6})
Dieses Darlehen muss nach der Gesetzeslage im
Jahre 2010 zurückgezahlt werden.
({7})
Es ist völlig unklar, Frau Kollegin Widmann-Mauz
- vielleicht sagen Sie den Versicherten das einmal -, wie
die Tilgung dieses Darlehens finanziert wird.
({8})
Heißt das Kürzungen bei den Krankenkassenleistungen?
Bedeutet das einen höheren Krankenversicherungsbeitragssatz? Oder werden doch mehr Steuermittel ins System fließen? Das ist völlig ungeklärt.
({9})
Bezüglich der Ressourcen im System schaffen Sie einen
Zustand völliger Unsicherheit. Das war bisher nicht so.
({10})
Bisher war die gesetzliche Krankenversicherung trotz
aller Reformnotwendigkeiten ein relativ robustes SysBirgitt Bender
tem. Wenn es Änderungen auf der Einnahmen- oder auf
der Ausgabenseite gab, konnten die Krankenkassen reagieren, indem sie ihren Beitragssatz geändert haben. Dadurch war die Versorgung der Versicherten wie auch die
Honorierung der Leistungserbringer immer sichergestellt.
({11})
Diese Stabilität, Frau Widmann-Mauz, wird durch die
etatistische Veranstaltung des Gesundheitsfonds gefährdet.
Künftig wird die Leistungsfähigkeit der Krankenkassen wesentlich davon abhängen, dass erstens der Schätzerkreis ihren Finanzbedarf möglichst genau vorhersagt
und dass sich zweitens die Bundesregierung bei der Festlegung des Beitragssatzes an diese Prognose hält. Bei
beidem gibt es aber nur wenig Anlass zu Optimismus.
Die Prognosen des Schätzerkreises sind schon in der Vergangenheit um bis zu 4 Milliarden Euro von der Realentwicklung abgewichen;
({12})
dass die Prognosen ausgerechnet in den Zeiten, die wir
jetzt erleben, präziser werden, glaubt wohl niemand. Es
glaubt auch niemand, dass eine Bundesregierung geduldig abwartet, bis die Fachleute mit ihren Berechnungen
fertig sind, um ihre Politik dann danach auszurichten.
({13})
Tatsache ist doch, dass die Abschätzung des Finanzbedarfs der Krankenkassen jetzt zu einem hochpolitischen
Akt wird.
Der Erfolg bzw. Misserfolg der Gesundheitspolitik
wird sich in der öffentlichen Wahrnehmung künftig stärker denn je in der Höhe des Beitragssatzes zur Krankenversicherung spiegeln. Damit wächst die Neigung, die
eigenen weisungsgebundenen Fachleute im Schätzerkreis vorher zu impfen. Soll heißen: In der neuen Welt
des Gesundheitsfonds wird die Beratung der Bundesregierung durch den Schätzerkreis immer mehr zu einem
symbolischen Akt. Die Festsetzung des Beitragssatzes
wird ausschließlich nach politischen Prioritäten erfolgen. Das ist kein Fortschritt für das Gesundheitswesen.
({14})
Meine Damen und Herren, die Koalition ist dabei, mit
dem Gesundheitsfonds ein Stück Risikotechnologie in
das Gesundheitssystem einzubauen. Solche Technologien sind dann gerechtfertigt, wenn dem Risiko, das sie
mit sich bringen, ein großer Nutzen gegenübersteht. Was
diesen Fonds betrifft, kann man aber nur sagen: Die
Kosten-Nutzen-Bewertung fällt verheerend aus. Deswegen wäre es immer noch besser, die Notbremse zu ziehen.
({15})
Der Kollege Peter Friedrich hat jetzt für die SPDFraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Durch jede große Umstellung werden Unsicherheiten produziert. Es ist normal, dass sich die Betroffenen zunächst einmal sehr vorsichtig anschauen, was mit solchen Umstellungen
verbunden ist.
Es ist auch normal, dass in einer parlamentarischen
Debatte, wie das heute der Fall ist, die einen die Unsicherheiten vielleicht etwas überbetonen und die anderen
versuchen, diese Unsicherheiten auszuräumen. Trotzdem sollte man als Oppositionspartei nicht auf jede Meldung und Unsicherheit, die geschürt wird, anspringen.
Ich halte das schlicht und ergreifend weder für die Versicherten und die Krankenkassen noch für sie selbst auf
Dauer für hilfreich.
Machen wir uns doch einmal ein Bild von dem, was
im nächsten Jahr passiert wäre, wenn all das, was für die
Leistungsseite jetzt vereinbart wurde, innerhalb des bisherigen Systems zu finanzieren gewesen wäre. Wie hätten sich die Beitragssätze denn dann entwickelt, und wie
wären die Auswirkungen auf die Versorgerkassen gewesen?
({0})
Die AOK Baden-Württemberg, bei der ich versichert
bin, hat heute einen Beitragssatz von 16 Prozent. Das
heißt, er liegt schon jetzt über dem zukünftigen gemeinsamen Beitragssatz.
({1})
Was wäre aufgrund der Mehrkosten passiert, die durch
die ärztliche Versorgung, die Krankenhäuser und die
Arzneimittel entstehen, also aufgrund all dessen, was für
diesen Bereich vereinbart wurde und was wir für eine
gute Versorgung auf dem Stand der Technik brauchen?
Die Spreizung der Beitragssätze, die schon vorlag, wäre
noch viel stärker geworden.
({2})
Gerade die Rentnerinnen und Rentner hätten noch viel
höhere Beiträge zahlen müssen, wenn es keinen gemeinsamen Beitragssatz geben würde.
Es verkünden jetzt einige, wer alles wie viel zahlen
muss. Herr Lanfermann hat vorhin auf Herrn Söder ver21222
wiesen. Herr Söder hat in dieser Woche die Öffentlichkeit dadurch irritiert, dass er sich auf ein Gutachten der
Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft berufen hat, in
dem es hieß, dass die Einführung des Fonds die bayerischen Versicherten 700 Millionen Euro zusätzlich kosten
werde.
In dieser Studie ist ausgerechnet worden, wie hoch
die Mehreinnahmen der Kassen aufgrund des Beitragssatzes sind. Die Mehrausgaben aufgrund der erhöhten
Leistungen wurden nicht dagegengestellt. Der zentrale
Satz des Gutachtens steht auf Seite 15:
Die Nettobelastung für Bayern kann erst dann in
ihrer Gesamtheit ermittelt werden, wenn unter
Berücksichtigung des neuen Morbi-RSA die konkreten Fondszuweisungen an die bayerischen Krankenkassen respektive die in Bayern gesetzlich Versicherten feststehen.
Sprich: Wir wissen eigentlich noch gar nichts, sondern wir schreiben einfach einmal auf, was es mehr kostet, und schuld ist wie immer der Fonds. - Ich halte das
ehrlich gesagt für ziemlich unseriös, noch dazu, wenn
man selber an den Verhandlungen beteiligt war.
({3})
Für mich - deswegen unterstütze ich das Modell des
Fonds ausdrücklich - bedeutet der Fonds organisierte
Solidarität. Es geht darum, dass wir einen Einkommensausgleich über Gesamtdeutschland erreichen. All diejenigen, die immer nur davon reden, dass ein guter Krankheits- und Risikoausgleich ausreichen würde, ignorieren
die Ebene der Einkünfte vollkommen. Ich habe das
schon mehrfach gesagt: Es geht um die Herstellung der
inneren Einheit Deutschlands - auch auf der sozialen
Ebene und auch an dieser Stelle.
Es geht darum, dass Menschen füreinander Beiträge
einzahlen und dass das Geld entsprechend den Krankheiten zugewiesen wird, sodass sich die Mittel an der Versorgung orientieren und nicht nach anderen Kriterien
verteilt werden.
Ich weiß, dass viele mit diesem Begriff der Solidarität
Schwierigkeiten haben.
({4})
Vielleicht rührt die eine oder andere Anmerkung der
FDP zu dem Spot auch daher. Herr Lanfermann, mit Verlaub: Wenn man Ihnen zuhört, dann hat man manchmal
den Eindruck, als gäbe es in der FDP mehr Kardiologen
als Menschen mit Herz.
({5})
Ich möchte noch etwas zu einem der beiden vorliegenden Anträge sagen, nämlich zu dem der Linken. Zum
FDP-Antrag habe ich das letzte Mal schon einiges gesagt.
Wir teilen die Auffassung, dass wir eine Bürgerinnenund Bürgerversicherung brauchen.
({6})
Auch wir wollen dabei alle Einkunftsarten berücksichtigen. Dass Sie die paritätische Finanzierung jetzt als neuestes Argument gegen den Fonds ins Feld führen, halte
ich aber ehrlich gesagt für nicht sehr seriös.
Sie schreiben in Ihrem Antrag selber, dass Sie zukünftig einen Fonds wollen. Diesen Lernfortschritt bei
Ihnen begrüßen wir. Seien Sie bei Ihrer Argumentation
aber doch bitte ehrlich! Wenn Sie alle Einkunftsarten berücksichtigen wollen, dann ist das mit Sicherheit auch
eine Durchbrechung der Parität. Deswegen muss man
ehrlich damit umgehen. Ich kann mir sehr gut vorstellen,
dass wir im Rahmen der jetzigen Diskussion darüber, wo
wir die Bürger entlasten, auch über einen Zusatzbeitrag
von 0,9 Prozent reden können, sodass wir dort etwas tun
und mehr Steuergelder in das System hineingeben.
Wenn Sie aber alle anderen Einkunftsarten - Miete,
Verpachtung und Kapitaleinkünfte - berücksichtigen,
dann werden Sie die Parität ebenfalls durchbrechen.
Deswegen halte ich es einfach nicht für sehr klug, zu sagen, dass Sie den Fonds wegen der Durchbrechung der
Parität ablehnen. Eine ganz andere Frage ist doch, ob wir
die anderen Einkunftsarten tatsächlich zu einer Verbeitragung heranziehen können.
({7})
Ich vertrete einen Wahlkreis an der Schweizer Grenze
und beschäftige mich sehr intensiv mit dem Problem der
Kapitalflucht. Ich habe Zweifel, ob die AOK-Beitragseinzugsstellen in Liechtenstein erfolgreicher sein werden
als die deutsche Steuerverwaltung.
({8})
Deswegen geht es aus unserer Sicht darum, dass wir eine
Bürgerversicherung über einen höheren Steuerzuschuss
ermöglichen.
Ich halte es für einen großen Fortschritt, dass wir die
Einnahmensicherheit mithilfe des Bundeshaushalts gewährleisten. Sonst hätten die Krankenkassen im nächsten Jahr, gerade in Anbetracht der konjunkturellen Krise,
ihre Beitragssätze Schritt für Schritt immer weiter anpassen müssen. Dann hätte es keine Planungssicherheit gegeben, weder für die Beitragszahler noch für die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber.
({9})
In diesem Sinne: Das neue System ist ein Beitrag für
mehr Planungssicherheit. Es ist ein Beitrag für mehr Solidarität, es schafft einen vernünftigen Ausgleich, und es
macht möglich, dass wir die Mittel für die Leistungen
zur Verfügung stellen. An alle Rednerinnen und Redner
der vereinigten Opposition: Es macht sich wirklich
schlecht, bei den Krankenhausdemonstrationen vorneweg mitzulaufen; es macht sich schlecht, bei den Ärzten
auf den Podien oder sonstwo einzufordern, dass es an jeder Kante mehr Geld und den Ost-West-Ausgleich geben
müsse - auch wir wollen ihn -; es macht sich schlecht,
überall mehr Ausgaben zu fordern - und dann eine Rede
zu halten, die sich ausschließlich mit der Steigerung der
Beitragssätze befasst.
Wir geben 11 Milliarden Euro in das System. Das ist
der größte Aufwuchs, den wir je hatten. Ich kann mich
erinnern, dass Sie im Frühjahr davon gesprochen haben,
dass neue Sparprogramme aufgelegt werden und es neue
Verknappungen geben wird. All dies waren Prognosen
aus Reden, die im Frühjahr gehalten wurden.
Jetzt bekommen wir einen Aufwuchs von 7 Prozent;
dies ist ein großer Schritt. Es liegt in der Verantwortung
der im Gesundheitssystem tätigen Menschen und der
Kassen, die die Leistungen verwalten und gestalten, dafür zu sorgen, dass all dieses Geld gute Leistungen ermöglicht. Denn dafür zahlen die Menschen ihre Beiträge.
Herzlichen Dank.
({10})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen Bahr.
({0})
Herr Kollege Friedrich, Sie haben unsere Kritik an
den Werbemaßnahmen des Bundesgesundheitsministeriums angesprochen. Sie haben die Vermutung geäußert,
dass wir damit angeblich die Solidarität in der Krankenversicherung kritisieren wollen. Das hat damit überhaupt
nichts zu tun.
Diese Werbemaßnahmen - Kinospots, die bundesweit
zu sehen sind -, die mehrere Hunderttausend Euro kosten, werden unter dem Deckmantel der Aufklärung der
Bevölkerung über den Gesundheitsfonds geschaltet.
Umfragen zeigen uns, dass die Mehrzahl der Bevölkerung nicht weiß, was der Gesundheitsfonds für sie bedeutet, und die Sorge hat, dass der Gesundheitsfonds für
sie eine Verschlechterung bringt.
Anstatt dass das Bundesgesundheitsministerium darüber aufklärt, was der Gesundheitsfonds für den einzelnen Versicherten bedeutet, werden allgemeine Imageund Werbekampagnen geschaltet, die überhaupt nichts
mit dem Gesundheitsfonds zu tun haben. Das Wesensmerkmal einer Krankenversicherung ist es nämlich, im
Krankheitsfall Leistungen zu erbringen. Das hat nichts
mit der gesetzlichen Krankenversicherung zu tun. Denn
auch eine private Krankenversicherung erbringt im
Krankheitsfall selbstverständlich solche Leistungen. Wir
als FDP haben solche Kampagnen kritisiert. Das ist rausgeworfenes Geld.
Sie trauen sich anscheinend nicht, die Öffentlichkeit
in Form von Anzeigen, die mit Steuergeldern finanziert
werden, über die Folgen des Gesundheitsfonds aufzuklären. Sie haben offensichtlich Angst, dass dann bei den
Leuten ankommt: Für sie wird alles teurer, aber nicht
besser.
({0})
Wie reagiert das Bundesgesundheitsministerium? Es
droht den Zeitungen, die kritisch über den Gesundheitsfonds und die Werbekampagnen berichten, mit Boykott.
Es droht den Zeitungen mit unliebsamer Berichterstattung, künftig keine Anzeigen mehr zu schalten. Das, was
das Gesundheitsministerium hier macht, ist Politik nach
Gutsherrenart.
({1})
Herr Kollege Friedrich zur Antwort.
Herr Kollege Bahr, wenn Sie auf der Homepage, auf
der Sie den Spot anschauen können, einfach ein wenig
herunterscrollen, dann können Sie sehen, dass es dort
sehr umfangreiche und detaillierte Informationen darüber gibt, was alles zum 1. Januar 2009 in Kraft tritt.
({0})
- Nein, das macht man nicht nur im Kino.
({1})
- Ich bitte Sie: Tun Sie nicht so, als sei das der einzige
Teil der Kampagne. Das ist überhaupt nicht so.
({2})
- Ich habe ein iPhone. Ich kann mir sogar im Kino damit
etwas anschauen, wenn der Film langweilig ist. Aber das
ist eine andere Sache.
Ich lade Sie herzlich dazu ein, dass wir uns alle einmal zusammen mit zufällig ausgewählten Bürgern den
Spot anschauen, um zu sehen, ob dieser korrekt über das
Prinzip der Solidarität informiert oder nicht. Darüber
können wir gerne diskutieren.
({3})
- Die Frage bezog sich auf den Spot. - Dazu lade ich Sie
herzlich ein. Das ist auch eine unserer Aufgaben. Denn
es geht beim Gesundheitsfonds in der Tat um organisierte Solidarität.
Was die anderen Dinge angeht, dazu kann ich nichts
anmerken. Ich stelle aber mit Interesse fest, dass Sie sich
große Sorgen um das Anzeigenaufkommen der Bild-Zeitung machen.
({4})
Jetzt spricht der Kollege Max Straubinger für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Thema der heutigen Debatte sind die Anträge der drei
Oppositionsfraktionen. Sowenig Gemeinsamkeiten Linke,
FDP und Grüne sonst in der Regel aufweisen, eines wird
heute direkt sichtbar: Die Anträge sind in hohem Maße
ein Beleg für eine rückwärtsgewandte Debatte.
({0})
Denn der Gesundheitsfonds ist gesetzlich verankert;
er wird in 14 Tagen eingeführt. Ich glaube, es wäre vor
allem für die Versicherten bzw. für die Patientinnen und
Patienten viel sinnvoller, über die Gestaltung der zukünftigen Gesundheitsversorgung zu sprechen ({1})
dabei gibt es immer wieder Möglichkeiten der Nachjustierung -, als in diesem Hause ständig rückwärtsgewandte Debatten zu führen.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bender?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben von einer rückwärtsgewandten Debatte gesprochen. Wie ist denn die Äußerung des
bayerischen Gesundheitsministers Markus Söder zu erklären, der den Gesundheitsfonds nicht mehr attraktiv
findet und meint, darüber müsse man noch einmal reden.
Gibt es Differenzen zwischen der bayerischen Landesregierung und der CSU-Fraktion im Bundestag hinsichtlich der Rückwärtsgewandtheit?
Frau Kollegin Bender, wie Sie wissen, ist die CSU
eine hochgeschlossene Partei,
({0})
aber auch eine breite Volkspartei. Dass die CSU den Gesundheitsfonds und seine Auswirkungen wie auch die
Auswirkungen der Gesundheitsreform insgesamt immer
kritisch begleiten wird, entspricht dem Selbstverständnis
der CSU. Unter diesem Gesichtspunkt sind auch die Äußerungen des Staatsministers zu verstehen.
({1})
Vor allen Dingen ist heute herauszustellen, dass die
Linke in ihrem Antrag schwadroniert, mit dem neuen
System sei eine Ausdünnung des GKV-Leistungskatalogs verbunden und mit der Schaffung des Gesundheitsfonds werde eine Entsolidarisierungswelle eintreten.
Herr Kollege Spieth, Sie müssten es eigentlich am besten wissen. Mit der Gesundheitsreform haben wir die
Leistungen nicht gekürzt, sondern ausgeweitet.
({2})
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Väter/MütterKind-Kuren wieder zu Pflichtleistungen erhoben wurden. Auch die medizinische und geriatrische Reha - ein
großer Segen insbesondere für die betroffenen Menschen - wurde zur Pflichtleistung erhoben. Wir haben
die Palliativmedizin ausgeweitet und die Unterstützung
der Hospize verbessert. Das sind die Leistungen eines
modernen Gesundheitssystems. Darauf kann die Regierungskoalition stolz sein.
Ich glaube, dass damit auch zum Ausdruck gebracht
wird, dass wir keine Entsolidarisierung betreiben, sondern im Gegenteil mehr und bessere Angebote für die
Versicherten geschaffen haben.
({3})
Herr Kollege Straubinger, es gibt den Wunsch nach
einer Zwischenfrage des Kollegen Frank Spieth. Möchten Sie sie zulassen?
({0})
Natürlich.
Bitte schön.
Danke schön. - Kollege Straubinger, Sie haben darauf
hingewiesen, dass wir die Entsolidarisierung durch den
Gesundheitsfonds kritisieren, und festgestellt, dass das
aus Ihrer Sicht nicht der Fall ist. Wenn im kommenden
Jahr die Mittel des Gesundheitsfonds nicht mehr ausreichen, um die Ausgaben der Krankenkassen zu decken,
dann wird der Bund einen Kredit gewähren, der im Jahr
nach der Bundestagswahl - nämlich im Jahr 2010 - von
den Krankenkassen zurückzuerstatten ist, und zwar mithilfe von Zusatzbeiträgen, die nicht die Arbeitgeber,
sondern nur die Krankenversicherten aufbringen müssen. Ist das solidarisch oder unsolidarisch?
Wird damit nicht der Entsolidarisierung bzw. der Abschaffung der paritätischen Finanzierung Tür und Tor
geöffnet, und ziehen Sie sich mit dieser unsolidarischen
Maßnahme nicht hinter den Wahltag zurück? Das wird
nämlich im kommenden Jahr Realität sein.
({0})
Herr Kollege Spieth, sollte es tatsächlich notwendig
sein, noch mehr Beiträge in das Gesundheitssystem zu
leiten, dann hätten die Kassen die Möglichkeit, mit einem Zusatzbeitrag ihre Beitragslücken auszugleichen.
Das ist aber nichts anderes als bisher.
({0})
- Natürlich. Wenn die Kassen mit ihren Beiträgen nicht
mehr auskamen, um die Leistungen zu erbringen, zu denen sie verpflichtet waren, wurden die Beitragssätze angepasst.
({1})
- Nein, nein. Es ist weiterhin eine solidarische Finanzierung, 50 zu 50, abgesehen von den 0,9 Prozent, wie Sie
wissen.
({2})
Bei den Zusatzbeiträgen ist dies sicherlich nicht der Fall.
Aber, Herr Kollege Spieth, wir haben - das wurde vorhin heftig kritisiert - einen Aufwuchs der Steuermittel in
der gesetzlichen Krankenversicherung.
({3})
- Natürlich, im nächsten Jahr werden 1,5 Milliarden
Euro mehr Steuermittel in das System der gesetzlichen
Krankenversicherung als im Jahr 2008 fließen.
({4})
Gleiches ist für die Jahre 2010 und 2011 vorgesehen. Bleiben Sie stehen, Herr Kollege Spieth, ich bin noch
nicht fertig.
({5})
Beispielsweise gibt es eine schöne Statistik, wonach
50 Prozent der Einkommensteuer in Deutschland von
8 Prozent der Steuerbürger gezahlt werden. Das ist gelebte Solidarität auch mit den Kranken, mit den Patientinnen und Patienten in unserem Land.
({6})
Herr Kollege Spieth, Sie haben in Ihrer Rede ausgeführt, es müsse das sogenannte Äquivalenzprinzip aufgehoben werden, und indirekt gefordert, dass vom Einkommen ein bestimmter Beitragsanteil fällig werde. Sie
kritisieren den Gesundheitsfonds als unsolidarisch. Ich
sage Ihnen ganz ehrlich, dass ich persönlich mit diesem
einheitlichen Beitragssatz Probleme gehabt habe. Aber
was ist solidarischer als ein einheitlicher Beitragssatz?
Er muss allerdings auch begrenzt werden, weil es nach
dem Äquivalenzprinzip auch darum geht, dass nach
oben eine Begrenzung stattfindet, wenn für jeden Versicherten die gleiche Leistung erreichbar ist. Wegen der
Bestimmungen im Grundgesetz ist es gar nicht möglich,
die Beitragsbemessungsgrenze aufzuheben. Man kann
sich über deren Höhe streiten; aber es muss auf jeden
Fall eine Beitragsbemessungsgrenze geben.
Ich bin davon überzeugt, dass es für die Versicherten
entscheidender ist, dass wir eine moderne Grundlage für
zukünftige Leistungen unseres modernen Gesundheitssystems geschaffen haben. 11 Milliarden Euro mehr im
Gesundheitssystem im Jahr 2009 bedeuten für die Patientinnen und Patienten letztendlich eine breite ambulante und stationäre Versorgung. Sie bedeuten auch, dass
der medizinische Fortschritt für alle Menschen gleichermaßen zugänglich bleibt. Das ist doch das für die Bürgerinnen und Bürger Entscheidende, nicht die Frage, ob
wir die Finanzgrundlagen mit diesem oder jenem Beitragssystem schaffen. Wir haben die Grundlagen dafür
geschaffen, dass eine vernünftige Beitragsgestaltung für
die Bürgerinnen und Bürger nach dem Solidarprinzip erreicht werden kann.
({7})
Werte Damen und Herren, es war für mich schon erstaunlich, dass der Kollege Friedrich hier wieder die
Bürgerversicherung ins Spiel gebracht hat. Ich glaube
nicht, dass wir dadurch, dass wir die privaten Krankenversicherungen und die Privatversicherten in eine Bürgerversicherung zwingen, eine Beitragsentlastung für
breite Schichten der Bevölkerung erreichen könnten.
80 Prozent der Privatversicherten sind Beamte, die im
Durchschnitt genauso viel wie die übrige Bevölkerung
verdienen. Es fielen also nicht mehr Beiträge an, und es
könnte auch keine Beitragssenkung geben.
Es ist interessant, zu beobachten, wie sich die SPD
verhält. Kollege Friedrich hat angemerkt, dass Kapitaleinkünfte möglicherweise nicht herangezogen werden
können, weil selbst die Steuerbehörden nicht die erforderliche Zielgenauigkeit erreichen, dass aber Miet- und
Pachteinnahmen vielleicht infrage kommen. Die Linke
möchte das sowieso. Aber dann müsste man unter Umständen auch Mindereinnahmen bei Mieten und Pachten
berücksichtigen. Das kann es wohl nicht sein.
({8})
Das alles zeigt sehr deutlich: Die Bürgerversicherung
ist kein zukunftsträchtiges Modell für eine gute finanzielle Ausstattung eines modernen Gesundheitswesens.
Wir sollten auf der Basis der Beschlüsse, die die Koalition getroffen hat, im Sinne der Patientinnen und Patienten sowie der Versicherten in unserem Land gut weiterarbeiten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Frank Spieth hat um das Wort für eine Kurzintervention gebeten.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
({0})
Erstens. Herr Kollege Straubinger, wir kritisieren
nicht den einheitlichen Beitragssatz. Ich habe bemerkt,
dass einige Abgeordnete Probleme haben, Texte, die zu
entsprechenden Anträgen vorgelegt werden, zu lesen.
Wir lehnen auch nicht per se einen Fonds ab. Vielmehr
lehnen wir diesen Gesundheitsfonds ab, weil er unsozial
und unsolidarisch finanziert ist. Das ist das Problem.
({0})
Diese Tatsache muss korrigiert werden.
Zweitens. Ich habe etwas dagegen, wenn hier der Eindruck vermittelt wird - möglicherweise nimmt die Öffentlichkeit das falsch auf -, dass das Steueraufkommen
sich ausschließlich aus der Lohn- und Einkommensteuer
ergibt. Das ist nichts anderes als der Versuch, den Menschen Sand in die Augen zu streuen. Tatsache ist, dass
das Lohn- und Einkommensteueraufkommen nur einen
kleinen Teil des Gesamtaufkommens ausmacht, nämlich
in etwa weniger als 40 Prozent. Der überwiegende Teil
kommt aus den Verbrauchsteuern, insbesondere aus der
Mehrwertsteuer, bei der Sie kräftig zugelangt haben.
Hier wird der wesentliche Teil der Steuereinnahmen im
Haushalt realisiert.
({1})
Deshalb kann man nicht so tun, als zahlten die Steuerzahler nur über die Lohn- und Einkommensteuer Steuern.
({2})
Zur Erwiderung, bitte, Herr Straubinger.
Herr Kollege Spieth, wenn man über solidarische
Finanzierung und Steueraufwuchs im Rahmen des solidarischen Gesundheitssystems spricht, dann darf man
nicht vergessen, dass 50 Prozent des Steueraufkommens
im Bundeshaushalt aus Verbrauchsteuern und die anderen 50 Prozent aus Einkommensteuer und Unternehmensteuern stammen. Steuern auf Unternehmensgewinne
tragen dazu bei, dass unser Gesundheitssystem finanzierbar bleibt. Das ist gelebte Solidarität. Diesen Gesichtspunkt sollten Sie vielleicht in Ihre Überlegungen
einbeziehen.
({0})
Ich schließe die Debatte.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Druck-
sache 16/11089. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-
stabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/7737
mit dem Titel „Gesundheitsfonds stoppen - Beitrags-
autonomie der Krankenkassen bewahren“. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der Fraktion Die
Linke gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck-
sache 16/9805 mit dem Titel „Gesundheitsfonds und
staatliche Beitragssatzfestsetzung in der gesetzlichen
Krankenversicherung nicht einführen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit dem glei-
chen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 9 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Gesundheits-
fonds stoppen - Morbiditätsorientierten Risikostruktur-
ausgleich einführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11090, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/8882 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung der Koali-
tion und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 9 c. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Das Gesundheitssystem nach-
haltig und paritätisch finanzieren - Gesundheitsfonds,
Zusatzbeiträge und Teilkaskotarife stoppen“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11091, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/10318 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zu-
stimmung der Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die
Grünen und FDP und Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 e sowie
Zusatzpunkt 7 auf:
19 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Alexander Bonde, Winfried Nachtwei,
Marieluise Beck ({0}), weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Rüstungsexporte an Pakistan
- Drucksachen 16/6004, 16/7969 -
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter im Jahre
2004 ({1})
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
- Drucksache 16/507 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter im Jahre
2005 ({3})
- Drucksache 16/3730 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter im Jahre
2006 ({5})
- Drucksache 16/8855 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Alexander Bonde, Winfried Nachtwei,
Jürgen Trittin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine U-Bootlieferung an Pakistan
- Drucksachen 16/5594, 16/11420 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Kerstin Müller ({8}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine restriktive Rüstungsexportpolitik Parlamentarische Kontrollmöglichkeiten verbessern
- Drucksache 16/11388 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu ihrer Großen Anfrage vor, über
den wir später namentlich abstimmen werden. Außerdem liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke zu den Rüstungsexportberichten 2004, 2005 und
2006 vor.
Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, über diesen Tagesordnungspunkt eine halbe Stunde zu debattieren, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Debatte und erteile dem Kollegen
Winfried Nachtwei für Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In Fragen der militärischen Sicherheitspolitik ist die Parlamentsbeteiligung in Deutschland so weit fortgeschritten wie in kaum einem anderen Land der Welt. Darauf
können wir zu Recht stolz sein.
({0})
Umso unverständlicher ist, dass die Rüstungsexportberichte der Bundesregierung - immerhin jedes Jahr veröffentlicht - zum ersten Mal überhaupt in dieser Legislaturperiode hier debattiert werden, und dann nicht einmal
auf Initiative der Koalitionsfraktionen - das wäre eine
Selbstverständlichkeit gewesen -, sondern auf unsere Initiative.
({1})
Dies betrifft außerdem einen Bereich, der wie kein anderer Bereich der Sicherheitspolitik der parlamentarischen
Kontrolle und Einsichtnahme entzogen ist. Daher habe
ich an dieser Stelle umso mehr der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung, GKKE, zu danken, die inzwischen zum zwölften Mal einen Bericht zu dieser Problematik vorgelegt hat, der informativ, seriös und
differenziert ist und wirklich eine friedens- und sicherheitspolitische Orientierungshilfe in dieser Materie darstellt.
Ich habe es nicht vergessen: Die Zeit der rot-grünen
Regierung war nicht die heile Welt der restriktiven Rüstungsexporte.
({2})
Immer wieder hat es zwischen den Ressorts Streit gegeben, und immer wieder stand weitsichtige Sicherheitspolitik mit kurzfristiger Interessenpolitik im Konflikt.
Immer wieder hat es Streit zwischen unserer Fraktion
und Teilen der Bundesregierung gegeben. Spektakulär
war - Sie alle können sich noch daran erinnern - die
Auseinandersetzung über das EU-Waffenembargo, als
der eigene Bundeskanzler Schröder dieses aufheben
wollte, es uns aber durch eine Koalition in der Koalition
gelungen ist, dieses unsinnige Vorhaben zu stoppen.
({3})
Damals gab es einige problematische Trends. Diese haben sich in dieser Koalition enorm verstärkt.
Ich nenne drei Felder. Erstens: die sogenannten Sammelausfuhrgenehmigungen für den Export von Rüstungsgütern. Ihr Wert ist enorm gewachsen, von 2,4 Milliarden Euro in 2004 über 3,5 Milliarden Euro in 2006
auf 5,1 Milliarden Euro in 2007. Was ist daran das Problem? Diejenigen, die letztendlich die Empfänger von
Rüstungsexporten sind, sind im Grunde - es geht hier
um Komponenten in Rüstungskooperationen - völlig außer Kontrolle.
Zweitens: Einzelgenehmigungen für den Export von
Kleinwaffen an Drittländer. Ihr Wert stieg von 8,2 Millionen Euro im Jahre 2004 über 15,6 Millionen Euro im
Jahre 2006 auf 30,2 Millionen Euro im Jahre 2007.
Hauptempfänger der Kleinwaffen - Gewehre, Maschinenpistolen - waren Saudi-Arabien und Ägypten. Außenminister Steinmeier betont zu Recht die Notwendigkeit der Kontrolle der Ausfuhr von Kleinwaffen. Diese
Haltung wird durch den immer exzessiveren Export dieser Kleinwaffen konterkariert.
({4})
Drittens: Einzelgenehmigungen für den Export von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern. In welche
Gebiete wurde exportiert? Auf diesem Gebiet sind bei
den sogenannten Drittländern führend: Pakistan und Indien. In Konfliktfällen ist es natürlich „richtig“ - ausgleichende Gerechtigkeit -, beide Seiten zu beliefern.
Nun komme ich auf Pakistan zu sprechen. An Pakistan wurden bis 2004 keine Kriegswaffen geliefert. Im
April 2007 erfuhr der Haushaltsausschuss des Bundestages, dass von der Bundesregierung inzwischen eine Voranfrage zur Lieferung von drei U-Booten an Pakistan
positiv beschieden war und dass die Bundesregierung
dafür eine Hermesbürgschaft von über 1 Milliarde Euro
zugesagt hatte. Genauere Informationen zum jetzigen
Stand haben wir nicht.
Aber erinnern wir uns: Lieferungen von Kriegswaffen
an sogenannte Drittstaaten sind grundsätzlich untersagt,
außer es sprechen besondere deutsche außen- und sicherheitspolitische Interessen dafür. Solche kann ich hier
nicht erkennen.
({5})
Vor allem in den Westprovinzen Pakistans toben bewaffnete Auseinandersetzungen der krassesten Form. In etlichen Distrikten haben die pakistanischen Taliban die
Macht übernommen. Das pakistanische Militär und vor
allem der pakistanische Geheimdienst gelten wahrhaftig
nicht als zuverlässig. Sehr gut belegt sind Vorwürfe, dass
Teile des pakistanischen Geheimdienstes bis heute den
Terror unterstützen. Das pakistanische Militär dokumentiert das Interesse, sich Trägersysteme für die eigenen
Atomwaffen zuzulegen. Das bezieht sich eindeutig auf
diese U-Boote.
({6})
Außerdem befindet sich Pakistan historisch im Konflikt
mit Indien. Es veranstaltet ein Wettrüsten, gerade was
den maritimen Bereich angeht, und ist in Konflikte mit
vielen anderen Ländern verwickelt.
Es wird immer wieder das deutsche Interesse an
Stabilisierung, an Rüstungskontrolle und an Friedensförderung gerade in diesem Raum beschworen. Solche
U-Boot-Lieferungen sind damit allerdings in keiner
Weise zu vereinbaren.
({7})
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ja, ich komme jetzt zum Schluss.
Lieber Kollege Polenz als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, lieber Kollege Mützenich und andere
in der SPD, ich weiß um Ihre massiven Bedenken gegen
dieses Rüstungsexportvorhaben. Bitte, begleiten Sie die
Bundesregierung in diesem Fall wieder nicht nur kritisch, sondern stehen Sie jetzt wirklich einmal zu Ihrer
Position!
({0})
Bei der Behandlung dieses Themas reicht es auch nicht,
die Politik der Bundesregierung ab und zu einmal zu
kommentieren.
Herr Kollege!
Wenn wir den notwendigen Primat weitsichtiger Sicherheitspolitik durchsetzen wollen, dann ist zweierlei
notwendig - das erläutere ich in zwei Sätzen -:
Das ist zu viel.
Erstens. Die Federführung muss vom Wirtschaftsministerium auf das Auswärtige Amt übergehen. Zweitens. Wir als Parlament müssen Beteiligungsrechte in geeigneter Form bekommen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Für ein selbstbewusstes Parlament müsste das selbstverständlich sein.
Danke schön.
({0})
Der Kollege Erich Fritz spricht jetzt für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Es ist tatsächlich ein großer Mangel, dass
nur einmal im Parlament über einen Rüstungsexportbericht diskutiert wurde - und zwar im September des darauffolgenden Jahres über den Rüstungsexportbericht
2000 -, dass die Berichte dann immer später veröffentlicht wurden und letztendlich das Parlament gar nicht
mehr erreicht haben. Den Mangel, dass wir hier nicht
darüber debattiert haben, können wir allerdings nicht der
Bundesregierung in die Schuhe schieben. Er ergibt sich
daraus, dass die Tagesordnung des Plenums so überfrachtet ist; offensichtlich haben auch die Parlamentarischen Geschäftsführer der Grünen immer etwas wichtiger gefunden als dieses Thema. Deshalb hilft dieses
Palaver überhaupt nicht.
({0})
Man hätte jederzeit den Antrag, der jetzt gestellt worden
ist, stellen können.
Mich stört es offen gesagt schon, wenn wir die Zahlen
zur Rüstungsexportpolitik als Erstes von der GKKE erhalten oder in der Zeitung lesen und sie erst später im
Parlament vorgelegt bekommen; das ist mir als Parlamentarier nicht recht. Deshalb heißt der Appell an diesem Abend natürlich: zeitnäher berichten, keine Angst
vor Transparenz haben - die Bundesregierung muss
keine Angst davor haben -, sondern aktiv informieren,
wie es bei Großprojekten gegenüber dem Haushaltsausschuss und bei anderen Genehmigungen gegenüber dem
Wirtschaftsausschuss geschieht. Jeder, der einen Überblick über den Gang der Dinge haben will, kann ihn auch
erhalten. Herr Kollege Nachtwei, deshalb ist es zumindest etwas zweifelhaft, wie Sie heute hier aufgetreten
sind.
Ich stelle fest: Es gibt, was den Umgang mit diesem
Thema angeht, eine sehr große Kontinuität zwischen den
Regierungen. Der Umgang mit diesem Thema war immer sehr verantwortlich. Gelegentliche Schwankungen
hängen häufig, wenn man genau hinschaut, mit Einzelaufträgen zusammen - mit dem Export von Schiffen
oder mit anderen großvolumigen Aufträgen - und sprechen nicht immer gleich für den Wandel der Politik einer
Regierung; das würde ich sogar der rot-grünen Regierung zubilligen. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich
die Bundeswehr im Rahmen friedenserhaltender Maßnahmen im Auslandseinsatz befindet und dass daraus
neue Exporterfordernisse resultieren. Darauf hat Kollege
Ruck in einem Interview mit der taz neulich zu Recht
hingewiesen.
Der Verhaltenskodex der Europäischen Union muss
nach unserer Auffassung verbindlich werden.
({1})
Wir brauchen nach wie vor eine stärker harmonisierte
Regelung in der Europäischen Union. Wir arbeiten seit
Jahren daran. Im Grundsatz sind wir uns in diesem
Hause einig, aber noch immer stehen die zu unterschiedlichen Auffassungen einem gemeinsamen Standpunkt im
Wege. Mancher Exportdruck - nicht in Deutschland,
aber in anderen Ländern - könnte durch eine stärker integrierte Politik in Europa gemindert werden.
Mit dem Schlussteil seiner Rede, bei dem es um die
Frage des Exports nach Pakistan ging, verfolgte Herr
Nachtwei eine recht vordergründige Zielsetzung. Das
war nicht weniger als der Versuch der Wiederherstellung
der rüstungsexportpolitischen Jungfräulichkeit der Grünen.
({2})
Durch die Art der Auseinandersetzung, die sich durch
Ihren Antrag und, Herr Kollege Nachtwei, durch Ihre
Rede zieht, wollen Sie den Eindruck erwecken, das fortsetzen zu wollen, was Sie bis 1998 gemacht haben, nach
dem Motto: Die Zwischenzeit vergessen wir jetzt einmal.
({3})
- Gott sei Dank haben Sie mit dem Gegenteil angefangen; aber dann haben Sie versucht, diesen Eindruck zu
erwecken.
Natürlich muss jeder, der einmal in Regierungsverantwortung gestanden hat, wissen - er kann sich nicht
mehr unwissend stellen -, dass Rüstungsexportpolitik in
jedem Einzelfall eine schwierige Geschichte ist und dass
es nie eine Entscheidung gibt, wo völlige - ({4})
- Herr Kollege Trittin, immer ruhig bleiben! Das ist bei
diesem Thema ganz wichtig. Ansonsten bekommt man
die sachlichen Argumente nicht mit, die der Auseinandersetzung mit diesem Thema dienen.
({5})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bonde zulassen?
Gerne. Denken Sie aber bitte an die Kollegen, die
warten und diese zeitliche Verzögerung eigentlich nicht
akzeptieren wollen.
Also eine kurze Frage.
Herr Kollege Fritz, Sie haben gerade die Auffassung
vertreten, dass Rüstungsexporte in Krisenländer wie Pa21230
kistan unumgänglicher Teil der Regierungspolitik seien.
Da die gültigen Exportrichtlinien die Lieferung von
Produkten wie U-Booten in Krisenregionen ausschließlich bei einem hohen nationalen Sicherheitsinteresse
Deutschlands erlauben, könnten Sie uns vielleicht sagen
- nachdem die Bundesregierung mehrere Fragen dazu
im vergangenen Jahr nicht beantworten konnte -, worin
das nationale deutsche Sicherheitsinteresse besteht, dass
Pakistan moderne deutsche U-Boote zur Verfügung gestellt werden.
({0})
Lieber Herr Kollege, ich werde nicht auf eine Frage
antworten, die sich auf angebliche Aussagen von mir
stützt. Sie haben mir eben eine Aussage unterstellt, die
ich so nicht gemacht habe. Deshalb erübrigt sich eine
Antwort.
({0})
Herr Kollege Nachtwei hat gerade ausgeführt, bis
2004 habe es keine Exporte nach Pakistan gegeben.
({1})
- Keine Kriegswaffenexporte. - Ich sage Ihnen: Der Export hat 2003, während der rot-grünen Regierungszeit,
begonnen.
({2})
2004 ging es weiter. Der Wert der Genehmigungen stieg
von 900 000 Euro auf 32 Millionen Euro. 2006 waren es
über 100 Millionen Euro.
Wir haben über alle Regierungen hinweg den schönen
Satz von Schmidt wahrgenommen: Was fährt, läuft
nicht. Was schwimmt, läuft. - Ich glaube, da gibt es
schon einen Unterschied. Auch im indisch-pakistanischen Konflikt kann ich eine maritime Komponente
nicht entdecken.
({3})
Es gibt aber sehr wohl ein Interesse aller Anrainer, für
Sicherheit auf den Seewegen zu sorgen.
({4})
Betrachtet man die Karte mit den Fähnchen, die Piraterie
anzeigen, stellt man fest, dass auf diesen Strecken Präsenz durchaus notwendig ist.
Die Bundesregierung hat ausdrücklich ausgeschlossen, dass diese U-Boote mit Trägerwaffen bestückt werden können. Die Entscheidung im Bundessicherheitsrat
ist in Abwägung der Sachlage als Vorbescheid ergangen.
In der Zwischenzeit hat sich die Situation in Pakistan
und auch im indisch-pakistanischen Verhältnis aber nicht
verbessert. Wir alle gehen davon aus, dass auch die Bundesregierung in der Lage ist, die veränderte Situation zur
Kenntnis zu nehmen, sie zu bewerten und ihre Erkenntnisse dann, wenn es um die tatsächliche Genehmigung
geht, auch zeitnah zu verwerten. Wir haben nach all den
Erfahrungen aus dem Umgang mit diesem schwierigen
Thema das Vertrauen, dass die Bundesregierungen auf
diesem Gebiet auch weiterhin verantwortlich handeln.
Wir treffen in diesem Parlament keine Exportentscheidungen. Das haben wir ausdrücklich der exekutiven
Verantwortung übergegeben. Wir können jetzt aber nicht
so tun, als wären wir die Exekutive. Wir haben einen
Anspruch auf Transparenz und darauf, dass wir zeitnah
informiert werden, und wir müssen an den Stellen, an
denen wir das Gefühl haben, etwas müsste kritisch diskutiert werden, dies auch tun.
({5})
Alle, die das tun und in den zuständigen Ausschüssen
den Antrag stellen, Genaueres zu erfahren, haben meine
Unterstützung.
({6})
Allen, die dieses Instrument nutzen, um in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, es handele sich um
verantwortungslose Rüstungsexporte, trete ich entgegen.
({7})
Ein weiterer im Antrag angesprochener Punkt beschäftigt sich mit Hermes-Bürgschaften für Rüstungsexporte. Das ist nun wirklich Symbolpolitik. Dieses
Thema wird zwar von allen Seiten immer wieder aufgeworfen, aber wenn Sie sich die Zahlen anschauen, dann
stellen Sie fest, dass das kein Thema ist, mit dem sich
der Deutsche Bundestag im Plenum beschäftigt. Die
Zahlen sind so verschwindend gering. Sie machen angesichts unseres Exportvolumens solch minimale Beträge
aus, dass sich diese Frage nicht stellt. Viel wichtiger als
ziselierte Debatten über einzelne Exportvorhaben ist mir
eine ernsthafte Diskussion über neue Initiativen zur Abrüstung und zur Nichtverbreitung.
({8})
Wir alle hoffen doch, dass die neue Gemeinsamkeit in
der Weltgemeinschaft infolge der Bewältigung der
Finanz- und Wirtschaftskrise auch ein Anlass zur Erkenntnis ist, dass zwar Sicherheit, auch militärische,
weltweit eine wichtige Voraussetzung staatlicher Stabilität sein kann, dass aber militärische Sicherheit ohne gute
Nachbarschaft, ohne inneren Frieden, ohne Verständnis
über ethnische, kulturelle und religiöse Grenzen hinweg,
ohne gerechte Entwicklung und ohne ein soziales System, das die Menschen auffängt, nichts wert ist. Deshalb
muss unser Ansatzpunkt sein, insgesamt solche
Entwicklungen möglich zu machen. Dazu trägt eine weiterhin verantwortliche und restriktive Rüstungsexportpolitik der Bundesrepublik Deutschland und dieser BunErich G. Fritz
desregierung bei, die außenpolitisch langfristig angelegt
sein muss.
({9})
Jetzt spricht Elke Hoff für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Besser spät als nie“ könnte man angesichts der Tatsache sagen, dass heute gleich über drei Rüstungsexportberichte zum ersten Mal in dieser Legislaturperiode im
Parlament diskutiert wird. Ich bin froh, dass meine beiden Vorredner über die Fraktionsgrenzen hinweg darauf
hingewiesen haben. Auch ich würde mir wünschen, dass
wir zu der guten Praxis zurückfinden, über Rüstungsexportberichte auch in dem Jahr zu diskutieren, in dem sie
zur Verfügung stehen.
({0})
Seit dem Jahr 2002 verzeichnet das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI sowohl einen konstanten
Anstieg der weltweiten Rüstungsausgaben als auch einen Anstieg des Handelsvolumens von Rüstungsgütern.
Deutschland ist im Rahmen dieser Statistik seit längerem
die Nummer drei der weltweit größten Exporteure von
konventionellen Waffen. Deutschland hat daher eine besondere Verantwortung beim Umgang mit Rüstungsexporten; denn in den falschen Händen kann das kleinste
Elektroschockgerät eine ebenso qualvolle und todbringende Waffe sein wie das schwerste militärische Gerät.
Es ist deshalb an der Zeit, dass auch der Rüstungsexportbericht den aktuellen sicherheitspolitischen Entwicklungen angepasst wird.
({1})
Die Grenze zwischen ziviler Technologie und militärischer Nutzung verschwimmt zusehends, und deshalb ist
es wichtig, dass in diesem Bereich Berechenbarkeit und
Klarheit für alle Seiten geschaffen wird, sowohl für die
Bürger und die Politik als auch für die Industrie.
Es stellt sich außerdem immer häufiger die Frage, ob
Deutschland zukünftig auch den Export sicherheitsrelevanter Dienstleistungen als Rüstungsgut bewerten will,
ja sogar bewerten muss. Bislang ist dies nicht der Fall.
Der Regierungssprecher hatte hierzu im April im Zusammenhang mit der Organisation und Durchführung
von Sicherheitstraining in Libyen durch ehemalige deutsche Polizisten bereits die Frage gestellt, ob man zu
rechtlichen Änderungen kommen müsse. Bisher ist die
Bundesregierung auf diese Frage leider eine Antwort
schuldig geblieben.
({2})
Darüber hinaus führt der Rüstungsexportbericht auch
weiterhin die Ausfuhrgenehmigungen weder für Elektroschockgeräte noch für Fixierwerkzeuge und Fußfesseln
auf, obwohl seit langem bekannt ist, dass diese Geräte in
einigen Staaten zu Folterzwecken eingesetzt werden.
Auch ist seit längerem bekannt, dass unsere Exportkontrollen für Elektroschockgeräte und verwandte Güter nur
unzureichend sind. Ein entsprechender FDP-Antrag, mit
dem wir dem Missbrauch von Elektroschockgeräten Einhalt gebieten wollten, wurde leider abgelehnt.
In der Aufeinanderfolge der vorliegenden Rüstungsexportberichte lassen sich zwei Entwicklungen feststellen. Hier, lieber Kollege Nachtwei, sind wir durchaus einer Meinung. Zum einen exportiert Deutschland eine
steigende Zahl von Kleinwaffen an Drittländer, von
denen viele offizielle Entwicklungshilfeempfänger sind
und teilweise zu den ärmsten Staaten dieser Welt gehören. Diese Entwicklung ist bedenklich, weil viele innerstaatliche Konflikte, die aus organisierter Kriminalität
resultieren oder zu Staatsversagen führen, überwiegend
mit Kleinwaffen und leichten Waffen ausgetragen werden.
({3})
Zum anderen ist die Entwicklung eines steigenden
Gesamtvolumens von Sammelausfuhrgenehmigungen
auffallend. Die hohe Zahl der Sammelausfuhrgenehmigungen könnte zwar einerseits als Zeichen für die wachsende Bedeutung der innereuropäischen Rüstungskooperation gewertet werden. Dies kann aber auch bedeuten,
dass es in Zukunft immer schwieriger werden wird,
nachzuvollziehen, wohin die Rüstungsgüter mit deutschen Komponenten über den Endhersteller ausgeliefert
werden.
Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz auf den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
eingehen. Wir sind uns sicher alle darüber im Klaren,
wie schwierig diese Exportentscheidung sein wird. Es
fällt allerdings tatsächlich auf, liebe Kollegen von den
Grünen, dass Sie als Regierungspartner nicht schon im
Jahr 2004 die pakistanische Voranfrage abgelehnt haben.
