Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz, die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich zur Behandlung der für den
heutigen Vormittag vorgesehenen Tagesordnungspunkte.
Dazu rufe ich zunächst unsere Tagesordnungspunkte
36 a bis 36 e auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente
- Drucksachen 16/10810, 16/11196 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 16/11233 Berichterstattung:
Abgeordneter Stefan Müller ({1})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/11237 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel
Carsten Schneider ({3})
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel,
Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Arbeitsmarktinstrumente auf effiziente
Maßnahmen konzentrieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kornelia
Möller, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Arbeitslosenversicherung stärken - Ansprüche sichern - Öffentlich geförderte Beschäftigte einbeziehen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Markus Kurth, Irmingard ScheweGerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lokale Entscheidungsspielräume und passgenaue Hilfen für Arbeitsuchende sichern
- Drucksachen 16/9093, 16/10511, 16/8524,
16/11233 Berichterstattung:
Abgeordneter Stefan Müller ({5})
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Katrin Göring-
Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechte von Arbeitsuchenden stärken - Kom-
petentes Fallmanagement sicherstellen
- Drucksachen 16/9599, 16/11142 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Kornelia Möller
d) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Senkung des Beitragssatzes zur
Arbeitsförderung
- Drucksache 16/10806 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({7})
- Drucksache 16/11241 Berichterstattung:
Abgeordneter Stefan Müller ({8})
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
- Bericht des Haushaltsausschusses ({9})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/11242 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel
Carsten Schneider ({10})
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({11}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Kornelia Möller, Klaus Ernst, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Handlungsfähigkeit der Bundesagentur für
Arbeit erhalten - Auf Senkung der Beitragssätze verzichten
- Drucksachen 16/10618, 16/11241 Berichterstattung:
Abgeordneter Stefan Müller ({12})
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitsförderung liegt ein
Entschließungsantrag der FDP-Fraktion vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Klaus
Brandner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir beschließen heute zwei wichtige Gesetzentwürfe: den Gesetzentwurf zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente und den
Gesetzentwurf zur Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitsförderung. Beide Gesetzentwürfe sind gerade angesichts der zu erwartenden Folgen der Finanzkrise für die
Entwicklung des Arbeitsmarktes wichtig. Sie werden daher genau zum richtigen Zeitpunkt beschlossen. Sie zeigen nachdrücklich, dass die Große Koalition handlungsfähig ist.
Die internationale Banken- und Finanzkrise fordert in
manchen Bereichen einen grundlegenden Paradigmenwechsel. Den Satz „Es wird nie wieder so sein wie vor
der Krise“ haben wir in den letzten Wochen des Öfteren
gehört. Auf dem Arbeitsmarkt brauchen wir einen solchen tiefgreifenden Einschnitt nicht. Durch die Reformen, die die vorherige Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder in die Wege geleitet hat,
({0})
ist der Arbeitsmarkt dynamischer geworden, und die Arbeitsvermittlung ist besser und leistungsfähiger geworden. Insofern sind wir beim Reformprozess auf einem
guten Weg. Deshalb sollten wir selbstsicher an die Herausforderungen der Zukunft herangehen.
({1})
Dass wir jetzt schon zwei Monate hintereinander eine
Arbeitslosenzahl von unter 3 Millionen verzeichnen konnten - und das, obwohl sich schon im Sommer das Klima
in der Wirtschaft merklich abgekühlt hatte -, zeigt, dass
unsere Reformen erfolgreich waren. Wir wollen, dass
sich diese Entwicklung fortsetzt. Unser Ziel bleibt: Die
Arbeitsvermittlung in unserem Land muss eine der leistungsfähigsten Institutionen sein und bei dem Modernisierungsprozess von Institutionen an der Weltspitze stehen. Wir wollen das Versprechen geben und einlösen,
dass in naher Zukunft niemand mehr länger als ein Jahr
nach Arbeit suchen muss. Mit der internationalen Banken- und Finanzkrise ist die Aufgabe - das wissen wir gewiss noch größer geworden. Statt mit Pessimismus
Existenzängste in der Bevölkerung zu verbreiten, zeigen
wir, dass wir gut aufgestellt und in der Lage sind, auf
diese Situation zu reagieren.
Genau das tun wir heute mit den beiden zu beschließenden Gesetzentwürfen. Mit der Neuausrichtung der
arbeitsmarktpolitischen Instrumente verbessern wir die
Leistungsfähigkeit der Arbeitsförderung angesichts der
Herausforderungen einer sich hoffentlich nur vorübergehend abschwächenden Konjunktur. Damit mildern wir
die Folgen für die dadurch von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen. In dieser Situation sind wir alle gefordert: der Staat, die Wirtschaft und die Gewerkschaften,
zum Beispiel durch Kurzarbeit, durch die Nutzung von
Beschäftigungssicherungstarifverträgen, durch Qualifizierungsmaßnahmen, durch Arbeitszeitkonten. Wir müssen
verantwortliches, kreatives und auch mutiges Handeln
zeigen, damit die Arbeitslosigkeit in der Krisensituation
nicht ansteigt. Wir alle gemeinsam müssen dafür sorgen,
die Arbeitsplätze der Menschen zu sichern. Das muss die
Botschaft des Tages sein.
({2})
Mit der Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitsförderung setzen wir auch ein beschäftigungspolitisches Signal und entlasten damit die Beitragszahler.
({3})
Das trägt zur Belebung der Konjunktur bei, weil Unternehmen wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr
Geld zur Verfügung haben. Dennoch werden wir die
Handlungsspielräume der Arbeitsmarktpolitik nicht einschränken. Im Gegenteil, im kommenden Jahr werden
für die aktive Arbeitsförderung und auch für die Eingliederungsleistungen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende mehr Mittel zur Verfügung stehen, als wir im
laufenden Jahr voraussichtlich ausgeben werden.
Mit dem Gesetzentwurf zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente führen wir die Arbeitsmarktreformen konsequent weiter, indem wir den
Akteuren vor Ort noch mehr Verantwortung und GestalParl. Staatssekretär Klaus Brandner
tungsspielraum geben. Ich habe in letzter Zeit immer
häufiger den Vorwurf gehört, es gebe vor Ort nicht genügend Freiräume für flexibles Handeln. Der Bund bevormunde die lokalen Akteure. Mit der Neuausrichtung
der Instrumente würden die letzten Freiräume auf regionaler Ebene abgeschafft.
({4})
Das ist mitnichten der Fall, um es deutlich zu sagen.
Im Gesetzgebungsverfahren ist genau an dieser Stelle
eine deutliche Justierung vorgenommen worden. Ich
glaube, auch das Einwirken der Koalitionsfraktionen in
dem gesamten Prozess hat gezeigt, dass gemeinsam an
einem guten Gesetzentwurf gearbeitet worden ist, sodass
Freiräume gegeben sind und genügend finanzielle Mittel
für die Akteure vor Ort zur Verfügung stehen.
({5})
Richtig ist: Der Einsatz der arbeitsmarktpolitischen
Instrumente und die konkrete Verteilung der Mittel erfolgen grundsätzlich durch die Entscheidungen in den zuständigen Arbeitsagenturen und bei den Trägern der
Grundsicherung vor Ort. Alle Maßnahmen, die im Rahmen von SGB II und SGB III erfolgreich und wirksam
sind, werden auch in Zukunft eingesetzt werden können,
und das auf fester gesetzlicher Basis. Zum Teil bekommen bisher vielfach erfolgreich erprobte Maßnahmen
wie zum Beispiel die Unterstützung beim Nachholen eines Hauptschulabschlusses nun eine feste Rechtsgrundlage.
Schon mit den Arbeitsmarktreformen haben wir konsequent die Verantwortung der Akteure vor Ort gestärkt.
Wir setzen gezielt auf deren Know-how und Kompetenz.
Jetzt eröffnen wir noch mehr Gestaltungsmöglichkeiten.
Wir nehmen gesetzliche Regelungen dort zurück, wo
eine passgenaue Unterstützung bei der Eingliederung erforderlich ist. Damit erleichtern wir wesentlich die
Handhabung der Instrumente vor Ort. Wir wissen, dass
in den Arbeitsagenturen, den Arbeitsgemeinschaften und
bei den zugelassenen kommunalen Trägern im engen
Kontakt mit den zu Fördernden am besten erkannt werden kann, welche Maßnahmen und welche Abläufe im
Einzelnen zur Integration führen und bei der Integration
helfen können.
Die dafür erforderlichen gesetzlichen Regelungen
müssen so einfach und transparent wie möglich sein.
Das ist ein wichtiges Ziel dieses Gesetzentwurfs. Allein
im „Vermittlungsbudget“ und in den „Maßnahmen zur
Aktivierung und beruflichen Eingliederung“ gehen
17 bisherige Einzelinstrumente und individuelle Förderleistungen auf. In Zukunft steht ein Zehntel des gesamten Eingliederungstitels im Bereich des SGB II für freie
und maßgeschneiderte Förderungen zur Verfügung. Wer
da noch von Gängelung spricht, meine Damen und Herren, dem kann ich nun wirklich nicht mehr weiterhelfen.
({6})
Meine Damen und Herren, parallel dazu senken wir
den Beitragssatz zur Arbeitsförderung. Damit setzen
wir einen kräftigen Impuls für die Beitragszahlenden, für
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und für den
Arbeitsmarkt.
Das ist möglich, richtig und wichtig. Das ist möglich,
weil wir mit unserer Politik mehr Beschäftigung und weniger Arbeitslosigkeit erreicht haben, und das ist richtig
und wichtig, weil wir damit Arbeitnehmer und Arbeitgeber durch die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge
entlasten. Dieses Ziel unserer Koalition - Senkung der
Beiträge, ohne die Leistungen einzuschränken - haben
wir besonders im Bereich der Arbeitsförderung erfüllt
und erreicht.
Ich möchte daran erinnern, dass der Beitragssatz im
Jahre 2006 noch bei 6,5 Prozent lag. Auch 1998 lag er
bei 6,5 Prozent. Er lag fast zwei Jahrzehnte in dieser
Größenordnung. Die jetzige spürbare Senkung ist natürlich ein deutliches Signal, dass wir auch in einer schwierigen konjunkturellen Zeit Mittel zur Verfügung stellen,
um die Kaufkraft und die Nachfrage, die in der jetzigen
Zeit dringend gebraucht werden, zu stärken.
({7})
Mit Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzentwurfes
senken wir den Beitragssatz zum 1. Januar 2009 langfristig auf 3 Prozent. Gleichzeitig wird die Bundesregierung den Beitragssatz durch Rechtsverordnung vom
1. Januar 2009 bis zum 30. Juni 2010, wie Sie wissen,
zusätzlich senken, und zwar auf 2,8 Prozent.
({8})
Damit entlasten wir die Beitragszahler insgesamt um
rund 30 Milliarden Euro.
Mit diesem Konjunkturprogramm in Höhe von
30 Milliarden Euro setzen wir ein deutliches Signal für
mehr Beschäftigung und Stabilität. Die Beschäftigten
können sicher sein, dass die Unternehmen, in denen sie
arbeiten, und ihre Arbeitsplätze nicht durch eine kurzfristige prozyklische Anhebung des Beitragssatzes gefährdet werden.
({9})
Darauf kommt es uns besonders an, nicht darauf, was die
Pessimisten von der Linken ankündigen.
({10})
Meine Damen und Herren, die Menschen in unserem
Land, diejenigen, die von Arbeitslosigkeit bedroht oder
betroffen sind, aber auch diejenigen, die mit ihren Steuern und Beiträgen Tag für Tag dazu beitragen, dass arbeitsuchende Menschen in Beschäftigung kommen, sie
alle können mit Recht von uns erwarten, dass wir gute
Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik schaffen.
Arbeitsmarktpolitik ist gut, wenn es gelingt, die Arbeitsuchenden erfolgreich und schnell zu unterstützen,
wenn es gelingt, die Menschen in den Mittelpunkt zu
stellen, und wenn es gelingt, den Menschen die Chance
zu erhalten, dass sie sich durch Arbeit beweisen können,
dass sie gebraucht werden und dass Arbeit einen Wert
hat. Deshalb sage ich zum Schluss ganz deutlich: Gute
Arbeit in Deutschland ist und bleibt unser zentrales Anliegen. Daran arbeiten wir, und zwar in möglichst großer
Geschlossenheit.
Herzlichen Dank.
({11})
Für die FDP-Fraktion erhält nun der Kollege Dirk
Niebel das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Eloquenz des Vortrags des Staatssekretärs
zeigt ziemlich deutlich, wie begeistert man von den vorliegenden Gesetzentwürfen ist.
({0})
Zumindest was die Arbeitsmarktinstrumente betrifft, ist
es auch richtig,
({1})
dass der Staatssekretär mit gedämpftem Schaum gesprochen hat.
({2})
Was die Beitragssenkung angeht, muss ich sagen: Sie ist
nötig. Die erste Beitragssenkung dieser Bundesregierung
ist übrigens - das wollen wir nicht vergessen - durch die
Mehrwertsteuererhöhung finanziert worden. Das war die
Merkel-Steuer, Herr Staatssekretär, die Sie wahrscheinlich gerne vergessen möchten.
({3})
Die Beitragssenkung ist deshalb notwendig und richtig, weil seit Monaten immer wieder erzählt wird, die
Bundesagentur für Arbeit würde Überschüsse erwirtschaften. Die Bundesagentur kann alles Mögliche, aber
eines kann sie mit Sicherheit nicht: irgendetwas erwirtschaften. Das gesamte Geld, das sie eingesammelt hat
und das als Rücklage bezeichnet wird, ist den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern vorher zu viel weggenommen worden.
({4})
Es muss natürlich zurückgegeben werden, und zwar gerade jetzt. Aus diesem Grunde unterstützen wir die Beitragssenkung ausdrücklich.
({5})
Wir würden uns wünschen, dass Sie die Beiträge auch
in anderen Bereichen deutlich senken. Wenn jetzt so getan wird, als sei das eine Entlastung der Bürgerinnen und
Bürger, wird immer wieder gerne vergessen, dass die
Pflegeversicherungsbeiträge gestiegen sind,
({6})
dass die Krankenversicherungsbeiträge gestiegen sind
und dass auch die Rentenversicherungsbeiträge gestiegen sind, seit Sie die Regierungsverantwortung tragen.
({7})
Den Beitragssatz zur Rentenversicherung könnte
man um 0,3 Prozentpunkte senken, ohne die Nachhaltigkeitsrücklage antasten zu müssen.
({8})
Dadurch könnte man eine echte Entlastung der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber organisieren. Das wäre auch
sinnvoll. Denn die Wissenschaft geht davon aus, dass ein
Beitragspunkt ungefähr 100 000 Arbeitsplätze bringt bzw.
dass ein Beitragspunkt zu viel 100 000 Arbeitsplätze
verhindert.
Die Bundesagentur geht davon aus, dass im nächsten
Jahr aufgrund des konjunkturellen Abschwungs mit durchschnittlich 30 000 zusätzlichen Arbeitslosen gerechnet
werden muss. Wir brauchen eigentlich nur eine einfache
Rechnung nach Adam Riese aufzumachen: 0,3 Beitragssatzpunkte weniger in der Rentenversicherung machen
30 000 Arbeitslose weniger, und das ergibt ein durchschnittliches Arbeitslosenaufkommen, das ungefähr dem
jetzigen entspricht, und das trotz einer Phase wirtschaftlichen Abschwungs. Daran trauen Sie sich überhaupt
nicht.
({9})
Wir als FDP wollen ausdrücklich die Entlastung der
Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Nun werden
hier die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten entlastet - nur sie; demgegenüber werden bei der Erhöhung
des Beitragssatzes zur Krankenversicherung alle belastet -, aber dazu müssen wir deutlich sagen: So wie Sie
das hier vorsehen, können wir dem, obwohl wir die Beitragssenkung wollen und sie auch richtig und notwendig
ist, schlichtweg nicht zustimmen; denn Sie machen wieder genau das, was Sie schon die ganze Zeit machen: Sie
verlagern Belastungen, die eigentlich gesamtgesellschaftlich, also aus dem Bundeshaushalt, getragen werden müssen, auf die Kasse der Versicherten.
Es sind Belastungen in zwei Bereichen, die Sie mal
eben so en passant mit Änderungsanträgen festschreiben, die Sie im Ausschuss für Arbeit und Soziales nachgeschoben haben.
({10})
Die Beitragszahler sollen jetzt für die Versicherungspflichtigen bezahlen, die erziehen. Das hat bisher der
Bund gemacht. Das ist eine Mehrbelastung von 290 MilDirk Niebel
lionen Euro Jahr für Jahr für die Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Was Sie aus der Mehrwertsteuererhöhung dem
Beitragstopf bisher monatlich zuführen - daraus wollen
Sie angeblich arbeitsmarktpolitische Leistungen finanzieren -, wollen Sie jetzt nur noch jährlich im Nachhinein zuführen, damit der Bundesfinanzminister 170 Millionen Euro an zusätzlichen Zinseinnahmen hat, die
eigentlich den Beitragszahlern gehören würden.
Das sind die Gründe dafür, dass wir uns bei diesem
Gesetz, obwohl wir für die Entlastung bei der Arbeitslosenversicherung sind, leider nur enthalten können. Wieder einmal organisieren Sie hier den Verschiebebahnhof
„Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben zulasten von Arbeitnehmern und Arbeitgebern“.
({11})
Was den Bereich der arbeitsmarktpolitischen Instrumente betrifft, möchte ich noch einmal daran erinnern, dass Sie schon in Ihrem Koalitionsvertrag, der sinnigerweise am 11. 11. 2005 unterschrieben worden ist,
gesagt haben, dass spätestens bis Ende 2007 die arbeitsmarktpolitischen Instrumente neu sortiert werden sollen.
Mit dem, was Sie jetzt vorlegen, erreichen Sie nicht nur
nach unserer Meinung dieses Ziel nicht - Sie wollten
mehr Transparenz und mehr Effizienz schaffen -; auch
der Bundesrat, in dem die FDP immer noch keine Mehrheit hat,
({12})
sagt ausdrücklich, dass mit diesem Gesetz das Ziel, das
sich die Bundesregierung vorgenommen hat, nicht erreicht wird.
Wir bräuchten arbeitsmarktpolitische Instrumente, die
den Kriterien der Effizienz und der Zielgruppenorientierung gerecht werden. Stattdessen schlagen Sie Maßnahmen vor, die wieder zentralisieren und die Nürnberger
Anstalt in den Mittelpunkt stellen, statt die Möglichkeiten der freien Kräfte vor Ort und der flexiblen Instrumente vor Ort wirklich nachhaltig zu fördern. Die Entscheidungskompetenz vor Ort ist genau das, was wir in
einer Situation brauchen, in der es wirtschaftlich schwieriger wird. Gerade vor Ort kann man entscheiden, ob
eine Maßnahme der Qualifizierung und Bildung oder
eine assistierte Vermittlung notwendig ist. Das kann in
Rostock ganz anders sein als in Passau. Deswegen brauchen wir diese flexiblen Instrumente mit möglichst viel
Entscheidungskompetenz für die Arbeitsvermittlerinnen
und Arbeitsvermittler.
({13})
Die Bundeskanzlerin hat einen Bildungsgipfel veranstaltet, der über Maulwurfshügelniveau nicht hinausgekommen ist. Aber in dem Bereich, der ihre bundespolitische Kompetenz ist, nämlich in der beruflichen
Bildung und Weiterbildung, hat sie überhaupt keine Akzente gesetzt. Auch in der Zusammenfassung neuer arbeitsmarktpolitischer Instrumente ist eine Akzentsetzung
nicht erkennbar. Der Bereich, für den Sie Kompetenzen
haben, wird kläglich vernachlässigt, und in anderen Bereichen tummeln Sie sich medienöffentlich, ohne im Ergebnis etwas zu erreichen.
Der Rechtsanspruch auf Nachholung des Hauptschulabschlusses, finanziert aus Mitteln der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, ist mit Sicherheit das am wenigsten geeignete Instrument, um Langzeitarbeitslose
ohne Schulabschluss wieder in Beschäftigung zu bringen.
({14})
Ein Hauptschulabschluss kann bei jungen Leuten ein
Mittel sein, kann helfen, aber noch niemand hat mir erklären können, warum der 47-jährige ungelernte Arbeitslose mit dem Hauptschulabschluss bessere Vermittlungsmöglichkeiten haben soll. Und das sollen dann die
Beitragszahler zahlen, obwohl das Schulsystem, also die
Gesamtgesellschaft, versagt hat!
({15})
Der Bundesarbeitsminister ist angetreten - ich
komme zum Schluss, Herr Präsident - mit dem Anspruch, die Bundesagentur für Arbeit zur weltbesten
Vermittlung zu machen. Sie sind mittlerweile nicht auf
dem Weg zur weltbesten Arbeitslosenverwaltung, sondern auf dem Weg zur weltgrößten Arbeitslosenverwaltung. Wenn wir heute, bei unter 3 Millionen Arbeitslosen, über 100 000 Beschäftigte bei der Bundesagentur
zählen, während es 2003, bei noch 5 Millionen Arbeitslosen, 87 000 Beschäftigte waren, dann zeigt das: Sie
sind auf dem falschen Weg. Sie gehen in die falsche
Richtung. Sie verschwenden das Geld der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Dafür können wir unsere
Hand nicht reichen.
({16})
Dr. Ralf Brauksiepe ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Niebel, Sie haben von der Eloquenz des
Staatssekretärs gesprochen. Ich gebe gleich zu: Wir alle
können mit Ihrer Eloquenz nicht mithalten.
({0})
Da sind Sie besser. Aber dafür reden wir zur Sache und
zu den Menschen. Das ist der Unterschied zu dem, was
Sie vorgetragen haben.
({1})
Zur Sache gehört, dass die Regierung Merkel die Beitragssatzsenkungsregierung ist, was die Arbeitslosenversicherung angeht. Darauf hat Staatssekretär Brandner
völlig zu Recht hingewiesen. Gegenüber 2006 haben wir
den Arbeitslosenversicherungsbeitrag um 3,7 Prozentpunkte gesenkt. Das entspricht einer Entlastung von
30 Milliarden Euro für Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Das ist das Ergebnis unserer Arbeit in der Großen Koalition. 265 Euro Entlastung für einen Arbeitnehmer bei einem Jahresbruttoeinkommen von 30 000 Euro: Das ist
die stolze Bilanz der Entlastung der Menschen, die diese
Große Koalition vorlegen kann.
({2})
Sie haben an eine Tradition angeknüpft, die Sie schon
in der ganzen Legislaturperiode in diesem Hause verfolgt haben. Sie haben noch keiner einzigen Beitragssatzsenkung in der Arbeitslosenversicherung zugestimmt,
({3})
obwohl es schon drei Versuche gab. Spätestens nach
dem dritten Versuch ist man üblicherweise durchgefallen. Sie sind also mit Ihrer Politik der Verhinderung von
Beitragssatzsenkungen durchgefallen.
({4})
Das Haushaltsrecht ist das Königsrecht des Parlaments, Herr Kollege Niebel.
({5})
Wir haben in der letzten Woche einen Bundeshaushalt
beschlossen, der für die Erstattung von Beiträgen für Erziehende durch den Bund an die Bundesagentur für Arbeit keine Mittel mehr vorsieht. Das kann man so oder so
sehen. Jeder Bundeshaushalt ist immer auch ein Kompromiss, den man schließen muss. Aber wenn keine Mittel mehr vorgesehen sind, dann ist es auch nicht möglich,
einen entsprechenden Rechtsanspruch aufrechtzuerhalten. Von daher vollziehen wir in dieser Woche rechtstechnisch das nach, was der Bundestag als Haushaltsgesetzgeber in der letzten Woche beschlossen hat.
Das taugt ziemlich wenig, um zu begründen, dass Sie
einer Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge
nicht zustimmen wollen. Es ist eine sehr schwache Begründung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP.
({6})
Wir haben von daher als Große Koalition auch diese
Senkung wieder alleine durchführen müssen. Wir haben
mit dieser Politik der Entlastung der Beitragszahler in
den vergangenen Jahren große Erfolge erzielt. Das können wir auch jetzt tun, weil wir nach wie vor die beste
Lage auf dem Arbeitsmarkt seit 16 Jahren haben. Allen
Unkenrufen und all denjenigen zum Trotz, die im Oktober darauf hingewiesen haben, dass wir erstmals und
letztmals eine Situation mit weniger als 3 Millionen Arbeitslosen haben würden, kann man feststellen: Diese
positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt hält auch
aktuell an. Angesichts dieser positiven Entwicklung sind
wir bereit und in der Lage, die Beiträge weiter zu senken.
Wir wissen, dass die BA keine Sparkasse ist. Jetzt ist
genau der richtige Zeitpunkt, um die Auswirkungen der
Finanzmarktkrise auf den Arbeitsmarkt gering zu halten,
um auch hier zu einer weiteren Entlastung der Menschen
zu kommen. Deswegen gehen wir diesen Weg.
({7})
Wir haben weitere Rekordzahlen auf dem Arbeitsmarkt, die uns darin bestärken, diesen Weg zu gehen.
Wir haben nicht nur die niedrigste Zahl an Arbeitslosen
seit 16 Jahren, sondern wir haben auch mit 28 Millionen
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die in die sozialen Sicherungssysteme einzahlen, und mit 41 Millionen Erwerbstätigen die höchsten Beschäftigtenzahlen
seit langer Zeit.
Auf diese Rekordzahlen können wir gemeinsam stolz
sein, und wir sind auch stolz darauf, dass wir die paritätisch finanzierten Beiträge zu den Sozialversicherungen
auf 39,25 Prozent und die Beiträge der Arbeitgeber auf
deutlich unter 20 Prozent gesenkt haben. Das war unser
Ziel, das auch erreicht wurde. Darauf sind wir stolz.
({8})
Wir wissen, dass die Bundesagentur für Arbeit
keine Sparkasse ist. Deswegen sind wir ganz klar der
Auffassung, dass man jetzt auch eine Situation akzeptieren kann, in der die BA möglicherweise auf die Reserven zurückgreifen muss. Ich rate aber auch dabei zur
Vorsicht. Im letzten Jahr hatten wir eine um 11 Milliarden Euro bessere Situation bei der Bundesagentur für
Arbeit als erwartet. Wir werden auch in diesem Jahr bei
der Bundesagentur für Arbeit um rund 3,5 Milliarden
Euro besser dastehen als geplant. Von daher kann man
feststellen, dass unsere Entlastungen, die wir den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, gut durchkalkuliert
und solide finanziert sind. Deswegen beschreiten wir
diesen Weg.
({9})
Ich will noch auf den Gesetzentwurf zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente eingehen.
Es war uns als CDU/CSU wichtig, dass im Koalitionsvertrag vereinbart worden ist, zu einer deutlichen Reduzierung der Zahl der arbeitsmarktpolitischen Instrumente
zu kommen. Wir haben gesagt: Was sich als wirksam erwiesen hat, wird fortgeführt; was nicht gebraucht worden ist oder sich als unwirksam erwiesen hat, das wird
gestrichen. Das ist genau der Weg, den wir gegangen
sind, wodurch wir zu einer deutlichen Reduzierung der
Zahl der Instrumente gekommen sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben nicht einfach irgendetwas weggestrichen, sondern wir haben vor
allem für mehr Flexibilität vor Ort gesorgt. Wir haben
mit der Einführung des Vermittlungsbudgets dafür gesorgt, dass die Vermittler nicht mehr kleinkariert nach
jeder Einzelheit gucken müssen, sondern dass sie wirklich Flexibilität haben, um vor Ort zu entscheiden, was
ein Arbeitsloser braucht, der erst kurze Zeit arbeitslos
ist, und vor allem, welche möglicherweise unkonventionellen Wege gegangen werden müssen, um Menschen,
bei denen das normale Instrumentarium der Arbeitsförderung über 12 oder 18 Monate nichts genutzt hat, in Arbeit zu bringen. Das haben wir getan. Wir haben das
klare Signal gesetzt: Es gibt mehr Handlungsfreiheit und
mehr Flexibilität vor Ort, um mehr konkrete und passgenaue Hilfe für die Menschen zu ermöglichen. Das ist ein
großer arbeitsmarktpolitischer Fortschritt.
({10})
Wir haben den Gesetzentwurf mit den Änderungsanträgen, die wir als Koalitionsfraktionen eingebracht haben, erheblich verbessert. Diese sind auf unseren Vorschlag hin vorgestern im Ausschuss für Arbeit und
Soziales beschlossen worden. Ich möchte mich auch bei
den Kolleginnen und Kollegen der SPD herzlich dafür
bedanken, dass wir dies mit Pragmatismus und Augenmaß gemeinsam tun konnten.
Wir haben uns darauf verständigt, dass über die Flexibilisierung hinaus, die durch das Vermittlungsbudget
entstanden ist, auch die Freie Förderung im Bereich des
Sozialgesetzbuchs III - also für diejenigen, die erst
kurze Zeit arbeitslos sind - in Höhe von 10 Prozent erhalten bleibt. Wir haben die im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehenen Mittel für die Freie Förderung von Langzeitarbeitslosen von 2 Prozent auf 10 Prozent verfünffacht. Darüber hinaus haben wir jede Menge
zusätzliche Flexibilisierungsmöglichkeiten eingebaut.
Von daher sind jetzt ziel- und passgenaue Möglichkeiten
vorhanden, um Menschen wieder in Arbeit zu bringen.
Das ist unser Ziel gewesen.
Ich will gleichzeitig sagen, obwohl es selbstverständlich ist, dass dies kein Gesetz zur Aufhebung der Gewaltenteilung in Deutschland ist. Das klingt selbstverständlicher, als es manchmal zu sein scheint, wenn man
Debatten führt. Die Kollegin Pothmer wird gleich noch
sprechen. Wir haben schon manche Runde gemeinsam
mit Landräten und Arge-Geschäftsführern gehabt, in der
ich von der Kollegin aufgefordert worden bin, dafür zu
sorgen, dass das Arbeitsministerium nicht mehr so böse
Briefe an Landräte und Arge-Geschäftsführer schreibt.
Es wird natürlich auch weiterhin so sein, dass die Abgeordneten ihre Briefe nicht auf Bögen des Ministeriums
schreiben. Daran wird sich nichts ändern. Die Kollegin
Pothmer weiß das auch; sie sagte nämlich dann auf den
Hinweis: Herr Brauksiepe, Sie haben ja recht. Aber ich
habe doch so viel Beifall bekommen; da musste ich das
doch einfach einmal fordern.
({11})
So machen wir nicht Politik, meine Damen und Herren. Ich will nur klar sagen: Die Briefe des Ministeriums
an die Geschäftsführer der Argen und an die Landräte
werden weiterhin im Ministerium geschrieben werden.
({12})
Aber auf den Gesetzgeber kann sich niemand berufen,
der im Geiste des Misstrauens und der Nichtkooperation
agieren will. Dies ist ein Gesetzentwurf, der auf Vertrauen, Kooperation und gleiche Augenhöhe setzt. Das
ist der klare Rahmen, den wir als Gesetzgeber heute
schaffen.
Ganz herzlichen Dank.
({13})
Werner Dreibus ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir sind mitten in einer schweren Wirtschaftskrise. Jedes vierte Unternehmen denkt über Entlassungen nach.
Die OECD befürchtet, dass es Ende nächsten Jahres bereits 700 000 Arbeitslose mehr sein könnten. Immer
mehr Kurzarbeit und deutlich mehr Arbeitslose werden
Tag für Tag - das gilt im wörtlichen Sinne - zur bitteren
Realität. Schon allein deshalb sind die heute von der
Großen Koalition vorgelegten Gesetzentwürfe absolut
daneben.
({0})
Wenn Sie nur einen Funken Mut und Verantwortung
hätten, dann hätten Sie angesichts der aktuellen Lage mit
Ihrer Mehrheit beide Gesetzentwürfe von der heutigen
Tagesordnung abgesetzt.
({1})
Schauen wir uns die Ausgangslage am Arbeitsmarkt
noch einmal genauer an! Es gibt offiziell knapp
3 Millionen Arbeitslose. Hinzukommen mehr als
1 Million Menschen, die nur deshalb nicht als arbeitslos
gelten, weil sie in Maßnahmen der Arbeitsförderung
sind, sowie mindestens 600 000 Menschen in der stillen
Reserve. Das sind die Zahlen am Ende des Aufschwungs. Ich denke, das ist genau das Gegenteil einer
erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik.
({2})
Weiter: Zwischen 2003 und 2007 wurden fast 1 Million Vollzeitarbeitsplätze abgebaut. Dafür boomen prekäre Beschäftigungsverhältnisse wie Leiharbeit, Miniund Midijobs oder Befristungen. Die Beschäftigten sind
genau diejenigen, die nun als Allererste ihre Arbeitsplätze verlieren. Das passiert bereits täglich. Hinzu
kommt: Millionen Menschen arbeiten zu Niedriglöhnen.
Welch eine katastrophale Bilanz, und das am Ende einer
Aufschwungperiode, bevor die Krise auf dem Arbeitsmarkt überhaupt angekommen ist!
Was wir jetzt dringender denn je brauchen, ist mehr
und bessere Arbeitsmarktpolitik. Deshalb ist das Allerletzte, was man in einer solchen Situation machen kann,
eine Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung.
({3})
Die Bundesagentur für Arbeit muss doch in der Lage
sein, eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, und
zwar angesichts der steigenden Arbeitslosenzahlen mehr
denn je.
({4})
Dafür braucht sie eine angemessene finanzielle Ausstattung und nicht reduzierte Einnahmen.
Die Bundesagentur für Arbeit selbst rechnet bei einer
Senkung des Beitragssatzes auf 2,8 Prozent für 2009
mit einem Defizit von fast 6 Milliarden Euro, vorausgesetzt, die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt stagniert.
Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Herr Weise, hat
es im Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgerechnet:
Sollte es im nächsten Jahr durchschnittlich nur
130 000 Arbeitslose mehr geben, dann müsste die BA
allein im Jahr 2009 mit 700 Millionen Euro Mehrausgaben rechnen, und das bei nur 130 000 Arbeitslosen mehr,
eine Zahl, die wahrscheinlich weit untertrieben ist und
die weit weg von der zu befürchtenden Realität ist. Um
es deutlich zu sagen: Wenn Sie in der aktuellen Lage auf
Beitragssatzsenkungen bestehen - teilweise wider besseres Wissen, wie ich aufgrund dessen, was ich aus der
Koalition höre, vermute -, dann fahren Sie die BA und
damit auch die Wirksamkeit und die Legitimation der
Arbeitslosenversicherung insgesamt an die Wand.
({5})
Auch mit dem Gesetzentwurf zur Neuausrichtung der
arbeitsmarktpolitischen Instrumente werden Sie das
Steuer in der Arbeitsmarktpolitik nicht herumreißen.
Sie setzen damit - im Grunde ist das in der Rede des
Staatssekretärs deutlich geworden - die Linie der
Agenda 2010 und der Hartz-Reformen konsequent fort,
konsequent in die falsche Richtung. Der repressive Charakter der Arbeitsmarktpolitik wird weiter verschärft.
Arbeitslose werden weiter entrechtet. Die Daumenschraube der Sanktionen wird noch fester angezogen.
Die Zumutbarkeitskriterien werden weiter verschlechtert.
Die Bundesregierung strafft und flexibilisiert den
Instrumentenkasten. Sie gehen dabei allerdings fast
ausschließlich von quantitativen Aspekten aus. „Sparen
vor Verbessern“ heißt offensichtlich Ihr Motto.
({6})
Die für eine sinnvolle Arbeitsmarktpolitik zentralen Fragen, ob und unter welchen Bedingungen Instrumente
nicht nur eine schnelle, sondern tatsächlich auch eine
nachhaltige Eingliederung in den Arbeitsmarkt ermöglichen, spielen in qualitativer Hinsicht offensichtlich
keine Rolle. Deshalb werden Instrumente wie beschäftigungsbegleitende Eingliederungshilfen oder die Weiterbildung durch Vertretung ersatzlos gestrichen, während
1-Euro-Jobs nicht abgeschafft werden, obwohl alle Untersuchungen die Nichtwirksamkeit der 1-Euro-Jobs hinsichtlich einer nachhaltigen Arbeitsmarktpolitik längst
belegt haben.
Die Bundesregierung setzt weiterhin vor allem auf
kurzfristige Qualifizierung, statt die berufliche Weiterbildung insgesamt wirklich zu stärken.
({7})
Hinzu kommt: Wer erst einmal in Hartz IV drin ist,
kommt nicht mehr heraus; denn ALG-II-Beziehende haben weiterhin nicht zu allen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten Zugang. Jetzt wird auch noch die Möglichkeit der Förderung durch ABM für ALG-II-Beziehende
abgeschafft. Eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die alle Arbeitslosen gleichermaßen gut fördert, sieht anders aus.
({8})
Stolz ist die Koalition darauf, dass der Handlungsspielraum der Arbeitsvermittler und Fallmanager vor
Ort erhöht wird.
({9})
Fraglich bleibt nur, Herr Brauksiepe, ob und wie der einzelne Erwerbslose davon profitiert; das ist der Maßstab.
({10})
Denn Erwerbslose haben nur auf äußerst wenige Fördermaßnahmen einen Rechtsanspruch, auch nach Inkrafttreten Ihres Gesetzes.
({11})
Für die Vermittler bedeutet mehr Handlungsspielraum
zunächst mehr Flexibilität. Das ist gut. Es bedeutet aber
auch mehr Verantwortung für den Vermittler,
({12})
und es wird, Herr Brauksiepe, für den Vermittler mehr
Spardruck von oben bedeuten. Das ist angesichts kommender Defizite - Sie senken ja gleichzeitig die Beitragssätze - doch vollkommen absehbar.
({13})
Das Gesetz macht insofern das Tor für weitere Einsparungen und weiteren Druck auf Arbeitslose weit auf. Die
Löcher im sozialen Netz werden immer größer.
Arbeitsmarktpolitik muss eine ausreichende soziale
Absicherung bieten und die nachhaltige Integration in
gute Arbeit tatsächlich fördern, nicht nur in Sonntagsreden, Herr Staatssekretär, sondern in der Praxis.
({14})
Verstärkt gefördert werden müssen gerade in der Krise
Langzeitarbeitslose, Geringqualifizierte und andere besonders Benachteiligte. Wir, die Linke, fordern deshalb
ein sofortiges Umsteuern in der Arbeitsmarktpolitik.
Dazu gehören - ich will sie nur stichwortartig nennen mindestens die folgenden Punkte: Wir brauchen eine
Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I.
Wir brauchen eine sofortige Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze auf mindestens 435 Euro, verbunden mit der
Einführung eines bedarfsdeckenden Satzes für Kinder und das alles nur als ersten Schritt zur tatsächlichen
Überwindung von Hartz IV. Wir brauchen die Einführung eines individuellen Rechtsanspruchs auf Teilhabe an
den Maßnahmen der aktiven Arbeitsförderung für alle
Erwerbslosen. Wir brauchen die Abschaffung der 1-EuroJobs zugunsten von öffentlich geförderten Beschäftigungsverhältnissen, die nach Tarif bezahlt werden. So
würden endlich wieder brachliegende Aufgaben angegangen und Langzeitarbeitslosigkeit effektiv bekämpft.
Ganz wichtig ist: Arbeit und arbeitsmarktpolitische
Maßnahmen müssen existenzsichernd und voll sozialversicherungspflichtig sein,
({15})
der individuellen Qualifikation entsprechen, sie dürfen
keine extremen Anforderungen an Flexibilität und Mobilität stellen, und sie müssen die politische und religiöse
Gewissensfreiheit berücksichtigen. Das sind Mindestanforderungen aus der Sicht der Linken. Notwendig sind
darüber hinaus wirksame Maßnahmen gegen den wachsenden Niedriglohnsektor und gegen die Zunahme
prekärer Beschäftigungsverhältnisse, um gute Arbeit tatsächlich zu stärken. Dazu gehört als wichtigste Maßnahme endlich die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von mindestens 8,71 Euro wie in Frankreich.
({16})
Zusammengefasst: Wer ausgerechnet in der Krise die
Beiträge kürzt und damit notwendige und sinnvolle Arbeitsmarktpolitik weiter demontiert, ist entweder zynisch oder betätigt sich als Geisterfahrer. Jedenfalls ist er
weder christlich noch sozial.
({17})
Eine solche Politik haben die Menschen, die jetzt Angst
um ihren Arbeitsplatz haben, und die Arbeitslosen wirklich nicht verdient.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort erhält die Kollegin Brigitte Pothmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
- Den hätte ich eingesammelt, und das hat sich wohl
vorher herumgesprochen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will
darauf verzichten, den gesamten Kanon der arbeitsmarktpolitischen Debatten, die wir hier immer wieder
führen, zum Thema zu machen, sondern ich will mich
auf die hier zur Beratung stehenden Gesetzentwürfe konzentrieren; denn ich meine, dass sie wichtig sind und
dass sie es verdient hätten, dass wir uns in der Debatte
auf sie konzentrieren.
Die Anhörung zur Neuordnung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente war - das wissen alle, die dabei waren - ein echtes Desaster für diese Regierung.
({0})
Das ist an den Koalitionsfraktionen nicht vorbeigegangen - offensichtlich auch nicht an Ihnen, Herr Müller -,
und das ist auch gut so. Ich finde es richtig, dass Sie die
2 Prozent, die im Gesetzentwurf für die Freie Förderung vorgesehen waren, auf 10 Prozent heraufgesetzt
haben.
({1})
Gut so, sage ich - aber das ist noch zu wenig -, und das
kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir dadurch
weder quantitativ noch qualitativ das erreichen, was wir
vorher mit dem Instrument der weiteren Leistungen hatten.
({2})
Das fällt immer noch weit hinter den Status quo zurück.
({3})
- Liebe Frau Nahles, das wissen Sie wirklich ganz genau.
