Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/5/2008

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nehmen Sie bitte Platz, die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich zur Behandlung der für den heutigen Vormittag vorgesehenen Tagesordnungspunkte. Dazu rufe ich zunächst unsere Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 e auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente - Drucksachen 16/10810, 16/11196 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) - Drucksache 16/11233 Berichterstattung: Abgeordneter Stefan Müller ({1}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/11237 Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel Carsten Schneider ({3}) Dr. Claudia Winterstein Dr. Gesine Lötzsch Alexander Bonde b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({4}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Arbeitsmarktinstrumente auf effiziente Maßnahmen konzentrieren - zu dem Antrag der Abgeordneten Kornelia Möller, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Arbeitslosenversicherung stärken - Ansprüche sichern - Öffentlich geförderte Beschäftigte einbeziehen - zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Irmingard ScheweGerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lokale Entscheidungsspielräume und passgenaue Hilfen für Arbeitsuchende sichern - Drucksachen 16/9093, 16/10511, 16/8524, 16/11233 Berichterstattung: Abgeordneter Stefan Müller ({5}) c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Katrin Göring- Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechte von Arbeitsuchenden stärken - Kom- petentes Fallmanagement sicherstellen - Drucksachen 16/9599, 16/11142 - Berichterstattung: Abgeordnete Kornelia Möller d) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitsförderung - Drucksache 16/10806 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({7}) - Drucksache 16/11241 Berichterstattung: Abgeordneter Stefan Müller ({8}) Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert - Bericht des Haushaltsausschusses ({9}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/11242 Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel Carsten Schneider ({10}) Dr. Claudia Winterstein Dr. Gesine Lötzsch Alexander Bonde e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({11}) zu dem Antrag der Abgeordneten Kornelia Möller, Klaus Ernst, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Handlungsfähigkeit der Bundesagentur für Arbeit erhalten - Auf Senkung der Beitragssätze verzichten - Drucksachen 16/10618, 16/11241 Berichterstattung: Abgeordneter Stefan Müller ({12}) Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitsförderung liegt ein Entschließungsantrag der FDP-Fraktion vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Klaus Brandner.

Klaus Brandner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003053

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir beschließen heute zwei wichtige Gesetzentwürfe: den Gesetzentwurf zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente und den Gesetzentwurf zur Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitsförderung. Beide Gesetzentwürfe sind gerade angesichts der zu erwartenden Folgen der Finanzkrise für die Entwicklung des Arbeitsmarktes wichtig. Sie werden daher genau zum richtigen Zeitpunkt beschlossen. Sie zeigen nachdrücklich, dass die Große Koalition handlungsfähig ist. Die internationale Banken- und Finanzkrise fordert in manchen Bereichen einen grundlegenden Paradigmenwechsel. Den Satz „Es wird nie wieder so sein wie vor der Krise“ haben wir in den letzten Wochen des Öfteren gehört. Auf dem Arbeitsmarkt brauchen wir einen solchen tiefgreifenden Einschnitt nicht. Durch die Reformen, die die vorherige Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder in die Wege geleitet hat, ({0}) ist der