({4})
Ihr heutiger Antrag kommt ziemlich spät.
({5})
Es ist aber auch nicht nachvollziehbar, dass Sie in Ihrem heute vorliegenden Entschließungsantrag den Eindruck erwecken, Deutschland könne darauf hinwirken,
dass sich andere EU-Mitgliedstaaten einem deutschen
Exportverzicht anschließen. Der EU-Verhaltenskodex
belässt - das wissen Sie - die endgültige Abwägung über
eine Rüstungsexportentscheidung auch weiterhin auf nationaler Ebene. Es ist daher höchst unwahrscheinlich,
dass sich eine Partnernation dem deutschen Exportverzicht anschließen wird, zumal Herr Sarkozy bereits für
Januar nächsten Jahres seinen Besuch in Pakistan angekündigt hat.
({6})
Pakistan ist ein sehr schwieriges Land. Aber es ist
darüber hinaus zweifellos einer der wichtigsten Akteure
für jede zukünftige Konfliktlösung in der Region.
({7})
Ohne die aktive und volle Kooperation Pakistans kann
die internationale Gemeinschaft Afghanistan nicht wieder aufbauen,
({8})
die Taliban nicht besiegen und den internationalen Terrorismus nicht unschädlich machen. Die neugewählte
demokratische Zivilregierung - ich betone: Zivilregierung - muss deshalb nach unserer Auffassung auch in
der Lage sein, eigene Sicherheitsinteressen durchzusetzen, um das Vertrauen der Bevölkerung nicht aufs Spiel
zu setzen und zu verlieren.
({9})
Das sollte bei der Entscheidung über eine Exportausfuhrgenehmigung ebenfalls abgewogen werden. Ich
gehe davon aus, dass die Bundesregierung eine sehr verantwortungsvolle Entscheidung treffen wird.
({10})
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Der Kollege Rolf Hempelmann spricht jetzt für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die SPD-Fraktion hat - ich glaube, das kann man
mit Fug und Recht sagen -, was das Thema Rüstungsexportkontrollpolitik angeht, eine lange Tradition.
({0})
Auf die SPD gehen die heute noch gültigen politischen
Grundsätze der Bundesregierung für den Export von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern zurück.
SPD-Politiker wie zum Beispiel Norbert Gansel haben
diese Grundsätze entscheidend geprägt.
Es waren übrigens nicht SPD-Politiker, die ganz offen
die Lieferung von Waffen in Spannungsgebiete gefordert
haben, zum Beispiel als Geschäft „Panzer gegen Öl“ an
die arabischen Staaten, den Erzfeind von Israel. Solche
Positionen sind heute hoffentlich auch von der betreffenden Partei nicht mehr ernsthaft zu rechtfertigen.
Im Bereich der Rüstungsexportentscheidungen liegt
der Schwerpunkt der Verantwortung seit langem bei der
Regierung. Das ist eine über Jahrzehnte geübte und von
unterschiedlichen Regierungen und Koalitionen akzeptierte Praxis, an der auch die Grünen beteiligt waren. Es
gab Gründe für diese Praxis, die insbesondere darin liegen, dass wir als Abgeordnete kaum ein Interesse daran
haben können, in die Auftragsbücher einzelner Unternehmen hineinzuschauen. Hier sind natürlich Geheimhaltungsaspekte relevant. Aber es ist natürlich Regierungshandeln gefragt, und zwar insofern, als es in der
Regel um sehr konkrete Verhandlungen mit anderen Regierungen weltweit geht.
Die Bundesregierung ist jedoch dazu verpflichtet,
dem Bundestag jährlich einen Rüstungsexportbericht zuzuleiten. Es obliegt normalerweise - das hat Herr
Nachtwei zu Recht angeführt - der Regierungskoalition,
diesen Bericht auf die Tagesordnung zu setzen.
Ich sage einmal als Vertreter der SPD, dass wir eine
kontinuierliche unmittelbare jährliche Befassung mit
dem Rüstungsexportbericht durchaus begrüßen würden.
In Koalitionen ist es aber nun einmal so, dass man Tagesordnungspunkte nur gemeinsam aufsetzen kann. Das
muss an dieser Stelle einmal gesagt werden, Herr Kollege Fritz. Ansonsten sind wir sehr häufig einer Meinung.
Insofern befürworten wir - ich denke, nachdem das
heute von mehreren Rednern gesagt worden ist, wird
dies auch zukünftige Praxis sein -, dass die Berichte
künftig unmittelbar, nachdem sie vom Kabinett beschlossen worden sind, dem Bundestag vorgelegt werden, sodass wir sie zur Kenntnis nehmen können.
({1})
Das wird übrigens schon sehr bald der Fall sein; denn das
Kabinett hat gestern den Rüstungsexportbericht 2007 beschlossen, sodass wir sehr bald erneut zu diesem Thema
zusammenkommen können, vielleicht zu einer attraktiveren Tageszeit, was der Bedeutung dieses Thema durchaus entsprechend wäre.
Ich will etwas Grundsätzliches zum Thema Rüstungsexporte sagen. In einigen Reden ist bereits angeklungen,
dass Rüstungsexporte in einem Interessenkonflikt stehen. Wenn man Rüstungsexporte in sensible Regionen
dieser Welt - das sind natürlich viele Staaten, die nicht
Mitglied der NATO sind - nicht haben möchte, dann
könnte man Rüstungsexporte insgesamt verbieten und
meinen, das Problem sei gelöst.
Ich glaube, dass das niemand wirklich ernsthaft fordern kann. Was würde das insbesondere für die Bundeswehr in diesem Land bedeuten? Sie müsste ihre sämtlichen Waffensysteme importieren - ich glaube, das kann
keine ernsthafte Forderung sein -, oder es müsste eine
staatliche Rüstungsindustrie geben. Auch das wäre genauso wenig sinnvoll wie eine Beschaffungsgarantie.
Das wäre die dritte Variante für die in Deutschland produzierende Industrie.
Insofern ist unser Weg, den wir in der Vergangenheit
gemeinsam gegangen sind, richtig, der Weg einer resRolf Hempelmann
triktiven Exportpolitik mit der Entscheidungsverantwortung bei der Regierung und mit der Kontrollverantwortung beim Parlament.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ein Geschäft ist konkret angesprochen worden, nämlich die Lieferung von U-Booten nach Pakistan.
Es ist richtig, dass der Haushaltsausschuss vor etwa
zweieinhalb Jahren von einer grundsätzlich positiven
Entscheidung über eine Voranfrage in Kenntnis gesetzt
worden ist. Die endgültige Entscheidung über eine Exportgenehmigung oder gar über eine Hermes-Unterstützung dieser Exporte ist bisher nicht gefallen.
Grundsätzlich kann man sagen, dass Pakistan sicherlich zu den besonders sensiblen Regionen dieser Welt
auch schon damals gehört hat. Man kann darüber hinaus
sagen, dass sich im Lichte der Erkenntnisse der vergangenen zwei Jahre und der Entwicklungen gerade der vergangenen Monate diese Bewertung noch einmal deutlich
verstärkt hat. Es ist mit Sicherheit so, dass es zurzeit eine
sich zwischen Indien und Pakistan zuspitzende Konfrontation, aber keinesfalls eine Entspannung gibt.
Das heißt nicht, wie im Antrag der Grünen angeregt,
dass wir als Parlament die Entscheidungsbefugnis für
uns postulieren. Wenn wir heute anlässlich der Rüstungsexportberichte und anlässlich des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen über dieses Thema debattieren, dann sollten wir gegenüber der Bundesregierung
und insbesondere gegenüber dem anwesenden Staatssekretär des Bundeswirtschaftsministeriums, der dies sicherlich so an seinen Chef weitergeben wird, deutlich
machen, dass wir vor einer Entscheidung eine Neubewertung der Sicherheitslage in der Region um Pakistan
erwarten. Wir erwarten zudem, dass die aktuellen Erkenntnisse in die Entscheidung seriös mit einfließen.
({2})
Wir unterstellen der Bundesregierung positiv, dass sie
genau das vorhat. Als Fraktion und als Parlament sagen
wir natürlich aber auch selbstbewusst, dass wir vor einer
Entscheidung in Kenntnis gesetzt werden wollen. Das ist
nicht irgendeine Alltagsentscheidung in puncto Rüstungsexporte. Das ist schon eine besonders herausgehobene Entscheidung. Deswegen möchten wir über dieses
Vorhaben rechtzeitig im Parlament informiert werden.
({3})
Ich will abschließend mit Blick auf die pakistanische
Regierung sagen: Wir alle hören regelmäßig davon, wie
es der Bevölkerung in Pakistan geht, wie viele hungernde, ja verhungernde Kinder es in diesem Lande gibt.
Vielleicht sollte die Regierung selbst darüber nachdenken, ob die anderthalb Milliarden Euro, die sie für dieses
Projekt ausgeben würde, nicht in andere Dinge, zum
Beispiel in Ernährungsprogramme für die eigene Bevölkerung, besser investiert wären.
({4})
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Paul Schäfer spricht jetzt für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ja
schön und gut, dass jetzt alle sagen: Wir müssen über die
Rüstungsexportberichte zeitnah diskutieren. - Das reicht
aber nicht. Es ist auch gut, wenn jetzt gesagt wird: Eine
Debattenzeit von 30 Minuten für drei Rüstungsexportberichte - da geht es um einen Wert von 30 Milliarden
Euro - reicht nicht. - Aber auch das haut nicht ganz hin.
Richtig ist, was Kollege Nachtwei gesagt hat: Die Federführung muss vom Wirtschaftsministerium zum Auswärtigen Amt verlagert werden. Es geht hier nicht um
Exportförderung, sondern um unsere Außen- und Sicherheitspolitik.
({0})
Die Berichte müssen in allen Ausschüssen, die dafür zuständig sind, diskutiert werden: im Auswärtigen Ausschuss, im Verteidigungsausschuss, im Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie
im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe. Wir haben in unserem Entschließungsantrag dazu
Vorschläge gemacht.
Es geht auch darum, die Berichte inhaltlich weiter zu
qualifizieren. Es stimmt einfach nicht, Kollege Fritz,
dass diese Berichte das Nonplusultra an Transparenz wären. Bei den Sammelausfuhrgenehmigungen tappen wir
im Dunkeln, und diese machen einen Großteil der Steigerungsrate aus. So ist der Zustand.
Dass es überhaupt noch eine kritische und fundierte
Auseinandersetzung über deutsche Rüstungsexporte
gibt, ist ausschließlich - da brauchen wir uns nicht in die
Tasche zu lügen - der unermüdlichen Arbeit vieler kleiner und größerer Initiativen zu verdanken.
({1})
Ich möchte die Liste des Kollegen Nachtwei ergänzen
um den Gesprächskreis der beiden Kirchen und entwicklungspolitischer Gruppen, die GKKE, das Netzwerk gegen Kleinwaffenhandel, das Rüstungsinformationsbüro,
„Ohne Rüstung Leben“, das Aktionsbündnis Landminen, Oxfam Deutschland, Amnesty International und das
Berliner Informationszentrum Transatlantische Sicherheit. Ich möchte diesen Gruppen ganz herzlich danken;
({2})
denn wenn die 30-minütige Debattenzeit vorbei ist, kann
man das Nichtgesagte bei denen nachlesen.
({3})
Paul Schäfer ({4})
Was die Sache betrifft: Bei den internationalen Waffengeschäften ist Deutschland einer der wichtigsten Global Player. 2004 wurden Rüstungsexporte im Wert von
6,2 Milliarden Euro genehmigt, im darauffolgenden Jahr
ebenso. 2006 waren es 7,6 Milliarden Euro und 2007
8,7 Milliarden Euro. Wer also sagt: „Das sind zwar Steigerungen; wir haben aber immer eine gewisse Fluktuation“, hat nicht recht. Wir haben hier eine Konstanz.
2007 gab es kein einziges spektakuläres Großprojekt,
das Verzerrungen begründen könnte. Wir liegen also an
oberer Stelle, was die Rüstungsexporte betrifft. In diesem Zeitraum - zum Teil unter Rot-Grün, zum Teil unter
Schwarz-Rot - ergibt sich eine Summe von 28,7 Milliarden Euro.
Schon diese grobe Bilanz zeigt zwei Dinge: Erstens.
Von einer wirklich restriktiven Waffenausfuhrpolitik
kann keine Rede sein.
({5})
Zweitens. Ein Land, das zu den Top Five der Rüstungsexporteure gehört - das sind wir -, kann nicht als abrüstungspolitischer Musterknabe gehandelt werden. Der
Widerspruch zur Abrüstungsrhetorik einiger Minister
dieser Regierung ist doch augenfällig.
({6})
Es geht um strategische Waffensysteme wie U-Boote
für Pakistan und Südkorea. Es geht um EurofighterKomponenten, die nach Saudi-Arabien geliefert werden,
und um Kleinwaffen, die in zweifelhafte Staaten und
überhaupt an Länder, die in bewaffnete Konflikte verstrickt sind, exportiert werden. Auch die vermeintlich
unverdächtigen Rüstungslieferungen an NATO-Länder
werden zum Problem, wenn diese Länder völkerrechtswidrige Angriffskriege führen wie die USA und Großbritannien im Fall Irak.
({7})
Wir Linke haben da ganz andere Vorstellungen. Die
politischen Grundsätze der Bundesregierung müssen
endlich ernst genommen werden; denn dann würde
Deutschland nicht zu den Top Five gehören, dann würden wir auf der Hinterbank Platz nehmen, und das wäre
gut so.
({8})
Abrüstung und Konfliktprävention müssen den absoluten Vorrang vor rüstungspolitischen Interessen genießen.
Der zur namentlichen Abstimmung vorliegende Antrag der Grünen zum Stopp des U-Boot-Exportgeschäftes mit Pakistan wird von uns, um auch das zu sagen,
voll und ganz unterstützt. Pakistan muss in regionale Sicherheitsbemühungen einbezogen und nicht auf See
hochgerüstet werden.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu
ihrer Großen Anfrage zu Rüstungsexporten an Pakistan
auf Drucksache 16/11406. Zur Abstimmung liegt eine
Erklärung des Kollegen Florian Toncar vor1). Auf Ver-
langen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stimmen
wir über den Entschließungsantrag namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer
jetzt, soweit sie es nicht schon getan haben, die vorgese-
henen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? -
Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ich frage: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend,
das seine Stimme gern abgeben würde und das noch
nicht getan hat? - Das scheint mir nicht der Fall zu sein.
Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
später bekanntgegeben2).
Jetzt müssen wir die Abstimmungen fortsetzen. Das
heißt, es wäre schön, wenn hier vorne im Rund mög-
lichst wenige Menschen, eigentlich gar keine, stehen
würden. - Ich versuche es jetzt einfach einmal.
Tagesordnungspunkte 19 b bis 19 d. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen
16/507, 16/3730 und 16/8855 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
16/11407 zu den Rüstungsexportberichten 2004, 2005
und 2006. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Fraktion
Die Linke hat dafür gestimmt und alle anderen dagegen.
Tagesordnungspunkt 19 e. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Keine U-Bootlieferung an Pakistan“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/11420, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/5594 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
mit den Stimmen von Koalition und FDP gegen die
Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und die Linke.
Zusatzpunkt 7. Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 16/11388 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei
die Vorlage federführend beim Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie beraten werden soll. Wer stimmt für
den Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Damit ist der Überweisungsvorschlag
einstimmig angenommen.
1) Anlage 4
2) Ergebnis Seite 21236 C
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Befreiung von IHK-Beiträgen für Kleinst- und
Kleinbetriebe bis zu 30 000 Euro Gewerbeertrag und grundlegende Reform der Industrieund Handelskammern
- Drucksache 16/6357 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Dabei ist vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattieren, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten
soll. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Jetzt eröffne ich die Debatte und gebe das Wort der
Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden
Antrag packt die Linke etwas an, was bisher keine andere Fraktion in diesem Hause zum Thema gemacht hat.
({0})
- Das ist nicht falsch.
Weder die Große Koalition noch die Grünen oder die
FDP haben sich an dieses Thema getraut. Sie können
mich nachher korrigieren, Frau Andreae.
({1})
Die Verpflichtung bzw. der Zwang für gewerbliche Unternehmen, in der IHK Mitglied zu sein, ist seit Jahren
umstritten. Erst jüngst hat sich der Petitionsausschuss
des Bundestages damit auseinandersetzen müssen. Deshalb, denke ich, ist es an der Zeit, eine Debatte über dieses Thema zu führen, egal wie man zu dieser Frage steht.
({2})
Ich selbst bin seit 17 Jahren ehrenamtliches Mitglied
in der zweitgrößten Kammer in Deutschland, der IHK
Südwestsachsen, und kenne die Probleme. Jede Kollegin
und jeder Kollege hier in diesem Haus, die oder der regelmäßig mit Kleinunternehmern zusammenkommt,
wird zugeben müssen, dass diese immer wieder beklagen, dass sie Zwangsbeiträge für eine Organisation zahlen, die ihnen nicht oder nur wenig nützt.
Die Linke greift dieses Problem mit ihrem vorliegenden Antrag auf. Wir wollen aber mehr. Noch immer handelt es sich beim IHK-Gesetz um ein vorläufiges Gesetz
aus dem Jahre 1956. Die damalige Forderung nach einer
paritätischen Besetzung der Kammer durch Betriebsinhaber und Arbeitnehmervertreter wartet noch darauf,
umgesetzt zu werden. Ich denke, nach 52 Jahren wäre es
vielleicht an der Zeit.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele Kleinunternehmer fordern, die Pflichtmitgliedschaft in der IHK
aufzuheben. Sie führen eine Reihe von Missständen auf,
die nur schwer von der Hand zu weisen sind. Ich kann
hier nur einige aufzählen: Die IHK-Beiträge belasten die
Kleinst- und Kleinbetriebe ungleich stärker als Großkonzerne. Firmen mit einem Gewerbeertrag von nur 12 000
Euro zahlen Beiträge von bis zu 200 Euro. Die Beiträge
von Großunternehmen verringern sich dagegen im Extremfall auf weniger als ein Tausendstel ihres Gewerbeertrages.
Obwohl das IHK-Gesetz verlangt, die Gesamtinteressen der Kammermitglieder „abwägend und ausgleichend“ zu vertreten, setzen sich IHK-Vorstände häufig
für Einzelinteressen ein. So widerspricht die Forderung,
den beschlossenen Ausstieg aus der Kernkraft rückgängig
zu machen, unmittelbar den Interessen zahlreicher Mitgliedsbetriebe, die im Bereich der regenerativen Energien
tätig sind. Diese Unternehmen wollen nicht mit ihren
Kammerbeiträgen indirekt ihre eigene Geschäftsgrundlage gefährden.
Ferner werden die mangelnde Vertretung der Kleinunternehmen und die fehlende Transparenz beklagt. Die
Kammer ist eine Einrichtung des öffentlichen Rechts.
Sie sollte daher gut abwägen, ob sie nicht teilweise auch
als Arbeitgeberverband agiert.
Angesichts dieser Kritik verwundert es nicht, dass
sich nur wenige Unternehmen, die nun einmal Kleinunternehmen sind, an den IHK-Wahlen beteiligen. Laut
Bundeswirtschaftsministerium liegt die Wahlbeteiligung zwischen 5 und 16 Prozent.
Meine Damen und Herren, eine vom DIHK selbst in
Auftrag gegebene Umfrage zeigt, dass mit abnehmender
Betriebsgröße die Zufriedenheit mit der Kammer sinkt.
({4})
- Es ist unheimlich störend, dass hier vorne getuschelt
wird. Sprechen Sie doch laut, und stellen Sie zum Beispiel eine Frage. Herr Laurenz Meyer, auch Sie müsste
das Thema IHK eigentlich interessieren.
In Unternehmen mit weniger als 20 Beschäftigten ist
nicht einmal die Hälfte mit der IHK zufrieden. Deshalb
kann ich gut verstehen, dass Blumenhändler oder Betreiber von Reisebüros die Zwangsmitgliedschaft lieber
heute als morgen aufheben wollen.
Die Linke hat sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings dagegen ausgesprochen. Sie fordert stattdessen,
die IHK umfassend zu reformieren. Geschieht dies,
würde sich der Charakter der IHK grundlegend verändern, und ihr Nutzen für die Mitglieder würde steigen.
({5})
Ich kann jetzt nicht alle Punkte unseres Antrags aufzählen, da meine Redezeit dafür nicht ausreicht. Daher
werde ich mich auf einige positive Aspekte beschränken.
Ich denke, die Berufsausbildung, die Fortbildung und
der Außenhandelsbereich sind notwendige Aufgaben,
die im Interesse aller sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend: Die
Beratung dieses Antrags wird zeigen, ob die Mehrheit in
diesem Hause dafür ist, die IHKs dahin gehend zu reformieren, dass auch die Interessen der Kleinstunternehmen
zur Geltung kommen und die Mitbestimmung auch dort
verankert wird.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Wir kommen zurück zum Entschließungsantrag der
Abgeordneten Winfried Nachtwei, Alexander Bonde
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Großen
Anfrage „Rüstungsexporte an Pakistan“ auf den Drucksachen 16/6004, 16/7969 und 16/11406 zurück.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt: Es wurden 537 Stimmen abgegeben. Mit
Ja haben 92 Abgeordnete gestimmt, mit Nein haben
435 Abgeordnete gestimmt, und es gab zehn Enthaltungen. Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 536;
davon
ja: 92
nein: 434
enthalten: 10
Ja
SPD
Ottmar Schreiner
DIE LINKE
Heidrun Bluhm
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Jan Korte
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer ({0})
Volker Schneider
({1})
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Marieluise Beck ({2})
Volker Beck ({3})
Cornelia Behm
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz ({4})
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Thilo Hoppe
Sylvia Kotting-Uhl
Markus Kurth
Monika Lazar
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({5})
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({6})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Grietje Staffelt
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
fraktionsloser
Abgeordneter
Gert Winkelmeier
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({7})
Veronika Bellmann
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({8})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Leo Dautzenberg
Thomas Dörflinger
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer ({9})
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({10})
Dirk Fischer ({11})
Axel E. Fischer ({12})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({13})
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Dr. Jürgen Gehb
Eberhard Gienger
Ralf Göbel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Olav Gutting
Holger Haibach
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung ({14})
Dr. Franz Josef Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({15})
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({16})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Thomas Mahlberg
Stephan Mayer ({17})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({18})
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Carsten Müller
({19})
Stefan Müller ({20})
Dr. Gerd Müller
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({21})
Klaus Riegert
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Albert Rupprecht ({22})
Anita Schäfer ({23})
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({24})
Andreas Schmidt ({25})
Ingo Schmitt ({26})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({27})
Lena Strothmann
Hans Peter Thul
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({28})
Gerald Weiß ({29})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({30})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({31})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Dirk Becker
Klaus Uwe Benneter
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({32})
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({33})
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Dr. h.c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({34})
Monika Griefahn
Gabriele Groneberg
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({35})
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz ({36})
Gerd Höfer
Iris Hoffmann ({37})
Frank Hofmann ({38})
Klaas Hübner
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({39})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Astrid Klug
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christian Lange ({40})
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({41})
Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({42})
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({43})
Michael Roth ({44})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({45})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({46})
Marianne Schieder
Otto Schily
Ulla Schmidt ({47})
Silvia Schmidt ({48})
Renate Schmidt ({49})
Heinz Schmitt ({50})
Carsten Schneider ({51})
({52})
Swen Schulz ({53})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Jörg Vogelsänger
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Gunter Weißgerber
({54})
Lydia Westrich
Andrea Wicklein
Engelbert Wistuba
Waltraud Wolff
({55})
Heidi Wright
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Daniel Bahr ({56})
Angelika Brunkhorst
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Otto Fricke
Horst Friedrich ({57})
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Birgit Homburger
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Michael Link ({58})
Dr. Erwin Lotter
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({59})
Cornelia Pieper
Dr. Konrad Schily
Dr. Rainer Stinner
Florian Toncar
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({60})
fraktionsloser
Abgeordneter
Henry Nitzsche
Enthalten
SPD
Gerd Bollmann
Dr. Wolfgang Wodarg
Uta Zapf
FDP
Uwe Barth
Dr. Edmund Peter Geisen
Joachim Günther ({61})
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Gisela Piltz
Marina Schuster
Wir kehren zu unserer Debatte zurück. Ich erteile dem
Kollegen Andreas Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({62})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Frau Zimmermann, Sie haben Ihren Beitrag
schon mit einer falschen Behauptung begonnen, und im
Prinzip haben Sie auch in Ihrem ganzen Beitrag nicht zu
Ihrem Antrag gesprochen;
({0})
denn es geht Ihnen ja angeblich darum, mit Ihrem Antrag eine grundlegende Reform der Industrie- und Handelskammern voranzubringen. In Wirklichkeit ist Ihr
Antrag aber eine Wiederholung von ziemlich halbgaren
Sachverhalten, die schon in der Vergangenheit immer
wieder einmal diskutiert worden sind, sich in Ihrem Antrag überhaupt nicht schlüssig darstellen und sich teilweise widersprechen.
Diese negative Bewertung Ihres Antrags bedeutet
aber nicht, dass jede Kritik oder Diskussion über die
IHKs verboten wäre. Ganz im Gegenteil; denn jeder von
uns kennt natürlich solche Gespräche mit Unternehmern,
die sich über den Sinn von Zwangsmitgliedschaften,
über den nicht erkennbaren Nutzen oder die geringe Effizienz der IHKs beschweren. Gerade deswegen haben
sich das Parlament und einzelne Parteien im Gegensatz
zu dem, was Sie gesagt haben, Frau Zimmermann, sehr
intensiv mit der Materie auseinandergesetzt; denn bei
den IHKs - das haben Sie gesagt - handelt es sich ja um
öffentlich-rechtliche Körperschaften.
Bei aller Emotionalität bei diesem Thema muss die
Diskussion aber sachlich und konstruktiv und nicht mit
Unwahrheiten geführt werden.
({1})
Ich verweise hier besonders auch darauf, dass sich zum
Beispiel die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung
der CDU/CSU in einem Beschluss vom Dezember 2006
sehr fundiert mit diesem Thema auseinandergesetzt hat.
Ich habe auch den Parteitagsbeschluss der FDP vom
Mai 2006 gelesen, in dem genau eine solche sachliche
Basis aufgezeigt wird.
Zur Sache selbst. Die Industrie- und Handelskammern nehmen legitime öffentliche Aufgaben wie Berufsausbildung, Verwaltungsaufgaben und die Beratung
staatlicher und kommunaler Entscheidungsträger wahr.
Die Durchführung dieser Aufgaben muss natürlich finanziert werden. Das kann man durch zwei Dinge tun,
nämlich zum einen durch das allgemeine Steueraufkommen und zum anderen natürlich durch Beiträge von Unternehmen. Durch diese Beitragszahlungen werden diese
Unternehmen von Betroffenen zu Beteiligten gemacht.
Ich komme jetzt erstens zu den Beiträgen, Frau
Zimmermann. Durch die öffentliche Diskussion über die
IHK-Beiträge wurde in den letzten Jahren sehr viel in
Bewegung gebracht. Ich bin davon überzeugt, dass die
derzeitige Beitragsstaffel - zumindest in vielen IHKs nach der Leistungsfähigkeit der Unternehmen auch dem
Solidarprinzip entspricht.
Ich habe in diesem Zusammenhang einmal bei meiner
Heimat-IHK in Dresden nachgefragt, und ich möchte Ihnen einmal vor Augen führen, Frau Zimmermann, wie es
denn wirklich in einer solchen IHK aussieht.
({2})
Von 80 000 Mitgliedern zahlen 40 000 Kleingewerbetreibende gar keinen Beitrag.
({3})
Frau Zimmermann, weitere 14 000 Unternehmen zahlen
einen Beitrag von 27 Euro im Jahr; das sind gerade einmal gut 2 Euro im Monat, also weniger, als man für ein
Bier bezahlen muss, das man in zehn Minuten ausgetrunken hat. Der Unterschied zum Bier ist dabei noch,
dass die Beiträge sogar von der Steuer abgezogen werden können. Frau Zimmermann, einen Beitrag von etwa
130 Euro im Jahr zahlen weitere 18 500 Mitglieder.
Wenn Sie das alles einmal zusammenrechnen, dann
stellen Sie ganz schnell fest, dass 91 Prozent der Mitglieder in der IHK in Dresden entweder gar keinen oder einen Beitrag von unter 130 Euro im Jahr zahlen.
({4})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Frau Zimmermann zulassen?
Ja, aber ich will Frau Zimmermann vorher kurz noch
eine Zahl nennen. Vielleicht erübrigt sich dann die
Frage. Ansonsten kann sie gerne fragen.
Die wesentliche Beitragslast - das wollten Sie jetzt
doch wissen - tragen nur 580 Unternehmen - das sind
0,7 Prozent -, die mit einem Durchschnittsbeitrag von
etwa 4 300 Euro zur Finanzierung der Kammer beitragen.
Bitte schön.
Frau Zimmermann, Ihre Frage.
({0})
Herr Lämmel, ist Ihnen bekannt, dass man als Unternehmer bei der Kammer eine Freistellung von der Beitragszahlung beantragen kann? Ich denke, das wissen
Sie. Ist Ihnen aber auch bekannt, dass diese Freistellung
nur befristet ist und dass der Beitrag von der Kammer im
Jahr darauf doppelt eingetrieben werden kann? Wissen
Sie das?
({0})
Wenn Sie es genau wissen wollen: Kleinstunternehmer und Existenzgründer sind generell von Beitragszahlungen befreit. Bei ihnen kann also niemand etwas einklagen, sondern sie zahlen halt nichts.
({0})
Hinsichtlich der Unternehmen, die unter die Beitragspflicht fallen und Ausnahmeanträge stellen, muss man
im nächsten Jahr natürlich prüfen,
({1})
ob man bei diesen Ausnahmen bleiben kann. Das ist
doch ganz logisch.
({2})
Wenn Sie Ihren Parteibeitrag nicht zahlen, weil Sie zu
viele Ausgaben haben, kommt die Partei im nächsten
Jahr und will den Rest wiederhaben. Das ist doch ganz
logisch.
({3})
- Zum Glück! Zumindest nicht bei den Linken.
Zu den Beiträgen habe ich etwas gesagt. Man muss
aber festhalten, dass jedes Mitglied der IHK - das sind
80 000 Unternehmen - stimmberechtigt ist. All diese
80 000 Unternehmen können ungeachtet ihrer Größe
Leistungen von der IHK bekommen.
Zweitens: zur paritätischen Mitbestimmung. In Ihrem
Antrag fordern Sie die Einführung einer paritätischen
Arbeitnehmermitbestimmung in den Kammergremien.
Diese Diskussion ist nicht neu; das haben Sie gesagt.
Bislang ist dies in den Gremien nicht verwirklicht worden. Aus meiner Sicht gibt es dafür verschiedene
Gründe.
Die Mitbestimmung in den IHK-Gremien ließe sich
gegebenenfalls damit begründen, dass die IHKs Unter21240
nehmen auf der Basis des Gesamtinteresses beraten sollen. Ein Unternehmen besteht nicht nur aus den Eigentümern, sondern auch aus den Mitarbeitern. Es stellt sich
aber die Frage, ob eine Institution wie die Industrie- und
Handelskammer, die schon jetzt ein ausgesprochen breites Interessenspektrum zu bedienen hat, wirklich noch
den Spagat der Einbindung der Arbeitnehmerinteressen
bewältigen kann.
Die IHKs dürfen sich nach dem IHK-Gesetz schon
heute nur an solchen Einrichtungen beteiligen, die der
Förderung der gewerblichen Wirtschaft innerhalb des
IHK-Bezirks dienen. Frau Zimmermann, Sie interessiert
das offensichtlich nicht so richtig. Ich habe den Eindruck, dass Sie dies schon alles wissen bzw. dass Sie
schon bei der Antragsstellung gewusst haben, dass es
einfach Unfug ist, was Sie sagen.
({4})
Drittens: zum Reformkonzept. Wer es mit der Qualität der Arbeit der IHKs ernst meint, der muss deren Arbeit natürlich immer wieder hinterfragen; dazu komme
ich jetzt. Im Gegensatz zur Intention des Antrags der
Fraktion Die Linken hat dieses Haus, der Deutsche Bundestag, in der jüngeren Vergangenheit durchaus Kritik
verantwortungsvoll formuliert und daraus auch konkrete
Forderungen abgeleitet.
({5})
Ich erinnere an den Entschließungsantrag, der im
April 1998 zusammen mit dem IHK-Änderungsgesetz
von CDU/CSU, SPD und FDP verabschiedet wurde. Damals wurde den Kammern aufgegeben, ihre Hausaufgaben in Sachen Beitrag, Effizienz und Transparenz innerhalb der nächsten vier Jahre zu machen.
Was ist erreicht worden? Der Durchschnittsbeitrag
konnte seitdem deutlich gesenkt werden. Die Transparenz der IHK-Finanzen wurde durch die Einführung der
kaufmännischen Buchführung anstelle der Kameralistik
deutlich erhöht. Viele IHKs - so auch die in Dresden veröffentlichen die Eckdaten ihrer geprüften Jahresabschlüsse. Die IHKs haben sich selbst darüber hinaus bereits vor Jahren Qualitätsstandards für ihre Arbeit gegeben, die regelmäßig unabhängig auditiert werden.
Meine Damen und Herren, wir sind uns in der Großen
Koalition - ich denke, überhaupt hier im Hohen Hause einig, dass die Kammern gemeinsam mit ihren Mitgliedern im Rahmen des Ausbildungspaktes hervorragende
Arbeit für unsere jungen Menschen geleistet haben. Die
Kammern sind unser Modell der Selbstverwaltung der
Wirtschaft, das wir vom Grundsatz her noch nie wirklich
infrage gestellt haben. Wir wollen sie nicht durch das
Anlegen eines Maulkorbs infrage stellen. Doch genau
darauf läuft der Antrag der Linken hinaus. Die Unionsfraktion wird diesen Antrag der Linken ablehnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Burgbacher von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will Sie nicht so lange auf die Folter spannen wie der
Kollege Lämmel und sage gleich zu Beginn: Auch die
FDP-Fraktion wird den Antrag der Linken ablehnen.
({0})
Ich will das gerne kurz in einigen Punkten begründen.
Der zentrale Punkt Ihres Antrags scheint darin zu bestehen - zumindest der Überschrift des Antrags zufolge -,
dass Sie Betriebe bis zu 30 000 Euro Gewerbeertrag von
den IHK-Beiträgen befreien wollen. Schon dabei stellen
sich Fragen. 30 000 Euro Gewerbeertrag: Wonach richtet sich das eigentlich? Darf es auch ein bisschen mehr
oder weniger sein? Diese Grenze ist völlig willkürlich
gezogen. Womit wollen Sie das begründen? Sie können
es nur mit einem einzigen Argument begründen.
Auch wir wissen, dass viele unzufrieden sind und
dass es eine ganze Menge Betriebe gibt - übrigens auch
in ganz verschiedenen Größenordnungen -, die sich gegen die Pflichtmitgliedschaft wehren. Sie sehen an dieser Stelle einen Bereich, von dem Sie glauben, darin wildern zu können. Aber ich glaube, darin haben Sie sich
gewaltig getäuscht. Denn Sie gehen dabei zu plump vor.
Sie können nicht einfach willkürlich eine Grenze ziehen.
Wir haben uns übrigens auf unserem Rostocker Parteitag 2006 intensiv mit der Materie befasst.
({1})
Wir haben wie alle anderen Parteien gestritten.
({2})
Das betrifft auch eine ganze Menge Punkte. Aber ich
glaube, wir sind zu einer besseren Lösung gekommen. In
unserem Rostocker Beschluss fordern wir, dass - ich zitiere - „Kleinstbetriebe, die keinen originär gewerblichen Charakter haben ..., auf Dauer von Beiträgen befreit werden“. Das ist sinnvoller, als willkürlich eine
Grenze einzuziehen. Es ist ein materielles Kriterium, das
auch deshalb Sinn macht, weil gewisse Dienstleistungen
der Kammern - zum Beispiel im Bereich der Außenwirtschaft - von diesen Betrieben bestimmt nicht in Anspruch genommen werden. Insofern ist diese Unterscheidung sinnvoll.
({3})
Beim Thema Pflichtmitgliedschaft muss man die
Frage stellen: Wie ist sie zu rechtfertigen? Wie können
wir rechtfertigen, dass wir dadurch die Freiheit von Unternehmen einschränken? Dazu möchte ich zunächst einige Zahlen nennen.
Von den IHKs werden heute circa 850 000 Auszubildende betreut und 290 000 Zwischenprüfungen sowie
330 000 Abschlussprüfungen abgenommen. Wenn das
die Wirtschaft nicht in Selbstverantwortung macht, dann
muss es der Staat machen. Dann müssen wir uns fragen,
ob der Staat es besser oder preiswerter macht. Beides bezweifle ich.
({4})
Das spricht für die Pflichtmitgliedschaft.
Wir glauben, dass die Selbstverwaltung der Wirtschaft das besser, effizienter und kostengünstiger machen kann. Dann muss aber die Selbstverwaltung dazu in
die Lage versetzt werden. Mit Ihren Vorschlägen ist das
sicherlich nicht zu machen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun will ich aber
auch sehr deutlich sagen: Dass es Reformbedarf bei den
IHKs gibt, wird, glaube ich, von niemandem geleugnet.
Das ist republikweit übrigens sehr unterschiedlich, weil
wir unterschiedliche Wirtschaftsregionen haben. Die
Großunternehmen in vielen ländlichen Regionen, von
denen die Rede war, gibt es kaum. Die Unternehmen
sind durchweg mittelständisch strukturiert, und die IHK
leistet eine sehr wertvolle Aufgabe.
Wir mahnen Reformen an - dabei sind wir, die FDPFraktion, übrigens auch im Gespräch mit dem DIHK und erwarten, dass die Bedenken der Mitglieder aufgenommen werden und darauf substanziell eingegangen
wird. Aber wir fordern nicht, die Pflichtmitgliedschaft
abzuschaffen.
({6})
Ich will zum Schluss noch einen Punkt ansprechen,
Frau Zimmermann, der völlig am System vorbeigeht. In
Ihrem Antrag heißt es: „Bei den Industrie- und Handelskammern wird eine qualifizierte Mitbestimmung eingeführt.“ Das geht doch total an der Sache vorbei. Denn
damit verändern Sie den Charakter völlig. Wenn Sie das
machen würden, dann müssten wir uns wirklich die
Frage nach der Pflichtmitgliedschaft stellen - aber erst
dann.
({7})
In den Unternehmen gibt es Mitbestimmung und Betriebsverfassungen. Aber es wäre eine völlig systemfremde Entscheidung, das in den IHKs einzuführen.
({8})
Ich sage Ihnen sehr deutlich: In Ihrer gewohnt populistischen Art versuchen Sie, irgendwelche Stimmungen aufzunehmen,
({9})
um sie manchen vielleicht oberflächlich als Lösungen
anzubieten. Damit werden Sie aber nicht landen.
({10})
Wir müssen das Gespräch mit den Industrie- und
Handelskammern führen. Vieles ist geschehen; Weiteres
muss noch geschehen. An diesem Prozess werden wir
uns konstruktiv beteiligen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Schultz von
der SPD-Fraktion.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Linkspartei hat etwas Widersprüchliches:
({0})
Auf der einen Seite - das wurde auch in Ihrer Rede deutlich, Frau Zimmermann - sollen die Kammern und die
Pflichtmitgliedschaft erhalten bleiben, auf der anderen
Seite sollen ihre Aufgaben auf solche der Selbstverwaltung reduziert und die staatlichen Aufgaben herausgenommen werden. Das Einzige, was nach einer
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine
Pflichtmitgliedschaft legitimiert, ist aber, dass eine
Kammer als öffentlich-rechtliche Körperschaft staatliche
Aufgaben wahrnimmt. Das heißt, beides gleichzeitig
geht nicht.
({1})
Als besonders gutes Beispiel dafür, dass Sie die IHKs
loben, nennen Sie ihren Beitrag zur Berufsausbildung.
Diese wiederum gehört zu den Aufgaben, die ihnen von
Staats wegen übertragen worden sind. Insofern ist da ein
bisschen
({2})
Unruhe im Unterholz. Was Sie ausgearbeitet haben, ist
nicht ganz konsequent.
Selbstverständlich gibt es unterschiedliche Erfahrungen mit IHKs. Das hängt immer auch mit Menschen zusammen: Hat der Hauptgeschäftsführer den Laden im
Griff, ist er eher dienstleistungsorientiert, oder lässt er
eher abtropfen? Wir haben schon alles erlebt. Ich glaube
aber, dass seit der letzten Reform die Qualität der Industrie- und Handelskammern deutlich zugenommen hat.
Im Münsterland, wo ich selber tätig bin, bin ich mit der
IHK Nordwestfalen in hohem Maße zufrieden. Früher
gab es sehr kritische Auseinandersetzungen. Seitdem ist
der Wasserkopf deutlich kleiner geworden, man hat
mehr in die Dienstleistung, in die Berufsausbildung und
in das Sachverständigenwesen gesteckt. Wir brauchen
anerkannte Sachverständige, um im Streitfall etwas prüfen zu lassen. Auch in der Wirtschaftsförderung und in
der Unterstützung der Kommunen vor allem im ländlichen Raum leisten die IHKs gute Arbeit.
Natürlich kann man sich darüber ärgern, wenn ein ehrenamtliches Mitglied eines IHK-Präsidiums, ein Unter21242
Reinhard Schultz ({3})
nehmer, zwischendurch einmal nicht genau die Anzüge
trennen kann - das können wir auch nicht immer - und
den parteipolitischen Hammer herausholt. Das kommt
schon mal vor. Dass dabei die Linkspartei nicht gut wegkommt, muss sie wegstecken. Man muss dann dagegenhalten; das ist auch uns schon passiert. Aber da hat sich
die Situation verändert. Natürlich ist einer öffentlichrechtlichen Körperschaft parteipolitische Zurückhaltung
zu empfehlen. Aber dies ist natürlich nicht für jeden einzelnen Ehrenamtlichen gesetzlich vorzuschreiben; das
wäre geradezu albern.
Sie haben gesagt, mit der Pflichtmitgliedschaft befasse sich sogar der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. Das konnte ich nicht feststellen. Ich habe keine
einzige Quelle gefunden, die belegt, dass sich irgendjemand in Straßburg ernsthaft damit befasst, dass Menschenrechte dadurch verletzt würden, dass Unternehmen
in den IHKs Mitglied sein müssen.
Zu der Frage der Beitragsgerechtigkeit ist hier schon
vieles vorgetragen worden. De facto zahlen gut
50 Prozent der Unternehmen keine Beiträge, teilweise
temporär wie die Existenzgründer. Dass kein Unternehmen 20 Jahre lang Existenzgründer sein kann, liegt auf
der Hand. Dies gilt also nur in der Startphase; das ist ein
revolvierender Prozess. Die Kleinstgewerbetreibenden
zahlen definitiv keinen Beitrag.
({4})
Man kann natürlich darüber reden, ob sie immer wieder
einen Nachweis erbringen müssen oder ob die Beitragsbefreiung unter bestimmten Voraussetzungen nicht auf
Dauer gilt, wie es Herr Burgbacher vorgetragen hat.
Unter dem Strich zahlen, wie gesagt, über 50 Prozent
keine Beiträge. Viel weiter kann man mit der Beitragsbefreiung kaum gehen, weil sonst die Größeren, Ertragsstärkeren die Beratungsdienstleistungen, das Prüfungswesen usw. für alle anderen mitzutragen hätten. Es gibt
Grenzen des Zumutbaren, auch des rechtlich Zumutbaren, im Hinblick auf die Frage, ob zum Schluss nur noch
eine ganz kleine Gruppe von Unternehmen für alle anderen sämtliche Leistungen zu finanzieren hat. Dies muss
man sehr genau gegeneinander abwägen. Bei über
50 Prozent wird diese Grenze nach meinem Dafürhalten
schon geschrammt.
Wir können und müssen natürlich auch weiterhin über
die Effizienz diskutieren. Der Aufwand, der dort getrieben wird und der die Kosten produziert, muss immer
wieder auf den Prüfstand gestellt werden. Eine kritische
Aufgabenüberprüfung muss regelmäßig stattfinden. So
wie ich die Parteien, die sich damit befasst haben, kenne,
wird es in absehbarer Zeit eine kritische, aber zugleich
konstruktive Aufarbeitung - das wollen wir von der SPD
jedenfalls - geben. Es wird aber nicht dazu kommen,
dass wir die IHKs und die IHK-Mitgliedschaft infrage
stellen.
Eines unterscheidet uns allerdings von den Rednern
der CDU/CSU und der FDP: Ich wünsche mir, dass es
- wir werden uns dafür einsetzen - eine angemessene
Beteiligung der Mitarbeiter in allen IHK-Gremien gibt,
nicht nur in denen für das Prüfungswesen; darauf wurde
zu Recht hingewiesen. Im Handwerk ist das bereits der
Fall. Es leidet nicht darunter; das kann man wirklich
nicht behaupten. Im Gegenteil: Unternehmer und Mitarbeiter werden dadurch eher zusammengeschweißt. Das
tut der Interessenvertretung letztendlich gut. Daran muss
man bei der nächsten Reform arbeiten.
Es wurde gesagt, die Betreffenden dürften sich nirgendwo beteiligen, zum Beispiel nicht am Deutschen Industrie- und Handelskammertag. Das ist lächerlich.
Wenn wir eine Selbstverwaltung organisieren, dann dürfen sich die Betreffenden nicht zum Zweck der Standardsetzung, der bundesweiten Interessenvertretung, der
Unterhaltung von Auslandskammern, die zum Großteil
durch Mitgliedsbeiträge finanziert und zusätzlich vom
Bund gefördert werden, zusammenschließen? Aber
diese Auslandskammern sind ohne jede Frage nützlich.
Jeder von uns, der eine Auslandsdelegationsreise gemacht hat, hat Gespräche mit Vertretern der Auslandskammern geführt.
({5})
Diese sind sehr gut vernetzt. Sie sind der Lotse für deutsche Unternehmen in den jeweiligen Ländern.
({6})
Gerade der ertragsstarke Mittelstand ist vor Ort auf solche Lotsen angewiesen. Das abzukoppeln, ist geradezu
albern.
({7})
Unter dem Strich gibt es sicherlich immer etwas kritisch aufzuarbeiten. Das gilt für jede Organisation. Man
muss immer fragen: Sind die Organisationsform und der
Aufwand im Hinblick auf den eigentlichen Zweck angemessen? Sind die Schwerpunkte richtig gesetzt? Ist die
Beitragsgerechtigkeit noch gewahrt? Aber es darf keine
Totalverrissdiskussion, sondern muss eine konstruktive
Diskussion werden, die sowohl den Regionen als auch
den Unternehmen und ihren Mitarbeitern nutzt.
Vielen Dank.
({8})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat das Wort die Kollegin Kerstin Andreae von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich wehre mich vehement gegen den Vorwurf,
dass sich ausschließlich die Linke mit den Kammermitgliedschaften befasst. Wir debattieren seit Jahren über
dieses Thema und versuchen, verschiedene Lösungsansätze zu finden.
Die Ausgangslage ist klar - darauf ist das Augenmerk
zu legen -: Die überwiegende Zahl der IHK-Mitglieder das betrifft vor allem kleine Betriebe - ist mit der
Pflichtmitgliedschaft unzufrieden. Diese Mitglieder stelKerstin Andreae
len infrage, ob ihre Interessen ausreichend berücksichtigt werden. Ineffiziente Strukturen einzelner Kammern
werden zu Recht kritisiert. Deswegen müssen wir die
Debatte über das Kammermodell der Zukunft ernsthaft
führen. Wir müssen auch über die Aufgaben der Kammern reden. Aber der Antrag der Linken ist dafür keine
gute Grundlage; denn er ist widersprüchlich und teilweise falsch. Deswegen werden Bündnis 90/Die Grünen
diesen Antrag nicht unterstützen.
({0})
Zu der Frage, wer noch Beiträge zahlt und wie hoch
die Beiträge sind, hat der Kollege Schultz aus meiner
Sicht alles gesagt. Ich sehe die Problematik der Balance
zwischen Interessen und einer angemessenen Vertretung.
Wenn Sie aber fordern, dass allen Unternehmen bis zu
einer Grenze von 30 000 Euro Gewerbeertrag pro Jahr
eine beitragsfreie Mitgliedschaft zu gewähren ist, dann
müssen Sie aufpassen, welche Folgen das hat und wer
dann tatsächlich noch beitragspflichtiges Mitglied ist.
Über die hoheitlichen Aufgaben, die die Kammern
übernehmen, wurde bereits viel gesprochen. Es gibt im
Prinzip drei Möglichkeiten: Entweder erledigt der Staat
selbst die Aufgaben - das ist nicht unser Modell -, oder
man beleiht jemanden. Das heißt, irgendjemand - in der
Regel handelt es sich um einen Privaten - übernimmt
diese Aufgabe. Aber auch das muss man infrage stellen.
Insofern ist die Selbstverwaltung der Kammern eine Organisationsform, über die wir zwar diskutieren und die
wir weiterentwickeln, bei der wir aber im Grundsatz
bleiben sollten; denn die Selbstverwaltung nimmt die
Wirtschaft in die Verantwortung.
Ich will ein Beispiel nennen. Alle haben über die Notwendigkeit der Kammern im Hinblick auf die Berufsausbildung und die Berufsbilder geredet. Über diese Aufgabe der Kammern wird immer wieder diskutiert. Wir
Grünen haben ein Modell vorgeschlagen, das
„Dual plus“ heißt. Dabei geht es um die Frage, wie wir
neue Ausbildungsformen entwickeln und neue Initiativen in der Ausbildung voranbringen können. Sie sagen,
wir hätten heute schon überbetriebliche Ausbildung und
diese solle weiterentwickelt werden. Wir wollen alle Betriebe mit ihren speziellen Kompetenzen in diese überbetriebliche Ausbildung einbinden, und es sind nun einmal
die Kammern, die die überbetrieblichen Ausbildungsstätten finanzieren. Eine Weiterentwicklung müsste gemeinsam mit den Kammern erfolgen.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Es gibt eine überbetriebliche Ausbildungsstätte, die eine Kollegin von mir
jüngst besucht hat. Da werden junge Automechaniker
und -mechanikerinnen, wenn es letztere denn gibt, mit
Reparaturen von Hybridmotoren betraut. Das können
diese nicht überall lernen, wohl aber in dieser überbetrieblichen Ausbildungsstätte. So etwas organisieren die
Kammern. Wir glauben, dass das zu den Aufgaben der
Kammern gehört.