({4})
Wenn es tatsächlich nur darum gegangen wäre, auf
die Kritik des Bundesrechnungshofes an den weiteren
Leistungen einzugehen, dann hätte man einfach nur für
ein Aufstockungs- und Umgehungsverbot für weitere
Leistungen bei Arbeitgebern sorgen können. Dann hätten wir dieses Instrument beibehalten können, das im
Einzelfall vor Ort so gute Wirkungen erzielt hat.
({5})
Stattdessen haben Sie die vorhandene Handlungsfreiheit und Flexibilität im großen Stil rasiert. Seit mittlerweile über einem Jahr beschäftigen sich die Argen und
die Kommunen mit den Folgen dieser Entscheidung.
Das ist wirklich schlecht für die Arbeitslosen. Das ist das
Ergebnis Ihrer Politik. Das ist kein Zufall; das ist offenbar regelrecht gewollt.
({6})
- Nein, Frau Nahles. Ich mache Ihnen jetzt einmal folgenden Vorschlag: Lassen Sie uns das hier nicht nur
theoretisch im Streit ausfechten; wir treffen uns in einem
Jahr wieder. Dann werden wir ganz genau wissen, wo
die Probleme dieses neuen Instruments sind.
({7})
Ich will Ihnen sagen: Das Problem liegt im Wesentlichen darin, dass dieses Instrument erst angewendet werden darf, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen
ist.
({8})
Die Arbeitslosen müssen erst zu Langzeitarbeitslosen
werden, damit die Flexibilität, die wir brauchen, tatsächlich vorhanden ist.
({9})
Vorher werden Instrumente von der Stange angewendet,
die überhaupt nicht zielführend sind. Das ist das zentrale
Problem Ihrer Neuregelung.
({10})
Davon ganz besonders negativ betroffen sind die
Jugendlichen. Mittlerweile hat uns das IAB ein Gutachten vorgelegt, aus dem hervorgeht - das muss man sich
einmal vorstellen -, dass nur 40 Prozent der jungen
Menschen unter 30 Jahren, die abhängig von Leistungen
aus dem Bereich Hartz IV geworden sind, einen dauerhaften Ausstieg daraus schaffen. Das wissen Sie sehr genau; trotzdem beschränken Sie die Möglichkeit, hier
Hilfe zu leisten, mit Ihrem Instrumentenkasten noch einmal ganz deutlich.
({11})
Wir brauchen Herrn Scheele mit seinem Drahtverhau von
Verordnungen überhaupt nicht. Sie haben doch schon dafür gesorgt, dass dieses Instrument wahrlich nicht passgenau eingesetzt werden kann.
({12})
Herr Brauksiepe, jetzt komme ich noch zu dem von
Ihnen so hochgelobten Vermittlungsbudget. Sie sagen:
Gut, wenn da nicht kleinkariert vorgegangen werden
muss, wenn nicht jede Leistung en détail abgerechnet
werden muss, wenn das vielmehr budgetiert werden
kann. Stimmt, das sieht der Gesetzentwurf tatsächlich so
vor. Aber parallel dazu überlegt sich die BA, wie sie dieses Instrument in ihrem Statistikwahn zerstückeln kann.
Haben Sie sich einmal den Entwurf angeschaut, den die
BA vorgelegt hat? Darin ist Folgendes vorgesehen:
Nachdem das Geld dem Arbeitslosen pauschal gegeben
worden ist, muss sich der Sachbearbeiter hinsetzen und
genau diese Pauschale - in 36 Einzelpunkten aufgegliedert - abrechnen.
({13})
Ich kann Ihnen nur sagen: Sie pauschalisieren. In der
Praxis bringt das für die einzelnen Arbeitsagenturen und
für die Vermittler rein gar nichts. Sorgen Sie dafür, dass
das nicht Wirklichkeit wird.
({14})
Das qualitativ wirklich einzig Neue in diesem Gesetzentwurf ist die Verordnungsermächtigung. Sie sagen
jetzt hier: Es geht um mehr Flexibilität vor Ort und um
mehr Vertrauen in die einzelnen Jobcenter. Parallel dazu
stellen Sie in dieses Gesetz eine Verordnungsermächtigung ein, die es dem Ministerium jeden Tag, den Gott
werden lässt, ermöglicht, in das operative Geschäft vor
Ort unmittelbar einzugreifen.
({15})
Dass Sie überhaupt nicht schüchtern sind, von so etwas
Gebrauch zu machen, wissen wir aus den Erfahrungen
- aus schmerzhaften Erfahrungen, kann ich dazu nur sagen - mit den weiteren Leistungen.
Was ich als weiteren Punkt wirklich tragisch finde,
ist, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf - ich möchte es
einmal so sagen - die Architektur, die Idee dieser Gesetze völlig verkehren. Wir sind immer davon ausgegangen, dass Arbeitsmarktpolitik nur dann erfolgreich sein
kann, wenn Arbeitsuchender und Fallmanager tatsächlich auf Augenhöhe miteinander in Kontakt treten und
vereinbaren, was für den Arbeitsuchenden gut ist. Was
Sie jetzt machen, ist, dieses Machtgefälle zwischen Fallmanager bzw. der Institution zulasten des Arbeitsuchenden noch einmal zu verschärfen.
({16})
Wenn es so ist, dass eine Eingliederungsvereinbarung keine gemeinsame Vereinbarung ist, sondern qua
Verordnung gesetzt wird, und wenn sich dann der Arbeitsuchende darin nicht wiederfindet und diese Vereinbarung nicht eingehalten wird, dann gibt es sofort Sanktionen. Ich frage Sie: Was hat denn das mit Augenhöhe
zu tun? Das ist wieder Ausdruck des tiefen Misstrauens,
das Sie gegenüber den Arbeitsuchenden haben. Sie bringen damit die Idee dieses Gesetzes wirklich zu Fall. Das
werfe ich Ihnen vor.
({17})
Insgesamt ist dieser Gesetzentwurf nicht nur Ausdruck des Misstrauens gegenüber den Arbeitslosen, sondern nach wie vor auch gegenüber den Akteuren vor Ort,
gegenüber den Vermittlern und den Maßnahmenträgern.
Sie sitzen hier in Berlin und sind von der Idee verfolgt,
dass diese Menschen Sie alle übers Ohr hauen und mit
Steuer- und Beitragsmitteln Schindluder treiben wollen.
Aber Sie sehen nicht, dass mit dieser kleinteiligen ÜberBrigitte Pothmer
prüfungstechnik viel mehr Geld verschwendet wird, als
das andersherum möglicherweise der Fall sein könnte.
({18})
Ich muss leider zum Schluss kommen.
({19})
Lassen Sie mich noch einen Satz zu der Frage der Absenkung der Beitragssätze sagen. Herr Weiß rechnet
uns im Ausschuss jedes Mal neu vor - ich höre ihm auch
jedes Mal wieder gerne zu -, dass die Absenkung eines
Beitragssatzpunktes hunderttausend Arbeitsplätze bringt.
Aber, lieber Herr Weiß, das geht nur, wenn es tatsächlich
auch unter dem Strich 1 Prozentpunkt weniger ist.
({20})
Das geht nicht, wenn Sie auf der einen Seite wie bei der
Krankenversicherung den Beitragssatz um 1 Prozentpunkt erhöhen und auf der anderen Seite bei der Arbeitslosenversicherung um 1 Prozentpunkt reduzieren. So
funktioniert das in der Praxis nicht.
({21})
Das ist eine Milchjungenrechnung, Herr Weiß. Die
Beitragssatzsenkung bei der Arbeitslosenversicherung
hat mit den Bedürfnissen in diesem Bereich nichts zu tun.
Sie kompensiert Fehler, die bei der Reform der Krankenversicherung gemacht worden sind. Das werden bei steigender Arbeitslosigkeit die Arbeitslosen noch bitter bezahlen müssen. Schließlich brauchen wir gerade in dieser
Zeit eines: langfristige und gute Qualifizierung. Dies
wird mehr Geld kosten, als derzeit zur Verfügung steht.
({22})
Frau Kollegin, Sie müssen nun wirklich zum Schluss
kommen.
Ich komme zum Schluss. - Ich will nur noch darauf
hinweisen, dass all das noch dadurch verschärft wird,
dass es mal wieder ein Verschiebemanöver gibt.
Nein, jetzt gibt es keine neue Abteilung einer längst
überschrittenen Redezeit.
({0})
Dann lassen Sie mich sagen: Ich fürchte,
({0})
dass im nächsten Jahr die angeblichen Verbesserungen in
der Arbeitsmarktpolitik nur auf rein statistische Effekte
zurückzuführen sein werden. Der Minister ist sehr gut
darin, in diesem Bereich Verschiebungen vorzunehmen.
Ansonsten wird die Situation für die Arbeitslosen mit
diesen Instrumenten jedenfalls nicht besser.
Ich danke Ihnen.
({1})
Katja Mast ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Am liebsten würde ich Ihnen, Frau Pothmer, einen Bildungsgutschein anbieten, damit Ihnen das vorliegende
Gesetz noch einmal erläutert wird. Vielleicht hören Sie
mir einfach zu. Dann verstehen Sie es besser.
({0})
Das doppelte „V“ ist aus meiner Sicht die Überschrift
für das heute zu verabschiedende Gesetz. Das doppelte
„V“ steht für Vertrauen und Verantwortung in die Kraft
der Gestaltung vor Ort. Die Neuorganisation der arbeitsmarktpolitischen Instrumente setzt Vertrauen in dezentrale Entscheidungsspielräume und innovative Möglichkeiten, auch wenn es einige meiner Vorrednerinnen und
Vorredner nicht so sehen.
({1})
Dieses Gesetz ist ein kraftvolles Signal für Vor-OrtLösungen. Wir als Gesetzgeber eröffnen bewusst Handlungsspielräume. Unsere Erwartung ist: Wir wollen, dass
diese Möglichkeiten verantwortlich genutzt werden. Unsere Hoffnung geht weit darüber hinaus. Wir setzen damit auch ein Signal für eine gute Lösung bei der Neuorganisation der Argen.
({2})
Auch wenn man sich über das eine oder andere Detail
streiten kann, ist doch die zentrale Frage: Wo finden wir
diese Handlungsspielräume im heute zu verabschiedenden Gesetz?
Erstens. Wir haben es geschafft: Wir reduzieren die
Anzahl der Einzelgesetze für Arbeitsvermittler vor Ort
und schaffen durch Budgets Spielräume für passgenaue
Lösungen, auch wenn Sie, Herr Niebel, das noch nicht
richtig erkannt haben.
({3})
Diese Budgets sind sowohl nach dem SGB III als auch
dem SGB II möglich. Sie finden sich als Vermittlungsbudget in § 45 und als Aktivierungsbudget in § 46.
({4})
Zweitens. Noch nie gab es eine Freie Förderung für
dezentrale Projekte im SGB II. Diese schaffen wir jetzt.
Das ist erklärter Wille sowohl der Bundesregierung als
auch des Parlaments.
({5})
Uns Volksvertretern ist es gelungen, den Ansatz der Regierung von 2 Prozent auf das Fünffache - ich betone:
das Fünffache -, also auf 10 Prozent, anzuheben. Unser
sozialdemokratischer Fraktionsvorsitzender Peter Struck
hatte recht mit dem von ihm vielbeschworenen Grundsatz: Kein Gesetz verlässt den Bundestag, wie es eingebracht wurde. Eine Steigerung von 2 auf 10 Prozent für
die Freie Förderung ist ein Durchbruch in der bundesdeutschen Arbeitsmarkt- und Vertrauenspolitik.
({6})
Doch damit nicht genug:
Drittens. Wir schaffen weitere Möglichkeiten für dezentrales Handeln. Das Aufstockungs- und Umgehungsverbot wird für Langzeitarbeitslose gelockert.
Das ist Ergebnis vieler Gespräche mit Experten vor Ort
und mit Fachverbänden. Das ist größtmögliches Vertrauen in die Akteure vor Ort. Dieses Vertrauen fordert
auch Verantwortung. Im Gesetz steht klar:
Bei Leistungen an Arbeitgeber ist darauf zu achten,
Wettbewerbsverfälschungen zu vermeiden.
Das meinen wir sehr ernst. Wir wollen keine vollfinanzierten Lohnkostenzuschüsse und keine vollfinanzierten
betrieblichen Ausbildungen - um extreme Beispiele für
solche Verfälschungen am Arbeitsmarkt zu nennen. Es
gilt natürlich geltendes Recht, zum Beispiel das europäische Beihilferecht. Unser Vertrauen steht: Die Akteure
vor Ort können mit dieser Verantwortung umgehen.
Viertens. Mit dem Recht auf die Vorbereitung eines
Hauptschulabschlusses im SGB III setzen wir auf vorsorgende Arbeitsmarktpolitik. Wir wollen jedem eine
zweite Chance geben. Aufstieg durch Bildung ist seit
145 Jahren sozialdemokratisches Kernanliegen. Das ist
gut so.
({7})
Wir übernehmen damit Verantwortung da, wo die Bundesländer bei jährlich 70 000 Schulabgängern ohne
Hauptschulabschluss versagen. Denn jedem Sozialpolitiker ist doch klar: Ohne Schulabschluss keine Ausbildung
und ohne beides ist die Wahrscheinlichkeit für Langzeitarbeitslosigkeit hoch.
Wir sind froh, dass wir mit der Union einen Partner
haben, der unseren Argumenten an dieser Stelle nicht
widerstehen konnte. Handlungsspielräume vor Ort entstehen hierdurch, weil jetzt absolut klar ist: Der Hauptschulabschluss ist Sache des SGB III.
Ich bin froh, dass die Bundesagentur für Arbeit in unserer Expertenanhörung zugesagt hat, das Fachkonzept
für die berufsvorbereitenden Maßnahmen zu überarbeiten. Nur in der Verbindung von Begleitung durch berufsvorbereitende Maßnahmen und Vorbereitung auf den
Hauptschulabschluss machen wir es schulmüden Jugendlichen möglich, ihren Schulabschluss nachzuholen.
Mit diesem Gesetz und seinen Budgets stärken wir
die Vermittler. Dies ist wichtig, da sie der Partner der
Arbeitsuchenden sind. Durch sie wird Arbeitsmarktpolitik jeden Tag konkret. Deshalb stellen wir weitere Vermittler ein
({8})
und werden mehrere Tausend befristete Arbeitsverträge
bei der Bundesagentur für Arbeit entfristen.
So weit nun zu den abstrakten Möglichkeiten der
neuen Handlungsspielräume. Aber wie geht eigentlich
Silvia Müller, Vermittlerin bei der Agentur für Arbeit in
meiner Heimat Pforzheim, damit um?
({9})
Vor ein paar Tagen hat sie erfahren, dass ihr befristeter
Arbeitsvertrag jetzt unbefristet weiterlaufen kann. Sie
hat nun endlich einen dauerhaften Arbeitsvertrag. Peter
Kühn, ein ehemaliger Lagerarbeiter von 45 Jahren, der
seit ein paar Wochen arbeitslos ist, sitzt heute vor ihr.
({10})
Er ist zum Vorstellungsgespräch in Düsseldorf eingeladen. Im Bewerbungskurs wurde ihm empfohlen, mit
Schlips und Kragen zum Gespräch zu gehen. Sowohl
Fahrtkosten als auch Schlips und Kragen kann er sich
nicht leisten. Er wollte den Termin zum Vorstellungsgespräch deshalb absagen. Frau Müller motiviert ihn, hinzugehen, und sagt ihm zu, die Kosten zu übernehmen.
Bis vor einigen Wochen hatte sie immer aus verschiedenen Töpfen genauestens berechnen müssen, wie sie
Herrn Kühn helfen kann. Doch mit unserem Gesetz ist
das anders: Sie hat jetzt ein Budget, Verwaltungskosten
werden gespart - eine passgenaue Lösung also. Dieses
Gesetz verändert das Verhältnis zwischen Vermittler und
Arbeitsuchendem. Das wollen wir so.
({11})
Lassen Sie mich zusammenfassen: Der Gesetzentwurf trägt eine deutliche Handschrift. Wir haben erreicht, dass jeder und jede künftig das Recht hat, sich auf
den Hauptschulabschluss vorzubereiten. Das ist ein großer Erfolg und wieder ein Beleg dafür, dass Sozialdemokraten den Aufstieg durch Bildung gestalten, auch gemeinsam mit der Union.
Frau Kollegin.
Ich bin gleich fertig. - Die Budgets werden die notwendigen Spielräume geben, um Menschen individuell
und bedarfsgerecht zu fördern, und die Freie Förderung
ermöglicht passgenaue Lösungen vor Ort. Das ist Politik, die verantwortungsvoll mit den Mitteln der Beitragszahler und der Steuerzahler haushaltet.
({0})
Das ist Politik mit und für die Menschen. Das ist Politik
mit doppeltem „V“: Vertrauen und Verantwortung für
maßgeschneiderte Lösungen vor Ort.
({1})
Dr. Erwin Lotter ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Brauksiepe, eines haben die heutige
Debatte und die zurückliegenden Beratungen im Ausschuss ganz klar bewiesen: Die Regierungsfraktionen
lernen nicht aus ihren Fehlern.
({0})
- Das denken Sie!
({1})
Sie haben in drei langen Jahren der Bedenkzeit seit Unterzeichnung des Koalitionsvertrages nicht viel zustande
gebracht. Anders kann man Ihren Gesetzentwurf zur
Neuregelung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente
nicht bewerten.
({2})
Sie haben einige wenige Instrumente gestrichen; aber
viel zu viele bleiben bestehen. Der Instrumentenkasten
der Arbeitsvermittlung ist immer noch so vollgestopft,
dass kein Jobvermittler alle Instrumente kennen, geschweige denn beherrschen kann.
({3})
Manchmal ist eben weniger mehr.
({4})
Bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten gilt dies
mit Sicherheit.
Aber es kommt noch schlimmer. Ohne jeden Grund
deckeln Sie die Freie Förderung auf einem viel zu niedrigen Niveau.
({5})
Warum gestehen Sie kreativen Argen und Optionskommunen nur 10 Prozent Freie Förderung zu?
({6})
Viele Kommunen haben großen Erfolg bei der Jobvermittlung, gerade weil sie sich nicht aus dem Standardinstrumentenkasten bedienen, sondern eigene, passgenaue
und individuelle Fördermöglichkeiten für ihre Kunden
entwickeln. Das aber geht Ihnen von CDU/CSU und
SPD gegen den Strich. Wenn es nach Ihnen geht, dann
soll sich der Jobsuchende an den Bedürfnissen der Arge
und nicht die Jobvermittlung an der Persönlichkeit des
Arbeitslosen orientieren.
({7})
Hier verschenken Sie viel Potenzial, sowohl bei den Arbeitslosen als auch bei den Jobvermittlern. Als auch
kommunalpolitisch aktiver Bundespolitiker kann ich
nicht das geringste Verständnis für Ihr Handeln aufbringen. Anstatt richtigerweise kommunale Handlungsspielräume auszuweiten, schränken Sie diese ein und gehen
damit genau in die falsche Richtung.
({8})
Auch in der Frage des Rechtsanspruchs auf einen
Hauptschulabschluss haben Sie ordnungspolitisch leider völlig die Orientierung verloren.
({9})
Ein Schulabschluss ist für die meisten Arbeitsuchenden
zweifellos wichtig. Die Frage ist jedoch, ob dies tatsächlich für alle gilt. Wer nicht mehr zur jungen Generation
gehört, wird nicht wegen seines nachgeholten Hauptschulabschlusses eingestellt, sondern wegen seiner Lebens- und Arbeitserfahrung.
({10})
Das Nachholen des Hauptschulabschlusses ist vielleicht
für viele, aber eben nicht für jeden der direkteste Weg
aus der Arbeitslosigkeit.
({11})
Vor allem: Ein fehlender Hauptschulabschluss resultiert in den allermeisten Fällen aus einem Versagen des
Bildungssystems. Insofern ist dies eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nicht durch die Beitragszahler
zu leisten ist.
({12})
Wenn wir Fehler in der Bildungspolitik korrigieren wollen, dann müssen wir Steuergelder dafür einsetzen und
dürfen nicht die Bundesagentur für Arbeit mit diesen
Kosten belasten.
({13})
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich habe
Ihnen jetzt nur drei von etlichen Versäumnissen in Ihrem
Gesetzentwurf vorgehalten. Allein diese reichen aber
schon aus, um Ihren viel zu kurz greifenden Gesetzentwurf abzulehnen.
({14})
Aus diesem Grund haben wir, die FDP, einen eigenen
Antrag und einen eigenen Entschließungsantrag vorgelegt.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort erhält nun der Kollege Stefan Müller für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Dr. Lotter,
({0})
vorweggeschickt: Man hat bei der FDP gelegentlich den
Eindruck, als gebe es einen zentralen Redenschreiber oder
als ob jede Rede, die Sie sich zusammenschreiben, zunächst durch die Zensur von Herrn Niebel muss. - Herr
Dr. Lotter, Sie haben jedenfalls die Chance vertan, hier
ausnahmsweise einmal einen konstruktiven Beitrag der
FDP abzuliefern.
({1})
Sie werden ja noch ein paar Chancen dazu haben.
Schade eigentlich! Es wäre nicht schlecht, wenn neue
Abgeordnete auch einmal neue Reden halten würden.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist ja
wohl unstrittig, dass in den vergangenen Jahren ein beeindruckender Umbau in der deutschen Arbeitsmarktverwaltung und Arbeitsvermittlung stattgefunden hat.
Dazu beigetragen haben die Arbeitsmarktreformen der
vergangenen Jahre, eine Geschäftspolitik, die an Effizienz und Effektivität ausgerichtet war, und der Fleiß
und das Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit, die es gemeinsam geschafft haben, aus einer Behörde einen leistungsfähigen
Dienstleister am Arbeitsmarkt zu machen.
({3})
Wir werden diesen Erfolgskurs mit dem Gesetzentwurf,
den wir heute beschließen werden, fortsetzen.
({4})
Mit der Reform der Arbeitsmarktinstrumente werden
wir einen weiteren Schritt machen, um die Bundesagentur
für Arbeit noch schlagkräftiger und dynamischer aufzustellen und die Arbeitsvermittlung noch besser zu gestalten. Wir werden mit diesem Gesetzentwurf vorhandene
Instrumente, sofern sie unwirksam sind, abschaffen und
andere, die wirksam sind, fortentwickeln und zusammenfassen.
Es ist heute schon des Öfteren von der Zahl der
Instrumente die Rede gewesen. Es ist in der Tat nicht
einzusehen, warum die Bundesagentur einen ganzen
Bauchladen voller Arbeitsmarktinstrumente hat, am
Ende aber nur ein Bruchteil dieser Arbeitsmarktinstrumente tatsächlich genutzt wird. Deswegen ist richtig,
was wir hier tun: Wir reduzieren den Arbeitsmarktinstrumentenkasten, wir machen ihn übersichtlicher und transparenter. Damit helfen wir nicht nur den Vermittlern, denen es leichter gemacht wird, vor Ort zu arbeiten,
sondern auch denjenigen, die Arbeit suchen.
({5})
Wichtig ist, einen Punkt noch einmal herauszuarbeiten: Mit dem Vermittlungsbudget lassen wir mehr Innovation bei der Vermittlung zu. Der Kreativität sind zunächst einmal keine Grenzen gesetzt. Jedenfalls ist es
erklärter Wille der Koalitionsfraktionen, aber wohl des
Gesetzgebers insgesamt - davon gehe ich einfach mal
aus -, dass alle Möglichkeiten genutzt werden, um an
den Stellen, wo der Instrumentenkasten nicht eingesetzt
werden kann, im Rahmen dieses Vermittlungsbudgets
dem einzelnen Arbeitsuchenden etwas anbieten zu können, was genau zu ihm passt.
Zudem wollen wir den Praktikern vor Ort damit ermöglichen, etwas Neues auszuprobieren. Wir wollen
aber nicht, dass das, was da vor Ort ausprobiert wird, nur
dort angewendet wird. Vielmehr streben wir einen lernenden Prozess an, in dessen Rahmen Neues, das in einzelnen Regionen gut funktioniert, auf andere übertragen
wird. Ich verspreche mir durchaus, dass gerade mit dem
Vermittlungsbudget und dem Experimentierkasten in der
Arbeitsvermittlung neue Ideen entwickelt werden, die
dann in ganz Deutschland angewendet werden können.
Herr Staatssekretär, wir haben schon etwas Vergleichbares im Zusammenhang mit der Initiative „50 plus“, einem Bundesprogramm, in dessen Rahmen etliche Regionen gefördert werden und bei dem wir genau diesen
Ansatz des Experimentierens und Ausprobierens bereits
praktizieren. Die Ergebnisse dieses Bundesprogramms
geben uns recht. Diesen Weg werden wir mit dem, was
wir heute beschließen werden, weiter beschreiten.
({6})
Darüber hinaus werden wir die Entscheidungsspielräume vor Ort erhöhen. Das bedeutet natürlich für den
Vermittler dort zunächst einmal mehr Verantwortung;
Stefan Müller ({7})
das ist überhaupt keine Frage. Aber es ist ja richtig, demjenigen, der die Stärken und Schwächen des Arbeitsuchenden kennt, dieses Maß an Verantwortung zu geben, weil er dies am besten einschätzen kann. Im
Mittelpunkt muss stehen, dass dadurch nur noch solche
Maßnahmen finanziert werden, die dazu beitragen, eine
Integration in den ersten Arbeitsmarkt zu erreichen.
Eines darf meines Erachtens jedoch nicht unerwähnt
bleiben: Erfolgreich wird jedes Bemühen des Vermittlers
vor Ort nur dann sein, wenn auch der Arbeitsuchende
selber bereit ist, eigene Anstrengungen zu unternehmen.
({8})
Das beste Instrument hilft ja nichts, wenn die eigenen
Bemühungen dem im Wege stehen. Deswegen wird Fördern und Fordern auch in Zukunft an dieser Stelle, bei
den Arbeitsmarktinstrumenten und in der Arbeitsmarktpolitik, ein wichtiges Prinzip bleiben müssen.
Wir werden auch langfristig eine schlagkräftige Arbeitsvermittlung brauchen, weil uns der demografische
Wandel vor große Herausforderungen stellen wird. Eine
Prognos-Studie sagt voraus, dass uns in rund 20 Jahren
etwa 5,5 Millionen Arbeitskräfte fehlen werden. Das
heißt, die Arbeitsmarktpolitik wird eine Dauerbaustelle
bleiben, weil der Fachkräftemangel letztlich auch dazu
führt, unsere wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten
einzuschränken. Insofern brauchen wir, langfristig gesehen, eine funktionierende Arbeitsvermittlung. Wir benötigen sie aber auch kurzfristig, um die Auswirkungen der
Finanzmarktkrise auf die Realwirtschaft und den Arbeitsmarkt abschwächen bzw. ihnen entgegenwirken zu
können.
Alles, was wir dazu hören, ist sicherlich kein Grund
zur Panikmache. Die Beschäftigungsentwicklung wird
im nächsten Jahr sicherlich weitaus weniger dynamisch
sein, vielleicht sogar ein negatives Vorzeichen aufweisen; diese Prognose der Bundesagentur mussten wir im
Ausschuss vernehmen. Wir müssen also mit einem gewissen Anstieg der Arbeitslosigkeit rechnen. Deshalb
müssen wir auch mit Mitteln der Arbeitsmarktpolitik
versuchen, hier Schlimmstes zu verhindern. Genau deswegen werden wir die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes verlängern; genau deswegen hat die Bundesagentur
den Ansatz für das Kurzarbeitergeld im Haushalt noch
einmal aufgestockt. Alles das wird dazu beitragen, ein
wichtiges Signal zu geben und den Abbau von Arbeitsplätzen möglichst zu verhindern bzw. zumindest die
Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt zu dämpfen.
({9})
Noch eine Bemerkung zur Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages: Wir setzen mit der
Beitragssatzsenkung, die wir heute beschließen werden,
den konsequenten Kurs der Reduzierung der Sozialversicherungsbeiträge, der Arbeitslosenversicherungsbeiträge
fort. Wir haben den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung gesenkt: von 6,5 Prozent auf jetzt 2,8 Prozent, aber
begrenzt auf höchstens 3,0 Prozent. Das ist eine Entlastung um 27 Milliarden Euro.
({10})
- Herr Kolb, selbst wenn Sie alle Erhöhungen gegenrechnen, bleibt unterm Strich immer noch eine Entlastung übrig.
({11})
Mit dieser Politik der Beitragssatzsenkung haben wir
einen wesentlichen Beitrag geleistet, um Einstellungshemmnisse und damit Arbeitslosigkeit in diesem Land
abzubauen und sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse aufzubauen. Das ist nicht nur die
Konjunktur, sondern das ist die Politik der Großen
Koalition.
({12})
Ich halte diese Beitragssatzsenkung für verantwortbar. Manchmal hilft es, sich einfach die Zahlen anzuschauen, Herr Dreibus: Die Rücklagen der Bundesagentur zum Jahresende 2008 betragen 16 Milliarden Euro.
Die BA geht davon aus, dass sie - die Senkung des Beitragssatzes auf 2,8 Prozent eingerechnet - im nächsten
Jahr ein operatives Defizit von 6 Milliarden Euro machen wird. Ich stelle fest: Nach Adam Riese bleiben
dann immer noch knapp 10 Milliarden Euro Rücklagen
übrig.
({13})
Das zeigt doch, dass das solide finanziert ist. Der Beitrag
kann stabil gehalten werden, und zwar auch dann, wenn
die Arbeitslosigkeit ansteigt, Herr Dreibus. Ich glaube,
Sie waren gestern im Ausschuss nicht dabei, als Herr
Weise das vorgetragen hat. Auch die Bundesagentur geht
davon aus, dass, selbst wenn die schlimmsten Befürchtungen eintreten, der Beitragssatz stabil gehalten und die
Rücklagen nicht komplett aufgebraucht werden. Nehmen Sie doch einfach einmal zur Kenntnis, was Experten dazu sagen!
({14})
Herr Dreibus, ich halte es für unredlich, dass Sie sich
hier hinstellen und sagen, aufgrund dieser Beitragssatzsenkungen würde bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik
Geld gespart werden. Das ist schlichtweg falsch. Der
Mittelansatz für die aktive Arbeitsmarktpolitik bleibt im
Haushalt der Bundesagentur unverändert. Es wird dort
nichts eingespart.
({15})
Ich will deutlich machen, dass wir den Beitragszahlern nicht gnädigerweise irgendetwas zurückgeben. Wir
geben den Beitragszahlern in der Tat das Geld zurück,
das wir ihnen vorher abgenommen, aber nicht gebraucht
haben. Es scheint wichtig zu sein, darauf hinzuweisen.
Wichtig ist aber auch, dass wir auch künftig darauf
achten, dass mit den Mitteln der Beitragszahler verantwortungsvoll umgegangen wird. Auch dem wird Rech20992
Stefan Müller ({16})
nung getragen. Mit den beiden Gesetzentwürfen leisten
wir einen wesentlichen Beitrag, um Einstellungshemmnisse abzubauen und die BA noch besser aufzustellen.
Ich hätte jetzt gerne noch etwas Unfreundliches zu
den Oppositionsanträgen gesagt.
({17})
Herr Präsident, ich fürchte, Sie werden mir das nicht
mehr genehmigen.
Das ist eine zutreffende Vermutung.
Ich bitte deshalb abschließend um Zustimmung zu
den beiden Gesetzentwürfen.
({0})
Andrea Nahles ist die nächste Rednerin für die SPDFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente trägt den Stempel der Parlamentarierinnen und Parlamentarier in diesem Haus, die
sich dafür stark gemacht haben - das waren übrigens
auch Oppositionspolitiker -, dass wir mehr Verhandlungs- und Gestaltungsspielraum für die Vermittler vor
Ort organisieren. Das lösen wir mit diesem Gesetz ein.
({0})
Vergessen Sie die sonstigen weiteren Leistungen.
Das, was wir hier haben, ist viel besser.
({1})
Das werde ich Ihnen jetzt gerne beweisen. Wir haben
- das ist hier schon ausgeführt worden - die Mittel für
die Freie Förderung ausgehend vom ursprünglichen
Gesetzentwurf von 2 Prozent auf 10 Prozent angehoben.
Das war übrigens eine Forderung, die von allen Oppositionsparteien in diesem Haus erhoben wurde, deren Umsetzung heute aber mit keinem Wort lobend erwähnt
wurde.
({2})
Das halte ich hier einfach einmal so fest.
Das ist aber nicht der einzige Punkt. Wir haben zum
Zweiten dafür gesorgt, dass die Freie Förderung nicht
länger befristet ist. Es gibt kein Verfallsdatum mehr. Das
schafft mehr Planungssicherheit für die Akteure vor Ort.
Meines Erachtens ist es besonders wichtig, dass wir für
die Projekte der Freien Förderung rechtlich abgesicherte
Spielräume geschaffen haben, die es vorher nicht gab.
Das wurde zwar unter der Hand gemacht, war aber
rechtlich nicht sauber. Das geschah nicht auf Basis einer
gesetzlichen Grundlage. Deswegen gab es die Mahnbriefe, von denen hier die Rede war. Jetzt sorgen wir für
Rechtsklarheit. Aber auch darüber hört man kein positives Wort.
Noch wichtiger ist, dass wir zusätzlich - das erhöht
übrigens auch das Volumen - das Vermittlungsbudget
als ein ganz neues Momentum einführen. Es ist ganz
klar: Das Vermittlungsbudget ist etwas sehr Individuelles, etwas sehr Persönliches, etwas, was vor Ort zwischen dem Arbeitsvermittler und dem jeweiligen Arbeitslosen ausgehandelt werden kann. Ich kann Ihnen
nur recht geben: Wir werden unsererseits darauf achten,
dass die Spielräume, die wir als Gesetzgeber einräumen
wollen, auch durch die BA ermöglicht werden. Ich habe
Herrn Weise, der in dieser Woche bei uns im Ausschuss
war, an dieser Stelle so verstanden, dass er unseren sozialpolitischen Auftrag bzw. die Spielräume, die wir einräumen wollen, bejaht. Wir nehmen ihn schlichtweg
beim Wort.
({3})
Da werden wir in den nächsten Monaten nachfassen.
Ich denke, dass wir darüber hinaus eine Chance geschaffen haben. Die arbeitsmarktpolitischen Gesetze
sind Ihnen allen ja als bürokratisch und nicht funktionierend vorgekommen. Das war bei dieser Reform nie das
Thema. Wir haben gesagt, wir wollen weniger Gesetze,
weil dies zu mehr Übersichtlichkeit führt. Wir sind aber
nicht der Meinung, dass alle unsere Instrumente nichts
taugen.
({4})
Trotzdem sagen wir: Es kann sein, dass sich am Ende,
nachdem versucht wurde, alle möglichen regulären Instrumente anzuwenden, für einzelne Personen, die vor
einem Arbeitsvermittler sitzen, dadurch keine Lösung
ergibt. Das kann vorkommen. Genau für diesen Fall,
liebe Frau Pothmer, ist in unserem Gesetzentwurf die
Möglichkeit vorgesehen, durch eine Modifikation der arbeitsmarktpolitischen Instrumente, so wie sie vorgegeben sind, einen individuellen Instrumentenkatalog zu erstellen. Das heißt, wir haben an dieser Stelle das
Umgehungs- und Aufstockungsverbot gelockert. Das ist
auch richtig so, weil hier passgenaue Lösungen nötig
sind.
Insoweit kann ich nur sagen: Die sonstigen weiteren
Leistungen waren bisher in einem solchen Fächer von
Möglichkeiten, die wir jetzt gesetzlich verankern, nicht
im Entferntesten vorgesehen. Ich bitte, diese Botschaft
an alle Skeptiker und Briefeschreiber weiterzugeben.
Hier gibt es nämlich nur ein Problem: Diese haben noch
nicht gesehen, welches Potenzial und welche Verhandlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort in dem
vorliegenden Gesetzentwurf stecken.
({5})
Ein weiterer Punkt ist: Wir haben die Möglichkeit des
nachträglichen Erwerbs eines Schulabschlusses als
Rechtsanspruch verankert. Ich sage Ihnen ganz offen: Es
ist eigentlich nicht unser Job, nicht der Job der Bundesebene, dies vorzusehen.
({6})
Ich bin 1998 in das Parlament gekommen. Seit dieser
Zeit haben wir immer wieder festgestellt, dass 500 000
der Langzeitarbeitslosen keinen Schulabschluss haben.
Das ist ein erhebliches Vermittlungshemmnis; da können
wir nichts schönreden, meine Damen und Herren von
der FDP. Jetzt ging es um entsprechende Appelle an die
Länder. Wir haben diese 1999, 2000, 2001, 2002, 2003,
2004, 2005, 2006 formuliert. Gerd Andres,
({7})
der damals Staatssekretär war, hat das immer besonders
laut gemacht, weil er natürlich nicht wollte, dass der
Bund am Ende diese Aufgabe übernehmen muss. Ich
frage aber an dieser Stelle: Wie lange wollen wir denn
noch warten, bis die Länder ihre Hausaufgaben machen?
Sollen die Arbeitslosen, die keine Chance auf Bildung
bekommen, weitere zehn Jahre schmoren? Das wollen
wir nicht.
({8})
Deswegen haben wir an dieser Stelle den Rechtsanspruch auf den Erwerb eines Schulabschlusses geschaffen.
Jetzt gibt es ganz spitzfindige Kritiker, die feststellen:
Wir sehen einen solchen Rechtsanspruch nur aus Gründen der Berufsvorbereitung vor. Natürlich ist das so; das
ist ja unsere Aufgabe. Wir sehen diesen Rechtsanspruch
doch nicht zum Spaß vor, sondern deshalb, damit die
Leute einen Beruf bekommen. Das ist unser Ziel; das ist
der Witz der ganzen Sache. Wenn diese Vorgabe nicht
reicht, haben wir immer noch die Freie Förderung, die
auch in Zukunft die Möglichkeit eröffnet, im Einzelfall
andere Maßnahmen zu ergreifen. Das ist wirklich eine
tolle Sache.
Ich warne die Länder: Das machen wir nicht sehr
oft. - Es ist peinlich, dass sie entsprechende Volkshochschulkurse, all die Angebote, die es in diesem Zusammenhang gegeben hat, zurückgefahren haben. Das ist
wirklich ein Armutszeugnis. Diejenigen Länder, die immer laut schreien, wenn es darum geht, Bildungskompetenz zu bekommen, haben ihre Leistungen an dieser
Stelle weitestgehend zurückgefahren. Das muss von uns
heute ganz scharf kritisiert werden.
({9})
Ein letzter Punkt. Wir sorgen vor, Herr Dreibus, indem wir 1 000 zusätzliche Vermittler bei der Job-to-JobVermittlung im Rahmen des SGB III und 1 900 Vermittler im ALG-II-Bereich einstellen. Wir haben es geschafft, die Befristungen zurückzuführen; sie werden bis
2011 auf 10 Prozent heruntergefahren. Das alles wirkt
neben den ganzen Instrumenten.
Lassen Sie uns ehrlich sagen: Es ist wunderbar, wenn
man ganz tolle Instrumente hat
({10})
und einige davon noch bessere Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort bieten. Aber ganz wichtig ist, dass der Vermittler vor Ort Zeit hat,
({11})
sich mit den individuellen Problemen der Arbeitslosen
zu beschäftigen. Dafür haben wir in diesem Jahr eine
wichtige Grundlage gelegt.
Besten Dank.
({12})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Karl Schiewerling für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Kernfrage lautet: Wie schaffen wir es, dass Menschen, die erwerbslos sind bzw. von Erwerbslosigkeit bedroht sind,
wieder in Beschäftigung kommen bzw. erst gar nicht erwerbslos werden? Die gesamte Diskussion über den Instrumentenkasten und über das SGB II und das SGB III
führen wir in der Politik gelegentlich technisch und stellen sie oft auch technisch nach außen dar. Im Kern geht
es um die Aufgabe, Menschen zu helfen und sie wieder
in der Lage zu versetzen, mit ihrer eigenen Hände und
ihres eigenen Kopfes Arbeit den Lebensunterhalt für
sich und ihre Familien zu verdienen.
Die Idee der arbeitsmarktpolitischen Instrumente hat
nun einige Jahrzehnte auf dem Buckel. Über fast vier
Jahrzehnte hinweg haben sich alle Bundesregierungen
darum bemüht, Menschen vor Erwerbslosigkeit zu bewahren oder sie wieder in Beschäftigung zu bringen.
Diese Instrumente wurden als Bundesgesetz geschaffen,
sie wurden zentral eingerichtet und sollten möglichst im
Gleichschritt in der gesamten Bundesrepublik über die
damaligen Arbeitsamtstrukturen umgesetzt werden.
Allerdings hat es immer wieder neue Herausforderungen und veränderte Problemlagen gegeben. Das große
Problem, vor dem wir stehen, ist die zunehmende Individualisierung der Probleme der Menschen. Wir tun uns
schwer, mit bundeszentral gestalteten Instrumenten vor
Ort flexibel zu reagieren; denn die Verwaltung macht es
uns oft schwer, vor Ort flexibel zu handeln.
({0})
Das sind im Kern die Auseinandersetzung und die
Problemlage, um die wir uns kümmern. Ein weiteres
Problem ist dazugekommen. Als wir, der Gesetzgeber,
dieses Parlament, in den Jahren 2004 und 2005 beschlossen haben, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzulegen und damit ein neues Instrument für die Menschen zu schaffen, die besonders lange arbeitslos sind
und besonders viele Vermittlungshemmnisse aufweisen,
hatte man nicht geahnt, dass gerade für diese Zielgruppe
besonders intensive und individuelle Hilfen zwingend
notwendig sind und angegangen werden müssen.