Arbeitsmarkt dynamischer geworden, und die Arbeitsvermittlung ist besser und leistungsfähiger geworden. Insofern sind wir beim Reformprozess auf einem guten Weg. Deshalb sollten wir selbstsicher an die Herausforderungen der Zukunft herangehen. ({1}) Dass wir jetzt schon zwei Monate hintereinander eine Arbeitslosenzahl von unter 3 Millionen verzeichnen konnten - und das, obwohl sich schon im Sommer das Klima in der Wirtschaft merklich abgekühlt hatte -, zeigt, dass unsere Reformen erfolgreich waren. Wir wollen, dass sich diese Entwicklung fortsetzt. Unser Ziel bleibt: Die Arbeitsvermittlung in unserem Land muss eine der leistungsfähigsten Institutionen sein und bei dem Modernisierungsprozess von Institutionen an der Weltspitze stehen. Wir wollen das Versprechen geben und einlösen, dass in naher Zukunft niemand mehr länger als ein Jahr nach Arbeit suchen muss. Mit der internationalen Banken- und Finanzkrise ist die Aufgabe - das wissen wir gewiss noch größer geworden. Statt mit Pessimismus Existenzängste in der Bevölkerung zu verbreiten, zeigen wir, dass wir gut aufgestellt und in der Lage sind, auf diese Situation zu reagieren. Genau das tun wir heute mit den beiden zu beschließenden Gesetzentwürfen. Mit der Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente verbessern wir die Leistungsfähigkeit der Arbeitsförderung angesichts der Herausforderungen einer sich hoffentlich nur vorübergehend abschwächenden Konjunktur. Damit mildern wir die Folgen für die dadurch von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen. In dieser Situation sind wir alle gefordert: der Staat, die Wirtschaft und die Gewerkschaften, zum Beispiel durch Kurzarbeit, durch die Nutzung von Beschäftigungssicherungstarifverträgen, durch Qualifizierungsmaßnahmen, durch Arbeitszeitkonten. Wir müssen verantwortliches, kreatives und auch mutiges Handeln zeigen, damit die Arbeitslosigkeit in der Krisensituation nicht ansteigt. Wir alle gemeinsam müssen dafür sorgen, die Arbeitsplätze der Menschen zu sichern. Das muss die Botschaft des Tages sein. ({2}) Mit der Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitsförderung setzen wir auch ein beschäftigungspolitisches Signal und entlasten damit die Beitragszahler. ({3}) Das trägt zur Belebung der Konjunktur bei, weil Unternehmen wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Geld zur Verfügung haben. Dennoch werden wir die Handlungsspielräume der Arbeitsmarktpolitik nicht einschränken. Im Gegenteil, im kommenden Jahr werden für die aktive Arbeitsförderung und auch für die Eingliederungsleistungen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende mehr Mittel zur Verfügung stehen, als wir im laufenden Jahr voraussichtlich ausgeben werden. Mit dem Gesetzentwurf zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente führen wir die Arbeitsmarktreformen konsequent weiter, indem wir den Akteuren vor Ort noch mehr Verantwortung und GestalParl. Staatssekretär Klaus Brandner tungsspielraum geben. Ich habe in letzter Zeit immer häufiger den Vorwurf gehört, es gebe vor Ort nicht genügend Freiräume für flexibles Handeln. Der Bund bevormunde die lokalen Akteure. Mit der Neuausrichtung der Instrumente würden die letzten Freiräume auf regionaler Ebene abgeschafft. ({4}) Das ist mitnichten der Fall, um es deutlich zu sagen. Im Gesetzgebungsverfahren ist genau an dieser Stelle eine deutliche Justierung vorgenommen worden. Ich glaube, auch das Einwirken der Koalitionsfraktionen in dem gesamten Prozess hat gezeigt, dass gemeinsam an einem guten Gesetzentwurf gearbeitet worden ist, sodass Freiräume gegeben sind und genügend finanzielle Mittel für die Akteure vor Ort zur Verfügung stehen. ({5}) Richtig ist: Der Einsatz der arbeitsmarktpolitischen Instrumente und die konkrete Verteilung der Mittel erfolgen grundsätzlich durch die Entscheidungen in den zuständigen Arbeitsagenturen