Als Fazit möchte ich drei Bereiche ansprechen. Natürlich stehen wir, die Politik, immer wieder vor der
Aufgabe, uns kritisch, aber auch konstruktiv mit den
Kammern auseinanderzusetzen sowie die Aufgaben und
die Weiterentwicklung der Aufgaben zu diskutieren.
Auch die Unternehmen selber sind hier in der Pflicht,
sich aktiver zu engagieren - die geringe Wahlbeteiligung
haben Sie angesprochen - und die eigene Interessenvertretung zu stärken. Schließlich sind die Kammern in der
Pflicht. Natürlich müssen die Kammern den betriebswirtschaftlichen Nutzen einer Mitgliedschaft immer wieder erklären. Hier gibt es teilweise Strukturen - das habe
ich anfangs gesagt -, die nicht gut sind. Die Situation ist
lokal sehr unterschiedlich. Das müssen wir uns genau
anschauen. Die Kammern sind in einem Erklärungszwang. Aber grundsätzlich glauben wir, dass ein Modell
der Selbstverwaltung, wie es jetzt besteht, richtig ist.
Deswegen werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.
Wir sind aber durchaus der Meinung, dass wir noch Diskussionsbedarf haben.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6357 an den Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie vorgeschlagen. Gibt es Widerspruch? -
Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a bis 10 d auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum ordnungspolitischen Rahmen der Krankenhausfinanzierung ab dem Jahr 2009
({0})
- Drucksachen 16/10807, 16/10868 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({1})
- Drucksache 16/11429 Berichterstattung:
Abgeordneter Frank Spieth
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/11433 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Ewald Schurer
Dr. Claudia Winterstein
Roland Claus
Omid Nouripour
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Daniel
Bahr ({4}), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Verbesserung der Finanzsituation der Kran-
kenhäuser
- Drucksachen 16/9057, 16/11430 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Eike Hovermann
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Frank
Spieth, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Aktuelle Finanznot der Krankenhäuser been-
den
- Drucksachen 16/8375, 16/11432 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Eike Hovermann
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Krankenhäuser zukunftsfähig machen
- Drucksachen 16/9008, 16/11431 Berichterstattung:
Abgeordneter Eike Hovermann
Es liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP und ein Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist
für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen.
Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Bundesministerin Ulla Schmidt das Wort.
({7})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
vorliegende Gesetzentwurf ist ein gutes Gesetz für die
Krankenhäuser, für die Beschäftigten und für die Patientinnen und Patienten. Wir fällen mit dem Gesetz wichtige strukturelle Entscheidungen für die Zukunft: für die
Grundsätze der Honorierung, für die künftige Investitionsförderung, für die Ausrichtung auf einen Bundesbasisfallwert, wenn auch mit einer Bandbreite, und für die
Weiterentwicklung in der Pflege und in der Psychiatrie.
Die Krankenhäuser erhalten im zu Ende gehenden
Jahr rund 2 Milliarden Euro mehr als im Jahr 2007. In
2009 erhalten sie allein von der gesetzlichen Krankenversicherung 3,5 Milliarden Euro zusätzlich. Das ist zusammen mehr als die 5 Milliarden Euro, welche den
Krankenhäusern in dem Fünfjahreszeitraum von 2002
bis 2007 zusätzlich zugeflossen sind. Insgesamt fließen
aus Beiträgen der gesetzlich Versicherten mehr als
56 Milliarden Euro im kommenden Jahr in die deutschen
Krankenhäuser.
({0})
Dieses Gesetz und die Entscheidung der Bundesregierung zum Beitragssatz der gesetzlichen Krankenversicherung im kommenden Jahr sichern eine angemessene
Finanzierung der Betriebskosten und insbesondere der
Personalkosten in den Krankenhäusern. Ich hoffe sehr,
dass die Länder ihrer Verpflichtung in puncto Investitionsfinanzierung endlich mit gleicher Konsequenz
nachkommen werden.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den zusätzlichen Milliarden können die Krankenhäuser Personalkosten finanzieren, die tariflich vereinbart worden sind. Die
Krankenkassen und die Krankenhäuser erhalten gemeinsam den Auftrag, die seit langem bestehende Zusage zusätzlicher Mittel in Höhe von 3,5 Milliarden Euro im
Jahr 2009 in Verhandlungen konsequent umzusetzen.
Mit dem Gesetz werden Mittel bereitgestellt, um knapp
17 000 zusätzliche Pflegekräfte in den Krankenhäusern
finanzieren zu können.
({2})
Wir haben entschieden, dass die Krankenkassen diese
Personalstellen zu 90 Prozent finanzieren. Das Entscheidende ist, dass diese - zusätzlich finanzierten - Stellen
nach drei Jahren in die Fallpauschalen eingehen und dass
in dieser Zeit erarbeitet wird, welche Bereiche im Krankenhaus besonders pflegeintensiv sind und wo bei den
Fallpauschalen zusätzliche Anforderungen berücksichtigt werden müssen.
Wir müssen den Pflegebedürfnissen von immer mehr
älteren Menschen, von immer mehr multimorbiden
Menschen, die im Krankenhaus nach dem Grundsatz
„ambulant vor stationär“ behandelt werden - dadurch
werden die Behandlungen dort aufwendiger -, gerecht
werden. Für uns ist es ein wichtiger Schritt, darauf zu reagieren; denn eine gute Versorgung im Krankenhaus bedeutet eine gute medizinische und auch eine gute pflegerische Versorgung.
Dieser Schritt wird auch den wachsenden Problemen
der Pflegekräfte im Krankenhaus - die Arbeitsbelastung
verdichtet sich sehr - gerecht. Wir wollen, dass diejenigen, die im Krankenhaus als Pfleger oder Pflegerinnen
beschäftigt sind, vernünftige Arbeitsbedingungen erhalten, damit sie im Beruf bleiben.
({3})
Außerdem wollen wir, dass es sich für junge Menschen
wieder lohnt, sich für diesen Beruf zu entscheiden; denn
wir müssen in den kommenden Jahren - ich verweise auf
das, was das Statistische Bundesamt in dieser Woche
veröffentlicht hat - mehr als 500 000 neue Pflegestellen
besetzen. Damit das gelingt, müssen wir mit vernünftigen Bedingungen werben können.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ferner wird eine
dringend notwendige, leistungsgerechte Investitionsfinanzierung vorbereitet. Deutsche Krankenhäuser sind
in vielen Bereichen mit Hightechunternehmen zu vergleichen. 25 Prozent der Betriebskosten werden - das
sagt jeder Experte - durch notwendige Investitionen beeinflusst. Wer den hohen Standard in den Krankenhäusern erhalten will, der muss kontinuierlich und planbar
dafür sorgen, dass auch besondere Ausstattungsinvestitionen refinanziert werden und dass die Ausstattungsinvestitionen - neben der Finanzierung der Behandlungskosten - auf Dauer gewährleistet sind, sodass die
Krankenhäuser planen können. Hier sind die Bundesländer in der Pflicht. Ich erwarte in den kommenden Monaten eine konstruktive Zusammenarbeit bei der Weiterentwicklung der Investitionsfinanzierung.
Die Politik der Bundesländer, die darauf ausgerichtet
ist, haushaltspolitische Zwänge zulasten der Krankenhäuser umzusetzen, muss ein Ende haben. Stattdessen
sollte in den Pflegebereich investiert werden: Er ist auch
für die Bundesländer - nicht nur im Hinblick auf eine
gute medizinische Versorgung als Teil der Daseinsvorsorge, sondern auch im Hinblick auf Förderung des
Wachstumsmarktes Nummer eins - wichtig. Auf diesem
Markt muss Beschäftigung gesichert und ausgebaut werden.
({5})
Jeder Euro, der in die gesetzliche Krankenversicherung fließt, ist von Menschen hart erarbeitet worden; sie
müssen nämlich die Beiträge zahlen. Auch deshalb gilt
es, das Prinzip umzusetzen, Beitragsgelder nur in hohe
Qualität und nur dort, wo sie wirklich gebraucht werden,
zu investieren; denn kein Beitragszahler hat etwas zu
verschenken.
Ich bin davon überzeugt, dass Beitragszahler einen
Anspruch darauf haben, dass sich die Krankenhausmanager anstrengen. Es ist nicht nur eine Frage des Geldes,
sondern auch eine Frage der Organisation der Arbeitsabläufe in den Kliniken, des Abbaus von Hierarchien und
des vernünftigen Einsatzes aller Qualifikationen. Es ist
Aufgabe der Krankenhäuser, sich nicht nur um eine gute
Qualität der Versorgung, sondern auch um Wirtschaftlichkeit zu bemühen. Hier besteht neben dem, was die
Krankenkassen machen und was die Länder zu tun haben, ein Potenzial: Auch die Krankenhäuser selbst sind
in der Pflicht.
Sie alle wissen es - Sie können es sehen, wenn Sie
Krankenhäuser besuchen -: Wir haben hervorragend arbeitende Häuser in unterschiedlicher Trägerschaft. Es
gibt Krankenhäuser in kirchlicher Trägerschaft, in kommunaler Trägerschaft und in privater Trägerschaft. Die
Häuser, die wirklich hervorragend arbeiten, erreichen
zum größten Teil positive Abschlüsse. Ich bin der Auffassung, dass diese Krankenhäuser als Benchmark für
andere Krankenhäuser in Deutschland dienen sollen.
In Zukunft wird der Zuwachs der den Krankenhäusern
zufließenden Mittel nicht mehr alleine durch den Anstieg
der Grundlohnrate bestimmt. Wir sind fest entschlossen,
einen neuen Maßstab zu entwickeln, der besser auf die
Erfordernisse der Krankenhäuser eingeht als die Grundlohnsummenanbindung. Mit der Einführung des neuen
Orientierungswertes, der jetzt erarbeitet wird, fällt ab
2011 der bisherige Deckel weg. Es wird individuell auf
die Besonderheiten eines Krankenhauses eingegangen.
Das ist ein wichtiger Aspekt der Sicherung der Zukunft
der Krankenhäuser. Das wird mit diesem Gesetz auf den
Weg gebracht.
({6})
Ich habe Hochachtung vor den vielen Tausend Pflegerinnen und Pflegern in den Krankenhäusern, dem ärztlichen Personal und all denjenigen, die sich Tag für Tag
um eine effiziente und hochwertige Krankenhausversorgung bemühen; ich möchte mich bei ihnen bedanken.
({7})
Es sollte eine gemeinsame Aufgabe aller Beteiligten in
den deutschen Krankenhäusern sein, die Krankenhausversorgung fortzuentwickeln.
Der Gesetzentwurf enthält die geplante Verbesserung
des Honorarsystems für die psychiatrischen Fachkrankenhäuser und Fachabteilungen. Für diese Bereiche soll
in den kommenden Jahren ein Honorarkonzept entwickelt werden, das so belastbar ist wie heute die DRGs im
Bereich der somatischen Erkrankungen. Mit dieser Reformoption -
Frau Minister, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Dağdelen?
Ich hätte zwar gerne den Satz noch zu Ende gesprochen, aber jetzt lasse ich sie fragen. - Bitte schön.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Ministerin. - Sie haben sich bei
den Krankenpflegerinnen und Krankenpflegern, bei den
Krankenschwestern für die Arbeit bedankt, die sie in den
Krankenhäusern leisten. Nun ist es nichts Neues, dass es
zwischen Fremdeinschätzung und Selbsteinschätzung
manchmal eine Kluft gibt.
({0})
- Ich komme zu meiner Frage. Immer mit der Ruhe!
Ich möchte fragen: Wie erklären Sie sich eigentlich,
dass die Pflegerinnen und Pfleger und vor allen Dingen
die Krankenschwestern, wenn ich in Krankenhäusern in
meinem Wahlkreis, in Bochum, in Herne und auch in
vielen anderen Städten in Nordrhein-Westfalen war, immer wieder gesagt haben, dass der vorliegende Gesetz21246
entwurf der Bundesregierung - das gilt auch für die
heute vorliegende Fassung, die Änderungen gegenüber
dem ersten Entwurf enthält ({1})
in keiner Weise den Bedürfnissen der Pflegerinnen und
Pfleger sowie der Krankenschwestern gerecht wird?
Zwar sehen sie in dem Gesetzentwurf eine Verbesserung; aber sie sind sich alle einig - ({2})
Frau Kollegin!
Wie erklärt es sich, dass die Bundesregierung trotzdem versucht, das als einen Erfolg und als ein gutes Projekt zu bezeichnen -
Frau Kollegin Dağdelen, Sie sollen kurz und präzise
fragen und keine Rede halten.
({0})
Ich halte keine Rede. Ich frage mich nur: Wie kann es
sein, dass ich 1 600 Unterschriften erhalten habe - ich
habe sie dabei und möchte sie im Anschluss an Sie weitergeben -,
({0})
mit denen zum Ausdruck gebracht werden soll, dass das
vorliegende Gesetz nicht den Bedürfnissen der Pflegerinnen und Pfleger entspricht?
Die Zwischenfrage ist nicht dazu da, eine Aktion zu
starten, Frau Kollegin Dağdelen. Sonst muss ich Ihnen
das Wort entziehen.
Frau Kollegin, es ist ein besonderes Phänomen im
Gesundheitswesen, dass im kommenden Jahr aus Beitragsgeldern 3,5 Milliarden Euro mehr in den Kliniken
fließen und trotzdem von Funktionären, auch in den
Krankenhäusern, eine Stimmung verbreitet wird, als
handele es sich um eine Kürzung der bisherigen Zuwendungen.
({0})
Es wird ja auch propagiert, es werde Geld gekürzt,
und dann ist doch klar, dass die Beschäftigten glauben,
sie bekämen weniger als bisher. Die Regelungen in diesem Krankenhausfinanzierungsreformgesetz sind mit
der Pflege abgestimmt. Wir haben einen Pflegegipfel
veranstaltet. Wir brauchen keine Proteste zu sammeln,
sondern die Bundesregierung setzt sich mit denjenigen,
die Probleme haben, an einen Tisch und versucht, die
Probleme zu lösen.
({1})
Ihr Kollege hat vor einer Stunde hier gegen die Erhöhung der Beiträge gewettert, die wir aber brauchen, um
das finanzieren können.
({2})
Wir haben auch auf die Pflege Rücksicht genommen,
als uns gesagt wurde: Das ist eine gute Idee von euch,
70 Prozent refinanzieren, 21 000 Stellen. Wir haben vielleicht Probleme in den Krankenhäusern, und es wäre
besser, ihr würdet höher finanzieren, damit tatsächlich
eingestellt wird. - Das ist der Grund dafür, dass wir in
einem Änderungsantrag gesagt haben: Ja, wir wollen,
dass Pflege entlastet wird.
Insofern, Frau Kollegin, kann ich sagen: Wir hatten
einen Pflegegipfel, wir haben alles mit dem Deutschen
Pflegerat besprochen. Der Deutsche Pflegerat, die Gewerkschaft Verdi und andere aus Wissenschaft, Krankenhäusern und Krankenkassen sind bei uns beteiligt,
sodass wir gemeinsam Lösungen finden, etwa dazu, wie
die neuen Pflegestellen in die Fallpauschalen einfließen
können, ob Pflege dort berücksichtigt ist. Deshalb bitte
ich Sie, beim nächsten Mal, wenn Sie erzählen, was alles
in diesem Gesetz steht, die Pflegekräfte zu beruhigen,
anstatt Menschen aufzuhetzen. Damit wird man dem,
was hier gemacht wird, nicht gerecht.
({3})
Frau Ministerin, ich bitte Sie, bald zum Schluss zu
kommen.
Ich bin schon fast am Schluss. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen, der Gesetzentwurf eröffnet den Krankenhäusern neue Chancen, weil wir über die Finanzierung
hinaus auch zukunftsweisende Strukturveränderungen
auf den Weg bringen.
({0})
Wir wollen, dass die Arbeit angemessen bezahlt wird,
dass Beschäftigung gesichert wird und neue Qualifikationen ermöglicht werden. Das dient einer besseren Versorgung der Patientinnen und Patienten, und das ist das
entscheidende Ziel der Bundesregierung und der Koalition. Wir möchten, dass kranke Menschen in Deutschland
optimal behandelt werden.
Vielen Dank.
({1})
Sevim Daðdelen Sevim Dağdelen
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Frank Spieth.
({0})
Kollege Spahn, es ist in der Tat so, dass ich noch eine
Rede halte, aber ich habe keine Lust, meine Redezeit mit
einer Entgegnung auf eine Falschdarstellung zu verschwenden. Deshalb muss ich die Möglichkeit haben,
hier zu entgegnen, wenn ich falsch zitiert werde.
({0})
Frau Ministerin, Sie haben eben behauptet, ich hätte
vorhin gesagt, wir würden die zusätzlichen Leistungen
für die Krankenhäuser ablehnen; weil wir die Beitragserhöhung kritisieren, würden wir faktisch auch die Leistungen ablehnen.
({1})
Genau das Gegenteil habe ich gesagt. Ich habe gesagt:
Wir begrüßen sehr wohl, dass mehr Geld für Krankenhäuser und für Ärzte bereitgestellt wird.
({2})
Wir sind allerdings dagegen, dass dies so unsolidarisch
und unsozial finanziert wird wie über diesen Gesundheitsfonds. Das war mein Petitum.
({3})
Frau Ministerin, bitte schön!
Herr Kollege, ich habe eben darauf hingewiesen, dass
man sich auch als Opposition einmal entscheiden muss.
Man kann über grundsätzliche Reformen nachdenken,
aber in der Zwischenzeit, bis man zu grundsätzlichen
Reformen kommt, wozu man auch Mehrheiten braucht,
muss man durch Reformen das System funktionsfähiger
machen und auch die Finanzierung nachhaltig verbessern. Man kann nicht den Beschäftigten sagen: Weil wir
unsere Idealform einer Krankenversicherung noch nicht
haben, können wir auch keine zusätzlichen Leistungen
finanzieren.
Ich habe Ihre Kollegin darauf hingewiesen, dass Sie
uns heute Nachmittag bei der Debatte um den Gesundheitsfonds noch dafür kritisiert haben, dass wir den Beitragsatz auf 15,5 Prozent angehoben haben. Die Erhöhung
brauchen wir aber, wenn wir die Mehraufwendungen
finanzieren wollen.
({0})
Da kann man nicht sagen: Wir wollen mehr Leistungen,
aber über Geld reden wir nicht. Vielmehr machen wir
euch von der Regierung dafür nieder, dass ihr auch noch
darauf hinweist, dass man Geld für die Finanzierung
braucht. - Wir sind eben solide.
({1})
Wenn wir etwas zusagen, sorgen wir auch dafür, dass es
finanziert werden kann.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Daniel Bahr von der
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Gesundheitswesen ist der größte Arbeitgeber in Deutschland. In vielen Regionen, in vielen
Städten ist ein Krankenhaus der größte Arbeitgeber. Die
hohe Anzahl an Beschäftigten in einem Krankenhaus
führt dazu, dass etwa 60 bis 70 Prozent der Kosten in einem Krankenhaus Personalkosten sind.
Frau Ministerin Schmidt hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Krankenhäuser Hightechunternehmen sind, dass
das Gesundheitswesen angesichts einer alternden Bevölkerung ein Wachstumsmarkt ist. Nur nennen Sie mir einen
Wachstumsmarkt, der sein Wachstumspotenzial wirklich
entfalten kann, wenn er staatlich bzw. planwirtschaftlich
organisiert wird! Genau das ist das Problem. Sie geben
dem Wachstumsmarkt Gesundheitswesen gar nicht die
Freiheiten, die das Gesundheitswesen braucht, um seine
Wachstumspotenziale angesichts einer alternden Bevölkerung entfalten zu können.
({0})
Mit immer mehr Vorgaben, mit immer detaillierteren
Vorgaben, mit immer mehr Bürokratie nehmen Sie den
Krankenhäusern die Freiheitsgrade.
({1})
Warum beschweren sich denn die Pflegekräfte? Warum
beschweren sich denn die Ärzte? Sie erleben täglich im
Gesundheitswesen und insbesondere in den Krankenhäusern, dass sie mit ihrer Arbeit immer weniger zufrieden
sind, dass sie immer unmotivierter sind. Das sind die
Folgen Ihrer Politik, Frau Schmidt. Sie sind seit Januar
2001 Gesundheitsministerin. Sie können sich nicht aus
der Verantwortung stehlen. Sie haben seit mindestens sieben Jahren die Verantwortung für die Gesundheitspolitik.
All die Maßnahmen, über die wir gleich noch diskutieren,
haben Sie als Gesundheitsministerin zu verantworten.
Dass die Motivation derer, die im Gesundheitswesen tätig
sind, so gering ist bzw. absinkt, kommt daher, dass sie
tagtäglich erleben, dass sie immer weniger Zeit für ihre
eigentliche Aufgabe, nämlich die Versorgung der Patien21248
Daniel Bahr ({2})
ten, zur Verfügung haben. Das fällt auch in Ihre Verantwortung.
({3})
Sie steigen in adventlicher Zeit geradezu wie ein Engel vom Himmel herunter,
({4})
schütten das Füllhorn aus und versprechen den Krankenhäusern mehr Geld. Wir wollen uns einmal anschauen,
Engel Ulla, wie die Maßnahmen der letzten Jahre aussahen. Was wurde denn hier beschlossen?
({5})
Die Krankenhäuser wurden mit vielem belastet: Umstellung auf die diagnosebezogenen Fallpauschalen,
Abschaffung der Ausbildungsstufe „Arzt im Praktikum“,
Mehrwertsteuererhöhung ohne entsprechenden Ausgleich, Energiekostensteigerung, Verbot von Naturalrabatten für Arzneimittel, Neueinstellung von Ärzten aufgrund
der Umsetzung des Arbeitszeitgesetzes, Anschubfinanzierung für die integrierte Versorgung - auch diese entzog
den Krankenhäusern zunächst Geld. Nach den Belastungen der letzten Jahre kommt man bei der jüngsten
Gesundheitsreform nicht etwa auf die Idee, den Krankenhäusern mehr Spielräume zu eröffnen und mehr Geld zu
geben.
({6})
Nein, zu Beginn der Legislaturperiode haben Sie von
Schwarz-Rot darüber hinaus beschlossen, den Krankenhäusern mittels eines Sondersparopfers noch zusätzlich
Geld wegzunehmen: Von jeder Rechnung, die ein Krankenhaus stellte, mussten 0,5 Prozent abgezogen werden.
Das war Ihre Antwort auf die Mehrbelastung der Krankenhäuser in den letzten Jahren.
({7})
Jetzt tun Sie hier so, als ob Sie Geschenke verteilen und
den Krankenhäusern etwas Gutes tun, indem Sie ihnen
3,5 Milliarden Euro mehr versprechen. Dabei geben Sie
den Krankenhäusern gerade einmal anteilig das zurück,
was Sie den Krankenhäusern durch die Mehrbelastungen,
die Sie ihnen in den letzten Jahren aufgebürdet haben, genommen haben. Das, meine Damen und Herren, ist nicht
die Verlässlichkeit, die Hightechunternehmen in einem
Wachstumsmarkt brauchen.
({8})
Das ist vielmehr eine Gesundheitspolitik, bei der nach
politischem Gusto zugeteilt wird.
Schauen wir uns die Maßnahmen einmal konkret an!
Sie versprechen, mehr Geld für Pflegekräfte zu geben.
({9})
Natürlich gibt es Krankenhäuser, die Pflegestellen abgebaut haben. Natürlich gibt es auch Krankenhäuser, die
gar keine finanziellen Möglichkeiten haben, um neue
Pflegestellen zu schaffen. Das bestreiten wir ja gar nicht.
Diese Probleme sehen wir teilweise auch. Nur bestrafen
Sie jetzt die Krankenhäuser, die in den letzten Jahren
trotz wirtschaftlich schwieriger Situation keine Pflegestellen abgebaut haben.
({10})
Sie fördern nämlich nur die, die neue Pflegestellen
schaffen. Das heißt, ein Krankenhaus, das in den letzten
Jahren Pflegestellen abgebaut hat, bekommt jetzt Geld
dafür, dass es diese wieder aufbaut. Ein Krankenhaus,
das trotz schwieriger Situation keine Stellen abgebaut
hat, in dem die Mitarbeiter vielleicht auch auf Geld verzichtet haben, um einen Beitrag zum Erhalt der Stellen
zu leisten, profitiert jetzt nicht davon. Ist das Verlässlichkeit? Ist das im Sinne der Unterstützung der Krankenhäuser? Ich meine, nein.
({11})
Das Sparopfer, das ich eben erwähnt habe, macht für
die Krankenhäuser genau 220 Millionen Euro pro Jahr
aus. So viel haben Sie den Krankenhäusern pro Jahr
weggenommen.
({12})
Das Geld, das Sie den Krankenhäusern jetzt für die Pflegestellen versprechen, macht genau 230 Millionen Euro
aus. Das heißt, was Sie hier vollmundig als eines Ihrer
tollen Programme, als Pflegestellenprogramm, verkaufen, ist nichts anderes als der Versuch, den Krankenhäusern das Geld wiederzugeben, das Sie ihnen in den letzten Jahren jeweils weggenommen haben. Das erfolgt
auch noch staatsdirigistisch, statt dass Sie den Krankenhäusern die Freiheit lassen, das Geld so auszugeben, wie
sie es für sinnvoll halten.
Möglicherweise - das weiß ich aus vielen Besuchen,
und Ihnen wird es genauso gehen - brauchen manche
Krankenhäuser wegen der Neuregelung des Arbeitszeitgesetzes eher neue Ärzte, die sie auf dem Markt häufig
nicht mehr finden, weil dieser leergefegt ist oder die
Ärzte nicht bereit sind, im Krankenhaus zu arbeiten. Das
heißt, hier fördern Sie nur mit einem Programm. Nach
der Logik müssten Sie im nächsten Jahr das nächste Programm auflegen, ein 5 000-Ärztestellen-Programm,
dann ein Programm für die Dokumentare und noch eines
für die Verwaltung. Das sind alles planwirtschaftliche
Ansätze, dirigistische Vorgaben.
({13})
Geben Sie den Krankenhäusern die finanziellen Möglichkeiten! Das kann und sollte ein scharfer Wettbewerb
sein. Aber die Krankenhäuser sollten die größtmöglichen Freiheiten haben, um in diesem Wettbewerb bestehen zu können.
Daniel Bahr ({14})
({15})
Nach der Einführung des Einheitsbeitragssatzes für
die Krankenkassen und der Einheitsabgabepreise bei
Arzneimitteln wollen Sie diesen Weg jetzt noch weiter
gehen, indem Sie Einheitspreise bei der Vergütung für
Krankenhäuser vorgeben. Sie haben vom Einheitsbasisfallwert gesprochen.
({16})
- Genau, bundesweit. - Ist das sinnvoll? Sind nicht die
Unterschiede in den Krankenhäusern eklatant? Ein
Krankenhaus in München hat ganz andere Kosten - Arbeitskosten, Energiekosten - als ein Krankenhaus in der
Fläche, zum Beispiel bei mir in Gronau im Kreis Borken.
({17})
Wie wollen Sie das mit Einheitspreisen berücksichtigen?
Damit können Sie doch nicht den wirklichen Anforderungen im Gesundheitswesen gerecht werden.
({18})
Solche Bundesbasisfallwerte können allenfalls Orientierungspunkte sein; aber die Verhandlungspartner sollten größtmögliche Freiheiten haben, um vor Ort die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Einheitspreise
und solche staatsdirigistischen und planwirtschaftlichen
Vorgaben, wie wir sie leider auch in diesem Gesetzentwurf erleben, lösen die Probleme, die ein Wachstumsmarkt im Gesundheitswesen hat, überhaupt nicht, sondern verschärfen sie.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Zöller von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
hätte nicht gedacht, dass ich in diesem Hohen Haus einmal erleben muss, dass die Linke und die FDP gleichermaßen argumentieren. Sie wollen den Gesundheitsmarkt
stärken - dafür sind auch wir -, sind aber nicht bereit,
das Geld dafür zur Verfügung zu stellen.
({0})
Sie wollen die Leistungen ausbauen, sind aber nicht bereit, das Geld dafür zur Verfügung zu stellen.
({1})
Wer mehr Leistung will, muss den Leuten auch sagen,
dass das nicht zum Nulltarif geht.
({2})
Bei aller Kritik: Heute ist ein guter Tag für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Krankenhäusern und
damit auch für die Patienten in den Krankenhäusern.
({3})
Mit dem finanziellen Hilfspaket werden den Krankenhäusern im kommenden Jahr ungefähr 3,5 Milliarden
Euro mehr zur Verfügung gestellt. Die Hälfte der Tariflohnerhöhung wird damit finanziert. Außerdem wird den
Krankenhäusern ermöglicht, bis zu 17 000 Pflegerinnen
und Pfleger neu einzustellen. Das wird durch eine 90-prozentige Finanzierung der Kosten durch die GKV gewährleistet. Das ist eine deutliche Verbesserung.
Es geht uns aber nicht nur um kurzfristige Verbesserungen, sondern wir gehen weiter, indem wir den Krankenhäusern auch mittelfristig bessere Perspektiven eröffnen.
({4})
So soll die Anbindung an die Grundlohnentwicklung beendet werden. Wir wollen hier einen neuen Orientierungswert schaffen, der die krankenhausspezifischen
Kosten sachgemäßer abbildet.
Auch ein Vorschlag zur Entwicklung leistungsorientierter Investitionspauschalen ist in diesem Gesetzentwurf enthalten. Hier wollen wir die Länder stärker mit in
die Verantwortung nehmen. Denn es kann nicht sein,
dass manche Krankenhäuser nur deshalb nicht wirtschaftlich arbeiten können, weil über Jahre hinweg die
notwendigen Investitionen von den Ländern nicht getätigt wurden
({5})
und die Krankenhäuser Geld, das sie eigentlich für den
Betrieb gebraucht hätten, für Investitionen eingesetzt haben.
({6})
Die Verbände der Krankenhäuser sagen, dies sei nicht
hinreichend, während die Krankenkassen die Mehrausgaben monieren. Trotz dieser Kritik sollten wir die Verbesserungen, die dieser Gesetzentwurf mit sich bringt,
nicht kleinreden. Es sind wesentliche Verbesserungen
für unsere Krankenhäuser.
Die Forderungen der Krankenkassen, die vorgesehenen Mittelsteigerungen zu reduzieren oder gar eine neue
Budgetierung einzuführen, haben wir nicht mitgetragen.
Ich bin froh darüber, dass wir das in der Koalition so geschafft haben. Dies gilt auch für die Forderung, die Ge21250
winne der Krankenhäuser aus der letzten Konvergenzstufe mit dem Hilfspaket zu verrechnen.
Die Koalition hat die politischen Zusagen gegeben,
dass erstens die Tariflohnanhebungen bis zu 50 Prozent
gegenfinanziert werden, dass zweitens die Anpassung
der Fallwerte auf einen einheitlichen Landesbasisfallwert zugunsten der Krankenhäuser umgesetzt wird, wie
es im Gesetz vorgesehen ist, und dass drittens das Morbiditätsrisiko von den Krankenhäusern auf die Krankenkassen verlagert wird, was eine wesentliche Verbesserung für die Krankenhäuser darstellt.
({7})
Wir haben uns an unsere Zusagen gehalten. Trotzdem
haben wir mit dem Gesetzentwurf erreicht, dass die
3,5 Milliarden Euro eingehalten werden können. Die Refinanzierung der Tariflohnerhöhungen haben wir auf die
einzelnen Krankenhäuser bezogen, die wirklich mehr
Lohn gezahlt haben. Des Weiteren haben wir die Anpassung der Fallwerte auf zwei Jahre gestreckt. Das ist richtig. Die Vergütung der Mehrleistungen haben wir nicht
pauschal gekappt; vielmehr wird das krankenhausindividuell gestaffelt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit diesem
Ergebnis haben wir einen guten und auch gegenüber den
Krankenhäusern und Krankenkassen vertretbaren Ausgleich der Interessen erreicht. Für die Krankenhäuser
und damit auch für die stationäre Versorgung der Patienten haben wir für die nächsten Jahre damit eine bessere
finanzielle Grundlage geschaffen.
({8})
Auch hier hat sich wieder einmal gezeigt, dass die
Koalition bei wichtigen Fragen gute Ergebnisse zustande
bringt.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat Herr Kollege Frank Spieth von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Auch durch noch so häufige
Wiederholungen wird eine falsche Aussage nicht richtig.
({0})
Tatsache ist, dass wir gesagt haben, dass wir mehr Geld
für die Krankenhäuser brauchen. Allerdings sind wir der
Auffassung, dass Sie das so, wie Sie das mit dem Gesundheitsfonds realisieren, unsozial finanzieren - zulasten der Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen. Dabei bleibt es.
({1})
- Im Übrigen empfehle ich einen Blick ins Protokoll.
Dort können Sie es nachlesen. Vielleicht haben Sie einfach nicht zugehört.
In den letzten Jahren haben die Krankenhäuser zu wenig Geld bekommen. Das stimmt. Die Folge war, dass
eine größere Anzahl von Krankenhäusern schließen
musste. Aktuell droht jedem dritten Krankenhaus die
Schließung.
Parallel zur finanziellen Notlage hat eine radikale
Ökonomisierung der Krankenhäuser stattgefunden. Alles muss sich rechnen. Es werden immer mehr Patienten
in immer kürzerer Zeit durchgeschleust. Viele Patienten
empfinden dies mittlerweile als inhumane Fließbandmedizin.
Eine gnadenlose Ökonomisierung der Krankenhäuser
führt mehr und mehr zur Zweiklassenmedizin und außerdem zur maximalen Ausbeutung der Arbeitskraft von
Krankenschwestern, Krankenpflegern und Ärzten. Die
Folge ist, dass immer weniger Mitarbeiter im Gesundheitswesen regulär in Rente gehen, sondern vorher durch
Krankheit ausscheiden. Das schlägt auch auf die Behandlung von Patienten durch.
Das haben Sie von der Koalition erkannt. Insofern begrüßen wir Ihren Gesetzentwurf; denn Sie machen damit
deutlich, dass Sie wie die Linke dringenden Handlungsbedarf sehen. Ihr Gesetzentwurf geht durchaus in die
richtige Richtung. Leider sind die Schritte aus unserer
Sicht aber zu kurz. Die strukturellen Probleme der Krankenhäuser werden nur unzureichend in Angriff genommen.
Als wir im März den Antrag der Linken mit dem Titel
„Aktuelle Finanznot der Krankenhäuser beenden“ diskutiert haben, haben Sie unseren Vorschlag noch abgelehnt.
({2})
Es war wohl koalitionspolitisch motiviert, dass die
CDU/CSU damals sagte, sie müsse diesen Antrag leider
ablehnen.
Absolut unverständlich war die Position der SPD, die
damals zum Ausdruck brachte, dass sie ihn in vollem
Bewusstsein ablehne. Bei einer solchen sozialdemokratischen Gratwanderung kann man sich angesichts des vorliegenden Gesetzentwurfes eigentlich nur noch verwundert die Augen reiben. Es ist ein Glück für die
Krankenhäuser, dass die SPD nach der Devise: „Was
kümmert uns unser Geschwätz von gestern?“ zu einer
180-Grad-Wende fähig ist. Ich habe den Eindruck: Ohne
die Demonstration der 130 000 Krankenhausangestellten
vor dem Brandenburger Tor hätte dieser Lernprozess so
nicht stattgefunden.
({3})
Sie haben die Kernforderung nach Finanzierung der
Tariferhöhungen, nach Schaffung von mehr Stellen und
Zahlung von mehr Geld aufgenommen; leider, wie gesagt, nicht in vollem Umfang. Nehmen wir zum Beispiel
die Übernahme der Tariferhöhungen. Diese wollen Sie
jetzt nur zu 50 Prozent finanzieren. Die anderen 50 Prozent sollen die Häuser also wie bisher aus dem laufenden
Betrieb decken.
({4})
Aber wie soll das funktionieren, ohne dass dabei weitere
Arbeitsplätze abgebaut werden? Denn die Sachkosten,
etwa die Kosten für Strom und Wasser, für Nahtmaterial
oder Blutkonserven, sind in den Krankenhäusern unbeeinflussbare feste Kosten.
({5})
Die Stellschraube kann also erneut nur bei den Personalkosten sein. 65 Prozent der Kosten eines Krankenhauses entfallen auf die Löhne und Gehälter der Angestellten.
({6})
Deshalb muss fast zwangsläufig mit einem weiteren Personalabbau gerechnet werden, um so die 50 Prozent, die
fehlen, zu finanzieren. Das machen wir nicht mit.
({7})
Ich begrüße, dass Sie zusätzlich 16 000 Stellen für
Krankenschwestern und Krankenpfleger schaffen
({8})
und diese jetzt zu 90 Prozent finanzieren wollen. Aber
sehen nicht auch Sie die Gefahr, dass dieser Effekt durch
die unzureichende Finanzierung der Tarifanpassung, wie
vorhin genannt, wieder verpufft? Sehen Sie nicht auch,
dass wir mit dieser Maßnahme zwar einen Teilausgleich,
aber in keiner Weise einen Ausgleich für die 110 000
Stellen, die in den letzten zehn Jahren abgebaut wurden,
erreichen können?
Höchst erstaunlich ist, dass Sie keine konkreten Maßnahmen zum Abbau des Investitionsstaus in Höhe von
50 Milliarden Euro vorschlagen. Da bleiben Sie sehr
wolkig. Wir haben in den Haushaltsberatungen 2009
konkrete Vorschläge zur Auflösung des Investitionsstaus
gemacht. Wir hatten beantragt, dass der Bund im Rahmen eines Zukunftsinvestitionsprogramms in den nächsten zehn Jahren jährlich 2,5 Milliarden Euro aufbringen
soll. Leider wurde unser Antrag, wie üblich, von einer
Allparteienkoalition am 27. November niedergestimmt.
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Mittel, die
noch vor vier Wochen in diesem Haus gefehlt haben,
jetzt offenkundig zur Verfügung gestellt werden sollen,
nämlich im Rahmen des kommenden Konjunkturprogramms. Späte Erkenntnis, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition, ist besser als keine Erkenntnis. Herzlichen Glückwunsch!
Fazit: Ihr Gesetzentwurf zielt in die richtige Richtung,
reicht aber nicht aus, um eine gute Versorgung für jeden
sicherzustellen. Wir wollen jedoch, dass alle Chancen
genutzt werden, um die Krankenhäuser besserzustellen.
Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung enthalten.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Harald Terpe vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren Besucher! - Es sind nur noch
wenige da. - Der heute zur Abstimmung vorliegende
Entwurf eines Krankenhausfinanzierungsreformgesetzes ist meiner Meinung nach mehr Verpackung als Inhalt. Der Titel ist eine grobe Irreführung; denn es sind
kaum konkret wirksame Maßnahmen einer ordnungspolitisch nachhaltigen Reform der Krankenhausfinanzierung enthalten. Der Titel des Gesetzentwurfes suggeriert
etwas anderes. Wenn überhaupt, gibt es vorwiegend
vage Absichtserklärungen, Appelle oder Prüfaufträge.
Ich meine, ohne verbindliche Festlegungen zur Nachhaltigkeit haben die mit viel Selbstlob in Aussicht gestellten 3,5 Milliarden Euro eher den Charakter eines Almosens,
({0})
allerdings mit dem Unterschied, dass mit Teilen des Almosens, nämlich 0,5 Milliarden Euro - der Sanierungsbeitrag -, den Krankenhäusern nur etwas zurückgegeben
wird, was die Koalition ihnen zuvor genommen hat.
Mindestens weitere 1,25 Milliarden Euro Mehreinnahmen stehen den Krankenhäusern 2009 nach Ihrem
Finanztableau aufgrund bestehender Gesetze ohnehin
zu: 750 Millionen Euro durch die Grundlohnratensteigerung und 500 Millionen Euro durch kalkulierte Leistungssteigerungen. Diese Mehreinnahmen haben nichts,
aber auch gar nichts mit diesem Gesetzentwurf zu tun.
Das gilt wohl auch für die 300 Millionen Euro Mehreinnahmen durch das Ende der Konvergenz. Wem angesichts dessen nicht das Wort Mogelpackung für dieses
Gesetz einfällt, der muss schon ziemlich ahnungslos
sein.
({1})
Was ist nun an konkreten, mit finanziellen Zusatzmitteln untersetzten ordnungspolitischen Maßnahmen im
Gesetzentwurf enthalten? Ich komme auf nur
0,5 Milliarden Euro. Das betrifft zum Beispiel die von
uns begrüßte Verbesserung der Ausbildungsfinanzierung
und die zusätzlichen Mittel für die Psychiatrie. Die im
Gesetz vorgesehene Umstellung der Psychiatriefinanzierung wird hoffentlich mit einer Hinwendung zu modernen integrativen Ansätzen in der stationären und teilstationären Psychiatrie und einer Modernisierung der
Psychiatrie-Personalverordnung verbunden sein. Bezüglich der Situation der Pflegekräfte wird mit dem im Gesetz enthaltenen Stellenprogramm zumindest Problem21252
bewusstsein signalisiert. Das ist anzuerkennen. Es sind
aber auch Fehlanreize für Krankenhäuser vorprogrammiert, nach dem Motto: Erst saniere ich mich durch Personalabbau, und dann lasse ich mir die Einstellung neuer
Pflegekräfte von der Solidargemeinschaft bezahlen.
({2})
Auch die Kofinanzierung der Tariflohnsteigerung ist nötig, aber sicherlich keine ordnungspolitische Maßnahme.
Bei der Bewertung des Gesetzentwurfs ist für uns die
Frage entscheidend, was unter dem Gebot einer nachhaltigen Krankenhausfinanzierung ordnungspolitisch notwendig gewesen wäre. Hier bleibt das Gesetz mut- und
kraftlos. Auch in der Gesundheitspolitik gilt ganz offensichtlich der Satz: Große Koalitionen lösen keine großen
Probleme, nicht einmal kleine, sondern keine.
({3})
Nehmen wir das Beispiel Investitionsfinanzierung;
denn da wird es offensichtlich. Das Gesetz sieht keine
belastbare Regelung vor, die die Länder in irgendeiner
Weise reizen oder zwingen würde, den Investitionsstau
zu beseitigen.
({4})
Ich denke in diesem Zusammenhang vor allen Dingen
daran, dass die Große Koalition nicht nur im Bund besteht; mir fallen kaum Länder ein, wo SPD oder CDU
nicht den Ministerpräsidenten stellen.
({5})
Wenn die Länder den Abbau der Investitionsmittel
mit der gleichen Geschwindigkeit wie bisher fortsetzen,
dann sind wir 2020 bei 0 Euro für Investitionen. Ob die
Krankenhäuser dann 0 Euro einzeln oder pauschal bekommen, wird keinen interessieren.
({6})
Zweites Beispiel: Krankenhausbudgetierung. Wir
sind uns einig, dass die Grundlohnrate derzeit kein geeignetes Instrument ist, um die Krankenhauspreise fortzuschreiben.
({7})
Die Art, wie Sie diese Erkenntnis ins Gesetz geschrieben
haben, offenbart zwei zentrale Defizite Ihrer bisherigen
Gesundheitspolitik: Sie haben erstens keine Reform zur
Verbesserung der Einnahmesituation der gesetzlichen
Krankenkassen zustande gebracht. Eine große Koalition
löst große Probleme? - Fehlanzeige!
({8})
Das zweite Defizit ist Ihr übergroßer Hang zu einer zentralistischen Gesundheitspolitik. Das drückt sich zum
Beispiel darin aus, dass das Gesundheitsministerium
darüber entscheiden soll, ob sich der durch das Statistische Bundesamt ermittelte Orientierungswert für den
Krankenhauspreisindex vollständig, nur zu einem Teil
oder vielleicht auch gar nicht auf die Krankenhauspreise
auswirken wird. An die Stelle des alten Budgetdeckels
tritt also ein neuer, den Sie nach Belieben bestimmen
können. Das ist alles andere als eine Verbesserung der
Planungssicherheit der Krankenhäuser.
Alles in allem können wir diesem Gesetzentwurf
nicht zustimmen, weil der Inhalt keiner nachhaltigen
Krankenhausfinanzierungsreform entspricht.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Eike Hovermann von
der SPD-Fraktion.
({0})
Ich soll alle schelten, habe ich gerade gehört. Aber
alle will ich gar nicht schelten, weil auch viel Gutes gesagt worden ist.
Worum geht es? In fünf Minuten hat man kaum genügend Zeit, ein Problem umfassend darzustellen. In wenigen Akzenten zusammengefasst: Es geht um
3,5 Milliarden Euro mehr.
({0})
Herr Baum hat gesagt: Das sind sieben Prozent mehr als
in den vergangenen Jahren; eine solche Steigerung gab
es noch nie. In einer abschließenden Bemerkung zu dem
errungenen Gesamtpaket verstieg er sich sogar zu dem
Hinweis: Letztendlich ist ein faires und perspektivreiches Konzept zustande gekommen.
({1})
Natürlich hätten wir uns mehr erwartet; aber es ist perspektivvoll und letztendlich fair. Dass wir möglicherweise in den nächsten Jahren das eine oder andere neu
beraten müssen - wir leben ja alle von Annahmen; wir
wissen nicht, wie die wirtschaftliche Entwicklung sein
wird -, ist natürlich selbstverständlich.
Hier in der Diskussion wird vergessen, dass wir im
Gesundheitsausschuss nicht ausschließlich für Krankenhausfinanzierung zuständig sind. Vielmehr geht es um
ein Gesamtkonzept, um den ganzen Versorgungsbereich
vom Krankenhaus über ambulante Behandlung und Ergotherapie bis hin zur Arzneimittelbehandlung, oder wie
- jetzt hätte ich beinahe „Genosse“ gesagt ({2})
Kollege Faust sagt, um eine Sicherheitsarchitektur, innerhalb derer perspektivisch Sicherheit gegeben wird.
Das wird aus der Sicht der Krankenhausträger mit diesen
3,5 Milliarden Euro geleistet.
Mich hat folgende Bemerkung sowohl von Herrn
Bahr als auch in den vergangenen Diskussionen von
Herrn Spieth sehr interessiert: Wir müssen die Länder zu
einer Investitionsfinanzierung zwingen.
({3})
Verehrter Herr Kollege Terpe, ein Blick ins Grundgesetz
reicht eigentlich, um zu wissen, dass wir diesen Zwang
nicht ausüben können. Wenn von Herrn Spieth jetzt der
Hinweis kommt, Sie hätten in den vergangenen Wochen
oder Monaten - ich weiß es nicht ganz genau - ein
50-Milliarden-Euro-Programm vorgeschlagen - das haben Sie eben gesagt -, dann erinnere ich nur daran, dass
50 Milliarden Euro entweder fünf Beitragspunkte oder
eine Mischfinanzierung bedeuten.
({4})
- Aber es bleiben 50 Milliarden Euro.
({5})
Herr Spieth, lassen Sie mich ausreden. Sie entlassen
damit die Länder aus ihrer Pflicht, etwas zu tun.
({6})
Sie wurde festgeschrieben, weil wir Sicherstellung und
Krankenhausplanung wollen. Die Länder haben sich
kontinuierlich aus dieser Finanzierung herausgezogen.
Im Übrigen wurde seinerzeit in Mecklenburg-Vorpommern die Finanzierung kontinuierlich degressiv heruntergefahren; da war Frau Dr. Bunge sogar Gesundheitsministerin. In Berlin ist es ebenso gewesen. Das gilt auch
für Herrn Bahr in etwas verdrehter Art und Weise. Sie
können hier mehr Geld für den Hightechstandort Krankenhaus fordern, für Implantationen und Innovationen,
aber die Regierung in Nordrhein-Westfalen unter maßgeblicher Beteiligung der FDP hat nichts anderes getan,
als die Investitionen weiter abzustufen.
({7})
Man kann hier nicht folgendes Konzept verfolgen: Im
Bund fordern wir mehr Geld, weil wir in der Opposition
sind, und da, wo wir in Verantwortung sind, kürzen wir
die notwendigen Gelder, damit der Krankenhausbereich
saniert wird.
({8})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch Folgendes sagen: Wir haben um das 3,5-Milliarden-Euro-Paket sehr
gerungen. Es war ja ursprünglich - so geht es jedenfalls
aus einem Brief des Bundeskanzleramtes hervor - von
einer kleineren Lösung in Höhe von 1,5 Millionen Euro
die Rede,
({9})
wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Es mag ja sein,
dass ich den Brief von Hilde Müller falsch gelesen habe;
({10})
da steht es jedenfalls drin. Unter Führung der Ministerin
und in gemeinsamer Anstrengung haben wir uns dann
aber nicht an einen Brief des Bundeskanzleramtes gehalten, sondern gesagt, dass wir 3,5 Milliarden Euro brauchen. Das hat uns und den Krankenhäusern natürlich geholfen. Wenn es aufgrund der Finanzkrise in den
nächsten Jahren zu möglichen weiteren Belastungen
kommt, werden wir darüber sprechen müssen.
Ich bitte, verbunden mit Dank an alle, die wir manchmal auch donnerstags, freitags, samstags und sonntags
unter viel Mühen und auch Pressionen mitgearbeitet haben, um Annahme des vorliegenden Paketes von
3,5 Milliarden Euro, das wir gemeinsam geschnürt haben. Mein Dank geht auch an das Ministerium. Kein
Dank geht an diejenigen, die jetzt dagegen sind, dass die
Krankenhäuser mehr Geld bekommen.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({11})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Hans Georg Faust
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Am 25. September dieses Jahres Sie erinnern sich - demonstrierten 130 000 Krankenhausmitarbeiter vor dem Brandenburger Tor, um auf ihre
Arbeitssituation und die aus ihrer Sicht katastrophale Finanzlage der deutschen Krankenhäuser aufmerksam zu
machen.
({0})
Wer die Arbeitssituation in deutschen Krankenhäusern
von innen kennt und insbesondere die Entwicklungen
der letzten Jahre verfolgt hat, kann diese Proteste nachvollziehen.
({1})
Die Einführung der Fallpauschalen, die nachfolgende
Konvergenzphase und die Forderungen nach Rationali21254
sierung und Effizienzsteigerung haben die Arbeitswelt
im Krankenhaus grundlegend verändert.
Der Patient bleibt im Durchschnitt nur noch acht
Tage. Immer kompliziertere Diagnostiken und Therapien
sollen immer schneller durchgeführt werden. Die Arbeit
verdichtet sich. Sie verlagert sich von den Bettenstationen in die Funktionsbereiche, die Operationssäle, die
Endoskopie, die Röntgenabteilung, das Herzkatheterlabor. Zehntausende von Pflegestellen sind abgebaut. Die
Zahl der Ärzte - auch das ist eine Folge des modernen
Krankenhausalltags - ist im Wesentlichen gleich geblieben.