Die Probleme, die wir heute haben, hängen damit zusammen, dass die Instrumentarien für die Menschen, die
in der Kurzzeitarbeitslosigkeit sind, auch bei den Menschen angewandt werden sollen, die in der Langzeitarbeitslosigkeit sind. Hinter diesen Instrumentarien stehen
Finanzierungssysteme - und auch die Fragen, was beitragsfinanziert und was steuerfinanziert ist. Folgerichtig
haben viele Träger vor Ort die sonstigen weiteren Leistungen, die das Instrumentarium des SGB II vorsieht,
genutzt, um flexibel handeln zu können. Das war kein
böser Wille, keine Faulheit, auch keine Hinterhältigkeit;
({1})
das war schlicht eine Notwendigkeit, um Menschen flexibel zu helfen.
({2})
Dass das nicht im Rahmen des Gesetzes erfolgte, wissen wir. Deswegen wurde § 16 f SGB II eingeführt; dadurch ermöglichen wir diese Flexibilisierung. Ich bin
außerordentlich dankbar, dass wir die Mittel für die Freie
Förderung nun auf 10 Prozent aufstocken konnten und
dass wir den Helfern und Fallmanagern vor Ort mit den
unterschiedlichen Instrumentarien, die vorhanden sind,
unmittelbare Hilfen an die Hand geben und sie daraus
eine passgenaue Hilfe für die Betroffenen organisieren
können.
({3})
Meine Damen und Herren, ich möchte auf den neu
eingeführten § 45 SGB III kurz eingehen, auf das sogenannte Vermittlungsbudget. Erklärter Wille der Politik
ist, dass dieses Vermittlungsbudget ebenfalls flexibel
eingesetzt werden kann. Wir müssen sicherstellen, dass
dies durch Verwaltungshandeln nicht wieder konterkariert wird. Es ist erklärter Wille der Koalitionsfraktionen,
dass diese Mittel durch die Argen eingesetzt, verwaltet,
verantwortet und gestaltet werden, das heißt: sowohl
durch die BA als auch durch die Kommunen. Das ist
deswegen an dieser Stelle wichtig, weil es im Kern um
die Frage geht, wer die Verantwortung für die Integration der Langzeitarbeitslosen trägt. Die spannende
Frage, die sich in dieser Diskussion stellt, lautet: Wie
wird die Grundsicherung für Arbeitsuchende in Zukunft
organisiert?
Sie wissen alle, dass das Bundesverfassungsgerichtsurteil umgesetzt werden muss. Ich sage Ihnen: Die
Frage, die beantwortet werden muss, damit wir den
Menschen helfen können, ist, wie wir die Entscheidungshoheit über die arbeitsmarktpolitischen Instrumente organisieren. Das ist der Kern des SGB II. Im
Zentrum des SGB II steht dies deswegen, weil es nicht
darum geht, möglichst viele Leistungen auszuschütten,
sondern darum, Menschen effizient zu helfen, damit sie
wieder in Beschäftigung kommen. Das ist die große Herausforderung.
Ich glaube, dass das, was wir mit dem heutigen Gesetzentwurf an Flexibilität auf den Weg bringen, in der
Verantwortungshoheit der Grundsicherungsträger der
Argen und der optierenden Gemeinden ein wichtiger
Schritt zu mehr Flexibilität ist. Ich bitte sehr nachdrücklich darum, dass sowohl die Verwaltung des Bundesarbeitsministeriums als auch die Verwaltung der BA alles
daransetzen, dass sich die dahinterstehenden Gedanken
auch im Verwaltungshandeln deutlich niederschlagen.
({4})
Die letzte kurze Bemerkung will ich an dieser Stelle
in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringen. Hinter diesem Gedanken steht, dass die Fallmanager selbst entscheiden und eigenverantwortlich vor Ort ihre Verantwortung wahrnehmen. Das wollen wir alle. Wir wollen,
dass vor Ort Freiheit herrscht, um passgenau helfen zu
können. Der Freiheit steht die Verantwortung gegenüber,
die man natürlich für die verausgabten Mittel trägt. Aufgabe des Parlaments und der Regierung muss es aber
doch sein, den Menschen in aller Deutlichkeit zu sagen:
Ihr dürft bei diesen Schritten, die ihr oft in einer hochkomplizierten Situation geht, auch einmal Fehler machen, ohne dass sich sofort die Kameras dieser Welt darauf richten. Aus den Erfahrungen, die ihr dabei macht,
können wir lernen, wie wir die nächsten Schritte gehen. Die Integration von Arbeitslosen, insbesondere von
Langzeitarbeitslosen, ist und bleibt ein lernendes System. Ich freue mich sehr, dass wir mit diesem Schritt des
Lernprozesses, mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf ein gutes Stück weiterkommen.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zu den Abstimmungen über den
von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf
zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instru-
mente. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt
unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf der Druck-
sache 16/11233, den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung auf den Drucksachen 16/10810 und 16/11196 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zwei-
ter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? -
Bei gleichen Mehrheitsverhältnissen ist der Gesetzent-
wurf damit angenommen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Wir setzen die Abstimmung zur Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses auf Drucksache 16/11233 fort.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung geht es um die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck-
sache 16/9093 mit dem Titel „Arbeitsmarktinstrumente
auf effiziente Maßnahmen konzentrieren“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussemp-
fehlung mit breiter Mehrheit angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/10511 mit dem
Titel „Arbeitslosenversicherung stärken - Ansprüche si-
chern - Öffentlich geförderte Beschäftigte einbeziehen“.
Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei spiegelbildli-
chen Mehrheitsverhältnissen ist auch diese Beschluss-
empfehlung angenommen.
Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/8524 mit dem Titel „Lokale
Entscheidungsspielräume und passgenaue Hilfen für
Arbeitsuchende sichern“ ebenfalls abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition ange-
nommen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 36 c.
Hier geht es um die Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Rechte von Arbeitsuchenden stärken - Kom-
petentes Fallmanagement sicherstellen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Druck-
sache 16/11142, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf der Drucksache 16/9599 abzulehnen.
Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die
Beschlussempfehlung, wiederum mit den Stimmen der
Koalition, angenommen.
Bei der Abstimmung zu Tagesordnungspunkt 36 d
geht es um den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Senkung des Beitragssatzes
zur Arbeitsförderung. Der Ausschuss für Arbeit und So-
ziales empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung
auf der Drucksache 16/11241, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/10806 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zwei-
ter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Gesetzentwurf in dritter Lesung mit der Mehrheit der
Koalition angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der FDP auf der Drucksache
16/11296. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag?
- Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist
der Entschließungsantrag abgelehnt.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 36 e. Hier
geht es um die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales zum Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Handlungsfähigkeit der Bundes-
agentur für Arbeit erhalten - Auf Senkung der Beitrags-
sätze verzichten“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11241,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache
16/10618 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussemp-
fehlung zu? - Wer möchte dagegen stimmen oder sich
der Stimme enthalten? - Damit ist die Beschlussempfeh-
lung mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 h
sowie die Zusatzpunkte 9 und 10 auf:
37 a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Allgemeine Erklärung der Menschen-
rechte - Grundlage für 60 Jahre Menschen-
rechtsschutz
- Drucksache 16/11215 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Knoche, Ulla Jelpke, Hüseyin-Kenan Aydin, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die Allgemeine Erklärung der Menschen-
rechte, der Zivil- und Sozialpakt - Grundla-
gen für einen unteilbaren und universellen
Menschenrechtsschutz
- Drucksache 16/11189 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt
Müller-Sönksen, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention
- Drucksachen 16/3145, 16/4647 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Florian Toncar
Michael Leutert
Volker Beck ({1})
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({2}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt
Präsident Dr. Norbert Lammert
Müller-Sönksen, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rechtsstaatskonforme Behandlung von Verhafteten nach der Übergabe durch deutsche
Stellen im Ausland sicherstellen
- Drucksachen 16/2096, 16/5315 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Florian Toncar
Michael Leutert
Volker Beck ({3})
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({4}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Volker
Beck ({5}), Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechtsschutzlücken bei der Terrorbekämpfung schließen
- Drucksachen 16/821, 16/8032 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Burkhardt Müller-Sönksen
Michael Leutert
Volker Beck ({6})
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({7}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Omid Nouripour, Josef Philip
Winkler, Volker Beck ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
UN-Wanderarbeiterkonvention endlich ratifizieren
- Drucksachen 16/6787, 16/10208 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Florian Toncar
Michael Leutert
Volker Beck ({9})
g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({10}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck ({11}), Marieluise
Beck ({12}), Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Menschenrechte der Uiguren schützen
- Drucksachen 16/7411, 16/10283 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Florian Toncar
Michael Leutert
Volker Beck ({13})
h) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Florian Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen,
Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Ergebnisse der Menschenrechtspolitik der
Bundesregierung im Rahmen der deutschen
EU-Ratspräsidentschaft
- Drucksachen 16/6370, 16/8595 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Florian Toncar,
Dr. Max Stadler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Rechtsstaatlichkeit sichern - Effektiven Rechtsschutz bei Terrorismusbekämpfung schaffen
- Drucksache 16/8903 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({14})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({15}) zu dem Antrag der Abgeordneten Florian
Toncar, Harald Leibrecht, Burkhardt MüllerSönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Das Verhalten von Birmas Junta muss Konsequenzen haben
- Drucksachen 16/9340, 16/10392 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Johannes Pflug
Harald Leibrecht
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller ({16})
Zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD,
der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen liegt ein
Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Aussprache eine Stunde dauern. - Das ist offenkundig
einvernehmlich und damit so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Erika Steinbach für die CDU/CSUFraktion.
({17})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 10. Dezember dieses Jahres jährt sich die Annahme der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte durch die GeneralverErika Steinbach
sammlung der Vereinten Nationen zum sechzigsten Mal.
An diesem Tage vor 60 Jahren wurde im Pariser Palais
de Chaillot Geschichte geschrieben.
Man führe sich den historischen Kontext der Verabschiedung vor Augen. 1948 waren die Wunden des
Krieges noch immer nicht richtig verheilt. Der Zweite
Weltkrieg und seine Folgejahre hatten der Staatengemeinschaft auf drastische Weise vor Augen geführt, dass
die Menschheit zu Grausamkeiten unvorstellbaren Ausmaßes in der Lage ist. Das Verhältnis vieler Staaten zueinander war zerrüttet.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war
ein Zeugnis für den Konsens, den man in der Nachkriegszeit suchte. Nie wieder wollten viele zulassen,
dass Diktatoren Menschen ihrer individuellen Freiheitsrechte berauben. Der Pferdefuß, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, allerdings war, dass die Sowjetunion,
die anderen Ostblockstaaten, Saudi-Arabien und Südafrika nicht zugestimmt haben. Wer die Gulags der Sowjetunion, wer Stalins Handeln heute wirklich durchleuchtet, weiß auch genau, warum.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte benennt individuelle Rechte eines jeden Bürgers gegenüber
seinem Staat. Sie benennt politisch-bürgerliche Rechte
genauso wie wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte. Viele rechtliche Fragestellungen mussten im
Vorfeld erst geklärt werden. Viele Sichtweisen mussten
miteinander versöhnt werden. Sehr viele Kompromisse
mussten gefunden werden. Die Fronten in den Debatten
verliefen entlang der Linie zwischen armen und reichen
Staaten genauso wie entlang der Linie zwischen sozialistischen und marktwirtschaftlich orientierten Ländern.
Soll die Erklärung rechtlich verbindlich sein oder
nicht? Wie konkret können die einzelnen Artikel formuliert werden, ohne die Souveränität des einzelnen Staates
zu gefährden? Fragen wie diese bewegten die Vorbereitungskommission unter dem Vorsitz von Eleanor
Roosevelt über Wochen und Monate hinweg.
Die Aufnahme von wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechten wurde sehr heftig debattiert.
Schließlich war auch der Anspruch der Universalität
der Rechte stark umstritten. So sah beispielsweise
Saudi-Arabien die Rechtsgleichheit von Männern und
Frauen bei der Eheschließung, so wie sie in Art. 16 vorgesehen ist, sowie das Recht auf Religionswechsel als
rein westliche Werte an. Leider müssen wir feststellen,
dass sich an dieser Einstellung in einigen Ländern bis
heute nicht viel geändert hat, auch nicht in Saudi-Arabien; im Gegenteil. Die Universalität der Menschenrechte wird von vielen islamischen Staaten verstärkt infrage gestellt oder schlicht negiert.
So fortschrittlich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war, so problematisch war von Anbeginn
der fehlende Überwachungs- und Durchsetzungsmechanismus. Hier hat es erfreuliche Fortschritte gegeben. Ein
Meilenstein dabei ist, wie ich meine, der 1998 geschaffene Internationale Strafgerichtshof. Damit ist endlich
deutlich gemacht: Wir wollen Menschenrechte nicht nur
postulieren, auf den Lippen tragen, auf dem Papier geschrieben sehen, sondern wir wollen sie am Ende auch
so weit wie möglich durchsetzen.
({0})
Deshalb ist es gut und richtig, dass wir mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf europäischer Ebene eine eigene Menschenrechtsgerichtsbarkeit etabliert haben.
Wie steht es nun heute um die Menschenrechte in der
alltäglichen Realität? Ich stelle fest: Zwischen den hehren Worten und dem Wollen vieler auf der einen Seite
und dem praktischen Handeln auf der anderen Seite klaffen leider immer noch Welten. Nahezu hilflos sehen wir
etwa die afrikanischen Menschenrechtstragödien, die
Vertriebenenströme, die sexuelle Gewalt oder die chinesischen Repressalien gegen Uiguren und Tibeter. Die Situation in Birma ist ein einziger Albtraum.
An zwei Vokabeln in unserem Wortschatz, die wir eigentlich längst vergangenen Jahrhunderten zuschreiben,
wird deutlich, dass archaisches Denken und archaisches
Handeln auch heute noch dramatische Praxis sind.
„Sklavenhandel“ und „Christenverfolgung“ sind heute
Realität; die Worte stammen nicht aus vorigen Jahrhunderten.
Das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit schließt die Freiheit ein, seine Religion oder
seine Weltanschauung zu wechseln, und auch die Freiheit, seine Religion, seine Weltanschauung allein oder in
Gemeinschaft mit anderen öffentlich und privat durch
Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu
bekennen.
In einer Vielzahl von Ländern werden Christen daran
gehindert, ihr Menschenrecht auf freie Religionswahl
auszuüben. Im Iran, in Saudi-Arabien oder im Sudan
zum Beispiel wartet auf christliche Missionare oder
Konvertiten das Beil oder die Steinigung.
Die Experten von „Kirche in Not“, von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte und des Instituts
für Religionsfreiheit stellen übereinstimmend fest, dass
weltweit etwa 75 Prozent der aus religiösen Gründen
verfolgten und 80 Prozent der aus religiösen Gründen ermordeten Menschen Christen sind. Keine andere Religionsgemeinschaft auf der Welt wird heute stärker verfolgt. Wir sind nicht im alten Rom: Das ist heute.
Ein brennendes Problem ist die Situation der irakischen Christen. Eine bewegende Reportage in der taz
vom 27. November titelte, dass niemand in Europa die
Geschichte der irakischen Christen glaube. In dieser Reportage ist ein Zitat zu finden:
Jeden Tag Blut, Tod, zerstörte Kirchen. Jeden Tag
Zettel vor der Wohnung: „Verschwindet!“
Flüchtlinge, die in Zirndorf leben - so berichtet die
taz weiter -, haben mit angesehen, wie die Haut von einem Christen wegrasiert wurde oder wie ein Christ gezwungen wurde, über das Bild Jesu zu treten, und als
dieser sagte, er könne das nicht, wurde der Mann enthauptet. So der Bericht in der taz, ein ganzseitiger großer
Dokumentationsbericht.
Im Irak gehören Morde an Minderheiten wie Christen, aber auch an Mandäern zum Alltag. Damit gehen
Begleitverbrechen wie Zwangskonversion, Vergewaltigungen und Vertreibungen einher. Schätzungen von
kirchlichen Organisationen gehen davon aus, dass sich
die Zahl der Christen im Irak seit Beginn des Krieges
halbiert hat. In weiten Teilen des Irak droht die 2 000jährige Geschichte des Christentums ganz zu erlöschen.
Angesichts der massiven Gewalt hat die große Mehrheit
der geflohenen Christen keine Hoffnung mehr, in ihr
Heimatland zurückzukehren.
Letzte Woche haben die europäischen Justiz- und Innenminister beschlossen, die am schlimmsten verfolgten
irakischen Flüchtlinge in Europa aufzunehmen. Das ist
ein Verdienst von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble,
dem ich ausdrücklich danke, und ein großer Erfolg für die
Menschenrechtspolitiker der Großen Koalition.
({1})
Ein weiteres Thema der Schande ist der Sklavenhandel. Der Handel mit der Ware Mensch bringt den Betreibern auf dem globalen Markt hohen Gewinn. Er ist ein
profitables Geschäft des internationalen organisierten
Verbrechens, vergleichbar nur noch mit Drogen- und
Waffenhandel. Dabei ist die Ware, von der hier die Rede
ist, immer wieder verwendbar und mit geringem Aufwand zu beschaffen. Dieser Gedankengang zeigt, wie
abgrundtief menschenverachtend das Geschäft mit Menschen weltweit betrieben wird. Ich betone: heute und
weltweit. Auch Deutschland ist ein Zielland dieses Handels.
Am 2. Dezember wird alljährlich der Internationale
Tag für die Abschaffung der Sklaverei begangen. Sklaverei bzw. der Besitz von Menschen und der Handel mit
Menschen sind auch hier wiederum keine leeren Begriffe der Geschichte. Sie sind Synonym einer Vielzahl
entsetzlicher Tragödien, und zwar auch wiederum heute.
Ein wesentliches Feld des Sklavenhandels betrifft
Frauen. Ihrer Würde und Selbstbestimmung beraubt
und mit falschen Versprechungen gelockt, um ihrer Armut zu entkommen, erreichen zumeist junge Frauen den
verheißungsvollen Westen. Sie sehen sich statt eines
wirtschaftlichen Aufstiegs jedoch der grauenvollen Tatsache von Vergewaltigung, des Zwangs zur Prostitution
oder der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft ausgesetzt.
12,3 Millionen Sklaven weltweit: Von dieser Zahl
geht Terre des Hommes heute aus. Namhafte Autoren
wie Benjamin Skinner oder Becky Cornell sprechen sogar von 27 Millionen versklavten Menschen. Eines ist sicher: Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit
gab es mehr Sklaven als heute. Jeder von ihnen ist zutiefst in seinen Menschenrechten verletzt. Die meisten
können sich aus ihrer Zwangslage nicht selbst befreien.
Deshalb müssen wir nicht nur über dieses Problem reden, sondern versuchen, es aus der Welt zu schaffen.
Auch in Deutschland leben zahllose Zwangsprostituierte, die den Menschenhändlern hilflos ausgeliefert
sind. Wir müssen Mittel und Wege finden, um diesen
barbarischen Geschäftemachern das Handwerk zu legen.
Ich bitte unsere Innenpolitiker - ich weiß, sie arbeiten
daran -,
({2})
Möglichkeiten zu schaffen und Maßnahmen zu ergreifen, damit das machbar ist. Wir müssen der Sklaverei ein
Ende bereiten.
({3})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich bin gleich zu Ende; danke schön.
In diesem Jubiläumsjahr für Menschenrechte können
wir feststellen: Es ist gut, dass die Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte vor 60 Jahren aus der Taufe gehoben wurde, damit das Bewusstsein für Menschenrechte
geschärft wird. Wir müssen aber auch feststellen, dass
Menschenrechte auf diesem Erdball immer noch nicht
selbstverständlich sind. Vor uns liegt noch ein weiter
Weg. Aber wir wollen und wir müssen diesen Weg auch
gehen.
Danke schön.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Burkhardt MüllerSönksen für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Menschenrechte, die universellen und unteilbaren Rechte eines jeden Menschen, verbinden uns weltweit. Menschenrechte sind kein Luxus, nein, sie haben
höchste Priorität. Um es noch deutlicher zu sagen: Menschenrechte sind die Grundlage all unseres politischen,
wirtschaftlichen und sozialen Handelns. Zumindest sollten sie das sein.
({0})
Wir sind uns sicherlich darin einig, dass die Menschenrechte einer der größten Erfolge sind und gleichzeitig eine diffizile Herausforderung der Menschheit
darstellen. Insbesondere der 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erinnert uns wieder
daran.
Nach der globalen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges einigten sich die Länder in einem harten Ringen auf
eine rechtliche Wertebasis, die Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte. Heute, 60 Jahre später, kommt mit
dieser Großen Koalition, auch nach langem und hartem
Ringen, ein interfraktioneller Antrag „Die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte - Grundlage für 60 Jahre
Menschenrechtsschutz“ - zustande. Es ist bedauerlich,
dass dieser so wichtige Antrag nach internen Streitereien
der Koalition fast nicht zustande gekommen wäre.
({1})
Es ist leider symptomatisch, dass mit dieser Regierung nur der kleinste gemeinsame Nenner möglich ist
({2})
und die wichtige große Linie aus den Augen verloren
wird.
Die SPD vertrat die Position, dass etwaige Vorbehalte
in den Menschenrechtsverträgen national wie international zurückgenommen werden sollten. Unionspolitiker
haben darauf sehr aufgeregt reagiert. Schließlich könnte
die Bundesregierung auf ihr Wort festgenagelt werden
und am wunden Punkt, den Vorbehalten gegenüber der
VN-Kinderrechtskonvention, kritisiert werden. Wo
aber bleiben in diesem Gezerre der Mensch und die
Rechte eines jeden Menschen?
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als FDP-Bundestagsfraktion sind enttäuscht über die Defizite, die die
Menschenrechtspolitik dieser Großen Koalition hat.
({4})
Diese zeigen sich unter anderem im Mangel am politischen Willen zur Ratifizierung des 12. Zusatzprotokolls
zur Europäischen Menschenrechtskonvention.
({5})
Wie die FDP-Bundestagsfraktion in ihrem Antrag bereits
vor mehr als zwei Jahren forderte, muss Deutschland das
12. Zusatzprotokoll zur EMRK auch ratifizieren. Nur als
Erstunterzeichner zu glänzen, ist Augenwischerei. Eine
Neugestaltung des Diskriminierungsverbotes, wie es
das 12. Zusatzprotokoll explizit fordert, ist die zeitgemäße politische Antwort - ich zitiere, Herr Kollege
Strässer, aus dem FDP-Antrag auf Drucksache 16/3145 „im Kampf gegen Rassismus und Intoleranz und bei der
Gleichstellung von Mann und Frau“.
({6})
Der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung zeigt
zwar, dass im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft eine
beeindruckende Bandbreite von Menschenrechtsthemen
angesprochen worden ist. Aber der Bericht strotzt nur so
vor Lücken.
Ein prägnantes Beispiel ist die Zentralasienstrategie
vom 8. Januar 2007. Selbstverständlich ist der Ausbau
des politischen Dialogs mit der Region, insbesondere zu
Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten,
zu begrüßen. Aber wie ist dies mit dem skandalösen politischen Verhalten der Bundesregierung zur Menschenrechtssituation in Usbekistan in Einklang zu bringen?
Die Repressionen hören nicht auf. Die Rücknahme der
EU-Sanktionen gegen Usbekistan - auch dank Ihrer Unterstützung - ist ein völlig falsches Zeichen:
({7})
ein falsches Zeichen für die Menschen - denn deren Leid
bleibt unerkannt und unbeachtet -, für die usbekische
Regierung - denn sie ist in ihrer menschenverachtenden
Politik bestärkt worden - und weiterhin für alle, die an
Menschenrechte glauben; denn die Bundesregierung und
die EU haben sich erneut in ihrer Machtlosigkeit und
Widersprüchlichkeit gegenüber dem usbekischen Regime selbst entkräftet.
In schriftlichen Fragen an die Bundesregierung forderten wir zur Aufklärung auf, warum ein mutmaßlicher
Verantwortlicher für das Massaker in Andischan von offizieller Seite nach Deutschland eingeladen wurde. Manche Quellen vermuteten sogar eine Einladung durch den
Bundesnachrichtendienst. Die Antwort der Bundesregierung ist substanzfrei.
({8})
Zeitgleich wurden Regimekritiker nach Folterungen zu
jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Wie konnte die
Chance, auf das Regime in Taschkent einzuwirken, auf
diese Weise durch die Politik der Großen Koalition zunichtegemacht werden?! Es ist ein - zumeist ist das sogar wörtlich zu nehmen - Schlag in die Gesichter der
Menschenrechtsverteidiger, zum Beispiel der Menschenrechtsverteidigerin Frau Umida Niazova. In einem persönlichen Gespräch berichtete mir die usbekische Journalistin, wie sie und weitere Aktivistinnen unter Druck
gesetzt und gefoltert wurden. Sie wollte nur wissen, warum am 13. Mai 2005 in Andischan Hunderte Unschuldige von der Regierung ermordet wurden. Nehmen Sie
Ihre eigenen Versprechen in der Menschenrechtspolitik
ernst und machen Sie es uns als Opposition nicht so einfach, Ihre Wortblasen wie in der Antwort auf die Große
Anfrage zur Menschenrechtsbilanz zu entlarven!
({9})
Ein weiteres Thema, das uns als FDP-Bundestagsfraktion am Herzen liegt, ist die Herausforderung der
Rechtsstaatlichkeit in Zeiten des Terrorismus. Lassen
Sie uns nicht immer auf andere Länder schauen und denen vorschreiben, wie sie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zu achten haben,
({10})
sondern lassen Sie uns schauen, was wir selbst tun können! Wir haben als Erste gefordert, dass bei Überstellung von Verhafteten im Ausland eine rechtsstaatskonforme Behandlung durchgeführt werden soll. Dass dies
ein wichtiges und drängendes Problem darstellt, zeigt
die sofortige Umsetzung unserer Forderungen in einen
Befehl der Bundeswehr. Leider hat dieser ein wesentliches Manko: Nach der Übergabe der Gefangenen sind
keine Kontrollen über eine rechtsstaatskonforme Behandlung mehr vorgesehen. Wir fordern Kontrollen auch
nach der Übergabe, um die rechtsstaatliche Behandlung
von Gefangenen zu gewährleisten; denn bei internationalen Friedenmissionen kommt es in einer Übergangsphase
auch zu Verhaftungen von Personen durch internationale
Streitkräfte. Im Rahmen der deutschen Beteiligung an
solchen Missionen wie etwa im Kosovo oder in Afghanistan werden solche Verhaftungen auch von Angehörigen der Bundeswehr vorgenommen. Zudem wirkt die
Bundeswehr an Verhaftungen durch Stellen anderer Nationen mit. Von der Bundeswehr festgenommene Personen werden anschließend regelmäßig den zuständigen
örtlichen Behörden überstellt. An Informationen über
deren weiteren Verbleib oder deren weitere Behandlung
fehlt es bisher. Entscheidend ist, welchen Sicherungen
diejenigen Menschen unterliegen, die deutsche Stellen in
den Gewahrsam anderer Staaten überstellen bzw. an deren Ingewahrsamnahme oder Inhaftierung deutsche Stellen maßgeblich beteiligt sind.
An dieser Stelle möchte ich auf einen anderen wichtigen Aspekt zu sprechen kommen: die Achtung rechtsstaatlicher Verfahren in der Terrorismusbekämpfung.
Der internationale Terrorismus stellt eine ernste Bedrohung für die Sicherheit dar, auch in Deutschland. Der
Rechtsstaat muss dem Terrorismus mit aller Konsequenz
entgegentreten. Jedoch muss sich der Rechtsstaat treu
bleiben und die eigenen rechtsstaatlichen Grundsätze beachten. Auf der Ebene der Vereinten Nationen wird zur
Terrorismusbekämpfung ein Listungsverfahren durchgeführt, welches sich gegen Organisationen wie al-Qaida
oder die Taliban richtet. Die EU übernimmt die Listung
der UNO. Dabei besteht für Personen, die von diesem
Listungsverfahren erfasst werden, keinerlei Rechtsschutz. Leider sind in der Vergangenheit aufgrund von
Namensverwechslungen auch unbescholtene Bürger aufgelistet worden und mussten unter den Sanktionen leiden. Deutschland muss daher gemeinsam mit den europäischen Partnern auf UNO-Ebene darauf drängen, dass
diese Defizite im Rechtsschutz beseitigt werden. Die EU
hat daneben ein eigenes Listungsverfahren, von dem Organisationen wie die ETA oder die IRA erfasst werden.
Bei diesem europäischen Listungsverfahren existiert jedoch ein funktionierender Rechtsschutz. Dies belegt,
dass effektive Terrorbekämpfung auch mit den Mitteln
des Rechtsstaats möglich ist.
({11})
- Ich übernehme das gerne: nur mit den Mitteln des
Rechtsstaates. - Es ist dringend erforderlich, auf UNOEbene die bestehenden Mängel abzustellen. Die FDP hat
dazu einen konstruktiven Antrag vorgelegt, Herr Außenminister.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Für die Bundesregierung spricht nun der Bundesminister des Auswärtigen, Frank-Walter Steinmeier.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte vor 60 Jahren war in der Tat ein Signal der Hoffnung für eine Welt, die nach dem Zweiten
Weltkrieg in Trümmern lag und deren Zukunft im Zeichen des Kalten Krieges ungewiss war. Heute leben wir
in einer anderen Welt. Nicht nur Europa ist politisch geeint und friedlich wie nie zuvor, sondern auch viele Länder, die 1948 noch unter kolonialer Herrschaft standen
und die von Armut und Unterentwicklung gekennzeichnet waren. Viele von diesen Ländern haben einen
Zeitsprung in die Moderne gemacht. Besonders in Asien
haben Hunderte Millionen Menschen Zugang zu Wohlstand - auf bescheidenem Niveau, aber immerhin - gefunden. Wissen ist heute verfügbar, jederzeit und fast
überall. Ich weiß natürlich, dass das noch keinen Schutz
von Rechten garantiert, aber gleichwohl verändert das
Gesellschaften; denn auch wo Zensur und Unterdrückung nicht verschwunden sind - die gibt es in der Tat,
Frau Steinbach, in vielen Staaten -, leben die Menschen
im Bewusstsein ihrer Möglichkeiten und klagen an, dass
ihnen Rechte verweigert werden. Mobilität, Information
und politische Aktion sind heute keine Privilegien mehr
von Europäern und Nordamerikanern. Das ist die Veränderung, die ich meine.
Nicht nur die Märkte der Welt wachsen zusammen,
sondern auch die sozialen Schicksale der Menschen
wachsen zusammen. Vieles bedrängt uns, was vor
60 Jahren noch weit jenseits unseres Wahrnehmungshorizonts lag. Regionale Krisen finden globale Aufmerksamkeit, weil wir wissen, dass die Risiken kaum
noch Grenzen kennen und am Ende uns alle treffen. Die
Konsequenz daraus ist klar, es kann nur eine sein: Auf
die Globalisierung der Märkte muss eine echte politische Globalisierung unter Einschluss der Durchsetzung
der Menschenrechte folgen.
({0})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Beck?
Ja.
Frau Beck.
Herr Minister, sind Sie bereit, die Verpflichtung, die
Sie eben formuliert haben, ernst zu nehmen und nach allen Kräften in Ihrem eigenen Haus durchzusetzen, und
anerkennen Sie die Verpflichtung gerade für ein weitentwickeltes Land wie Deutschland? Ich möchte erklären,
weshalb ich diese Frage stelle.
Marieluise Beck ({0})
({1})
Ich habe mich in den vergangenen Monaten bemüht,
drei minderjährigen Kindern, deren Eltern als nach der
Genfer Konvention anerkannte Flüchtlinge seit sieben
Jahren in meinem Wahlkreis in Bremen leben, zu helfen,
das Recht der Familienzusammenführung, das ihnen
nach der Genfer Konvention zusteht, durchzusetzen.
Diese drei Kinder sind von deutschen Konsulaten innerhalb von vier Jahren dreimal in das Kriegsgebiet Irak zurückgeschickt worden, ohne dass ihnen auf irgendeine
Weise ein Weg aufgezeigt worden wäre, wie vielleicht
zu Recht offene Fragen hätten geklärt werden können.
Ich habe mich an die Leitung Ihres Hauses gewandt. Das
hat zunächst keine Folgen gehabt. Ich bin der festen
Auffassung, dass so etwas in unserem eigenen Land
- das müsste eine Selbstverpflichtung sein - nicht passieren darf und dass der Geist des Hauses, in dieser Abteilung und auf der Leitungsebene, ein anderer sein
müsste.
({2})
Frau Abgeordnete, die in dem ersten Teil Ihrer Frage
enthaltene Unterstellung, dass sich das Auswärtige Amt
oder der Minister persönlich nicht ausreichend engagiert
um Menschenrechtsfälle kümmern, weise ich mit Entschiedenheit zurück, und Sie wissen das.
({0})
Wir sind über Einzelfälle oft genug im Gespräch. Sie
wissen, dass wir in vielen Fällen Lösungen gefunden haben. Den besonderen Fall in Bremen werde ich ihn mir
gern persönlich noch einmal anschauen. Aber Rechtsauskünfte kann ich von diesem Mikrofon aus nicht geben; das wissen Sie.
({1})
Die internationalen Institutionen werden den Anforderungen dieser Aufgabe - das ist meine Auffassung noch nicht gerecht. Das gilt insbesondere für den Menschenrechtsrat, über den wir in diesem Hohen Hause
schon verschiedene Male gesprochen haben. Es gibt einige hoffnungsvolle Ansätze. Immerhin hat sich am vergangenen Dienstag gezeigt, dass der Menschenrechtsrat
in der Lage war, eine Resolution zur Situation im Ostkongo zu verabschieden. Damit hat der Menschenrechtsrat in der vergangenen Woche gezeigt - was nicht oft genug geschieht -, dass er in der Lage ist, auch auf
tagesaktuelle Situationen wie die Menschenrechtsverletzungen in Kivu schnell zu reagieren.
Wir brauchen Grundnormen, die uns für unsere Arbeit in der globalen Verantwortungspartnerschaft Orientierung geben. Wir brauchen einen normativen Kompass. Die universellen Menschenrechte sind für mich
- ich habe das an anderer Stelle gesagt - ein solcher
Kompass. Er gibt uns die Richtung an; aber er erspart
uns eben nicht die politischen Anstrengungen, dem Ziel
gleicher Rechte Schritt für Schritt näherzukommen.
Nicht die Deklaration der Ansprüche ist unsere schwierigste Aufgabe, sondern die Arbeit daran, die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu schließen. Das war
von Anfang an so, und das bleibt so.
({2})
Unsere Erfahrung, die Erfahrung in Deutschland,
lehrt uns: Menschenrechte sind notwendig. Aber sie
lehrt uns auch: Bürgerrechte sind die härtere Währung
der Menschenrechte. Der demokratische Rechtsstaat ist
unentbehrlich, damit die Menschenrechte nicht nur Postulat sind, sondern unmittelbar einklagbares Recht werden. Deshalb will ich auch hier daran erinnern: Fünf
Monate nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erhoben die Mütter und Väter unserer Verfassung
den Schutz der Grundrechte zum Auftrag staatlichen
Handelns. Wenn wir bald den 60. Geburtstag des Grundgesetzes begehen, sollten wir nicht nur Geschichte feiern, sondern auch an die Gegenwart denken: Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat, um gleiche Rechte
durchzusetzen. Soziale Spaltung bedroht die Geltung
von Menschenrechten. Die bürgerlichen Freiheitsrechte
sind nur dann für alle erreichbar, wenn soziale Teilhaberechte hinzutreten. Dafür zu sorgen, ist unser gemeinsamer Auftrag in Europa. Europa darf nicht nur Markt
sein; es muss auch ein soziales Europa sein, um seinen
Bürgerinnen und Bürgern gerecht zu werden.
({3})
Respekt vor jedem einzelnen Menschen, Schutz seiner unveräußerlichen Rechte, das ist ein elementarer
Pfeiler deutscher Politik. In den vergangenen zehn Jahren haben wir gemeinsam den Menschenrechtsschutz in
diesem Land weiterentwickelt. Wir haben in der Tat die
Vertretung menschenrechtlicher Prinzipien in Deutschland gestärkt: mit dem Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechte, mit dem Deutschen Institut für
Menschenrechte, mit der Vorlage eines nationalen
Aktionsplans für Menschenrechte. Außerdem haben wir
- das sollten wir nicht ganz vergessen - gemeinsam die
Europäische Grundrechte-Charta auf den Weg gebracht. Wir waren für den Vertrag über eine Verfassung
für Europa, der diese Charta enthält.
({4})
Auch wenn es am Ende nicht ganz so weit, also nicht zur
europäischen Verfassung, gekommen ist: Die Charta jedenfalls behält ihre Bedeutung. Wir stehen zu ihr. Sie
formuliert die politischen und sozialen Rechte, die Teil
der europäischen Identität geworden sind.
Mit unseren Partnern in der Europäischen Union treten wir im Übrigen auch für die weltweite Abschaffung
der Todesstrafe ein.
({5})
Da Sie Usbekistan angesprochen haben, ein Land, in
dem unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten zweifellos unendlich viel zu tun ist: Ich persönlich habe mich
in Usbekistan intensiv für die Abschaffung der Todesstrafe eingesetzt. Sie wissen, dass sie seit zwei Jahren
nicht mehr vollstreckt wird und inzwischen auch rechtlich abgeschafft ist.
Die Tatsache, dass wir gegenüber Usbekistan die
Sanktionen gelockert haben - diesen Vorwurf werden
wir sicherlich gleich von der grünen Seite hören -, hängt
schlicht und ergreifend damit zusammen, dass wir auf
Benchmarks gesetzt haben. Die Abschaffung der Todesstrafe gehört dazu ebenso wie die Kontaktaufnahme mit
dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, um Zugang zu den Gefangenen zu erreichen. Das ist in begrenztem Maße geschehen. Insofern verstehen Sie bitte
die europäischen Entscheidungsfindungen gegenüber
Usbekistan.
({6})
Ich komme zum Ende. Wir setzen uns nicht nur für
die rechtliche Abschaffung der Todesstrafe ein - das ist
unter Menschenrechtsgesichtspunkten wichtig -, sondern wir haben uns gemeinsam mit Italien und anderen
auch dafür eingesetzt, dass sich in diesem Jahr die
Vereinten Nationen zum ersten Mal für ein Hinrichtungsmoratorium einsetzen. Das ist der Erfolg der starken gemeinsamen Stimme Europas, ohne die das nicht
gelungen wäre.
({7})
Zum allerletzten Punkt. Natürlich gilt es auch, den
politischen Druck zur Anerkennung und Durchsetzung
von Frauen- und Kinderrechten zu erhöhen; Frau
Steinbach hat darauf schon hingewiesen. Die Rücknahme des deutschen Vorbehalts gegen die UN-Kinderrechtskonvention ist aus meiner Sicht überfällig.
({8})
Deshalb appelliere ich an alle, die im Bundesrat die
Möglichkeit haben, dazu ihre Stimme zu erheben. Ich
finde, der 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte wäre ein guter Anlass, diesen Schritt
jetzt zu tun.
Herzlichen Dank.
({9})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Wolfgang
Gehrcke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war
wie die Gründung der Vereinten Nationen selbst eine
Antwort auf den deutschen Faschismus, auf den Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden, auf
den Vernichtungskrieg der Wehrmacht, auf die Verfolgung auch der eigenen Bevölkerung.
Der Satz „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“
ist der Geist der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Deswegen darf man hier nicht nur allgemein von
Kriegsende oder Nachkriegszeit sprechen, sondern muss
auch präzise sagen: Der deutsche Faschismus und der
Krieg, den er verantwortet, waren der Ausgangspunkt
dafür; das möchte ich hier klarstellen.
({0})
Ich bitte Sie sehr: Es lohnt sich, insbesondere die
großartige Präambel der Allgemeinen Erklärung noch
einmal zu lesen. Ich darf einige Sätze daraus zitieren, zunächst diesen:
… da die Nichtanerkennung und Verachtung der
Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen …
Wie wahr, kann man heute nur dazu sagen. Ich möchte
weiter aus der Präambel zitieren, wo es um den Schutz
durch die Stärke des Rechtes geht:
… die Anerkennung der angeborenen Würde und
der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller
Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen …
({1})
Eine wunderbare Formulierung: Hier beruft man sich auf
die Gemeinschaft der Menschen, nicht auf die Gemeinschaft der Staaten. Das ist eine großartige Vision, für die
es sich lohnt, zu arbeiten und zu kämpfen. Das ist auch
nötig, denn die Menschenrechte sind vielfach und dramatisch noch uneingelöst: in der Welt und auch in unserem eigenen Land. Ich möchte gerne, dass wir auch über
unser eigenes Land reden und nicht nur auf die Welt blicken, obwohl das sehr notwendig ist.
Es ist ein schwerer Verstoß gegen das Recht auf Leben, wenn Menschen in der Welt hungern und hunderttausendfach verhungern, wenn sie von Massenkrankheiten dahingerafft werden. Es ist die Ungerechtigkeit der
jetzigen Weltwirtschaftsordnung, die Teile unserer gemeinsamen Welt verarmen und verhungern lässt. Wir als
Linke nehmen nicht hin, dass das Brot der Armen zum
Kraftstoff für die Autos der Reichen wird.
({2})
Wir nehmen nicht hin, dass saubere Luft und sauberes
Wasser privatisiert und - was das Wasser angeht - zum
Luxusgut gemacht werden. Auch das gehört zu den Menschenrechten, und auch darüber müssen wir hier reden.
({3})
Wenn Menschenrechte universell gelten und, wie wir
glauben, unteilbar sind, dann müssen wir gegen diese
ungerechte Weltordnung kämpfen. Nicht nur wir als
Linke, sondern viele Gruppen, Initiativen, Kirchen und
Gewerkschaften setzen sich engagiert für eine gerechtere
Verteilung der Güter und für gleiche Teilhabe ein. Wir
meinen deshalb, die wirtschaftlichen Machtzentren dieser Welt dürfen nicht in den Händen der G 8 oder der
G 20 liegen und die militärischen Machtzentren nicht in
den Händen der NATO, sondern sie müssen wieder in
die Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationen zurückverlagert werden.