und bei den Trägern der Grundsicherung vor Ort. Alle Maßnahmen, die im Rahmen von SGB II und SGB III erfolgreich und wirksam sind, werden auch in Zukunft eingesetzt werden können, und das auf fester gesetzlicher Basis. Zum Teil bekommen bisher vielfach erfolgreich erprobte Maßnahmen wie zum Beispiel die Unterstützung beim Nachholen eines Hauptschulabschlusses nun eine feste Rechtsgrundlage. Schon mit den Arbeitsmarktreformen haben wir konsequent die Verantwortung der Akteure vor Ort gestärkt. Wir setzen gezielt auf deren Know-how und Kompetenz. Jetzt eröffnen wir noch mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Wir nehmen gesetzliche Regelungen dort zurück, wo eine passgenaue Unterstützung bei der Eingliederung erforderlich ist. Damit erleichtern wir wesentlich die Handhabung der Instrumente vor Ort. Wir wissen, dass in den Arbeitsagenturen, den Arbeitsgemeinschaften und bei den zugelassenen kommunalen Trägern im engen Kontakt mit den zu Fördernden am besten erkannt werden kann, welche Maßnahmen und welche Abläufe im Einzelnen zur Integration führen und bei der Integration helfen können. Die dafür erforderlichen gesetzlichen Regelungen müssen so einfach und transparent wie möglich sein. Das ist ein wichtiges Ziel dieses Gesetzentwurfs. Allein im „Vermittlungsbudget“ und in den „Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung“ gehen 17 bisherige Einzelinstrumente und individuelle Förderleistungen auf. In Zukunft steht ein Zehntel des gesamten Eingliederungstitels im Bereich des SGB II für freie und maßgeschneiderte Förderungen zur Verfügung. Wer da noch von Gängelung spricht, meine Damen und Herren, dem kann ich nun wirklich nicht mehr weiterhelfen. ({6}) Meine Damen und Herren, parallel dazu senken wir den Beitragssatz zur Arbeitsförderung. Damit setzen wir einen kräftigen Impuls für die Beitragszahlenden, für sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und für den Arbeitsmarkt. Das ist möglich, richtig und wichtig. Das ist möglich, weil wir mit unserer Politik mehr Beschäftigung und weniger Arbeitslosigkeit erreicht haben, und das ist richtig und wichtig, weil wir damit Arbeitnehmer und Arbeitgeber durch die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge entlasten. Dieses Ziel unserer Koalition - Senkung der Beiträge, ohne die Leistungen einzuschränken - haben wir besonders im Bereich der Arbeitsförderung erfüllt und erreicht. Ich möchte daran erinnern, dass der Beitragssatz im Jahre 2006 noch bei 6,5 Prozent lag. Auch 1998 lag er bei 6,5 Prozent. Er lag fast zwei Jahrzehnte in dieser Größenordnung. Die jetzige spürbare Senkung ist natürlich ein deutliches Signal, dass wir auch in einer schwierigen konjunkturellen Zeit Mittel zur Verfügung stellen, um die Kaufkraft und die Nachfrage, die in der jetzigen Zeit dringend gebraucht werden, zu stärken. ({7}) Mit Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzentwurfes senken wir den Beitragssatz zum 1. Januar 2009 langfristig auf 3 Prozent. Gleichzeitig wird die Bundesregierung den Beitragssatz durch Rechtsverordnung vom 1. Januar 2009 bis zum 30. Juni 2010, wie Sie wissen, zusätzlich senken, und zwar auf 2,8 Prozent. ({8}) Damit entlasten wir die Beitragszahler insgesamt um rund 30 Milliarden Euro. Mit diesem Konjunkturprogramm in Höhe von 30 Milliarden Euro setzen wir ein deutliches Signal für mehr Beschäftigung und Stabilität. Die Beschäftigten können sicher sein, dass die Unternehmen, in denen sie arbeiten, und ihre Arbeitsplätze nicht durch eine kurzfristige prozyklische Anhebung des Beitragssatzes gefährdet werden. ({9}) Darauf kommt es uns besonders an, nicht darauf, was die Pessimisten von der Linken ankündigen. ({10}) Meine Damen und Herren, die Menschen in unserem Land, diejenigen, die von Arbeitslosigkeit bedroht oder betroffen sind, aber auch diejenigen, die mit ihren Steuern und Beiträgen