Eigentlich benötigen wir noch mehr Personal. Im Bereich der Ärzte finden wir es schon jetzt nicht mehr. Kliniken suchen verzweifelt Chefärzte, Oberärzte und Assistenzärzte. Die Bundesagentur für Arbeit sagt uns, dass
wir für ein Einstellungsprogramm nicht einmal die
Hälfte der benötigten Krankenschwestern finden würden.
Dennoch: Mit Blick auf die steigenden Beiträge der
Versicherten hat der Bundesgesetzgeber richtig gehandelt, als er Strukturveränderungen in der Krankenhauslandschaft einleitete. Die Einführung der Fallpauschalen,
der Einstieg in die fünfjährige Konvergenz, die Betonung der Qualität im Krankenhaus über Qualitätssicherung und jetzt die Fortsetzung dieses Prozesses durch einen neuen ordnungspolitischen Rahmen haben das Ziel
einer Versorgungslandschaft, in deren Mittelpunkt der
Patient steht.
Gut beraten durch seinen Hausarzt fragt er zunehmend die Leistungen moderner Medizin nach, die spezialisiert und mit hoher Qualität nur in vernetzten Systemen mit erheblichem, auch finanziellem Aufwand zur
Verfügung gestellt werden können. Noch sind wir weit
davon entfernt, über das Krankenhaus hinaus sektorübergreifend integrierte Versorgungssysteme breit anzubieten; aber die Grundlagen dafür sind geschaffen.
In vielen Teilen Deutschlands ist die Krankenhauslandschaft geprägt von Kooperationen mit niedergelassenen Haus- und Fachärzten, mit medizinischen Versorgungszentren und Portal- und Praxiskliniken. Sie ist
geprägt von der Nutzung von Synergieeffekten und Spezialisierung unter dem Stichwort „Nicht jeder soll alles
machen“. Sie wird beflügelt durch einen Wettbewerb der
Träger. Aber all dies, was sich so positiv anhört, hat
seine Auswirkungen auf den Arbeitsalltag der Schwestern und Pfleger, der Ärztinnen und Ärzte, und auch
manch ein Patient sehnt sich in die Zeit zurück, als auf
den Stationen Zeit für ein Gespräch am Bett war.
Nun gut, die Schwarzwaldklinikzeiten mit dem Alleskönner Prof. Brinkmann und der heimeligen Atmosphäre gibt es in Ansätzen noch.
({2})
Ich kenne Gegenden in Deutschland, in denen das gute
alte Krankenhaus - 180 Betten, Chirurgie, Innere Abteilung, Gynäkologie/Geburtshilfe und HNO-Belegabteilung - typisch ist. Das nächste Krankenhaus ist 15 Kilometer, das übernächste 30 Kilometer entfernt: unterschiedliche Träger, keine Zusammenarbeit, geringe Fallzahlen in den einzelnen Fachgebieten und Kampf um jeden Patienten.
Die Gesetzgebung der letzten Jahre hat es also nicht
geschafft, die Krankenhauslandschaft den Versorgungsnotwendigkeiten so anzupassen, wie es im Interesse der
Patienten überall im Lande notwendig wäre. Das ist mit
immer knapper werdenden Finanzen, mit dem Druck
von Budgets auch nicht zu schaffen. Denn Budgets sind
zur Steuerung der medizinischen Versorgung genauso
geeignet wie eine Rohrzange zur Reparatur einer Taschenuhr. Unsere Instrumente waren einfach zu grob. In
dieser Erkenntnis beginnen wir mit dem Krankenhausfinanzierungsreformgesetz gegenzusteuern.
Ein positives Ergebnis ist nicht denkbar ohne die Länder. Sie sind verantwortlich für die Investitionsfinanzierung und die Krankenhausplanung. Wenn wir hier in Zukunft auf keine gemeinsame Linie kommen, dann leiden
nicht wir, dann leidet der Patient.
({3})
Beim Krankenhausfinanzierungsreformgesetz war im
Bereich der Investitionsfinanzierung leider nur zu erreichen, dass bis zum Ende des Jahres 2009 Grundsätze
und Kriterien für die Ermittlung eines Investitionsfallwertes auf Landesebene entwickelt werden, damit die
Krankenhäuser ab dem Jahre 2012 leistungsorientiert Investitionspauschalen erhalten können. Auf das Ergebnis
bin ich sehr gespannt.
Wir brauchen mehr junge Ärzte in den Krankenhäusern. Das ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern
auch eine Frage der Art der Weiterbildung. Die Selbstverwaltung wird beauftragt, zu prüfen, ob die Zusatzkosten der ärztlichen Weiterbildung sachgerecht finanziert
sind. Bei einer möglichen Zuschlagsregelung gilt: Nur
wer gut und strukturiert weiterbildet, bekommt Geld.
Aber die Debatte der letzten Wochen entzündete sich
nicht mehr an den Sachinhalten des Krankenhausfinanzierungsreformgesetzes, sondern an der Frage: Wer rechnet sich wie was? Die Krankenkassen befürchteten, zu
viel zu bezahlen, und die Krankenhäuser befürchteten,
zu wenig zu bekommen.
Jetzt ist es definitiv: 3,5 Milliarden Euro mehr sind
zugesagt, und sie werden fließen. Sie werden als Notzelt
den Krankenhäusern helfen, stürmische Zeiten zu überstehen. Zurzeit errichtet die Politik Schutzschirme für
Banken und Industriezweige. Warum soll es also nicht
auch ein Notzelt für die Krankenhäuser geben?
Die Leinwand für das Zelt lag in Form des Kabinettsentwurfs bereit, zugeschnitten durch die Aussagen über
die 3,5 Milliarden Euro mehr für die Krankenhäuser, die
anteilige Refinanzierung der Tarifgehälter und die Folgen der fünfjährigen Konvergenzphase. Mit drei Pfosten
wird das Zelt aufgerichtet.
Pfosten Nr. 1 ist das Finanzvolumen aus dem letzten
Konvergenzschritt, auf das die Krankenhäuser warten.
Diesen Pfosten sollte das Krankenhauszeltdach nach
Auffassung und Rechnung der Krankenkassen überhaupt
nicht bekommen.
Pfosten Nr. 2 ist die anteilige Finanzierung der Tariflohnerhöhungen in Höhe von 50 Prozent.
Pfosten Nr. 3 ist die verhandelbare Höhe der Mehrleistungsvergütung. Hier hatten die Krankenkassen eine
Regelung im Auge, durch die diese Zeltstange jedes Jahr
kürzer geworden wäre. Ein Krankenhaus, das jedes Jahr
gleiche Leistungen erbringt, hätte danach jedes Jahr weniger Geld bekommen.
Ich denke, das Notzelt für die Krankenhäuser hätte
abenteuerlich ausgesehen und nie und nimmer gehalten,
wenn wir das verwirklicht hätten, was die Krankenkassen gewollt haben. Aber auch wir haben zur Sicherheit
Haltetaue an unsere Pfosten gespannt.
Haltetau Nr. 1. Das zugesagte Finanzvolumen für den
letzten Konvergenzschritt wird auf zwei Jahre verteilt,
sodass den Krankenkassen ein Liquiditätsvorteil und uns
eine Reserve für 2009 bleibt.
Haltetau Nr. 2. Die 50-prozentige Refinanzierung der
Tariflohnsteigerung orientiert sich am einzelnen Haus,
das heißt, wer niedrige Steigerungen vereinbart hat, bekommt auch nur entsprechend Geld.
({4})
Haltetau Nr. 3. Mehrleistungen sollen im Jahr 2009
mit Abschlägen verhandelt werden. Mit Blick auf die Sicherheit unserer Zeltkonstruktion ist diese zeitlich begrenzte Abkehr vom Festpreissystem vertretbar.
Alles in allem steht unser Zelt fest und sicher, und es
bietet den Krankenhäusern Schutz. Allerdings ist es darin eng, und die Krankenhäuser werden weiter zusammenrücken müssen. Für orientalische Luxuszelte aus
1001 Nacht haben die Krankenkassen aber kein Geld,
zahlen die Versicherten keine Beiträge und haben die anderen Leistungserbringer im Gesundheitswesen auch
kein Verständnis.
({5})
Abschließend möchte ich aber deutlich machen, dass
wir den Krankenhäusern mit dem Krankenhausfinanzierungsreformgesetz Luft verschaffen, damit sie mit Blick
auf die gemeinsamen Projekte von Bund und Ländern
den Entwicklungsweg gehen können, der für die Versorgung der Patienten und die Diagnose und Therapie ihrer
Krankheiten erforderlich ist.
({6})
Wenn bedarfsnotwendige Krankenhäuser erstickt auf der
Strecke bleiben, dann profitiert niemand davon - am allerwenigsten die Versicherten der Krankenkassen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Zu einer letzten Kurzintervention erteile ich der Kollegin Dr. Martina Bunge das Wort.
({0})
Herr Präsident, danke. - Kollege Hovermann hat behauptet, dass ich als Sozialministerin in MecklenburgVorpommern die Krankenhausinvestitionen verringert
habe. Sie erlauben mir einige Sätze, um hier den Mechanismus des Herangehens darzulegen.
Mecklenburg-Vorpommern stand unter dem Druck
der notwendigen Haushaltssanierung. Sie wissen, dass
die erste rot-rote Regierung natürlich beobachtet wurde.
({0})
Dadurch wurde die Sicherung der Krankenhausinvestitionen schwierig.
({1})
Alle Bundesmittel, die als Fördermittel bereitgestellt
wurden, wurden aber voll und ganz kofinanziert. Deshalb ist die Forderung der Linken heute, ein Bundesprogramm aufzulegen, das in gleicher Höhe von den Ländern kofinanziert wird. Das reizt nämlich zu
Investitionen an. Dadurch könnte der Investitionsstau in
zehn Jahren abgebaut werden.
Danke.
({2})
Herr Hovermann, zur Erwiderung? - Bitte.
({0})
Man kann unter den vielfältigsten Aspekten - auch
unter dem Aspekt der Zusammenführung der beiden
Länder - Zahlen beschönigen. Man kann Zahlen auch
anders als die offiziellen Zahlen lesen, die seit 1990 bekannt sind. Diese offiziellen Zahlen, die man nachlesen
kann, belegen nichts anderes, als dass die Finanzierungen in allen Ländern um 50 Prozent zurückgegangen
sind. Dies gilt für alle Bundesländer, Frau Dr. Bunge,
nicht nur für das, in dem Sie Gesundheits- und Sozialministerin waren; das ist ja nun - Gott sei es geklagt nicht mehr der Fall.
({0})
Daraus ist der Investitionsstau, den Herr Spieth mit
50 Milliarden Euro angegeben hat, entstanden.
Ich denke, man sollte noch einmal einen Blick ins
Grundgesetz werfen; das war auch ein Hinweis aus dem
Forum. Wenn Sie sagen, die Länder sollen gezwungen
bzw. animiert werden, sich hälftig am 50-MilliardenEuro-Projekt zu beteiligen - ich habe Herrn Spieth eben
so verstanden, dass das nur die Bundesbank bezahlen
soll -, dann müssen Sie auch sagen, wo die Länder das
Geld herbekommen sollen.
Ich sage Ihnen: Das ist eine Vision, ein Versprechen,
das die Länder nicht einhalten können, das Sie, Frau
Dr. Bunge, jetzt aber wohlfeil abgeben.
({1})
Herr Kollege Hovermann, sind Sie am Ende Ihrer Er-
widerung? - Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache und teile mit, dass mir
eine persönliche Erklärung nach § 31 der Geschäftsord-
nung der Kollegin Dr. Lale Akgün vorliegt, die wir zu
Protokoll nehmen.1)
Wir kommen jetzt zu den Abstimmungen.
Zunächst einmal stimmen wir über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum ord-
nungspolitischen Rahmen der Krankenhausfinanzierung
ab dem Jahr 2009 ab. Der Ausschuss für Gesundheit
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/11429, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf den Drucksachen 16/10807 und 16/10868 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-
stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 16/11436? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Frak-
tion Die Linke bei Zustimmung der FDP-Fraktion und
bei Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen abge-
lehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/11435? - Gegenstim-
1) Anlage 5
men? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
bei Zustimmung der Fraktion Die Linke mit den Stim-
men aller übrigen Fraktionen abgelehnt.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Verbesserung der Finanzsituation
der Krankenhäuser“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11430, den
Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9057
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der FDP-Frak-
tion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen
angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesund-
heit zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Aktuelle Finanznot der Krankenhäuser beenden“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11432, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/8375 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Ge-
genstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen al-
ler übrigen Fraktionen angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesund-
heit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
mit dem Titel „Krankenhäuser zukunftsfähig machen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/11431, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9008 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen
angenommen.
Ich darf mitteilen, dass die Redebeiträge aller weite-
ren Debatten zu Protokoll genommen werden. Ich würde
Sie aber doch freundlich bitten, noch hierzubleiben, da-
mit wir die Abstimmungsprozedur durchführen können. -
Vielen Dank.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über Personalausweise und den elektronischen
Identitätsnachweis sowie zur Änderung weiterer Vorschriften
- Drucksache 16/10489 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 16/11419 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Klaus Uwe Benneter
Gisela Piltz
Jan Korte
Wolfgang Wieland
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/11426 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Bettina Hagedorn
Jürgen Koppelin
Roland Claus
Omid Nouripour
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Wieland, Silke Stokar von Neuforn, Volker Beck
({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Einführung biometrischer Merkmale
im Personalausweis
- Drucksachen 16/7749, 16/11419 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Klaus Uwe Benneter
Gisela Piltz
Jan Korte
Wolfgang Wieland
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Clemens Binninger, CDU/CSU-Fraktion, Frank
Hofmann, SPD, Gisela Piltz, FDP, Jan Korte, Die Linke,
Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen, Gert
Winkelmeier, fraktionslos, und für die Bundesregierung
des Parlamentarischen Staatssekretärs Peter Altmaier.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf über Perso-
nalausweise und den elektronischen Identitätsnachweis
sowie zur Änderung weiterer Vorschriften. Der Innen-
ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/11419, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/10489 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenverhältnis angenommen.2)
1) Anlage 8
2) Anlage 6
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache
16/11421. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag wurde mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Zustimmung der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Keine Einführung biometrischer Merkmale im Personalausweis“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11419, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7749 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der
Entschädigung von Telekommunikationsunternehmen für die Heranziehung im Rahmen
der Strafverfolgung ({4})
- Drucksache 16/7103 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hans-Joachim Otto ({5}), Jörg van
Essen, Gudrun Kopp, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wahrung der Rechtssicherheit bei der Telekommunikationsüberwachung
und anderen verdeckten Ermittlungsmaßnahmen
- Drucksache 16/10838 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({6})
- Drucksache 16/11348 Berichterstattung:
Abgeordnete Siegfried Kauder ({7})
Joachim Stünker
Jörg van Essen
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Die Reden sollen ebenfalls zu Protokoll genommen
werden. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es
handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und
Kollegen: Siegfried Kauder und Dr. Martina Krogmann,
CDU/CSU-Fraktion, Martin Dörmann, SPD, Hans-
Joachim Otto, FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, Jerzy
Montag, Bündnis 90/Die Grünen, und für die Bundesre-
gierung des Parlamentarischen Staatssekretärs Alfred
Hartenbach.3)
3) Anlage 9
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/11348, den Gesetzentwurf der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
16/7103 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen sowie bei Enthaltung der FDP-
Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmverhältnis angenommen.1)
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11348 empfiehlt der Rechtsauschuss,
den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/10838 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Mechthild Dyckmans,
Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Rechte von Bahnkunden stärken
- Drucksache 16/9804 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss fürErnährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss fürVerkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss fürTourismus
Auch bei diesem Antrag sollen die Reden zu Proto-
koll genommen werden. Es handelt sich um die Reden
der Kolleginnen und Kollegen Julia Klöckner und
Dr. Günter Krings, CDU/CSU, Volker Blumentritt und
Marianne Schieder, SPD, Mechthild Dyckmans und
Hans-Michael Goldmann, FDP, Karin Binder, Die
Linke, Nicole Maisch, Bündnis 90/Die Grünen.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9804 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
1) Anlage 7
2) Anlage 10
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Steuerhinterziehung bekämpfen
- Drucksache 16/11389 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({9})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Auch bei diesem Antrag sollen die Reden zu Proto-
koll genommen werden. Ich sehe, Sie sind damit einver-
standen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen
und Kollegen Manfred Kolbe, CDU/CSU, Lothar
Binding, SPD, Dr. Volker Wissing, FDP, Dr. Barbara
Höll, Die Linke, Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grü-
nen.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11389 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({10}) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul
Schäfer ({11}), Inge Höger, Monika Knoche,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Keine deutsche Beteiligung an der Europäischen Verteidigungsagentur
- Drucksachen 16/4489, 16/7904 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl A. Lamers ({12})
Andreas Weigel
Inge Höger
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen
und Kollegen Henning Otte, CDU/CSU, Andreas
Weigel, SPD, Dr. Rainer Stinner, FDP, Inge Höger, Die
Linke, Alexander Bonde, Bündnis 90/Die Grünen.4)
Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/7904, den Antrag
der Fraktion die Linke auf Drucksache 16/4489 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh-
lung ist bei Gegenstimmen der Fraktion die Linke mit
den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Beteiligungsrichtlinie
- Drucksache 16/10536 -
3) Anlage 11
4) Anlage 12
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({13})
- Drucksachen 16/11412, 16/11448 Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Reinhard Schultz ({14})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden
der Kollegen Leo Dautzenberg, CDU/CSU, Reinhard
Schultz, SPD, Frank Schäffler, FDP, Dr. Axel Troost,
Die Linke, Dr. Gerhard Schick, Bündnis 90/Die Grünen.
Die Konsolidierung im europäischen Bankenmarkt ist
in den letzten Jahren stark vorangeschritten. Sowohl innerhalb der jeweiligen nationalen Grenzen als auch
grenzüberschreitend fusionieren immer mehr Banken, um
ihre Effizienz zu steigern und im internationalen Wettbewerb bestehen zu können.
Mit der Beteiligungsrichtlinie vom 5. September 2007
hat die Europäische Union die Grundlage dafür geschaffen, den Verfahrensablauf von grenzüberschreitenden Fusionen im Finanzdienstleistungssektor zu vereinheitlichen. Das heute zur Verabschiedung anstehende Gesetz
setzt diese Richtlinie in deutsches Recht um.
Darüber hinaus enthält das Gesetz weitere Regelungsbereiche, die unabhängig von der Beteiligungsrichtlinie
sind. Auf diese Punkte werde ich zum Abschluss meiner
Rede eingehen. Doch kommen wir zunächst zum originären Teil der Beteiligungsrichtlinie.
Meine Fraktion bewertet die Richtlinie positiv. Sie
sorgt erstens für mehr Rechtsklarheit bei Beteiligungsabsichten im europäischen Finanzsektor, und sie führt zweitens zu einer effizienteren aufsichtlichen Überprüfung
von solchen Beteiligungsabsichten. Die bisherigen unterschiedlichen nationalen Regelungen ermöglichten in
vielen Fällen, insbesondere bei grenzüberschreitenden
Erwerbsvorgängen innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes, willkürliche Entscheidungen nationaler
Aufsichtsbehörden. Die Richtlinie vereinheitlicht nunmehr den Verfahrensablauf und schreibt abschließende,
konkrete Prüfkriterien für eine Eignungsprüfung fest.
Vor diesem Hintergrund begrüßen wir vor allem, dass
das deutsche Gesetz einer 1 : 1-Umsetzung entspricht. Es
schafft keine zusätzlichen, rein nationalen Anforderungen. Das ist gut so.
Das Gesetz regelt Fälle, in denen eine natürliche oder
juristische Person eine qualifizierte Beteiligung an einem
Kreditinstitut, einem Lebens-, Schaden- oder Rückversicherungsunternehmen oder einer Wertpapierfirma erwirbt oder erhöht. Von einer qualifizierten Beteiligung
spricht man bei Beteiligungen in Höhe von 10 Prozent
oder mehr des Kapitals bzw. bei Beteiligungen in Höhe
von 10 Prozent oder mehr der Stimmrechte des Finanzunternehmens, dessen Anteile erworben werden.
Als konkrete Prüfkriterien bei beabsichtigten Beteiligungen legt das Gesetz folgende Regeln fest: Anzeigepflicht des beabsichtigten Erwerbs oder der Veräußerung
einer Beteiligung ab einem bestimmten Schwellenwert;
Regeln zur Beurteilung der Zuverlässigkeit des interessierten Erwerbers; Erstellung einer Liste durch die Aufsichtsbehörde zur Benennung der vom Erwerber zu
übermittelnden Informationen; Zusammenarbeit der zuständigen Behörden im Europäischen Wirtschaftsraum
bei der Beurteilung der Eignung eines interessierten Erwerbers, wenn es sich bei diesem Interessenten um ein in
einem anderen Mitgliedstaat oder Sektor zugelassenes
beaufsichtigtes Unternehmen handelt; Prüfung von Verdachtsmomenten bei Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung; Abschluss des Überprüfungsprozesses innerhalb
von 60 Arbeitstagen, Verlängerung des Beurteilungszeitraumes nur unter bestimmten Voraussetzungen für maximal 30 Arbeitstage.
Kommen wir nun zu den Maßnahmen, die unabhängig
von der Beteiligungsrichtlinie in diesem Gesetz geregelt
werden. Dazu gehören zunächst Änderungen des Investmentgesetzes. Kern der Neuregelungen im Investmentgesetz ist die Vereinfachung des Erlaubnisverfahrens für
Kapitalanlagegesellschaften. Künftig soll die Erlaubnis
für das Betreiben des Investmentgeschäftes allgemein erteilt werden und nicht, wie bisher, nach Art des verwalteten Vermögens unterschieden werden. Meine Fraktion
begrüßt diese Maßnahme als einen Beitrag zur Entbürokratisierung in der Fondsbranche.
Darüber hinaus enthält das Gesetz eine Änderung im
Börsengesetz, die darauf abzielt, die Transparenz und
Aufsicht im Stromgroßhandel zu verbessern. Danach
kann die Handelsüberwachungsstelle bei der Energiebörse auch Daten von Energiegeschäften erfassen und
auswerten, die zwar nicht über die Börse geschlossen
werden, die aber über ein Abwicklungssystem der Börse
abgewickelt werden. Mit dieser Gesetzesänderung setzen
wir einen einstimmigen Beschluss der Bundesländer um.
Ein wichtiger Punkt, der ebenfalls im Entwurf dieses
Gesetzes vorgesehen war und der auch sachlich unabhängig von der Beteiligungsrichtlinie ist, ist die Einführung von fondsgebundenen Lebensversicherungen mit
Mindestgarantie in Deutschland. Dieses Produkt ist unter
dem Stichwort „Variable Annuities“ bereits in anderen
Ländern am Markt. Nach einem Fachgespräch zum Beteiligungsrichtlinienumsetzungsgesetz haben wir uns im
Finanzausschuss dazu entschieden, die Einführung dieses Produktes nicht im Rahmen des heute zur Verabschiedung anstehenden Gesetzes zu vollziehen.
Diese Entscheidung ist nicht gefallen, weil wir die Einführung dieses Produktes in Deutschland grundsätzlich
ablehnen. Es haben sich allerdings einige Fragen zur
Funktionsweise und zur Absicherung der Variable
Annuities ergeben, über die wir fraktionsübergreifend intensiv und ohne Zeitdruck im ersten Quartal bzw. in der
ersten Jahreshälfte 2009 diskutieren wollen. Sollten wir
bei unserer Prüfung zu einem positiven Ergebnis kommen, werden wir die Variable Annuities noch mit einem
Gesetz in der ersten Jahreshälfte 2009 einführen.
Für meine Arbeitsgruppe darf ich sagen, dass wir der
Einführung von Variable Annuities zunächst grundsätzlich positiv gegenüber stehen. Dabei denken wir nicht nur
an die Wettbewerbsfähigkeit unseres Versicherungsstandortes, sondern vor allem auch an die Verbraucher. Denn
wenn wir die Auflage von Variable Annuities auch in
Deutschland erlauben würden, könnten wir sicherstellen,
dass die Produkte unter BaFin-Aufsicht und dem Schutz
von Protektor stehen. Bei Produkten, die im Ausland aufgelegt, aber auch bei uns an Verbraucher vertrieben werden, haben wir diesen Zugriff nicht.
Insofern darf ich abschließend für eine Zustimmung
zum Beteiligungsrichtlinienumsetzungsgesetz in seiner
jetzigen Form werben und gleichzeitig für eine sachbezogene Prüfung der Einführung von Variable Annuities in
Deutschland plädieren.
Die Beteiligungsrichtlinie, die wir mit dem vorliegenden Gesetz in deutsches Recht transformieren wollen, ist
ausgesprochen binnenmarktfreundlich. Das ist zur Abwechslung einmal eine positive Nachricht im Zusammenhang mit der EU-Kommission, die uns ansonsten auf vielen anderen Gebieten das Leben unnötig erschwert.
Ausgangspunkt für die Richtlinie war eine Untersuchung der EU-Kommission - initiiert von den europäischen Finanzministern -, die zum Ziel hatte, mögliche
Hindernisse bei grenzüberschreitenden Fusionen und
Übernahmen im Finanzsektor aufzudecken. Als Haupthindernis wurden dabei die einschlägigen Bestimmungen
in der Bankenrichtlinie zur Zulässigkeit und aufsichtsrechtlichen Beurteilung identifiziert. Um hier Abhilfe zu
schaffen, wurde die Beteiligungsrichtlinie auf den Weg
gebracht. Sie setzt klare aufsichtsrechtliche Maßstäbe
und schafft Transparenz bei den aufsichtsbehördlichen
Verfahren. Und sie dient noch einem höheren Ziel, nämlich der Harmonisierung des europäischen Rechts - ein
Ziel, das in diesem Kontext gar nicht genug begrüßt werden kann. Im Ergebnis werden protektionistische Hindernisse beseitigt und Rechtssicherheit für die betroffenen
Unternehmen geschaffen.
Mit unserem Gesetz haben wir die Beteiligungsrichtlinie nun fristgerecht und eins zu eins in deutsches Recht
umgeformt. Konkret geht es um Fälle, in denen eine qualifizierte Beteiligung an einem Kreditinstitut, an einem
Lebens-, Schadens- oder Rückversicherungsunternehmen oder an einem Wertpapierhandelsunternehmen erworben oder erhöht werden soll. Als qualifizierte Beteiligungen gelten in diesem Kontext solche, die 10 oder mehr
Prozent des Kapitals oder der Stimmrechte an einem
Finanzunternehmen ausmachen. Im Zuge der globalen
Finanzkrise ist mehr als deutlich geworden, wie unerlässlich Regelungen sind, die Transparenz schaffen, und zwar
gerade auch bei den Beteiligungsverhältnissen von Finanzunternehmen, aus denen nicht selten Interessenkonflikte resultieren können. Noch etwas hat uns die Finanzkrise gelehrt: nämlich die Einführung neuer
Finanzprodukte sorgfältigst zu prüfen, bevor sie auf den
deutschen Markt gebracht werden dürfen. Bei dem Fachgespräch zum Beteiligungsrichtlinien-Umsetzungsgesetz
gab es eine Regelung, die auf besonders große Vorbehalte
der Sachverständigen gestoßen ist, und das zu Recht. Es
handelt sich dabei um die Einführung einer neuen Versicherungsart, den sogenannten „Variable Annuities“. Das
sind Lebensversicherungsprodukte mit einer Garantie,
die im Gegensatz zu herkömmlichen Lebensversicherungen mit derivaten Finanzinstrumenten besichert wird.
Die Zulassung dieser neuen Versicherungsart stellt eine
so weitreichende Reform in der deutschen Versicherungswirtschaft dar, dass wir verpflichtet sind, alle Vor- und
Nachteile ganz genau gegeneinander abzuwägen, vor allem, wenn man sieht, wie derzeit in den USA führende Anbieter dieser Produkte mit schweren Verlusten zu kämpfen
haben, nicht zuletzt, weil es sich als hochgradig schwierig
erwiesen hat, die komplexen Produkte dynamisch abzusichern. Für Schnellschüsse besteht also absolut keine Notwendigkeit, zumal diese Regelung nicht einmal in der ursprünglichen Beteiligungsrichtlinie enthalten ist und eine
verschwindend geringe Bedeutung auf dem deutschen
Versicherungsmarkt hat. Für uns steht deshalb fest: Wir
werden das hohe Ansehen des Produkts „Lebensversicherung“ in Deutschland nicht leichtfertig aufs Spiel setzen,
im Gegenteil, wir werden es schützen.
Im Ergebnis leisten wir mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz einen wesentlichen Beitrag auf dem Weg
hin zu einem einheitlichen europäischen Finanzmarkt,
und wir stärken die europäische Wettbewerbsfähigkeit
insgesamt. Das ist ein wichtiger Erfolg.
Wir stimmen dem Grundanliegen der Beteiligungsrichtlinie zu, den Überprüfungsprozess bei Beteiligungen
im Finanzsektor zu harmonisieren. Da es sich bei dem
vorgelegten Gesetzentwurf im Wesentlichen um eine
1 : 1-Umsetzung handelt, stimmen wir auch dem Gesetzentwurf insgesamt zu.
Ausgangspunkt für die Beteiligungsrichtlinie war, dass
die alten Regelungen zum Erwerb von Beteiligungen im
Finanzsektor unklar waren und damit ein mögliches Wettbewerbshindernis darstellten. Unterschiedliche nationale Kriterien und Verfahren ermöglichten Willkürentscheidungen. Es ist gut, dass diese Kriterien und der
Zeitplan für die Prüfung solcher Investitionsabsichten
nun europaweit präziser gefasst werden. Wir sollten nach
einiger Zeit überprüfen, ob die Umsetzung der Richtlinie
in den Mitgliedstaaten ihren Zweck auch erfüllt.
Wettbewerb ist ein Kernelement der Europäischen
Union, das wir dringend stärken müssen. Gerade in der
gegenwärtigen Finanzkrise wäre Protektionismus die falscheste Reaktion. Dass im Gegenteil der Wettbewerb gestärkt wird, ist ein gutes Zeichen. CDU/CSU und SPD
selbst senden bei den Bestrebungen zur Abwehr von
Staatsfonds ja gerade auch selbst protektionistische
Signale. Es wäre gut, wenn das Bekenntnis zum internationalen Wettbewerb insgesamt zum Prinzip der Politik
der Bundesregierung werden würde.
Teil des Gesetzgebungsverfahrens war jedoch auch
eine Änderung im Versicherungsaufsichtsgesetz bezüglich der Variable Annuities. Diese fondsgebundenen Lebensversicherungen mit Garantiekomponenten werden
von den Kunden nachgefragt, bisher jedoch nur aus dem
Ausland angeboten. Aufgrund des internationalen Trends
werden sie nun auch von deutschen Versicherungen über
Zu Protokoll gegebene Reden
irische und luxemburgische Tochtergesellschaften angeboten. Eine Zulassung auch nach deutschem Recht würde
die deutsche Versicherungsbranche mit ihren Arbeitsplätzen stärken. Sie würde aber auch ermöglichen, dass die
Produkte der deutschen Aufsicht durch die Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht unterliegen und durch
Protektor abgesichert wären.
Diese Absicherung durch den Sicherungsfonds der
Versicherungswirtschaft fehlt gerade, wenn die Kunden
ausländische Versicherungen erwerben. Dies hat ja auch
das Bundesfinanzministerium bestätigt. Die anderen
Fraktionen wollen nun jedoch auf eine Regelung verzichten, da es Diskussionsbedarf bezüglich des Anlegerschutzes gebe. Sie lassen die deutschen Kunden lieber weiter in
ausländische Produkte investieren, die nicht abgesichert
sind. So stellen wir uns als FDP-Fraktion Anlegerschutz
gerade nicht vor. Wir hoffen jedoch, dass wir hier im
nächsten Jahr frühzeitig zu einer Regelung kommen werden.
Wenn die Regierung von Harmonisierung spricht,
meint sie in aller Regel Harmonisierung nach unten:
Nicht der gemeinsame Aufbau einer einheitlichen, wirkungsvollen Regulierung ist ihr Ziel, sondern der gemeinsame Abbau von Regulierung - zugunsten der Harmonie
von Regierung und Privatwirtschaft. Wer im Angesicht
von Finanzkrise und Re-Regulierungsrhetorik etwas anderes erwartet, findet dies im vorliegenden Gesetzentwurf
der Großen Koalition deutlich widerlegt. Hindernisse
sollen ausgeräumt werden, um grenzüberschreitende
Fusionen und Übernahmen im Bankgewerbe zu erleichtern. Die deutsche Bundesregierung treibt dieses Vorhaben zunächst auf europäischer Ebene voran. Bei der Umsetzung der Richtlinie setzt sie mit ihrem Gesetzentwurf
noch eins drauf: Weder soll die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Bedingungen an die Höhe der Beteiligung stellen noch die wirtschaftlichen Bedürfnisse
des Marktes berücksichtigen dürfen.
Nachdem CDU/CSU ebenso wie SPD, FDP und Grüne
die aktuelle Krise mit ihrer Politik der Deregulierung und
den steigenden Geldvermögen auf der einen, der sinkenden realen Nachfrage auf der anderen Seite herbeigerufen haben, ist es wahrlich nicht zu viel verlangt, sie nähmen die Krise zum Anlass für eine konsequente Umkehr.
Weit gefehlt! Die Bundesregierung scheint im Wettlauf um
die weitreichendste Deregulierung auf Platz eins gelangen zu wollen.
Eines der Lieblingswörter der Re-Regulierungsrhetoriker - Transparenz - gerät in der Änderung des Börsengesetzes zur Farce: Mit dem erklärten Anspruch, die
Transparenz im Stromgroßhandel und damit im Entstehen
von Energiepreisen erhöhen zu wollen, sollen Waren- und
Energiebörsen das Recht erhalten, Daten auch außerbörslicher Geschäfte zu erfassen. Doch was schön klingt,
stellt sich als Volksverdummung heraus. Schon jetzt ist die
Finanzaufsicht völlig überfordert. Wie soll sie da die international verflochtenen Geschäfte von über 200 Teilnehmern aus 20 Ländern an der Energiebörse in Leipzig
stets zeitnah überblicken können? Es ist noch nicht einmal klar, welche Kriterien zu einer tatsächlichen Ermittlung führen. Selbst ein Finanzjongleur wie George Soros
überholt die Bundesregierung von links, indem er ein
Spekulationsverbot für Rohstoffe fordert. Die Linke
plädiert darüber hinaus für einen Finanz-TÜV, der
Finanzinstrumente vor ihrer Zulassung auf ihr gesamtwirtschaftliches Risikopotenzial und ihre Verbraucherfreundlichkeit prüft. Zudem schlagen wir eine Finanztransaktionsteuer vor, um den kurzfristigen und rein
spekulativen Handel zu entschleunigen: Instrumente, wie
man sie auch bei der SPD-Linken findet, die sich in ihrer
eigenen Partei nicht durchsetzt.
Als Antwort auf empörte Proteste von Verbraucherschützern hat die Bundesregierung die Aufnahme sogenannter variabler Annuitäten aufgeschoben. Es geht dabei um Lebensversicherungen mit variabler Verzinsung
und Garantieversprechungen - Garantien, die gegen
hohe Gebühr erworben werden müssen und deren Einhaltung weit riskanter ist als bei anderen Verträgen. Denn
statt durch langfristige Wertpapiere sind diese Garantien
- man glaubt es kaum - mit spekulativen Derivaten unterlegt. Dank hoher Provisionen seien die variablen Annuitäten in den USA aggressiver in den Markt gedrückt
worden als gefälschte Gucci-Taschen, so das Finanzportal Smartmoney. Gerade in Krisenzeiten knüpfen sie
scheinbar an das Garantiebedürfnis an und eignen sich
für den Kundenfang.
Wir brauchen keine mögliche Neuauflage dieser
variablen Annuitäten im kommenden Frühjahr. Die Beteiligungsrichtlinie lehnen wir ab. Wir brauchen eine Harmonisierung, die zu einer wirkungsvollen Aufsicht
beiträgt. Wir brauchen eine Einkommensverteilung, die
nicht die anlagesuchenden Geldvermögen, sondern die
reale Nachfrage stärkt. Wir brauchen eine Finanzbranche, die ein Girokonto für alle bietet und nicht Frauen mit
Kindern die Kreditaufnahme erschwert. Wir brauchen
eine - öffentlich kontrollierte - Finanzbranche, die sich
an den Bedürfnissen der Menschen orientiert.
Der Teil des Gesetzes, der sich ausschließlich mit der
Umsetzung europäischer Vorgaben befasste, war von An-
fang an unstreitig. Wir unterstützen die Intention der
Richtlinie, die Regeln für den Erwerb oder die Erhöhung
von Beteiligungen im Finanzsektor zu harmonisieren.
Letztlich sorgen die Vorgaben für Anzeige- und Informa-
tionspflichten sowie das Verfahren zur Zusammenarbeit
der Aufsichtsbehörden für eine weiter gehende Transpa-
renz. Zudem sind es klare Regeln, die für Investoren eine
hinreichende Berechenbarkeit bringen. Stärkere europä-
isch verzahnte Aufsicht und die Offenlegung von Beteili-
gungen am Kapitalmarkt sind seit jeher grüne Forderun-
gen in der Finanzmarktpolitik.
Vor diesem Hintergrund findet auch der Passus des
Gesetzes unsere Zustimmung, demzufolge die Transpa-
renz im Energiehandel erhöht werden soll, indem Daten
über die Abwicklung von Geschäften im außerbörslichen
Bereich systematisch und lückenlos erfasst und ausge-
wertet werden. Wir hatten bereits in einem Entschlie-
ßungsantrag zur Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie
Zu Protokoll gegebene Reden
MiFID, Markets in Financial Instruments Directive,
diese Forderung eingebracht. Gleichwohl bleiben viele
Fragen offen, etwa ob die Handelsüberwachungsstellen
die neue Aufgabe tatsächlich meistern können und ob nicht
zusätzlich an anderer Stelle - im börslichen Bereich -
weiter gehende Informations- und Offenlegungspflichten
für eine hinreichende Transparenz notwendig sind. Spä-
testens wenn es an die parlamentarische Umsetzung des
dritten Energiemarktpaketes geht, werden wir Grüne eine
vertiefte Auseinandersetzung mit diesem Thema einfor-
dern.
Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der Beteiligungs-
richtlinie hielt jedoch darüber hinaus unerwartete Fra-
gen für uns bereit. Unerwartet deshalb, weil weder der
Name des Gesetzes noch die Einleitung oder die allge-
meine Begründung darauf hinwiesen, dass das Gesetz un-
ter anderem auch die Einführung von fondsgebundenen
Lebensversicherungsverträgen mit einem Garantieele-
ment, sogenannte Variable Annuities, vorsah. Die Argu-
mentation, warum diese Art der Lebensversicherung
auch in Deutschland einzuführen ist, war einmal mehr
der Wettbewerb mit dem europäischen Ausland, wo diese
Konstruktion bereits aufgelegt wird.
Darüber schien allerdings in Vergessenheit geraten zu
sein, die Auswirkungen dieser neuen Produktgattung in
allen Einzelheiten zu analysieren. Unserer Ansicht nach
bedarf es noch der Klärung diverser Fragen, bevor das
Produkt mit angemessener Folgenabschätzung für die
Versicherungsnehmerinnen und Versicherungsnehmer
eingeführt werden kann. Diese Bedenken haben wir auch
in der Anhörung zur Sprache gebracht, und sie wurden
von den Experten vollumfänglich geteilt. Insbesondere
besteht die Sorge, dass eine ausreichende Transparenz
und Sicherheit der Produkte nicht gewährleistet ist. Auch
sollten nach dem ursprünglichen Gesetzentwurf Anlage-
vorschriften gelockert werden und derivative Finanzin-
strumente in erheblich größerem Umfang zum Einsatz
kommen. Zudem gab es unterschiedliche Ansichten da-
rüber, ob die Garantien der Variable Annuities durch den
Sicherungsfonds Protektor geschützt würden. All das
blieb auch während der Anhörung ungeklärt. Ich begrüße
es daher sehr, dass die Große Koalition unsere Forderung
aufgegriffen und die Neueinführung der fondsgebunde-
nen Lebensversicherungsverträge mit einem Garantie-
element wieder aus dem Gesetz gestrichen hat.
Schließlich gibt es einen weiteren Punkt, den ich an-
sprechen möchte und der mit den geplanten Änderungen
im Investmentgesetz zusammenhängt. So ist - ebenfalls
ohne Zusammenhang zur Beteiligungsrichtlinie - eine
Deregulierung für Kapitalanlagegesellschaften im Ge-
setzentwurf vorgesehen. Diese betrifft sowohl die Ertei-
lung der Geschäftserlaubnis durch die Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, als auch die
Frage, wie viele Geschäftsleiter für jeweilige Investment-
bereiche, etwa Wertpapiere und Immobilien, vorhanden
sein müssen. Vorausgegangen waren wohl zähe Verhand-
lungen zwischen der BaFin und den jeweiligen Gesell-
schaften über die Beschränkung des Geschäftszwecks der
Kapitalanlagegesellschaften. Auf meine Anfrage in der
Anhörung, ob die damaligen Bedenken der BaFin unbe-
rechtigt beziehungsweise übermäßig formal waren, oder
ob die BaFin die nunmehr getroffene Regelung als zu lax
beziehungsweise falsch einstufe, erhielt ich keine Ant-
wort. Unzureichend blieb auch in der abschließenden
Ausschussberatung die Antwort der Bundesregierung. Es
wurde lediglich auf das Ziel des Bürokratieabbaus hinge-
wiesen. Zwar ist es auch grünes Anliegen, Bürokratie ab-
zubauen. Allerdings ist höchste Vorsicht geboten, wenn es
dabei um Regelungen geht, die die Qualität von Kapital-
anlagegesellschaften tangieren und damit letztlich auch
Auswirkungen auf den Anlegerschutz haben. Es ist ent-
täuschend, dass hier weder die BaFin in der Anhörung
noch das Ministerium im Ausschuss eine überzeugende
Erläuterung parat hatte.
Dennoch, nachdem sich die Regierungskoalitionen auf
unser Engagement hin entschließen konnten, die Frage
der Variable Annuities nochmals zurückzustellen und aus
dem vorliegenden Gesetzentwurf zu streichen, findet das
Gesetz insgesamt unsere Unterstützung.
Wir hoffen, dass die Bundesregierung an dem beispiel-
haften Fall der Variable Annuities dafür sensibilisiert
wurde, dass der Verbraucherschutz bei Finanzdienstleis-
tungen zu wichtig ist, als dass die Einführung neuer Ver-
sicherungsprodukte beiläufig und ohne hinreichende Klä-
rung möglicher Folgen für die Bürgerinnen und Bürger in
einem sachfremden Gesetz mit zu regeln wäre. Wir Grüne
werden auch bei künftigen Gesetzentwürfen darauf ach-
ten, dass die Belange der Verbraucherinnen und Verbrau-
cher nicht zu kurz kommen und erste Lehren aus der
Finanzmarktkrise Eingang in die Gesetzgebung finden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung - Druck-
sachen 16/11412 und 16/11448 -, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/10536 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die die-
ser Beschlussempfehlung zustimmen wollen, um ihr
Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen
Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gesamtkonzept zur beruflichen Teilhabe behinderter Menschen
- Drucksache 16/11207 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Ausführung der Leistungen des Persönlichen Budgets
nach § 17 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 16/3983 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard
Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Persönliche Budgets für berufliche Teilhabe
jetzt ermöglichen
- Drucksachen 16/9753, 16/11299 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hubert Hüppe
Auch in diesem Fall wollen wir die Reden zu Proto-
koll nehmen. Es handelt sich um die Reden der Kollegen
Hubert Hüppe, CDU/CSU, Silvia Schmidt, SPD,
Dr. Erwin Lotter, FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke,
Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parla-
mentarischen Staatssekretärs Franz Thönnes für die
Bundesregierung.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 16/11207 und 16/3983 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Persönliches Budget für berufliche Teilhabe
jetzt ermöglichen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11299, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9753 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von der Linken
und Bündnis 90/Die Grünen sowie bei Enthaltung der
FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zivilschutzgesetzes ({3})
- Drucksache 16/11338 -
1) Anlage 13
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Ausschuss für Gesundheit
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Es
handelt sich um die Reden von Gerold Reichenbach,
SPD, Hartfrid Wolff, FDP, Petra Pau, Die Linke, Silke
Stokar von Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen, und für
die Bundesregierung des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Christoph Bergner.
Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland genießen die Menschen unseres Landes den Schutz unseres
zweigeteilten, vertikal gegliederten, auf Ehrenamtlichkeit
und Freiwilligkeit beruhenden Notfallvorsorgesystems.
Für Unglücksfälle in Friedenszeiten sind die Länder zuständig unter der Überschrift: Katastrophenschutz. Für
Schadenslagen im Verteidigungsfall ist der Bund zuständig unter der Überschrift: Zivilschutz. Denn für die Mütter und Väter des Grundgesetzes war nur eine Situation
vorstellbar, in der die Infrastruktur und die Aufrechterhaltung eines geregelten, öffentlichen Lebens bundesweit
bedroht sind, nämlich der Kriegs- bzw. Verteidigungsfall.
Alles andere war und ist Katastrophenschutz und damit
Ländersache.
Der subsidiäre Aufbau des Katastrophenschutzes innerhalb der Bundesländer sorgte und sorgt für orts- und
bedarfsnahe Strukturen, die einen Aufwuchs bis auf Landesebene erlauben. Ausgeprägte, ehrenamtliche Strukturen sorgen für eine weitgehend flächendeckende Verfügbarkeit der Hilfskräfte und Ressourcen, in die die
umfangreichen Anstrengungen des Bundes für den Zivilschutz einflossen. Viele EU-Staaten beneiden uns um dieses erfolgreiche Schutzsystem.
Nach dem Ende der Blockkonfrontation aber hat sich
die Bedrohung eines umfassenden militärischen Angriffs
auf die Bundesrepublik drastisch reduziert - und damit
die Anforderung an den Zivilschutz des Bundes, der in
den 90er-Jahren entsprechend abgebaut wurde. Gleichzeitig kommen jedoch völlig neue Herausforderungen auf
uns zu. Es ist überhaupt nicht zu leugnen, dass sich die
Rahmenbedingungen für Risiken und Sicherheit stark geändert haben und weiter ändern werden. Klimawandel,
Globalisierung und hohe nationale und internationale
Vernetztheit seien hier nur als Stichworte genannt.
Wir leben heute in einer hochgradig vernetzten Welt,
von der wir hoch abhängig sind. Durch solche Netze
- überregionale, nationale und internationale Netze „fließen“ permanent: Daten, Energie, Strom, Güter etc.
Letztlich kann man auch Migration, Tourismus und Geschäftsreisen als Netze auffassen. Wenn diese Ströme
auch nur an einem Punkt minimal gestört sind, kommt es
über Dominoeffekte zu großen Schäden. Die Ursachen
oder Auslöser sind hierbei gar nicht entscheidend: Technisches oder menschliches Versagen, eine Naturkatastrophe oder ein Terroranschlag aber auch eine Pandemie all dies kann Auslöser für eine solche Katastrophe sein.
Wir sprechen hier von einem Schadenspotenzial in
Friedenszeiten mit ähnlichen Dimensionen, wie wir sie
bisher nur im Verteidigungsfall im Blick hatten, nämlich
umfassende länderübergreifende Beeinträchtigung der
Funktionsfähigkeit des öffentlichen und wirtschaftlichen
Lebens. Infrastrukturausfälle etwa in der Stromversorgung oder der IT-Kommunikation, der Zusammenbruch
von Lieferketten können zu Katastrophen mit bundesweit
oder gar europaweit verheerenden Auswirkungen führen.
Die Elbeflut 2002 hat uns hierauf nur einen Vorgeschmack gegeben: Naturkatastrophen können Dimensionen erreichen, die weit über die Grenzen eines Bundeslandes hinausgreifen und deren Bewältigung die gesamte
Republik fordert. Dies sind nicht mehr nur seltene „Jahrhundertereignisse“. Die Auswirkungen des Klimawandels werden zu einer Häufung und Verschärfung von Naturkatastrophen auch bei uns führen.
Und der Terroranschlag in den USA 2001 zeigte: Auch
privatisierte Gewalt kann unterhalb der Kriegesschwelle
verheerende Schäden verursachen.
Aber selbst beim Elbehochwasser, das in mehreren
Bundesländern Überschwemmungen verursacht hatte,
waren insgesamt nur 1 bis 2 Prozent der deutschen Bevölkerung betroffen. Rettung, Bergung und Wiederherstellung konnten aus den Ressourcen und einer völlig intakten Infrastruktur des gesamten restlichen Landes heraus
erfolgen.
Auch bei den großen Terroranschlägen lag der immense landesweite „Schaden“ insbesondere im psychologischen Bereich.
Das Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit, das ich als
überfraktionellen Zusammenschluss und Dialogplattform für Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Akteure der
Notfallvorsorge vor knapp zwei Jahren initiiert habe, hat
in einem Grünbuch neue Qualitäten von Bedrohung
exemplarisch herausgearbeitet.
Beispielhaft haben wir in dem Grünbuch die Szenarien
„tagelanger, bundesweiter Stromausfall“ und „Ausbruch
einer Infektionskrankheit“ durchgespielt. Wenn die kritischen Infrastrukturen wie die Stromversorgung ausfallen,
dann stehen nicht nur Handy, Festnetz und Computer
still, sondern es stocken die Bargeld- und Treibstoffversorgung bereits nach einigen Tagen, Hochhäuser sind
nicht mehr bewohnbar und die Regale in den Supermärkten sind leergefegt.
Oder nehmen wir neue Krankheiten: Sie kommen über
importierte Güter, illegalen Menschen- und sogar Tierhandel, über infizierte Touristen oder Geschäftsreisende.
Durch den Klimawandel können wir uns zunehmend nicht
mehr darauf verlassen, von sogenannten Tropenkrankheiten grundsätzlich verschont zu bleiben.
SARS, im Jahre 2002, war ein „Schuss vor den Bug“.
Denn das Virus ist zwar hundertmal tödlicher, aber weit
weniger ansteckend als ein Grippevirus, weshalb nur relativ wenige Menschen daran erkrankten. Was geschieht
nach einer Mutation, wenn das Virus eine höhere Aggressivität entwickelt hat?