({4})
Menschenrechte und Krieg sind Gegensätze. Im Frieden haben Menschenrechte eine Chance; im Krieg verkümmern sie. Bereits die Drohung mit Krieg und die
Existenz von Massenvernichtungswaffen wie Atombomben gefährden das Menschenrecht auf Leben, Freiheit
und Sicherheit der Person. Das gilt für den Einzelnen
wie auch für die gesamte Menschheit. Das hat Willy
Brandt prägnant mit dem Satz beschrieben: „Frieden ist
nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“
({5})
Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die
Kriege in Afghanistan und im Irak belegen: Es gibt keine
humanitären Militärinterventionen. Um der Menschenrechte willen müssen diese Kriege beendet werden.
Auch das muss man einmal ganz deutlich sagen.
({6})
Wenn wir über Menschenrechte und über die Geschichte der Menschenrechte nachdenken, lohnt es sich,
auf die ersten Initiativen während der Französischen Revolution aufmerksam zu machen. Damals waren Sklaven
und Frauen ausgeschlossen. Heute sind alle eingeschlossen. Das ist ein bedeutsamer, ein ganz wichtiger Fortschritt. Wir wissen aber auch, dass Anspruch und Realität noch weit auseinanderklaffen.
Nehmen wir zum Beispiel die Frauenrechte. Ich
denke, dass Frauenrechte Menschenrechte sind.
({7})
- Lassen Sie uns doch einmal sehr konkret darüber reden!
({8})
Wenn in unserem Land jede fünfte Frau Gewalt erleidet,
dann muss der Deutsche Bundestag feststellen, dass hier
Menschenrechte verletzt werden. Das muss Konsequenzen haben.
({9})
Es ist doch furchtbar, dass Vergewaltigungen heute nicht
mehr nur individuelle Verbrechen sind. Sie werden im
Krieg wie Bomben und Gewehre als Kriegsmittel eingesetzt. Auch hier muss es einen großen Protest geben und
eine harte Haltung dagegen durchgesetzt werden.
({10})
Im Krieg verrohen Menschen. Das müssen wir begreifen.
Ich denke auch, dass wir darüber reden müssen, dass
oftmals soziale und politische Menschenrechte gegeneinander abgewogen und hierarisch gewichtet werden.
Das trifft auch auf mich zu; ich sage das sehr offen. Die
Schale Reis für den Hungernden und der Arzt, der die
Kranken behandelt, standen und stehen mir besonders
nah. Aber ich habe gelernt und sage mir: Der Hungernde
braucht die Schale Reis zum Überleben, und er braucht
Demokratie und Pressefreiheit, um für sein Überleben zu
kämpfen.
({11})
Deswegen gehören individuelle, kollektive, soziale und
Freiheitsrechte zusammen. Sie bilden einen politischen
Komplex, für den man kämpfen muss.
({12})
Ein großer Gedanke über die Menschenrechte findet
sich in unserem Grundgesetz:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Es heißt „die Würde des Menschen“ und nicht „die
Würde des Deutschen“. Ich bitte Sie, darüber nachzudenken. Dieses Recht muss also auch für Flüchtlinge
und Asylbewerber in unserem Land gelten, die vielfach
diskriminiert werden.
({13})
In unserem Land müssen soziale Rechte und das
Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit auch für
Frauen gelten. 23 Prozent der Frauen erhalten einen
geringeren Lohn im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen. Existenzsichernde Löhne sind bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte enthalten.
Mindestlöhne und soziale Absicherung gehören also
in unserem Land durchgesetzt.
({14})
Je besser wir in unserem Land Menschenrechte in diesem umfassenden Sinne verwirklichen, desto glaubwürdiger können wir in der Welt für Menschenrechte agieren.
Zum Abschluss noch eine Bitte. Ich würde mich
freuen, wenn wir das gemeinsam herüberbringen könnten.
Der vorliegende Antrag der vier Fraktionen enthält
viel Wichtiges; aber er schweigt auch zu wichtigen
Punkten. Das habe ich hier angesprochen. Deswegen haben wir einen eigenen Antrag eingebracht. Ich würde
mich sehr freuen, wenn diese Bundestagssitzung dem
neuen Präsidenten der USA deutlich machte, dass
Guantánamo schnellstens aufgelöst und die Menschen
freigelassen werden müssen.
({15})
- Man kann das nicht oft genug sagen.
({16})
Man kann nicht über Menschenrechte diskutieren, ohne
auf diese Wunde aufmerksam zu machen.
Ebenso müssen wir uns klar zur Todesstrafe, egal wo
in der Welt sie angewandt wird, äußern. Wir müssen
deutlich machen, dass wir sie ablehnen und verurteilen.
({17})
Wir wollen, dass die Todesstrafe nicht nur ausgesetzt,
sondern abgeschafft wird. Man kann einige Normen -
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld.
({0})
Das Wort hat der Kollege Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einer
Debatte über 60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sollten wir nicht so sehr in den Vordergrund
stellen, was wir beklagen können, oder uns mit großartigen Worten aufhalten, sondern wir sollten uns in erster
Linie damit befassen, was wir in der Bundesrepublik
Deutschland in den verschiedenen Politikbereichen konkret tun können, um die Menschenrechte zu stärken.
Ich beginne mit der Diskussion über den Antrag. Zunächst hatten wir unter den Menschenrechtspolitikern einen gemeinsamen Text. Dann kam jedoch ein Abgeordneter aus der Arbeitsgruppe der Innenpolitik der CDU/
CSU, Herr Grindel,
({0})
und plötzlich war der gemeinsame Text nicht mehr aufrechtzuerhalten. Worum ging es? Es ging allein um die
Vorbehalte zur Kinderrechtskonvention. Das zeigt
deutlich, dass es an diesem Tag nicht nur um große
Worte geht, sondern auch um ganz konkrete Taten.
({1})
Bei den Vorbehalten zur UN-Kinderrechtskonvention
geht es letztendlich um die Rechte der 16- bis 18-jährigen Flüchtlinge, die von uns wie Erwachsene behandelt
werden mit der Folge, dass sie in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden, dass sie in Abschiebehaft
kommen und dergleichen mehr. Das würde die Kinderrechtskonvention eigentlich verbieten, wenn sie bei uns
ohne Vorbehalte gelten würde. Dazu sollten wir uns
heute bekennen.
({2})
Ich finde es paradigmatisch, dass die Integrationsund Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung an dieser Debatte nicht teilnimmt. Sowohl die Diskussion über
den Antrag als auch die Präsenz der Bundesregierung bei
dieser Debatte machen deutlich, was die Menschenrechte der Flüchtlinge manchen Leuten, die dafür zuständig sind, tatsächlich wert sind.
({3})
- Ja. Aber die Flüchtlingsbeauftragte hat bei einer solchen Debatte ebenfalls anwesend zu sein, weil es ganz
konkret um die Menschenrechte von Flüchtlingen in
Deutschland geht.
({4})
Aber ich will an dem Antrag nicht nur mäkeln; denn
wir haben auch etwas erreicht, und das ist ein Fortschritt,
den wir gemeinsam hinbekommen haben. Erstmals benennt ein Dokument der Mehrheit des Deutschen Bundestages auch die Yogyakarta-Prinzipien, die die Menschenrechte im Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung
wahren. Da das keine Selbstverständlichkeit ist, will ich
das würdigen. Wie hochaktuell das ist, sieht man daran,
dass der UN-Nuntius, der Botschafter des Vatikans bei
den Vereinten Nationen, Erzbischof Celestino Migliore,
in dieser Woche die französische Regierung dafür kritisiert, dass sie mit Unterstützung aller Nationen, die Mitglied der Europäischen Union sind, einen Antrag vorbereitet hat, in dem gefordert wird, dass endlich auch die
Menschenrechte von Homosexuellen zu wahren sind,
dass Homosexuelle zu schützen sind vor gewalttätigen
Übergriffen, vor strafrechtlicher Verfolgung und vor der
Todesstrafe. Und was fällt dem Nuntius dazu ein? Er
sagt, wenn das verabschiedet würde, würden neue, unerbittliche Diskriminierungen geschaffen. Zu Recht sind
die Schwulen und Lesben in der Welt darüber aufgebracht. Am Samstag wird es in Rom eine große Demonstration gegen den Vatikan geben. Denn es ist an der
Zeit, dass die Menschenrechte von Homosexuellen auch
durch den Vatikan anerkannt werden. Wer für Glaubensfreiheit ist, muss auch die negative Glaubensfreiheit respektieren; das heißt, man muss sein Leben auch anders
führen können, als es der Vatikan für von Gott gewollt
hält. Deshalb muss man sich gegen Diskriminierung, gegen Gewalt und gegen strafrechtliche Verfolgung in diesen Fällen wenden.
({5})
Einen weiteren Punkt möchte ich konkret ansprechen;
auch damit haben wir uns heute zu befassen. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung hat zum
Thema Guantánamo - wir alle hier im Hause sind uns
darin einig, dass Guantánamo geschlossen werden
muss - gesagt: Die Schließung Guantánamos darf nicht
daran scheitern, dass niemand die Häftlinge aufnimmt.
({6})
Es gibt in Guantánamo eine Reihe von Häftlingen, über
die die US-Regierung sagt: Sie sind unschuldig; sie haben nichts getan. Wir haben uns geirrt. Wir haben sie
festgenommen und die Falschen erwischt. Sie gehören
eigentlich auf freien Fuß. Wir wissen aber nicht, wohin
mit ihnen.
Volker Beck ({7})
Dazu gehört zum Beispiel die Gruppe der Uiguren
aus China, die in China verfolgt werden. Ich meine, im
Sinne der Meinung des Menschenrechtsbeauftragten der
Bundesregierung sollten wir heute beschließen, dass sich
Deutschland bereit erklärt, die uigurischen Gefangenen
aus Guantánamo aufzunehmen.
({8})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Steinbach?
Mit großem Vergnügen.
Herr Kollege Beck, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, dass das Land, das die Menschen unschuldig eingesperrt hat, auch dafür zu sorgen hat, dass diese Menschen, wenn sie nicht in ihre Heimat zurückkönnen, in
den Vereinigten Staaten aufgenommen werden und nicht
in alle Welt abgeschoben werden?
({0})
Frau Kollegin Steinbach-Hermann, ich bin ausdrücklich nicht mit Ihnen dieser Auffassung, sondern ich bin
der Auffassung des Menschenrechtsbeauftragten der
Bundesregierung, der meines Wissens auch der CDU angehört, dass Deutschland und Europa, wenn sie es ernst
damit meinen, dass Guantánamo geschlossen werden
muss, auch einen Beitrag dazu leisten müssen. Guantánamo wird nicht geschlossen werden können, wenn
wir nicht bereit sind, hier gemeinsam zu handeln.
Frau Merkel, Ihre Bundeskanzlerin, hat seit Monaten
eine Liste mit diesen Gefangenen auf dem Tisch. Ich erwarte, dass die Bundesregierung diese Prüfung vorantreibt und gemeinsam mit anderen europäischen Nationen hier einen aktiven Beitrag leistet; denn ansonsten ist
es verlogen, wenn wir nicht bereit sind, an diesem Punkt
auch zu helfen.
Frau Steinbach, was machen 10 oder 20 Gefangene
aus, die wir hier aufnehmen? Das verändert nichts, aber
wenn es hilft, Guantánamo zu schließen, dann ist das für
den Westen und seine Menschenrechtspolitik von ganz entscheidender Bedeutung. Abu Ghureib und Guantánamo:
Das ist die Achillesferse des Westens in der weltweiten
Diskussion über die Menschenrechtspolitik,
({0})
weil der Eindruck erweckt wird, wir würden das, was
wir von anderen - von Russland, von China, von Usbekistan - jederzeit zu Recht erwarten, selber nicht umsetzen.
({1})
Herr Kollege, Frau Steinbach-Hermann möchte gerne
nachfragen. Erlauben Sie das?
Natürlich, der Frau Steinbach-Hermann kann ich in
der Regel nichts abschlagen.
({0})
Sehr großzügig. - Frau Steinbach.
Herr Kollege Beck, halten Sie es für richtig, dass ein
Land, das Unrecht begangen und Menschen unschuldig
eingesperrt hat, am Ende davonkommt? Natürlich haben
Sie recht: Es ist überhaupt kein Problem, dass wir 10
oder 14 Menschen aufnehmen. Die Vereinigten Staaten
haben sie aber eingesperrt, und sie sollen sie bitte schön
auch aufnehmen. Für sie ist das auch kein Problem.
Frau Steinbach, geschätzte Frau Kollegin, ich finde,
wir sollten nicht den Fehler machen, auf dem Rücken
der Gefangenen, auf dem Rücken unschuldiger Menschen, die dort seit Jahren einsitzen, ihre Gefangenschaft
zu verlängern, indem wir jetzt auf hartherzige Rechthaberei setzen,
({0})
sondern wir müssen an einer Entspannung der Situation
interessiert sein und dazu einen entsprechenden Beitrag
leisten.
Ich bin über die antiamerikanischen Töne aus dem
Mund einer CDU-Politikerin erstaunt.
({1})
Ich nehme das mit Interesse zur Kenntnis. Die Welt befindet sich ja stetig im Wandel. Ich finde aber, Sie sollten
sich einmal überlegen, was Ihre Position im Ergebnis
heißt: Das bedeutet nicht, dass Amerika sie aufnimmt,
sondern dass sie weiter in Guantánamo einsitzen. - Sie
müssen auch bedenken: Wenn Sie unseren Antrag heute
ablehnen und damit auch Ihren Menschenrechtsbeauftragten desavouieren sollten, dann tragen Sie damit
Verantwortung dafür, dass diese Leute länger in Guantánamo einsitzen. Das sind dann auch Ihre Gefangenen.
({2})
Nächster Punkt. Herr Steinmeier hat sich ja gewünscht, dass wir auch über Usbekistan reden. Ich erkenne an, dass Usbekistan die Todesstrafe abgeschafft
Volker Beck ({3})
hat. Wir waren mit einer Delegation des Menschenrechtsausschusses dort und haben uns genauso wie das
Auswärtige Amt und die Bundesregierung nachhaltig
dafür eingesetzt. Aber nach den Massakern von Andischan hat die internationale Staatengemeinschaft Forderungen an Usbekistan gestellt. Dazu gehören, wie Sie
richtig erwähnten, der Zugang des Internationalen Roten
Kreuzes zu den Gefangenen, aber auch der Zugang von
Menschenrechtsorganisationen in das Land, und dazu
zählt insbesondere, dass in Usbekistan eine Untersuchung der Vorfälle von Andischan vorgenommen wird.
Diese Untersuchung hat bis heute nicht stattgefunden.
Im Zusammenhang mit der letzten Resolution vor der
endgültigen Aufhebung der Sanktionen hat die Europäische Union in Brüssel erklärt, die Wiedereröffnung des
Büros zum Beispiel von Human Rights Watch sei eine
Conditio sine qua non für die Lockerung bzw. Aufhebung der Sanktionen. Nichts ist geschehen; bis heute
durfte niemand hinein. Ebenso ist bei der Aufklärung
nichts geschehen.
Wenn wir, die europäischen Staaten, uns so an der
Nase herumführen lassen, dann erlangen wir nicht die
Achtung dieser Regime und deren Respekt; vielmehr
wissen sie, dass sie uns auf der Nase herumtanzen können. Der Hintergrund dieser Geschichte ist doch klar:
Deutschland hat Interessen in Usbekistan, energiepolitische, aber auch militärpolitische, weil wir in Termes einen Militärflughafen haben, von dem aus wir unsere
Einsätze nach Afghanistan fliegen. Dieser Preis ist aber
zu hoch, zumal die Burschen in Usbekistan - da bin ich
mir sicher - auf das Geld von unserem Militärflughafen
in solchem Maße angewiesen sind, dass sie auch eine etwas strengere Diskussion mit uns aushalten. Die Sanktionen zu liften, ist eine Sache; aber dann am nächsten
Tag, nachdem die Sanktionen aufgehoben sind, einen der
mutmaßlichen Schlächter von Andischan, den usbekischen Minister für Staatssicherheit, Rustam Inojatow,
seitens des Bundeskanzleramtes in die Bundesrepublik
Deutschland einzuladen, das ist noch eine zweite Sache.
Meines Erachtens sind wir in solchen Punkten inkonsistent. Ebenso frage ich mich, warum unsere Kleine Anfrage zu den Hintergründen dieses Besuchs seit Anfang
November von der Bundesregierung nicht beantwortet
ist. Da scheinen wir offensichtlich ins Schwarze getroffen zu haben.
Meine Damen und Herren, ich nenne noch zwei
Punkte, an denen wir in der Menschenrechtspolitik konkret etwas machen können. Es geht zum einen um folgende Frage: Was machen wirtschaftliche Unternehmen,
transnationale Unternehmen weltweit? Wir sollten wie
die USA, die das in ihrem Recht haben, dafür sorgen,
dass derjenige, der Menschenrechte im Ausland verletzt,
von den Geschädigten hier, vor deutschen Gerichten, für
Schadenersatz in Anspruch genommen werden kann.
({4})
- Ja, das soll auch für Deutschland gelten.
Hätten Sie sich doch in Ihrem Antrag tatsächlich mit
den aktuellen menschenrechtspolitischen Fragen beschäftigt! Angesichts dessen, was Sie da aufgeschrieben
haben - das möchte ich zum Schluss noch sagen -,
dachte ich gestern, Titanic hätte mir einen Antrag auf
den Tisch gespült. Diese Art der Kombination rein binnenpolitischer Anliegen ohne jedes Engagement für die
Menschenrechte im Ausland - 8,71 Euro Mindestlohn,
Abzug aller deutschen Militärbeobachter aus dem Ausland - zeigt, dass Sie mit Menschenrechten, mit der
Menschenrechtspolitik allein so umgehen, dass Sie sie
nach folgendem Motto instrumentalisieren: Wo kann ich
das Argument Menschenrechte in der innenpolitischen
Debatte einsetzen?
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Hätten Sie nur für 0,71 Euro Gehirnschmalz für Ihren
Antrag verwendet, dann wäre es ein guter Beitrag zu dieser Debatte gewesen. Ich bin für viele Punkte, die Sie darin aufgeschrieben haben, ({0})
Herr Kollege, die Redezeit ist schon lange überschritten.
- aber da fehlt das ehrliche Engagement, sich für
Menschenrechte einzusetzen, und das verlangt einfach
auch Konsistenz, zum Beispiel beim Thema der Menschenrechte in Guantánamo
({0})
und um Guantánamo herum.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Strässer
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich halte es für sehr gut, dass wir hier so engagiert über
dieses Thema debattieren, denn das ist es wert. Allerdings gehört es auch zur Wahrheit, ein paar Dinge richtigzustellen, die hier gesagt worden sind.
({0})
Das Erste, lieber Kollege Gehrcke, will ich Ihnen einfach nur einmal mit auf den Weg geben: Ich würde es begrüßen, wenn die Fraktion Die Linke ihre Mitarbeit im
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
wieder aufnähme.
({1})
Sie weigern sich seit einiger Zeit, Sie sind nicht mehr da,
erklären aber dann dem Hohen Hause, dass Frauenrechte
Menschenrechte seien. Ich halte das für einen einigermaßen zynischen Beitrag.
({2})
Nachdem wir uns mehrfach und im Dutzend mit Resolutionen des Europarats und mit VN-Resolutionen zur Gewalt gegen Frauen befasst haben, erklären Sie hier im
Jahre 2008, dass Frauenrechte Menschenrechte sind.
Herzlichen Glückwunsch zu dieser Erkenntnis! Sie ist
bei uns schon sehr, sehr lange vorhanden.
({3})
Zwei Bemerkungen zum Kollegen Volker Beck: Ich
glaube, der Bundesaußenminister hat zur Kinderrechtskonvention das politisch Nötige gesagt. Dafür herzlichen Dank. Das war aus unserer Sicht eine nötige politische Klarstellung.
({4})
Ich gebe ja zu, dass auch ich erst später festgestellt
habe, dass das, was Sie mit Ihrem Änderungsantrag erreichen wollen, genau das Gegenteil von dem ist, was
Sie hier vorgetragen haben.
({5})
- Lieber Kollege Beck, zuhören und den Antrag lesen! Dieser Änderungsantrag beschäftigt sich nämlich gerade
nicht mit Vorbehaltserklärungen und der Umsetzungssituation im eigenen Land. Sie fordern vielmehr die Bundesregierung auf, die Umsetzung von Konventionen und
Zusatzprotokollen in bilateralen und multilateralen Gesprächen mit anderen Regierungen voranzutreiben. Damit würden wir genau das tun, was Sie eigentlich verhindern wollen. Wir würden nämlich anderen Ländern
sagen: Ihr müsst bitte schön das, was wir bei uns nicht
umsetzen, tun. Das ist das Gegenteil von glaubwürdiger
Menschenrechtspolitik. Ich lehne deshalb diesen Antrag
nicht nur aus Koalitionsdisziplin, sondern auch, weil ich
davon überzeugt bin, dass er inhaltlich falsch ist, ab. Das
werden wir gleich tun. Ich glaube, das ist richtig.
({6})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Aber immer doch.
Herr Kollege Beck, bitte.
Damit wir hier bei der Textexegese wenigstens eine
gemeinsame Grundlage haben, frage ich Sie: Wären Sie
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass in dem Änderungsantrag steht, dass die Bundesregierung beispielgebend
vorangehen soll, was voraussetzt, dass wir unsere Vorbehalte zurücknehmen? Wörtlich heißt es:
… die menschenrechtliche Normsetzung voranzutreiben, dabei selbst beispielgebend voranzugehen
sowie in bi- und multilateralen Beziehungen auf die
Ratifikation, die Rücknahme etwaiger Vorbehalte
und die Umsetzung von Menschenrechtskonventionen und Zusatzprotokollen zu drängen;
Das heißt: Zuerst sollen wir etwas tun, und nachdem
wir es getan haben, sollen wir zu den anderen gehen und
sagen: Seht, wir haben es auch getan; schließt euch diesem Beispiel an. Wir wollen nicht, dass sich andere Ländern dem schlechten Beispiel Deutschlands anschließen
und die Vorbehalte gegen die Kinderrechtskonvention
aufrechterhalten.
Ihr Vorgehen ist logisch nicht nachvollziehbar. Wir
sagen der Bundesregierung - dem stimmt die Koalition
ja zu -, sie soll beispielgebend vorangehen. Das ist Konsens. Aber dann sagen Sie: Unabhängig davon, ob
Punkte in Deutschland umgesetzt worden sind oder
nicht, sollen wir nach außen gehen und sagen: Ihr müsst
trotz alledem auch die Punkte umsetzen, die wir noch
nicht bearbeitet haben. Lieber Kollege Beck, das ist doch
genau das Gegenteil von dem, was Sie eigentlich erreichen wollen. Ich bitte Sie dringend: Nehmen Sie den
Antrag einfach zurück. Dann sind wir auf demselben
Niveau. Dann wird das eine gute Veranstaltung. Dabei
bleibt es.
({0})
Ein Weiteres will ich noch sagen: Lieber Kollege
Beck, in der nächsten Sitzungswoche findet auf Antrag
der SPD-Fraktion eine große Anhörung zur extraterritorialen Verpflichtung von Staaten in Konfliktsituationen
statt. Wir haben gegen Ihre Stimme durchsetzen müssen,
dass in dieser Anhörung auch die Verpflichtungen von
Unternehmen eine Rolle spielen. Diesen Antrag der SPD
haben Sie erst nicht unterstützt. Wir werden in dieser
Anhörung genau dieses Thema, das Sie jetzt auch aufgegriffen haben, ganz massiv betreiben und in den Vordergrund stellen. Da können Sie sicher sein. Es ist schön,
dass Sie sich jetzt unserem Antrag anschließen. Herzlichen Dank dafür. Das ist eine gute Entwicklung.
({1})
Ich habe mir eigentlich etwas ganz Anderes aufgeschrieben. Aber so ist das nun einmal in einer Debatte.
Wenn eine Debatte läuft, halte ich es für richtig, die
Dinge offen auszusprechen. Ich möchte allerdings noch
zwei Dinge ansprechen, die mir sehr wichtig sind.
Mehrfach ist angesprochen worden, dass die Umsetzung der Menschenrechte, insbesondere in ihrer Universalität, auf Probleme stößt; ich sage das einmal ganz zurückhaltend. Ich will das aber auch mit einer Zahl
belegen: World Vision, eine der größeren international
arbeitenden Menschenrechtsorganisationen im Bereich
des Schutzes von Kinderrechten, hat im letzten Report
eine Zahl veröffentlicht, die erschreckt, nämlich dass
9,7 Millionen Kinder weltweit nicht älter als fünf Jahre
werden. Wenn man sich diese Dimension vor Augen
führt, dann wird aus meiner Sicht klar, und zwar auch
60 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, was ein ganz wesentlicher Bestandteil unserer Forderungen sein muss: Da diese Kinder unter Armut und Krankheiten, die wir mit relativ geringen
Mitteln bekämpfen könnten, leiden, ist eine der ganz wesentlichen menschenrechtspolitischen Forderungen des
Deutschen Bundestages die Bekämpfung von Armut in
der Welt. Ich glaube, das ist ein ganz zentraler Punkt,
wenn man den Menschen in Afrika, in großen Teilen
Asiens und anderen Teilen der Welt ein menschenwürdiges Leben unter der Herrschaft der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bereiten will. Das ist unsere
Kernforderung. Ich sage der Bundesregierung bzw. dem
BMZ ganz herzlichen Dank dafür, dass man diese Erkenntnis aufgenommen hat. Der Bundestag, dieses Hohe
Haus, sollte an dieser Stelle seine Absicht erklären, die
Bundesregierung dabei zu unterstützen und sie notfalls
auch anzutreiben, die Millennium Development Goals
auch wirklich bis 2015 umzusetzen. Das ist eine ganz
wichtige Aufgabe für uns in diesem Hause.
({2})
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der mir
sehr wichtig ist. Er betrifft die Umsetzung der individuellen Menschenrechte in ihrem Verhältnis zum
Völkerrecht. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war insofern ein Quantensprung, als darin nicht
nur festgestellt wurde, dass das Völkerrecht Staaten und
völkerrechtliche Subjekte bindet, sondern auch, dass die
individuellen Rechte der Menschen in den Ländern eine
Rolle spielen. Dies verändert ein Stück weit - dieser
Punkt ist in der aktuellen Debatte sehr wichtig - die Vorstellung von der absolut geltenden Souveränität der Staaten.
Ein Punkt missfällt mir in Ihrem Antrag sehr, Herr
Gehrcke.
({3})
Ich stelle meine Ausführungen unter die Überschrift:
Responsibility to protect. Liebe Kolleginnen und Kollegen, keiner in diesem Hohen Hause ist der Auffassung,
dass man militärische Gewalt - wo auch immer - leichtfertig einsetzen darf. An erster Stelle müssen ohne jeden
Zweifel - das geschieht auch; ich bin der Bundesregierung, dem Auswärtigen Amt und dem BMZ, auch dafür
dankbar - Pläne zur zivilen Krisenprävention und zur zivilen Konfliktprävention stehen. Das alles ist auf dem
Weg; das muss noch ausgebaut werden. Aber ich glaube,
es hat noch keine Bundesregierung geschafft, dies so zu
präzisieren und Benchmarks dafür aufzustellen, wo dies
wichtig ist, wie diese Bundesregierung. Nichtsdestotrotz
gibt es Situationen auf dieser Welt - schauen Sie in den
Ostkongo; schauen Sie nach Darfur -, in denen diese
Krisenprävention versagt hat: Da wurden Menschen
massakriert, vergewaltigt, ermordet.
Lieber Kollege Gehrcke - wir kennen uns ja schon
ziemlich lange -, in diesem Zusammenhang kann ich die
Einlassungen der Linken nicht verstehen. Ich kann nicht
verstehen, dass man sagt: Auch in solchen Situationen
ist der Einsatz von Militär eine Instrumentalisierung der
Menschenrechte. Ich halte diese Einlassungen für total
zynisch und menschenverachtend.
({4})
Ich sage im Gegenteil: Wer angesichts dessen, was dort
passiert, den betroffenen Menschen sagt, man habe eine
Ideologie und die besage, nie und nimmer Militär einzusetzen, instrumentalisiert diese Menschen, deren Leben,
deren Menschenwürde für eine Ideologie, die ihnen
nicht weiterhilft, sondern schadet, und die sie der grundlegenden Prinzipien der Menschenwürde beraubt, nämlich des Schutzes des Lebens und der persönlichen Ehre.
Das kann nicht die Botschaft einer Menschenrechtsdebatte in diesem Hohen Hause sein.
Ich werbe ganz massiv dafür, für die Durchsetzung
der Menschenrechte zu kämpfen, dafür, dass die Menschen ausreichend zu essen haben, dass sie Zugang zu
Gesundheitsleistungen haben, und dafür, dass man dafür
möglichst keine militärischen Mittel einsetzt. Ich sage es
aber noch einmal: Wenn all das versagt, vergehen wir
uns an den Menschenrechten, wenn wir diese Menschen
nicht schützen - notfalls auch mit Gewalt, so bitter das
ist. Diese Erkenntnis sollte sich 60 Jahre nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durchgesetzt haben. Ich werbe dafür, dass wir bei
diesem Kurs bleiben - im Sinne des Schutzes der Menschenrechte weltweit.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Holger Haibach für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debatte
und die Anträge, die wir heute beraten, zeigen ganz deutlich, dass das Thema Menschenrechte 60 Jahre nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hochaktuell ist und die Spannbreite der Themen
gewaltig ist. All dem kann man wahrscheinlich in einer
Debatte von einer Stunde nicht in vernünftiger Art und
Weise Rechnung tragen.
Einen Fehler dürfen wir nicht machen: Wenn wir den
Begriff der Menschenrechte überdehnen, dann tun wir
unserer Sache keinen Gefallen. Deswegen, lieber Herr
Gehrcke, halte ich den Antrag, den Sie vorgelegt haben,
für ziemlich bemerkenswert. Sie fordern darin, die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von mindestens 8,71 Euro pro Stunde - warum nicht 8,72 Euro,
8,73 Euro, 9 Euro oder 10 Euro? - in Deutschland zur
Grundlage menschenrechtlicher Standards zu machen.
Damit tut man dem Anliegen der Menschenrechte keinen Gefallen. Sie überdehnen den Begriff und diskreditieren ihn damit.
({0})
Dabei geht es mir nicht um die Frage, ob wir einen gesetzlichen Mindestlohn brauchen oder nicht. Das ist eine
Frage, über die wir anderswo diskutieren können. Ich
finde es aber bemerkenswert, dass man die Fragen, um
die es hier geht, an einer Summe festmachen will.
({1})
Ich bitte Sie auch, mit der Rhetorik des Kalten Krieges aufzuhören. Ich darf einmal ein bisschen aus Ihrem
Antrag zitieren:
Im System des Menschenrechtsschutzes haben sich
Schutzmechanismen im Rahmen einzelner UNKonventionen herausgebildet. Hierbei wendet sich
der Bundestag entschieden gegen alle Bestrebungen, die Forderung nach Gültigkeit der Menschenrechte als Vorwand zu nutzen, um weltweit kapitalistische Verhältnisse zu erzwingen, multinationalen
Konzernen den Zugang zu Rohstoffen und Energiequellen zu sichern oder völkerrechtswidrige Angriffskriege gegen missliebige Staaten zu legitimieren.
({2})
Genau darum geht es eben nicht. Menschenrechte und
internationale Schutzsysteme sind dazu da, genau das zu
verhindern.
({3})
Wenn Sie das internationale System durch diese Äußerungen diskreditieren, tun Sie den Menschenrechten
wiederum keinen Gefallen.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Strässer?
Ja, mit großer Freunde.
Lieber Kollege Haibach, sind Sie mit mir der Meinung, dass die Annahme des Antrages der Linkspartei
zur Konsequenz hätte, die Bundesregierung aufgrund
der Geltung von Kap. VII der UN-Charta und darin insbesondere Art. 43 aufzufordern, aus den Vereinten Nationen auszutreten?
({0})
Ja, das ist zweifelsohne zumindest eine denkbare Alternative. Insofern kann ich Ihnen da recht geben.
Damit haben wir einen weiteren Wunsch nach einer
Zwischenfrage von Herrn Gehrcke.
Auch gerne.
Bitte sehr.
({0})
Ich wollte ja eigentlich keine Zwischenfrage stellen,
aber es bleibt nicht aus. Ich muss einmal schauen, wie
ich alles in einer Frage zusammenbinde; das wird mir
schon gelingen.
Erst einmal möchte ich Sie auf einige Artikel aus der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hinweisen,
die sich sehr detailliert mit sozialen Fragen und sozialer
Gerechtigkeit beschäftigen: Art. 22, 23, 24 und andere.
({0})
Wir empfanden es als einen Mangel - vielleicht können
Sie uns da verstehen -, dass diese in Ihrem Antrag und in
der Bundestagsdebatte keine Rolle spielen.
Können Sie auch verstehen, dass wir davon ausgehen,
dass man die Charta der Vereinten Nationen nur als Ganzes sehen kann?
({1}): Mit Kap. VII!])
- Kap. VII gehört dazu. Dann muss man sich überlegen,
ob man eine Entscheidung der Vereinten Nationen nach
Kap. VII politisch für richtig oder falsch hält.
({2})
Wenn man sie für falsch hält, muss man das auch ausdrücken können.
({3})
Das ist immer die Position der Linken gewesen, und damit sind wir sehr gut gefahren.
Wenn ich Ihre gerade getroffene Aussage in die Frage
ummünze, ob ich die Allgemeinheit der Erklärung der
Menschenrechte in all ihren Facetten bis hin zu den sozialen Rechten sehe, dann kann ich die Frage eindeutig
mit Ja beantworten. Ich finde nur, dass man nicht denjenigen auf den Leim gehen darf, die versuchen, die Menschenrechte gegeneinander aufzuwiegen.
({0})
Ich finde, das geht nicht.
({1})
- Entschuldigung, vielleicht darf ich den Satz noch zu
Ende bringen, Herr Kollege Beck! Sie, lieber Herr Kollege Gehrcke, dürfen nicht das Spiel von Staaten wie
zum Beispiel Kuba mitspielen, die sagen: Okay, bei uns
darf vielleicht nicht jeder alles sagen, aber dafür haben
die Menschen etwas zu essen. Das ist nicht mein Verständnis von Menschenrechten.
({2})
Herr Kollege Haibach, lassen Sie noch eine weitere
Zwischenfrage des Kollegen Beck zu?
Auch das mit großer Freunde.
Bitte sehr.
Wenn Sie die erste Seite des Antrags der Linken und
insbesondere die erste Forderung betrachten, würden Sie
mir dann womöglich zustimmen, dass man die Frage
von militärischem Engagement nicht allein unter dem
Gesichtspunkt betrachten sollte, ob die PDS damit gut
fährt, sondern auch unter dem Gesichtspunkt, ob die
Menschen vor Ort damit gut fahren?
({0})
Könnte man also sagen, dass jemand, der aus dem Sudan
sogar unbewaffnete Militärbeobachter abziehen will, die
einen vereinbarten Friedensvertrag überwachen, wozu
beide Seiten die UN und damit auch die deutsche Beteiligung eingeladen haben,
({1})
letztendlich Völkerrecht, Menschenrechte und Vereinte
Nationen im Regen stehen lässt?
({2})
Ich würde Ihnen auf jeden Fall recht geben, wenn Sie
mir diese Frage stellen würden, Herr Kollege Beck, und
habe sie hiermit beantwortet.
({0})
Ich will aber dazu noch sagen: Ob die PDS oder die
Linke - das ist ja auch bezeichnend - damit gut fährt
oder nicht, ist nicht meine Frage. Gerade Entscheidungen über Auslandseinsätze sind Gewissensentscheidungen, die sich nicht an Fraktionsgrenzen festmachen lassen, sondern diese muss jeder für sich selbst treffen.
Deshalb gibt es an dieser Stelle nicht die PDS oder die
Linke.
Es gibt aber eine internationale Verantwortung,
und diese internationale Verantwortung - das hat Herr
Kollege Strässer aus meiner Sicht zu Recht gesagt - bedeutet im Notfall auch militärisches Eingreifen. Das ist
die Ultima Ratio, aber dass das möglich ist, ist zwingend
notwendig.
({1})
Es gibt eben keine Entwicklung ohne Sicherheit und
keine Sicherheit ohne Entwicklung. So einfach ist die
Welt an dieser Stelle.
Ich will ein Weiteres hinzufügen, weil Herr Kollege
Strässer es angesprochen hat. Es ist diese Bundesregierung gewesen, die die Mittel für die zivile Krisenprävention innerhalb eines Haushaltsjahres mit der Zustimmung des Deutschen Bundestags von 12 Millionen Euro
auf 60 Millionen Euro nach oben geschraubt hat. Wenn
wir den zur Verfügung stehenden Betrag betrachten - ich
weiß, dass hierfür weniger als für Auslandseinsätze der
Bundeswehr ausgegeben wird, aber der Betrag ist fünfmal so groß wie vorher -, dann kann man tatsächlich sagen, dass wir unseren Worten Taten folgen lassen. Das
muss man in einer solchen Debatte auch anerkennen.
({2})
Jetzt würde ich mich gern liebevoll dem Kollegen
Beck und seinen Einwendungen widmen.
({3})
- Das gehört allerdings auch zu den Menschenrechten.
Noch einmal zum Thema Kinderrechtskonvention.
Sie wissen ganz genau, dass die Problematik sehr viel
mehr aufseiten des Bundesrates als aufseiten des Deutschen Bundestages liegt. Ich glaube, darüber sind wir
uns alle einig. In der vergangenen Wahlperiode des
Deutschen Bundestages gab es einen Antrag der FDP zur
Zurücknahme der Vorbehalte. Die FDP regiert ja auch in
dem einen oder anderen Bundesland mit. Deshalb hat die
FDP an dieser Stelle auch eine Aufgabe wie wir alle anHolger Haibach
deren auch in diesem Hohen Hause. Wie auch immer. Jedenfalls wollte die damalige Regierungskoalition aus
Gründen der Koalitionsraison - das ist ja nun einmal so
üblich; das kennen wir alle - nicht zustimmen und hat
einen eigenen Antrag zu diesem Thema eingebracht und
diesem Antrag zugestimmt. Ich kritisiere das nicht. Ich
will nur sagen, dass wir in jeder Konstellation an der einen oder anderen Stelle parlamentarischen Regeln und
auch Koalitionsgepflogenheiten unterworfen sind. Ich
finde, daraus sollte keiner dem anderen einen Strick drehen.
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck?
Bitte.
Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die
damalige Koalition beschlossen hat, dass sie für die
Rücknahme der Vorbehalte zur Kinderrechtskonvention
ist, und das es deshalb nur um unterschiedliche Antragstexte, aber nicht um eine Differenz in der Substanz geht,
und dass wir heute die Situation haben, dass die Auffassung eines Abgeordneten der Arbeitsgruppe Innenpolitik
der CDU/CSU-Fraktion dazu führt, dass eine Einigung
unter den Menschenrechtspolitikern aufgehoben wird
und schlichtweg das Wort „Vorbehalte“ aus dem Antragstext herausgestrichen wird? Um mehr geht es nicht.
({0})
Ich finde, daran zeigt sich, dass etwas schiefläuft. Ich
denke, nicht die Innenpolitik sollte die Menschenrechtspolitik bestimmen, sondern die Menschenrechtspolitik
sollte die Innenpolitik und die Außenpolitik bestimmen.
Lieber Herr Kollege Beck, ich bin gern bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass Sie das damals beschlossen
haben. Ich bitte Sie, aber auch zur Kenntnis zu nehmen,
dass, wenn wir Ihrem Antrag heute nicht zustimmen, das
nicht heißt, dass wir nicht für die Rücknahme der Vorbehalte sind. Darum geht es nicht. Ich glaube, das hat Herr
Kollege Strässer vorhin relativ deutlich gesagt.
({0})
Momentan befinden wir uns aber in einer Situation, in
der wir nicht allein Herr des Verfahrens sind. Solange
wir nicht allein Herr des Verfahrens sind, muss man sich
überlegen, ob eine solche Beschlussfassung tatsächlich
sinnvoll ist.
Zur Frage der Uiguren. Ich glaube, die Aussagen der
Bundesregierung zu dieser Frage sind mehr als deutlich
gewesen.
({1})
Man sollte an dieser Stelle keine Spielchen machen;
denn damit tut man den Menschenrechten keinen Gefallen.
({2})
Wir sprachen über die Frage der Verantwortung. Es
ist wichtig, dass wir als Bundesrepublik Deutschland
beispielgebend vorangehen, wie es auch in unserem gemeinsamen Antrag heißt. Das bedeutet aber auch, dass
wir unsere Verantwortung international wahrnehmen
müssen.
Ich möchte gerne noch auf einen Punkt zu sprechen
kommen, der in der Debatte bisher keine große Rolle gespielt hat. Deutschland hat - ich glaube, das hat gute
Gründe - einen guten Ruf, wenn es darum geht, international Menschenrechte zu schützen. Wir engagieren uns
in vielen Gremien. Darauf hat der Bundesaußenminister
hingewiesen.
Deutschland hat - ich finde, so viel Eigenlob darf in
dieser Debatte auch einmal sein - einen eigenständigen
Vollausschuss zum Thema Menschenrechte, der über
Parteigrenzen hinweg meines Erachtens gute Arbeit leistet und der in dieser Wahlperiode - das will ich zur Ehrenrettung des Deutschen Bundestages sagen - viel mehr
Debattenzeit zu einer guten Tageszeit bekommen hat, als
dies früher üblich gewesen ist.