Tag für Tag dazu beitragen, dass arbeitsuchende Menschen in Beschäftigung kommen, sie alle können mit Recht von uns erwarten, dass wir gute Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik schaffen. Arbeitsmarktpolitik ist gut, wenn es gelingt, die Arbeitsuchenden erfolgreich und schnell zu unterstützen, wenn es gelingt, die Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, und wenn es gelingt, den Menschen die Chance zu erhalten, dass sie sich durch Arbeit beweisen können, dass sie gebraucht werden und dass Arbeit einen Wert hat. Deshalb sage ich zum Schluss ganz deutlich: Gute Arbeit in Deutschland ist und bleibt unser zentrales Anliegen. Daran arbeiten wir, und zwar in möglichst großer Geschlossenheit. Herzlichen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die FDP-Fraktion erhält nun der Kollege Dirk Niebel das Wort. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Eloquenz des Vortrags des Staatssekretärs zeigt ziemlich deutlich, wie begeistert man von den vorliegenden Gesetzentwürfen ist. ({0}) Zumindest was die Arbeitsmarktinstrumente betrifft, ist es auch richtig, ({1}) dass der Staatssekretär mit gedämpftem Schaum gesprochen hat. ({2}) Was die Beitragssenkung angeht, muss ich sagen: Sie ist nötig. Die erste Beitragssenkung dieser Bundesregierung ist übrigens - das wollen wir nicht vergessen - durch die Mehrwertsteuererhöhung finanziert worden. Das war die Merkel-Steuer, Herr Staatssekretär, die Sie wahrscheinlich gerne vergessen möchten. ({3}) Die Beitragssenkung ist deshalb notwendig und richtig, weil seit Monaten immer wieder erzählt wird, die Bundesagentur für Arbeit würde Überschüsse erwirtschaften. Die Bundesagentur kann alles Mögliche, aber eines kann sie mit Sicherheit nicht: irgendetwas erwirtschaften. Das gesamte Geld, das sie eingesammelt hat und das als Rücklage bezeichnet wird, ist den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern vorher zu viel weggenommen worden. ({4}) Es muss natürlich zurückgegeben werden, und zwar gerade jetzt. Aus diesem Grunde unterstützen wir die Beitragssenkung ausdrücklich. ({5}) Wir würden uns wünschen, dass Sie die Beiträge auch in anderen Bereichen deutlich senken. Wenn jetzt so getan wird, als sei das eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger, wird immer wieder gerne vergessen, dass die Pflegeversicherungsbeiträge gestiegen sind, ({6}) dass die Krankenversicherungsbeiträge gestiegen sind und dass auch die Rentenversicherungsbeiträge gestiegen sind, seit Sie die Regierungsverantwortung tragen. ({7}) Den Beitragssatz zur Rentenversicherung könnte man um 0,3 Prozentpunkte senken, ohne die Nachhaltigkeitsrücklage antasten zu müssen. ({8}) Dadurch könnte man eine echte Entlastung der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber organisieren. Das wäre auch sinnvoll. Denn die Wissenschaft geht davon aus, dass ein Beitragspunkt ungefähr 100 000 Arbeitsplätze bringt bzw. dass ein Beitragspunkt zu viel 100 000 Arbeitsplätze verhindert. Die Bundesagentur geht davon aus, dass im nächsten Jahr aufgrund des konjunkturellen Abschwungs mit durchschnittlich 30 000 zusätzlichen Arbeitslosen gerechnet werden muss. Wir brauchen eigentlich nur eine einfache Rechnung nach Adam Riese aufzumachen: 0,3 Beitragssatzpunkte weniger in der Rentenversicherung machen 30 000 Arbeitslose weniger, und das ergibt ein durchschnittliches Arbeitslosenaufkommen, das ungefähr dem jetzigen entspricht, und das trotz einer Phase wirtschaftlichen Abschwungs. Daran trauen Sie sich überhaupt nicht. ({9}) Wir als FDP wollen ausdrücklich die Entlastung der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Nun werden hier die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten entlastet - nur sie; demgegenüber werden bei der Erhöhung des Beitragssatzes zur Krankenversicherung alle belastet -, aber dazu müssen wir deutlich sagen: So wie Sie das hier vorsehen, können wir dem, obwohl wir die Beitragssenkung wollen und sie auch richtig und notwendig ist, schlichtweg nicht zustimmen; denn Sie machen wieder genau das, was Sie schon die ganze Zeit machen: Sie verlagern Belastungen, die eigentlich gesamtgesellschaftlich, also aus dem Bundeshaushalt, getragen werden müssen, auf die Kasse der Versicherten. Es sind Belastungen in zwei Bereichen, die Sie mal eben so en passant mit Änderungsanträgen festschreiben, die Sie im Ausschuss für Arbeit und Soziales nachgeschoben haben. ({10}) Die Beitragszahler sollen jetzt für die Versicherungspflichtigen bezahlen, die erziehen. Das hat bisher der Bund gemacht. Das ist eine Mehrbelastung von 290 MilDirk Niebel lionen Euro Jahr für Jahr für die Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Was Sie aus der Mehrwertsteuererhöhung dem Beitragstopf bisher monatlich zuführen - daraus wollen Sie angeblich arbeitsmarktpolitische Leistungen finanzieren -, wollen Sie jetzt nur noch jährlich im Nachhinein zuführen, damit der Bundesfinanzminister 170 Millionen Euro an zusätzlichen Zinseinnahmen hat, die eigentlich den Beitragszahlern gehören würden. Das sind die Gründe dafür, dass wir uns bei diesem Gesetz, obwohl wir für die Entlastung bei der Arbeitslosenversicherung sind, leider nur enthalten können. Wieder einmal organisieren Sie hier den Verschiebebahnhof „Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben zulasten von Arbeitnehmern und Arbeitgebern“. ({11}) Was den Bereich der arbeitsmarktpolitischen Instrumente betrifft, möchte ich noch einmal daran erinnern, dass Sie schon in Ihrem Koalitionsvertrag, der sinnigerweise am 11. 11. 2005 unterschrieben worden ist, gesagt haben, dass spätestens bis Ende 2007 die arbeitsmarktpolitischen Instrumente neu sortiert werden sollen. Mit dem, was Sie jetzt vorlegen, erreichen Sie nicht nur nach unserer Meinung dieses Ziel nicht - Sie wollten mehr Transparenz und mehr Effizienz schaffen -; auch der Bundesrat, in dem die FDP immer noch keine Mehrheit hat, ({12}) sagt ausdrücklich, dass mit diesem Gesetz das Ziel, das sich die Bundesregierung vorgenommen hat, nicht erreicht wird. Wir bräuchten arbeitsmarktpolitische Instrumente, die den Kriterien der Effizienz und der Zielgruppenorientierung gerecht werden. Stattdessen schlagen Sie Maßnahmen vor, die wieder zentralisieren und die Nürnberger Anstalt in den Mittelpunkt stellen, statt die Möglichkeiten der freien Kräfte vor Ort und der flexiblen Instrumente vor Ort wirklich nachhaltig zu fördern. Die Entscheidungskompetenz vor Ort ist genau das, was wir in einer Situation brauchen, in der es wirtschaftlich schwieriger wird. Gerade vor Ort kann man entscheiden, ob eine Maßnahme der Qualifizierung und Bildung oder eine assistierte Vermittlung notwendig ist. Das kann in Rostock ganz anders sein als in Passau. Deswegen brauchen wir diese flexiblen Instrumente mit möglichst viel Entscheidungskompetenz für die Arbeitsvermittlerinnen und Arbeitsvermittler. ({13}) Die Bundeskanzlerin hat einen Bildungsgipfel veranstaltet, der über Maulwurfshügelniveau nicht hinausgekommen ist. Aber in dem Bereich, der ihre bundespolitische Kompetenz ist, nämlich in der beruflichen Bildung und Weiterbildung, hat sie überhaupt keine Akzente gesetzt. Auch in der Zusammenfassung neuer arbeitsmarktpolitischer Instrumente ist eine Akzentsetzung nicht erkennbar. Der Bereich, für den Sie Kompetenzen haben, wird kläglich vernachlässigt, und in anderen Bereichen tummeln Sie sich medienöffentlich, ohne im Ergebnis etwas zu erreichen. Der Rechtsanspruch auf Nachholung des Hauptschulabschlusses, finanziert aus Mitteln der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, ist mit Sicherheit das am wenigsten geeignete Instrument, um Langzeitarbeitslose ohne Schulabschluss wieder in Beschäftigung zu bringen. ({14}) Ein Hauptschulabschluss