Als der Schock über die Bankenzusammenbrüche in
den USA und Großbritannien seinen Höhepunkt erreichte, tat die Bundesregierung das einzig Richtige: Die
Kanzlerin und der Bundesfinanzminister traten vor die
Kamera und gaben eine Garantieerklärung ab. Würden
wir die im jetzigen Zivilschutzänderungsgesetz fortgeschriebene Systematik auf die Finanzkrise übertragen,
dann hätte das bedeutet: 16 Landesbanken müssen sich
tagelang abstimmen oder alle einmütig die Bundesbank
bitten, die Koordinierung zu übernehmen - in den oben
beschriebenen Szenarien schwer vorstellbar.
Nach den Erfahrungen mit den Hochwassern an Oder
und Elbe verabschiedete die Innenministerkonferenz im
Jahre 2002 die „Neuen Strategien zum Schutz der Bevölkerung“. Dies geschah aus der bestürzenden Erfahrung
heraus, dass der traditionelle Katastrophenschutz für
diese überregionalen Lagen nicht mehr ausreichend war.
Die Länderinnenminister haben zusammen mit dem damaligen Bundesinnenminister Otto Schily das Konzept
eines einheitlichen Bevölkerungsschutzes entwickelt als
einer überregionalen und länderübergreifenden Gefahrenabwehr auch in Friedenszeiten, bei dem sich die Aufgabenteilung von Bund und Ländern nicht am Anlass,
sondern an der Gefährdungsstufe orientieren soll. Allerdings waren die Länder anschließend nicht mehr bereit,
dann auch die grundgesetzlich festgelegte Aufgabenzuschreibung des Zivil- und Katastrophenschutzes entsprechend anzupassen.
In den Verhandlungen zur Föderalismusreform I im
Jahre 2004 machte auf Initiative der SPD-Fraktion der
Bund den Vorstoß, für Bevölkerungsschutzaufgaben im
Falle nationaler oder länderübergreifender Krisenlagen
Verantwortung zu übernehmen. Dieser Vorstoß ist am Widerstand der Länder gescheitert.
Dabei ging und geht es nicht darum, Kompetenzen vor
Ort zu haben. Es ging und geht nicht darum, in die Einsatzleitungen vor Ort einzugreifen, also eben nicht wie
manchmal kolportiert wird, den Feuerwehren vor Ort
vorzuschreiben, mit welchen Autos sie ausrücken sollen.
Es geht um Koordination von Gesamtressourcen. Denn
nicht nur Katastrophen, auch die Strukturen der Wirtschaft
halten sich schon lange nicht mehr an Ländergrenzen, zum
Beispiel die größtenteils privatisierten kritischen Infrastrukturen: Ob Krankenhausketten, Stromversorgung
oder Telekommunikation - die Strukturen sind überregional, ja oft international.
2005 haben CDU/CSU und SPD im Koalitionsvertrag
deshalb erneut als gemeinsame Absicht festgeschrieben,
„die Steuerungs- und Koordinierungskompetenz des
Bundes bei der Bewältigung von Großkatastrophen und
länderübergreifenden schweren Unglücksfällen [zu]
stärken“.
Der Bund hat in Vorleistung bereits von seiner Seite einiges an Anstrengungen unternommen, um sich darauf
auszurichten, übrigens - und das möchte ich hier durchaus auch mit Selbstbewusstsein und Stolz anmerken - im
Wesentlichen bereits unter der Regierung Schröder: Ein
Gemeinsames Melde- und Lagezentrum wurde eingerichtet. Mit dem BBK wurde eine Einrichtung geschaffen, die
schon jetzt den Ländern Unterstützung beim Nachweis
und der Vermittlung von Engpassressourcen bietet - wie
etwa bei der Schneekatastrophe in Bayern mit der bundesweiten Vermittlung von zusätzlichen Schneepflügen
Zu Protokoll gegebene Reden
aus nicht betroffenen Gebieten. Der Bund bietet bereits
jetzt durch das BBK Aus- und Fortbildung sowie ressortund länderübergreifende Krisenmanagementübungen an.
Die Bundesregierung hat ferner mit den Ländern zur Umsetzung der neuen Strategien ein Programm vereinbart,
mit dem der Bund in den Bereichen des Brandschutzes,
des ABC-Schutzes sowie des Betreuungs- und Sanitätsdienstes zusätzliche Ausstattung beschafft und die Unterhaltung und Ausbildung übernimmt.
Dies können jedoch nur erste Schritte sein, die sich
schließlich auch in den einschlägigen Gesetzen abbilden
müssen, will man die dauerhafte Umsetzung nicht immer
wieder infrage stellen lassen. Denn der Rechnungshof hat
wohl zu Recht moniert, dass sich viele der vom Bund im
Rahmen der Umsetzung der neuen Strategien getätigten
und den Ländern zur Verstärkung zur Verfügung gestellten Anschaffungen - insbesondere nach der Veränderung
der militärischen Bedrohungslage - nicht mehr aus dem
Zivilschutz ableiten lassen. Sie richteten sich - in der Sache ja vernünftig und unter Fachleuten auch unbestritten an besonderen Gefährdungslagen im Katastrophenschutz
aus. Dies sei aber mit der bestehenden Aufgabenzuweisung zwischen Bund und Ländern nicht vereinbar und damit rechtswidrig.
Die Einwände des Rechnungshofes haben naturgemäß
bei den betroffen Organisationen zu großer Verunsicherung geführt. Gerade die in hohem Maße auch auf das ehrenamtliche Engagement angewiesenen Einheiten bei
den Feuerwehren und Sanitätsdiensten brauchen auch
Rechtssicherheit bei der ihnen zur Verfügung oder in Aussicht gestellten Ausstattung und Finanzierung. An diesem
Punkt bringt uns der vorliegende Gesetzentwurf bedauerlicherweise nicht wirklich weiter.
Ich bin der festen Überzeugung, dass diesem gewichtigen Einwand auch im Kern nicht mit interpretatorischer
Ausweitung des Zivilschutzbegriffes begegnet werden
kann. Wir brauchen am Ende eine Kompetenznorm zwischen Bund und Ländern, die entsprechend den neuen
Strategien nicht mehr auf den Anlass Zivilschutz im Verteidigungsfall oder Katastrophenschutz im Friedensfall
bezogen ist, sondern allein das Ausmaß der Krisenlage
als Kriterium für die Aufgabenzuweisung hat. Nur so können wir wirklich Rechtssicherheit erlangen.
Leider war der Bundesminister nicht in der Lage, dies
gegenüber den Ländern durchzusetzen. Die Tatsache,
dass wir hier heute über ein Zivilschutzgesetz-Änderungsgesetz sprechen und nicht über ein Bevölkerungsschutzgesetz, zeigt, dass der Versuch, diese neuen Strategien auch rechtlich umzusetzen und auf eine eindeutige
grundgesetzliche Basis zu stellen, aufgegeben wurde.
So kommen wir wohl mit dem vorliegenden Entwurf
gegenüber den Einwendungen des Rechnungshofes auch
nicht substanziell weiter, weil wir aus einer grundsätzlichen Zwickmühle einfachgesetzlich nicht herauskommen
werden, wie ja auch die bisherige Genese des Gesetzentwurfes gezeigt hat. Entweder das neue Gesetz gibt eine
eindeutige Rechtsgrundlage für Anstrengungen des Bundes außerhalb des sehr engen Rahmens des Zivilschutzes
und der pflichtgemäßen Vorbereitung auf Amtshilfe, dann
geraten wir mit der grundgesetzlichen Aufgabenzuweisung in Konflikt, oder wir halten uns an diese, dann erhalten wir wiederum keine eindeutige Rechtsgrundlage.
Es ist nach unserer Auffassung aber gerade auch im
Interesse der ehrenamtlichen Helfer, der Feuerwehren
und Hilfsorganisationen, eine klare interpretationsfreie
Rechtsgrundlage zu erhalten. Das gilt übrigens nicht nur
für diese. Auch vernünftige Anstrengungen, die wir im
Transportsicherstellungsbereich fortführen oder auf die
neuen Bedrohungslagen ausrichten sollten, lassen sich
nicht mehr alleine über den Zivilschutz begründen.
Darum ist meine Fraktion nach wie vor der Auffassung, dass wir einen modernen Bevölkerungsschutz auf
der Grundlage einer klaren, grundgesetzlich abgesicherten Rechtsgrundlage brauchen. Wir sind der Auffassung,
dass wir die Planungen des Bundes sowie seine Leistungen gegenüber den Ländern nicht nur auf die reine Zivilverteidigung und den engen Rahmen der Amtshilfe reduzieren dürfen, sondern sie generell an überregionalen
Gefährdungen ausrichten müssen. Damit sind ausschließlich Gefährdungen gemeint, die die Vorhaltungen
und Fähigkeiten der Länder im Rahmen ihrer Aufgaben
der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr und des Landeskatastrophenschutzes übersteigen würden.
Es geht nicht um Zentralismus oder um die Schaffung
von Doppelstrukturen, sondern darum, den subsidiären
Aufbau, der sich ja innerhalb der Länder bewährt hat,
nach oben hin weiterzuentwickeln. Dies würde, nebenbei
bemerkt, auch die Lücke zu den KatastrophenschutzStrukturen der Europäischen Union füllen, die ja ebenfalls auf dem Subsidiaritätsprinzip basieren. Und - last
but not least - indem man für die Wirtschaft einen einheitlichen Ansprechpartner hätte, könnte man die Wirtschaft
stärken.
Der Gesetzesentwurf versucht auf die aufgeworfenen
Fragestellungen eine Antwort zu finden, ist aber nach unserer Auffassung gemessen an den neuen Herausforderungen ein Minimalstschritt, der viel zu kurz greift. Er ist
zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber die Zweifel
bleiben, ob dieser Schritt für die entscheidenden Bedrohungen ausreicht und wie viel Rechtssicherheit die jetzige
Fassung den Feuerwehren und den Hilfsorganisationen
überhaupt noch bieten kann. Wir werden im Gesetzgebungsverfahren genau abwägen müssen, ob wir uns damit nicht die Chance auf eine langfristig tragfähige Lösung verbauen. Dabei müssen wir auch abwägen, ob der
Minister gegenüber den Ländern noch die politische
Kraft finden könnte, für eine Regelung zu werben, die eine
wirkliche Antwort auf die im Grünbuch beschriebenen
Bedrohungen darstellt, oder ob es bei einem solchen Minimalschritt wirklich bleiben soll.
Darüber hinaus müssen wir aber auch sicherstellen,
dass die Befürchtungen des Bundesrechnungshofes, die
Länder erhielten bundesfinanzierte Ausstattungen für
den Katastrophenschutzbedarf mit der Möglichkeit, im
gleichen Umfang eigene Aufwendungen einzusparen,
nicht eintreten. Sonst besteht die Gefahr, dass die Ressourcen nicht zusammengeführt, sondern am Ende zur
Erfüllung von Aufgaben der Länder Landeskomponenten
und Landesausgaben durch Bundeskomponenten und
Bundesausgaben ersetzt werden. Damit würden die FäZu Protokoll gegebene Reden
higkeiten zur Vorsorge und Hilfe im Katastrophenschutz
und Zivilschutz eben gerade nicht verbessert.
Dies wäre weder im Interesse der betroffenen Organisationen und der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer
noch im Interesse einer sinnvollen Ausrichtung der Anstrengungen des Bundes und der Länder auf die neuen
Herausforderungen im Bevölkerungs- und Katastrophenschutz. Die Bevölkerung und die Hilfsorganisationen haben einen Anspruch darauf, dass die Verantwortung, die
der Bund in diesem Bereich in Zukunft wahrzunehmen bereit ist, nicht als Finanzverschieebahnhof in Richtung
Länder missbraucht wird.
Lassen Sie mich zum Schluss die Gelegenheit ergreifen, mich bei den freiwilligen und hauptamtlichen Helferinnen und Helfern in der Gefahrenabwehr für ihren unermüdlichen Einsatz im Dienste unserer Sicherheit zu
bedanken. Mein besonderer Dank gilt all jenen, die gerade während der Feiertage nicht bei ihren Familien sein
können, sondern sie in ihren Dienststellen, Bereitschaften
oder gar im Einsatz verbringen müssen. Ihnen allen ein
frohes Weihnachten und vor allem Glück und Gesundheit
im kommenden Jahr!
Der bisherige Dualismus von Zivil- und Katastrophenschutz muss überwunden und die Zuständigkeit klar geregelt werden. Hierfür ist ein von Bund und Ländern
gemeinsam getragenes, einheitliches Bevölkerungsschutzsystem am besten geeignet - mit allein am Schadensausmaß und an den schnellsten und besten Reaktionsmöglichkeiten ausgerichteten, klaren Zuständigkeiten und
Verantwortlichkeiten. Ob der von der Bundesregierung
vorgelegte Gesetzentwurf diesem Anspruch gerecht wird,
muss hinterfragt werden.
Der Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen und
Unglücksfällen ist eine der grundlegenden Aufgaben des
Staates. Naturkatastrophen und Großunfälle machen
nicht an Ländergrenzen halt. Überregionale Stromausfälle wie vor einigen Jahren im Münsterland oder verursacht durch die Ems-Durchfahrt eines großen Schiffsneubaus, Pandemien wie etwa die Vogelgrippe oder von
bestimmten Gruppen ausgehende Gefahren, etwa durch
organisierte Kriminalität oder terroristische Aktivitäten, erfordern ein länderübergreifendes Sicherheitskonzept.
Das neue Zivilschutzgesetz ist überfällig. Neue Herausforderungen an die öffentliche Sicherheit sind nicht
allein mit tagespolitischen Aktivitäten zu beantworten.
Der Bund muss im Katastrophenschutz Verantwortung
übernehmen und darf sich nicht aus der Fläche zurückziehen. Hier wirkt der Schäuble-IMK-Entwurf halbherzig. Der Bundesrechnungshof hat wiederholt die Bundesfinanzierung kritisiert. Katastrophenschutz ist laut
Grundgesetz Ländersache. Eine Nachjustierung ist dringend erforderlich. Es ist befremdlich, dass Innenminister
Schäuble dem Bundeswehreinsatz im Innern Tür und Tor
öffnen will, aber sich einer zeitgemäßen Neudefinition
der grundgesetzlichen Bevölkerungsschutzkompetenzen
verweigert. Es gilt aber, die zivilen Kräfte zu stärken.
Die bestehende Zweiteilung in den Zivilschutz im Verteidigungsfall und den Katastrophenschutz im Frieden ist
überholt und macht aus Sicht der meisten Experten so keinen Sinn mehr. Die bislang praktizierte Zuweisung von
Zuständigkeiten nach der Schadensursache wird der
Lage nicht länger gerecht. Zum Zeitpunkt einer notwendigen Gefahrenabwehr kann nicht die Ursachenforschung höchste Priorität haben, um Zuständigkeitsfragen
zu klären.
Hier muss einfach und schnell anhand des Schadensausmaßes geholfen werden. Daher ist eine Aufgabenverteilung anzustreben, bei der die Zuständigkeit für lokale
Schadensereignisse im Rahmen der allgemeinen Gefahrenabwehr bei den Kommunen bzw. beim Land; die Zuständigkeit für Großschadensereignisse innerhalb eines
Bundeslandes ohne weitere Auswirkungen auf das Bundesgebiet bei den Ländern und die Zuständigkeit für außerordentliche bundesweite Schadenslagen sowie für länderübergreifende Großschadenslagen beim Bund liegt.
Innerhalb dieses Rahmens ist die Ressourcenverantwortung zu regeln, um effektiv und schnellstmöglich helfen zu
können.
Ein neues, zeitgemäßes Ausstattungskonzept ist dabei
ohne einen schlagkräftigen und wirkungsvollen Beitrag
des Bundes nicht denkbar. Die Konzentration des Bundes
auf die Bereitstellung von Spezialressourcen für „Sonderlagen“ darf nicht zu einem schleichenden Rückzug des
Bundes aus der Fläche führen. Die Verteilung der Ressourcen hat vielmehr dergestalt zu erfolgen, dass eine
zeitnahe Reaktion auf Ereignisse an jedem Ort in
Deutschland sichergestellt ist. Dabei ist die Frage nach
der Rechtsgrundlage auch für die Bundesleistungen im
Bereich Ausstattung, wie sie vom Deutschen Bundestag
und dem Bundesrechnungshof aufgeworfen worden ist,
abschließend und eindeutig zu klären. In dieser Hinsicht
wirft der Gesetzentwurf der Bundesregierung eher
Fragen auf, als dass er sie beantwortet. Deshalb scheint
eine grundgesetzlich verankerte bundesweite Koordinierungskompetenz im Katastrophenschutz unverzichtbar zu
sein.
Darüber hinaus sind die ehrenamtlichen Strukturen im
Katastrophenschutz mindestens im bisherigen Umfange
unbedingt aufrechtzuerhalten. Das ehrenamtliche Engagement ist die bürgerschaftliche Grundlage für die Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger in Deutschland
und die tragende personelle Infrastrukturkomponente des
Bevölkerungsschutzes. Die FDP ist überzeugt: Die ehrenamtlichen und die professionellen Helferinnen und
Helfer von THW und Feuerwehren, von Rettungsdiensten, DLRG und anderen Hilfsorganisationen leisten ausgezeichnete Arbeit. Sie müssen deutlich mehr gewürdigt
und unterstützt werden, als es bisher der Fall war.
Effiziente Strukturen, einfache Entscheidungswege, an
Risiken ausgerichtete Reaktionsmöglichkeiten helfen
auch und gerade denjenigen, die selbst schnell helfen
wollen. Die Herausforderungen im Bevölkerungsschutz
sind sehr groß. Viele inhaltliche Fragen harren der Beantwortung; den Rahmen hierfür muss ein ausgefeiltes
Gesetz schaffen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
Im Kalten Krieg bestanden viele Kapazitäten, die nach
1990 vorschnell seitens des Bundes abgebaut wurden und
nicht in dem den aktuellen Herausforderungen entsprechenden Maße wieder in den Ländern aufgebaut wurden.
Das ist ein grobes Versäumnis und zeugt von bundespolitischem Handlungsbedarf. Auch insofern ist diese Initiative der Bundesregierung zu betrachten.
Im weiteren Beratungsgang muss unter Anhörung von
Experten ausgelotet werden, ob der vorgelegte Gesetzentwurf die rechtlichen Rahmenbedingungen für ein wirklich
zukunftsorientiertes Bevölkerungsschutzsystem zu setzen
vermag.
Die Linke prüft das Anliegen und die Zwischentöne.
Kein Gesetzentwurf verlässt den Bundestag so, wie er
eingebracht wurde. Deshalb werde ich über den vorliegenden Gesetzentwurf keinen Stab brechen. Ich werde ihn
auch nicht loben. Ich melde lediglich Bedenken an.
Die Bedenken rühren daher, dass fast alle Gesetze aus
dem Bundesinnenministerium wohlfeil formuliert werden, während die eigentlichen Tücken hinterlistig zwischen den Zeilen lauern. Bundesinnenminister Schäuble
strebt ein Supersicherheitsministerium nach USA-Vorbild
an. Polizei, Bundeswehr, Geheimdienste, Zivilschutz, alles soll unter einem allmächtigen Dach vereinigt werden.
Das lehnt die Linke in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz bekanntlich ab, während es die Bundesinnenminister der letzten fünf Wahlperioden im Kampf gegen das
Grundgesetz befürwortet haben.
Das sät natürlich Misstrauen, auch zu diesem Gesetzentwurf. Das Einzige, was hoffen lässt: Der Präsident des
THW, Herr Broemme, ist ein erprobter Berliner. Das
könnte für einen libertären Geist sprechen.
Wir werden in den parlamentarischen Ausschüssen
das Anliegen und die Zwischentöne gründlich prüfen, und
wir werden die Spreu vom Weizen trennen, wobei ich Ihnen schon jetzt sage: Die Linke ist für den Weizen.
Mehr Mut, mehr Entschlusskraft hätte ich mir bei der
seit Jahrzehnten überfälligen Reform des Bevölkerungsschutzes gewünscht. Das Zivilschutzänderungsgesetz,
das die Große Koalition hier heute vorlegt, bleibt Stückwerk. Die real vorhandenen Defizite werden nicht behoben. Eine tatsächliche Reform des Bevölkerungsschutzes
im Bereich der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr haben
Sie trotz satter Mehrheiten nicht in Angriff genommen.
Das Gesetz ist noch nicht einmal eine hinreichende
Grundlage für die zukünftige Finanzierung des gemeinsamen Beschaffungskonzeptes von Bund und Ländern.
Wir behalten auf der Bundesebene ein Zivilschutzgesetz, für das es nach der Auflösung des Warschauer Paktes und Beendigung des Kalten Krieges zum Glück keine
Erforderlichkeit mehr gibt. Die Zuständigkeit des Bundes
für die Bewältigung von militärischen Bedrohungslagen
und Kriegsfolgen und die Zuständigkeit der Länder für
den Natur- und Katastrophenschutz ist überholt. Diese
Zweiteilung wird der realen Gefahrenlage nicht mehr gerecht. Stürme und Hochwasser durch Klimawandel, Pandemien, großflächige Stromausfälle und die Gefahr
schwerer terroristischer Anschläge sind die Bedrohungslagen, auf die wir vorbereitet sein müssen.
Die Große Koalition hat sich weder an eine Verfassungsänderung herangetraut, noch schafft Sie für den
Bund eine tragfähige Definition der heutigen Zivilschutzaufgaben. Und auch ein THW-Gesetz, dass die Aufgaben und Zuständigkeiten klar beschreibt, fehlt. Es
bleibt dabei: Der Bund stellt erhebliche Haushaltsmittel
zur Verfügung für eine militärische Schadenslage, den
Verteidigungsfall, der mit hoher Wahrscheinlichkeit in
den kommenden Jahren nicht eintreten wird. Dies kann
kein dauerhafter Zustand sein.
Auch wir sehen die Notwendigkeit einer Mischfinanzierung, wir wollen Länder und Kommunen nicht alleine
lassen. Aber bitte auf einer geklärten Verfassungslage
und auf einer tragfähigen Rechtsgrundlage. Es kann
nicht sein, dass die Zuständigkeiten in der Verfassung unangetastet bleiben und der Bund dennoch Haushaltsmittel für Aufgaben der Länder zur Verfügung stellt.
Ich will hier mit aller Deutlichkeit sagen: Der nichtpolizeiliche Bevölkerungsschutz ist in Deutschland gerade
auch wegen des hohen Anteils des Ehrenamtes in der
Feuerwehr, bei den Rettungs- und Hilfsdiensten und beim
THW im europäischen Vergleich hervorragend aufgestellt. Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich bei
allen ehrenamtlich Tätigen bedanken und hier ein weiteres Defizit benennen. Wir werden den Anteil der Ehrenamtlichen nur halten, wenn wir das Ehrenamt durch Anerkennung bei der Steuer, durch verlässliche Aus- und
Fortbildung oder durch die Bereitschaft der Wirtschaft
zur Freistellung weiter stärken.
Auch ich will den Bund nicht aus der Verantwortung
für die Finanzierung der Feuerwehren, Rettungsdienste
und Hilfsdienste entlassen. Die hohe Qualität und die moderne Ausstattung des Bevölkerungsschutzes können wir
nur durch eine Mischfinanzierung von Bund und Ländern
aufrechterhalten. Wir stimmen dem gemeinsam getragenen Ausstattungskonzept voll und ganz zu. Aber wir bleiben bei unserer Forderung: Wir brauchen ein einheitliches Bevölkerungsschutzgesetz, das die Aufgaben und
Zuständigkeiten von Bund und Ländern neu definiert.
Die Szenarien zukünftiger Bedrohungslagen hat die
fraktionsübergreifende Arbeitsgruppe in dem Grünbuch
des Zukunftsforums öffentliche Sicherheit „Risiken und
Herausforderungen für die öffentliche Sicherheit in
Deutschland“ beschrieben. Die Schlussfolgerungen, die
ich aus den Szenarien ziehe: Wir brauchen im Grundgesetz eine Neuregelung der Zuständigkeiten. Die Folgen
von Pandemien, großflächigen Stromausfällen oder
schweren terroristischen Anschlägen sind nicht mehr mit
dem alten, militärischen Zivilschutzbegriff fassbar.
Es kann in Deutschland zu länderübergreifenden
Schadensfällen kommen, die eine Bundeskompetenz in
der Koordinierung und Führung auch im operativen Bereich erforderlich machen. Wir können nicht mögliche
Szenarien wie terroristische Anschläge auf ein AtomZu Protokoll gegebene Reden
kraftwerk beschreiben und dann eine gesetzliche Grundlage vorhalten, die die Zuständigkeit der Schadensbewältigung bei den Ländern belässt. Auch Pandemien halten
sich nicht an Ländergrenzen; sie können ganz Europa betreffen. Wir haben doch bereits erlebt: Wenn auf der Ems
für die Durchfahrt eines Kreuzfahrtschiffes der Strom abgestellt wird, können infolge einer Kettenreaktion in Italien die Lichter ausgehen. Welches Bundesland soll hier
die Verantwortung übernehmen, wenn es zu einem längerfristigen Schadensfall mit weiteren Kettenreaktionen
kommt?
Nein, meine Damen und Herren von der Großen Koalition, das, was Sie heute vorlegen, ist keine Reform,
sondern mühseliges Löcherstopfen. Europa arbeitet derzeit an gemeinsamen Standards für den nichtpolizeilichen
Bevölkerungsschutz, und Deutschland irrt weiter durch
den Föderalismusdschungel.
Es bleibt noch viel Arbeit, und wir sollten uns im Innenausschuss ernsthaft Gedanken darüber machen, wie
wir die erforderliche Reform des Bevölkerungsschutzes in
Deutschland voranbringen. Ich stehe hier für eine kooperative Zusammenarbeit weiter zur Verfügung. Die richtigen Fragen sind im Grünbuch gestellt. Wir müssen jetzt
allerdings auch Antworten geben, die weit über dieses Zivilschutzänderungsgesetz hinausgehen. Dies umfasst sowohl die Vorbereitung der Bevölkerung auf mögliche
Schadensereignisse, die Stärkung der Selbsthilfe, die Klärung der Verantwortlichkeiten für die Aufrechterhaltung
der privatisierten kritischen Infrastrukturen als auch den
erforderlichen Ausbau der Notfallmedizin.
Es ist inzwischen ein Gemeinplatz, dass die Ereignisse
der Jahre 2001 und 2002 ein neues Bewusstsein und eine
neue Wertigkeit für den Bevölkerungsschutz geschaffen
haben. Ausdruck dieser neuen positiven Wahrnehmung
ist der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf.
Nach dem Zerfall des Warschauer Paktes hat der Bund
in den 90er-Jahren als sogenannte Friedensdividende
seine Einrichtungen und Vorhaltungen für den Zivilschutz
stark zurückgeführt. Dann kamen die Anschläge des
11. September 2001. Sie haben verdeutlicht, dass es mit
dem Abbau von Kapazitäten so nicht weitergehen konnte.
2002 hatten wir das Hochwasser an der Elbe zu bewältigen. Trotz des größtmöglichen Einsatzes aller Kräfte kam
es zu dramatischen Schäden. Das Wort Flutkatastrophe
war nicht übertrieben.
So unterschiedlich beide Ereignisse waren, so zeigten
sie doch beide unmissverständlich den gesamtstaatlichen
Handlungsbedarf auf. Sie waren so etwas wie eine doppelte Zäsur. Zwar drohte nicht mehr der Kalte Krieg.
Aber auch mit der Selbstsicherheit der 90er-Jahre - unserem Lande drohten allenfalls begrenzte, überschaubare
Gefahren - war es vorbei. Seitdem setzen sich Bund und
Länder intensiv mit der Frage auseinander, welche Kapazitäten wir in beiden Aufgabenbereichen brauchen und
wie wir die Ressourcen von Bund und Ländern am besten
miteinander verzahnen.
Politischen Ausdruck fand dieses grundlegend veränderte Bewusstsein in der Vereinbarung der „Neuen Strategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland“ im
Jahr 2002. In der Sache geht es um das Zusammenwirken
von Bund und Ländern im Sinne einer „gemeinsamen“
Verantwortung von Bund und Ländern bei national bedeutsamen Ereignissen durch tatsächlich engere Zusammenarbeit, die auch ohne Verfassungsänderung - Bund
Zivilschutz, Länder Katastrophenschutz - möglich ist.
Zwischenzeitlich haben Bund und Länder in dieser
Hinsicht viel erreicht: Im Jahr 2004 wurde das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, BBK,
errichtet, das die Aufgaben des Bevölkerungsschutzes als
Dienstleister für alle im System mitwirkenden Akteure
bündelt. Das gemeinsame Melde- und Lagezentrum von
Bund und Ländern, GMLZ, wurde im BBK eingerichtet.
Es verfügt über die neue Datenbank deNIS, deutsches
Notfallvorsorge-Informationssystem. Die psychologische
Betreuungsstelle NOAH wurde in Betrieb genommen und
das Ausbildungsprogramm der Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz, AKNZ, auf
neue Herausforderungen ausgerichtet. Eine neue
Übungsserie LÜKEX wurde von ihr kreiert und inzwischen zusammen mit allen Bundesländern durchgeführt.
Die neue politische Wertigkeit des Bevölkerungsschutzes hat auch zur Bildung der neuen Abteilung „Krisenmanagement und Bevölkerungsschutz“ im Bundesministerium des Innern geführt.
Die Länder haben die Neuorientierung des Bundes
ausdrücklich begrüßt. Zugleich haben sie gefordert, dass
der Bund zusätzlich zu seiner Zuständigkeit für den Zivilschutz nun auch die gesetzliche Befugnis erhalten solle,
sie beim Schutz der Bevölkerung in Fällen terroristischer
Anschläge sowie bei Naturkatastrophen und Unglücksfällen, die das Gebiet mehr als eines Landes gefährden,
zu unterstützen. Der Bund hat diese Bitte aufgegriffen.
Das Bundeskabinett hat am 15. Oktober 2008 den Ihnen
vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Zivilschutzgesetzes beschlossen. Das Grundkonzept
wurde mit den Ländern im Frühjahr 2008 abgestimmt.
Der Gesetzentwurf sichert eine wirksame materielle
wie konzeptionelle Unterstützung des Bundes zugunsten
der Länder bei Großschadenslagen. Die Ressourcen, die
der Bund für den Zivilschutzfall vorhält, stehen den Ländern danach auch für ihre Aufgaben im Katastrophenschutz zur Verfügung. Dies gilt insbesondere für die
Ausstattung, mit der der Bund die Katastrophenschutzstrukturen der Länder „ergänzt“. Es gilt aber zum Beispiel auch für das Warnsystem des Bundes, SatWas, sowie
die Bundesinstrumente für ein Informations-, Lage- und
Ressourcenmanagement, wie sie das BBK mit dem GMLZ
und der Datenbank deNIS vorhält.
Die Aus- und Fortbildungsmaßnahmen des Bundes
werden auf eine moderne Grundlage gestellt. Insbesondere wird die erfolgreiche länderübergreifende Krisenmanagementübungsserie LÜKEX rechtlich abgesichert.
Der Gesetzentwurf eröffnet zudem erstmals die Möglichkeit zentraler Koordinierungsmaßnahmen durch den
Bund auf Ersuchen und im Einvernehmen mit jedem betroffenen Land. Das operative Krisenmanagement verZu Protokoll gegebene Reden
bleibt allerdings bei jedem Land. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass es selbst in zentralstaatlich
verfassten Staaten wie Großbritannien und Frankreich
ein Weisungsrecht der nationalen Behörden gegenüber
der örtlichen Einsatzebene nicht gibt.
Geregelt wird der Datenaustausch zwischen Bund und
Ländern bei der Vorbereitung auf und der Bewältigung
von Großschadenslagen. Vorgesehen sind ferner eine
bundesweite Risikoanalyse, eine Beratungs- und Unterstützungsfunktion des Bundes beim Schutz kritischer Infrastrukturen sowie die Entwicklung von Standards und
Rahmenkonzepten. Das Ehrenamt wird als unverzichtbare Grundlage des Zivil- und Katastrophenschutzes gewürdigt und gefördert.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird eine große
Lücke im System des Bevölkerungsschutzes in Deutschland geschlossen. Wir verfügen damit endlich über eine
moderne und klare Rechtsgrundlage.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/11338 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut
Königshaus, Dr. Karl Addicks, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ein Konzept für die Budgethilfepraxis vorlegen und die Gewährung von Budgethilfe an
strenge Kriterien knüpfen
- Drucksache 16/5604 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Haushaltsausschuss
Hier sollen die Reden ebenfalls zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Christian Ruck, CDU/CSU,
Dr. Bärbel Kofler, SPD, Hellmut Königshaus, FDP,
Hüseyin-Kenan Aydin, Die Linke, und Thilo Hoppe,
Bündnis 90/Die Grünen.
Seit Ende der 90er-Jahre setzt sich eine Gruppe einflussreicher Geber - unter anderem Großbritannien,
skandinavische Länder, Weltbank, EU-Kommission -, die
über keine oder unzureichende Implementierungsstrukturen verfügen, dafür ein, die Abwicklung der Entwicklungszusammenarbeit über direkte Transfers in den
Staatshaushalt des jeweiligen Partnerlandes zum bevorzugten Instrument der Entwicklungszusammenarbeit zu
machen. Damit sollen vor allem die Effizienz und Effektivität der Zusammenarbeit gesteigert, die Partnerstrukturen gestärkt, die Transaktionskosten vermindert und die
Eigenverantwortlichkeit der Entwicklungsländer zur
Umsetzung der Armutsbekämpfung gefördert werden alles Ziele, die wir als Entwicklungspolitiker unterstützen.
Das Instrument der Budgethilfe ist nicht neu. Bereits in
der Vergangenheit wurde es im Rahmen der Strukturanpassungsprogramme eingesetzt. Die Erfahrungen damit waren allerdings eher gemischt bis enttäuschend.
Nahe liegend ist, dass die Überwindung der Mittelabflussproblematik bei den eingangs genannten Gebern
auch eine wichtige Motivation gewesen sein könnte, den
Einsatz der Budgethilfe auszuweiten. Die Union hat daher die internationale Diskussion und den bekanntermaßen nicht durch Mittelabflussprobleme geleiteten Marsch
der rot-grünen Bundesregierung in die Budgethilfe kritisch begleitet.
Für einen Erfolg der Budgethilfe sind die besten Voraussetzungen gegeben, wenn das Partnerland eine
starke, legitimierte und reformorientierte Regierung hat.
Dies ist dann der Fall, wenn gute Regierungsführung der
Partnerregierung gegeben ist. Dies bedeutet, die Handlungsfähigkeit und Handlungswilligkeit der Regierung
muss klar erkennbar und überprüfbar sein. Die Legitimität, das heißt eine hohe Zustimmung der Bevölkerung zum
Regierungshandeln muss gegeben sein, Eine wirksame
politische Kontrolle durch ein demokratisch legitimiertes, qualifiziertes und eigenständiges Parlament sowie
eine aktive Zivilgesellschaft müssen sichergestellt sein,
Es muss ein realisierbares und auf die wesentliche Entwicklungsaspekte abzielendes Reformprogramm, dem
sich die Partnerregierung aktiv verpflichtet fühlt, vorliegen. Eine effiziente Verwaltung, niedriges Korruptionsniveau, transparentes und unabhängig kontrolliertes öffentliches Finanzmanagement sollen gegeben sein. Und
last, but not least: Es müssen nachhaltige Anstrengungen
zur Verbesserung der Eigenfinanzierung erkennbar sein,
damit klar ist, dass die Budgetfinanzierung von außen
zeitlich begrenzt ist und so bald wie möglich durch eigene
Finanzmittel ersetzt wird.
Wir sind davon überzeugt, dass nur unter diesen Rahmenbedingungen die von den Befürwortern der Budgethilfe erwarteten - bisher aber noch nicht empirisch
belegten - Vorteile gegenüber den bisher bewährten Instrumenten der Entwicklungszusammenarbeit möglich
sind. Die Union hat daher Wert darauf gelegt, diese Voraussetzung im Koalitionsvertrag festzulegen. Wir sind
aber auch davon überzeugt, dass es in Ausnahmefällen
notwendig sein kann, übergangsweise zur Stabilisierung
staatlicher Strukturen, zum Beispiel für die Sicherstellung
von Gehaltszahlungen in fragilen Staaten, budgethilfeähnliche Instrumente einzusetzen. In diesen Fällen muss
aber eine intensive Kontrolle sichergestellt werden.
Wir müssen uns bewusst sein, dass mit der Budgethilfe
Risiken verbunden sind. So weisen die meisten Länder,
denen zurzeit Budgethilfe gewährt wird, in der einen oder
anderen Hinsicht erhebliche Defizite auf. Wir müssen uns
der Gefahr bewusst sein, dass die Budgethilfe diese Defizite nicht vermindert, sondern möglicherweise sogar
noch verstärkt. In vielen Ländern stagniert der Prozess
zur Stärkung von Kontrollmechanismen zur Verwendung
öffentlicher Mittel ebenso wie der Demokratisierungsprozess und die Korruptionsbekämpfung.
Risiken bestehen auch bezüglich der parlamentarischen Verantwortlichkeit und Kontrolle sowie der Bürgerbeteiligung. Entsprechende Strukturen sind bisher die
Ausnahme. Die Kapazitätsstärkung der Verwaltung mit
dem Ziel der Schaffung einer Gemeinwohlorientierung
reicht offenbar nicht aus. Eine neue Generation autoritärer Regierungschefs hat inzwischen das im Rahmen der
allgemeinen Budgethilfe gestärkte öffentliche Finanzmanagement als ein effizientes Herrschaftsinstrument für
die Mitteleinwerbung und ihre Allokation entdeckt. Wir
müssen daher stärker auf einer demokratischen Kontrolle
bestehen.
Budgethilfe kann den Antrieb der Partnerregierung
mindern, die Selbstfinanzierung des eigenen Staatswesens durch die eigenen wirtschaftlichen und finanziellen
Ressourcen zu steigern. Unzulängliche Steuersysteme
werden häufig nicht reformiert. Es macht sich eine träge
Empfängermentalität breit. Deshalb ist es notwendig, bei
der Vereinbarung von Exitstrategien voranzukommen.
Ich begrüße daher sehr, dass einer der wesentlichen
Kernpunkte der Doha-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung die Steigerung der Selbstfinanzierung der Entwicklungsländer war. Die Entwicklungsländer haben sich
verpflichtet, ihren eigenen Beitrag zur Lösung der Finanzierungsprobleme für Entwicklung selber in die Hand zu
nehmen. Das muss an dieser Stelle auch einmal gesagt
werden.
Die erhöhte Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit durch Budgethilfe ist bisher nur theoretisch begründet. Die Erwartungen, dass sich die Transaktionskosten bei den Empfängern verringern, haben sich bisher
nicht erfüllt. Selbst bei den Gebern ist eher eine Erhöhung des Aufwands festzustellen. Angesichts der Risiken
ist aus meiner Sicht eine weitere intensive Begleitung der
Auswirkungen des Instruments wichtig und notwendig.
Wenn man davon absieht, dass man Programmorientierung nicht mit Budgethilfe gleichsetzen kann - wie die
FDP dies tut - ist festzustellen, dass die FDP in ihrem Antrag durchaus richtige Fragestellungen aufwirft, die zum
Teil von uns ähnlich gesehen werden. Man fragt sich allerdings, warum es eineinhalb Jahre dauern musste, bis
die Thematik zur Diskussion im Plenum angemeldet
wurde. Seit Beginn dieser Legislaturperiode hat sich einiges getan, die Vergabe von Budgethilfe auf solidere
Beine zu stellen. So hat der Bundesrechnungshof die Praxis der Vergabe von Budgethilfe unter die Lupe genommen. In seinem Bericht über die Vergabe von Budgethilfe
durch das BMZ zeichnet dieser ein umfassendes Bild über
Chancen und Risiken des Instruments. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages hat sich mit Beginn
des Haushaltsjahres 2008 die Einzelgenehmigung der
Budgethilfemaßnahmen vorbehalten. Das BMZ hat in
2007 ein Budgethilfekonzept erarbeitet, welches durch
die Formulierung von spezifischen Kriterien den Bedenken des Rechnungshofes, der Union, des Haushaltsausschusses - und vermutlich inhaltlich auch der FDP - im
Grunde Rechnung trägt. Auf Initiative der Union ist das
BMZ auch gegenüber der EU-Kommission vorstellig geworden und hat auf die Zugrundelegung strengerer Kriterien bei der Vergabe von Budgethilfe gedrängt.
Der Antrag der FDP ist deshalb nicht mehr aktuell.
Wesentliche Forderungen hat die Regierung erfüllt, andere - wie die komplette Ausklammerung der fragilen
Staaten und die Abkehr von der Grundversorgung - sind
entwicklungspolitisch nicht sinnvoll. Wir werden daher
dem Antrag nicht zustimmen können.
Dies bedeutet aus Sicht der Union nicht, dass wir nun
zur Tagesordnung übergehen könnten. Die Konzeption
des BMZ muss sich in der Praxis bewähren. Es wird sich
zeigen, ob die theoretisch erwarteten Effekte tatsächlich
eintreten und ob die eingangs genannten und auch die
vom Bundesrechnungshof benannten Risiken beherrschbar sind. Weiter noch: Wir müssen uns in diesem Zusammenhang auch mit der relativen Vorteilhaftigkeit des Instruments gegenüber klassischen Instrumenten befassen.
Die Budgethilfe ist und bleibt keine Alternative zum
bewährten klassischen Instrumentarium der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit. Sie ist bestenfalls eine Ergänzung dort, wo ein tatsächlicher Mehrwert gesichert
werden kann. Dort wo es Vernetzungsprobleme bei der
Umsetzung in programmorientierte Ansätze vor Ort gibt,
sollte es durch die Überprüfung der Vergabemodalitäten
optimiert werden: mehr Flexibilität, mehr Schnelligkeit,
weniger bürokratischer Aufwand.
Es stellt sich auch die Frage, ob die Ausgabe einer
Zielgröße für ein noch nicht im Praxistest bewährtes Instrument sinnvoll ist. Auch bei der Länderauswahl im
Hinblick auf die Umsetzung des Kriteriums „Gute Regierungsführung“ sehen wir noch offene Fragen. Wir halten
daher bis auf weiteres die obligatorische Befassung des
Haushaltsausschusses mit jeder Einzelmaßnahme für
richtig. Auch der AWZ sollte die weitere Entwicklung des
Instruments intensiv begleiten.
Der Antrag der FDP zum Thema Budgetfinanzierung,
der uns heute diese Debatte noch kurz vor Weihnachten
beschert hat, ist tatsächlich eine schöne Bescherung. Der
Antrag vom Juni 2007 ist inhaltlich nicht nur veraltet,
sondern auch in seiner Argumentation widersprüchlich.
Er ist daher abzulehnen.
Weder wurden bei dem vorliegenden Antrag die Erkenntnisse der Konferenz in Accra vom September 2008
berücksichtigt, wo international eine positive Bilanz bezüglich der Budgethilfe gezogen wurde, noch ist der Antrag in seinen Forderungen mit den durch die Budgethilfe
verfolgten Zielen vereinbar.
Die Ziele erkennt die FDP teilweise selbst an; beispielsweise soll die Eigenverantwortung der Partnerländer gestärkt werden. Gleichzeitig fordern Sie in Ihrem
Antrag aber eine so weitgehende Konditionalisierung der
deutschen Budgethilfe, dass den Nehmern kaum noch eigene Verantwortung bleibt. Dieser und andere Widersprüche durchziehen den gesamten Antrag. Hinzu kommt,
dass die Vergabepraxis bereits sehr differenzierte Konzepte entwickelt hat und in einem ständigen Dialog mit
anderen Gebern sich auch weiterentwickelt. Hier geht der
vorliegende Antrag an der Realität vorbei. Zudem sind
die Passage zur Budgethilfepraxis der EU und die daraus
resultierende Forderung an die Bundesregierung nicht
Zu Protokoll gegebene Reden
erforderlich; denn gerade die deutsche Haltung in der
EU, insbesondere in den Zeiten der deutschen Ratspräsidentschaft, hat dazu geführt, dass die parlamentarische
Beteiligung bei der Verwendung der EEF-Mittel verbessert wurde. Auch in diesem Punkt empfehle ich eine
Aktualisierung des Antrags.
Die Konferenz in Accra war eine Bestandsaufnahme des
seit der Pariser Erklärung Erreichten. Sie hat den Kurs der
heutigen Entwicklungszusammenarbeit bestätigt. Seit
2005 orientiert sich Entwicklungszusammenarbeit erklärtermaßen an fünf Prinzipien. Diese möchte ich hier nochmals wiederholen; für die FDP kann man dies offensichtlich nicht oft genug tun. Die Ziele der heutigen staatlichen
Entwicklungszusammenarbeit sind „Ownership“ oder zu
Deutsch Eigenverantwortung des Partnerlandes, Ausrichtung an den Partnersystemen, Harmonisierung der Geber,
Wirksamkeitsorientierung der Zusammenarbeit und gegenseitige Rechenschaftspflichten.
Das Ergebnis der Konferenz, die sogenannte Accra
Agenda for Action, hat zwei wesentliche Ansprüche der
modernen Entwicklungszusammenarbeit noch einmal bekräftigt. Man kann es in zwei Schlagwörtern zusammenfassen: Abstimmung aller Beteiligten stärken und Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit steigern.
Wie erreicht man aber eine Steigerung der Wirksamkeit und eine erhöhte gegenseitige Teilnahme aller an
Entwicklungsprozessen? Sicher nicht mit einem Bonner
Aufruf, der „die Entscheidungsbefugnis über die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit auf die deutschen Botschaften übertragen will“. Sollen dann die unterschiedlichen Botschaften weltweit mit KfW und GTZ über
Projekte in ihren Ländern verhandeln? Oder wie soll eine
Entwicklungszusammenarbeit weg von staatlichen Partnern aussehen, wo doch nun wirklich der Erkenntnisprozess in den letzten Jahren gereift ist, dass die Regierungen
und politischen Eliten der Länder Verantwortung für die
Bekämpfung der Armut tragen? Wie soll die geforderte
Unterstützung der Grund- und Berufsbildung aussehen?
Ist das keine staatliche Aufgabe?
Der politische Dialog ist Motor für Veränderung und
mithin Entwicklung, eine Erkenntnis, die sozialdemokratische Entwicklungspolitik seit langem schon beherzigt.
Gerade Regierungsverhandlungen sind dabei eine wichtige Ebene, und hier setzt bekanntlich die Budgethilfe an.
Budgethilfe ist zudem ein Instrument im InstrumentenMix der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit, kein
Allheilmittel, aber ein Instrument, mit dem viele positive
Wirkungen erzielt werden können und schon wurden.
Die Berührungsängste vieler deutscher Politiker,
wenn es zum Thema Budgethilfe kommt, sind mir unklar,
zumal dieses Instrument mit seinen Vorteilen und Nachteilen im parlamentarischen Raum nun schon seit langem
diskutiert wird. Auch bestätigen unsere Durchführungsinstitutionen, GTZ und KfW, dass sie einen sehr differenzierten Umgang mit diesem Instrument pflegen. Budgethilfe
oder auch Programmorientierte Gemeinschaftsfinanzierung gibt es in den verschiedensten Spielarten und der
geringste Anteil daran wird als allgemeine Budgethilfe
vergeben. Es gelten strenge Einstiegskriterien für die
Budgethilfe; eine davon ist die gute Regierungsführung
im Partnerland. In der Regel wird Budgethilfe sektoral
ausgerichtet oder als Korbfinanzierung angelegt und mit
Begleitmaßnahmen, sogenannter technical assistance
oder programm based approaches, flankiert.
In diesem Punkt haben wir Deutschen auch viel Knowhow anzubieten, gerade weil wir qualifizierte Durchführer für diesen Bereich haben. Auch die Arbeit der Stiftungen sei an dieser Stelle erwähnt. Sie machen Gespräche
möglich, die in Parlament und Gesellschaft hineinreichen
und einen vielschichtigen Gedankenaustausch beleben.
Steigerung der Transparenz von Regierungshandeln ermöglicht es dem Parlament und der Zivilgesellschaft vor
Ort doch erst, wirksam in das Geschehen einzugreifen.
Uns geht es darum, politische Beiträge zu leisten, und
nicht darum, uns aus Diskussionsprozessen auszuklinken
und neue Ansätze per se abzulehnen. Der Sozialdemokratie geht es um Hilfen zum Aufbau nachhaltiger Strukturen,
die Armut bekämpfen, um Programme, die Strukturen angehen sollen, und um Beratung und Unterstützung von
Regierungen, sodass Armutsbekämpfungsprozesse vorangetrieben werden.
Lassen Sie mich an dieser Stelle den ghanaischen
Staatspräsidenten John Kufuor zitieren. Er äußerte sich
auf der Konferenz in Accra wie folgt: Entwicklungszusammenarbeit müsse die Kapazitäten von Regierungen
und Verwaltungen stärken und in den Empfängerländern
„ökonomische Muskeln“ aufbauen. Besser hätte ich die
Notwendigkeiten, denen moderne Entwicklungszusammenarbeit gerecht werden muss, nicht beschreiben können. Deshalb einige Beispiele, wo deutsche Entwicklungszusammenarbeit dies tut: In Ghana, einem der
Länder, denen Deutschland Budgethilfe zukommen lässt,
hat die GTZ beispielsweise begleitend zur Budgethilfe ein
Programm zur Korruptionsbekämpfung aufgelegt. Die
derzeitige Regierung Ghanas hat eine große Herausforderung zu meistern. Sie muss nicht nur die staatlichen Institutionen von Grund auf reformieren, sondern auch Demokratie- und Legitimationsdefizite sowie Korruption
überwinden. Staatliche und traditionelle Herrschaftsstrukturen bestehen nebeneinander. Parallele, konkurrierende Macht- und Rechtssysteme sind die Folge. Die Gerichte sind mit Bodenrechtsfällen überlastet und dem
Korruptionsvorwurf ausgesetzt. Das Programm der GTZ
berät und unterstützt den Partner bei der Klärung und
dem Schutz von Rechtspositionen sowie bei Rechtsreformen, institutioneller und technologischer Erneuerung
und hilft, Konzepte für die systemische Bekämpfung und
Prävention von Korruption zu erarbeiten.
Was bisher erreicht wurde, ist, dass ein Entwurf zur
künftigen Landverwaltung dem Kabinett zur Billigung
vorgelegt wurde. Es wurde mit der Erfassung der Gewohnheitsrechte in allen zehn Regionen Ghanas begonnen. Ein sogenanntes Serious Fraud Office hat zentral
und in den Regionen durch Spezialisierung und Modernisierung von öffentlichen Angestellten den Aufbau von Kapazitäten vorangetrieben. Es wurde die Einführung einer
verbindlichen Richtlinie für ethisches Verhalten für die
Justiz unterstützt sowie der dezentrale Zugang zu Gerichtsbarkeit durch Outreach-Programme der Justiz gefördert, der Rückstau von bodenbezogenen RechtsstreiZu Protokoll gegebene Reden
tigkeiten abgebaut und ein sogenanntes Judiciary-WatchProjekt durchgeführt.