({3})
- Darauf komme ich gleich noch zu sprechen.
Auch wenn man mit dem Außenminister nicht in jeder einzelnen Formulierung einer Meinung ist, muss
man anerkennen, dass dieser Bundesaußenminister in
der Zeit der Großen Koalition in Menschenrechtsdebatten zweimal das Wort ergriffen hat. Ich kann mich noch
an die letzte Legislaturperiode erinnern. Der damalige
Bundesaußenminister hat bei Menschenrechtsdebatten
im Allgemeinen durch Abwesenheit geglänzt.
({4})
- Mir fällt sein Name bedauerlicherweise nicht mehr ein.
({5})
Da wir gerade über fehlende Namen sprechen, möchte
ich Ihnen sagen, was mir am Antrag der Linken noch aufgefallen ist. Auch die Linken haben einen Vertreter im
Menschenrechtsausschuss, den Kollegen Leutert. Vielleicht ist er es jetzt nicht mehr. Es gibt momentan nämlich ein paar Unstimmigkeiten bezüglich der Frage, ob er
Mitglied des Ausschusses ist oder nicht.
({6})
Der Kollege Leutert jedenfalls hat den Antrag der Linken nicht unterzeichnet. Sein Name steht nicht auf dem
Rubrum dieses Antrags.
({7})
Ich finde, es ist bemerkenswert, dass Ihr Fachpolitiker
offensichtlich nicht bereit ist, Ihren Antrag mit zu unterzeichnen.
({8})
Das sollte Ihnen zu denken geben. Vielleicht bedeutet
das nämlich, dass Sie mit alledem, was Sie fordern, gar
nicht richtig liegen.
({9})
Ich möchte meinen Gedanken gerne zu Ende führen:
Das Wirken Deutschlands in internationalen Organisationen hat für mich mehrere Komponenten.
Der erste Punkt ist, dass wir beispielgebend vorangehen müssen. Das bedeutet, die Menschenrechte überall,
wo es möglich ist, zu fördern. Hierzu hat Deutschland
verschiedene Möglichkeiten. Wir wirken unter anderem
aktiv in den UN-Gremien mit. Der Menschenrechtsrat
ist ein Gremium, das dringend unserer Unterstützung bedarf. Hier gibt es nämlich viele Probleme. Der Außenminister hat als Beispiel die Situation im Kongo erwähnt. So war es ein wichtiger Fortschritt, dass der
Menschenrechtsrat eine Resolution zum Kongo verabschiedet hat. Man hätte sich allerdings durchaus eine
schärfere Formulierung vorstellen können; denn bei diesem Thema geht es um nicht mehr und nicht weniger als
darum, dass Menschen umgebracht bzw. geschlachtet
und Frauen vergewaltigt werden. Das verdient, wie ich
finde, eine scharfe Missbilligung. Wenn ein Gremium
wie der Menschenrechtsrat dazu nicht in der Lage ist,
muss uns das zu denken geben. Auch hier haben wir also
eine Aufgabe.
Der andere Punkt ist: Wir haben im Rahmen der Europäischen Union und auch im Rahmen des Europarates - viele von uns sind Mitglied der Parlamentarischen
Versammlung - viele Möglichkeiten, über die verschiedenen Konventionen Einfluss zu nehmen. Darauf sollten
wir an dieser Stelle in aller Deutlichkeit hinweisen und
das auch tun.
({10})
Im Rahmen dieser zugegebenermaßen nicht immer
sehr pressewirksamen Arbeiten ergeben sich mehr Handlungsmöglichkeiten, als wenn lediglich Schaufensteranträge in den Deutschen Bundestag eingebracht werden,
über die wir dann diskutieren. Denn indem wir ein Anliegen in den Rang einer Konvention erheben, können wir
Allgemeingültigkeit schaffen. Das ist auf jeden Fall ein
Fortschritt.
Ich will noch eine letzte Bemerkung machen - wie
ich sehe, ist meine Redezeit bald zu Ende; ich bedanke
mich für die vielen Zwischenfragen, die mir noch viel
zusätzliche Redezeit ermöglicht haben -:
({11})
Man kann sich aus verschiedenen philosophischen Perspektiven der Frage nähern: Was sind eigentlich Menschenrechte? Die christliche Interpretation ist die der
Gottesebenbildlichkeit. Daraus erwächst eine Menschenwürde, die dem Menschen nicht genommen werden kann. Daraus erwächst aber auch die Pflicht des
Menschen, diese Würde anzunehmen. Das bedeutet,
dass der Mensch das Recht hat, sein Leben selbst in die
Hand zu nehmen, dass er aber auch die Pflicht hat, sein
Leben selbst in die Hand zu nehmen. Wenn wir eine gute
Menschenrechtspolitik machen wollen, müssen wir die
Menschen überall auf der Welt in die Lage versetzen, ihr
Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Danke sehr.
({12})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Johannes Jung für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich zu Beginn feststellen, dass mich
der Verlauf dieser Debatte ein wenig irritiert. Wir diskutieren eigentlich über einen Antrag, den die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD gemeinsam mit FDP
und Grünen eingebracht haben. Wenn man den Verlauf
dieser Debatte verfolgt, hat man allerdings den Eindruck,
dass einige der Versuchung erlegen sind, sich gegenüber
den anderen antragstellenden Fraktionen parteipolitisch
zu profilieren. Ich werde darauf gleich noch einmal zu
sprechen kommen.
Wir haben hier in einigen Bereichen große Einigkeit.
Das betrifft die Abschaffung der Todesstrafe, die Frauenrechte - beim Thema „gleicher Lohn für gleichwertige
Arbeit“ sieht es schon ein bisschen anders aus; wir werden uns zukünftig noch stärker einsetzen, um andere von
der Notwendigkeit zu überzeugen -, die Kinderrechte,
das Recht auf Bildung usw.
Einen Bereich will ich, wenn auch kurz, besonders
nennen, nämlich die Rechte von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern, und zwar im internationalen Maßstab;
denn nach wie vor ist weltweit ein klassisches Problem
bei den Menschenrechten die Verfolgung von GewerkJohannes Jung ({0})
schafterinnen und Gewerkschaftern. Das dürfen wir
nicht aus dem Blick verlieren, meine Damen und Herren.
({1})
Es gibt nicht nur eine Menge von Institutionen, die
sich mit Menschenrechten befassen und dazu aufgerufen
sind, Menschenrechte zu sichern und weiterzuentwickeln; es gibt hierzulande Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern, aber auch Menschen ohne deutschen Pass, die sich tagtäglich insbesondere für die
Verwirklichung und die Durchsetzung von Menschenrechten einsetzen, individuell, persönlich und in größeren Organisationen. Ihnen gebührt unser Dank. Ohne
diesen Einsatz wäre es um die Menschenrechte schlecht
bestellt.
({2})
Die Aufgaben in Europa sind schnell beschrieben.
Sie betreffen im Wesentlichen nicht die Verhältnisse in
der Bundesrepublik. Darüber diskutieren wir häufig an
anderer Stelle; ich erinnere beispielsweise an die Rechte
der Sinti und Roma hierzulande und anderer Minderheiten, sexueller Minderheiten, Menschen in Deutschland
ohne deutschen Pass. Aber es gibt natürlich Staaten in
Europa, in denen die Lage wesentlich schwieriger ist.
Das sind insbesondere die Staaten, die wir als Transformationsstaaten bezeichnen. Das sind solche, die die
Herrschaft einer Partei erst seit kurzer Zeit hinter sich
haben oder eben noch nicht richtig hinter sich haben. Zu
nennen sind ein paar Spezialfälle, nämlich Staaten, die
eigentlich noch gar keine richtigen Staaten sind und deren Zukunft ungewiss ist. Das gilt für Bosnien-Herzegowina, den Kosovo, Moldawien, Transnistrien, Ukraine,
Staaten des Kaukasus, Weißrussland. Betroffen davon ist
damit natürlich auch das große Russland. Hier haben wir
genug zu tun. Darauf müssen wir in der Menschenrechtspolitik des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung unser Augenmerk richten.
Die Regierung des Kosovo hat gerade unter Beweis
gestellt, wie notwendig das neue Instrument von Rechtsstaatsmissionen à la EULEX ist. Wer davon noch nicht
überzeugt war, wird in diesen Tagen überzeugt worden
sein.
({3})
Hoffnung gibt uns, dass das eingetreten ist, was ich
von dieser Stelle schon prophezeit hatte, nämlich dass
nur das amerikanische Volk selbst das Problem Guantánamo lösen kann: Mit einer Neuwahl, mit einer Defacto-Abwahl der Bush-Administration ist ein Ende der
Politik der sogenannten Extraordinary Renditions möglich. Dafür noch einmal Respekt! Mein Glückwunsch an
die Bürgerinnen und Bürger, die damit Schluss machen!
Wir haben heute den Versuch erlebt, sich ein bisschen
parteipolitisch zu inszenieren. Das ist bedauerlich. Das
gilt insbesondere für Beck und Beck, meine Lieblingsfreunde - das ist übrigens aufrichtig gemeint - von der
grünen Partei. Es ist durchaus schade, dass das Thema
Visaerteilung auf diese Art hier instrumentalisiert wird.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Beck?
Erst dann, wenn ich den Sachverhalt erläutert habe.
Das wird etwa zehn Sekunden in Anspruch nehmen.
Frau Beck, Ihnen liegt doch auch vor, was mir vorliegt. Sie sind nämlich am 10. November vom Außenministerium darüber informiert worden, dass die drei fraglichen Visa an diesem Tag erteilt worden sind.
({0})
Damit müsste doch das Thema für Sie im Grunde erledigt sein.
Gestatten Sie nun die Zwischenfrage?
Ja.
Ich bitte Sie, die Antwort in Ihre Schlussbemerkung
einzubeziehen. - Frau Kollegin.
({0})
Herr Kollege Jung, darf ich Ihnen den Vorgang noch
einmal kurz erklären, damit das nicht so im Raum stehen
bleibt?
({0})
Es kann nicht angehen, dass nur deshalb, weil ein Anwalt zufällig eine Wahlkreisabgeordnete hat, die über
Monate hinweg im Austausch mit dem Auswärtigen
Amt noch einmal und noch einmal nachsetzt, etwas erreicht wird. Nach dem vierten Anlauf können die Kinder
Marieluise Beck ({1})
nun nach vier Jahren zu ihren Eltern, die in Deutschland
anerkannte Flüchtlinge sind, kommen. So darf von den
Visastellen des Auswärtigen Amtes nicht verfahren werden.
({2})
Eine Parlamentarierin, die auch die Aufgabe hat, das
Handeln der Regierung zu beobachten, muss in diesem
Haus das Recht haben, solche Missstände zu thematisieren. Ich habe das sehr vorsichtig getan.
({3})
Ich habe darauf Bezug genommen, dass die dreimalige
Abweisung unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten
schwerwiegend war und unendlich viel Leid erzeugt hat.
So etwas darf im Auswärtigen Amt in Deutschland nicht
passieren.
({4})
- Entschuldigung, vielleicht hätte ich den Satz hinzufügen sollen, wenn Sie ihn hätten hören wollen: Letztlich
ist das Visum erteilt worden.
({5})
Ich finde es gut, dass das Visum erteilt worden ist, und
bedanke mich dafür. Es kann aber nicht sein, dass
Flüchtlinge davon abhängig sind, ob sie zufällig Abgeordnete im Rücken haben, die in dieser beharrlichen
Form immer wieder gegen die Türen des Auswärtigen
Amts rennen.
({6})
Frau Kollegin Beck, da mir ähnliche Vorgänge aus
meiner eigenen Arbeit sehr gut vertraut sind, kann ich
nachempfinden, dass Sie das empört. Ich hätte Sie allerdings auch darum gebeten, uns das gute Ende zu berichten,
({0})
das nämlich deutlich macht, dass das Auswärtige Amt
gerade auch unter Leitung von Außenminister Steinmeier
solche Fälle zu einem guten Abschluss bringt.
Das gibt mir zum Ende der Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass es
gerade bei diesen Sachverhalten immer wieder zwischen
den kommunalen Behörden und dem Auswärtigen Amt
- sprich: zwischen Innen- und Außenpolitik - Probleme
gibt. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist es hochinteressant, wer in der heutigen Debatte auf der Regierungsbank anwesend war.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Bezüglich des Tagesordnungspunktes 37 a kommen
wir zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU, SPD, FDP und des Bündnisses 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 16/11215 mit dem Titel „Die Allge-
meine Erklärung der Menschenrechte - Grundlage für
60 Jahre Menschenrechtsschutz“.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-
sache 16/11228? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? -
Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der FDP-
Fraktion und gegen die Stimmen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke.
Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 16/11215?
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag
ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke.
Tagesordnungspunkt 37 b. Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11189
mit dem Titel „Die Allgemeine Erklärung der Men-
schenrechte, der Zivil- und Sozialpakt - Grundlagen für
einen unteilbaren und universellen Menschenrechts-
schutz“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist damit abgelehnt
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion
der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 37 c. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Rati-
fikation des 12. Zusatzprotokolls zur Europäischen Men-
schenrechtskonvention“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4647, den
Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3145 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion
der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 37 d. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel
„Rechtsstaatskonforme Behandlung von Verhafteten
nach der Übergabe durch deutsche Stellen im Ausland
sicherstellen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/5315, den Antrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/2096 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh-
lung ist damit angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-
tionen.
Tagesordnungspunkt 37 e. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
dem Titel „Rechtsschutzlücken bei der Terrorbekämpfung
schließen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/8032, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/821
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei
Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 37 f. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „UN-Wanderarbeiterkonvention endlich ratifi-
zieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/10208, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6787
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei
Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 37 g. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Die Menschenrechte der Uiguren schützen“.
Dazu liegt eine persönliche Erklärung nach § 31 unserer
Geschäftsordnung des Kollegen Müller-Sönksen vor, die
dem Protokoll beigefügt wird.1)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/10283, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7411 abzu-
lehnen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat bean-
tragt, dass über die Ziffern I bis II Nr. 15 einerseits und
über Ziffer II Nr. 16 des Antrags andererseits getrennt
abgestimmt werden soll.
Wir stimmen daher zunächst über die Ziffern I bis II
Nr. 15 des Antrags auf Drucksache 16/7411 ab. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Die Ziffern I bis II Nr. 15 des Antrags sind damit abge-
lehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktionen der FDP und der Linken.
Wer stimmt für die Ziffer II Nr. 16 des Antrags auf
Drucksache 16/7411? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Ziffer II Nr. 16 des Antrags ist damit abge-
lehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion der
FDP. Damit ist auch der Antrag insgesamt abgelehnt.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 9. Interfraktionell wird
die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8903 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das
ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
1) Anlage 2
Zusatzpunkt 10. Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP
mit dem Titel „Das Verhalten von Birmas Junta muss
Konsequenzen haben“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10392, den
Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9340
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke gegen die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthal-
tung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 38 a und 38 b
sowie den Zusatzpunkt 11 auf:
38 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Ulrich Maurer, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verbesserung des Verbraucherschutzes beim
Erwerb von Kapitalanlagen
- Drucksache 16/11185 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbraucherschutz auf den Finanzmärkten
stärken
- Drucksache 16/11205 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Christine Scheel, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Schutz der Anlegerinnen und Anleger bei Zertifikaten stärken
- Drucksachen 16/5290, 16/11226, 16/11279 Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Dr. Gerhard Schick
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Karin Binder für die Fraktion Die Linke.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Viele Menschen in Deutschland haben in der aktuellen Finanzmarktkrise ihre Ersparnisse bereits verloren, das Geld, das sie für Notlagen
oder für das Alter zurückgelegt hatten. Viele der Betroffenen haben ihr Geld auf Empfehlung geschulter Verkäufer zum Beispiel der Citibank, der Dresdner Bank,
der Volksbank oder einer Sparkasse in vermeintlich sichere Anlagen gesteckt. Zigtausende wurden so Opfer
der Finanzmarktkrise. Allein durch Lehman-BrothersZertifikate wurden vermutlich zwischen 40 000 und
80 000 Menschen in Deutschland geschädigt. Eine genauere Zahl ist bisher leider nicht bekannt. Aber offensichtlich waren die Verkäufer keine qualifizierten
Finanzberater oder Finanzberaterinnen, was auch in einer Pressemitteilung der Verbraucherzentrale BadenWürttemberg vom 26. August dieses Jahres deutlich
wird. Ich zitiere:
Viel zu oft werden falsche Produkte empfohlen.
„Die Berater verkaufen nicht das, was zur Situation
des Sparers passt, sondern das, was Provision
bringt.“
Solche Erfahrungen sammeln gerade die Verbraucherverbände, der Anlegerschutzverein oder spezialisierte
Rechtsanwälte. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen,
können Berichte dazu auch auf Internetseiten nachlesen,
die inzwischen von Interessengruppen geschaltet wurden.
Betroffen sind vor allem viele ältere Menschen, die
keine Chance haben werden, jemals das verlorene Geld
wieder anzusparen. Ansprüche gegenüber den Finanzinstituten geltend zu machen, ist eine teure Angelegenheit. Hohe Streitwerte ergeben hohe Kosten für Anwälte
und Gerichte. Das Geld dafür müssen die Betroffenen
erst einmal aufbringen, bevor nach langer Prozessdauer
vielleicht irgendwann etwas zurückfließen kann. Deshalb haben engagierte Menschen eine öffentliche Petition zu einem Prozesskostensicherungsfonds auf den
Weg gebracht. Auf der Seite des Petitionsausschusses
des Bundestages kann man diese Petition unterstützen.
Es darf einfach nicht sein, dass Herr Minister Steinbrück
als oberster Feuerwehrmann die Sprinkleranlage in Gang
setzt und die Regierung für die Banken Rettungsschirme
aufspannt, damit die Häupter der Manager in den oberen
Etagen der Finanzinstitute nicht nass werden, während
gleichzeitig die Menschen im Keller des Hauses, in der
Hausmeisterwohnung, bereits bis zum Hals im Wasser
stehen. Hier muss dringend etwas geschehen. Deshalb
halte ich die Forderung der Petition für sehr gerechtfertigt.
Ich komme nun zum vorsorgenden Brandschutz - wie
ihn Herr Steinbrück bezeichnet hat -, der dringend geboten ist und den wir mit unserem Antrag erreichen wollen.
Der Antrag der Linken umfasst sechs Punkte.
Erstens. Wir wollen eine Prospektpflicht für Kapitalanlagen ohne Ausnahmeregelung. Das bedeutet, dass
alle Angaben in den Prospekten vollständig und richtig
sein müssen. Außerdem soll ein sogenannter FinanzTÜV eine Zertifizierung der Produkte vornehmen, damit
Anlegerinnen und Anleger von vornherein wissen, ob sie
es mit einer sicheren Geldanlage oder einem risikobehafteten Papier zu tun haben.
({0})
Zweitens. Wir wollen, dass die Beweislast bei der Anlageberatung umgekehrt wird. Verbraucherinnen und
Verbraucher, die einen finanziellen Schaden erlitten haben, müssen nicht mehr beweisen, dass sie falsch oder irreführend beraten wurden, sondern die Finanzinstitute
müssen belegen, dass sie ordnungsgemäß und richtig beraten haben.
({1})
Dies soll mit einheitlichen und verständlichen Beratungsprotokollen belegt werden.
Drittens sollen die Unternehmen, die Finanzprodukte
und Kapitalanlagen auf den Markt bringen, künftig viel
stärker in Haftung genommen werden können. Die sogenannten Emittenten und deren Aufsichtsorgane müssen
zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie falsche Angaben zu den von ihnen angebotenen Produkten machen.
Wir wollen viertens die Verjährungsfristen für Ersatzansprüche, also Entschädigungszahlungen für falsch beratene Anlegerinnen und Anleger, gegenüber den Finanzdienstleistern verlängern. Eine fehlerhafte Beratung
oder die Verletzung der Informationspflicht darf nicht
bereits nach drei Jahren verjähren. Das ist viel zu kurz.
Wir wollen, dass die Frist von zehn Jahren, wie sie im
BGB auch für andere Schadenersatzansprüche gilt, zum
Tragen kommt.
({2})
Wir wollen fünftens, dass eine unabhängige Finanzberatung bei den Verbraucherzentralen aufgebaut wird.
Sie muss so gestaltet werden, dass langfristig innerhalb
von zehn Jahren wenigstens 10 Prozent der Haushalte in
Deutschland mindestens einmal beraten werden können.
Die unabhängige Finanzberatung soll umfassend und
branchenübergreifend sein und folgende Schwerpunkte
abdecken: Altersvorsorge, Versicherungen und Kapitalanlagen. Im Augenblick können Menschen über die von
der Regierung unterstützte Telefonhotline beraten werden, so sie denn das Glück haben, durchzukommen.
Aber auch diese Hotline soll zum Jahresende eingestellt
werden. Danach sind die Verbraucherinnen und Verbraucher bei Problemen mit der privaten Altersvorsorge oder
bei anderen Geldanlagen wieder der unzulänglichen Beratung der Finanzinstitute ausgeliefert.
Sechstens wollen wir eine weitaus bessere Ausbildung und Qualifizierung der Verkäuferinnen und Verkäufer bei den Finanzinstituten. Finanz- und Anlageberater sollen ähnlich wie im Versicherungsbereich ihre
Befähigung zum Beispiel durch eine spezielle IHK-Prüfung nachweisen.
Aufgrund der derzeitigen Politik, die die staatlichen
Sicherungssysteme abbaut und immer mehr private Vorsorge von den Menschen erwartet, werden langfristige
Geldanlagen gerade für Menschen mit niedrigen Einkommen eine immer größere Rolle spielen. Wenn die
Politikerinnen und Politiker nicht zusehen wollen, wie
diese Menschen ihre private Vorsorge auf den Geldmärkten dieser Welt verlieren, dann müssen sie jetzt handeln.
({3})
Nur wenn solche Maßnahmen, wie wir sie vorschlagen,
rasch umgesetzt werden, haben Verbraucherinnen und
Verbraucher in Zukunft tatsächlich mehr Rechte und damit mehr Schutz.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe
auf eine konstruktive Beratung unseres Antrags.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Leo Dautzenberg für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzkrise hält uns
weiter in Atem. Nach dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz haben wir gestern ein Paket zur Wachstumsstärkung verabschiedet. Die Große Koalition hat diese Maßnahmen nicht ergriffen, um einzelne Banken zu retten,
und auch nicht, um Weihnachtsgeschenke an bestimmte
Wirtschaftszweige zu verteilen; wir haben diese Maßnahmen vielmehr ergriffen, um die deutsche Volkswirtschaft zu schützen und zu stützen und damit das gesamtgesellschaftliche System zu stabilisieren.
({0})
Zu dieser Volkswirtschaft gehören auch die Verbraucherinnen und Verbraucher. Es ist falsch, wenn Sie,
meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen
und von der Linken, mit Ihren Anträgen den Eindruck
erwecken, als habe der Verbraucherschutz in der politischen Aufarbeitung der Finanzkrise bisher keine oder
nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Ich bin überzeugt
davon, dass in dieser Krise der beste Verbraucherschutz
darin besteht, die Funktionsfähigkeit der Kreditwirtschaft schnellstens und vollständig wiederherzustellen
und die negativen Auswirkungen auf die Konjunktur zu
begrenzen.
({1})
Dennoch - da sind wir uns wahrscheinlich fraktionsübergreifend einig in diesem Haus -: Die aktuelle Finanzkrise hat auch ganz spezifische verbraucherpolitische
Probleme offengelegt. Ein zentraler Punkt ist die teils
mangelhafte Beratung. Hierüber müssen wir diskutieren,
und daraus müssen wir gegebenenfalls Konsequenzen
ziehen. Meine Fraktion ist da im Übrigen nicht untätig.
Als Finanzpolitiker sind wir mit unseren Verbraucherschutzpolitikern, mit Verbraucherschutzorganisationen,
Bankenverbänden und Produktanbietern im Gespräch.
Diskussionswürdig erscheinen uns zum Beispiel folgende Punkte:
Erstens: Prüfung zusätzlicher Regelungen für den
grauen Kapitalmarkt. Mit der Einführung der Anlageverwaltung in das KWG im Rahmen der anstehenden Novelle zum Pfandbriefgesetz macht die Große Koalition
hier bereits einen Anfang.
Zweitens: Verlängerung der Verjährungsfrist für
Schadensersatzansprüche im Falle einer Falschberatung. Hier ist in der Tat zu fragen, ob drei Jahre ein ausreichender Zeitraum sind, innerhalb dessen Verbraucher
ihre berechtigten Interessen durchsetzen können.
Drittens - das ist ein zentraler Punkt -: Gewährleistung der Qualifizierung von freien Finanzberatern durch
Befähigungsnachweis, ähnlich des gesetzlich geforderten Qualifikationsnachweises im Versicherungsbereich
nach dem Versicherungsvertragsgesetz.
Lassen Sie mich auf die Probleme der Beratung etwas
genauer eingehen. In den letzten Tagen und Wochen sind
viele Fälle von offensichtlicher Falschberatung an uns
herangetragen worden. Uns beschäftigt nun die Frage,
wie sich derartige Beratungsfehler künftig vermeiden
lassen. Brauchen wir neue Gesetze mit mehr Informations- und Dokumentationspflichten? Meine Antwort ist:
Nein. Wir haben nämlich das Wertpapierprospektgesetz,
das Verkaufsprospektgesetz, das Wertpapierhandelsgesetz und seit November 2007 das FinanzmarktrichtlinieUmsetzungsgesetz, dem die sogenannte MiFID vorausging. Damit sind genügend rechtliche Grundlagen gegeben, auch was die Beratung angeht.
Bereits seit 1994 ist im Wertpapierhandelsgesetz geregelt, dass Produkte nach den Risikoklassen 1 bis 5 einzuordnen sind. Mit der Umsetzung der MiFID geht die
Dokumentationspflicht einher. Da stellt sich die Frage:
Welcher Handlungsbedarf leitet sich aus Ihrer Forderung
nach Umkehr der Beweislast ab? Vielleicht kann man
sich dazu durchringen, dass dieses Beratungsprotokoll
dem Anleger ausgehändigt wird; bei manchen ist dies
schon Standard. Wenn die Aushändigung überall Standard wird, sind wir schon ein Stückchen weiter. Eine zusätzliche gesetzliche Regelung wäre dann nicht notwendig.
({2})
Bereits mit diesen Gesetzen haben wir ausreichende
Vorkehrungen für eine umfassende Information und Dokumentation der Beratung getroffen. Das gilt auch für
Zertifikate. Das Problem ist nicht ein Mangel an Informationen. Wenn man sich ansieht, was im Versicherungsbereich dokumentiert wird und welche Informationen dort herausgegeben werden, dann stellt man fest:
Schriftliche Auskünfte haben oft einen Umfang von
150 Seiten. Durch eine Erweiterung würde der Informationsstand des Verbrauchers nicht besser. Vielmehr muss
man sich im Grunde auf die wichtigsten Punkte konzentrieren, damit der Verbraucher überblicken kann, was mit
dem Produkt tatsächlich verbunden ist. Das muss von
den Beratern auch kommuniziert werden.
Ich möchte auf folgenden Fall eingehen - Frau Kollegin Binder, Sie haben einige Fälle angedeutet -: Wenn
die Auszahlung eines Anlageplans eines Rentnerehepaares - die Eheleute sind etwa 75 Jahre alt - erst nach
10 oder 15 Jahren beginnt, dann ging dem offensichtlich
ein Beratungsfehler voraus. Wir brauchen hier keine anderen gesetzlichen Grundlagen; schließlich schreit es
hier förmlich zum Himmel, dass falsch beraten worden
ist. Wir sollten mit der Forderung, dass der Gesetzgeber
handeln soll, keine falschen Richtungen einschlagen.
Ich sehe die Geschäftsführung von Banken und Maklerpools selbst in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass ihre Berater kompetenter werden. Was die Produkte anbelangt,
muss der Fokus stärker auf eine längere Kundenbindung
ausgerichtet werden. Das muss wieder wichtiger sein als
die Erreichung eines bestimmten Vertriebsziels.
({3})
Nehmen wir die Beispiele Lehman Brothers oder
Kaupthing-Bank in Island. Bezüglich der Festgeldanlagen war genügend Information da, auch über die Risikoklassen. Es ist menschlich und durchaus nachvollziehbar, dass der Anleger selber nach dem etwas höher
verzinslichen Produkt greift, obwohl er die Risiken kennen müsste. Aber es ist nun einmal so: Die Chancen auf
höhere Rendite sind immer mit mehr Risiko verbunden.
Das sollte im Grunde auch den Verbrauchern klar sein.
({4})
Es kommt auf den Kern an, nämlich eine bessere Beratung. Hier befinden wir uns mit den Verbänden in einer
konstruktiven Diskussion. Dabei wird ersichtlich, dass
viele diesen Punkt schon zu ihrem eigenen Maßstab entwickelt haben. Auf der anderen Seite muss das Wissen
über Finanzmärkte und Wirtschaft über das Bildungssystem besser vermittelt werden, damit sich die Beteiligten
auf Augenhöhe begegnen können.
Ich komme zu den Forderungen der Linken zur Verbesserung des Einlagensicherungssystems. Sie beschreiben die Probleme sehr schön, aber Sie geben keine Antwort darauf, was Sie sich als Lösung vorstellen. Ihr
Antrag ist eine Zustandsbeschreibung. Aber was Sie
wollen, geben Sie in keiner Weise an. Von daher müssen
wir die Grundlagen sehen, die wir jetzt haben. Auf europäischer Ebene wird eine Änderung der Einlagensicherungsrichtlinie in zwei Stufen vorbereitet, nach der die
Deckungssumme der gesetzlichen Einlagensicherung
demnächst auf 50 000 Euro und 2011 in der Endstufe auf
100 000 Euro festgelegt werden soll. Das ist die gesetzliche Einlagensicherung.
Darüber hinaus gibt es in den drei Säulen unseres
Bankensystems jeweils eigene freiwillige Sicherungssysteme: Die Deckungssummen bei den Privatbanken
sind an dem Anteil des haftenden Eigenkapitals ausgerichtet und gehen so über die Summe von 100 000 Euro
hinaus. Bei den Genossenschaftsbanken und den öffentlich-rechtlichen Sparkassen greift sogar eine Institutssicherung, die an sich weitestgehende Absicherung für
Einlagen. Sie müssen mir wirklich erklären, wo Sie zusätzlichen Bedarf sehen, es sei denn, Sie sprechen sich
dafür aus, alles zusammenzuwerfen. Dazu sind wir nicht
bereit, sondern wir sehen in der Effizienz der einzelnen
Arme auch in Zukunft die zielgerichtete Einlagensicherung in Deutschland, die auch Maßstab für andere Länder sein kann.
Dann kommt die Forderung, der BaFin den Schutz
der Verbraucher als zentraler Aufgabe zu übertragen.
Die BaFin soll durchaus auch Verbraucherschutzinteressen berücksichtigen und sich um den Verbraucherschutz
kümmern, aber wir brauchen die BaFin überwiegend als
Aufsicht für die Stabilisierung des Finanzmarktes. Herr
Schick, wenn Sie dann auch noch fordern, die zentrale
Bankenaufsicht zusätzlich auf die BaFin zu übertragen,
dann sage ich Ihnen für meine Fraktion: Wir wollen den
umgekehrten Weg. Ohne Bundesbank ist die Bankenaufsicht im Grunde nicht zu gewährleisten; denn schließlich
brauchen wir eine Liquiditätskontrolle.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Schick?
Ich darf diese Ausführungen noch beenden. - Für Solvenz ist die BaFin zuständig, für Liquidität die Bundesbank. In dieser Banken- und Finanzkrise war diese Ergänzung für uns sinnvoll. Angesichts Ihrer Forderung
nach Zentralisierung verweise ich auf den von uns verfolgten Weg, nämlich diese Aufgaben bei der Bundesbank anzusiedeln.
Herr Kollege, bitte.
({0})
Herr Kollege, ich möchte kurz zum Thema Verbraucherschutz und BaFin nachfragen. Es ist heute so, dass
die Aufgabe Verbraucherschutz von der BaFin etwa in
Form eines Verbrauchertelefons wahrgenommen wird,
dieser aber nicht Teil ihres gesetzlichen Auftrags ist. Da
Sie aber sagen, dass die BaFin auch Elemente des Verbraucherschutzes gewährleisten soll, frage ich Sie: Sind
Sie dann nicht mit mir der Auffassung, dass sie dafür
einen gesetzlichen Auftrag braucht und das nicht nur
freiwillig nebenher machen kann?
Herr Kollege Schick, das kann die BaFin schon über
ihre Aufsichtskompetenz. Wenn Sie als Verbraucher bestimmte Vorgaben haben und bei den Banken FehlentLeo Dautzenberg
wicklungen beobachten, dann können Sie sich schon
heute mit einer Eingabe an die BaFin wenden. Darüber
hinaus stehen auch in den jeweiligen Bankenarmen Ombudsleute zur Verfügung, die den Interessen der Verbraucher und damit der Anleger nachgehen.
In Ihrem Antrag stand ganz klar, dass Sie den Verbraucherschutz mit zur Hauptaufgabe der BaFin machen
wollen. Das weisen wir im Grunde zurück, weil das
nicht Hauptaufgabe der BaFin sein kann. Hauptaufgabe
der BaFin ist, die Solvenz für den Finanzmarkt zu gewährleisten, ergänzt durch die Bundesbank, die für Liquiditätskontrolle sorgen muss.
Wenn wir in einem stabilisierten Finanzmarkt für
mündige Bürger auf der einen Seite und ein differenziertes Angebot auf der anderen Seite sorgen, tun wir für den
Verbraucher das Beste. Kollege Schick, das, was in Ihrem Antrag zu den Zertifikaten gefordert wird, ist zusätzlich in die Beratungen einbezogen worden. Wir haben im Finanzausschuss sehr ausführlich darüber
beraten, dass wir mit der bestehenden Gesetzgebung aus
Wertpapierhandelsgesetz, MiFID und weiteren gesetzlichen Regelungen für den Finanzmarkt die Grundlage dafür haben, auch den Bereich der Zertifikate abzudecken,
sodass wir auch da keinen zusätzlichen Handlungsbedarf
sehen.
Insofern werden wir diesen Antrag ablehnen. Darüber
hinaus werden wir aber der Überweisung der beiden anderen Anträge in den Finanzausschuss zur weiteren
Fachberatung zustimmen.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Michael
Goldmann für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich will zunächst einmal betonen: Ich bin Mitglied des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz. Mein Vorredner ist Mitglied des
Finanzausschusses. Federführend in diesem Bereich ist
auch der Finanzausschuss.
Wir müssen einfach einmal darüber reden - damit
können wir heute beginnen -, ob die Trennung - hier die
Finanzpolitiker, da die Verbraucherschutzpolitiker - ein
kluger Weg ist. Der Kernansatz der heutigen Debatte
sollte sein, dass wir uns aufeinander zubewegen und
dass wir nicht sagen: Bei den Banken ist zwar etwas
Schlimmes passiert, aber eigentlich ist das nur ein bedauerlicher Zwischenfall. Wir sollten uns vielmehr die
Frage stellen: Welche Konsequenz hat dieser bedauerliche Zwischenfall für die Verbraucherinnen und Verbraucher?
In diesem Zusammenhang taucht immer ein unklarer
Verbraucherbegriff auf. Verbraucher sind auch Mittelständler, Handwerker, Einzelhändler und Menschen, die
eine Alterssicherung angespart haben. Da ich auch Kommunalpolitiker bin, bin ich manchmal bei diesen Leuten,
wenn sie Goldene Hochzeit oder ihren 85. Geburtstag
feiern.
({0})
Bei ihnen gibt es im Moment nur ein Thema: Sie haben
Angst um ihre Alterssicherung.
Herr Dautzenberg, Sie haben in Ihrem Beitrag eine
ganze Reihe von Punkten erwähnt, bei denen wir aufeinander zugehen können. Aber ich warne davor, zu
glauben, dass das Finanzmarktstabilisierungsgesetz ausreicht. Wir haben eine Menge für die Banken gemacht.
Wir müssen aber auch eine Menge Konkretes in den
Banken für die Verbraucher machen.
({1})
- Herr Dautzenberg, unterstellen Sie mir nicht auf diese
primitive Weise, dass ich Ihnen nicht zugehört hätte!
Auch Finanzpolitiker sollten es sich nicht so einfach machen. Sie können davon ausgehen, dass ich Ihnen zugehört habe. Sonst würde ich nicht auf Ihren Beitrag reagieren.
Es gibt da einen Versagensstrang, Herr Dautzenberg
- Sie kennen ihn auch -: Das Versagen begann in Amerika und wurde von den Ratingagenturen und von den
deutschen Banken mitgemacht. Ich bin Mitglied im Verwaltungsrat einer Bank. Als ich vor kurzem einmal danach gefragt habe, wie es in Niedersachsen mit der
Nord/LB ausschaut, wurde mir gesagt: Alles prima! Als
ich nach dem Kreditwesen fragte, wurde mir gesagt: Alles prima! Gleichzeitig wurde mir aber eine Statistik vorgelegt, aus der hervorgeht, dass ab Juni 2007 diese Problematiken eindeutig abzusehen waren. Ich habe dann
die vier Leute im Vorstand dieser Kreissparkasse gefragt: Warum haben Sie uns das eigentlich nicht gesagt?
Warum haben Sie die Verbraucher auf die Problematiken, die darin stecken, nicht offensiv aufmerksam gemacht? Da ist eine Menge Vertrauen in der Beziehung
zwischen der Bank und dem Kunden verloren gegangen.
Es geht jetzt entscheidend darum, dass dieses Vertrauen
wiederhergestellt wird. In diesem Punkt sollten wir uns
wirklich einig sein.
({2})
Die FDP hat entsprechende Vorschläge gemacht.
Dazu gehört zum Beispiel ein Vorschlag zur Verbesserung der Finanzaufsicht. Ich glaube, dass Sie vom Bündnis 90/Die Grünen da wirklich falsch liegen. Mit der BaFin ist das nicht zu machen; diese Aufsicht gehört in die
Bundesbank.
Wir schlagen eine Art Stiftung Warentest für Finanzprodukte vor. Wir machen auch einen emotionalen Vorschlag, indem wir sagen: Wir brauchen ein neues System
der Vorstandsvergütung. Ich bin davon überzeugt, dass
wir wieder zu einer Aussöhnung zwischen Anstand und
Markt kommen müssen.
({3})
In diesem Bereich ist die Vorbildfunktion der Bosse der
Banken verloren gegangen. Das müssen wir gemeinsam
zurückgewinnen. Es muss in diesem Bereich Korrekturen geben. Die Branche hat jede Menge Porzellan zerschlagen.
Wenn die Zeitschrift Die Wirtschaftswoche schreibt,
dass in vielen Filialen deutscher Banken Zustände wie in
einer Drückerkolonne herrschen, dann ist das nicht einfach dahingeplappert, sondern dann ist da etwas dran.
Wir müssen uns mit dem Wechselspiel zwischen dem
Kunden und demjenigen, der ihm etwas verkauft, beschäftigen.
Für mich war es früher ganz einfach. Ich bin zu meiner Aschendorfer Bank gegangen; da saß mein Freund.
Den habe ich gefragt: Was mache ich mit meinem Angesparten? Ich habe ihm vertraut. Aber heute ist in vielen
Bereichen dieser direkte Kommunikationsprozess auf
eine ganz andere Basis gestellt. Auch die Arbeit der
Banken ist auf eine andere Basis gestellt. Das bringt zum
Teil Veränderungen mit sich, die wir nicht einfach hinnehmen dürfen. Stattdessen müssen wir Verbesserungen
erkämpfen.
Ich bin ebenfalls hundertprozentig der Meinung, dass
es in erster Linie um Eigenverantwortung, um den sich
um Mündigkeit bemühenden Verbraucher gehen muss.
Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass sehr
viele Verbraucher nicht in der Lage sind, bestimmte
Dinge zu durchblicken, weil sie einer anderen Tätigkeit
nachgehen und sich mit diesen Dingen nicht so intensiv
beschäftigen. Deswegen müssen wir die Verbraucherberatung substanziell verbessern. Das müssen wir deutlich
zum Ausdruck bringen.
({4})
In dieser Krisensituation sind Hunderttausende von Anrufen bei den Banken und Verbraucherzentralen eingegangen. Die Verbraucherzentralen waren auf diese Herausforderung nicht vorbereitet. Deswegen muss man
hier sehr konkret sagen, dass Verbesserungen notwendig
sind.
Wir müssen auch darüber nachdenken, ob wir die
richtigen Gesetze machen. Das Verbraucherinformationsgesetz ist in der Form entstanden, weil es einen
Gammelfleischskandal gab. Das war eine Lappalie im
Verhältnis zu dem momentanen Finanzskandal auf dem
Markt.
({5})
- Am Gammelfleisch ist keiner - ich sage es in Anführungsstrichen - „kaputtgegangen“. Aber an dem Verlust von finanzieller Perspektive im Alter leiden eine
Menge Menschen, und viele zerbrechen daran. Herr
Dautzenberg, ich will ja nicht das eine ausschließen und
das andere an dessen Stelle setzen. Vielmehr will ich dafür plädieren, dass wir die Dinge, die uns im Moment
beschäftigen, zum Beispiel in ein Verbraucherinformationsgesetz aufnehmen, dass wir sie nicht nur mit Blick
auf die Lebensmittelwirtschaft behandeln, sondern auch
mit Blick auf die Verbraucher. Das kann zusammengefasst werden.
({6})
Ich möchte ein Beispiel nennen, das deutlich macht,
wo es im Grunde genommen um den Kampf in der Sache geht. Ich habe hier die Kopie eines ausgefüllten Beratungsbogens einer Bank. Auch Sie bekommen ja
Schreiben von Menschen, die sich bei den Banken haben
beraten lassen. Die Banken haben von 100-prozentiger
Sicherheit gesprochen. In diesem Wertpapiersammelordner ist die Einstufung des Kunden vermerkt; Sie kennen
das sicherlich.