kann bei jungen Leuten ein Mittel sein, kann helfen, aber noch niemand hat mir erklären können, warum der 47-jährige ungelernte Arbeitslose mit dem Hauptschulabschluss bessere Vermittlungsmöglichkeiten haben soll. Und das sollen dann die Beitragszahler zahlen, obwohl das Schulsystem, also die Gesamtgesellschaft, versagt hat! ({15}) Der Bundesarbeitsminister ist angetreten - ich komme zum Schluss, Herr Präsident - mit dem Anspruch, die Bundesagentur für Arbeit zur weltbesten Vermittlung zu machen. Sie sind mittlerweile nicht auf dem Weg zur weltbesten Arbeitslosenverwaltung, sondern auf dem Weg zur weltgrößten Arbeitslosenverwaltung. Wenn wir heute, bei unter 3 Millionen Arbeitslosen, über 100 000 Beschäftigte bei der Bundesagentur zählen, während es 2003, bei noch 5 Millionen Arbeitslosen, 87 000 Beschäftigte waren, dann zeigt das: Sie sind auf dem falschen Weg. Sie gehen in die falsche Richtung. Sie verschwenden das Geld der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Dafür können wir unsere Hand nicht reichen. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Ralf Brauksiepe ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Niebel, Sie haben von der Eloquenz des Staatssekretärs gesprochen. Ich gebe gleich zu: Wir alle können mit Ihrer Eloquenz nicht mithalten. ({0}) Da sind Sie besser. Aber dafür reden wir zur Sache und zu den Menschen. Das ist der Unterschied zu dem, was Sie vorgetragen haben. ({1}) Zur Sache gehört, dass die Regierung Merkel die Beitragssatzsenkungsregierung ist, was die Arbeitslosenversicherung angeht. Darauf hat Staatssekretär Brandner völlig zu Recht hingewiesen. Gegenüber 2006 haben wir den Arbeitslosenversicherungsbeitrag um 3,7 Prozentpunkte gesenkt. Das entspricht einer Entlastung von 30 Milliarden Euro für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das ist das Ergebnis unserer Arbeit in der Großen Koalition. 265 Euro Entlastung für einen Arbeitnehmer bei einem Jahresbruttoeinkommen von 30 000 Euro: Das ist die stolze Bilanz der Entlastung der Menschen, die diese Große Koalition vorlegen kann. ({2}) Sie haben an eine Tradition angeknüpft, die Sie schon in der ganzen Legislaturperiode in diesem Hause verfolgt haben. Sie haben noch keiner einzigen Beitragssatzsenkung in der Arbeitslosenversicherung zugestimmt, ({3}) obwohl es schon drei Versuche gab. Spätestens nach dem dritten Versuch ist man üblicherweise durchgefallen. Sie sind also mit Ihrer Politik der Verhinderung von Beitragssatzsenkungen durchgefallen. ({4}) Das Haushaltsrecht ist das Königsrecht des Parlaments, Herr Kollege Niebel. ({5}) Wir haben in der letzten Woche einen Bundeshaushalt beschlossen, der für die Erstattung von Beiträgen für Erziehende durch den Bund an die Bundesagentur für Arbeit keine Mittel mehr vorsieht. Das kann man so oder so sehen. Jeder Bundeshaushalt ist immer auch ein Kompromiss, den man schließen muss. Aber wenn keine Mittel mehr vorgesehen sind, dann ist es auch nicht möglich, einen entsprechenden Rechtsanspruch aufrechtzuerhalten. Von daher vollziehen wir in dieser Woche rechtstechnisch das nach, was der Bundestag als Haushaltsgesetzgeber in der letzten Woche beschlossen hat. Das taugt ziemlich wenig, um zu begründen, dass Sie einer Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge nicht zustimmen wollen. Es ist eine sehr schwache Begründung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. ({6}) Wir haben von daher als Große Koalition auch diese Senkung wieder alleine durchführen müssen. Wir haben mit dieser Politik der Entlastung der Beitragszahler in den vergangenen Jahren große Erfolge erzielt. Das können wir auch jetzt tun, weil wir nach wie vor die beste Lage auf dem Arbeitsmarkt seit 16 Jahren haben. Allen Unkenrufen und all denjenigen zum Trotz, die im Oktober darauf hingewiesen haben, dass wir erstmals und letztmals eine Situation mit weniger als 3 Millionen Arbeitslosen haben würden, kann man feststellen: Diese positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt hält auch aktuell an. Angesichts dieser positiven Entwicklung sind wir bereit und in der Lage, die Beiträge weiter zu senken. Wir wissen, dass die BA keine Sparkasse ist. Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt, um die Auswirkungen der Finanzmarktkrise auf den Arbeitsmarkt gering zu halten, um auch hier zu einer weiteren Entlastung der Menschen zu kommen. Deswegen gehen wir diesen Weg. ({7}) Wir haben weitere Rekordzahlen auf dem Arbeitsmarkt, die uns darin bestärken, diesen Weg zu gehen. Wir haben nicht nur die niedrigste Zahl an Arbeitslosen seit 16 Jahren, sondern wir haben auch mit 28 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die in die sozialen Sicherungssysteme einzahlen, und mit 41 Millionen Erwerbstätigen die höchsten Beschäftigtenzahlen seit langer Zeit. Auf diese Rekordzahlen können wir gemeinsam stolz sein, und wir sind auch stolz darauf, dass wir die paritätisch finanzierten Beiträge zu den Sozialversicherungen auf 39,25 Prozent und die Beiträge der Arbeitgeber auf deutlich unter 20 Prozent gesenkt haben. Das war unser Ziel, das auch erreicht wurde. Darauf sind wir stolz. ({8}) Wir wissen, dass die Bundesagentur für Arbeit keine Sparkasse ist. Deswegen sind wir ganz klar der Auffassung, dass man jetzt auch eine Situation akzeptieren kann, in der die BA möglicherweise auf die Reserven zurückgreifen muss. Ich rate aber auch dabei zur Vorsicht. Im letzten Jahr hatten wir eine um 11 Milliarden Euro bessere Situation bei der Bundesagentur für Arbeit als erwartet. Wir werden auch in diesem Jahr bei der Bundesagentur für Arbeit um rund 3,5 Milliarden Euro besser dastehen als geplant. Von daher kann man feststellen, dass unsere Entlastungen, die wir den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, gut durchkalkuliert und solide finanziert sind. Deswegen beschreiten wir diesen Weg. ({9}) Ich will noch auf den Gesetzentwurf zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente eingehen. Es war uns als CDU/CSU wichtig, dass im Koalitionsvertrag vereinbart worden ist, zu einer deutlichen Reduzierung der Zahl der arbeitsmarktpolitischen Instrumente zu kommen. Wir haben gesagt: Was sich als wirksam erwiesen hat, wird fortgeführt; was nicht gebraucht worden ist oder sich als unwirksam erwiesen hat, das wird gestrichen. Das ist genau der Weg, den wir gegangen sind, wodurch wir zu einer deutlichen Reduzierung der Zahl der Instrumente gekommen sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben nicht einfach irgendetwas weggestrichen, sondern wir haben vor allem für mehr Flexibilität vor Ort gesorgt. Wir haben mit der Einführung des Vermittlungsbudgets dafür gesorgt, dass die Vermittler nicht mehr kleinkariert nach jeder Einzelheit gucken müssen, sondern dass sie wirklich Flexibilität haben, um vor Ort zu entscheiden, was ein Arbeitsloser braucht, der erst kurze Zeit arbeitslos ist, und vor allem, welche möglicherweise unkonventionellen Wege gegangen werden müssen, um Menschen, bei denen das normale Instrumentarium der Arbeitsförderung über 12 oder 18 Monate nichts genutzt hat, in Arbeit zu bringen. Das haben wir getan. Wir haben das klare Signal gesetzt: Es gibt mehr Handlungsfreiheit und mehr Flexibilität vor Ort, um mehr konkrete und passgenaue Hilfe für die Menschen zu ermöglichen. Das ist ein großer arbeitsmarktpolitischer Fortschritt. ({10}) Wir haben den Gesetzentwurf mit den Änderungsanträgen, die wir als Koalitionsfraktionen eingebracht haben, erheblich verbessert. Diese sind auf unseren Vorschlag hin vorgestern im Ausschuss für Arbeit und Soziales beschlossen worden. Ich möchte mich auch bei den Kolleginnen und Kollegen der SPD herzlich dafür bedanken, dass wir dies mit Pragmatismus und Augenmaß gemeinsam