Die Liste der Maßnahmen, die unsere Budgethilfe begleiten, könnte ich noch fortsetzten: Die Unterstützung
des Sekretariats der Ghana Anti-Corruption Coalition
({0}) gehört dazu, und es wurde ein System für zivilgesellschaftliches Monitoring von Korruption entworfen.
Ich führe diese Maßnahmen deshalb so breit aus, um
zu zeigen, dass Budgethilfe nicht nur die Strukturen der
Exekutiven stärkt; sie ermöglicht auch, Parlamente neu
in Entscheidungsprozesse einzubeziehen, Gerichte zu
stärken und zivilgesellschaftliche Kontrolle zu verbessern. Diese Zusammenarbeit von GTZ mit verschiedenen
Entscheidungsträgern aus Regierung und Politik in
Ghana hat bereits nachweisbare Ergebnisse erbracht und
wäre ohne die Budgethilfe als Türöffner nicht denkbar.
Die Rechtspositionen der Bürgerinnen und Bürger sind
institutionell gestärkt und die Prävention von Korruption
ist systemisch verbessert worden. Zudem wurde eine neue
Rechtssicherheit im Bereich der Land- und Eigentumsrechte erzielt. Und dies ist nur ein Beispiel dafür, dass nur
durch die Arbeit an den Strukturen sowie auch eine Arbeit
durch die Strukturen und in den Strukturen der Partnerländer eine nachhaltige Entwicklung erreicht werden
kann.
Weiter möchte ich darauf hinweisen, dass gerade der
Kollege von der FDP, Herr Königshaus, seine Erfahrungen, die er auf unserer gemeinsamen Delegationsreise in
diesem Jahr nach Ruanda machte, besser noch in den Antrag eingearbeitet hätte; denn gerade dort zeigte auch er
sich davon beeindruckt, was Budgethilfe im Guten bewirken kann. Ich kann nicht verstehen, warum der Kollege einerseits meinem Reisebericht zur Budgethilfe in Ruanda
zustimmte, andererseits nun einen solchen konträren Antrag einbringt.
Budgethilfe ist eine Möglichkeit, um die Eigenverantwortung eines Partnerlandes zu stärken, eine transparente Haushaltsführung zu fördern, um Institutionen und
dezentrale Verwaltungsstrukturen aufzubauen. Wenn man
nun dem Antrag der FDP folgt, müsste die Budgethilfe an
noch weitergehende Bedingungen seitens der Geber geknüpft werden. Eine übermäßige Konditionalisierung
führt aber zu einem Verlust an Ownership seitens des
Partnerlandes, eine Warnung, die immer wieder seitens
namhafter Wissenschaftler beispielsweise des Deutschen
Instituts für Entwicklungspolitik ausgesprochen wird.
Auch ergibt sich in meinen Augen kein Kontrollverlust
gegenüber der Projektfinanzierung: Die „Kontrolle“
über EZ-Investitionen und deren Wirkungen werden
durch Budgethilfe nicht etwa aufgehoben, sondern statt
über die Projekt- und Programmebene nun über die Systemebenen ausgeübt. Partnerländer, die durch Budgethilfe
unterstützt werden, müssen ihr Finanz- und Politikmanagement an den gemeinsam vereinbarten Transparenzund Kontrollregeln sowie ausgehandelten Sektorstrategien ausrichten. Die deutsche Budgethilfe unterliegt jährlichen Leistungskontrollen, die gemeinsam von Gebern
und den Partnerländern durchgeführt werden. Da Budgethilfen ausgesetzt oder abgebrochen werden können,
verfügen die Geber auch über eine klare „exit option“.
Über die Kürzung von Budgethilfe haben die Geber auch
Einflussmöglichkeiten auf die Partnerregierungen; gerade am Beispiel Uganda kann man dies sehen. Nachdem
die ugandische Regierung einige Maßnahmen zur Armutsbekämpfung nicht umgesetzt hatte, hat Deutschland
in den Jahren 2005 und 2006 seinen Beitrag um 10 Prozent gekürzt. Dies hatte zur Folge, dass die Regierung
Ugandas einlenkte und beispielsweise Kürzungen zurücknahm und den Wassersektor aufstockte. Solche Möglichkeiten der Steuerung eröffnet uns die Budgethilfe.
Was eine erste Einschätzung der Wirkung und Sinnhaftigkeit von Budgethilfe anbetrifft, kann ich den Zweiflern
nur die Lektüre von wissenschaftlichen Publikationen
empfehlen. Ich möchte an dieser Stelle nochmals Herrn
Königshaus darauf aufmerksam machen, dass auch ihm
im Rahmen der Ruanda-Reise ein Papier des DIE vorlag,
aus dem erste Wirkungen der Budgethilfe wie folgt hervorgehen: Diese Evaluierungen, die aufgrund des kurzen
Beobachtungszeitraums nur vorläufige und erste Hinweise liefern können, zeigen auch, in welchen Bereichen
„programm based approaches“ und insbesondere Budgethilfe spezifische Wirkungen entfalten können: Dialoge
zwischen Gebern und Nehmern zu sektorübergreifenden
Fragen, mittelfristigen Strategien und den Wirkungen von
Sektorpolitiken gewinnen an Bedeutung. Erfolgreiche
Budgethilfe geht in der Regel einher mit begleitenden
Maßnahmen zur Verbesserung des Finanzmanagements,
zum Beispiel dem Aufbau von Rechnungshöfen und der
internationalen Zertifizierung von öffentlichen Finanzmanagementsystemen, der Organisation politischer Prozesse und der politischen Rahmenbedingungen, zum Beispiel der Stärkung der Partizipation gesellschaftlicher
Gruppen und des Parlaments, sowie der Wirkungskontrolle durch den Aufbau aussagekräftiger Datensystemen
Monitoring von Sektorpolitiken. Das sind Beobachtungen, die man in Ruanda selbst machen konnte.
Darüber hinaus bleiben die langfristigen Auswirkungen auf die Gesellschaft der einzelnen Länder noch abzuwarten. Entwicklung braucht immer einen langen Atem,
und es sind komplexe Prozesse, insbesondere wenn man
sich vornimmt, grundlegende staatliche Strukturen zu
verändern.
Moderne Entwicklungspolitik ist deshalb Strukturpolitik. Dafür steht die Sozialdemokratie!
Die FDP-Bundestagsfraktion hat diesen Antrag nicht
eingebracht, weil sie etwa die Budgethilfe als Instrument
generell ablehnt, sondern vielmehr, um dieses Instrument
tauglich zu machen und die Praxis auf eine solide Basis
zu stellen. Budgethilfe kann nur unter bestimmten Voraussetzungen und unter der Einhaltung genauer Kriterien zum Erfolg führen. Das fordert nicht nur die FDPBundestagsfraktion, sondern auch der Bundesrechnungshof und namhafte Experten. Leider hat die Bundesregierung ein solches Konzept bisher nicht vorgelegt.
Angesichts der geringen Erfolge bei der Armutsbekämpfung orientiert sich seit dem Ende der 90er-Jahre
die weltweite Entwicklungszusammenarbeit um. Sie folgt
der Erkenntnis, dass nachhaltige Entwicklung nicht von
Zu Protokoll gegebene Reden
außen implementiert werden kann. Um die Wirksamkeit
der Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen, soll den
Regierungen der Empfängerländer durch neue Formen
der Kooperation mehr Verantwortung übertragen werden. Grundlage dafür bildet die im Jahr 1999 von der
Weltbank eingeführte Initiative „Poverty Reduction Strategy Plan“. Danach sollen die Regierungen der Empfängerländer gemeinsam mit den Zivilgesellschaften eine
Armutsminderungsstrategie erarbeiten, auf deren Grundlage die Geber ihre Entwicklungsleistungen ausrichten.
Als ein Element dieser neuen Entwicklungsagenda ist
die sogenannte Budgethilfe ein Instrument der Finanziellen Zusammenarbeit, bei dem die Geber Mittel direkt in
die Staatshaushalte der Empfängerländer einzahlen. In
der bilateralen, europäischen und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit wird Budgethilfe aber auch
als probate Maßnahme zur Beschleunigung des Mittelabflusses gesehen, was aufgrund der steigenden Verpflichtungen zur internationalen öffentlichen Entwicklungshilfe weithin als Erfolgskriterium schlechthin gewertet
wird. Obgleich unbestritten Budgethilfe in Einzelfällen
positive Wirkungen auf die öffentliche Finanzverwaltung
und Prozesse der Haushaltspolitik in den Nehmerländern
haben kann, stehen jedenfalls der jetzt beabsichtigten
massiven Ausweitung der Budgethilfen durch die Bundesregierung und vor allem durch die Europäische Kommission schwerwiegende Bedenken entgegen.
Mit dem Bekenntnis der Bundesregierung zu der Paris-Deklaration aus dem Jahr 2005 manifestiert sich dieser neue Ansatz in der Entwicklungszusammenarbeit
durch den Wechsel von dem bisher verfolgten Projektansatz hin zu einem programmorientierten Ansatz als effektiverer Form der Entwicklungszusammenarbeit. Die allgemeine Budgethilfe, die in den Gesamthaushalt des
Empfängerlandes fließt, und die sektorale Budgethilfe,
die nur für bestimmte Sektoren bestimmt ist, stellen die internationalen Geber regelmäßig in Form von Tranchen
direkt und ohne Zweckbindung zur Verfügung. Seit dem
Beginn der Gewährung von Budgethilfen durch die Bundesregierung im Jahr 2001 hat sie dieses noch bis dahin
unerprobte Instrument der Entwicklungszusammenarbeit
massiv ausgeweitet, obwohl aussagekräftige Evaluierungen bisher kaum vorliegen. Bereits 2005 betrug die deutsche Beteiligung an derartigen Maßnahmen 435 Millionen Euro, wovon 243 Millionen Euro als allgemeine
Budgethilfe und 192 Millionen Euro als sogenannte
Korbfinanzierung oder als sektorale Budgethilfe gewährt
wurden. Die im selben Jahr in einem Operationsplan des
Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung angekündigte stärkere Programmorientierung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit realisierte die Bundesregierung 2006, indem sie die hierfür
vorgesehenen Mittel auf 545 Millionen Euro erhöhte. Das
bedeutet, dass 2006 rund ein Viertel der Mittel der Finanziellen Zusammenarbeit als Beiträge zu Budgethilfen geflossen ist.
An die Voraussetzungen für die Gewährung von Budgethilfe müssen strenge Anforderungen gestellt werden.
Das mit der Budgethilfebewilligung verfolgte Ziel der
Übernahme von Eigenverantwortung der Empfängerländer durch mittelfristige Entwicklungspläne setzt die entsprechende Aufnahmefähigkeit, also insbesondere die
Funktionsfähigkeit von Regierung und Verwaltung sowie
ausreichende Kapazitäten für die Umsetzung der Programme voraus. Dort, wo solche stabilen staatlichen
Strukturen nicht gegeben sind, kann Budgethilfe auch
kein taugliches Instrument der Entwicklungszusammenarbeit sein.
Erste Evaluierungen haben gezeigt, dass sich die mit
der Budgethilfe verbundenen hohen Erwartungen nur
zum Teil erfüllt haben. Trotz des großen Mittelaufwandes
konnte die Einkommensarmut nicht im beabsichtigten
Maße reduziert werden. Zudem ist der von der Empfängerseite und bei zivilgesellschaftlichen Akteuren erhoffte
Rückgang des Gebereinflusses auf die Politik in den Empfängerländern bisher ausgeblieben. Vielmehr hat die Koordinierung der Geber durch Budgethilfearbeitsgruppen
einerseits zur Verlagerung des Politikdialogs auf höchste
politische Entscheidungsebene und andererseits zu einem
größeren Machtungleichgewicht zwischen den Akteuren
geführt. So ist es in den untersuchten Ländern nicht gelungen, Parlamente und Zivilgesellschaft in die Diskussion über die Leistungen und Erfolge bei der Umsetzung
der Armutsstrategien einzubeziehen.
Mit dem Finanzierungsinstrument der Budgethilfe soll
ein größeres Gewicht auf die konkrete Messbarkeit der
Maßnahmen erreicht werden. Auch hier bleibt die Umsetzung hinter den Erwartungen zurück. Die Gewährung
von Budgethilfe an Ergebnisse und Auswirkungen statt an
bestimmte Politikmaßnahmen zu knüpfen, erfordert lokale Auswertungskapazitäten; Maßnahmen mit langer
Laufzeit können gar nicht einbezogen werden.
Eine weitere zentrale Erwartung an die Budgethilfe,
die Senkung der Transaktionskosten, also jener Kosten,
die für Verwaltung und Abwicklung von Entwicklungszusammenarbeit anfallen, wurde sogar völlig verfehlt. Bisherige Untersuchungen haben vielmehr steigende Transaktionskosten nachgewiesen. Dies ist auch plausibel, da
bei Fortbestand der herkömmlichen Strukturen neue Parallelstrukturen aufgebaut werden müssen. Aufgrund der
unterschiedlichen nationalen Interessen an der Sichtbarkeit der Maßnahmen kann das für ein Land wie Tansania
bedeuten, 2 000 Berichte zu verfassen und 1 000 Gebermissionen zu empfangen. In Uganda wurden allein
30 verschiedene Budgethilfeinstrumente ausgemacht.
Dies überfordert naturgemäß die Nehmerländer.
Budgethilfeprogramme fokussieren - ebenso wie die
Poverty Reduction Strategies der Weltbank, die ihnen zugrunde liegen - noch zu wenig auf die ökonomische Entwicklung. Es fehlen positive Anreize dafür, die Eigenfinanzierungskapazität der Nehmerländer zu stärken.
Schwache Finanzsysteme, treuhänderische Risiken und
Korruption sind weiterhin ungelöste Probleme der Budgethilfegewährung. Nur eine sorgfältige Auswahl geeigneter Instrumente im Einzelfall sichert die Qualität der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit.
Die Einschätzung der Förderungswürdigkeit hängt
von vielen Kriterien ab, die in jedem Einzelfall sorgfältig
geprüft werden müssen. Zielgruppe für Budgethilfebewilligungen dürfen ausschließlich Länder mit relativ guter
Regierungsführung sein, deren Zahl leider noch immer
Zu Protokoll gegebene Reden
sehr begrenzt ist. Die Bundesregierung zeigt sich jedoch
auch für Länder mit fragiler Staatlichkeit offen. So beteiligt sich die Bundesregierung in Uganda in Form einer
Mitfinanzierung eines Weltbankarmutskredites mit einem
Gesamtvolumen von 12 Millionen Euro am Staatshaushalt, obgleich die politische Situation des Landes dies
nicht rechtfertigt.
Der Trend zur Ausweitung der Budgethilfebewilligungen und -auszahlungen zeigt sich besonders in der Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union.
Zielvorgabe bis 2010 ist, 66 Prozent der ODA-Leistungen
im Rahmen programmorientierter Ansätze bereitzustellen, wobei die Budgethilfe circa 50 Prozent ausmachen
wird. Zudem geht der Trend in der EU eindeutig dahin,
die Laufzeiten von Budgethilfen auszuweiten, um - wie es
heißt - die Vorhersehbarkeit des Budgets für die Nehmerländer zu erhöhen. Auch für die Finanzhilfen der EU
müssen aber die Kriterien gelten, wie sie der Deutsche
Bundestag für die bilaterale deutsche Entwicklungszusammenarbeit zu Recht fordert. Schwerpunkt europäischer Entwicklungszusammenarbeit muss deshalb auch
im Bereich der Budgethilfe einerseits die Evaluierung der
konkreten Auswirkungen der Budgethilfe und andererseits die Koordinierung der Geber innerhalb der EU sein.
Ein solcher politischer Dialog kann im EU-Parlament
aufgrund der Gewährungspraxis jedoch nicht stattfinden.
Die EU-Kommission hat Schwierigkeiten, die Mitgliedstaaten zu einer gemeinsamen Budgethilfepraxis zu
bewegen, und sie hat es versäumt, die Budgetmanagementsysteme zu verbessern, obwohl der Europäische
Rechnungshof dies bereits 2001 angemahnt hat. Ein
Großteil der Budgethilfe der EU wird im Rahmen des Europäischen Entwicklungsfonds zur Verfügung gestellt.
Die Bundesregierung kontrolliert die Umsetzungsaktivitäten des Fonds lediglich im Rahmen der sogenannten
Komitologieausschüsse. Auf die Programmdurchführung
hat die Bundesregierung im Gegensatz zu der Programmbewilligung keinerlei Einfluss. Der Fonds ist nicht in den
EU-Haushalt eingestellt und unterliegt damit auch nicht
der Kontrolle des Europäischen Parlaments. Seine Integration in den EU-Haushalt ist längst überfällig, da nur
so Budgetklarheit und parlamentarische Kontrolle, hier
des Europäischen Parlaments, zu gewährleisten sind.
Die Integration ist umso dringlicher, als die internationalen Geber mit der Gewährung von Budgethilfe auf
Transparenz und Stärkung der Kontrollrechte der Parlamente in den Nehmerländern abzielen. Diese Forderung
ist jedoch unglaubwürdig, wenn die EU selbst dem Europäischen Parlament vollständige Transparenz der Budgethilfebewilligungen und Kontrolle über den Haushalt
versagt.
Die Befürchtungen und Kritik der FDP-Bundestagsfraktion an der gegenwärtigen Budgethilfepraxis der
Bundesregierung bestätigt auch der Bundesrechnungshof
in seinem Bericht zur Budgethilfe. Der Bundesrechnungshof schreibt, dass die Budgethilfe mit hohen Risiken verbunden ist und nur im Ausnahmefall und unter strengen
Kriterien an bestimmte Länder gewährt werden sollte.
Der Rechnungshof hält die bestehenden Kontrollen durch
das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung durch Monitoring- und Evaluierungssysteme der Budgethilfe für unzureichend.
Der Bundesrechnungshof weist auch auf rechtliche
Probleme bei der Budgethilfe hin und sieht, dass mit der
Budgethilfe ein „finanzwirtschaftlicher Paradigmenwechsel“ verbunden sei, der den Kernbereich der parlamentarischen Finanzkontrolle betreffe. Das Bundesministerium hat aus Sicht des Bundesrechnungshofes an die
Stelle des klassischen haushaltsrechtlichen Instrumentariums - Festlegung des Verwendungszwecks für den deutschen Beitrag, Nachweis und Kontrolle der Verwendung
dieser Mittel - verschiedene andere Maßnahmen gesetzt.
Dazu gehören die Analyse der treuhänderischen Risiken
vor Mittelbewilligung, die Bewertung des Reformwillens
des Partnerlandes, das begleitende Monitoring der Umsetzung der Reformprogramme oder unterstützende
Maßnahmen der Technischen Zusammenarbeit. Dieser
„Paradigmenwechsel“ bedarf aus Sicht des Bundesrechnungshofes nicht nur wie bisher der Unterrichtung, sondern der ausdrücklichen Zustimmung des Haushaltsgesetzgebers.
Angesichts dieser klar geäußerten Kritik des Rechnungshofes ist es nicht nachvollziehbar, dass Bundesministerin Wieczorek-Zeul den Bericht als Bestätigung
ihrer Arbeit in Zusammenhang mit der Ausweitung der
Budgethilfe bezeichnet. Das Gegenteil ist der Fall.
Durch die internationale Entwicklungszusammenarbeit wollen wir auch die Eigeninitiative stärken und die
Schaffung von legitimierten gesellschaftlichen Strukturen
in Entwicklungsländern fördern. Wie das praktisch umgesetzt werden kann, war in den vergangenen Jahren Thema
vieler Konferenzen. Der direkte Transfer von Hilfsgeldern in den Haushalt oder an bestimmte Sektorprogramme in Entwicklungsländern, die sogenannte Budgethilfe, ist eine Konsequenz aus diesen Diskussionen.
Die Bundesregierung setzt dieses Mittel der Entwicklungsfinanzierung derzeit noch zurückhaltend ein. Großbritannien, die Niederlande oder die skandinavischen
Länder sind die Vorreiter. Das BMZ praktiziert vielmehr
eine Mischung aus Projekthilfe, Programmfinanzierungen und begleitender technischer Zusammenarbeit. Wir
unterstützen diesen Ansatz. Gleichzeitig wollen wir das
Ministerium ermutigen, die Vergabe von Budgethilfe weiter auszubauen.
Für eine erfolgreiche Budgethilfe - das ist unsere
Überzeugung - braucht es bestimmte Voraussetzungen.
Es muss in den Empfängerländern ein Mindestmaß an
funktionierenden Institutionen geben, die für die Haushalts- und Finanzpolitik verantwortlich sind. Die Parlamente müssen bei der Haushaltsplanung die Interessen
ihrer Wählerinnen und Wähler transportieren. Abgeordnete müssen in der Lage sein, die korrekte Zuteilung und
Auszahlung von Haushaltsmitteln verfolgen zu können.
Die Regierungen der Partnerländer wiederum sollten vor
allem ins Soziale investieren und dadurch ihren Reformwillen beweisen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir wollen Bürgerinnen und Bürger in Entwicklungsländern, die die Haushalte ihrer Länder verstehen und
prüfen können. Natürlich sind auch die Geber dafür verantwortlich, wie die von ihnen gezahlten Gelder verwendet werden. Dienen sie einer kleinen Elite als Machtstütze, oder kommen sie den Bedürftigsten zugute? Doch
die Legitimation für die Haushaltspolitik darf nicht an die
Geber abgegeben werden. Wichtig sind Transparenz und
Kontrolle vor allem vor Ort.
Ein verbessertes Finanzmanagement in Entwicklungsländern ist kein Selbstzweck. Es muss einhergehen mit
nachhaltigen Fortschritten in den Kernbereichen der
Entwicklungspolitik: Armutsbekämpfung, Auf- und Ausbau von Bildungs- und Gesundheitssystemen, sozialer
Ausgleich und politische Teilhabe. Wenn die Budgethilfe
zu einer weiteren Zentralisierung von ohnehin oft sehr
hierarchischen politischen Systemen führt, hat sie ihr Ziel
verfehlt. Dezentralisierung und die Stärkung von lokalen
Verwaltungen müssen dabei immer im Auge behalten
werden.
In dem Antrag der FDP, der uns heute vorliegt, werden
strenge Kriterien für die Vergabe von Budgethilfe verlangt. Diese werden allerdings längst angelegt. Das entsprechende Konzept des BMZ fand Anfang dieses Jahres
die generelle Zustimmung des Bundesrechnungshofes,
wenn auch Verbesserungen angemahnt wurden. Der
Haushaltsausschuss des Bundestages muss jeder Budgethilfe zustimmen. Jetzt zu fordern, die Budgethilfen nicht
auszuweiten und auf neue Evaluationen zu warten, ist
ebenso kontraproduktiv wie eine zeitliche Befristung von
Zusagen.
Meine Fraktion unterstützt stattdessen eine verantwortungsvolle Erhöhung von Programmhilfen. Diese
muss jedoch von einem Wandel in den internationalen
Wirtschaftsbeziehungen begleitet werden. Den Regierungen im Süden sollte endlich zugestanden werden, selbst
über einen geeigneten Schutz für ihre Märkte und Produzenten entscheiden zu können. Budgethilfe darf nicht
dazu dienen, die wirtschaftlichen und politischen Interessen der Industrieländer durchzusetzen.
Die Agrarsubventionen im Norden gehören abgeschafft, denn sie zerstören das Leben von ungezählten
Menschen vor allem in ländlichen Regionen. Reformen
der Steuersysteme in Entwicklungsländern bleiben wirkungslos, wenn nicht gleichzeitig die Steueroasen geschlossen werden, über die jedes Jahr Milliarden Euro
diese Staaten verlassen. Eine Regulierung der internationalen Finanzmärkte ist dringend geboten. Erst dann kann
ein ehrlicher und gleichberechtigter Dialog zwischen Gebern und Empfängern zustande kommen, wie ihn das
Konzept der Budgethilfe anstrebt.
Im Entwicklungsausschuss haben wir das Instrument
der Budgethilfe in den letzten Jahren rauf- und runterdiskutiert, letzten November eine Anhörung zum Thema
durchgeführt, uns vom europäischen Kommissar für Entwicklung und Humanitäre Hilfe, dem Liberalen Louis
Michel, sowie von der Bundesregierung unterrichten lassen. Man könnte also der Meinung sein, die Argumente
sind ausgetauscht und eine weitere Befassung mit dem
Thema brächte wenig Neues. Diese Meinung teile ich
nicht. Denn die Budgethilfe ist ein relativ neues Instrument der Entwicklungszusammenarbeit, das sowohl bei
den Geber- als auch bei den Empfängerländern Lernprozesse ausgelöst hat. Diese Lernprozesse führen auch
dazu, dass die vorhandenen Konzepte verbessert und weiterentwickelt werden. Ich denke, wenn man sich anschaut,
wie Parlament und Regierung mit dem Instrument der
Budgethilfe in den vergangenen anderthalb Jahren umgegangen sind, wenn man sich anschaut, wie über dieses Instrument debattiert wurde und wird, dann kann man sagen, dass sich einiges getan hat, seit die FDP im Sommer
2007 den Antrag eingebracht hat.
Lernprozesse auszulösen ist auch ein Ziel der Budgethilfe: Prozesse hin zu mehr Entwicklung und weniger Armut, hin zu mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und hin
zu einer besseren Achtung der Menschenrechte. Teil der
Budgethilfe ist auch ein intensiver Dialog zwischen den
Empfängerländern und den Gebern. Um für Budgethilfe
infrage zu kommen, müssen Staaten gewisse politische,
rechtliche, wirtschaftliche Mindeststandards erfüllen.
Dass die Ausgangssituation zu Beginn einer Budgetfinanzierung nicht immer unseren Idealvorstellungen entspricht, ist ein Punkt, der immer wieder zu Diskussionen
führt. Ich bin aber der Meinung, dass die Budgethilfe als
Instrument verstanden werden muss, dass Veränderungen
hin zu diesen Idealvorstellungen anstoßen kann und soll.
Sind die Voraussetzungen für die Budgethilfe zu hoch gesetzt, kommen wir in eine Situation, in der nur noch Staaten für dieses Instrument infrage kommen, die es nicht
mehr brauchen.
In den Zeitungen dieser Woche konnten wir lesen, zu
was es führt, wenn man die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern zu hoch ansetzt.
Da hat nämlich Herr Westerwelle angekündigt, dass er,
wenn er erst einmal Außenminister sei, die Entwicklungszusammenarbeit mit Ländern beenden werde, in denen
Frauen und Homosexuelle diskriminiert würden. Damit
hätte die FDP dann ihr Ziel erreicht, die Entwicklungszusammenarbeit abzuschaffen. Denn nach der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes werden Frauenrechte in allen Partnerländern der Bundesrepublik zum
Teil erheblich verletzt. Stellt man die Zusammenarbeit mit
diesen Ländern ein, verspielt man auch den vorhandenen
Hebel, Veränderungen anzustoßen.
Dieser Hebel ist bei der Budgethilfe größer als bei anderen Instrumenten der Entwicklungszusammenarbeit.
Verschiedene Geber koordinieren ihre Zahlungen und haben gemeinsam mehr Gewicht bei Verhandlungen als
etwa Deutschland allein. Und das Instrument der Budgethilfe endet nicht mit der Überweisung von Geld in ein
„schwarzes Loch“, das man nationales Budget nennt. Es
beinhaltet den Dialog mit der Regierung darüber, wie und
wofür das Geld verwendet werden soll. Es beinhaltet Gespräche, etwa über Frauenrechte. Es wird kombiniert mit
der Stärkung von Parlamenten, Rechnungshöfen und
Antikorruptionsbehörden. Diese Stärkung staatlicher
Strukturen und demokratischer Prozesse führt zu mehr
Eigenverantwortung und Effektivität der EntwicklungsZu Protokoll gegebene Reden
zusammenarbeit. Damit trägt das Instrument der Budgethilfe zu den zentralen Zielen der Paris-Agenda bei, die im
September in der ghanaischen Hauptstadt Accra bekräftigt wurden.
Seit die FDP vor anderthalb Jahren den Antrag, über
den wir heute debattieren, in den Bundestag eingebracht
hat, hat sich vieles getan. Viele Unklarheiten hinsichtlich
der Budgethilfe wurden beseitigt. So manche Sorge der
FDP sollte sich daher gemindert haben. Die Budgethilfe
ist und bleibt ein Instrument unter anderen, es haben
keine Verdrängungseffekte stattgefunden; das Parlament
wird in die Auszahlung von Tranchen inzwischen einbezogen; die Mobilisierung von eigenen Einnahmen hat
sich in Staaten, an die Budgethilfe gezahlt wird, verbessert.
Andere Forderungen der Antragstellenden wurden
nicht erfüllt, was aber an einem falschen Verständnis des
Instruments liegt. So fordert die FDP, dass bei der Budgetfinanzierung der Steigerung des Wirtschaftswachstums mehr Gewicht zukommen solle. Es ist ja schön, dass
die FDP die Einsicht hatte, dass für eine solche Steigerung nicht allein dem Markt vertraut werden kann. Es
zeigt aber, dass die Kollegen von den Liberalen nicht verstanden haben, dass die Budgethilfe der Umsetzung der
nationalen PRSP, der Armutsbekämpfungsstrategien,
dienen soll und dass bei diesen Strategien der Schwerpunkt auf der Verbesserung der sozialen Grundversorgung liegt. Daher ist ihr Name auch Armutsbekämpfungsstrategie und nicht Wirtschaftswachstumsstrategie.
In den letzten Jahren haben wir viel über das neue Instrument der Budgethilfe gelernt. Dieser Prozess ist noch
nicht abgeschlossen, und unsere Aufgabe als Parlamentarier ist es, die Bundesregierung bei ihrem Umgang mit
diesem Instrument kritisch und konstruktiv zu begleiten.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5604 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Monika
Knoche, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert,
Frank Spieth und der Fraktion DIE LINKE
Cannabis zur medizinischen Behandlung
freigeben
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald
Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Medizinische Verwendung von Cannabis erleichtern
- Drucksachen 16/9749, 16/7285, 16/11305 Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Eichhorn
Auch diese Reden nehmen wir zu Protokoll.
({1})
Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Maria Eichhorn, CDU/CSU, Dr. Marlies Volkmer,
SPD, Detlef Parr, FDP, Monika Knoche, Die Linke, und
Dr. Harald Terpe, Bündnis 90/Die Grünen.
Cannabis ist deutschland- und europaweit die am weitesten verbreitete illegale Droge, deren Konsum in den
vergangenen 10 bis 15 Jahren stark zugenommen hat.
Mindestens 220 000 Menschen sind hierzulande stark abhängig vom Cannabis mit den bekannten gesundheitlichen Folgen. In der Medizin kann der kontrollierte Einsatz von Cannabinoiden bei bestimmten Erkrankungen,
insbesondere dann, wenn Probleme mit herkömmlichen
Schmerzmedikamenten auftreten, sinnvoll sein.
Die Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke zielen jedoch nicht darauf ab, die
Möglichkeit des Einsatzes von Cannabinoiden wie zum
Beispiel Dronabinol zu regeln. Mit den Anträgen, die in
weiten Teilen identisch sind, soll eine Freigabe des Cannabiskonsums und -besitzes bei medizinischer Indikation
erwirkt werden. Dies lehnen wir, wie viele Experten, aus
guten Gründen ab.
So wird in den Anträgen gefordert, das Verfahren zu
regeln, nach dem Cannabis aufgrund einer medizinischen
Indikation verwendet werden darf. Bei Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung soll nach Vorstellung der Grünen
und der Linken der Besitz von Cannabis von der Strafverfolgung freigestellt und der Anbau von Cannabis für den
medizinischen Eigenbedarf erlaubt werden. Nach Aussage vieler Fachleute bei der Anhörung im Gesundheitsausschuss am 15. Oktober 2008 gibt es eine solche klare
Indikationsstellung bisher nicht. Außerdem müsste die
Liste der medizinischen Indikationen aufgrund des Wandels der medizinischen Erkenntnisse laufend geändert
und angepasst werden. Aus den Stellungnahmen vieler
Sachverständiger geht eindeutig hervor, dass der Forderung nach einem straffreien Konsum und Anbau von Cannabis zum Eigenbedarf viele Bedenken hinsichtlich der
Sicherung der Qualität und der Sicherheit und Kontrolle
des Betäubungsmittelverkehrs entgegenstehen. Deshalb
ist dieser Regelungsvorschlag abzulehnen.
Auch die Frage der Zulassung eines definierten und
standardisierten Cannabisextraktes in Form eines Fertigarzneimittels wirft Fragen auf. Es liegt in unserem Interesse als Patienten, dass Arzneimittel hierzulande nur
auf der Grundlage des Arzneimittelgesetzes und des Betäubungsmittelgesetztes ({0}) in Verkehr gebracht
werden dürfen. Danach müssen insbesondere Qualität,
Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Arzneimittels wissenschaftlich nachgewiesen werden. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, können die entsprechenden
Wirkstoffe verschreibungsfähig gemacht und in die Anlage III des BtMG aufgenommen werden. Dies ist bislang
aufgrund klinischer Prüfungen nur für die CannabisWirkstoffe Nabilon und Dronabinol erfolgt. Dagegen sind
diese Voraussetzungen bei natürlichen Gemischen wie
zum Beispiel dem Cannabisextrakt bisher nicht erfüllt:
Zum einen ist der Nutzen der Behandlung nicht erwiesen.
Zum anderen sind bei Haschisch, Marihuana und anderen illegalen Hanfzubereitungen derzeit weder der
Wirkstoffgehalt noch Art und Umfang schädlicher Beimengungen bekannt. Dazu kommen die Risiken der Einnahme: So weisen Studien auf eine Reihe akuter und langfristiger Beeinträchtigungen durch Cannabiskonsum hin.
Diese sind bei chronischem Dauerkonsum mit großen gesundheitlichen Risiken, bis hin zur psychischen Abhängigkeit, verbunden.
Seit dem 1. Oktober 2008 liegt dem Bundesinstitut für
Arzneimittel ein Antrag auf Zulassung eines Arzneimittels
mit Dronabinol vor, der derzeit geprüft wird. Allerdings
hatte im März 2008 der Gemeinsame Bundesausschuss
dem Gesundheitsministerium mitgeteilt, dass es keine
überzeugend neuen Erkenntnisse im Zusammenhang mit
Dronabinol als Schmerztherapeutikum gebe.
Als Ergebnis der Anhörung stellen wir fest: Bei Patienten, die unter einer konventionellen Behandlung keine
ausreichende Linderung bei bestimmten Symptomen wie
zum Beispiel Schmerzen erfahren, kann eine Therapie mit
Cannabinoiden sinnvoll sein, vor allem in der Palliativmedizin. Diese Therapie gehört jedoch nach Meinung
vieler Sachverständiger in die Hand des Arztes. Jede
Form der Selbsttherapie auf der Grundlage von durch Eigenanbau gewonnenen Pflanzenteilen ist abzulehnen. Sie
gefährdet die Patientensicherheit und die Sicherheit der
Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs. Daher würde
eine Straffreistellung des Cannabisbesitzes zu medizinischen Zwecken nicht nur gegen geltendes Recht
verstoßen, sondern auch die Sicherheit einer solchen
Cannabinoidanwendung für den Patienten und für den
behandelnden Arzt untergraben.
Wenn Cannabinoide verwendet werden, dann sollten
sie nicht als Medikamente der ersten Wahl eingesetzt werden, da es häufig zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen kommt. Dies ist besonders bei mittel- und längerfristigem Einsatz zu berücksichtigen. Es liegt im Interesse
der Patienten, dass der wissenschaftliche Nachweis für
Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit eines Medikamentes erbracht wird, bevor es zugelassen werden
kann.
Die Straffreistellung des Cannabisbesitzes zu medizinischen Zwecken, wie in den beiden Anträgen gefordert,
ist abzulehnen.
Schon bisher hat kaum jemand daran gezweifelt, dass
austherapierte Patienten mit chronischen Schmerzen erfolgreich mit Cannabispräparaten behandelt werden können. Letzte Zweifel daran konnte die öffentliche Anhörung zu den beiden vorliegenden Anträgen ausräumen.
Einige Kommentatoren der Anhörung haben leider
den Umstand, dass erfolgreiche Behandlungen mit Cannabinoiden möglich sind, missverstanden. Sie berichteten, die Mehrheit der Experten habe die medizinische Anwendung von Cannabis befürwortet. Das ist eine
verkürzte und deshalb verfälschende Darstellung. Tatsächlich hat eine Mehrheit der Experten den Einsatz von
Cannabis nur dann als medizinisch vertretbar bezeichnet,
wenn er an strenge Bedingungen geknüpft ist. So wurden
mehrheitlich die Selbstmedikation und der Eigenanbau
von Cannabis abgelehnt. Eindringlich plädiert wurde für
die Zulassung eines Fertigarzneimittels, unter anderem
um konstante Wirkstoffkonzentrationen zu gewährleisten.
Die Selbstmedikation wurde vor allem aufgrund des Nebenwirkungsspektrums von Cannabisprodukten abgelehnt. Berichtet wurde unter anderem von Schlaganfällen
und Herzinfarkten, Bluthochdruck und Pulsbeschleunigung.
Zu beachten sind freilich nicht nur die Fälle, in denen
eine Anwendung Erfolg verspricht, sondern auch Kontraindikationen. Keinesfalls angewendet werden sollten
Cannabinoide von schwangeren Frauen und Heranwachsenden bis mindestens 20 Jahre. Deshalb sollte nach Auffassung der Experten die Anwendung niemals ohne Betreuung durch einen Arzt erfolgen.
Die Selbstversorgung mit Cannabis wurde auch deshalb mehrheitlich abgelehnt, da diese immer verbunden
wäre mit illegalen Quellen, seien es Drogenhanfsamen
zum tolerierten Selbstanbau oder geringe Marihuanamengen zur straffreien Nutzung. Unbescholtene Bürger
würden dabei nicht nur in ein Schwarzmarktmilieu abgedrängt. Vielmehr stünden sie auch in der Gefahr, Cannabis von sehr schlechter Qualität zu erwerben, das auch
schädliche Beimischungen enthalten kann.
Bereits vor der Anhörung war die SPD der Auffassung,
dass sich die Versorgungssituation der schwerkranken
Patienten am besten durch die Zulassung eines Fertigarzneimittels verbessern ließe. Mit der Zulassung unmittelbar verbunden wäre, dass die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten des Arzneimittels übernehmen würden.
Zudem ließe sich das Problem der teilweise erheblichen
Schwankungen des Wirkstoffgehalts von pflanzlichem
Cannabis umgehen.
Die Experten haben diese Position bekräftigt, gleichzeitig aber auch eingeräumt, dass die für eine Zulassung
erforderlichen Daten zum Beleg der pharmazeutischen
Qualität, der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit derzeit
noch nicht vorlägen. Das ist genau das Problem: Es liegen bereits Studien zu bestimmten definierten und standardisierten Cannabisextrakten vor, über die ja auch allerorten berichtet wird. Eindeutige Belege, wie sie für den
Erwerb einer Zulassung erforderlich wären, liegen aber
eben leider noch nicht vor.
Zu dieser Frage hat der Gesundheitsausschuss ein Gespräch mit Vertretern der Bundesopiumstelle führen können. Diese betonten, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, BfArM, auf Unternehmen
zugegangen sei, die sich mit dem Thema Cannabis und
Cannabisextrakten befassen. Die Firmen seien ermuntert
worden, gemeinsam mit dem BfArM Studien auf den Weg
zu bringen. Dies ist erfreulich und lässt hoffen, dass der
Prozess dadurch beschleunigt werden kann.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ähnlich ist die Situation beim Rezepturarzneimittel
Dronabinol, dessen Kosten die gesetzliche Krankenversicherung derzeit nicht übernimmt. Auch hier ist die Studienlage nicht eindeutig, wie die Anhörung gezeigt hat.
Eine Verordnung von Dronabinol zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung bedarf aber eines eindeutigen
Nutzennachweises. Ein Unterlaufen des Nachweises lässt
sich schwer begründen.
Ich kann verstehen, dass die derzeitige Situation für
die Betroffenen sehr belastend und unbefriedigend ist.
Leider sehen wir im Moment keine kurzfristig wirksamen
Maßnahmen, um dem Missstand Abhilfe zu verschaffen.
Wir plädieren dafür, noch einmal den Kontakt zum BfArM
zu suchen, um über das Antragsverfahren zur Ausnahmegenehmigung zu diskutieren. Die Anhörung hat zwar bestätigt, dass es zu den aufwendigen Einzelfallprüfungen
keine Alternative gibt. Unseres Erachtens sollte aber auf
jeden Fall darüber diskutiert werden, inwieweit das Antragsverfahren vereinfacht und die Wartezeiten im Interesse der Betroffenen verkürzt werden können.
Lebensqualität ist ein unschätzbar hohes Gut für uns
alle. Diese zu fördern, wenn es möglich ist, sollte jedem in
diesem Hause genauso wie mir ein Anliegen sein. Für
viele schwerkranke Menschen ist der Einsatz von Cannabis die einzige und letzte Möglichkeit, ihre Schmerzen zu
lindern. Betroffenen kann durch die Behandlung mit Cannabis ein großes Stück Lebensqualität zurückgegeben
werden.
Cannabis hat eine eindeutig nachgewiesene schmerzlindernde Wirkung in der medizinischen Verwendung.
Dass Cannabis als Wirkstoff für die Patienten zur Verfügung steht, hält die FDP für erforderlich. Die momentane
Situation ist mehr als unbefriedigend: keine nationale Zulassung für ein Fertigarzneimittel und die im begründeten
Einzelfall nur eventuell erteilte Sondergenehmigung
durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Dronabinolhaltige Mittel müssen in Deutschland für die hierfür vorgesehenen Indikationen endlich
zugelassen werden.
Im Grundtenor sind sich die Fraktionen einig: Die medizinische Anwendung von Cannabis muss erleichtert
werden. Die jetzigen Hürden sind zu hoch und die Konsequenzen für die Betroffenen sehr hart.
Dringend gehandelt werden muss in den folgenden
drei Punkten: Änderung des langfristigen Antragsgenehmigungsverfahrens beim Bundesinstitut für Arzneimittel
und Medizinprodukte. Der theoretisch mögliche Weg,
eine Ausnahmegenehmigung beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zu beantragen, ist langwierig, bürokratisch und wird in den meisten Fällen abschlägig beschieden. Das Antragsverfahren ist extrem
zeitintensiv. Um überhaupt eine reelle Chance auf Genehmigung des Antrags zu erhalten, muss der Patient Nachweise erbringen, dass andere Therapien in seinem Fall
erfolglos geblieben sind.
Klärung der Kostenfrage: Die Behandlungskosten
werden bisher von den Krankenkassen nicht übernommen. Dronabinol, der synthetisch hergestellte Cannabiswirkstoff, ist nach wie vor so teuer, dass sich viele Betroffene dies schlichtweg nicht leisten können. Deshalb
beschreiten viele Patienten den Weg der „Selbstmedikation“, weil sie die monatlichen Kosten von 300 bis
600 Euro nicht aufbringen können. Sie geraten mit dem
Gesetz in Konflikt.
Beendigung der Problematik der drohenden Strafverfolgung: Notwendig ist eine sichere Rechtsgrundlage, um
schwerstkranke Menschen, die von Cannabisextrakten
profitieren, nicht zu kriminalisieren. Wegen der hohen
Kosten der Behandlung mit Dronabinol besorgen sich die
schwerstkranken Patienten Cannabis auf eigene Faust.
Sie machen sich damit strafbar, denn Cannabis fällt unter
das Betäubungsmittelgesetz. Der Besitz ist verboten. Ein
Strafverfahren ist vorprogrammiert.
Diese drei Aspekte werden auch in den beiden zu diskutierenden Anträgen thematisiert. Diese Forderungen
unterstützt auch die FDP.
Nicht übereinstimmen die Liberalen dagegen mit der
Forderung der Linken, den Anbau von Hanf für den medizinischen Eigenbedarf zu ermöglichen. Dieser Gedanke
ist nicht bis zu Ende geführt. Stellen Sie sich doch folgendes Szenario einmal vor: Ein Patient züchtet mit seinem
gekauften Samen seine Hanfpflanzen auf dem Balkon seiner Wohnung. Bei Bedarf wird geerntet und geraucht,
ganz legal und mit Bescheinigung autorisiert. Aber wie
soll hier gewährleistet sein, welche Menge tatsächlich für
den medizinischen Bedarf verwendet wird, und in welcher
Dosierung? Es ist auch nicht auszuschließen, dass sich
möglicherweise Freunde an dieser legalen Hanfplantage
bedienen. Und wer soll gewährleisten, dass dies alles
nicht so abläuft wie hier skizziert, sondern in geordneten
Bahnen?
Die Forderung nach Anbau für den Eigenbedarf wird
von der FDP abgelehnt. Cannabis im Sinne einer „SelfMade“-Medikation anzuwenden, ist nicht tolerierbar.
Die Medikation muss in jedem Fall unter ärztlicher Aufsicht und Begleitung und damit kontrolliert erfolgen.
Das Ziel ist nach wie vor klar: Wir müssen schnellstmöglich die Zulassung von Cannabis als Medikament erreichen. Die momentane Rechtslage ist für die Patienten
unzumutbar. Auch die Ergebnisse der Expertenanhörung
am 15. Oktober 2008 haben dies bestätigt.
Ich möchte noch einmal betonen, dass es um die medizinische Anwendung eines Wirkstoffes geht und nicht um
die Legalisierung zugunsten eines Genusskonsums. Austherapierten Patienten mit chronischen Schmerzen, bei
welchen die schulmedizinische Behandlung nicht mehr
helfen kann, soll wieder ein lebenswürdiges Leben ermöglicht werden. Zu Unrecht wird in diesem Zusammenhang auf gesundheitliche Risiken, Abhängigkeitsgefahren
und Konsumsteigerungen verwiesen. Dronabinol ist für
elf Indikationen zugelassen, die Verwendung ist also klar
definiert.
Eine Zulassung von Cannabis als Arzneimittel würde
viele Betroffene aus dem schwierigen Dilemma befreien:
Konflikt mit dem Gesetz oder jahrelanges Ertragen von
Schmerzen. Von den Schmerzen befreien kann Cannabis
Zu Protokoll gegebene Reden
leider auch nicht, aber diese lindern. Wir haben es in der
Hand, diesen chronisch kranken Menschen ein großes
Stück ihrer Lebensqualität zurückzugeben.
Dass CDU/CSU, SPD und FDP nicht bereit sind,
Cannabis für begründete Fälle als Arzneimittel zuzulassen, folgt ausdrücklich keinen rationalen Erwägungen.
Denn obwohl die Wissenschaftler auf der Expertenanhörung des Gesundheitsausschusses eindeutig die medizinische Wirkung von Cannabis positiv bewerteten, sperrt
sich diese Koalition der Drogendogmatiker und Drogendogmatikerinnen, die gesetzlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, das Arzneimittelgesetz diesbezüglich zu
ändern. Sie will entgegen gesundheitspolitischer Vernunft
weiter eine restriktive Betäubungsmittelpraxis aufrechterhalten und nimmt dafür in Kauf, dass der rezeptpflichtigen Verordnung durch einen Arzt oder eine Ärztin der
Weg versperrt bleibt und den Kranken nicht geholfen
wird.
Wenn hier darauf verwiesen wird, dass Dronabinol ja
als privat zu bezahlendes Medikament im Einzelfall zur
Anwendung kommen könne, so verweise ich auf die Aussage von den Sachverständigen. Sie sagten: „Das Antragsverfahren ist zeit- und kostenintensiv. Die Hürden
sind von Patienten meist nicht zu überwinden. Bisher
habe ich von einer Handvoll Patienten eine Genehmigung für ein Cannabisextrakt bekommen. Wie Dronabinol ist dieser aber sehr teuer. Die meisten Patienten bleiben aber ihrem Schicksal überlassen, da sich die Kosten
auf 300 bis 400 Euro pro Monat belaufen.“
In verschiedenen Bundesländern haben Patienten
noch nicht einmal die Chance, einen Arzt zu finden, der
ihnen helfen würde, beim BfArM eine Ausnahmegenehmigung zu bekommen. Ja, es gibt sogar Patienten, die wegen Eigentherapie mit selbst angebautem Cannabis im
Gefängnis sitzen.
Dabei führten die Sachverständigen in der Anhörung
aus, dass Cannabis nicht - wie die deutschen Krankenkassen im Gegensatz zum Beispiel zu den österreichischen sagen - unspezifisch wirkt, sondern dass Cannabis
ganz gezielt antidepressive und schmerzstillende Wirkung
hat. Es handelt sich hier um hochspezifische Wirkungen,
die durch keine andere Substanz ersetzt werden können.
Demzufolge gibt es nicht nur für Tumorpatienten, für Palliativpatienten, sondern auch bei chronischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose, Rheuma, Schmerz und
Spastik sehr gute Therapieergebnisse mit Cannabis.
Professoren der Medizin an Hochschulen wollen deshalb Cannabinole im Sinne von „best practice“ bei ihren
Patienten anwenden, beklagen aber, dass sie große
Schwierigkeiten mit den Krankenkassen haben - sie sehen dringenden Handlungsbedarf. Was muss denn noch
an Argumenten aufgeboten werden, um die Zulassung von
Cannabis als Medizin zu erreichen?
Selbst die Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2000 über die legale
Einnahme von Cannabis vermittels einer Ausnahmegenehmigung, die eine ärztlich gegebene Indikation voraussetzt, lässt das BfArM kalt. Es genehmigt nicht und beruft
sich auf das Betäubungsmittelgesetz. Ja, auch das Bundesverwaltungsgericht hat 2005 darauf hingewiesen,
dass einem Patienten der Erwerb und Eigenanbau gestattet werden kann. Das Oberlandesgericht Karlsruhe
entschied, dass die Einnahme von Cannabis zur medikamentösen Behandlung aus Notstandsgesichtspunkten gerechtfertigt sein kann.
Das alles kann ich als Politikerin nur als einen Gesetzgebungsauftrag verstehen. Mit unserem Antrag vom Juni
dieses Jahres haben wir Linke eine gesetzliche Regelung
verlangt, die es ermöglicht, bei Vorlage einer ärztlichen
Bescheinigung straffrei Cannabis einnehmen zu können.