({7})
Da steht: konservativ. Dennoch hat der Kunde am Ende
auf ausdrücklichen Wunsch ein hochriskantes Papier gekauft. Das hat nichts mit Eigenverantwortung zu tun.
Das ist Fehlberatung.
({8})
Das fällt in die Verantwortung derjenigen, die die bessere Kenntnis haben. Deren Verhalten finde ich unmoralisch. Die Banken sollten schleunigst selbst dafür sorgen,
dass sie nicht mehr solchen Vorwürfen ausgesetzt sein
müssen. Banken sind die Oberinstitutionen des Vertrauens in unserer Gesellschaft. Deswegen müssen wir mit
Ruhe und konsequentem Durcharbeiten Lösungen entwickeln.
Ich halte die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und
der Linken für nicht sehr erfolgsorientiert. Aber wir
müssen ganz generell darüber diskutieren und entscheiden, wie wir hier zu Verbesserungen kommen, und dann
die entsprechenden Weichen stellen. Parteipolitische
Auseinandersetzungen finde ich in dem Zusammenhang
überflüssig. Es geht um das Zurückgewinnen von Vertrauen in unser Gesamtsystem. Wir sollten die Interessen
der Verbraucher angemessen - nicht überzogen - im
Auge haben. Aber wir sollten auch deutlich machen,
dass sich in diesen Bereichen etwas tun muss. Wir haben
dazu Vorschläge gemacht, und wir hoffen, dass wir zu
einer gemeinsamen Lösung und guten Ergebnissen kommen.
Herzlichen Dank.
({9})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Ortwin
Runde.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Goldmann hat völlig zu Recht von Vertrauen gesprochen. Das wiederherzustellen, ist im Interesse der
Verbraucher. Dass das kein einfacher Prozess ist, wissen
die Finanzer so gut wie die Verbraucherschützer. Die
Hohepriester der Finanzindustrie trauen sich gegenseitig
nicht mehr und handeln nicht mehr miteinander. Das haben wir gespürt. Der Interbankenhandel ist zusammengebrochen.
Wenn es um die Herstellung von Vertrauen geht, muss
man aber auch sagen: Politik darf nicht in die Rolle gedrängt werden, die Verantwortung für all das zu übernehmen, was andere angerichtet haben.
({0})
Das halte ich für einen fundamentalen Fehler. Vielmehr
muss Politik sehen, welche Rolle sie bei der Wiederherstellung des Vertrauens zu spielen hat. Dabei halte ich
das, was die Kanzlerin und der Finanzminister zu einer
politischen Garantieerklärung gegenüber den Verbrauchern gesagt haben, für einen wichtigen Schritt.
({1})
Ich erwarte von den Banken, Sparkassen und Finanzinstituten aber, dass sie zu den Fehlern, die sie gemacht
haben, stehen und sie korrigieren.
({2})
Ich finde es richtig mannhaft, dass Herr Seehofer die
Verantwortung von Vorgängern deutlich benannt und
sich dafür mit entschuldigt hat. Noch mannhafter finde
ich das, was Herr Faltlhauser getan hat. Er hat dort ja
selbst Verantwortung getragen.
({3})
Ich sehe es bezogen auf Beratungsfehler als notwendig an, dass die Sparkassen, Banken und Finanzinstitute,
die mit ihren Kunden so umgegangen sind, an die Kunden herantreten und sagen: Wir prüfen, ob wir dort Beratungsfehler gemacht haben. - Das halte ich für notwendig und richtig.
({4})
In Härtefällen müssen sie den Kunden dann auch entsprechend entgegenkommen.
({5})
Ich habe natürlich mit großem Interesse wahrgenommen, dass die Linke eine neue Zielgruppe hat, nämlich
die Lehman-Geschädigten. Wenn man daran denkt,
kommt man bei dem gesamten Thema auch zu einer anderen Verantwortung und einem anderem Aspekt:
Wir haben uns über die Renditegier der Ackermänner
und anderer beklagt.
({6})
Hier muss man aber doch auch sehen: Menschen, deren
Löhne und Gehälter in den letzten Jahren nicht gewachsen sind, gehen an die Kapitalmärkte - auch als kleine
Kapitalisten - und erwarten, dass sie nicht Zinsen von
3 bis 4 Prozent, sondern von 5 bis 6 Prozent bekommen.
Wenn man sieht, welche Auswirkungen das insgesamt
auf die Verteilung des Volkseinkommens hat - es geht
um das Einkommen der abhängig Beschäftigten und
deren Lohnquote und das Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen -, dann muss man einfach feststellen: Auch das Spiel am einarmigen Banditen ist
Ausdruck einer falschen Geisteshaltung. Das ist ein Kasinobesuch für die Kleinen.
Hier gilt einfach, dass der Besuch dieses Kasinos für
die Kleinen auch durch bestimmte Geisteshaltungen befördert worden ist. Es muss sich auch an den Einstellungen etwas ändern. Jeder weiß aufgrund alter Volksweisheiten: Wer hohe Renditen haben will, der muss hohe
Risiken eingehen. - Von dieser Grundregel können wir
auch niemanden befreien - bei allen Schutzmaßnahmen,
die wir dort vorhaben.
({7})
Für uns als Finanzpolitiker und Verbraucherschützer
steht jetzt die Prüfung an, welche Maßnahmen die Verbraucher am besten gegen Risiken schützen. Ich habe die
Garantieerklärung als eine wichtige Maßnahme zur Vertrauenswiederherstellung angesehen. Ich halte die Richtlinie zur europaweiten Einlagensicherung, die die EU
jetzt sehr schnell auf den Weg bringt, für einen weiteren
wichtigen Schritt.
({8})
Diese europäische Richtlinie wird wahrscheinlich noch
in diesem Monat vorliegen, und wir werden sie dann in
Deutschland umsetzen müssen. Bei der Umsetzung in
Deutschland werden wir die 50 000 Euro, die dann einlagengesichert sind,
({9})
natürlich in Verbindung mit dem Einlagensicherungsfonds sehen müssen.
Hierbei ist die Frage, was die Banken garantieren, das
eine, das andere ist nach den Erfahrungen mit der Krise
aber die Frage, zu was sie in der Lage sind. Mit
Kaupthing in Island haben wir ja die Erfahrung gemacht,
dass selbst Einlagerungssicherungszusagen nicht eingehalten werden können.
({10})
Das heißt also, die Fragen, ob die entsprechende Liquidität vorhanden ist und ob dieses Versprechen eingelöst
werden kann, sind von entscheidender Bedeutung.
Eines muss ich dazusagen: Es geht nicht - das habe
ich von einigen gehört -, dass am Ende Staatsgarantien
stehen sollen.
Vielmehr müssen diejenigen für die Produkte haften,
die sie vertreiben und im Normalfall damit viel Geld verdienen.
({11})
Wenn dann argumentiert wird, das koste aber etwas,
muss ich sagen: Exakt das ist es. Wir müssen die Differenz zwischen Renditen im Bereich der Finanzwirtschaft
und den Renditen, die es ganz normal gibt, abbauen. Wir
brauchen auch wieder ein neues Verhältnis von Einkommen aus Arbeit zu Einnahmen aus Finanzanlagen. Das
sage ich wegen Lehman noch einmal in Richtung der
Linken. Ich halte also diese Regelung beim Einlagensicherungsfonds für etwas sehr Wichtiges, weil dies die
Stabilität der Finanzmärkte erhöht.
Wir müssen jedoch auch prüfen, welche Instrumente
und Produkte geeignet sind, die Stabilität des Gesamtsystems zu gefährden. Damit bin ich bei den Leerverkäufen. Diese gehören für mich auf den Prüfstand, auf
europäischer Ebene diskutiert und im besten Falle verboten.
({12})
Wir können ja nicht noch eine Einlagensicherung für
Herrn Merckle wirken lassen, der mit entsprechenden
Spekulationen auf sinkende Kurse der VW-Aktie nicht
nur sein eigenes Vermögen, sondern auch seine Firmen
und somit die an ihnen hängenden Arbeitsplätze gefährdet. So weit kann das Ganze nicht gehen.
({13})
In diesem Punkt halte ich es für zentral, dass wir die
Aufsichtsmöglichkeiten verbessern. In dieser Krise haben wir gesehen, dass in Europa in der Aufsicht vieles
noch verbesserungsfähig und -bedürftig ist, auch im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher. Deswegen spreche ich mich sehr deutlich für eine Stärkung der
Regelwerke, für eine Verstärkung der Regelbeachtung
und für eine Beobachtung durch die BaFin sowie für europäische aufsichtsrechtliche Regelungen aus. All dies
ist dringend erforderlich.
({14})
Ich wundere mich ein bisschen über die Diskussion
über das Verhältnis zwischen BaFin und Bundesbank.
Dazu haben wir eine sehr dezidierte Auffassung. Es gab
eine Verständigung zwischen Bundesbank und BaFin.
Überall da, wo sie auftreten, erklären sie, sie kooperierten hervorragend. Das sollte man dann auch nicht stören,
wobei man feststellen muss: Alle hoheitlichen Aufgaben
und hoheitliche Funktionen können nur durch die BaFin
wahrgenommen werden. Das Unabhängigkeitsmantra
der Bundesbank hat uns schon vor kurzem bei anderen
Gelegenheiten beschäftigt. Hierzu muss man feststellen:
Der Steuerzahler, der Verbraucher, hat ein Anrecht darauf, dass es politisch Verantwortliche für solche aufsichtsrechtlichen Maßnahmen und Regulierungen gibt.
Deswegen lautet hier die deutliche Ansage: An dieser
Stelle ist die BaFin in ihrer Funktionsfähigkeit gefragt.
Darüber, ob es klug ist, der BaFin das Thema Verbraucherschutz als weiteren Schwerpunkt zuzuweisen,
muss man intensiv nachdenken. In diesem Zusammenhang sind mir Vorschläge, hier eine Art Stiftung Warentest zu schaffen, sehr viel näher und lieber. Ich bin der
Meinung, dass wir, bezogen auf den Verbraucherschutz
im engeren Sinne, in einer Reihe von Punkten übereinstimmen, beispielsweise hinsichtlich der Fragen, wann
Verjährungsfristen zu laufen beginnen und ob es für
Kunden die Möglichkeit gibt, den entstandenen Schaden
auch wirklich geltend zu machen.
Ich stimme auch mit Herrn Goldmann voll und ganz
überein, dass wir überprüfen müssen: Ist das, was wir
mit der MiFID an Dokumentationspflichten eingeführt
haben, etwas, das auch vom Geiste des Vertrauens gelebt
wird? Die Aussage, eine höhere Risikoklasse sei auf eigenen Wunsch gewählt worden, ist hierbei in der Tat
nicht der richtige Ansatz. Das ist ein Beratungsfehler.
Über die Beratungen müssen jeweils Protokolle gefertigt
werden, die beide Seiten unterschreiben müssen.
({15})
Das halte ich für einen wichtigen Punkt, den wir hierbei
einführen müssen.
Wir haben eine Reihe von Anträgen vorliegen. In der
nächsten Zeit werden wir die europäischen Richtlinien
zur Einlagensicherung umzusetzen haben. Wir werden
uns in diesem Zusammenhang auch mit diesen Anträgen
beschäftigen. Ich glaube, wir werden eine konstruktive
Diskussion führen und zu guten Ergebnissen auf diesem
Feld kommen.
Vielen Dank.
({16})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Maisch für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben eine ganze Menge über Vertrauen als
Schmierstoff auf den Finanzmärkten und als Voraussetzung für das Funktionieren der Finanzmärkte gehört. Ich
teile ausdrücklich die Analyse des Kollegen Goldmann,
dass dieses Vertrauen erschüttert ist. Ich teile auch Ihre
moralische Empörung. Es hätte mich aber interessiert,
welche konkreten Maßnahmen zur strukturellen Verbesserung des Verbraucherschutzes auf den Finanzmärkten
sich die FDP traut.
({0})
Es wäre sehr interessant gewesen, das zu erfahren. Noch
interessanter wäre es gewesen, wenn das in Antragsform
vorliegen würde. Von Ihnen haben wir bisher nämlich
keine besonders aggressiven verbraucherpolitischen Vorschläge, die auch einmal gegen die Banken gerichtet
sind, gehört. Das hätte mich sehr interessiert.
Wir von Bündnis 90/Die Grünen haben Ihnen Vorschläge vorgelegt:
Wir wollen die Rechte der Kundinnen und Kunden
durch das Instrument der Sammelklage stärken. Menschen, die falsch beraten wurden, die betrogen wurden,
sollen bessere Möglichkeiten zur kollektiven Rechtsdurchsetzung haben.
({1})
Wir fordern - das ist von den Vertretern der Regierung dankenswerter Weise positiv bewertet worden eine Verlängerung der Verjährungsfrist bei Schadenersatzansprüchen.
({2})
Die Lehman-Brothers-Geschädigten hätten von einer
solchen Regelung profitiert.
({3})
Für sie ist das jetzt zu spät. Um zukünftige Schadensfälle
vermeiden zu können, ist das aber zentral.
({4})
Wir brauchen eine starke Finanzmarktaufsicht. Die
Vorschläge der Grünen hierzu wurden hart kritisiert. Ich
möchte aber noch einmal betonen, dass es für die BaFin
gut wäre, wenn der Verbraucherschutz eine ihrer Kernaufgaben, natürlich nicht die alleinige Aufgabe, wäre.
Wir wollen ein sektorspezifisches Instrument einführen. Wir nennen es „Watchdog“, die SPD nennt es
„Marktwächter“ - das ist vielleicht besser verständlich -,
damit man sektorspezifisch Verbraucherschutzarbeit auf
den Finanzmärkten in einer progressiveren Weise gestalten kann und damit die BaFin als Regulierungsbehörde
einen Gegenspieler hat, der sie bei deutlichen Missständen auf den Finanzmärkten anrufen und aktivieren kann.
Weiterhin wollen wir ein einheitliches Schutzniveau
für alle Verbraucherinnen und Verbraucher. Dazu gehören strengere Regeln für den sogenannten grauen Kapitalmarkt. Wir sind diesem grauen Kapitalmarkt gegenüber nicht grundsätzlich negativ eingestellt - wir wissen,
dass zum Beispiel im Bereich der erneuerbaren Energien
viel darüber finanziert wurde -, aber es kann nicht sein,
dass das Schutzniveau auf diesem Markt so schlecht ist,
wie es im Moment ist. Wir wollen eine Vereinheitlichung, damit auch die Menschen, die ihr Geld auf diesem Markt anlegen, sich sicher sein können, dass ihr
Geld in guten Händen ist.
({5})
Wir wollen die Beratungsqualität insgesamt verbessern. Eine ehrliche Beratung im Sinne der Kundinnen
und Kunden und nicht im Sinne der Provisionsmaximierung ist das A und O bei Finanzgeschäften. Ich muss
doch darauf vertrauen, dass mich mein Sparkassenberater, mein Bankberater ehrlich berät und nicht so, dass er
die größtmögliche Provision kassiert. Wir Grüne fordern
in diesem Zusammenhang einen Finanzvorsorgecheck
bei einer unabhängigen Beratungsstelle. Das können
zum Beispiel die Verbraucherzentralen sein. Dazu gehört
aber auch, dass man die Finanzierung einer solchen Beratung klärt und sichert. Im Zweifelsfall müssen auch die
Banken ihren Beitrag dazu leisten. Ich freue mich schon
jetzt, wenn der Kollege Goldmann an unserer Seite diesen Wunsch gegenüber den Banken äußern wird.
({6})
Mein letzter Punkt ist die Hilfe für Menschen in der
Not. Auch das hat mit den Finanzmärkten zu tun. Wir
glauben, dass das längst überfällige Recht auf ein Girokonto für alle endlich realisiert werden muss.
({7})
Wir wollen - Stichwort Privatinsolvenz - eine Kultur der
zweiten Chance; denn die Menschen, die reingefallen
sind, brauchen eine zweite Chance.
Ich finde es gut, dass unsere Anträge jetzt zur Beratung in die Ausschüsse überwiesen werden. Ich erwarte
vom Verbraucherausschuss, dass er sich ähnlich wie die
Finanzpolitiker mit diesen Themen beschäftigen wird.
Die Bundesregierung kann ich nur auffordern: Sorgen
Sie für mehr Sicherheit der Anleger! Dann funktionieren
auch die Finanzmärkte wieder besser.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Julia Klöckner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es gibt genauso wenig die Banken und die
Bankberater, wie es die Verbraucherinnen und Verbraucher gibt. Nicht alle Bankberater haben ihre Kunden
über den Tisch gezogen. Es war auch nicht jeder Verbraucher ganz frei von dem Wunsch, möglichst noch
mehr Zinsen zu bekommen. Auch beim Hinterherhecheln von einem Zehntel mehr Zins zu einem weiteren
Zehntel mehr Zins ist sicherlich vieles auf der Strecke
geblieben.
({0})
Ich möchte mich heute denjenigen Bürgerinnen und
Bürgern zuwenden - ihr Anteil beträgt etwa 80 Prozent -,
die ihr Geld nicht angelegt haben, um zu zocken, sondern die ihr Geld im Rahmen der Altersvorsorge bei einer sicheren Bank anlegen wollten. Ich meine diejenigen, denen es ähnlich erging wie zum Beispiel einem
Petenten in meinem Wahlkreisbüro, der aufgrund seiner
Frühverrentung seine Abfindung bis zum Eintritt in die
Rente anlegen wollte und dieses Geld verloren, aber
nicht verspielt hat.
Zusammen mit meinen Kollegen aus dem Finanzausschuss war ich, als wir eine Expertenrunde einberufen
haben, etwas erstaunt darüber, dass viele der geladenen
Verbandsvertreter unterschiedlicher Sparten uns den
Eindruck vermittelt haben, es sei alles ganz in Ordnung,
man müsse nur etwas mehr aufklären und dann gehe
schon alles seinen Weg. Dem ist nicht so. Deshalb danke
ich meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Finanzausschuss sehr. Wir haben uns nämlich zusammen auf
den Weg gemacht und wollen sinnvolle Vorschläge machen. Deswegen debattieren heute sowohl die Finanzwie auch die Verbraucherpolitiker von der CDU/CSUFraktion. Denn beides gehört zusammen: Gute Finanzpolitik ist guter Verbraucherschutz,
({1})
aber auch eine gute Wirtschaftspolitik für unseren Standort in Deutschland.
({2})
Über den Hinweis, wir sollten als Verbraucherpolitiker keine Schnellschüsse machen, den ich vom Bankenverband bekam, war ich etwas erstaunt. Es stimmt:
Schnellschüsse sind immer ein schlechter Ratgeber. Nur,
diesen Hinweis habe ich nicht gehört, als es darum ging,
innerhalb einer Woche einen Bankenrettungsschirm aufzuspannen. Es war relativ zackig, was wir da hinbekommen haben.
({3})
Es war sehr gut und auch notwendig. Dazu höre ich von
der Opposition nichts; denn wir könnten heute nicht über
mögliche Schutzfunktionen für den Verbraucher reden,
wenn wir diesen ersten Schritt nicht gemacht hätten. Ansonsten wäre alles den Bach hinuntergegangen. Dann
hätte auch die Notwendigkeit von Beratungsprotokollen
überhaupt nicht mehr auf der Tagesordnung gestanden.
({4})
Interessant ist natürlich die Betrachtung derjenigen
Zahlen, die zum Ausdruck bringen, wie sich die Geldvermögensbildung der privaten Haushalte in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland entwickelt hat. 1997
hatten noch etwa 41 Prozent der privaten Haushalte ihr
Geld in Geldanlagen bei der Bank. Zehn Jahre später
sind es etwa noch 35 Prozent. Etwa ein Drittel der Anlagen sind in Wertpapieren, in Aktien, Anleihen, Investmentfonds und in anderen Beteiligungen, investiert. Das
einmal wahrzunehmen, ist ganz interessant, vor allen
Dingen vor dem Hintergrund, dass trotz dieser breiten
Streuung - es wird ja immer geraten, das Vermögen auf
mehrere Beine zu stellen - die Rendite bzw. die Kapitalerträge mitnichten gestiegen sind. Im Gegenteil! Bei einer repräsentativen Umfrage war auffallend - da setzen
wir als Verbraucherpolitiker und Finanzpolitiker an -,
dass die Deutschen nach wie vor konservativ anlegende
Sparer sind, dass das Anlageverhalten eher risikoarm ist.
Es gibt aber einen wachsenden Anteil risikobehafteter
Anlagen und Depots von privaten Haushalten. Dieses
Chancen-Risiko-Raster ist von diesen aber mitnichten so
wahrgenommen oder verstanden worden.
Das lässt mich fragen, ob die Beratung bei der Auswahl solcher Produkte falsch oder zumindest unzureichend war.
Wir wissen auch: Ganz viele Verbraucherinnen und
Verbraucher, die eben keine studierten Ökonomen sind,
({5})
treffen ihre Entscheidungen natürlich nicht alleine, sondern sie holen sich Rat von ihrem Bankberater und verlassen sich auf seine Empfehlungen; denn letztlich sind
das die Profis. Besinnen wir uns einmal darauf, was
„Kredit“ eigentlich heißt. Kredit kommt von „credere“,
kommt also von Vertrauen und Glauben. Genau das
müssen wir wieder hinbekommen: Wir müssen diesen
Schmierstoff wiederherstellen. Das ist auch im Sinne
derjenigen, die sich bei der Beratung in der Vorkrisenzeit
ordentlich verhalten haben.
({6})
Nichtsdestotrotz zeigen die Erfahrungen - wir wissen
das -, dass Banken gute wie auch schlechte Produkte im
Angebot haben. Sowohl die guten als auch die schlechten
Produkte werden empfohlen. Auch das ist Tatsache. Im
jüngsten Frontal-Bericht des ZDF wurden aktuell Testpersonen losgeschickt. Eine Testperson, die 70 000 Euro
für die Altersvorsorge anlegen wollte, war bei acht Banken, und immer wurden risikoreiche und nicht sichere
Produkte angeboten. Es ist ärgerlich - ich betone noch
einmal, dass das nicht für alle Banken gilt -, dass just in
dieser Situation, in der die Sensibilität für diese Dinge
gestiegen ist, so etwas noch vorkommt. Deshalb habe ich
Zweifel an der Qualität der Beratungen. In der Wirtschaftswoche wird eine Bankmitarbeiterin zitiert, die namentlich natürlich nicht genannt werden möchte:
Sie können sich nicht sicher sein, ob sie ein Produkt
empfohlen bekommen, weil es wirklich gut ist oder
weil es in dieser Woche noch verkauft werden
muss.
({7})
- Oder weil die Rendite oder die Provision dementsprechend attraktiv sind.
Es geht darum, dem Kunden die Produkte anzubieten,
die er wirklich braucht, und sie auch dann anzubieten,
wenn er sie braucht.
({8})
Ich komme noch einmal auf die Diskrepanz zwischen
dem Wunsch nach Sicherheit hier in Deutschland bei
Otto Normalverbraucher, dem Durchschnittsanleger und
Nichtzocker, und der Risikosteigerung zurück. Relativ
neue Anlageformen sind zum Beispiel die Zertifikate.
Bei einem Drittel aller Beratungen spielen diese Zertifikate nach Angaben von Bankberatern eine entscheidende Rolle. Ob aber Verbraucher das mit diesen Zertifikaten verbundene Risiko wirklich einschätzen können,
ist fraglich.
Laut einer Marktstudie des Deutschen Aktieninstitutes wird der Kenntnisstand der Kunden über Zertifikate
von den Bankberatern durchweg als defizitär eingeschätzt. 83 Prozent der Bankberater schätzen das Risiko
als sehr hoch ein, aber sie geben an, privaten Anlegern
einen Zertifikateanteil von durchschnittlich 38 Prozent
im Depot empfohlen zu haben. Da geht etwas auseinander.
Das Hauptkriterium der Anlageempfehlung war zudem keinesfalls die Aussicht auf hohe Wertentwicklung.
Etwa 23 Prozent der Bankberater gaben als Kriterium
für die Empfehlung von Zertifikaten eine konservative,
sichere Ausrichtung der Anlage an. 13 Prozent nannten
sogar eine absolute Absicherung gegen Risiko als Kriterium für die Empfehlung. Rund die Hälfte aller Bankberater meinte zudem, die Papiere hätten unter der Berücksichtigung des Anlageziels und der Risikostruktur zum
jeweiligen Kunden gepasst. Ich denke, das passt nicht
zusammen.
Diese Beschreibungen passen auch zu den Angaben
der Lehman-Geschädigten. Es gibt jetzt ein Urteil aus
Leipzig. Dort wurde einem Ehepaar recht gegeben, das
sein Geld für die Ausbildung der Tochter absolut sicher
anlegen wollte. Es wurden auch noch im Mai und Juni
dieses Jahres Lehman-Zertifikate angeboten, als schon
klar war oder sich zumindest abzeichnete, dass dort eine
Zahlungsunfähigkeit anstehen würde.
Was sind die Forderungen bzw. die Vorschläge der
CDU/CSU-Fraktion? Diese sind zwischen Finanzpolitikern und Verbraucherschutzpolitikern abgestimmt. Denn
es bringt wenig, hier jetzt Forderungen aufzustellen, die
weder unserem Finanzmarktstandort helfen noch dem
Verbraucher nützen. Es bringt nichts, Protokolle auszuhändigen, die nicht zu verstehen sind. Deshalb sind wir
dafür, dass Protokolle verständlich abgefasst werden, sodass der Verbraucher nachvollziehen kann, was er erwirbt, und wir sind dafür, dass innere Logiken geschaffen werden.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Denn es kann nicht sein, dass ein Protokoll ausgehändigt wird, auf dem vorne „risikoarm“ steht, aber „risikobehaftet“ hinten herauskommt.
({0})
Mit den Gelddingen ist es so wie mit der Gesundheit:
Man sollte sich am Anfang beraten lassen, weil man da
noch etwas unbedarft ist. Wir wissen auch, dass Bäume
nicht in den Himmel wachsen. Das hat meine Oma immer gesagt. Deshalb sollten wir Maß halten, auch bei
den Zinsen.
({1})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Gerhard Schick,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Klöckner, ich bin Ihnen sehr dankbar für
die Ausführungen, die Sie zu dem Bereich gemacht haben, den ich jetzt ins Zentrum rücken will, nämlich den
Zertifikatemarkt.
Sie haben völlig richtig dargestellt, dass selbst nach
der Einschätzung derjenigen, die beraten sollen, viele
Menschen überhaupt nicht verstehen, was sie kaufen,
und dass das „vorne“ abgefragte Anlagenprofil und das,
was den Menschen nachher verkauft wird, nicht zusammenpassen.
Vor dem Hintergrund Ihrer Analyse, die ich teile und
der ich viele einzelne Beispiele von Fehlentwicklungen
hinzufügen könnte, stellt sich jedoch die Frage, weshalb
seit eineinhalb Jahren dem Finanzausschuss ein Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen vorliegt, der darauf abzielt,
am Zertifikatemarkt etwas zu verändern, und der in der
Bereitschaft formuliert worden ist, gemeinsam einen alternativen Antrag zu erarbeiten, der Ihre Erwägungen
aufgreift, und es stellt sich die Frage, weshalb Ihre Fraktion nicht in der Lage war, eineinhalb Jahre lang etwas
zu tun.
({0})
Sie haben bei der MiFID-Umsetzung erklärt, Sie
seien bereit, sich das anzuschauen. Es gab aber keinen
einzigen Vorschlag, der darauf abzielte, diesen Markt zu
verändern. Ich finde es gut, dass wir uns heute im Plenum diesen Aspekt genauer anschauen; denn es gibt
zwei Finanzmarktkrisen. Es gibt die große Finanzmarktkrise, über die in den Schlagzeilen berichtet wird, bei der
es um Milliardenabschreibungen geht, und es gibt die
täglich andauernde Finanzmarktkrise, bei der Anlegerinnen und Anleger in Deutschland schlecht beraten und
über den Tisch gezogen werden. Sie werden provisionsorientiert beraten; denn der Markt setzt die falschen Akzente.
Wir müssen uns in diesem Parlament mehr mit der andauernden kleinen Finanzmarktkrise der Anlegerinnen
und Anleger beschäftigen. Heute ist ein Anlass dazu gegeben. Ich hoffe, dass es nicht nur bei Ankündigungen
und Prüfaufträgen bleibt, sondern dass endlich etwas bei
den Beratungen herauskommt.
({1})
Wir haben im Ausschuss über die Zertifikate diskutiert. Herr Runde pflegt eine gute antikapitalistische
Grundhaltung. Er schimpft aber dann auf die Kleinkapitalisten. Das sind die Sparerinnen und Sparer, das sind
Ihre Wählerinnen und Wähler, das sind die kleinen Leute,
die Sie meinen zu vertreten. Das von Ihnen geführte Finanzministerium tut für diese Menschen im Zweifelsfall
gar nichts. Ich möchte, dass die SPD-Fraktion nicht nur
große Ankündigungen macht, sondern wirklich etwas unternimmt. Jetzt haben Sie Zeit dazu, etwas zu tun. Ich fordere Sie auf, konkrete Vorschläge zu unterbreiten. Dazu
habe ich von Ihnen heute nicht viel gehört.
({2})
Der Zertifikatemarkt, der in den vergangenen Jahren
stark gewachsen ist, ist ein ganz besonderes Beispiel.
Daran sieht man wieder, dass es wichtig wäre, dass die
BaFin etwas unternimmt. Herr Dautzenberg, da habe ich
jetzt die Gelegenheit, auf Ihren Beitrag einzugehen. Es
wäre wichtig, die entsprechenden Grundlagen zu schaffen, damit die BaFin die Prospekte auch inhaltlich prüft.
All diese Punkte sind in unserem Antrag enthalten. Ich
meine, es gibt die Spitze des Eisbergs; das sind die
Leute, die konkret durch die Pleite etwa von Lehman
Brothers geschädigt worden sind. Darüber hinaus müssen wir uns aber auch mit den laufenden Verlusten der
Leute beschäftigen, die schlecht beraten worden sind
und zu denen die Zertifikate, die ihnen aufgedrückt worden sind, nicht gepasst haben.
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit bereits eine
halbe Minute überschritten.
Ich hoffe, dass das nächstes Mal gelingt. Sie werden
unseren Antrag heute ablehnen, aber die Verantwortung,
etwas in diesem Bereich zu unternehmen, werden Sie
nicht los.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Marianne Schieder, SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Herr Dr. Schick, ich möchte zunächst
einmal feststellen, dass die Bundesregierung auf die Finanzmarktkrise nicht nur schnell und effizient reagiert
hat, sondern mit den getroffenen Maßnahmen gerade im
Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher bereits
Wesentliches auf den Weg gebracht hat.
Ich meine, dass die Garantieerklärung zugunsten der
Sparerinnen und Sparer zum richtigen Zeitpunkt abgegeben worden ist. Damit wurden nicht nur Panikreaktionen
verhindert, sondern damit wurde auch neues Vertrauen
aufgebaut. Nun steht für alle Inhaberinnen und Inhaber
von Spar- und Girokonten, von Sparbriefen und von Tages- und Festgeldanlagen bei Banken mit Sitz in
Deutschland fest, dass ihnen kein Euro verloren geht.
Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz und die Finanzmarktstabilisierungsfonds-Verordnung, liebe Frau Binder,
dienen eben nicht nur den Banken, sondern gerade auch
den Verbraucherinnen und Verbrauchern.
({0})
Sie wissen doch, dass damit im Interesse aller nicht nur
die Funktionsfähigkeit des Finanzmarktes stabilisiert
wurde, sondern auch der Wirtschaftskreislauf aufrechterhalten und Arbeitsplätze gesichert werden konnten.
({1})
Auch auf EU-Ebene und auf internationaler Ebene
wurden und werden Maßnahmen beraten, um die Finanzmarktkrise einzudämmen und dem künftigen Entstehen
von Finanzmarktkrisen vorzubeugen. Aus verbraucherpolitischer Sicht ist besonders der Beschluss der EUFinanzminister hervorzuheben, nach dem die Deckungssumme der gesetzlichen Einlagensicherung zum 30. Juni
2009 auf 50 000 Euro angehoben werden soll; ab dem
31. Dezember 2011 sollen dann sogar 100 000 Euro geschützt sein.
Ganz hervorragend angenommen wurde von sehr vielen verunsicherten Verbraucherinnen und Verbrauchern
die vom BMELV finanzierte und für die Nachfragenden
kostenlose Telefonhotline der Verbraucherzentralen.
Entsprechend dem Bedarf wird sie auch über den zunächst geplanten Zeitraum von vier Wochen hinaus weiterhin zur Verfügung stehen. Mithilfe dieser Hotline
können wir genau herausfinden, wo es hakt, wo im Sinne
des Verbraucherschutzes nachgebessert werden muss
und wo Information und Beratung nicht gut funktionieren.
Die Bundesregierung ist, über dieses Krisenmanagement hinaus, inzwischen auch auf dem Wege, zusätzliche verbraucherpolitische Maßnahmen einzuleiten und
vorzubereiten. Heute ist schon angesprochen worden,
dass die kurzen kapitalmarktrechtlichen Verjährungsvorschriften an die Verjährungsvorschriften des Allgemeinen Schuldrechts angepasst werden sollen.
Derzeit verjähren Ansprüche wegen fehlerhafter Anlageberatung, falscher oder unterlassener Mitteilung von
Insiderinformationen und unrichtiger Verkaufsprospekte
bereits ein Jahr nach Kenntnis und spätestens drei Jahre
nach dem Pflichtenverstoß. Anleger erhalten häufig jedoch erst später Kenntnis von ihren berechtigten Ansprüchen; das ist übrigens auch im Zusammenhang mit
den Lehman-Anlagen zu beobachten. Deshalb sollen die
kurzen kapitalmarktrechtlichen Verjährungsvorschriften
im Sinne des Schuldrechts so verändert werden, dass
man ab Kenntnis drei Jahre, höchstens aber zehn Jahre
Zeit hat, um Ansprüche durchzusetzen. Dies halten wir
seitens der SPD-Fraktion für absolut geboten.
({2})
Intensiv geprüft wird auch, ob die Beweislast, dass
über die Risiken einer Kapitalanlage ordentlich und richtig aufgeklärt wurde, im Sinne einer Beweislastumkehr
auf den Anlageberater verlagert werden kann. Auch dies
wird seitens der SPD-Verbraucherpolitikerinnen und
-Verbraucherpolitiker nachhaltig unterstützt.
Es geht uns um eine wesentliche Verbesserung der Informations- und Dokumentationspflichten von Banken
und Beratern. Diese sollen ihre Kunden deutlich darauf
hinweisen müssen, wenn bestimmte Produkte nicht ihrem Risikoprofil entsprechen. Sie sollen begründen und
dokumentieren müssen, weshalb eine bestimmte Anlageempfehlung ausgesprochen wurde. Treffen die Kunden Entscheidungen entgegen dem Rat des Beraters,
muss auch darauf deutlich hingewiesen werden, zum
Beispiel in Form einer gesonderten Unterschrift; es
reicht nicht aus, lediglich ein Häkchen hinter einem
Kästchen zu machen, in dem „besonderer Kundenwunsch“ steht. Die Informationen müssen verständlich
und vergleichbar formuliert werden, sind vom Kunden
zu unterschreiben und müssen ihm auch ausgehändigt
werden.
Wir wollen die Regelung treffen, dass alle Finanzvermittler zukünftig einen Mindeststandard an Befähigungsnachweisen erbringen und eine Berufshaftpflichtversicherung nachweisen müssen. Es wird intensiv
geprüft, wie die Verbraucherberatung und die Arbeit der
Verbraucherzentralen gestärkt werden können. Denn es
ist natürlich klar, dass gut informierte und gut beratene
Verbraucherinnen und Verbraucher sicherlich besser davor geschützt sind, riskante Anlagen zu tätigen oder
überteuerte Kreditverträge zu unterschreiben, und dass
gut beratene Verbraucherinnen und Verbraucher auch
ihre Rechte besser geltend machen können.
Uns gefällt der Vorschlag der Verbraucherzentrale
Bundesverband gut, einen Finanzmarktwächter einzusetzen, weil mit einem solchen Instrumentarium der Finanzmarkt sicherlich gut in den Blick genommen werden kann und dort auftauchende Produkte kritisch
beleuchtet werden können. So kann rechtzeitig auf problematische Entwicklungen hingewiesen werden.
Wir brauchen gerade in diesem Bereich nicht nur gute
Vorschläge, sondern auch realistische Finanzierungskonzepte; denn ohne zusätzliche Mittel wird die Verbraucherberatung diesen zusätzlichen Aufgaben nicht gerecht werden können. Die Länder sind einmal mehr
gefordert, die nötigen Finanzmittel zur Verfügung zu
stellen, damit Schuldnerberatungsstellen ihre Dienste
zeitnah und flächendeckend anbieten können. Es bedarf
auch einer Stärkung der Allgemeinbildung in Sachen
Finanzen - so möchte ich es einmal zusammenfassen -,
insbesondere an den Schulen und in der Erwachsenenbildung.
Sie sehen also, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen und von der Linken: All das, was an Sinnvollem in Ihren Anträgen steht, ist entweder bereits auf
den Weg gebracht
({3})
oder wird intensiv geprüft, und das wissen Sie auch;
denn wir haben darüber im Verbraucherschutzausschuss
schon ausführlich diskutiert.
({4})
Wir haben dort bereits am 12. November eine Anhörung
dazu beschlossen.
({5})
Wegen der Komplexität der Materie und der nicht unerheblichen finanziellen Folgen, die bei den meisten
Vorschlägen zu berücksichtigen sind, gilt für uns in diesem Bereich der Grundsatz: Gründlichkeit vor Eile.
Schnellschüsse, Populismus und Aktionismus werden
uns da nicht weiterhelfen.
Ich habe eine herzliche Bitte: Nutzen wir die Anhörung, die wir gemeinsam beschlossen haben, um mit allen Beteiligten die aufgeworfenen Fragen und Forderungen in der gebotenen Sorgfalt zu diskutieren! Ich bin mir
sicher, dass wir dabei sowohl für die Verbraucherinnen
und Verbraucher als auch für das Finanzwesen zu vernünftigen und realisierbaren Lösungen kommen können.
Jetzt danke ich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11185 - Tagesordnungspunkt 38 a - an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie
an den Rechtsausschuss und an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie vorgeschlagen, wobei der Finanzausschuss in der Beratung federführend sein soll.
Die Vorlage auf Drucksache 16/11205 - Tagesordnungspunkt 38 b - soll an dieselben Ausschüsse überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Zusatzpunkt 11: Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Schutz der Anlegerinnen und Anleger bei Zertifikaten stärken“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11226
- die Drucksache 16/11279 enthält den Bericht des Finanzausschusses -, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/5290 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Wohngeldgesetzes
- Drucksachen 16/10812, 16/10999 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({0})
- Drucksache 16/11229 Berichterstattung:
Abgeordneter Patrick Döring
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/11235 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Königshofen
Dr. Frank Schmidt
Dr. Claudia Winterstein
Roland Claus
Anna Lührmann
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Die Kolleginnen und Kollegen haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben. Es sind dies Sören Bartol, SPD,
Patrick Döring, FDP, Gero Storjohann, CDU/CSU,
Dorothée Menzner, Die Linke, Jörg Vogelsänger, SPD,
Bettina Herlitzius, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Wohngeldgesetzes. Der Ausschuss für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/11229, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung - das sind die Drucksachen 16/10812 und
16/10999 - in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
dritter Beratung ebenfalls mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a und 41 b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Uschi Eid, Nicole Maisch, Rainder
Steenblock, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Internationales Jahr für sanitäre Grundver-
sorgung 2008 der Vereinten Nationen - Chan-
cen und Potentiale der Sanitärversorgung
- Drucksachen 16/9387, 16/10922 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Uschi Eid, Marieluise Beck ({2}), Volker
Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sanitäre Grundversorgung international verbessern
- Drucksache 16/11204 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Dr. Uschi Eid, Bündnis 90/Die Grünen.
1) Anlage 3
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Es ist gut, dass sich der Deutsche Bundestag am
Ende des Internationalen Jahres der sanitären Grundversorgung heute mit dem Problem befasst. Es geht um die
Probleme, die zu lösen sind, um der Verknappung des
Wassers als einer zukünftigen Herausforderung des
Blauen Planeten entgegenzuwirken.
Der Deutsche Bundestag hat mit seiner gemeinsamen
Entschließung vom September 2006 dieses Internationale Jahr unterstützt und damit klargemacht, dass wir
Abgeordneten nicht bereit sind, hinzunehmen, dass immer noch 2,5 Milliarden Menschen ohne ordentliche
Toiletten und Abwasserentsorgung leben.
({0})
Wir erwarten von den betroffenen nationalen Regierungen und von der Bundesregierung im Rahmen ihrer internationalen Kooperation entschlossenes Handeln. Dafür sind vier Gründe zu nennen.
Erstens. Sanitärversorgung ist unerlässlich für die
menschliche Gesundheit und ein gesundes Wohnumfeld.
Jedes Jahr werden mehr als 200 Millionen Tonnen
menschlicher Ausscheidungen unbehandelt in die Umwelt entlassen und setzen Millionen Menschen Krankheitserregern aus. Besonders für Kinder sind die Folgen
verheerend. Täglich sterben circa 4 000 Kinder an
Durchfallerkrankungen, die hauptsächlich auf verunreinigtes Trinkwasser und mangelnde Hygiene zurückzuführen sind.