Wir verlangen, dass die Ministerin für Gesundheit, Frau
Schmidt, darauf hinwirkt, dass endlich die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Krankenkassen eine
rezeptpflichtige Arznei erstatten.
Politisch bewertet mag die hartnäckige Verweigerungshaltung der Regierung nur daran liegen, dass es die
Oppositionsfraktionen sind, die eine Normalisierung und
Patientengerechtigkeit im Umgang und im Einsatz von
Cannabis wollen.
Medizinisch begründet ist diese Absage an die Vernunft und das Patientenwohl aber in keinem Fall.
Sie dürfen gewiss sein, dass wir Linke uns damit nicht
abfinden werden und erneute Initiativen ergreifen, so
lange, bis die Vernunft obsiegt und den Kranken geholfen
werden kann.
Die Koalitionsfraktionen haben im Ausschuss gegen
unseren Antrag und den nahezu gleichlautenden Antrag
der Linken zur medizinischen Verwendung von Cannabis
gestimmt. Es ist zu vermuten, dass sie auch hier im Plenum nicht von Ihrer Haltung abrücken werden.
Es bleibt indes auch weiter die Frage offen, wie Union
und SPD ihre ablehnende Haltung begründen. Ich kann
nämlich auch bei gutwilliger Betrachtung keine andere
mögliche Erklärung für diese Haltung finden als die, dass
sie ihre drogenpolitische Ideologie über die berechtigten
Interessen der Patientinnen und Patienten stellen, denen
Cannabis helfen könnte.
In der Anhörung im Ausschuss haben mit Ausnahme
der Krankenkassen - wie leider schon häufiger bei diesen
Fragen - alle Experten das Problem klar benannt. Die
derzeitige Situation ist für viele Patientinnen und Patienten ungerecht und unzumutbar. Wer sich den Preis von
400 und mehr Euro pro Monat für Dronabinol nicht leisten kann, der wird auf einen komplizierten Antragsweg
bei der Bundesopiumstelle verwiesen. Und wessen Antrag dort abgelehnt wurde oder wer diesen Weg zu Recht
für unwürdig hält, der besorgt sich Cannabis auf dem
Schwarzmarkt, mit all den gesundheitlichen und strafrechtlichen Risiken, die damit verbunden sind.
Ich muss vermuten, dass Sie an dieser Situation nichts
ändern wollen. Stattdessen kommen Sie immer wieder mit
denselben Textbausteinen. Es gebe keinen klaren Beleg
für die Wirksamkeit von Cannabis bei Diagnosen wie zum
Zu Protokoll gegebene Reden
Beispiel Schmerzen oder Spastik. Cannabisgebrauch
auch zu medizinischen Zwecken mache abhängig usw.
Die Experten haben Ihnen in der Anhörung klar gesagt,
dass sie diese Einwände für abwegig halten.
Eigentlich will ich mich nicht im Detail mit ihren ideologischen und weltfremden Argumenten beschäftigen.
Aber finden Sie es nicht unmenschlich, einer Patientin,
die wegen einer unheilbaren Multiplen Sklerose unter
starken Schmerzen leidet, ein wirksames Medikament zu
verweigern, weil sie davon eventuell abhängig werden
könnte? Ist es nicht zynisch, einem Patienten mit Epilepsie zu sagen, dass das Medikament, das er selbst anbaut
und das ihm seit Jahren dabei hilft, mit seiner Erkrankung
zu leben, gar nicht wirksam sei? Und ist es nicht ebenso
unwürdig, einer Patientin mit Appetitlosigkeit infolge einer schweren Krebserkrankung das Medikament mit dem
Argument zu verweigern, Cannabis sei keine Spaßdroge?
Wenn Sie schon diesen beiden Anträgen nicht zustimmen, dann gehen Sie wenigstens kleine Schritte, um diesen Patientinnen und Patienten das Leben zu erleichtern.
Sie könnten zum Beispiel das Antragsverfahren in der
Bundesopiumstelle so ausgestalten, das sich der bürokratische Aufwand für Patienten und Ärzte in Grenzen hält.
Sie könnten die Bundesopiumstelle personell so ausstatten, dass die Zeit bis zu einer Genehmigung des Antrags
verkürzt wird.
Sie könnten aber auch die vielen guten wissenschaftlichen Belege der therapeutischen Wirksamkeit von Cannabis zum Anlass nehmen, die Rezepturvorschrift für einen Cannabisextrakt, die seit Jahren im Schreibtisch von
Frau Caspers-Merk liegt, verschreibungsfähig zu machen. Das wäre ein wichtiger und sehr effizienter Schritt,
um die menschenunwürdige Situation für viele Patientinnen und Patienten schnell und wirksam zu beenden.
Kommen sie endlich raus aus ihrem weltfremden, drogenpolitischen Elfenbeinturm und helfen Sie den Patientinnen und Patienten!
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf
Drucksache 16/11305. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9749.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/
7285. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Koczy, Thilo Hoppe, Irmingard Schewe-Gerigk,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Frauen stärken - Frieden sichern - Geschlechtergerechtigkeit in der Entwicklungszusammenarbeit und der Konfliktbearbeitung vorantreiben
- Drucksache 16/10340 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Die Reden werden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen
Sibylle Pfeiffer, CDU/CSU, Christel RiemannHanewinckel, SPD, Dr. Karl Addicks, FDP, HüseyinKenan Aydin, Die Linke, und Ute Koczy, Bündnis 90/
Die Grünen.
Vor wenigen Tagen haben wir den 60sten Jahrestag
der Menschenrechte begangen. Auch wenn dieser Tag
zweifellos ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte
der Menschheit ist, habe ich einige Bedenken, zu sagen:
Wir feiern diesen Tag. Ich habe deshalb Bedenken, weil
ich als Entwicklungspolitikerin an die Lage der Frauen in
den armen Ländern der Welt denken muss und an das,
was ich während meiner Aufenthalte in diesen Ländern
gesehen habe.
Es sind die Frauen, die in gewaltsamen Konflikten und
Kriegen besonders leiden müssen. Sie werden misshandelt und vergewaltigt. Es ist eine besondere Perversion,
dass Vergewaltigungen und Misshandlungen von Frauen
gezielt als Kriegsmittel eingesetzt werden. Das, was
Frauen zum Beispiel in Kongo tagtäglich erleiden müssen, kann mit Worten kaum beschrieben werden. Dennoch
muss darüber gesprochen werden, damit diese Verbrechen geahndet werden können.
Doch auch im Alltag werden die Rechte der Frauen
tagein, tagaus mit Füßen getreten, und tagtäglich werden
ihre Leistungen nicht anerkannt. Dies belegen nüchterne
Zahlen, hinter denen sich jedoch unermessliches Leid
verbirgt: Zwei Drittel der Ärmsten der Welt sind Frauen.
Frauen beziehen nur 10 Prozent der Einkommen und verrichten 70 Prozent der unbezahlten Arbeit weltweit.
Frauen gehört nur 1 Prozent des globalen Vermögens.
Zwei Drittel aller Analphabeten weltweit sind Frauen.
Jährlich sterben über 600 000 Frauen an Komplikationen während der Schwangerschaft oder Geburt.
Das Leiden der Frauen in vielen Entwicklungsländern
ist unvorstellbar. Gerade wir Entwicklungspolitikerinnen
und -politiker erleben auf unseren Reisen unmittelbar,
welches Grauen, welche Erniedrigungen Frauen und
Mädchen erleiden müssen. Das fängt schon vor der GeSibylle Pfeiffer
burt an. In manchen Ländern werden Abtreibungen vorgenommen, nur weil die Ultraschalluntersuchung zeigt,
dass es ein Mädchen wird. Es geht weiter damit, dass
Mädchen nicht in die Schule geschickt werden. Später
werden sie zwangsverheiratet, in der Regel noch als Minderjährige. Wenn ich dies vor Ort kritisiere, höre ich zu
99,9 Prozent den Hinweis auf die „kulturellen Besonderheiten“. Ich sage hier ganz offen: Ich kann das nicht mehr
hören. Ich habe Respekt vor allen Kulturen und Religionen. Ich habe Verständnis für Sitten und Gebräuche. Aber
ich habe kein Verständnis für Verbrechen. Ich habe kein
Verständnis, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten
werden. Und Frauenrechte sind Menschenrechte.
Frauenrechte müssen den Frauen nicht verliehen werden.
Frauenrechte sind keine Almosen, die nach Gutdünken
vom Staat oder von religiösen Instanzen quasi „geschenkt“ werden. Aufgrund ihrer Würde stehen Frauen
ihre Rechte zu.
Im Hinblick auf die kulturellen Besonderheiten möchte
ich noch auf Folgendes hinweisen. Noch nie habe ich von
einer Frau, die Opfer von Misshandlung und Herabwürdigungen wurde, gehört, dass dies in irgendeiner Form
mit kulturellen oder religiösen Besonderheiten zu tun
hätte. Dieses Argument verwenden aber fast immer diejenigen, die Menschenrechtsverletzungen begehen.
Doch es gibt leider noch weitere schlimme Beispiele,
wie Frauen gerade in den Entwicklungsländern leiden
müssen. In vielen afrikanischen Ländern existieren barbarische Genitalverstümmelungen. Aus Bangladesch
wissen wir über Säureattentate auf Frauen. Der Grund ist
oft mehr als banal. Manchmal reicht ein Nachbarschaftsstreit oder wenn eine junge Frau einen Bewerber ablehnt.
Wenn sie überleben, sind sie oft für den Rest ihres Lebens
entstellt. In Äthiopien habe ich ein Fistula-Krankenhaus
besucht. Diejenigen Frauen, die dort versorgt werden,
hatten noch Glück. Was ist mit den Zigtausend, die regelrecht hinvegetieren müssen, ausgestoßen, ohne jegliche
medizinische Hilfe?
Am Beispiel der Seuche Aids kann veranschaulicht
werden, wie Diskriminierung buchstäblich das Leben der
Frauen in Entwicklungsländern bedrohen kann. Waren
vor zehn Jahren nur 12 Prozent aller Infizierten weltweit
Frauen, so sind es heute fast 50 Prozent. In SubsaharaAfrika sind es sogar 60 Prozent. Mehr als 30 Prozent aller
Schwangeren im südlichen Afrika sind mit HIV infiziert.
In den Entwicklungsländern hat eine schleichende Feminisierung stattgefunden. Aids hat ein weibliches Gesicht
bekommen.
HIV/Aids zeigt in dramatischer Weise, wohin soziale
und wirtschaftliche Ungleichbehandlung von Frauen
führen kann. HIV/Aids ist gerade in Entwicklungsländern
mehr als ein medizinisches Problem. Diese Krankheit
umfasst auch gesellschaftliche, politische und kulturelle
Dimensionen. Sie hat etwas mit althergebrachten Strukturen zu tun genauso, wie mit sexueller Gewalt. Die Benachteiligung von Frauen in den Entwicklungsländern
war eine wesentliche Voraussetzung für die Feminisierung von HIV/Aids.
Das negative Beispiel von HIV/Aids lässt sich auf viele
andere Krankheiten übertragen.
An dieser Stelle möchte ich auch von Zeichen der Ermutigung, der Hoffung und der Zuversicht für die Entwicklungsländer sprechen. Auch Hoffnung, Mut und Zuversicht stellen sich ein, wenn man die Frauen in den
Entwicklungsländern betrachtet. Sie sind diejenigen, die
Familien ernähren. Sie sind es, die tagein, tagaus stundenlange Wege auf sich nehmen, um Wasser zu holen und
um Brennholz zu sammeln. Frauen pflegen Alte, sie kümmern sich um die Kranken. Wir Entwicklungspolitikerinnen machen immer wieder die Erfahrung, wie Frauen in
armen Ländern mit sehr wenig Geld unglaublich viel Segensreiches bewirken können. In Afrika haben wir Projekte gesehen, wie Frauen eine Hühnerfarm hochgezogen
haben. Der Verdienst wurde verwendet, um die Kinder
auszubilden. In Nepal wurden Frauen in Projekten unterstützt, damit sie auf Märkten Tee verkaufen. Mit dem so
verdienten Geld konnten deren Söhne und Töchter Schulen besuchen. Nicht von Ungefähr arbeitet der Nobelpreisträger Muhammad Yunus, der Erfinder der Mikrokredite, vorwiegend mit Frauen in Entwicklungsländern
zusammen. Er weiß, dass Frauen die Kredite fast immer
zurückzahlen, und er weiß, dass sie das Geld sinnvoll einsetzen. Es wird im Sinne der Familien verwendet. Untersuchungen zeigen Folgendes: Wenn Frauen Mikrokredite
bekommen, so sind deren Kinder im Schnitt größer, gesünder und besser ausgebildet. Das bedeutet, Frauen legen das Geld nachhaltig zum Nutzen ihrer Familien an.
Mir sind diese Erfolgsgeschichten deshalb so wichtig,
da sie zeigen, dass eine Entwicklungszusammenarbeit
ohne die Berücksichtigung von Frauen keinen nachhaltigen Erfolg haben kann. Wir alle sind uns da einig. Dennoch habe ich das Gefühl, dass wir in unseren Kreisen
eine Diskussion führen, die von den betroffenen Frauen in
den Entwicklungsländern selbst nicht nachvollzogen
wird. In sehr vielen Gesprächen vor Ort habe ich gehört:
Wir brauchen eure konkrete Unterstützung; wir brauchen
konkrete Unterstützung für Schulen, für Ausbildung, für
Krankenhäuser, für Kleinbetriebe usw. Von Gender, von
Gender-Budgeting, von Gender-Mainstreaming und von
Geschlechtergerechtigkeit höre ich von den Frauen in
den Entwicklungsländern nichts. Ich höre aber sehr
wohl: Helft uns, damit wir unsere Rechte verwirklichen.
Damit kein Missverständnis auftaucht: Ich habe
grundsätzlich nichts gegen diesbezügliche Diskussionen
und einen diesbezüglichen „intellektuellen Überbau“.
Aber ich sage in aller Deutlichkeit: Ich habe sehr oft den
Eindruck, dass wir an der Sache vorbeidiskutieren. Wir
müssen die Perspektive der betroffenen Frauen in den betroffenen Ländern einnehmen und nicht ausschließlich
von unserer Warte aus Schlüsse ziehen.
Zudem denke ich, dass das Rad nicht immer neu erfunden werden muss, auch nicht im Einsatz für Frauen in den
Entwicklungsländern. Ein Beispiel: Ich erwähnte am Anfang die Erklärung der Menschenrechte. An dieser Stelle
möchte ich auf ein weiteres Ereignis hinweisen, das für
die Rechte der Frauen, besonders in den Entwicklungsländern auch sehr wichtig ist. Es geht um die „Internationale Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung“,
ICPD, in Kairo 1994. Warum war diese Konferenz so
wichtig? Weil in Anwesenheit von über 170 Staaten und
Zu Protokoll gegebene Reden
über 3 000 Nichtregierungsorganisationen ein wichtiger
Beitrag für Stärkung der Frauen geleistet wurde.
Erstmals wurde das Recht der Frauen - und Männer auf sexuelle reproduktive Gesundheit in den Mittelpunkt
gestellt. In diesem Zusammenhang entstand das Konzept
der sexuellen und reproduktiven Gesundheit. Sexuelle
und reproduktive Gesundheit umfasst alle Aspekte des uneingeschränkten körperlichen, seelischen und sozialen
Wohlbefindens in Bezug auf Sexualität und Fortpflanzung. Und, was sehr wichtig ist: Der Gesundheit von
Frauen wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Leider haben Frauen in vielen Entwicklungsländern
einen schweren Stand. Ihre Menschenrechte werden oft
mit Füßen getreten. Eine Entwicklungspolitik ohne Förderung der Frauen ist zum Scheitern verurteilt. Wir müssen aber stets die Lage der betroffenen Frauen vor Ort
berücksichtigen. Ihre Wünsche und Forderungen sind
entscheidend, nicht primär unsere Diskussionen.
Die deutsche Entwicklungspolitik widmet den Frauen
in Entwicklungsländern eine besondere Aufmerksamkeit.
Die Förderung der Gleichberechtigung der Geschlechter
und die damit verbundene Durchsetzung der elementaren
Menschenrechte von Frauen ist erklärtes Ziel unserer
Entwicklungspolitik und bildet einen Schwerpunkt. Fast
alle im vorliegenden Antrag aufgestellten Forderungen
werden von der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
umgesetzt, und dies schon seit langem.
Frauen spielen eine maßgebliche Rolle für die wirtschaftliche, soziale, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung ihrer Länder. Dies zeigt sich ganz besonders
dort, wo Armut den Alltag der meisten Menschen bestimmt. In den afrikanischen Ländern südlich der Sahara
sowie in der Karibik sind es die Frauen, die 80 Prozent
der gesamten Nahrungsmittel produzieren. Sie leisten
rund 70 Prozent der Arbeit in der Landwirtschaft, obwohl
sie nur über ein Achtel der Landtitel verfügen. Die durchschnittliche Arbeitszeit der Frauen wird auf 60 bis
90 Stunden pro Woche geschätzt. Ein großer Teil ihrer Tätigkeit findet im Haushalt statt. Männer besetzen fast drei
Viertel aller entlohnten Stellen, während Frauen ihren
„Löwenanteil“ an Arbeit unbezahlt verrichten. Sie sind
überdurchschnittlich oft im informellen Sektor beschäftigt. Ihre Arbeitsplätze sind unsicher. Die Frauen sind
nicht sozial versichert, in Krankheitsfall bekommen sie
keinen Lohn.
Insgesamt 94,5 Millionen Frauen weltweit sind
Migrantinnen. Obwohl sie auch in der Migration deutlich
weniger verdienen als die Männer, überweisen sie von ihrem geringeren Einkommen einen sehr hohen Anteil an
ihre Familie in der Heimat. Dieses Geld dient vorrangig
der Gesundheitsversorgung und der Bildung ihrer Kinder.
Wenn wir die Entwicklung in den armen und ärmsten
Ländern der Welt wirkungsvoll unterstützen wollen, können wir auf das Wissen und die Tatkraft der Frauen nicht
verzichten. Gerade in Ländern, in denen die Menschenund Frauenrechte nicht ausreichend geachtet werden,
müssen die Frauen erfahren, dass die gleichberechtigte
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ihr gutes Recht ist.
Wir müssen die Frauen stärken und unterstützen. Das
können wir nur, wenn wir durch Projekte der Entwicklungszusammenarbeit im Land präsent sind.
Den Vorschlag des Kollegen Westerwelle, die Entwicklungszusammenarbeit mit all den Ländern zu beenden, in
denen die Menschenrechte missachtet werden und
Frauen benachteiligt werden, halte ich für eine sehr
schlechte Idee. Denn Entwicklungszusammenarbeit basiert immer auf Demokratisierung, Stärkung der Zivilgesellschaft und dem Erleben von Menschenrechten und
Einsetzen für Menschenrechte.
Im Hinblick auf das Ziel der Geschlechtergerechtigkeit
ist die Arbeit des Bundesministeriums für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung vorbildlich. Es arbeitet seit vielen Jahren mit einem wegweisenden Gleichberechtigungskonzept. Grundlage ist der Kabinettsbeschluss vom 23. Juni 1999, der Gender-Mainstreaming
zur Querschnittsaufgabe für alle Arbeitsbereiche der
Bundesregierung macht. Das Gleichberechtigungskonzept des BMZ nimmt die Durchführungsorganisationen
wie auch die staatlich geförderten Projekte von Nichtregierungsorganisationen in die Pflicht. Alle Projekte der
staatlichen deutschen Entwicklungszusammenarbeit
werden gemäß der OECD-Genderkennung daraufhin
überprüft, welche Auswirkungen sie auf die Gleichstellung der Frauen und Männer haben. Die Erkenntnisse
daraus helfen uns, unsere Projekte besser und effizienter
zu planen und zu realisieren und der Chancengleichheit
von Frauen und Männern immer näher zu kommen.
Viele Forderungen des hier vorliegenden Antrags
decken sich mit den Positionen der SPD-Bundestagsfraktion. Das bedeutet, die SPD-Fraktion könnte diesen
Antrag unterschreiben. Aber aus Gründen der Koalitionsdisziplin werden wir ihm nicht zustimmen.
Anfang 2008 habe ich einen entwicklungspolitischen
Antrag zum Thema Frauen und Entwicklung für die
Koalitionsfraktionen erarbeitet. Der Antrag scheiterte
letztlich an Vorbehalten der CDU/CSU-Fraktion gegenüber den internationalen Begriffen Gender-Mainstreaming, Genderkennung oder Empowerment. Diese sollten
im Antragstext gestrichen werden. Nach über zehn Jahren
ihrer Nutzung hält die CDU/CSU diese Begriffe für unverständlich und unzumutbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich empfehle Ihnen
das Positionspapier „Frauen in der Entwicklungszusammenarbeit stärken - Gender-Mainstreaming konsequent
weiter verfolgen“ der SPD-Fraktion. Es ergänzt den Antrag der Grünen und stellt aus unserer Sicht dar, warum
das Instrument des Gender-Mainstreaming gerade auch
in der Entwicklungszusammenarbiet von herausragender
Bedeutung ist. Uns geht es darum, den Frauen in der Welt
ihre tragende Rolle für die Entwicklung ihrer Länder bewusst zu machen und sie dabei zu unterstützen, diese
Rolle auszufüllen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Um den entwicklungspolitischen Prozess in Entwicklungsländern voranzubringen und Konflikte dauerhaft zu
befrieden, müssen in diesen Ländern auch die Rechte der
Frauen gestärkt werden. Darin sind wir uns alle einig.
Ich begrüße deshalb den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Er enthält eine richtige Auswertung
der Situation der Frauen in Entwicklungsländern, und es
werden zahlreiche gute Vorschläge gemacht, wie die Situation der Frauen in Entwicklungsländern durch Maßnahmen der Bundesregierung verbessert werden kann,
Maßnahmen, die die Bundesregierung aus mir unbegreiflichen Gründen bis heute nicht oder nicht im ausreichenden Maße ergriffen hat, obwohl jeder weiß, dass eine
nachhaltige Entwicklung die gleichberechtigte Beteiligung der Frauen in rechtlicher, sozialer, wirtschaftlicher
und gesellschaftlicher Hinsicht erfordert. Die Bundesregierung muss die ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten aktiver nutzen. Die Bundesregierung muss alle ihr
zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um die Lage der
Frauen in ihren Partnerländern zu verbessern. Natürlich
ist dies in vielen Regionen nicht so einfach machbar, aber
auch kleine Schritte sind wichtig und richtig.
Wir, die FDP-Fraktion, teilen die Ansicht, dass vor allem Frauen nach wie vor die Hauptleidtragenden im
Falle von Armut und Krieg sind. Aus diesem Grund sind
sie auch der Schlüssel, wenn es darum geht, dauerhaften
Frieden und Versöhnung zu erreichen.
Auch unterstützen wir die Millenniumentwicklungsziele 3 und 5, wo eine konkrete Verbesserung der Situation von Frauen gefordert wird. Dazu gehören auch die
Ausweitung der Systeme der Mikrokredite, insbesondere
für Frauen, sowie ein diskriminierungsfreier Zugang zur
Bildung. Auch die Weltbank betont, dass Bildung von
Frauen aufgrund ihrer mittelbaren Folgewirkungen die
wichtigste Einzelinvestition in den Entwicklungsländern
ist. Die verstärkte Förderung von Frauen führt zu
besseren Umwelt- und Gesundheitsbedingungen in den
Familien, zu einem höheren Bildungsstand der Kinder.
Insbesondere schädliche Traditionen wie die Genitalverstümmelung können nur durch Bildung und Aufklärung
von Frauen sukzessiv abgelegt werden.
Das Gender-Budgeting können wir als Analyseinstrument bei der Haushaltsplanung und zur Kontrolle der
Ausgaben unterstützen. Jedoch möchte ich unterstreichen, dass wir die Erhöhung der Ausgaben für geschlechterspezifische Programme und Projekte, die wir begrüßen, als eine anteilmäßige Erhöhung verstehen, das heißt,
dass der Anteil von gegenwärtig 3 Prozent erhöht werden
soll.
Unsere große Unterstützung hat die Forderung, die
Entwicklungsfinanzierung im Rahmen der Paris-Deklaration transparenter zu machen.
Aus diesen Gründen wird die FDP dem Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen zustimmen.
Männer tragen die Entscheidungen, Frauen tragen die
Konsequenzen. Weltweit sind Frauen Krisenmanagerinnen. Jede Finanzkrise, jede Nahrungsmittelkrise, jeder
kriegerische Konflikt, jede Hungerkatastrophe wird auf
dem Rücken der Frauen ausgetragen. Denn die Frauen
sind in der Regel für die Ernährung der Kinder, für die
Wasserversorgung der Familien, für das Schulgeld der
Kinder und für die Pflege der Familienmitglieder verantwortlich.
Frauen sind die ersten Opfer, wenn Profite über die soziale Wohlfahrt gesetzt werden. Bei steigenden Preisen
lernen sie kunstfertig, die billigsten Nahrungsmittel zu ergattern, sich neue Rezepte auszudenken, zu nähen, zu
basteln und zu sparen. Das ist in Deutschland übrigens
ganz genauso. Frauen sind Krisenmanagerinnen auf
Kosten von Freizeit, Karriere und ihrer Freiheit.
Wie ist die Situation der Frauen? Hier einige Zahlen:
Weltweit sind 70 Prozent der Hungernden Frauen, sind
70 Prozent der Menschen in absoluter Armut Frauen, besitzen Frauen 10 Prozent des Einkommens, besitzen
Frauen 1 Prozent des Eigentums, leisten Frauen 70 Prozent der unbezahlten Arbeit, machen Frauen 67 Prozent
der Analphabeten aus, besetzen Frauen 10 Prozent der
Parlamentssitze, haben Frauen 6 Prozent der Regierungsämter inne. Und in Deutschland? Verdienen Frauen
22 Prozent weniger als ihre Kollegen, sind von 533 Vorstandssitzen der 200 größten Unternehmen 11 von Frauen
besetzt; das entspricht 2,4 Prozent.
Lange Zeit hat die Entwicklungszusammenarbeit der
besonderen Rolle der Frau nicht Rechnung getragen.
Zum Teil hat sie die Situation der Frauen sogar verschlimmert anstatt verbessert. Mit neuen Aufgaben in
Projekten kam es nicht auf der anderen Seite zu einer Entlastung bei den häuslichen Pflichten. So bedeuteten neue
Möglichkeiten und neue Verantwortungen manchmal einfach nur Mehrarbeit und mehr Zeit, die es nicht gab.
Frauenrechte sind Menschenrechte. Der uns vorliegende Antrag der Grünen geht auf notwendige Veränderungen in der Entwicklungszusammenarbeit ein. Wir unterstützen die Stärkung der Menschenrechte von Frauen,
wie in der UN-Konvention CEDAW gefordert, und wollen
keine Verwässerung von Frauenquoten durch „freiwillige
Verpflichtungen“. Die Einführung von wichtigen Instrumenten wie Gender-Budgets und Gender-Audits fördern
eine geschlechtergerechte Verteilung von Haushaltsgeldern und Entwicklungsgeldern. Diese müssen jedoch auf
allen Ebenen konsequent durchgeführt werden, auch auf
der Seite der Geldgeber, von der Planung über die Durchführung über Monitoring bis hin zur Evaluation. Diese
Forderungen sind nicht neu. Doch an der Implementierung scheitert es - natürlich, denn die entscheidenden
Männer geben nur ungern Verantwortung und Positionen
ab. Auch hier - oder vielleicht gerade hier - in Deutschland.
Doch geht es um mehr. Um die Geschlechterbeziehungen grundlegend zu verändern, müssen wir die Bedingungen des Marktes ändern. Der Neoliberalismus ist nicht
geschlechterblind. Ganz im Gegenteil. Die Ungleichheit
zwischen Mann und Frau in politischen und rechtlichen
Rahmenbedingungen ist sogar eine notwendige Voraussetzung für den Fortbestand der freien Marktwirtschaft ebenso wie verschuldete Länder und Kreditgeber, ebenso
Zu Protokoll gegebene Reden
wie Arbeitgeber und ein Heer von Arbeitslosen. Denn von
den drei Rollen der Frau wird hier nur eine berücksichtigt: die produktive Form der entlohnten Arbeit.
Die reproduktive Arbeit, die Frauen leisten, wird weder entlohnt noch respektiert. Die Frau in ihrer Position
als Mutter und Familienmanagerin ist unsichtbar. Doch
macht diese Arbeit vor allem in Entwicklungsländern einen Großteil ihrer Lebenszeit aus. Auch hier in Deutschland leiden gerade Frauen unter Altersarmut, weil Erziehungszeiten nicht auf ihre Rente angerechnet werden. Die
unbezahlte Arbeit von Frauen wird weltweit auf einen
Wert von 11 Trillionen Dollar im Jahr geschätzt. In Neuseeland und Kanada macht die unbezahlte Frauenarbeit
circa ein Drittel des Bruttoinlandprodukts aus. Die soziale Rolle der Frau, die ihre Verantwortung in der
Gemeinde wahrnimmt und ihre Zeit ehrenamtlichen Aufgaben widmet, die sich um die Pflege der Großeltern
kümmert, wird ebenso wenig honoriert.
Es geht auch anders. Genderquoten sichern den Zugang zu bezahlter Arbeit. In Frankreich ist gesetzlich vorgeschrieben, Wahllisten paritätisch und abwechselnd zu
besetzten. Norwegen hat 2003 eine Frauenquote von mindestens 40 Prozent für Sitze in allen Verwaltungsräten der
600 börsennotierten Unternehmen beschlossen. In
Ruanda besteht das Parlament zu über 50 Prozent aus
Frauen. In Bolivien hat die verfassungsgebende Versammlung eine Frauenquote in allen legislativen Körperschaften von 50 Prozent beschlossen. Mindestlöhne und
soziale Sicherungssysteme sichern die Vereinbarkeit von
Arbeit und Familie, auch bei Krankheit.
Wir unterstützen den Antrag der Grünen, in dem erneut die Umsetzung und Implementierung vieler schon
lange existierender Resolutionen und Instrumente in der
Entwicklungszusammenarbeit gefordert werden. Dafür
brauchen wir auch einen grundlegenden Wandel der
Wirtschaftspolitik und eine Neudefinition von Arbeit,
auch in Deutschland.
Die Armut auf der Welt ist vor allem weiblich. Das
stellt der Weltbevölkerungsbericht 2008 der Vereinten
Nationen vom November dieses Jahres fest. Er bestätigt,
was wir in unserem Antrag „Frauen stärken - Frieden
sichern - Geschlechtergerechtigkeit in der Entwicklungszusammenarbeit und der Konfliktbearbeitung vorantreiben“ betonen: Drei Fünftel der ärmsten Menschen weltweit sind Frauen und Mädchen. Diese Situation ist
skandalös und eine Bestätigung dafür, dass die Gleichbehandlung von Männern und Frauen in weiter Ferne liegt.
Die Armut von Frauen rührt in erster Linie daher, dass
ihnen ihre fundamentalen Rechte vorenthalten werden
und sie keinen Zugang zu den materiellen wie gesellschaftlichen Ressourcen haben, die ein Leben in Würde
und Selbstbestimmung ermöglichen.
Frauenrechte sind Menschenrechte - so lautet eine
zentrale Botschaft unseres grünen Antrags. Ich betone
das, denn allzu häufig wird bei der Geschlechtergerechtigkeit bzw. der Genderpolitik in ökonomischen Kategorien gedacht und argumentiert. Es ist richtig, dass
nachhaltige Entwicklung - wirtschaftliche wie gesellschaftliche - nur durch Geschlechtergerechtigkeit
erreicht wird und dementsprechend ein ganz wichtiges
Kriterium in der strategischen Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit sein muss. Aber unabhängig davon
ist die internationale Staatengemeinschaft dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Frauenrechte gewährleistet werden. Dies muss auch durch mehr Geld für Frauenpolitik geschehen, was über das Gender-Budgeting
organisiert werden kann.
Zwei Hebel, die meist kulturell tradierten Geschlechterrollen zugunsten von Frauen zu beeinflussen, sind die
Entwicklungszusammenarbeit und die Konfliktbearbeitung. Leider wird in diesen Bereichen immer noch zu wenig für die Geschlechtergerechtigkeit getan. Wir wollen
mit unserem Antrag wachrütteln und im Deutschen Bundestag über die dramatische Situation für Frauen weltweit diskutieren.
Auch wenn es bereits engagierte Programme in der
deutschen, europäischen und internationalen Entwicklungszusammenarbeit gibt, so müssen wir konstatieren:
Irgendetwas läuft schief. Denn noch immer sterben über
500 000 Frauen an den Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt. Die Zahl ist seit der Formulierung der
MDGs im Jahr 2000 konstant geblieben. Somit ist das
Millenniumsentwicklungsziel, die Müttersterblichkeit bis
2015 um 75 Prozent zu senken, so gut wie nicht mehr zu
erreichen. Damit dürfen wir uns nicht abfinden.
Auch in anderen Gesundheitsbereichen, beim Zugang
zu ökonomischen Ressourcen und bei der Bildung sind
Frauen ungleich schlechter gestellt als Männer. Dabei ist
die Bekämpfung von Armut untrennbar mit der Geschlechtergerechtigkeit und der Stärkung der Frauen verbunden. Deshalb müssen wir unsere Entwicklungsprogramme viel stärker darauf ausrichten. Wie in unserem
Antrag gefordert, sollten die Beiträge für die sogenannten G-2-Projekte erhöht werden, die als Hauptziel die Geschlechtergerechtigkeit und die Stärkung von Frauen im
Blick haben.
Frauen sind in vielen Regionen weltweit nicht nur kultureller und struktureller Ungleichbehandlung ausgesetzt, sondern auch schlimmsten Formen physischer und
psychischer Gewalt. Dazu gehören häusliche Gewalt und
auch die in einigen Regionen Afrikas verbreitete Genitalverstümmelung. Dramatisch ist die Situation von Frauen
in Konfliktregionen, was uns ganz aktuell besonders im
Osten Kongos vor Augen geführt wird. Sexualisierte Gewalt gegen Frauen ist noch immer in vielen Konflikten ein
Instrument der Kriegsführung, mit dem die Kombattanten
ihre Machtansprüche demonstrieren. Es ist höchste Zeit,
sexualisierte Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nur zu ächten, sondern mit allen verfügbaren Mitteln zu ahnden.
Die Bundesregierung fordere ich auf, ihre Verpflichtungen aus den Resolutionen 1325 und 1820 der Vereinten Nationen konsequent nachzukommen, sich in den
multilateralen Institutionen für eine Strategie gegen die
sexualisierte Gewalt einzusetzen - dazu gehört die gender-sensible Ausbildung von Polizei- und militärischen
Kräften, die im Auftrag der Vereinten Nationen friedensZu Protokoll gegebene Reden
sichernde Maßnahmen durchführen, und die Strafverfolgung der Täter durch die internationale Strafgerichtsbarkeit - und dafür Sorge zu tragen, dass die UN-Missionen
personell wie materiell in der Lage sind, die Zivilbevölkerung vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu
schützen. Wie wir am Beispiel der UN-Friedenstruppe
MONUC im Ostkongo zurzeit vorgeführt bekommen, ist
dies nicht automatisch der Fall.
Nachhaltige Entwicklung und Frieden können wir nur
erreichen, wenn wir uns konsequent für die Rechte der
Frauen starkmachen und Frauen aktiv in der Entwicklungszusammenarbeit und Konfliktbearbeitung unterstützen. Deshalb fordern wir in unserem Antrag zu deutlich mehr Bewusstsein für die Belange von Frauen in
Entwicklungsländern auf und zu mehr Programmen, die
ihren spezifischen Bedürfnissen entsprechen. Wir fordern
ein stärkeres Engagement. Der grüne Antrag enthält deshalb konkrete Vorschläge, wie Entwicklungszusammenarbeit im Sinne einer verstärkten Genderpolitik weiter
verbessert werden kann.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/10340 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Axel Troost, Dr. Gesine Lötzsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gewerbesteuerumlage - An den Bund abschaffen, an die Länder schrittweise auf Null
absenken
- Drucksache 16/11373 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss
Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt werden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Antje Tillmann,
CDU/CSU, Bernd Scheelen, SPD, Dr. Hermann Otto
Solms, FDP, Katrin Kunert, Die Linke, und Britta
Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.
„Gewerbesteuerumlage - An den Bund gänzlich abschaffen - An die Länder schrittweise auf null absenken“,
heißt der Antrag der Fraktion Die Linke und soll eine
konjunkturpolitische Gegenmaßnahme zur internationalen Finanzkrise sein und zur Belebung der Wirtschaft beitragen. Aus unserer Sicht ist er das nicht. Die Absenkung
der Gewerbesteuerumlage wirkt zu spät, zu ungenau und
ungleichmäßig, um im großen Umfang und schnell die
Wirtschaft vor Ort zu stärken. Wir müssen jetzt alles tun,
um die Konjunktur zu stützen.
Wir haben im November erste Maßnahmen ergriffen,
um die Wirtschaft in den Kommunen weiter zu beleben,
unter anderem:
Erstens. Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm wird
aufgestockt. 3 Milliarden Euro mehr fließen in den nächsten zwei Jahren in das Programm sowie in andere Maßnahmen, wie zum Beispiel den altersgerechten Umbau
von Wohnungen. Zweitens. Wir ermöglichen eine bessere
Infrastruktur in strukturschwachen Kommunen. Diese
bekommen über Programme der KfW 3 Milliarden Euro
mehr. Drittens. Die Finanzmittel zur „Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur“ werden am 1. Januar
2009 erhöht. In einem Sonderprogramm werden 200 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt. Diese Maßnahmen müssen nun erst einmal wirken.
Aber gleichzeitig werden wir uns nicht auf diesen
Maßnahmen ausruhen, sondern wir werden im Januar
entscheiden, wie die Konjunktur weiter unterstützt werden kann. Zahlreiche und zielgenauere Vorschläge als der
Vorschlag Ihrer Partei liegen bereits vor. Gemeinsam mit
den Ländern und Kommunen werden wir unter anderem
die Sanierung von Schulen vorantreiben, um die Konjunktur zu stärken. Überaus sinnvoll sind auch die Vorschläge, gezielt in die Infrastruktur zu investieren und
staatliche Investitionen in Bildung und Krankenhäuser
fließen zu lassen.
Investitionsprogramme müssen schnell, zielgenau und
zeitlich befristet wirken. Im Antrag der Linken soll die
Gewerbesteuerumlage an den Bund ab dem 1. Juli 2009
abgeschafft werden. Der 1. Juli 2009 ist für Konjunkturmaßnahmen aber viel zu spät. Wir brauchen im ersten
Quartal 2009 Leistungsanreize. Deshalb ist ein Investitionspaket mit schnell wirksamen Maßnahmen nötig.
Bezüglich der Steuereinnahmen der Gemeinden für
das Jahr 2008 kann man eine sehr positive Bilanz ziehen.
Verglichen mit der letzten Steuerschätzung vom Mai 2008
werden die Steuereinnahmen insgesamt - Bund, Länder
und Kommunen - im Jahr 2008 voraussichtlich um
7,4 Milliarden Euro höher ausfallen. Für den Bund ergeben sich Mehreinnahmen von 0,4 Milliarden Euro. Die
Gemeinden profitieren sogar mit einem Aufkommenszuwachs von 5,7 Milliarden Euro. Die Gründe dafür sind
vor allem in den deutlich gestiegenen Einnahmeerwartungen für die Gewerbesteuer zu finden.
Zahlreiche Maßnahmen der Großen Koalition zur Verbesserung der Finanzausstattung der Gemeinden sind in
dieser Legislaturperiode erfolgt. Die Große Koalition hat
in dieser Legislaturperiode - unabhängig von dem im
Herbst beschlossenen Investitionsprogramm - Maßnahmen ergriffen, um die Finanzausstattung der Gemeinden
zu verbessern. So hat die Koalition sichergestellt, dass
die Mindereinnahmen der öffentlichen Hand, die kurzfristig mit der Unternehmensteuerreform einhergehen,
ausschließlich Bund und Länder tragen. Dies geschah
durch Absenkung des sogenannten Bundesvervielfältigers von 16 auf 12 Prozent; § 6 Abs. 3 Gemeindefinanzreformgesetz.
Von den Vorteilen des durch die Reform ausgelösten
wirtschaftlichen Impulses werden hingegen die Kommu21286
nen als Träger der Gewerbesteuer und der Unterkunftskosten Langzeitarbeitsloser nachhaltig profitieren. Andererseits haben wir die Kommunen und kommunale
Unternehmen von den steuerlichen Auswirkungen und
Konsequenzen der Zinsschranke verschont: Wir haben
durchgesetzt, dass Gebietskörperschaften keinen Konzern im Sinne der Zinsschranke bilden.
Entscheidend ist auch: Durch die Reform bleibt die
Struktur der Gewerbesteuer erhalten. Zukünftig werden
25 Prozent aller Fremdkapitalzinsen wieder zur Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer hinzugezählt, sofern
sie nicht bereits wegen der Zinsschranke von vornherein
vom Betriebsausgabenabzug ausgeschlossen sind. Zusammen mit den Finanzierungsanteilen bei Mieten, Pachten, Leasingraten und Lizenzgebühren - unter Berücksichtigung des Freibetrags - führen diese Maßnahmen
zwar nicht zu Mehreinnahmen, sehr wohl aber zu einer
spürbaren Verstetigung des Gewerbesteueraufkommens.
Das ist eine durchaus schwierige Situation für betroffene
Unternehmen, für die Kommunen wirkt sie jedoch äußerst positiv.
In dem Ergebnis der Steuerschätzung November 2008
wird ein Gewerbesteueraufkommen von insgesamt
38,7 Milliarden Euro prognostiziert. Im Jahr 2007 waren
es „nur“ 36,9 Milliarden Euro. Die Gewerbesteuerumlage
betrug in 2007 in den alten Ländern ohne Stadtstaaten insgesamt 6,17 Milliarden Euro. Davon entfielen auf den
Bund 1,35 Milliarden Euro - 21,9 Prozent - und auf die
Länder 4,81 Milliarden Euro - 78,1 Prozent. In den neuen
Ländern ohne Stadtstaaten betrug die Gewerbesteuerumlage in 2007 insgesamt 0,35 Milliarden Euro, davon
entfielen auf den Bund 0,15 Milliarden Euro - 42,1 Prozent - und auf die Länder 0,20 Milliarden Euro 57,9 Prozent.
Diese Gewerbesteuerumlage geht zurück auf die am
1. Januar 1970 eingeführte Gemeindefinanzreform. Kernstück hierbei war die Einrichtung eines Steueraustausches zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Die
Gemeinden wurden an dem Aufkommen der Einkommensteuer beteiligt, Bund und Länder erhielten einen Anteil
am Gewerbesteueraufkommen. Dies geschah nicht zuletzt
auf Wunsch der Kommunen, da die Gewerbesteuer weit
mehr Konjunkturschwankungen unterliegt als die Einkommensteuer.
Aus welchem Grund will die Linke dann nicht die gesamte Vereinbarung rückgängig machen? Das kann ich
Ihnen sagen: Kommunen, die eine geringe Wirtschaftskraft haben, profitieren nicht von der Abschaffung der
Umlage. Finanzschwache Kommunen haben weniger Gewerbesteuereinnahmen, weniger Umlage, weniger Vorteil durch eine Abschaffung der Gewerbesteuerumlage.
Finanzstarke Kommunen haben viel Gewerbesteuereinnahmen, viel Umlage, viel Vorteil durch eine Abschaffung
der Gewebesteuerumlage. Natürlich werden auch finanzstarke Kommunen die derzeitige wirtschaftliche Situation
spüren. Aber die Finanzschwachen umso mehr.
Wir wollen aber natürlich auch den schwächeren
Kommunen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Mit
Direktzuweisungen an Länder mit Zweckbindung für
kommunale Zwecke können wir zweckgebundener und
zielgerichteter fördern. Deswegen werden wir beim Investitionsprogramm deutlich darauf achten, dass eine
Verteilung gleichmäßig erfolgt.
Wir werden den Antrag der Linken jetzt ablehnen. Wir
werden im neuen Jahr entscheiden, wie die Konjunktur
durch Investitionen unterstützt werden kann. Und diese
Maßnahmen werden mit Sicherheit auch in den Kommunen liegen und diesen helfen.
Wir steuern auf schwierige wirtschaftliche Zeiten zu.
Technisch sind wir schon in der Rezession. Insbesondere
auf der Ebene der Kommunen muss und kann gegengesteuert werden. Doch der hier formulierte Vorschlag ist
alles andere als zielführend.
60 Prozent der öffentlichen Investitionen finden in den
Kommunen statt. Hier gilt es anzusetzen und das Engagement zu verstärken. Die Richtung der SPD - hier im Haus
namentlich vertreten durch Frank-Walter Steinmeier,
Peer Steinbrück, Wolfgang Tiefensee und der SPD-Bundestagsfraktion, stimmt. Es gilt, Bremsen mithilfe der bereits vorhandenen Investitionsprogramme des BMVBS
und KfW-Förderdarlehen zu lösen. Diese Instrumente
müssen daraufhin untersucht werden, ob und wie sie ausgebaut werden können. Teilweise sind diese Programme
zehnfach überzeichnet, sodass ein enormer Bedarf nach
kurzfristigen Umsetzungen besteht. Den Schwerpunkt legen wir von der SPD hierbei ganz klar auf die Kommunen
mit einer schwierigen Haushaltslage, die bisher von diesen Programmen ausgeschlossen sind. Diese Richtung
gilt es mit den Ländern abzustimmen. Ohne sie wird es
nicht gehen.
Der von der Linken vorgeschlagene Weg, die Gewerbesteuerumlage abzuschaffen, führt ins Nirgendwo und
ist in keiner Weise hilfreich. Faktisch wird dadurch den
Kommunen „geholfen“, die keiner Hilfe bedürfen, da sie
bereits genug haben. Es ist kein Weg für Kommunen mit
schwieriger wirtschaftlicher Situation, da ihnen noch weniger Geld zur Verfügung steht.
Darüber hinaus ist es der falsche Weg, weil mit der
Forderung nach Abschaffung der Gewerbesteuerumlage
auch die Gewerbesteuer selbst zur Disposition gestellt
wird. Dies kann definitiv nicht im Interesse der Kommunen sein und ist es auch nicht. Die Gewerbesteuerumlage
ist unerlässlich, damit das Interesse des Bundes und der
Länder an der Existenz der Gewerbesteuer Bestand hat.
Um es auf den einfachen Nenner zu bringen: Der Antrag der Linken ist - wieder einmal - zu kurz gedacht und
nicht hilfreich bei der Lösung der vor uns liegenden Probleme.
Wer den Titel des Antrags der Linken unbedarft liest,
denkt zunächst an eine für diese Fraktion untypische
Forderung nach Steuersenkungen für Unternehmen. Das
stellt sich bei genauerem Hinschauen als klassische Mogelpackung heraus. Sie wollen die Gewerbesteuer nicht
abschaffen oder schrittweise absenken. Sie wollen bloß
das Aufkommen umlenken, das dem Bund und den LänZu Protokoll gegebene Reden
dern augenblicklich zusteht, und es den Kommunen zukommen lassen. Sie schlagen also nur eine Form von Umverteilung vor, aber keine Steuersenkung. Das ist eine
Enttäuschung, denn die Unternehmen könnten eine steuerliche Entlastung gut gebrauchen, um sich im Wettbewerb zu behaupten, Arbeitsplätze zu schaffen, zu erhalten
und zu investieren.
Die Enttäuschung verstärkt sich, wenn man sich dem
Antrag intensiver widmet und den Versuch unternimmt,
die dort getroffenen Feststellungen und Begründungen
für ihren Vorschlag zu beurteilen. Ich habe selten einen so
wenig abgewogenen und unausgegorenen Antrag zu einer finanzpolitischen Fragestellung gelesen. Im Einzelnen will ich deshalb nur auf wenige Aspekte eingehen, die
letztlich mehr Fragen aufwerfen, als der Antrag Antworten gibt.
Erstens. Wenn die Antragsteller zu Recht feststellen,
dass die Gewerbesteuereinnahmen stark konjunkturabhängig sind und die sich abzeichnende Rezession deutliche Mindereinnahmen erwarten lässt, warum sollen dann
die Kommunen so stark auf diese unsichere und schwankende Einnahme fixiert werden? Die Kommunen brauchen doch ein verlässliches und planbares Instrumentarium für eine solide Finanzausstattung.
Zweitens. Es ist von Ihnen völlig zutreffend festgestellt
worden, dass die Gewerbesteuer durch die Umlage im
Laufe ihrer Entwicklung zu einem schwer durchschaubaren Geflecht geworden ist und Züge einer Gemeinschaftsteuer trägt. Dann ist aber doch die vorgetragene Absicht
völlig verfehlt, diese Steuer isoliert zulasten der anderen
Gebietskörperschaften, nämlich des Bundes und der Länder, ohne Überlegungen zur Kompensation der Ausfälle
bei Bund und Ländern auf die Kommunen als einen Empfänger zu konzentrieren. Die notwendige fachliche und finanzielle Einbettung einer solchen Forderung fehlt leider
völlig. Mindestens die Eckpunkte der von ihnen angesprochenen Gemeindefinanzreform hätten hier mit auf
den Tisch gehört. Ohne diese ist eine seriöse Beratung
des Antrags aus meiner Sicht nicht möglich.
Zum Dritten ist für mich nur schwer nachvollziehbar,
warum die Fraktion der Linken einen Antrag mit einer
solchen Thematik hier im Deutschen Bundestag stellt,
während ihr Vertreter in der Föderalismuskommission II
dort bislang nicht durch entsprechende Initiativen oder
Aktivitäten aufgefallen ist. Der Kollege Ramelow erscheint ja auch gar nicht namentlich als Antragsteller im
Rubrum. Das alles verstärkt den Eindruck, dass der Vorschlag wenig überlegt und abgestimmt ist.
Die FDP setzt sich bereits seit Jahren für eine umfassende Gemeindefinanzreform ein, die wir in unser Steuerkonzept „Niedrig, einfach und sozial“ integriert haben.
Das alles haben wir dem Deutschen Bundestag bereits als
ausformulierten Gesetzentwurf vorgelegt. Lassen Sie
mich die Gelegenheit nutzen, an dieser Stelle erneut für
unsere Vorschläge zu werben.
Die FDP will erreichen, dass die Gemeindefinanzen
auf eine zuverlässige Basis gestellt werden. Dieses Ziel ist
mit dem Instrument der Gewerbesteuer kaum zu erreichen. Diese Steuer ist - das stellen Sie selbst fest - extrem
konjunkturabhängig. Sie ist zudem kompliziert und verwaltungsaufwendig zu erheben und bedeutet für die Unternehmen gegenüber der ausländischen Konkurrenz einen deutlichen Kosten- und Wettbewerbsnachteil. Es ist
deshalb nur folgerichtig, die Gewerbesteuer zu ersetzen.