Zweitens. Sanitärversorgung ist eine wichtige Voraussetzung für Geschlechtergerechtigkeit und Bildung. Aufgrund von fehlenden, nicht abschließbaren oder nicht geschlechtergetrennten Toiletten verlassen viele Mädchen
bereits bei Erreichen der Pubertät die Schule und erlangen keinen Schulabschluss. UNICEF hat zum Beispiel in
Bangladesch eine Kampagne durchgeführt und alle
Schulen mit getrenntgeschlechtlichen Toiletten versorgt.
Siehe da: Innerhalb kurzer Zeit ist die Quote der Schülerinnen um 10 Prozent gestiegen, die in der Schule geblieben sind und ihren Abschluss gemacht haben.
Drittens. Sanitärversorgung trägt zur Würde und Sicherheit von Menschen bei. Ein Leben in Würde ist
kaum möglich, wenn man sich in der Öffentlichkeit erleichtern muss, halb hinter einem Busch oder in einer
dunklen Häuserecke verborgen. Ein stilles Örtchen zu
haben, bedeutet gerade für Frauen und Mädchen auch
mehr Sicherheit. Es schützt sie vor sexueller Gewalt, der
sie häufig ausgesetzt sind, wenn sie im Dunkeln teils
weite Strecken zu entlegenen Stellen laufen, um ihre
Notdurft zu verrichten. Vor diesem Problem dürfen wir
nicht länger die Augen verschließen. Wir müssen Abhilfe schaffen.
({1})
Viertens. Sanitärversorgung schützt wichtige Trinkwasserressourcen. In Entwicklungsländern werden 90 Prozent der Abwässer ungeklärt in den Boden, in Flüsse und
ins Meer geleitet. Dass dadurch Trinkwasserquellen und
das Grundwasser verschmutzt werden und die nachhaltige Verfügbarkeit von sauberem Trinkwasser gefährdet
ist, bedeutet schlichtweg den schleichenden Tod für
Menschen und Natur.
Es wird oft übersehen, dass Sanitärversorgung wirtschaftliche Vorteile bringt. Alle Finanzminister in den
Entwicklungsländern müssen hiervon überzeugt werden.
Denn jeder in die Wasser- und Sanitärversorgung investierte Dollar erbringt nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation und von UNICEF einen im Durchschnitt achtfachen volkswirtschaftlichen Gewinn. Von
einer solchen Rendite können Unternehmen nur träumen.
Umso wichtiger ist es, das Thema international voranzutreiben. Deutschland fällt eine besondere Verantwortung zu. Denn schließlich war die damalige rot-grüne
Bundesregierung als Gastgeber und Initiator der Internationalen Süßwasserkonferenz in Bonn 2001 eine treibende Kraft dafür, dass das Millenniumsentwicklungsziel zur Sanitärversorgung auf dem Weltgipfel für
Nachhaltige Entwicklung in Johannesburg 2002 nachträglich in den Katalog der Millenniumsentwicklungsziele aufgenommen wurde.
Auch die jetzige Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große Anfrage meiner Fraktion die Trinkwasser- und Sanitärversorgung als wichtigen Faktor für
die Armutsbekämpfung anerkannt und die Hauptursachen für die Vernachlässigung des Sanitärbereiches richtig identifiziert. Dabei ist die Tabuisierung des Themas
ein ganz wichtiger Punkt. Jedoch hat die Bundesregierung selbst zu wenig getan, um diesen Ursachen zu begegnen. Mit dem von uns eingebrachten Antrag fordern
wir die Bundesregierung auf, ihren Kurs zu korrigieren
und der sanitären Grundversorgung einen neuen Impuls
in ihrer internationalen Politik zu geben.
({2})
Ich gebe das Wort der Kollegin Sibylle Pfeiffer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auf Cocktailpartys redet jeder über Aids. Aber keiner will etwas über Durchfallerkrankungen hören.
Dies, liebe Freunde, ist ein Zitat von John Oldfield,
Vizepräsident der US-Kampagne „water advocates“.
Worüber reden wir hier? Wir reden tatsächlich über ein
Tabuthema. Deshalb ist es wunderbar, dass wir das tun,
was, glaube ich, zwingend notwendig ist, nämlich Öffentlichkeit herstellen. Uns ist es gelungen, das Thema
Aids gesellschaftsfähig zu machen, weil wir es in die Öffentlichkeit gebracht haben, weil wir uns trauen, es hier
im Parlament zu diskutieren. Deshalb, glaube ich, ist es
allerhöchste Zeit, dass wir über die in Rede stehende
Thematik sprechen; denn hier besteht Handlungsbedarf.
({0})
Nicht nur in der Entwicklungszusammenarbeit an
sich hat das Thema „sanitäre Grundversorgung“ nicht
unbedingt die erste Priorität. Die NGOs kümmern sich
relativ wenig darum. In Regierungsverhandlungen passiert insoweit eigentlich eher nichts. Auch unsere Durchführungsorganisationen sehen in der sanitären Grundversorgung nicht die erste Priorität.
({1})
Deshalb wiederhole ich: Was wir hier tun, ist unerlässlich. Wir stellen Öffentlichkeit her. Das heißt, wir
wecken auch Interesse.
({2})
Über eines, liebe Freunde, müssen wir ab und zu
nachdenken. Baden, Duschen, Händewaschen, Zähneputzen, das ist für uns etwas völlig Normales und Selbstverständliches; es ist jederzeit möglich. Es ist für uns
nicht nachvollziehbar, dass das nicht auf der ganzen
Welt der Fall ist. Es gibt 1,1 Milliarden Menschen ohne
Wasserversorgung. 2,5 Milliarden Menschen sind ohne
sanitäre Grundversorgung, davon sind im Übrigen mindestens 1,5 Milliarden Kinder. Was machen diese Menschen? Uschi Eid hat es eben schon gesagt: offene Latrinen, Eimer oder einfach gar nichts.
Stellen Sie sich einmal das Zusammenleben in den
Slums der Megacitys ohne Wasserversorgung, ohne sanitäre Grundversorgung vor. Das ist eine Katastrophe für
alle Beteiligten.
Eigentlich sollten wir doch wissen, worüber wir reden; denn auch bei uns waren Typhus und Cholera an der
Tagesordnung, solange wir keine Kanalisation hatten.
Als wir geboren wurden, gab es bei uns eine Kanalisation. Aber das war viele Jahrhunderte lang nicht so.
Typhus und Cholera waren an der Tagesordnung. Die
Lebenserwartung der Menschen ist, seitdem es eine Kanalisation bei uns gibt, um 30 Jahre gestiegen. Davon
gehen mindestens 25 Jahre auf die vorhandene sanitäre
Grundversorgung zurück.
Es geht hier um das Thema Prävention. Prävention ist
eigentlich genau unser entwicklungspolitischer Ansatz:
Wir müssen handeln, bevor irgendetwas passiert.
({3})
Baden, Duschen, Händewaschen und Zähneputzen zu
jeder Zeit, wann immer man will - ich finde, das ist kein
Luxus; vielmehr ist das die Grundvoraussetzung für ein
gesundes, lebenswertes Leben.
Es geht auch um Armutsbekämpfung. Nicht umsonst
ist dieses Thema, die Halbierung der Armut, auch Gegenstand der MDGs.
Es geht ferner darum, die Kindersterblichkeit zu verringern, und es geht um die Müttergesundheit. Liebe
Kolleginnen, ich war im Fistola-Krankenhaus in Äthiopien. Glücklich sind die Frauen, die in diesem Fistola-Krankenhaus behandelt und operiert werden können. Aber wehe denen, die diese Möglichkeit nicht
haben. Welch Elend ist es für eine Frau, wenn es keine
Grundversorgung im sanitären Bereich für sie gibt. Das
ist fürchterlich für sie. Auch das, denke ich, sollte uns
daran erinnern, wie wichtig es für die Menschen ist, über
bestimmte Voraussetzungen zu verfügen, um mit ihren
Krankheiten umzugehen.
Deutschland engagiert sich. Wir haben gemeinsam
die Initiative zur Ausrufung des Jahres 2008 zum Internationalen Jahr der sanitären Grundversorgung unterstützt. Auch für unsere Fraktion ist das eine wichtige
Forderung. Die Bundesregierung erfüllt bereits einen
Großteil der im Antrag enthaltenen Forderungen. Circa
350 Millionen Euro werden jedes Jahr vom BMZ für
Wasserversorgung und Abwasserentsorgung zur Verfügung gestellt. Wir müssen in Zukunft darauf achten
- vielleicht ist das eine wichtige Voraussetzung für künftige Verhandlungen -, dass parallel zu Trinkwasserprojekten Abwasserprojekte realisiert werden.
({4})
Genauso wie in allen anderen Bereichen der Entwicklungspolitik können wir das alles nicht ohne unsere Partner machen. Wir reden ständig von den Prioritäten - was
hat erste, zweite und dritte Priorität? - in der Entwicklungspolitik. Wir selber wissen aber manchmal nicht,
was Priorität hat. Es ist auf jeden Fall unsere Aufgabe,
gemeinsam mit unseren Partnern über dieses Thema zu
diskutieren und sie darauf aufmerksam zu machen, dass
wir uns hier im Bereich der Prävention und zum Glück
nicht unbedingt im Bereich der Therapie befinden.
Ich möchte mit einem Zitat schließen: „Welcher Politiker lässt sich schon bei der Einweihung einer Latrine
von der Presse begleiten?“ Alle dürfen raten, von wem
dieses Zitat stammt. - Dieses Zitat stammt von unserer
lieben Kollegin Uschi Eid. Das gilt nicht nur für die
Politiker in den Entwicklungsländern, sondern auch
- man möge mir das verzeihen - für uns. Ich gebe zu:
Eine Schule oder ein Kindergarten für Aidswaisen ist
mir hundertmal lieber als irgendeine Latrine. Trotzdem
ist die sanitäre Grundversorgung ein wichtiges Thema.
Wir sollten uns dessen annehmen.
Ich bin mir nicht sicher, wie wir mit dem vorliegenden Antrag weiter verfahren sollen.
({5})
Ich bin aber durchaus bereit, in konstruktive Diskussionen einzutreten, um es vorsichtig zu formulieren.
({6})
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Hellmut Königshaus, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mir fällt gerade ein, dass auch ich schon einmal eine
Toilettenanlage in Indien eingeweiht habe, und zwar mit
Presse, aber ohne praktischen Gebrauch. Ich habe lediglich ein Band durchschnitten. Damals haben wir darüber
gewitzelt. In der Tat ist dieses Thema weitestgehend tabuisiert. Deshalb sage ich ganz offen: Wir sind den Grünen und insbesondere Ihnen, Frau Dr. Eid, sehr dankbar,
dass sie das Thema aufgegriffen haben.
Dieses Thema ist uns in Deutschland nicht mehr so
sehr im Bewusstsein. Ich erinnere mich an Freiburg, wo
ich studiert habe. Dort gibt es Bächle, kleine Kanäle,
durch die früher das Abwasser entsorgt wurde. Heute
sind sie eine Touristenattraktion, weil durch sie klares
Wasser fließt. Aber solche Bedingungen haben wir auch
bei uns teilweise erst seit wenigen Jahrzehnten. Wir haben uns so sehr an eine funktionierende Sanitärversorgung gewöhnt, dass wir die Probleme in anderen Ländern aus den Augen verloren haben.
Dabei betrifft dieses Problem ein Drittel der Menschheit. Laut WHO sind es nicht 2,5 Milliarden Menschen,
wie es im Antrag der Grünen steht, sondern 2,6 Milliarden. Natürlich kann man sagen, dass diese Zahl fast genauso hoch ist. Aber das ist ein Unterschied von
100 Millionen Einzelschicksalen. Das ist die Dimension,
um die es hier geht.
Ich will die richtigen Begründungen sowohl von Frau
Dr. Eid als auch der Kollegin Pfeiffer nicht wiederholen.
Es ist völlig klar: Wir brauchen dringend eine Aufklärungskampagne, damit ein entsprechendes Bewusstsein
vor Ort überhaupt erst geschaffen wird. Ein Problem in
unserer Entwicklungszusammenarbeit ist, dass wir das,
was wir vor Ort tun wollen, im Wesentlichen auf der Basis von Regierungsverhandlungen sowie Forderungen
und Vorstellungen unserer Partner entwickeln. Die Partner vor Ort entwickeln leider nur sehr selten eine Fantasie dafür, wie die Mehrheit der Menschen in diesen Ländern tatsächlich lebt. Die Führungscrew in diesen
Ländern ist oftmals ein bisschen abgehoben und übersieht die wirklichen und ernsthaften Probleme.
Dieses Thema berührt uns selbst; denn die Krankheiten, die in diesen Ländern immer wieder ausbrechen
- das wurde eben schon gesagt -, kommen zu uns zurück. Viele weltweite Seuchen, die uns unmittelbar bedrohen - sei es im Urlaub oder sei es dadurch, dass Besucher oder Touristen zu uns kommen -, haben ihre
Ursachen in den genannten Problemen. Deshalb ist, wie
gesagt, dort eine Aufklärungskampagne notwendig.
Aber auch wir müssen sehen, dass wir bei der Implementierung unserer eigenen Entwicklungsprojekte daHellmut Königshaus
rauf Rücksicht nehmen. Ich erinnere an das Projekt in
Herat, Afghanistan. Dort haben wir sehr viel für die
Wasserversorgung getan. Man hat die Brunnengalerien
aus der Stadt herausgelegt, weil das sonst in der Innenstadt zu ungünstigen Verhältnissen geführt hätte. Außerhalb der Stadt sind aber jetzt Hunderttausende von
Flüchtlingen, die sich in Zelten und in Bruchbuden ohne
Sanitärversorgung über den Brunnengalerien niedergelassen haben. Jetzt haben wir genau das Problem, das wir
mit unserem Projekt vermeiden wollten. Die Anlagen
müssen jetzt mit hohem finanziellen Aufwand verlegt
werden. Wir müssen also auch dort Fantasie entwickeln.
Wir müssen uns eines immer wieder vor Augen führen,
wenn wir irgendwo, wie in Herat, solche Brunnen bauen:
Wir müssen den örtlich Verantwortlichen klarmachen,
dass diese Brunnen freigehalten werden müssen, weil
sonst nur die eigenen Fäkalien wieder hochgepumpt und
die Probleme produziert werden, die eigentlich vermieden werden sollen.
Dass Wasserversorgung auch etwas mit Hygiene zu
tun hat, ist vollkommen klar. Deshalb sind alle Akteure
gefragt. Ich sagte, dass die Probleme der Entwicklungsländer und der sich entwickelnden Länder aus unserem
Bewusstsein geschwunden sind. Aber auch wir in
Deutschland übersehen manchmal, was an unseren
Schulen los ist. Wer in Berlin eine Schultoilette besucht,
wird manchmal an Verhältnisse erinnert, die er an anderen Orten gesehen hat, und wird kaum glauben, dass
diese Toilette hier bei uns steht.
({0})
Wir sollten das also von allen Seiten betrachten.
Ich will noch ein Beispiel herausgreifen, an dem sich
zeigt, dass wir massiv tätig werden müssen und dass
auch das BMZ, Frau Staatssekretärin, gefordert ist. Simbabwe hat viele Probleme; das wissen wir. Es gibt aber
ein ganz konkretes Problem: Anstatt die zur Wasseraufbereitung erforderlichen Chemikalien, nämlich Aluminiumsulfat - das hat mir der Kollege Addicks gesagt -,
zu kaufen, was Devisen erfordert, hat man die Wasserversorgung eingestellt. Die logische Konsequenz waren
all die Probleme, die hier geschildert worden sind. Die
simbabwische Regierung verteilt jetzt als Gabe an die
„dankbare“ Bevölkerung kostenlos Särge. So darf dieses
Problem nicht gelöst werden.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({1})
Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin
Gabriele Groneberg.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, Herr Königshaus, ist
das letzte Beispiel gravierend. Zurzeit wütet die Cholera
in Simbabwe. Mindestens 500 Menschen sind daran
schon gestorben. Die Nichtregierungsorganisationen gehen sogar schon von über tausend Toten aus. Man empfindet Trauer und Wut, wenn man sich das im Fernsehen
anschauen muss und wenn man die Berichte darüber
hört. Die Probleme, die aus dem Umgang mit dieser Epidemie resultieren, sind hausgemacht. Wir wissen, dass
Simbabwe unter dem seit 1980 regierenden Präsidenten
Mugabe restlos zusammengebrochen ist. In dem ehemals reichen Land ist jetzt die Krankheit zum Ausbruch
gekommen, die ein sicheres Zeichen für Armut und Vernachlässigung ist.
Die Trinkwasserversorgung und das Kanalisationssystem in der Hauptstadt Harare sind komplett kollabiert - und das nicht erst seit gestern. Mich hat eigentlich
gewundert, dass die Cholera erst jetzt so massiv zum
Ausbruch kommt. Eine sanitäre Grundversorgung gibt
es nicht. Die Menschen trinken das Wasser, woher auch
immer sie es bekommen: aus verseuchten Brunnen, Wasserlöchern und Flüssen. Das ist deshalb so gefährlich,
weil die Erreger nicht einzudämmen sind und nicht vor
Grenzen haltmachen. Sie breiten sich schon jetzt in
Richtung Südafrika, Botswana und Sambia aus. Die Erreger der Krankheit, die in den Fäkalien zu finden sind
und die in die Flüsse und in das Meerwasser gelangen
sowie Fische und andere Nahrungsmittel kontaminieren,
führen zu vielen anderen Begleiterscheinungen, die sich
auch in anderen Ländern in der nächsten Zeit zeigen
werden.
Damit möchte ich zur Antwort der Bundesregierung
auf die Große Anfrage zum Thema sanitäre Grundversorgung überleiten. Auf Seite 2 der Vorbemerkung heißt
es, dass Entwicklungspolitik Hilfe zur Selbsthilfe leistet.
Wichtig sei die Stärkung der nationalen Handlungskapazitäten durch Strukturreformen; dies sei mittel- und langfristig der einzige Weg, diese Ziele nachhaltig zu erreichen. Bei sogenannten Failed States wie Simbabwe gibt
es diese Handlungskapazitäten nicht. Auch Bad Governance können wir als einen Grund identifizieren, warum
Menschen der Zugang zu sanitärer Grundversorgung
versagt ist.
Die Millenniumsentwicklungsziele sind bereits erwähnt worden - darauf brauche ich jetzt nicht weiter einzugehen -: Es ist in der Tat mangelndes Bewusstsein
auch bei uns, was uns den Umgang mit diesem Thema so
schwer macht.
({0})
Warum ist das eigentlich so? Wie die Kollegen schon
deutlich gesagt haben, sind Toiletten für uns eine Selbstverständlichkeit - selbst wenn wir uns manchmal schönere wünschen -; 42 Prozent der Menschen weltweit haben aber keine angemessene Toilette. Ich frage Sie, liebe
Zuhörerinnen und Zuhörer: Können Sie sich ein Leben
ohne Toilette eigentlich noch vorstellen? Ist Ihnen schon
einmal aufgefallen, dass Sie mehr als sechsmal am Tag
zur Toilette gehen?
({1})
Haben Sie schon einmal überlegt, wie viel Zeit Sie auf
dem stillen Örtchen verbringen?
({2})
- Der Kollege Hilsberg schüttelt sich vor Lachen. - Es
ist doch in der Tat so, dass man darüber erst dann nachdenkt, wenn die Probleme so gravierend sind, dass man
dazu gezwungen wird. Es sind mehr als drei Jahre des
Lebens - auch deines Lebens, lieber Kollege Hilsberg -,
die man auf der Toilette zubringt. Allein das zeigt uns,
wie wichtig diese Angelegenheit ist.
Wenn wir uns bewusst machen, dass die Menschen bei
uns zum Wegspülen von Fäkalien, also mit ihrer Toilettenspülung, im Laufe ihres Lebens ungefähr 50 000 Liter
Trinkwasser verschmutzen, dann ist klar: Auch für uns
wird sanitäre Grundversorgung letztendlich immer ein
Thema bleiben, und zwar in dem Maße, in dem Wasser
teuer und knapp ist.
Dass das Ganze auch etwas mit der Ungleichheit der
Geschlechter zu tun hat, fällt uns auf, wenn wir auf Reisen sind und kein stilles Örtchen in der Nähe ist. Die von
Sibylle Pfeiffer geschilderten Probleme betreffen vor allen Dingen die jeweiligen Frauen und Mädchen, und das
in einer Art und Weise, die wirklich gravierend ist, weil
die menschliche Würde verletzt wird.
Die Einsicht in die Notwendigkeit haben wir auch international zum Ausdruck gebracht; ich verweise auf
das, was in den MDGs festgelegt ist. Ich muss sagen:
Uschi Eid, da gebührt auch dir Dank. Die deutsche entwicklungspolitische Zusammenarbeit ist in diesem Bereich sehr gut aufgestellt. Liebe Sibylle Pfeiffer, ich
möchte dir ein bisschen widersprechen: Es ist durchaus
so, dass unsere Durchführungsorganisationen dafür ein
Bewusstsein haben.
({3})
- Okay, es ist nicht prioritär.
Im Rahmen meiner Beschäftigung mit diesem Thema
habe ich mir erst einmal angeschaut, was wir in diesem
Bereich machen. Es ist natürlich eine gute Idee, eine
Verbindung zwischen Trinkwasserversorgung und sanitärer Ver- bzw. Entsorgung herzustellen. Ich wiederhole:
Uschi Eid gebührt Dank dafür, dass sie sich in diesem
Bereich seit Jahren massiv engagiert.
Unsere Konzepte im Bereich der sanitären Grundversorgung überschneiden sich mittlerweile mit Konzepten
im Bereich der erneuerbaren Energien. Die Konzepte in
beiden Bereichen müssen nachhaltig, ressourcenschonend und zielgruppenorientiert ausgerichtet sein, um einen dauerhaften Nutzen erzielen zu können. Wichtig ist
vor allen Dingen ihre dezentrale Einsetzbarkeit, die wir
hier immer wieder im Hinblick auf die ländliche Entwicklung fordern.
Es gibt weitere Punkte, an denen sich diese beiden
Bereiche berühren: Man kann Fäkalien, etwa Urin, nicht
nur als Abfall, sondern auch als Biomasse zum Betreiben von Biogasanlagen ansehen.
({4})
Da setzt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in
vorbildlicher Art und Weise an: Wir setzen auf ökologisch nachhaltige Kreislaufsysteme.
({5})
Dem wird auch mit dem Sektorkonzept „ecosan“ Rechnung getragen.
({6})
- Richtig: vorbildlich, weltweit. - Das ist einfach ein
Kennzeichen einer neuen Ausrichtung der sanitären
Grundversorgung, die man in den Entwicklungsländern
übernehmen sollte.
Der Ansatz, den wir dort verfolgen, berücksichtigt die
lokalen Gegebenheiten und trägt dazu bei, die Sanitärsysteme bedarfsgerecht zur Verfügung zu stellen. Der
Bereich Biomasse wird einen großen Teil des künftigen
Konzepts ausmachen; denn die Versorgung mit Energie
ist heute wichtiger denn je. Viele Projekte sehen mittlerweile die Nutzung von Gas aus der Klärgrube zum Heizen oder Kochen vor.
Wir haben gerade über Entwicklungsorganisationen
geredet. Ein gutes Beispiel ist BORDA in Bremen. Diese
Organisation leistet eine hervorragende Arbeit; ich habe
mir das bei verschiedenen Gelegenheiten anschauen
können. Was BORDA erreicht, sollten wir im Hinterkopf behalten.
Ich halte fest: Kreislaufsysteme erscheinen als eine
perfekte Möglichkeit, die Lösung zweier Probleme zu
verbinden.
Wir müssen uns trotzdem kritisch fragen, ob unsere
Lösungsansätze im Sanitärbereich für unsere Partner in
der Entwicklungszusammenarbeit richtig sind, ob wir die
Kultur und die Eigenarten der Länder und der Bewohner
wirklich ausreichend berücksichtigen. Viele Konzepte
sind in der Vergangenheit genau daran gescheitert. Andere Länder - andere Standards, kann ich da nur sagen.
Unsere Konzepte sind offensichtlich nicht so einfach auf
andere Länder zu übertragen. Es fehlt an Infrastruktur
und an Wissen zum Betrieb und zur Abrechnung sowie
vieles andere.
Wenn wir leitungs- und nicht leitungsgebundene Wasserversorgungs- und Basissanitärsysteme ausbauen und
erneuern, ist es auch wichtig, beim Aufbau von Verwaltungsstrukturen mitzuhelfen,
({7})
Wartungs- und Reparatursysteme einzuführen, die Menschen vor Ort einzubinden und ihnen zu sagen, warum
wir das machen und warum das wichtig ist, damit sie das
annehmen. Was nutzt eine tolle Sanitäranlage in irgendeinem Slum, die von den Menschen nicht benutzt
wird, weil sie nicht wissen, wie sie damit umzugehen haben? Darum ist die Aufklärung und die Bewusstseinsbildung der Bevölkerung ein ganz wichtiger Punkt.
Ich freue mich, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen, dass Sie mir mit Ihrer Großen Anfrage an
die Bundesregierung Gelegenheit gegeben haben, aufzuzeigen, welchen Stellenwert mittlerweile für uns die
Trinkwasser- und Sanitärversorgung gerade im Zusammenhang mit der Armutsbekämpfung hat. Ich muss allerdings auch sagen: Dass Sie nach Vorlage der Antworten in Ihrem Antrag schreiben, die Bundesregierung
habe zu wenige Maßnahmen zur Beseitigung der Ursachen ergriffen, ist nicht wirklich überzeugend.
Wir sind dabei. Die Umsetzung - das wissen Sie selber - dauert selbst bei Vorlage eines Konzepts ein paar
Jahre, bis man die Mittel vor Ort in Projekte einbinden
kann. Wir werden natürlich die Zeit haben, uns bei der
Beratung des Antrages im Ausschuss noch darüber zu
verständigen, wie wir damit umgehen. Ich würde es
wirklich begrüßen, wenn wir hier fraktionsübergreifend
zu einer Einigung kommen könnten und wenn wir hier
öfter darüber reden könnten, gerade auch zu einer guten
Zeit wie heute Mittag. Ich glaube, unsere Bevölkerung
ist in vielen Fällen nicht unbedingt informiert, weil die
sanitäre Grundversorgung in der Tat ein Tabuthema ist.
Insofern ist es schön, dass wir darüber geredet haben,
aber wir sollten nicht nur darüber reden, sondern auch
eine Menge tun.
({8})
Insofern danke ich für Ihr Interesse.
({9})
Das Wort hat der Kollege Hüseyin Aydin, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Simbabwe ruft den Notstand aus, Tausende Menschen seien
bereits an Cholera gestorben, mehr als 12 000 Menschen
seien infiziert. Der Grund: kein sauberes Wasser.
Der Zugang zu Wasser ist ein Menschenrecht. Weltweit steht genügend Wasser zur Verfügung. Ob es jedoch
sauber und trinkbar ist und wie es verteilt wird, hat mit
dem sozialen Gefälle in der Gesellschaft zu tun, aber
auch mit dem Handeln der Regierungen. Das Recht auf
Wasser ist unteilbar mit dem Recht auf sanitäre Grundversorgung verbunden. Was würden wir tun, wenn wir
erst einmal eine halbe Stunde aus dem Dorf herauslaufen
müssten, um uns hinter irgendeinen Busch zu hocken?
({0})
Im subsaharischen Afrika sind es zwei von drei Menschen, die unter solch menschenunwürdigen Bedingungen leben.
Alle 20 Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an
einfachen Erkrankungen wie Durchfall. Bei schlechter
Abwasserbehandlung kommt es zu Cholera- und Ruhrepidemien, wie in Simbabwe. In Lusaka, der Hauptstadt
von Sambia, leben 70 Prozent der Bevölkerung in informellen Siedlungen am Stadtrand. Hier greifen die Menschen auf die einfachsten Mittel zurück, wie die der
„fliegenden Toiletten“: Man macht in eine Plastiktüte
und wirft sie dann auf der Straße weg. Die Gefahr der
Ansteckung ist enorm.
Die Probleme der sanitären Grundversorgung betreffen vor allem Mädchen und Frauen. Mangelnde Privatsphäre und Scham führen oft zu einer langen Verschleppung von Klogängen und so zu Erkrankungen. Viele
Mädchen besuchen mangels Toiletten keine Schulen;
Frau Eid wies bereits darauf hin. Ein Teufelskreis aus
schlechten sanitären Verhältnissen, mangelnder Bildung,
Krankheit und Armut!
Von der Erreichung des UN-Millenniumsziels, die
Zahl der Menschen ohne Zugang zu Wasser und Abwasserentsorgung zu halbieren, sind wir weit entfernt. Pro
Sekunde muss mehr als eine Toilette gebaut werden. Nur
etwa 10 Prozent der Abwässer werden in den Entwicklungsländern geklärt. Es gibt kaum Kanalisation. Die
Grünen sprechen also mit ihrem Antrag ein notwendiges
Thema an. Viele von den dargelegten Forderungen können wir nur unterstützen.
Ich möchte jedoch noch auf einige Punkte hinweisen:
Der von Ihnen angesprochene Evian Actions Plan der
G 8 von 2003 setzt bei Wasserver- und -entsorgung auch
auf private Versorger. Private Versorger und Investitionen im Wassersektor haben in vielen Entwicklungsländern bereits zu katastrophalen Verhältnissen geführt. Es
gibt Beispiele von unbezahlbaren Wasser- und Anschlusspreisen, was in Cochabamba in Bolivien zum
Aufstand geführt hat.
Wir brauchen dezentrale und technisch einfache Lösungen. Sanitärkonzepte müssen, wie auch Sie ganz
richtig sagen, mit Konzepten in der Landwirtschaft und
im Energiebereich zusammengeführt werden. Hier ist
viel Potenzial für Biogasanlagen und für Düngeversorgung. Der Bedarf ist enorm. Diese Konzepte bringen
kein Geld. Aber sie bedeuten Lebensqualität und Würde
für die Menschen vor Ort. Darum geht es uns.
Wir unterstützen den Antrag der Grünen, und wir
werden die Umsetzung der Bundesregierung sehr genau
beobachten, weil der Zugang zu Wasser ein Menschenrecht ist. Auch wenn die Bundesregierung mit
350 Millionen Euro im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit die Verhältnisse zu verbessern versucht
- uns wurden bei unseren Besuchen bereits positive Beispiele gezeigt -, bedarf es hier vermehrter Anstrengungen.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11204 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 42 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ina Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bessere Vereinbarkeit von Familie und Dienst
in der Bundeswehr
- Drucksachen 16/8241, 16/10376 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 2005 ist
das Soldatinnen- und Soldatengleichstellungsgesetz in
Kraft getreten mit der Forderung nach familiengerechten
Arbeitszeiten und Rahmenbedingungen und natürlich
mit dem Benachteiligungsverbot bei Teilzeitbeschäftigung. Das muss seit dieser Zeit von der Bundeswehr umgesetzt werden.
2001 hat Tanja Kreil vor dem Europäischen Gerichtshof das Recht erstritten, die erste Soldatin der Bundeswehr zu sein. Schon damals hätte sich die rot-grüne Bundesregierung auf den Weg machen können, Soldatinnen
mit attraktiven Angeboten anzuwerben. Das war aber
von der damaligen Bundesregierung nicht gewollt. Alle
Anträge der FDP-Bundestagsfraktion auf Öffnung der
Bundeswehr für Frauen wurden abgelehnt.
Nun haben wir sie seit Jahren, die qualifizierten
Frauen in der Bundeswehr. Doch die Bundeswehr hat bis
heute nicht die notwendigen Rahmenbedingungen zur
Vereinbarkeit von Familie und Dienst umgesetzt. Das
kritisieren wir Liberale. Mit erheblicher zeitlicher Verzögerung hat erst im Mai 2007 der Generalinspekteur der
Bundeswehr, Schneiderhan, eine Teilkonzeption Vereinbarkeit von Familie und Dienst in den Streitkräften erlassen. Um es gleich vorwegzusagen: Die Teilkonzeption
ist bis jetzt nicht in die Praxis umgesetzt worden. Kein
Wunder! Denn in ihr ist zu lesen: Es wird „angestrebt“,
„Hilfe zur Selbsthilfe“, es wird „entwickelt“, „geplant“.
Es wird also geprüft, geprüft und nochmals geprüft. So
sieht es aus. Für Pilotprojekte muss sogar das Geld aus
dem Topf für Familienmaßnahmen genommen werden.
Das heißt, bestehende Maßnahmen für Familien werden
dafür gekürzt.
Der Wehrbeauftragte der Bundeswehr, Reinhold
Robbe, hat wiederholt und auch in diesem Jahr die mangelnde Unterstützung von Soldatinnen bei der Vereinbarkeit von Dienst und Familie öffentlich kritisiert. Er hat
das Bundesverteidigungsministerium und die Bundesregierung aufgefordert, die Verhältnisse endlich zu verbessern.
({0})
Das sind die Schwerpunkte der Großen Anfrage der
FDP, die wir heute beraten: zum einen die Vereinbarkeit
von Familie und Dienst und zum anderen die Gleichstellung von Frauen in den Streitkräften. Was sind nun die
Antworten der Bundesregierung zur Vereinbarkeit von
Familie und Dienst?
Bereits im Bericht des Wehrbeauftragten 2005 wurde
ausgeführt:
Kinderbetreuung ist für Soldatinnen und Soldaten
ein dringendes Problem.
Und was antwortet die Bundesregierung auf unsere
Große Anfrage? Kommunale Kinderbetreuungseinrichtungen sollen den abweichenden zeitlichen Bedarf an
Betreuungsplätzen abdecken. - So werden die Familien
der Soldatinnen und Soldaten von dieser Bundesregierung im Regen stehen gelassen.
({1})
Herr Staatssekretär, ich frage Sie: Warum - das ist
eine Idee, die ich Ihnen gerne weitergeben würde - können die 31 Familienzentren der Bundeswehr, die schon
jetzt für Familien von Soldaten, die im Auslandseinsatz
sind, zur Verfügung stehen, nicht für die Kinderbetreuung geöffnet werden? Das wäre eine gute Sache.
({2})
Das wären 31 Modellversuche. Hier könnte man sehr
schnell etwas machen. Ich habe gehört, dass in manchen
Einrichtungen schon Außenanlagen für Kinderbetreuung
gebaut worden sind. Hier wäre also Platz für zielgenaue
Hilfe.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, der Bundeswehr
laufen im Sanitätsdienst die Ärzte und Ärztinnen davon,
so die Presse in dieser Woche. Der Bundeswehr-Verband
nennt als Gründe unter anderem schlechte Bezahlung
und auch schlechte Vereinbarkeit von Familie und
Dienst. Nun soll es eine Gehaltserhöhung von monatlich
600 Euro geben, die, glaube ich, zeitlich befristet ist.
Aber, Herr Kossendey, ich frage Sie: Was will der Bundesverteidigungsminister gegen die Familienunfreundlichkeit in der Truppe tun? Ich zitiere dazu die Aussagen
des Bundesverteidigungsministeriums:
Familienfreundliche Strukturen sind Ausdruck
praktizierter Fürsorge.
Das werden Sie sicher unterschreiben, Herr van Essen.
Sie erhöhen die Motivation und stärken die Bindung zwischen dem Dienstherrn und seinen Soldatinnen und Soldaten.
Ich kann nur sagen: Viel Lärm um nichts! Papier ist geduldig.
({3})
Die Bundesregierung erweckt den Eindruck, als sei
alles bestens. In ihren Antworten auf unsere Große Anfrage wird behauptet, dass „nahezu an allen Standorten
der Bundeswehr eine ausreichende Grundversorgung mit
Kinderbetreuung sichergestellt ist“. Wie diese ausreichende Grundversorgung aussieht und wie die Soldatinnen davon wirklich profitieren könnten, darauf gibt die
Bundesregierung jedoch keine Antwort. Es wird auf die
Zentrale Dienstvorschrift und die Teilkonzeption zu Vereinbarkeit von Familie und Dienst verwiesen und angemerkt, dass jetzt weiter an dieser Teilkonzeption gearbeitet werde. Was bedeutet das, Herr Kossendey? Das
bedeutet doch nichts anderes, als dass es auf den SanktNimmerleins-Tag verschoben wird. Vor der Wahl wird
da wahrscheinlich nichts mehr geschehen. Damit hat
diese Bundesregierung den Schwarzen Peter.
Im Fall einer Versetzung zum Beispiel - das ist an
mich herangetragen worden - erfahren Familien erst drei
Tage vor Dienstantritt, wohin es geht.
Es gibt einige wenige positive Antworten vonseiten
der Bundesregierung: Das Eltern-Kind-Arbeitszimmer
gibt es an fast 40 Standorten. Außerdem bemüht sich die
Bundeswehr, die durchschnittliche Entfernung zwischen
den Dienstorten von Ehepartnern geringer zu halten. Es
gibt 114 weibliche Offiziere, die in Teilzeit arbeiten; davon sind jedoch - das ist die Krux - 113 im Sanitätsdienst. Wir sehen also, dass da nichts geschieht.
Bei der Gleichstellung von Frauen in Streitkräften geschieht nur sehr wenig. Im Zusammenhang mit der Umsetzung der Sicherheitsresolution 1325 wurde gesagt,
das könne sich nur auf der Zeitschiene verändern.
Frau Kollegin Lenke.
Ich komme gleich zum Schluss.
Ich bitte darum.
Auf Deutsch gesagt: Unbestimmter geht es nicht. Die
Gleichstellung von Frauen in den Streitkräften und der
Gender-Aspekt spielen eine untergeordnete Rolle.
Ich komme jetzt - leider - zum Schluss. Diese Bundesregierung gefährdet die Nachwuchsgewinnung der
Bundeswehr, wenn sie nichts tut.
Frau Kollegin, Sie hatten bereits sieben Minuten, und
Sie überziehen gerade um eine weitere Minute.
Ich wollte meinen Schlusssatz sagen. Darf ich?
Ja.
Die FDP wird sehr aufmerksam beobachten, was die
Große Koalition im Sinne der Vereinbarkeit von Familie
und Dienst noch vor der Bundestagswahl in dieses Parlament einbringen wird.
({0})
Ich gebe das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär der Verteidigung, Thomas Kossendey.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir vor 20 Jahren den Tagesordnungspunkt „Vereinbarkeit von Familie und Dienst in der Bundeswehr“
aufgesetzt hätten, dann wäre uns die Öffentlichkeit, aber
auch das Parlament wahrscheinlich mit einem gewissen
Lächeln begegnet. Ich glaube, damals war noch nicht die
Zeit dafür.
Heute, in einer Zeit, in der wir Frau von der Leyen als
Familienministerin haben, ist die Situation anders. Die
Familie ist in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt und damit auch innerhalb der Bundeswehr ein
Schwerpunkt geworden.
({0})
- Frau Lenke, Sie haben ja gerade hier so engagiert vorgetragen. Ich darf Ihnen eine Zahl nennen: Heute sind
bereits 800 Soldaten - männliche Soldaten - in der Elternzeit.
({1})
Das ist eine Situation, die wir uns vor einigen Jahren
kaum vorstellen konnten. Dadurch zeigt sich, dass dort
langsam, aber sicher ein Bewusstseinswechsel eintritt.
Für uns im Ministerium ist es ganz wichtig, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf herzustellen. Sie hat geradezu eine strategische Bedeutung. Ich will Ihnen gerne
sagen, was wir in diesem Bereich tun.
Natürlich ist es nicht immer ganz leicht, das, was zur
Vereinbarkeit von Familie und Dienst beiträgt, mit den
dienstlichen Anforderungen in Übereinstimmung zu
bringen. Hier liegt auch die Schwierigkeit, auf die Sie,
glaube ich, mit keinem einzigen Wort eingegangen sind.
Natürlich sehen auch wir, dass wir durch den Arbeitsmarkt gezwungen werden, viel mehr als in der Vergangenheit zu tun, und ich hätte mir gewünscht, dass wir
früher damit angefangen hätten; auch das ist richtig.
Aber für uns gibt es keine Alternative zur Vereinbarkeit
von Familie und Dienst.
Wir müssen allerdings darauf achten - das will ich
wiederholen -, dass wir den Besonderheiten des Dienstes dabei Rechnung tragen. Damit Sie einige zusätzliche
Informationen bekommen, will ich Ihnen sagen, was
passiert ist.
Im Frühjahr 2007 haben wir das Konzept beschlossen, durch das die Verbesserung der Vereinbarkeit von
Familie und Dienst erreicht werden soll.
({2})
Mittlerweile haben wir es Schritt für Schritt umgesetzt.
Der Wehrbeauftragte Robbe, der gestern hier gesprochen
hat, hat gesagt, das sei nur bedrucktes Papier.
({3})
Möglicherweise sollte er sich etwas intensiver in der
Truppe umtun, dann würde er einige Beispiele sehen.
({4})
- Nein, Herr Goldmann, der Kollege Robbe ist da; machen Sie sich keine Sorgen.
Ich sage Ihnen aber sehr deutlich: Langfristig wird es
hier keine wesentlichen Fortschritte geben, wenn wir
nicht zusätzliches Geld dafür in die Hand nehmen. Das
ist eine Sache, bei der auch das Parlament mitbestimmen
muss.
({5})
- Ich komme ja dazu. - Pauschale Lösungen wird es
nicht geben.
Wir sind in einigen Bereichen weiter, als Sie glauben
machen wollen.
({6})
- Ich nenne Ihnen gleich die Standorte. - Im Bereich der
Kinderbetreuung und im Bereich der Pendlerunterkünfte
haben wir einiges ins Werk gesetzt. Im Bereich der Kinderbetreuung haben wir Pilotstandorte ausgesucht, an denen wir sehr präzise prüfen wollen, welche Bedürfnisse
vorhanden sind. Frau Lenke, es gibt Standorte - das wissen wir alle -, an denen der Betreuungsbedarf durch die
kommunalen Träger gut abgedeckt ist. Es gibt aber auch
Standorte, an denen wir das nachbessern müssen. Deswegen haben wir an vier großen Standorten sehr präzise Untersuchungen darüber angestellt, wo und wie wir die Kinderbetreuung besser organisieren können. Das müssen
wir als Bundeswehr nicht alleine machen, sondern das
können wir in Kooperation mit den kommunalen und
freien Trägern tun. An den Standorten Wilhelmshaven,
Koblenz-Lahnstein, Westerstede und Seedorf haben wir
sehr konkrete Dinge ins Werk gesetzt. Sie werden das bei
Ihren Besuchen vor Ort erfahren.