Sie ist ein alter Zopf, der nicht mehr in ein neues, modernes und in sich schlüssiges Steuerkonzept zur Gemeindefinanzierung passt. Nach unserem Vorschlag soll eine solide und zukunftsfähige Gemeindefinanzierung auf zwei
tragfähigen Säulen stehen: Die Kommunen erhalten mit
12 Prozent statt bisher 2,2 Prozent einen deutlich höheren Anteil an der Umsatzsteuer. Die Kommunen erhalten
das Recht, einen gleich hohen Zuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer zu erheben, wobei sie den
Hebesatz selbst festlegen dürfen.
Das alles kann natürlich nur im Rahmen einer umfassenden Steuerreform funktionieren. Niedrige Tarife, eine
starke Vereinfachung und Abschaffung der meisten Ausnahmen und Sondertatbestände sind eng mit einer Reform der Gemeindefinanzierung verbunden.
Wir erleben eine internationale Finanzkrise bisher unbekannten Ausmaßes. Sie wird sich negativ auf die Wirtschaft, die Arbeitsplätze und die Kaufkraft auswirken.
Und dies wird auch die kommunalen Haushalte treffen.
So sind deutliche Rückgänge des Gewerbesteueraufkommens und beim kommunalen Anteil an der Einkommensteuer zu erwarten. Aber auch ein Ansteigen der Sozialausgaben. In der Folge werden die Kommunen deutlich
weniger investieren können. Bund und Länder sind deshalb dringend gefordert, die Städte und Gemeinden zu unterstützen, etwa durch die Abschaffung der Gewerbesteuerumlage. Denn mit dieser Umlage beschneiden Bund
und Länder die Einnahmen der Kommunen aus der Gewerbesteuer erheblich, um etwa 20 Prozent. In Zahlen:
1,6 Milliarden Euro fließen an den Bund, 5,4 Milliarden
Euro an die Länder. In der Summe macht das satte 7 Milliarden Euro weniger in den kommunalen Kassen.
Dieses Geld ist in den Kommunen weitaus besser aufgehoben. Es kann Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung und für die Arbeitsplätze vor Ort geben, weil die
Kommunen mit Abstand die wichtigsten öffentlicher Auftraggeber in unserem Land sind, weil kommunale Standortbedingungen - wie eine gut ausgebaute Infrastruktur
und ein positives Lebensumfeld für die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter sowie deren Kinder - unternehmerische
Entscheidungen entscheidend beeinflussen. Daher muss
es heute darum gehen, unverzüglich die kommunale Investitionskraft zu stärken.
Mit der Abschaffung der Gewerbesteuerumlage würden krasse Fehlentwicklungen bei einer der Hauptsteuerquellen der Städte und Gemeinden korrigiert sowie eine
erhebliche Stärkung ihrer finanziellen Ausstattung eingeleitet.
Zum einen: Nach Art. 28 Abs. Satz 3 des Grundgesetzes steht den Gemeinden eine mit Hebesatzrecht wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle zu. Eine Beschneidung
durch eine abzuführende Umlage steht verfassungsrechtlich dazu im Widerspruch.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zum anderen: Die Gewerbesteuerumlage sollte ursprünglich zeitlich befristet für 1970 und 1971 gelten. Sie
wurde aber nicht nur beibehalten, sondern ihre Legitimation immer fragwürdiger. So dient sie seit 1991 auch zur
Beteiligung der westdeutschen Kommunen am Beitrag ihrer Länder an der Finanzierung des Fonds „Deutsche
Einheit“ und ab 1995 am Solidarpakt. Zu diesem Zweck
wurde auf Wunsch der Länder extra eine „erhöhte Gewerbesteuerumlage“ erfunden. Diese muss weiter gezahlt werden, obgleich ab dem Jahre 2005 die Länder
keine Zahlungen mehr an den Fonds leisten müssen.
Nichtsdestotrotz sind die Gemeinden - nach aktueller
Rechtslage - dazu verpflichtet, über die Gewerbesteuerumlage den nicht mehr existierenden Länderanteil bis
2019 mitzufinanzieren.
Ein zweiter Fakt: Mit der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer ab 1998 wurde die Gewerbesteuerumlage
um eine weitere zusätzliche Komponente zugunsten der
Länder erhöht Selbst die Kommunen in den neuen Ländern wurden einbezogen, obgleich hier eine Gewerbekapitalsteuer von vornherein nicht erhoben wurde.
Die Linke ist der Auffassung, dass der Verzicht auf die
Gewerbesteuerumlage ein Schritt hin zu einer dringend
erforderlichen Gemeindefinanzreform sein könnte, mit
der mittelfristig die kommunalen Steuereinnahmen entscheidend verbessert werden müssen.
Die Forderung der Fraktion Die Linke, angesichts der
internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise die Gewer-
besteuerumlage abzuschaffen, wirkt auf den ersten Blick
charmant. Es scheint so, als würden mit einem Hand-
streich die Kommunen entlastet und zugleich der Investi-
tionsstau gelöst, den das Deutsche Institut für Urbanistik
auf 704 Milliarden bis zum Jahr 2020 beziffert.
Doch nicht immer ist der einfache Weg auch der rich-
tige. Denn gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise müssen
die Instrumente zielgenau und treffsicher sein. Bünd-
nis 90/Die Grünen sind entschieden dagegen, die knap-
pen und knapper werdenden Steuermittel mit der Gieß-
kanne auszuschütten, sei es mit Konsumgutscheinen oder
mit einer spontanen Abschaffung der Gewerbesteuerum-
lage, die das diffizile Gleichgewicht des Finanzaus-
gleichs zwischen Bund, Ländern und Kommunen aus dem
Lot bringen würde. Eine Abschaffung der Gewerbesteue-
rumlage würde den Kommunen zwar sukzessive mehr
Geld in die Stadtsäckel spülen. Allerdings würden gerade
die Kommunen, die das Geld am nötigsten haben, davon
am wenigsten profitieren. Im Kern ist dieser Vorschlag
der Fraktion Die Linken wieder einmal hoch populis-
tisch: Er lässt vollkommen unberücksichtigt, dass trotz
des konjunkturellen Aufschwunges in den letzten Jahren
die Kluft zwischen armen und reichen Kommunen noch
größer geworden ist. So werden gerade die finanzschwa-
chen Kommunen in strukturschwachen Regionen von ei-
ner Abschaffung der Gewerbesteuerumlage am wenigs-
ten profitieren, weil sie in diesen Regionen auch am
wenigsten Gewerbesteuer einnehmen.
Damit die Investitionen auch dort stattfinden, wo es
am notwendigsten ist, müssen direkte Investitionshilfen
von Bund und Ländern für Städte und Gemeinden in be-
sonders strukturschwache Regionen gezielt für die Berei-
che Klimaschutz und Bildung aufgelegt werden. Regio-
nen mit besonders maroder Infrastruktur erreicht das
bisher immer noch erste und viel zu zaghafte Wachstums-
paket der Bundesregierung nicht. Arme Städte und Ge-
meinden mit einem Haushaltssicherungskonzept oder gar
mit einem Nothaushalt sind nicht in der Lage, die Inves-
titionsförderprogramme abzurufen, die die Bundesregie-
rung mit ihrem viel zu kleinen Wachstumsprogramm auf-
gestockt hat. Sie benötigen direkte Investitionshilfen ohne
eigenen Finanzierungsanteil. Wir plädieren für deutlich
aufgestockte Investitionsprogramme für Schulen, ÖPNV,
Fernwärmenetze und Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen
und vieles mehr. Auf diesen Gebieten darf die Bundesre-
gierung mitreden, aber nur sehr begrenzt gestalten. Die
Große Koalition ist deshalb aufgefordert, den neuen An-
lauf in der Föderalismuskommission II zu nutzen, das
Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern wieder
zurückzunehmen. Für finanzschwache Kommunen müs-
sen Investitionszuschüsse nach dem Modell des derzeit
viel zu gering bemessenen Investitionspaktes für energe-
tische Sanierung geleistet werden. Der Finanzierungs-
anteil besonders armer Kommunen muss von Bund und
Ländern getragen werden.
Wenngleich das System der Gewerbesteuer verbesse-
rungswürdig ist, so sollte das Kind nicht mit dem Bade
ausgeschüttet werden. So ist es Aufgabe der Regierungs-
fraktionen in der Kommission für die Föderalismus-
reform II, eine Altschuldenhilfe für notleidende Kommu-
nen, die sich selbst nicht mehr aus ihrer finanziellen
Notlage befreien können, auf den Weg zu bringen. Ein Teil
der Mittel des Solidarpaktes sollte hierfür umgelenkt
werden. Am Gewerbesteuersystem ist denn auch nicht in
erster Linie die Umlage problematisch, sondern die Kon-
junkturabhängigkeit dieser Steuer. Bündnis 90/Die Grü-
nen haben bereits in Zeiten rot-grüner Regierung für den
Erhalt und die Festigung dieser Steuer durch eine Aus-
weitung der Bemessungsgrundlage gesorgt. Wir fordern,
die Bemessungsgrundlage noch weiter auszudehnen.
Deshalb muss die Gewerbesteuer zu einer kommunalen
Wirtschaftssteuer ausgebaut werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11373 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 d
auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Birgitt
Bender, Dr. Harald Terpe, Ulrike Höfken, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Verankerung eines umfassenden Schutzes vor Passivrauchen im Arbeitsschutzgesetz
- Drucksache 16/10337
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
Bender, Dr. Harald Terpe, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bundesweit einheitlichen Schutz vor Passivrauchen in Gaststätten verankern
- Drucksache 16/10338 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Birgitt Bender, Volker Beck ({2}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wirksamen Schutz vor Passivrauchen im öffentlichen Raum umsetzen
- Drucksache 16/2805 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({3})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Carola Reimann, Lothar Binding ({4}), Dr. Margrit Spielmann und weiterer Abgeordneter
Effektiven Schutz vor Passivrauchen zügig gesetzlich verankern
- Drucksache 16/2730 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({5})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Die Reden werden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen
Maria Eichhorn und Gitta Connemann, CDU/CSU,
Dr. Margrit Spielmann, SPD, Detlef Parr, FDP,
Dr. Martina Bunge, Die Linke, und Birgitt Bender,
Bündnis 90/Die Grünen.
Der Nichtraucherschutz in Deutschland war im internationalen Vergleich für lange Zeit wenig entwickelt. Seit
2006 hat sich dies grundlegend geändert. Mit dem „Gesetz zur Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes“, dem
Inkrafttreten des Gesetzes zum Schutz vor den Gefahren
des Passivrauchens auf Bundesebene und der Verabschiedung von Gesetzen zum Nichtraucherschutz in allen
Bundesländern sind wesentliche Änderungen erfolgt.
Dies war auch zwingend notwendig. Denn es ist unbestritten, dass Rauchen und Passivrauchen krebserregend
sind. Es ist bewiesen, dass der Zigarettenkonsum das
größte Risiko für Atemwegs-, Herz-, Kreislauf- und
Krebserkrankungen in Deutschland ist.
Zu Recht erwartete daher die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung vom Gesetzgeber, endlich besser vor
den Gefahren des Passivrauchens geschützt zu werden.
Rund 70 Prozent der deutschen Bevölkerung sind Nichtraucher. Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für
Suchtfragen waren vor Inkrafttreten der gesetzlichen Regelungen zum Nichtraucherschutz 55 Prozent der Nichtraucher unfreiwillig dem Tabakrauch ausgesetzt. Das
Deutsche Krebsforschungszentrum ermittelte, dass fast
die Hälfte der erwerbstätigen Nichtraucher in Deutschland am Arbeitsplatz davon betroffen waren und knapp
ein Drittel aller Nichtraucher in der Freizeit.
Freiwillige Selbstverpflichtungen, wie die Vereinbarung mit dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband,
wurden nicht eingehalten. Daher war es folgerichtig, gesetzlich zu handeln. Der Bund kann den Nichtraucherschutz jedoch nur in den Bereichen regeln, für die er zuständig ist. Wir haben auf Bundesebene alle gesetzlichen
Möglichkeiten geprüft und dann ausgeschöpft.
Das Bundesgesetz zum Schutz vor den Gefahren des
Passivrauchens trat am 1. September 2007 in Kraft. Alle
Einrichtungen des Bundes sowie der Verfassungsorgane
des Bundes, die Verkehrsmittel des öffentlichen Personenverkehrs und Personenbahnhöfe der öffentlichen Eisenbahnen sind seitdem rauchfrei. Das Gesetz beinhaltet
außerdem die Anhebung der Altersgrenze für den Erwerb
und Konsum von Zigaretten auf 18 Jahre. Ab 1. Januar
2009 dürfen Zigaretten an Automaten erst an Volljährige
abgegeben werden.
Damit ist die Regelungskompetenz des Bundes ausgeschöpft. Die Zuständigkeit für landeseigene Einrichtungen und die Gastronomie liegt bei den Ländern. Die Ausgestaltung der Länderregelungen ist nicht einheitlich,
gleicht vielfach einem Flickenteppich. Dabei hat sich gezeigt, dass es Umsetzungsprobleme überall dort gibt, wo
Ausnahmeregelungen existieren.
Dass Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung vom 30. Juli 2008 zu den Nichtraucherschutzgesetzen der Bundesländer Berlin und Baden-Württemberg festgestellt, dass ein ausnahmsloses Rauchverbot in
Gaststätten zum Schutz vor den Gefahren des Passivrauchens geeignet und mit der Verfassung vereinbar ist. Viele
Länder haben das Urteil jedoch genutzt, um ihre Gesetze
wieder zu lockern. Ziel muss es jedoch sein, die Menschen
überall in Deutschland vor den Gefahren des Passivrauchens gleichermaßen zu schützen, möglichst bundeseinheitlich und ausnahmslos. Wir können die Bundesländer
auffordern, ihre Gesetze dementsprechend auszugestalten. Ob und wie sie dies tun, liegt jedoch in ihrem Zuständigkeitsbereich.
Der vorliegende Antrag und der Gesetzentwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zielen darauf ab, die
gesetzlichen Regelungen zu Rauchverboten in Gaststätten und die bestehenden Regelungen im Arbeitsschutzgesetz im Sinne eines umfassenden Gesundheitsschutzes für
Arbeitnehmer zu überarbeiten. Die Regelungen im Arbeitsschutzgesetz, das heißt in § 5 der Arbeitsstättenverordnung, gewährleisten einen Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer. Nach der derzeitigen Regelung hat der
Arbeitgeber die erforderlichen Maßnahmen zu treffen,
damit die nicht rauchenden Beschäftigten in Arbeitsstätten wirksam vor den Gesundheitsgefahren durch Tabakrauch geschützt sind.
„In Arbeitsstätten mit Publikumsverkehr hat der Arbeitgeber Schutzmaßnahmen nach Absatz 1 nur insoweit
zu treffen, als die Natur des Betriebes und die Art der Beschäftigung es zulassen.“, heißt es in Abs. 2 des § 5. Die
Streichung dieses Absatzes würde zwar die Arbeitnehmer
schützen, aber nicht die Gäste. Zudem greift diese Regelung auch in inhabergeführten Kneipen nicht. Vertreter
von Justizministerium, Innenministerium und Arbeitsministerium haben im Petitionsausschuss des Bundestages
am 15. Januar 2007 übereinstimmend festgestellt, dass
der Bund zwar umfassende Kompetenzen beim Arbeitsschutz hat. Dies gelte aber nur für die Arbeitnehmer, nicht
für die Gäste; für sie sind nach der Föderalismusreform
die Länder über das Gaststättenrecht zuständig. Ein Gutachten des Bundesinnenministeriums ergab zudem, dass
ein Rauchverbot auch nicht auf das Grundgesetz über
Maßnahmen gegen gemeingefährliche Krankheiten gestützt werden kann.
Diese Aussagen waren damals eindeutig. Es ergeben
sich aus unserer Sicht bisher keine neuen Erkenntnisse.
Bundesrechtlich haben wir somit keine Möglichkeit, den
Nichtraucherschutz deutschlandweit zu regeln. Eine
klare Regelung ist nur über das Gaststätten recht möglich. Dies liegt in der Hand der Länder. Hier ist eine einheitliche Regelung wünschenswert.
Der Nichtraucherschutz ist in den letzten zwei Jahren
in Deutschland einen großen Schritt vorangekommen.
Gesetzliche Maßnahmen und eine verstärkte Präventionsarbeit haben dazu beigetragen, dass der Anteil jugendlicher Raucher zwischen 2001 und 2007 von 28 Prozent auf 18 Prozent sank. Dies ist sehr erfreulich, aber
kein Grund, sich zurückzulehnen. Wir brauchen möglichst einheitliche gesetzliche Regelungen zum Schutz vor
dem Passivrauchen in allen Bundesländern. Dafür sind
jedoch die Länder zuständig. Der Bund kann nach Aussage verschiedener Ministerien diese Regelungen nicht
treffen.
„Habemus Papam“ - die Wahl eines neuen Papstes
wird den Gläubigen vom Vatikan nicht nur mit dieser Formel, sondern auch mit weißem Rauch verkündet. Um
ebenjenen geht es auch in der heutigen Debatte. Anders
als in Rom wird diese aber nicht zu dem Ende einer Diskussion führen, einer Diskussion, die uns auch im Deutschen Bundestag seit vielen Jahren beschäftigt. Es geht
dabei um den Schutz vor den Gefahren des Passivrauchens, und es geht um die Frage, welche Maßnahmen der
Gesetzgeber auf Bundes- wie auf Länderebene für diesen
Schutz ergreifen kann und sollte.
Diese Debatte ist von zum Teil vollkommener Gegensätzlichkeit und hoher Leidenschaft gekennzeichnet, auch
außerhalb dieses Hauses. Kaum ein Thema hat die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land in den letzten Jahren
so bewegt - nachvollziehbarerweise. Denn das Spannungsfeld der betroffenen Interessen ist groß. Da gibt es
persönliche, betriebliche und volkswirtschaftliche. Maßstab bei dieser Interessenabwägung kann und muss aber
stets der Schutz vor einer Gesundheitsgefährdung sein.
Denn bei dem Thema des Passivrauchens geht es nicht
um verrauchte Räume oder vergilbte Gardinen, sondern
um eine Gefahr für Leib und Leben, um die Vermeidung
von Leid durch Tod und schwere Erkrankung, aber auch
um horrende Kosten für das Gesundheitssystem.
Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass Passivrauchen das Risiko für chronische Erkrankungen mit gegebenenfalls tödlichem Ausgang erhöhen. Die Zahlen des
Deutschen Krebsforschungszentrums sprechen eine eindeutige Sprache. Pro Jahr sterben circa 3 300 Menschen
in Deutschland an den Folgen des Passivrauchens, etwa
2 150 an koronaren Herzerkrankungen, 770 infolge eines
Schlaganfalls, 260 an Lungenkrebs und 60 infolge einer
chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung.
Besonders erschreckend sind die Wirkungen auf Kinder. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gehen
60 Fälle des plötzlichen Kindstodes auf Passivrauchen im
Haushalt und auf vorgeburtliche Schadstoffbelastungen
zurück, weil die Mütter während der Schwangerschaft
rauchten. Kinder, die in ihrer häuslichen Umgebung Tabakrauch ausgesetzt sind, werden weitaus häufiger mit
Atemwegserkrankungen in Krankenhäuser eingewiesen.
Ihre Quote liegt 40 bis 60 Prozent höher als bei ihren Altersgenossen, die in Nichtraucherhaushalten aufwachsen. Die Gefahr des Passivrauchens ist damit belegt.
Vor diesem Hintergrund hat der Deutsche Bundestag
im Mai 2007 mit breiter Mehrheit das Gesetz zum Schutz
vor den Gefahren des Passivrauchens verabschiedet. Seit
dem 1. September 2008 ist das Rauchen in allen Einrichtungen des Bundes verboten. Andere Verfassungsorgane
haben sich dieser Regelung angeschlossen. Das Alter für
die Abgabe von Zigaretten ist von 16 auf 18 Jahren angehoben worden. Und die Regelungen im Arbeitsschutz sind
präzisiert worden. § 5 Arbeitsstättenverordnung, die den
Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz regelt, ist um folgende Regelung erweitert worden: „Soweit erforderlich,
hat der Arbeitgeber ein allgemeines oder auf einzelne Bereiche der Arbeitsstätten beschränktes Rauchverbot zu
erlassen.“
Genau diese Regelung soll nach dem vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den wir heute in erster
Lesung debattieren, ersetzt werden. An ihre Stelle soll
eine neue Norm im Arbeitsschutzgesetz treten, durch die
das Rauchen in umschlossenen Räumen von Arbeitsstätten grundsätzlich verboten werden soll. Dieser Antrag ist
die Neuauflage eines Änderungsantrages, den die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Gesetzgebungsverfahren
im Jahre 2007 beinahe gleichlautend gestellt hat. Dieser
Zu Protokoll gegebene Reden
war schon seinerzeit zu Recht abgelehnt worden. Denn
wie es Rauch so an sich hat: Er vernebelt. Und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vernebelt mit einer auf den
ersten Blick überzeugenden Begründung ein zweifelhaftes Verfassungsverständnis und die problematischen Wirkungen, die eine Umsetzung ihres Antrages auslösen
würde.
Vermeintliches Ziel der gewünschten Neuregelung ist
es, über das Instrumentarium des Arbeitsschutzgesetzes
unter Umgehung von Länderzuständigkeiten eine bundeseinheitliche Regelung zu schaffen, allerdings faktisch
nicht nur für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Erneuter Anlass ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 30. Juli 2008. Zwei Betreiber von sogenannten Einraumgaststätten hatten wegen einer
fehlenden Ausnahmeregelung für Kleingastronomie geklagt. Das Gericht gab den Klagen statt und forderte die
Ländergesetzgeber auf, entweder ein ausnahmsloses
Rauchverbot in Gaststätten zu verhängen oder bei Ausnahmen vom Rauchverbot auch die wirtschaftlich besonders stark belastete Kleingastronomie mit zu erfassen.
Aufgepasst! Das Urteil lautete: Entweder - oder.
Beide Wege sind zulässig. Die Länder reagierten in ihren
jeweiligen Nichtraucherschutzgesetzen unterschiedlich.
Die deutsche Nichtraucherschutzlandschaft ähnelt damit
einem Flickenteppich. Was im einen Land erlaubt ist, ist
im anderen verboten. Dieser Zustand ist sicherlich für
jede Bürgerin, für jeden Bürger unbefriedigend. Denn
wer weiß schon, wo Berlin endet und Brandenburg beginnt? Aber genau diese Unterschiedlichkeit ist Ergebnis
der föderalen Struktur und der Verantwortung der Länder
für die Gaststättengesetzgebung. Diese ist den Ländern
mit Zweidrittelmehrheit des Bundestages sowie des Bundesrates im Rahmen der Föderalismusreform I übertragen worden. Jetzt diese Entscheidung auf dem Umweg
des Arbeitsschutzgesetzes kassieren zu wollen, zeugt von
einem zweifelhaften verfassungsrechtlichen Verständnis.
Keine Frage, es wäre wünschenswert, aus dem Flickenteppich eine Landschaft aus einem Stück zu machen, aber
nur unter Mitwirkung der Länder.
Gegen den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen sprechen aber auch inhaltliche Bedenken. Ein grundsätzliches Rauchverbot am Arbeitsplatz hört sich zunächst bestechend an. Denn wir wissen ja um die Gefahren des
Passivrauchens. Aber kein Betrieb ähnelt dem anderen.
Denn wir sprechen nicht nur über Gaststätten oder Diskotheken. Lassen Sie uns zum Beispiel über Alten- und
Pflegeheime oder Heime für behinderte Menschen reden.
Solche Heime sind auch Betriebe und damit Arbeitsstätte.
Sie sind aber gleichzeitig Wohnstätte. Hier arbeiten Menschen, aber hier haben Menschen auch ihr Zuhause. Der
Privatbereich des einen ist die Arbeitsstätte des anderen.
Die Situation der Bewohner von solchen Einrichtungen
würde sich mit einer Umsetzung des vorliegenden Antrages gravierend ändern. Auch Ältere, Pflegebedürftige
und Behinderte rauchen, und haben das Recht, frei zu entscheiden, ob sie Raucher oder Nichtraucher sein wollen,
solange das Rauchen in diesem Land nicht generell verboten wird. Eine Umsetzung des Rauchverbots auf alle
Arbeitsstätten hätte zur Folge, dass pflegebedürftige
Menschen in ihrem Privatbereich nicht mehr rauchen
dürften.
Es stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit
einer solchen Regelung. Diese könnte darüber hinaus an
die Grenzen des Art. 13 GG stoßen, in dem in die Unverletzlichkeit der privaten Wohnungssphäre eingegriffen
wird.
Es muss hier einen Spielraum geben, welche Schutzmaßnahme im Einzelfall angemessen ist, immer unter der
Prämisse, dass der Gesundheitsschutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Vorrang hat. Genau das
schreibt die Arbeitsstättenverordnung heute schon vor.
Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 ist der Arbeitgeber verpflichtet,
die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit die nicht
rauchenden Beschäftigten in Arbeitsstätten wirksam vor
den Gesundheitsgefahren durch Tabakrauch geschützt
sind. Nach der Ergänzung im letzten Jahr kann dies auch
ein Rauchverbot sein. Hinsichtlich der Wahl der konkreten Maßnahmen innerhalb des Betriebes lässt die Vorschrift aber dem Arbeitgeber und den Betriebs- und Personalräten Regelungsspielraum, der angesichts der
Vielgestaltigkeit der betrieblichen Verhältnisse notwendig ist. Deshalb werden wir diesen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ebenso wie die weiter vorgelegten Anträge ablehnen.
Im alten China kündete übrigens der Rauch von Feuern auf der chinesischen Mauer von Gefahr. Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie sind der Gefahr erlegen, eine nicht zu Ende gedachte Regelung beantragt zu
haben. Aber um mit einem anderen lateinischen Satz von
Hieronymus zu enden: Errare humanum est.
Im April 2007 haben wir im Bund ein Gesetz auf den
Weg gebracht, das die Menschen vor den Gefahren des
Passivrauchens schützen soll. Das war ein wichtiger
Meilenstein auf dem Weg zur Prävention. Für den Nichtraucherschutz ist eine neue Zeit angebrochen. Passivrauchen in Bundesbehörden und öffentlichen Verkehrsmitteln gehört mittlerweile der Vergangenheit an. Mit diesem
Gesetz hat der Bund ein klares Signal für einen konsequenten Gesundheitsschutz gesetzt.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen möchte einen
umfassenden Schutz vor Passivrauchen in Gaststätten
verankern. Dies wollen Sie mithilfe eines neuen Paragrafen im Arbeitsschutzgesetz erreichen, der ein Rauchverbot an allen Arbeitsstätten beinhalten soll. Die Rechtsprüfung der Bundesressorts im Zusammenhang mit den
Beratungen zum Bundesnichtraucherschutzgesetz hat jedoch ergeben, dass der Nichtraucherschutz dritter Personen in Arbeitsstätten wegen der eingeschränkten Rechtsetzungskompetenz des Bundes im Arbeitsschutz über die
Arbeitsstättenverordnung nicht möglich ist. Insbesondere
die Verfassungsressorts legten dar, dass der Bund mit der
Streichung des § 5 Abs. 2 ArbStättV unzulässigerweise in
die Regelungskompetenzen der Länder im Bereich des
Gaststättenrechts eingreifen würde. Diese Rechtsauffassung wurde von den Ländern im Bundesrat geteilt. Der
Bundesgesetzgeber ist grundsätzlich gehalten, die Länderbestimmungen zum Nichtraucherschutz für den GastZu Protokoll gegebene Reden
stättenbereich nicht durch konkurrierendes Bundesrecht
zu unterlaufen und unwirksam werden zu lassen. Die bewusst nach Landesrecht geregelten Ausnahmen vom
Rauchverbot sind vom Bundesgesetzgeber zu akzeptieren. Deshalb wird ihr Weg nicht zum gewünschten Erfolg
führen, und wir können nicht zustimmen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
vom 30. Juli 2008 zum Nichtraucherschutz in Gaststätten
hervorgehoben, dass der Gesetzgeber, wenn er sich für
ein Konzept mit Ausnahmen vom Rauchverbot in der
Gastronomie entscheidet und kein umfassendes Rauchverbot vorsieht, darauf achten muss, dass daraus
resultierende Benachteiligungen - in diesem Fall wirtschaftliche Nachteile für die Kleingastronomie - vermieden werden. In diesem Zusammenhang wurde das generelle Rauchverbot in Bayern als mit der Verfassung
vereinbar besonders hervorgehoben.
Die Streichung des § 5 Abs. 2 Arbeitsstättenverordnung könnte unter Berücksichtigung des Urteils erst dann
in Erwägung gezogen werden, wenn sich die Länder ihrerseits auf ein gemeinsames Vorgehen und auf ein einheitliches, umfassendes Rauchverbot im Gaststättenbereich verständigt haben. Die Länder müssen die Gesetze
in Richtung Bundesverfassungsgerichtsurteil überarbeiten. Wie das Gericht festgestellt hat, ist ein ausnahmsloses Rauchverbot verfassungskonform, es muss jedoch
überall gleich sein. Das muss der Weg sein.
Nach den Überlegungen des EU-Arbeitskommissars
Vladimir Spidla soll es eine einheitliche europäische Regelung ohne Ausnahme zu einem Rauchverbot am Arbeitsplatz geben. Spidla betont, dass wir die Pflicht haben, sicherzustellen, dass Arbeitsplätze sicher sind. Setzt
sich Spidla durch, müssten die Gesetzgeber eine einheitliche europaweite Regelung beschließen. Daran sollten
wir uns orientieren.
Neben einheitlichen gesetzlichen Regelungen habe ich
als Gesundheitspolitikerin immer wieder betont, dass wir
auch Kampagnen brauchen, damit Jugendliche gar nicht
erst mit dem Rauchen anfangen. Für diese Zielgruppe
lässt sich sehr viel Positives feststellen. Die Maßnahmen
der letzten Jahre zeigen Erfolge. Die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ({0}) aus dem Frühjahr 2007
markieren einen historischen Tiefstand im Rauchverhalten bei Jugendlichen. So ist der Anteil der 12- bis 17-jährigen Raucher von 28 Prozent im Jahr 2001 über
20 Prozent im Jahr 2005 auf 18 Prozent im Jahr 2007 zurückgegangen. In keiner der seit 1979 regelmäßig durchgeführten Befragungen der BZgA bei Jugendlichen konnten so niedrige Werte beim Zigarettenkonsum festgestellt
werden.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen wichtigen Aspekt betonen. Parallel dazu sollten wir natürlich mehr
Konzepte unterstützen, die den Menschen helfen mit dem
Rauchen aufzuhören.
Vor nicht einmal einem halben Jahr, am 30. Juli, gab es
durch das Bundesverfassungsgericht ein nachhaltiges
Urteil. Die Bundesländer wurden aufgefordert, ihre
Nichtraucherschutzgesetze grundlegend zu überarbeiten
unter Beachtung der Eigenverantwortung der Bürger und
ihrer freiheitlichen Rechte. Einige Nichtraucherschutzgesetze waren zu diesem Zeitpunkt gerade einmal einen Monat in Kraft.
Das Urteil eröffnet den Bundesländern die Möglichkeit, sich für ein weniger strenges Schutzkonzept zu entscheiden und damit gegen ein striktes Rauchverbot. Ausnahmen sind ausdrücklich zugelassen. Die Richter haben
zu Recht erkannt, dass ein umfassender Nichtraucherschutz auch dann gewährleistet werden kann, wenn Ausnahmen möglich sind. Nicht immer bedarf es radikaler
Verbote.
Die einzelnen Länder sind jetzt mitten im Entwicklungsprozess ihrer Gesetze, der nach Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtes bis zum 31. Dezember 2009 abgeschlossen sein muss. Auch für diese Übergangsphase
haben die Richter klare Vorgaben gemacht. Wir befinden
uns weder in einem rechtlichen Vakuum noch vor der Notwendigkeit, die Aufgaben der Länder durch den Bund zu
lösen.
Die Grünen versuchen jetzt, diesen Prozess zu torpedieren und an anderer Stelle eine Überregulierung zu erreichen. Lassen Sie mich das am Beispiel der Arbeitsplätze in der Gastronomie ausführen. Die meisten
Bundesländer haben sich entschieden, Ausnahmeregelungen in der Gastronomie zu gestatten. Diese Position
teilt im Übrigen auch die Bevölkerung. In einer repräsentativen Emnid-Umfrage im Auftrag von „Bild am Sonntag“ befürworteten 56 Prozent der Befragten ein Rauchverbot mit Ausnahmeregelungen - „Spiegel“, 3. August
2008 -, 20 Prozent waren sogar gegen ein totales Rauchverbot - „Fokus-Online“, 3. August 2008. Auch der Verfassungsrichter Johannes Masing verweist in seiner Begründung zum Urteil darauf, dass ein vollständiges
Rauchverbot nicht verhältnismäßig ist, sondern eine Bevormundung der Bürger darstellt. Gegen diese Bevormundung stellt sich auch die FDP.
Seit Oktober 2002 ist in § 5 der Arbeitsstättenverordnung, ArbStättV, der Schutz des Arbeitnehmers vor Passivrauchen geregelt. § 5 ArbStättV statuiert kein generelles Rauchverbot in Arbeitsräumen, sondern verpflichtet
den Arbeitgeber, nicht rauchende Beschäftigte zu schützen. Die Arbeitgeber haben somit die Aufgabe, im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung zu ermitteln, ob und
in welchem Umfang die Beschäftigten in ihrer Gesundheit
gefährdet werden oder sein könnten. Darunter fällt auch
der Schutz vor Passivrauchen. Dem Arbeitgeber wird ein
Ermessensspielraum zugebilligt, der unternehmerische
Aspekte wie Kosten, das zahlenmäßige Verhältnis von
Rauchern und Nichtrauchern im Betrieb sowie Fragen
der Branchenüblichkeit berücksichtigt. Die vorliegenden
Regelungen sind umfassend, eine weitere Regulierung
durch den Bund ist hier nicht nötig.
Trotzdem werden immer wieder Rufe nach einer Verschärfung der Arbeitsstättenverordnung durch den Bund
laut, obwohl die geltenden Regelungen bereits heute im
Einklang stehen mit dem WHO-Rahmenübereinkommen
zur Eindämmung des Tabakkonsums. Jetzt sowohl das ArZu Protokoll gegebene Reden
beitsschutzgesetz sowie die Arbeitsstättenverordnung
grundlegend zu ändern, um vor Passivrauchen am Arbeitsplatz zu schützen, ist weit über das Ziel hinausgeschossen.
Richten wir doch den Blick auch einmal auf die europäische Ebene. Nach wie vor verfügt die Europäische
Union mit gutem Grund nicht über eine allumfassende
Gesetzgebungskompetenz und kann kein generelles
Rauchverbot erlassen. Auch die EU-Vertragsbestimmungen in den Bereichen Gesundheits-, Verbraucher- oder
Arbeitnehmerschutz sehen ein solches Verbot nicht vor.
Es ist lediglich möglich, dass die EU flankierende Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder in Ergänzung der bereits ergriffenen Maßnahmen der Mitgliedstaaten zum Gesundheitsschutz durchführt.
Trotzdem gab es in den letzten Monaten Meldungen,
nach denen der Kommissar für Beschäftigung und soziale
Angelegenheiten Vladimir Spidla, Tschechien, einen
Vorstoß zum Rauchverbot gewagt haben soll. In gemeinsamer Sache mit der Kommissarin für Gesundheit
Androulla Vassiliou, Zypern, soll es eine Initiative zur
Einführung eines europaweiten Rauchverbots am Arbeitsplatz geben. Der angebliche Vorstoß von Kommissar
Spidla kam nicht wirklich gut an. Ein EU-weites Rauchverbot käme einer Aushebelung des Subsidiaritätsprinzips gleich und verursachte zu Recht heftige Reaktionen nicht zuletzt ein halbes Dementi durch die Kommission.
Konkret liegt zwar noch nichts auf dem Tisch. Die
Kommission kann noch keine Auskunft darüber geben,
wie der Vorschlag, der auf der Rahmenrichtlinie für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, 89/391/EWG,
basieren wird, gestaltet sein soll. Frühestens in der
nächsten Legislaturperiode könnte ein Gesetzesvorschlag eingereicht werden, also nicht vor Herbst 2009.
Fraglich ist in diesem Falle ohnehin, ob der Kommission
entsprechende rechtliche Mittel überhaupt zur Verfügung
stehen; der Erlass einer Verordnung, die unmittelbar in
nationales Recht umgesetzt werden müsste, ist europarechtlich nicht begründbar. Zudem wäre die Erarbeitung
einer neuen Richtlinie sehr umstritten, da ebenfalls keine
eindeutige rechtliche Grundlage besteht.
Lassen Sie mich noch einmal betonen, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil klar aufgezeigt
hat, dass es Ausnahmen vom strikten Rauchverbot geben
darf. Eine Novellierung der Nichtraucherschutzgesetze
findet gerade in den einzelnen Bundesländern statt. Die
Länder sind im Augenblick dabei, angemessene und
praktikable Lösungen zu erarbeiten. Zum jetzigen Zeitpunkt eine erneute Regelung durchzudrücken, so lange
noch nicht mal die Vorgaben für die aktuell gültigen Gesetze überarbeitet sind, ist weder sinnvoll noch effizient,
gleichgültig, ob es sich um den Bund oder die EU-Kommission handelt. Deshalb plädiere ich dafür, nicht mit
überstürztem Handeln und Forderungen nach weiteren
Verboten Aktionismus zu zeigen. Damit ist keinem wirklich gedient.
Die negativen Wirkungen des Rauchens und des Passivrauchens sind hinlänglich bekannt. Ich könnte an dieser Stelle die gesundheitlichen Folgen für ungeborene
Kinder, für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, für
Raucherinnen und Raucher und für diejenigen, die dem
Rauch ausgesetzt sind, noch einmal aufzählen. Ich tue es
nicht, denn die Frage hinsichtlich der Schädlichkeit des
Rauchens ist längst beantwortet. Diese Diskussion ist abgeschlossen.
Tabakrauch ist gesundheitsschädlich, egal in welcher
Dosierung und in welcher Form, ob aktiv oder passiv und
bei wem. Der einzig wirkliche Schutz vor den gesundheitlichen Folgen sind Gesundheitsförderung und Prävention
gegenüber aktivem Tabakkonsum und der Schutz vor der
passiven Aufnahme von Tabakrauch. In beiden Feldern
leistet diese Bundesregierung viel zu wenig.
Bei der Tabakprävention schafft es die Bundesregierung leider wie immer, die sozialen Unterschiede auszublenden. Menschen mit weniger materiellen, kulturellen,
sozialen und personellen Ressourcen rauchen häufiger
und mehr als Menschen mit vielen dieser Ressourcen.
Dies muss Beachtung in der Präventionspolitik finden.
Diese Bundesregierung schafft es aber sogar, die Minderung beim Tabakkonsum bei Jugendlichen zwischen
12 und 17 Jahren als Erfolg zu bezeichnen, ohne dabei
auch nur zu erwähnen, dass hier vor allem die besser gebildeten Schülerinnen und Schülern an Gymnasien weniger rauchen, die eher aus sogenannten gut situierten Familien stammen, während an der Hauptschule alles beim
Alten bleibt.
Solche Präventionspolitik kann nur als Ober- und Mittelschichtspolitik bezeichnet werden, bei der es der Bundesregierung auf die restliche Bevölkerung nicht ankommt. Bei den Schokoladenzigaretten reicht es auch
wieder einmal nur zu einem Appell an den Einzelhandel.
Eine Politik, die Tabakprävention ernst nimmt, sieht anders aus.
Beim Schutz vor Passivrauchen ist die Bilanz dieser
Bundesregierung nicht besser. Betrachten wir nur den
Flickenteppich an einzelnen Länderlösungen beim Schutz
vor Passivrauch in Gaststätten. Es war innerhalb der EU
längst bekannt, dass nur durch Maßnahmen, die einheitlich innerhalb von Staaten durchgeführt werden, wirkliche Erfolge erzielt werden. Aber diese Bundesregierung
wollte offensichtlich nichts unternehmen und hat ihre Verantwortung an die Länder abgegeben, mit dem Ergebnis,
dass wir nun 16 unterschiedliche Regelungen in Deutschland zum Passivrauch in Gaststätten haben.
Und die SPD besitzt die Chuzpe, hier und heute einen
Antrag, der im September 2006 verfasst wurde, beizufügen, der den Deutschen Bundestag auffordert, noch im
Jahre 2006 einen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag einzubringen und alle Bundesbürger, auch in der
Gastronomie, ausnahmslos vor Passivrauchen zu schützen. Wenn nun der Flickenteppich wieder beklagt wird,
den man selbst zusammengeschustert hat, hat das schon
etwas Komisches - wenn es nicht so traurig wäre.
Zwei aktuellere Vorlagen der Grünen sind Anlass der Debatte. Während man den Antrag auf Drucksache 16/10338
mit dem Titel „Bundeseinheitlichen Schutz vor Passivrauchen in Gaststätten verankern“ getrost in die KategoZu Protokoll gegebene Reden
rie „Appell für einen Appell“ einordnen kann, weil der
Arm der Bundesregierung eben nicht bis in die Gaststättenverordnungen der Länder greift, bietet der Gesetzentwurf auf Drucksache 16/10337 mit dem Titel „Verankerung eines umfassenden Schutzes vor Passivrauchen im
Arbeitsschutzgesetz“ der Bundesregierung die Möglichkeit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.
Zum einen kann der unerträgliche Zustand von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erster und zweiter
Klasse beendet werden. Erster Klasse haben bislang die
Menschen gearbeitet, die der Arbeitgeber nach § 5 der
Arbeitsstättenverordnung wirksam vor den Gesundheitsgefahren durch Tabakrauch geschützt hat. Zweiter Klasse
haben all diejenigen gearbeitet, bei denen die Arbeitgeber von der Ausnahmeregelung Gebrauch gemacht haben, die im Falle von Publikumsverkehr vorgesehen ist.
Diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer finden sich
vorwiegend in der Gastronomie und waren und sind immer noch dem Passivrauch ausgesetzt.
Meine Fraktion hat die Bundesregierung schriftlich
gefragt, ob dies mit dem Gesetz zum Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation vom Mai 2003 in
Übereinstimmung gebracht werden kann. In dem Rahmenübereinkommen wird in Art. 4 ausdrücklich gefordert, dass alle Menschen vor Passivrauch geschützt werden sollen. Die Bundesregierung hat geantwortet, dass
der § 5 inklusive seiner Ausnahmen für die Gastronomie
im Einklang mit diesem Rahmeneinkommen stünden.
Da frage ich mich doch: Handelt es sich nach Ansicht
der Bundesregierung bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Gastronomie, die Passivrauch ausgesetzt sind, nicht um Menschen? Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, schreiben in Ihrem Antrag:
Das in den Gastronomiebetrieben angestellte Personal wird aktuell nicht durch die Arbeitsstättenverordnung geschützt und unterliegt somit einem
höheren Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Restaurants,
Bars und Kneipen haben ein um 50 Prozent erhöhtes Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken.
Ihr Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit
und Soziales schreibt aber, wie eben erwähnt, das WHORahmenübereinkommen zum Schutz aller Menschen
würde eingehalten. Hier weiß offensichtlich die linke Gehirnhälfte nicht, was die rechte denkt.
Die zweite Fliege, die mit dieser Klappe geschlagen
werden könnte, ist die, dass mit der Verabschiedung des
Gesetzentwurfs neben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch der Schutz der Gäste vor Passivrauch
in der Gastronomie gestärkt würde. Denn sobald Angestellte in einer Gaststätte beschäftigt sind, dürfte in umschlossenen Räumen nicht geraucht werden. Ausnahmen
bildeten die Raucherräume, die alleine für die rauchenden Beschäftigten eingerichtet sind. In den meisten Gaststätten wäre das Rauchen damit nicht mehr möglich. Hier
ist allerdings eine eindeutige klare Definition dafür notwendig, was „umschlossen“ bedeuten soll. Damit steht
und fällt der Schutz vor Passivrauch in Bierzelten.
Durch diese Regelung wurde zudem die Chancengleichheit zwischen den sogenannten Eckkneipen und den
größeren Gaststätten verbessert und die Streu vom Weizen bei den sogenannten Einraumkneipen getrennt. In
größeren Gaststätten wäre wegen der Angestellten das
Rauchen nicht mehr möglich. Nur in solchen Einraumkneipen ohne Personal könnte noch geraucht werden.
Hier wäre zu prüfen, ob die nun mögliche Bevorzugung
von inhabergeführten Einraumgaststätten eine unzulässige Bevorzugung darstellt. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts könnte dann allein ein Rauchverbot
in allen gastronomischen Betrieben die Lösung sein.
Die Bundesregierung stellt sich gerne als zur Untätigkeit verurteilter Zuschauer dar, der sich über die Politik
auf Länderebene ärgert. Es ist festzustellen, dass durch
die vorliegenden aktuellen Vorlagen der Bundesregierung Wege aufgezeigt werden, wie sie endlich tätig werden kann. Deshalb unterstützen wir diese.
Der Schutz vor Passivrauchen in der Öffentlichkeit
- hierzu zähle ich auch Gaststätten und Kneipen - hat uns
im Bundestag in dieser Legislaturperiode schon mehrfach beschäftigt. Heute haben wir die ungewöhnliche Situation, sowohl die beiden Anträge, die von der grünen
Bundestagsfraktion sowie einer Gruppe von insbesondere aus der SPD kommenden Abgeordneten vor zwei
Jahren zum Beginn der parlamentarischen Debatte in den
Bundestag eingebracht wurden, als auch unsere beiden
aktuellen grünen Vorstöße zu beraten.
Zwischenzeitlich ist einiges passiert. Manches ist
positiv, anderes kritisch zu bewerten. In öffentlichen Verkehrsmitteln und öffentlichen Gebäuden können wir von
flächendeckenden Rauchverboten sprechen. Sogar im
Bundestag haben wir es geschafft, auch wenn wir Grünen
dafür immer wieder neue Anträge einbringen mussten,
bis sich der Bundestag selbst endlich bewegte. Doch auch
hierauf sollten wir uns nicht ausruhen, denn die eingerichteten Raucherräume verfügen zum Beispiel nicht
über eine vernünftige Entlüftung. Im Stockwerk über meinem Büro befindet sich ein Raucherraum. Wenn ich mein
Büro verlasse, rieche ich sofort, ob in diesem Raum gerade gequalmt wird oder nicht. Vorgaben zur Be- und
Entlüftung dieser Räume sind notwendig. Hier hat die
Bundesregierung noch offenstehende Hausaufgaben zu
erledigen und endlich eine entsprechende Verordnung für
Raucherräume in öffentlichen Gebäuden zu erlassen.
Doch nun zu den Gaststätten und Kneipen. Wie von uns
vorhergesagt, besteht inzwischen ein Flickenteppich von
Regelungen in den Bundesländern, und Bürgerinnen und
Bürger haben keine Sicherheit, dass ihnen ein rauchfreier
Genuss in Lokalen geboten wird. Der Schutz ist durch
umfassende Ausnahmen inkonsequent, und immer wieder
wird berichtet, dass gegen Regelungen verstoßen wird
und dies ohne Sanktionen bleibt, da es an Kontrollen vor
Ort fehlt. Das formal konsequente Rauchverbot in Bayern
wurde durch Raucherklubs umgangen und ist inzwischen
auch vom Tisch.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist
in den Bundesländern eine Tendenz zu verzeichnen, mehr
Zu Protokoll gegebene Reden
Ausnahmen zu ermöglichen und nicht, wie es das Urteil
eindeutig zulässt, den Schutz vor Passivrauch konsequent
auszubauen. Aus meiner Sicht auffällig ist auch, dass sich
die Länder zwar auf ihre Kompetenzen in Bezug auf das
Gaststättenrecht berufen, aber die entsprechenden Regelungen kaum dort verankert haben.
Wir Bündnisgrünen setzen auf ein zweigleisiges Vorgehen: auf eine politische Seelenmassage der Länder durch
den Bundestag, auf dass die Bundesländer doch noch zur
Vernunft kommen, sowie auf einen erneuten Vorstoß beim
Arbeitsschutz. Wir haben dazugelernt. Anfangs setzten
wir noch auf die Arbeitsstättenverordnung. Zahlreiche
Diskussionen und auch die Auswertung der Anhörung haben uns dazu bewogen, eine Regelung im Arbeitsschutzgesetz anzustreben. Das sagen wir nicht nur, sondern
meinen es auch so - ganz im Gegensatz zu den SPD-Kolleginnen und -Kollegen, die 2006 einen Gruppenantrag
initiiert und unterstützt haben, dessen erste von zwei Forderungen lautet: „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in Zukunft an allen Arbeitsplätzen“ - also auch im Bereich der Gastronomie - „ausnahmslos vor Passivrauchen“ zu schützten. Sie hatten bereits einmal die Chance,
einem solchen Vorschlag zuzustimmen; unser grüner Änderungsantrag zum Entwurf eines Gesetzes zum Schutz
vor den Gefahren des Passivrauchens wurde jedoch von
SPD, CDU/CSU und FDP abgelehnt. Ich befürchte, dieses Trauerspiel wiederholt sich nun. Teile der SPD reißen
den Mund auf, fordern viel, aber bei der konkreten Umsetzung kneifen sie vermutlich wieder und unterwerfen
sich der Koalitionsräson und rufen stattdessen - ich
schaue Sie an, Frau Kollegin Reimann - nach Regelungen auf der EU-Ebene, wohl wissend, dass diese, wenn
überhaupt, erst in Jahren zu erwarten sind.
Politik muss mit Taten und nicht nur mit Worten aufwarten. Der Bundestag hat erneut die Chance, ein bundesweites Zeichen zu setzen und zur Tat zu schreiten. Alle
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können vor den
Gefahren des Passivrauchens geschützt werden. Den unsäglichen Ausnahmen für Arbeitsplätze mit Publikumsverkehr, die gesundheitspolitisch nicht zu begründen
sind, muss ein Ende bereitet werden. Und wir alle könnten
den positiven Nebeneffekt genießen, dass damit viele
- nicht alle - der in der Diskussion befindlichen Ausnahmen oder Umgehungen bei den Rauchverboten in Gaststätten und Kneipen ein Riegel vorgeschoben würde.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/10337, 16/10338, 16/2805 und
16/2730 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 19. Dezember 2008,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.