Ihre Idee, das an die Familienbetreuungszentren anzugliedern, mag aufs Erste verheißungsvoll erscheinen.
Wenn man das nachprüft, sieht man aber, dass das
schwierig würde; denn diese Familienbetreuungszentren
sind doch sehr weit von den Wohnorten der Menschen
entfernt, die wir damit - ich sage das in diesem Falle einmal so - beglücken wollen. Das wird uns nicht weiterhelfen.
Ich will auf die Teilzeitbeschäftigung eingehen. Im
Jahre 2007 waren mehrere Hundert Soldatinnen und Soldaten teilzeitbeschäftigt. Wir können dort natürlich
nachbessern. Wir brauchen auch mehr Geld für Telearbeitsplätze. Mit der Einrichtung dieser Plätze haben wir
angefangen. Die ersten Erfolge zeigen sich. Ich denke,
dass die modernen Arbeitszeitmodelle bei uns in Anspruch genommen werden. Auch das geht aus der Antwort auf Ihre Große Anfrage hervor. - Ich will ergänzen,
dass wir mittlerweile an 37 Standorten Eltern-KinderZimmer eingerichtet haben.
({7})
Der Kollege Robbe, der gestern sagte, das stehe alles nur
auf Papier, ist herzlich eingeladen, diese Standorte zu besuchen.
Allerdings wird es wahrscheinlich kein flächendeckendes Netz geben; das werden wir nicht schaffen.
Aber überall dort, wo wir in guter Kooperation und in
unterschiedlicher Art und Weise Lösungen schaffen,
sind wir dabei, und zwar allein schon deswegen, weil
mittlerweile 62 000 Soldatinnen und Soldaten Kinder
haben. Das ist eine Verpflichtung, durch die wir auch angetrieben werden, auch unter dem Gesichtspunkt, dass
wir auch bei einer etwas angespannten Situation am Arbeitsmarkt guten Nachwuchs wollen. Auch das ist für
uns ein Thema, das wir nicht außer Acht lassen sollten.
Wenn Sie noch ein konkretes Beispiel wissen wollen:
Ich habe vor einem halben Jahr in Koblenz-Lahnstein einen Kindergarten mit ins Leben gerufen, bei dem die
katholische Kirche besondere Öffnungszeiten für die
Bundeswehrangehörigen aus dem nahe gelegenen Bundeswehrkrankenhaus eingerichtet hat. Ich bin der katholischen Kirche dankbar, dass sie für das erste - für dieses
- Jahr die Kosten dafür übernommen hat. Wir werden im
nächsten Jahr zu prüfen haben, ob wir diese Mittel aus
dem Verteidigungshaushalt ergänzen.
({8})
Ich bin dafür, das zu tun. Dass entsprechender Bedarf
besteht, zeigt allein schon der Umstand, dass wir für diesen Kindergarten für das nächste Jahr bereits eine Warteliste haben.
Wir sind dabei, ein Kinderbetreuungsportal einzurichten; das mag Ihnen nicht entgangen sein. Dieses Portal
soll insbesondere die negativen Aspekte vermeiden, die
wir häufig dadurch erleben, dass Familien, die vor einer
Versetzung im Rahmen der Bundeswehr stehen, häufig
nicht genau wissen, wie die Kinderbetreuungssituation
in den Gemeinden ist, in die sie kommen. Über das Kinderbetreuungsportal wollen wir aufklären und es ermöglichen, frühzeitig entsprechende Informationen zu erhalParl. Staatssekretär Thomas Kossendey
ten. Ebenso wollen wir eine Chat-Ecke einrichten, in der
sich Eltern aus Kreisen der Bundeswehr über die am Ort
vorhandenen Kinderbetreuungsmöglichkeiten austauschen können, und zwar weit vor dem tatsächlichen Umzug im Rahmen einer Versetzung.
Ich spreche als weiteren Punkt die Pendlerunterkünfte
an. Wir werden an verschiedenen Standorten - zunächst
insbesondere in Laupheim und Seedorf, aber auch in Augustdorf, wo es schon in Gang ist - für diejenigen Soldatinnen und Soldaten, die nach einer Versetzung nicht an
den neuen Standort umziehen, geeignete Möglichkeiten
der Unterbringung anbieten. Das halte ich für sehr wichtig.
Nach wie vor werden wir prüfen, wie wir mit familienbedingten Abwesenheitszeiten im Dienstbetrieb umgehen, zum Beispiel beim Elternurlaub.
({9})
- Wir sind doch dabei. Sonst wären nicht schon
800 Männer in Elternzeit. - Wir werden diese Abwesenheiten durch eine weitere Flexibilisierung des Laufbahnrechts auffangen.
Sie sind herzlich eingeladen, mit mir durch die Standorte zu fahren, um sich das anzusehen. Auf der letzten
Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten in Mannheim hat der Minister durchweg von allen Damen, die
dort vertreten waren, Lob dafür bekommen, dass wir dieses Thema anpacken, nachdem lange Zeit nichts passiert
ist. Im Moment wird ein Handbuch zur Vereinbarkeit
von Familie und Dienst erarbeitet, damit jeder Kommandeur vor Ort weiß, was er zu tun hat.
Allerdings wiederhole ich: Perspektivisch werden wir
nicht weiterkommen, wenn es uns nicht gelingt, dafür
Geld im Haushalt bereitzustellen.
({10})
Da sind Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen im Parlament, natürlich gefordert. Ich bin sehr froh darüber, dass
der Minister entschieden hat, die Ausgaben, die mit Familie und Dienst zu tun haben, demnächst im Haushalt
gesondert auszuweisen, damit wir präzise nachprüfen
können, was uns diese Angelegenheit wert ist; denn leider ist das Geld häufig das wichtigere Thema.
Lassen Sie mich noch einiges zur Frage der Gleichstellung sagen. Die Zahl der Soldatinnen innerhalb der
Bundeswehr hat sich in den letzten Jahren verdreifacht.
Mit 15 200 Soldatinnen und einer Quote von 8,5 Prozent
liegen wir durchaus im NATO-Mittel, und wir bleiben
auch dabei, dass wir im Sanitätswesen 50 Prozent und in
den übrigen Bereichen 15 Prozent erreichen wollen. Das
ist eine wichtige strategische Aufgabe für uns.
({11})
Ergänzend sei gesagt: Wir sind dankbar, wenn der Druck
aus dem Parlament, diese Aufgabe noch intensiver anzupacken, nicht nachlässt; denn dabei geht es häufig um
das Bewusstsein im politischen sowie im administrativen Raum. So war es in diesem Ministerium, das männerdominiert ist, nicht leicht, für dieses Thema eine gewisse Akzeptanz zu finden.
({12})
Wir dürfen dies allerdings nicht isoliert nur für den Bereich der Bundeswehr betrachten. Das ist ein Problem,
das wir im gesamtgesellschaftlichen Kontext sehen müssen. Ich kann Sie eigentlich nur ermutigen, in Ihrem Verlangen nicht nachzulassen, uns hierzu zur Rechenschaft
zu bitten.
Die Bundesregierung hat einiges mehr getan, begonnen beim Tagesbetreuungsausbaugesetz bis hin zum Kinderförderungsgesetz. Diese Gesetze sind selbstverständlich auch für die Bundeswehr gut. Aber ich ermutige Sie
ausdrücklich, mit uns gemeinsam daran zu arbeiten, dass
dieses Thema in der Öffentlichkeit und insbesondere der
Bundeswehröffentlichkeit stärker verankert wird, damit
es uns umso leichter fällt, die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr auch durch eine verbesserte Vereinbarkeit von
Familie und Dienst nachhaltig zu sichern.
Herzlichen Dank.
({13})
Die Kolleginnen Inge Höger, Fraktion Die Linke, und
Petra Heß, SPD-Fraktion, sowie der Kollege Winfried
Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen, haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben.1) Deshalb schließe ich die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 43 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über
die Bildung eines Sachverständigenrates zur
Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Drucksache 16/8980 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- Drucksache 16/10507 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Fuchs
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Ernst, Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir haben im April 2008 einen Ge-
1) Anlage 4
setzentwurf vorgelegt, um die Neutralität des Sachverständigenrates zu gewährleisten. Wir wollten und wollen
mit diesem Gesetz erreichen, dass die Mitglieder des
Sachverständigenrates ihre Einkünfte offenlegen, wenn
Interessenverbindungen, also andere Tätigkeiten, das erforderlich machen. Wir wollen, dass diese Einkünfte und
Tätigkeiten veröffentlicht werden, und wir wollen, dass,
wenn das nicht geschieht, eine Rückzahlung der Entschädigung durch diese Sachverständige erfolgt.
Zum Zeitpunkt der Vorlage des Gesetzentwurfs im
April war uns noch nicht klar, welche Aktualität er gewinnen würde. Fakt ist, dass der oberste Wirtschaftsberater der Bundesrepublik, Herr Rürup, jetzt, noch während er als Sachverständiger im Amt ist, bekannt
gegeben hat, dass er demnächst zum Finanzberater AWD
wechseln wird. AWD ist nicht irgendein Unternehmen.
AWD macht 80 Prozent seines Umsatzes in Deutschland
mit dem Verkauf von Vorsorgeprodukten für das Alter.
Herr Rürup hat der Regierung Kürzungen bei der gesetzlichen Rentenversicherung vorgeschlagen. Er hat
Millionen Menschen dazu gebracht, ihr Geld in Hoffnung auf eine hohe Rendite auf die Finanzmärkte zu tragen. Seinen Namen tragen Altersvorsorgeprodukte. Die
Aufzählung der Ämter, die er schon heute bei Finanzdienstleistern und Versicherungskonzernen innehat, füllt
die Rückseiten von Einladungen zu Veranstaltungen mit
ihm. Und jetzt wechselt Herr Rürup, pünktlich zu seiner
eigenen Pensionierung, zu einem der Profiteure der Rentenprivatisierung. Fakt ist: Jemand, der die Bundesregierung, die Öffentlichkeit und das Parlament in einer bestimmten Weise beraten hat, wird nun Profiteur seiner
eigenen Beratung, weil er in einem Unternehmen, das
von dieser Politik profitiert, tätig wird. Dazu könnte man
sagen: Das ist in der freien Marktwirtschaft üblich; dagegen kann man nichts machen - möglich.
Mit unserem Gesetzentwurf schlagen wir vor, dass
zumindest die Interessenverbindungen bei Mitgliedern
des Sachverständigenrates schon zum Zeitpunkt ihrer
Tätigkeit offengelegt werden müssen, damit wir, die
Bürger, das Parlament und auch die Regierung, wissen,
woran wir sind, wenn wir „unabhängig“ beraten werden.
({0})
Im Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates
ist die Neutralität des Sachverständigenrates festgeschrieben. Es heißt wörtlich:
Der Sachverständigenrat ist nur an den durch dieses
Gesetz begründeten Auftrag gebunden und in seiner
Tätigkeit unabhängig.
Diese Neutralität wird durch Herrn Rürup mehr als nur
infrage gestellt. Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf
zur Wahrung der Neutralität beitragen. Das kostet nichts,
das ist auch nicht populistisch. Es ist schlichtweg ein
Gebot der Stunde, wenn wir auf bestimmte Vorgänge politisch reagieren wollen.
({1})
Sie winken ab. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass
Gerhard Schröder als Kanzler den Weg für die OstseePipeline geebnet hat und heute bei Gazprom im Aufsichtsrat sitzt. Wolfgang Clement hat die Leiharbeitsverhältnisse geradezu gefördert und leitet jetzt das AdeccoInstitut zur Erforschung der Arbeit beim Adecco-Konzern, einem der größten Leiharbeitskonzerne Europas.
({2})
Auch Herr Riester, der bekanntlich die Riester-Rente
eingeführt hat, verdient am meisten als Vortragsreisender
für die Versicherungsbranche. - Wenn wir das so lassen
wollen und so dazu beitragen wollen, dass der Ruf der
Politik weiter beschädigt wird, dann können wir so weitermachen.
({3})
Wir können es aber auch ändern, indem wir ein Gesetz
beschließen, nach dem diese Dinge offengelegt werden
müssen. Dann würde so etwas deutlich.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Hinsken, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Herr Kollege Ernst, Sie haben wieder die
alte Platte aufgelegt: Neid, Neid, Neid!
({0})
Sie appellieren an die niedrigsten Instinkte des Menschen. Ohne auf die Problemstellung im Besonderen einzugehen, haben Sie die eine oder andere Person verunglimpft und an den Pranger gestellt.
Lassen Sie mich aber zunächst darauf verweisen, was
das eigentliche Thema ist, nämlich über den Sachverständigenrat insgesamt gesehen zu sprechen. Dieser
Sachverständigenrat gehört seit 1963 zum wissenschaftlichen Tafelsilber der sozialen Marktwirtschaft. Seine
Mitglieder sind die Vordenker unserer Wirtschaftspolitik. Hauptaufgabe ist die jährliche Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Dabei soll untersucht werden, wie die
Ziele des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, die Stabilität des Preisniveaus, ein hoher Beschäftigungsstand
und außenwirtschaftliches Gleichgewicht - und dies alles bei einem stetigen Wirtschaftswachstum -, erreicht
werden können.
Politik und Wirtschaft verdanken dem Sachverständigenrat seit sage und schreibe 43 Jahren wertvolle Impulse. Über 49 Gutachten wurden in der Zwischenzeit
erstellt. Sondergutachten bestimmten und beflügelten
unsere Wirtschaftspolitik. Ich möchte besonders erwähnen und herausheben: Unvergessen und herausragend
sind beispielsweise das Gutachten zur Ölkrise im Jahre
1973 und das Gutachten zu den Wirtschaftsreformen in
der ehemaligen DDR 1990.
Jetzt kommen Sie von den Linken und wollen diese
Gutachter und Gutachten madigmachen.
({1})
Gerade Sie, Herr Ernst, tun so, als wüssten Sie alles besser.
({2})
Sie argumentieren populistisch, stellen den Zusammenhang nicht dar und sprechen nur an, was Ihnen passt. Wir
brauchen aber harte Fakten und das Darstellen logisch
zwingender Zusammenhänge, wie sie gerade der Sachverständigenrat liefert.
({3})
Wir brauchen diese ganz konkreten, an der aktuellen
politischen Situation orientierten Vorschläge. Daran wollen gerade wir von der Unionsfraktion festhalten.
Deutschland ist ein starkes und erfolgreiches Land.
({4})
- Vielen Dank, Kollege Meyer. - Der Sachverständigenrat hat diese Entwicklung hervorragend wissenschaftlich
begleitet und gibt mit dem neuesten Gutachten vom
12. November 2008 mit dem Titel Die Finanzkrise meistern - Wachstumskräfte stärken weitere Impulse.
Herr Kollege Hinsken, der Kollege Ernst würde gern
eine Zwischenfrage stellen.
({0})
Wenn es kurz geht, bitte.
({0})
Herr Hinsken, ich habe eine sehr kurze Frage. Ich
habe mit unserem Gesetzentwurf deutlich machen wollen, dass wir die Qualität des Sachverständigenrats und
seine Ausführungen, die er bisher gemacht hat, nicht dadurch entwerten wollen, dass es bei einzelnen Mitgliedern des Sachverständigenrats für die Öffentlichkeit
nicht zugängliche Interessenkonflikte aufgrund anderer
Tätigkeiten gibt. Könnten Sie sich vorstellen, dass es die
Bedeutung des Sachverständigenrats erhöhen würde,
wenn die Bevölkerung, das Parlament und die Regierung
jeweils wüssten, welche Gehälter das jeweilige Mitglied
des Sachverständigenrats noch bezieht? Könnten Sie
sich vorstellen, dass damit genau das, was Sie wollen,
nämlich eine höhere Akzeptanz des Sachverständigenrats, gefördert werden kann?
Werter Herr Kollege Ernst, Sie betreiben wieder einmal das Spiel mit dem Neid.
({0})
Die Gelder, die den Sachverständigen zur Verfügung gestellt werden, sind Peanuts im Vergleich zu vielen anderen Zuwendungen, die in der Bundesrepublik Deutschland diesbezüglich gezahlt werden. - Eines möchte ich
hinzufügen: Ich kann mir einen guten Sachverständigenrat allemal vorstellen. Aber Sie würde ich für nicht befähigt halten.
({1})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich meine, dass
wir uns den Sachverständigenrat von Ihnen, den Linken,
nicht schlechtreden lassen dürfen. Gerade in der jetzigen
Situation, angesichts der internationalen Finanzkrise und
der sich eintrübenden Konjunktur, ist es unverzichtbar,
die Ratschläge des Sachverständigenrates einzuholen
und so weit wie möglich umzusetzen.
({2})
Wir von der Union haben eine Empfehlung aufgegriffen:
Wir legen eine konjunkturgerechte Wachstumspolitik
auf; Kollege Meyer hat vor wenigen Tagen hierzu eine
bemerkenswerte Rede gehalten. Diese Maßnahmen geben Impulse für öffentliche und private Investitionen;
dies geschieht auch durch unser gestern beschlossenes
Beschäftigungssicherungsprogramm. Wir stärken den
Mittelstand und das Handwerk; Bürger und Unternehmer werden entlastet. Der Konsum und die Binnenwirtschaft werden belebt. Unsere Bundeskanzlerin und unser
Bundeswirtschaftsminister, Michael Glos, haben auf den
Rat der Weisen gehört und entscheidende Weichenstellungen vorgenommen. Herr Staatssekretär Schauerte,
Sie sind Kronzeuge in dieser Angelegenheit.
Das sind Fakten und keine Wolkenkuckucksheime
wie bei Ihnen von den Linken.
({3})
Ihnen, den Neokommunisten, ist doch ins Stammbuch zu
schreiben: Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaft
dürfen nicht ignoriert werden. Statt den Sachverständigenrat zu kritisieren, sollten Sie sich einmal vom Sachverständigenrat selbst Nachhilfeunterricht geben lassen;
Herr Ernst, ich meine Sie. Dann würden Sie endlich auch
die wichtigen Zusammenhänge begreifen und könnten
hier konstruktiv mitarbeiten.
({4})
Mit Ihrem Populismus und Ihrer Umverteilungsrhetorik
kommen wir nicht weiter. Das führt nicht aus der Krise
heraus, sondern erst richtig hinein. Dieser Gesetzentwurf
von Ihnen, den Linken, beweist erneut, dass Sie niemals
an einer Regierung der Bundesrepublik Deutschland beteiligt sein dürfen.
({5})
Da Sie von der Linken bei den gegenwärtig zu bewältigenden Herausforderungen mit Ihrem Latein am Ende
sind,
({6})
fällt Ihnen nichts anderes ein, als den Sachverständigenrat, wie man so schön im Volksmund sagt, durch den
Dreck zu ziehen. Dies tun Sie wohl auch deshalb, weil
Ihnen die Empfehlungen und der wirtschaftliche Sachverstand, der hier gebündelt ist, ein Dorn im Auge sind.
({7})
Unabhängig ist in Ihren Augen wohl nur jemand, der Ihnen nach dem Mund redet und Sie nicht von Ihrer dunkelroten Wolke herunterholt. Weil Sie keine Argumente
haben und Ihnen jedes Verständnis für eine vernünftige
Wirtschaftspolitik abgeht, versuchen Sie es auf diese fast
hinterhältig zu nennende Weise.
({8})
Sie wollen nicht nur diese herausragenden Wissenschaftler treffen, sondern durch diese Persönlichkeiten auch
unsere ganze soziale Marktwirtschaft.
({9})
Das lassen wir unter keinen Umständen zu.
({10})
Wir von der CDU/CSU werden dafür sorgen, dass die
Mitglieder des Sachverständigenrats weiter hervorragende Arbeit leisten können. Ich fordere alle anderen
Fraktionen auf: Lassen Sie uns gemeinsam über Parteigrenzen hinweg den Sachverständigenrat stärken statt
ihn zu schwächen oder abzuschaffen!
({11})
Lassen Sie uns gemeinsam gegen die linke Neiddebatte
vorgehen! Wir dürfen nicht zulassen, dass den Menschen
etwas vorgegaukelt wird.
({12})
Im Großen und Ganzen ist es wichtig, das Folgende
festzustellen: Eine hauptberufliche Tätigkeit im Sachverständigenrat wurde vom Gesetzgeber nicht festgelegt.
Die Sachverständigen müssen unabhängig sein
({13})
vom Staat, von Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden
und von den Gewerkschaften.
({14})
Bislang waren alle Räte Hochschulprofessoren. Im
Sachverständigenrat sind Unabhängigkeit und wirtschaftlicher Sachverstand in besonderer und herausragender Weise repräsentiert. Die jetzt bestehenden Regelungen stellen sicher, dass dies künftig so bleibt. Sie
haben sich bewährt und wesentlich zur hervorragenden
Arbeit des Sachverständigenrates beigetragen. Hier
brauchen wir von Ihnen, den Linken, keine vergifteten
Verbesserungsvorschläge.
({15})
- Sie lachen über sich selbst, Herr Ernst. Dafür sind Sie
ja bekannt. - Ihr Gesetzentwurf ist auch deshalb entbehrlich, weil die besondere Sorgfalt bei der Auswahl der
Mitglieder des Sachverständigenrates sicherstellt, dass
die Mitglieder dieses Gremiums nicht nur qualifizierte,
sondern auch integere Persönlichkeiten sind.
({16})
Ich meine, abschließend feststellen zu dürfen und zu
müssen: Auch in Zukunft brauchen wir in diesem Gremium die besten Köpfe.
({17})
Der von Ihnen, den Linken, geforderte Zwang zur Offenlegung der Tätigkeiten und Einkünfte ist kontraproduktiv, da der Anreiz, nebenberuflich zeitintensiv im Sachverständigenrat mitzuarbeiten, ganz stark zurückgehen
würde. Die geringen Kosten, die die Tätigkeiten der
Sachverständigen verursachen, kommen durch deren
Ratschläge vielfach wieder rein. Wir brauchen auch in
Zukunft einen starken Sachverständigenrat. Deshalb
werden wir ihn weiterhin unterstützen und gegenüber Ihnen, den Neokommunisten, auch in Schutz nehmen.
Herr Kollege!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort erhält der Kollege Ernst Burgbacher, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Linke wirft ihre üblichen Nebelkerzen und versucht,
Dinge in die Welt zu setzen, die völlig an den Tatsachen
vorbeigehen. Deshalb will ich einen Teil meiner Redezeit darauf verwenden, das noch einmal klarzustellen.
Herr Ernst, Sie sprechen sich für die Offenlegung von
Interessenverbindungen aus. Das ist völlig richtig, aber
das ist längst der Fall. Dafür brauchen wir diese Debatte
nicht.
({0})
Über das Verhalten gibt es tatsächlich immer wieder Diskussionen. Auch wir haben uns darüber unterhalten, ob
das Verhalten von Schröder, Müller oder Tacke in Ordnung war. Auch wir fragen uns manchmal, ob es in Ordnung ist, wenn Linke in bestimmten Gremien vertreten
sind. Uns geht es hier im Parlament aber doch um die
Voraussetzungen.
Lassen Sie sich einmal in aller Kürze sagen, dass es
bereits bestehende Regelungen zur Offenlegungspflicht
von Nebeneinkünften aller Ratsmitglieder gibt; denn alle
Ratsmitglieder sind Hochschulprofessoren. Jedes Hochschulgesetz der Länder schreibt klipp und klar die Offenlegung von Nebeneinkünften vor, aber noch viel mehr.
({1})
Alle Hochschulgesetze schreiben vor, dass Nebentätigkeiten durch den Dienstherrn genehmigt werden müssen.
Die Landesbeamtengesetze, die Hochschulgesetze der
Länder und die Satzungen der deutschen Universitäten
sehen vor, dass Nebentätigkeiten genehmigungspflichtig
und die Einkünfte offenzulegen sind.
({2})
Herr Ernst, bevor Sie Anträge stellen und eine Debatte vom Zaun brechen, sollten Sie vielleicht ab und zu
ins Internet gehen. Ich empfehle Ihnen die Internetseiten
der Universitäten in Würzburg, in Regensburg, in Mainz,
in Darmstadt und in Mannheim. Dort können Sie ganz
genau sehen, welche Nebentätigkeiten die Mitglieder
des Sachverständigenrates ausüben.
Das Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates schreibt in § 1 Abs. 3 klar und unmissverständlich
vor, dass die Mitglieder des Sachverständigenrates
… weder der Regierung oder einer gesetzgebenden
Körperschaft des Bundes oder eines Landes noch
dem öffentlichen Dienst des Bundes, eines Landes
oder einer sonstigen juristischen Person des öffentlichen Rechts, es sei denn als Hochschullehrer oder
als Mitarbeiter eines wirtschafts- oder sozialwissenschaftlichen Institutes, angehören …
dürfen. Weiter heißt es:
Sie dürfen ferner nicht Repräsentant eines Wirtschaftsverbandes oder einer Organisation der Arbeitgeber oder Arbeitnehmer sein …
Offener kann man das doch gar nicht legen. Sie sollten
davor nicht die Augen verschließen und der Öffentlichkeit irgendetwas vorlügen, was überhaupt nicht stimmt.
({3})
Um was es Ihnen wirklich geht, das erfahren wir am
besten, wenn wir die Rede von Gysi in der ersten Lesung
nachlesen: Es geht darum, die Arbeit des Sachverständigenrates zu diskreditieren. Es geht darum, unser ganzes
System zu diskreditieren. Das wird Ihnen aber nicht gelingen, da Sie völlig falsche Dinge in die Welt setzen.
Schauen Sie doch einmal ins Internet, schauen Sie sich
einmal die Gesetze an, dann ist alles geregelt.
Herzlichen Dank.
({4})
Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Reinhard Schultz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist wirklich nicht ganz einfach, sich zum zweiten Mal
zu diesem „wegweisenden“ Gesetzentwurf Gedanken zu
machen und dazu etwas Sinnvolles auszuführen. Trotzdem will ich mich dieser Mühe unterziehen.
Ich hätte eigentlich gedacht, dass die Linken nach der
Vorlage des aktuellen Gutachtens ihren Gesetzentwurf
zurückziehen, weil die Sachverständigen, die eigentlich
für angebotsorientierte und staatsferne Wirtschaftsstrategien bekannt sind, zur Überraschung aller dieses Mal
richtig zugelangt und ein Keynesianisches Modell in
Milliardenhöhe vorgeschlagen haben, was den Vorschlag
der Bundesregierung und der Koalition noch um Längen
getoppt hat und eigentlich zu dem passt, was man aus
dem Bereich der Linkspartei an Forderungen gehört hat.
Da habe ich mir gedacht: Jetzt passt das zusammen.
Jetzt werden sie ihren Frieden mit dem Sachverständigenrat machen. - Aber nein, Ihr überschäumender Eifer
war einfach nicht zu bremsen. Daher müssen wir uns
heute mit diesem Gesetzentwurf auseinandersetzen.
Zur Unabhängigkeit ist von Herrn Burgbacher schon
einiges Treffendes gesagt worden. Bei den Sachverständigen handelt es sich in der Regel um Hochschullehrer,
deren Nebentätigkeiten genehmigungsbedürftig sind und
die inzwischen auch an allen Hochschulen veröffentlicht
werden; dort gibt es lange Veröffentlichungsregister.
({0})
Es ist nicht so, dass zum Beispiel Bert Rürup zufällig
auf der Straße entdeckt
({1})
und dann von der Bundesregierung aufgefordert worden
ist: Mein lieber Junge, jetzt befass dich einmal in unserem Auftrag mit Fragen der Altersvorsorge. Vielmehr
war es so, dass er als Sachverständiger genommen
wurde, weil er von diesem Thema schon vorher Ahnung
hatte und weil er schon vorher strategische Hinweise gegeben hat, die für die Politik so interessant waren, dass
man sagte: Lasst den mal zusammen mit anderen Vorschläge erarbeiten, wie die gesetzliche Rente um ein kapitalgedecktes privates Element ergänzt werden kann. 21042
Es war so, dass er genommen wurde, weil er sich vorher
Gedanken über dieses Thema gemacht hat. Er war doch
nicht völlig unbefleckt und ist dann von den langen Krakenarmen derjenigen, die private Altersvorsorgeprodukte auflegen, sozusagen an Land gezogen worden.
Ich finde es anständig, was Herr Rürup tut: dass er,
weil er bei einem privaten Unternehmen eine zweite
oder sogar dritte Karriere starten will, postwendend
seine Tätigkeit im Sachverständigenrat - die ihn ja nicht
gerade ernährt - aufgegeben hat. Das finde ich in Ordnung. Daran könnten sich manch andere ein Beispiel
nehmen.
({2})
Gerade dieses Beispiel macht deutlich, was zu tun ist.
Man kann von Leuten, die erfolgreich gearbeitet haben
- das gilt für Sachverständige wie für Politiker -, doch
nicht verlangen, dass sie sich nach dieser Tätigkeit sofort
an Ort und Stelle öffentlich erschießen, damit sie bloß
nicht in Versuchung geraten, noch einer anderen sinnstiftenden Verwendung zugeführt zu werden. Das kann man
doch nicht ernsthaft verlangen. Das ist völlig blödsinnig
und fernab der Realität.
({3})
Herr Ernst, ich würde nie auf die Idee kommen, mit
Ihnen eine ernsthafte Debatte darüber zu führen, ob es
eigentlich legitim ist, dass Sie einen großen Teil von Gewerkschaftern, insbesondere von IG-Metallern, hinter
die Fichte geführt haben, weil Sie jetzt ständig im Namen der Linkspartei für sie sprechen. Das dürfen Sie machen. Das ist transparent und völlig in Ordnung. Kein
Mensch wird das ernsthaft kritisieren.
Unabhängigkeit ist immer relativ. In der ersten Debatte
über dieses Thema habe ich mir eine ganz interessante
Auseinandersetzung mit dem Kollegen Schui geliefert,
der selber Wissenschaftler ist, der dem Sachverständigenrat sicherlich auch gerne angehören würde - dieses
Schicksal war ihm allerdings nicht beschieden ({4})
und der sich hier über die geistige Unabhängigkeit verbreitet hat.
Im wissenschaftlichen Bereich, vor allen Dingen in
den Sozial-, Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften, gibt es überhaupt keine komplette Unabhängigkeit.
Jeder Mensch kommt irgendwoher, und jeder hat ein bestimmtes Weltbild; wenn man einen Lebenslauf liest,
weiß man meistens auch ungefähr, aus welcher Richtung
jemand kommt.
Es gab in allen Zeiten Sachverständige. Mal waren sie
stärker angebotsorientiert, mal stärker nachfrageorientiert. Mal lehnten die Sachverständigen den Keynesianismus ab, mal befürworteten sie ihn. Dabei spielten natürlich auch Zeitströmungen eine Rolle. Dadurch, dass
sich der Sachverständigenrat auf der Basis eines Rotationssystems rekrutiert, sind Innovationen zwangsläufig.
Niemand bleibt auf ewig Mitglied des Sachverständigenrates; es kommen immer neue hinzu. Dieses System ist
sehr gut angelegt.
Das ist auch der Grund, warum die neue amerikanische Regierung unter Präsident Obama angekündigt hat,
in den USA nach deutschem Vorbild einen unabhängigen Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung einzusetzen.
({5})
Im Gegensatz dazu haben die früheren amerikanischen
Präsidenten, zum Beispiel Reagan und Bush, Wissenschaftler nur beauftragt, genau das wissenschaftlich verbrämt zu verarbeiten bzw. zu produzieren, was ihnen
vorgegeben worden ist. Das ist ein Riesenunterschied.
Ich finde es gut, dass sich das jetzt ändert.
Auch andere europäischen Regierungen haben Sachverständigengremien. Diese Gremien sind allerdings
durch die Bank nicht so unabhängig wie der deutsche
Sachverständigenrat. Entweder unterstehen sie direkt
dem Präsidenten - in Frankreich ist das zum Beispiel der
Fall - oder dem Wirtschaftsminister. Sie haben eher den
Charakter eines Beirats und denken nicht unabhängig.
Was uns mit Blick auf die Sachverständigen ärgert,
ist, dass sie § 2 des Sachverständigenratsgesetzes manchmal nicht ernst nehmen. Darin heißt es, dass sie die Lage
analysieren, aber keine Empfehlungen für wirtschaftsund sozialpolitische Maßnahmen abgeben sollen, weil
sie dadurch oftmals die Regierung, die Handelnden, vorführen.
({6})
Wir Politiker müssen bei der politischen Entscheidungsfindung nämlich noch andere Gesichtspunkte berücksichtigen als nur die einer bestimmten wirtschaftswissenschaftlichen Schule oder die der reinen ökonomischen
Logik. Es gehört natürlich dazu, auch das Weiße im
Auge des Wählers zu sehen.
Die Wirklichkeit ist vielfältiger, als es die verengte
wirtschaftswissenschaftliche Sicht zulässt. Deswegen
kommen wir manchmal zu anderen Ergebnissen, um
nicht zu sagen: Eigentlich sind die Kollegen, seit es den
Sachverständigenrat gibt, seit 1963, fast immer zu anderen Ergebnissen gekommen als der Sachverständigenrat,
aber wir alle haben die Analysen mit großem Interesse
und hohem Genuss gelesen, für die eigene Erkenntnis
genutzt, aber unterschiedliche Schlüsse daraus gezogen,
so wie es sich eigentlich auch gehört.
Insofern gibt es keinen Bedarf für ein solches Gesetz.
Die Transparenz ist gegeben. Es bestehen keine verknöcherten Strukturen, weil die Besetzung des Sachverständigenrats regelmäßig wechselt. Professor Rürup ist das
beste Beispiel dafür, wie die Unabhängigkeit gewahrt
wird: durch ein charakterstarkes Verhalten. Nachdem er
einen anderen Job hat, scheidet er aus.
({7})
Insofern: Es besteht kein Bedarf, den Gesetzentwurf
weiterzuverfolgen. Wir lehnen ihn ab.
Vielen Dank.
({8})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Meine Lehrveranstaltungen an der Universität Frankfurt
zu Makroökonomie und Wirtschaftspolitik habe ich häufig mit einem Zitat von Terry Pratchett eingeleitet:
Wissenschaft: Eine Möglichkeit, um Dinge herauszufinden und sie funktionieren zu lassen. Die Wissenschaft erklärt, was die ganze Zeit über um uns
herum geschieht, ebenso wie die Religion. Doch die
Wissenschaft ist besser, weil sie glaubwürdigere
Ausreden bietet, wenn etwas nicht klappt.
Damit wollte ich den Studentinnen und Studenten
deutlich machen, dass die Volkswirtschaftslehre keine
objektive Naturwissenschaft ist, sondern dass hinter den
Modellen und vertretenen Positionen immer Ideologien
stecken, die durchaus Religionen ähneln.
Nun ist es traditionell so, dass der Sachverständigenrat einer dieser „Religionen“ nahesteht. So vertrat er in
der Vergangenheit vor allem eine angebotsorientierte
und marktliberale Position, auch bezüglich der Reform
der sozialen Sicherungssysteme - eine Ideologie, die offensichtlich nicht der der Linkspartei nahesteht, wie wir
alle wissen. Aber zu unterstellen, dass die einzelnen Mitglieder des Sachverständigenrats eine inhaltliche Position deshalb vertreten, weil sie auch Gutachten für bestimmte Auftraggeber erstellen, halte ich für aberwitzig.
Das ist absurd. Wenn überhaupt, bekommen die Mitglieder des Sachverständigenrats Aufträge, weil sie eine bestimmte inhaltliche Positionierung haben, und nicht umgekehrt.
({0})
Ich gebe zu, dass der Wechsel des Vorsitzenden des
Sachverständigenrats, Bert Rürup, zum Finanzdienstleister AWD scheinbar für den Gesetzentwurf der Linken
spricht. Aber ich kenne Bert Rürup lange genug - für
viele von Ihnen gilt das sicherlich auch -, um sagen zu
können, dass er Politik bestimmt nicht für irgendeine
Gruppierung oder politische Strömung macht, sondern
aus Überzeugung.
({1})
Ich gehe davon aus, dass das ebenfalls für die anderen
Mitglieder des Sachverständigenrats - einige kenne ich
auch - gilt.
({2})
Das sieht man nicht zuletzt daran, dass der Sachverständigenrat im neuesten Gutachten seine Position, zumindest bei konjunkturpolitischen Fragen, geändert hat;
das hat der Kollege Schultz gerade schon gesagt. Der
Sachverständigenrat fordert jetzt fiskalpolitische Maßnahmen und eine konjunkturgerechte Wachstumspolitik
durch öffentliche Investitionen in Höhe von 1 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts, also 25 Milliarden Euro, die
zumindest zum Teil durch eine höhere Neuverschuldung
finanziert werden sollen. Diese Forderungen gehen sehr
in Richtung dessen, was die Linkspartei konjunkturpolitisch vertritt. Okay, es geht wahrscheinlich nicht weit genug. Es ist eher die Position der Grünen, die da vertreten
wird. Aber was denken Sie, Herr Ernst: Wer hat denn
jetzt den Sachverständigenrat beeinflusst? Ich kann Ihnen sagen: die grüne Bundestagsfraktion sicherlich
nicht.
({3})
- Sie unterstellen aber doch, dass der Herr Rürup bestimmte Positionen vertritt, weil er mit der Versicherungswirtschaft zusammenarbeitet.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schneider?
({0})
Ich habe jetzt nur noch einen Aspekt vorzutragen. Dabei gehe ich auch auf die Frage ein, die der Kollege vermutlich stellen will. Er kann dann ja noch eine Kurzintervention machen.
({0})
Der Sachverständigenrat bestimmt seine Positionen
nach meiner festen Überzeugung danach, was er ökonomisch für richtig hält, wobei ökonomische Theorien,
Kenntnisse, aber natürlich immer auch Ideologien - dessen sollte man sich bewusst sein; das sage ich einmal
den Kolleginnen und Kollegen auf der rechten Seite eine Rolle spielen. Dennoch bin ich der Auffassung, dass
es völlig überzogen ist, zu fordern, dass die Wirtschaftsweisen denselben Regeln wie Abgeordnete unterworfen
werden.
Die fünf Wirtschaftsweisen sind Gott sei dank keine
Wirtschaftsregierung und auch keine Abgeordneten,
sondern ein Sachverständigenrat. Sie sind unabhängige
Wissenschaftler, die sich der Wissenschaft verpflichtet
fühlen. Sie müssen - darauf wurde schon hingewiesen bereits heute als Beamte gegenüber ihrem Arbeitgeber,
der Universität, ihre Nebeneinkünfte offenlegen. Sie
sind also bekannt. Insofern obliegt die Prüfung der Un21044
abhängigkeit der Professoren der Universität. Das ist gut
so und reicht nach unserer Auffassung völlig aus.
Insofern ist der Gesetzentwurf überflüssig. Wir werden dagegen stimmen.
({1})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen Schneider.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute war mehrfach zu hören, wie unbedenklich all das ist, was Herr
Rürup tut, und welche Begeisterung in Bezug auf seine
Person herrscht. Er hat fast einen Heiligenschein verliehen bekommen.
Ich darf aber in diesem Zusammenhang auf eines hinweisen, was mich als rentenpolitischen Sprecher meiner
Fraktion sehr berührt hat. Mir ist auf einmal aufgefallen,
dass Herr Rürup - es war übrigens noch nicht die Rede
davon, dass er wechselt - Riester-Produkte eines ganz
bestimmten Anbieters empfohlen hat, nämlich Swiss
Life. Ich war darüber etwas erstaunt, weil dieser Anbieter weder von Finanztest noch von Öko-Test, die regelmäßig die Riester-Produkte testen, in irgendeiner Form
herausgehoben genannt wurde.
Als dann die Mitteilung kam, dass Herr Rürup zu
AWD wechselt, habe ich mich nicht mehr gewundert,
weil nämlich der Hauptanteilseigner von AWD Swiss
Life ist. Diese Zusammenhänge machen mich etwas
skeptisch. Insofern kann ich Ihr unendliches Vertrauen in
Herrn Rürup wahrhaftig so nicht teilen.
Auch dass er als edle Geste am 31. März ausscheidet,
weil er ab 1. April für AWD arbeitet, kann ich nicht
nachvollziehen. Eine wirklich edle Geste wäre es gewesen, sofort zurückzutreten, weil er wegen seiner Tätigkeit für AWD nicht mehr unabhängig ist.
({0})
Herr Kollege Strengmann-Kuhn, Sie können antworten.
Herr Kollege, ich antworte ganz kurz: Es geht nicht
um einen Heiligenschein, sondern darum, dass der
Mensch nicht in eine bestimmte Ecke gestellt werden
soll. Ich bin weiß Gott nicht immer einer Meinung mit
Bert Rürup, aber es geht darum, sich mit ihm und dem
Sachverständigenrat inhaltlich auseinanderzusetzen,
statt ihm irgendetwas zu unterstellen.
Es geht hierbei um objektive wissenschaftliche Positionen. Mit diesen kann man sich auseinandersetzen, genauso wie ich mich mit Herrn Schui auseinandersetze.
Ihm unterstelle ich auch nicht irgendetwas. Darum geht
es, nicht um einen Heiligenschein.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Die Linke zur Änderung des
Gesetzes über die Bildung eines Sachverständigenrates
zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10507, den Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/8980 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 17. Dezember 2008, 13 Uhr,
ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch den Besucherinnen und Besuchern auf der Tribüne ein schönes
Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.