tun konnten. Wir haben uns darauf verständigt, dass über die Flexibilisierung hinaus, die durch das Vermittlungsbudget entstanden ist, auch die Freie Förderung im Bereich des Sozialgesetzbuchs III - also für diejenigen, die erst kurze Zeit arbeitslos sind - in Höhe von 10 Prozent erhalten bleibt. Wir haben die im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehenen Mittel für die Freie Förderung von Langzeitarbeitslosen von 2 Prozent auf 10 Prozent verfünffacht. Darüber hinaus haben wir jede Menge zusätzliche Flexibilisierungsmöglichkeiten eingebaut. Von daher sind jetzt ziel- und passgenaue Möglichkeiten vorhanden, um Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Das ist unser Ziel gewesen. Ich will gleichzeitig sagen, obwohl es selbstverständlich ist, dass dies kein Gesetz zur Aufhebung der Gewaltenteilung in Deutschland ist. Das klingt selbstverständlicher, als es manchmal zu sein scheint, wenn man Debatten führt. Die Kollegin Pothmer wird gleich noch sprechen. Wir haben schon manche Runde gemeinsam mit Landräten und Arge-Geschäftsführern gehabt, in der ich von der Kollegin aufgefordert worden bin, dafür zu sorgen, dass das Arbeitsministerium nicht mehr so böse Briefe an Landräte und Arge-Geschäftsführer schreibt. Es wird natürlich auch weiterhin so sein, dass die Abgeordneten ihre Briefe nicht auf Bögen des Ministeriums schreiben. Daran wird sich nichts ändern. Die Kollegin Pothmer weiß das auch; sie sagte nämlich dann auf den Hinweis: Herr Brauksiepe, Sie haben ja recht. Aber ich habe doch so viel Beifall bekommen; da musste ich das doch einfach einmal fordern. ({11}) So machen wir nicht Politik, meine Damen und Herren. Ich will nur klar sagen: Die Briefe des Ministeriums an die Geschäftsführer der Argen und an die Landräte werden weiterhin im Ministerium geschrieben werden. ({12}) Aber auf den Gesetzgeber kann sich niemand berufen, der im Geiste des Misstrauens und der Nichtkooperation agieren will. Dies ist ein Gesetzentwurf, der auf Vertrauen, Kooperation und gleiche Augenhöhe setzt. Das ist der klare Rahmen, den wir als Gesetzgeber heute schaffen. Ganz herzlichen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Werner Dreibus ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Werner Dreibus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003749, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir sind mitten in einer schweren Wirtschaftskrise. Jedes vierte Unternehmen denkt über Entlassungen nach. Die OECD befürchtet, dass es Ende nächsten Jahres bereits 700 000 Arbeitslose mehr sein könnten. Immer mehr Kurzarbeit und deutlich mehr Arbeitslose werden Tag für Tag - das gilt im wörtlichen Sinne - zur bitteren Realität. Schon allein deshalb sind die heute von der Großen Koalition vorgelegten Gesetzentwürfe absolut daneben. ({0}) Wenn Sie nur einen Funken Mut und Verantwortung hätten, dann hätten Sie angesichts der aktuellen Lage mit Ihrer Mehrheit beide Gesetzentwürfe von der heutigen Tagesordnung abgesetzt. ({1}) Schauen wir uns die Ausgangslage am Arbeitsmarkt noch einmal genauer an! Es gibt offiziell knapp 3 Millionen Arbeitslose. Hinzukommen mehr als 1 Million Menschen, die nur deshalb nicht als arbeitslos gelten, weil sie in Maßnahmen der Arbeitsförderung sind, sowie mindestens 600 000 Menschen in der stillen Reserve. Das sind die Zahlen am Ende des Aufschwungs. Ich denke, das ist genau das Gegenteil einer erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik. ({2}) Weiter: Zwischen 2003 und 2007 wurden fast 1 Million Vollzeitarbeitsplätze abgebaut. Dafür boomen prekäre Beschäftigungsverhältnisse wie Leiharbeit, Miniund Midijobs oder Befristungen. Die Beschäftigten sind genau diejenigen, die nun als Allererste ihre Arbeitsplätze verlieren. Das passiert bereits täglich. Hinzu kommt: Millionen Menschen arbeiten zu Niedriglöhnen. Welch eine katastrophale Bilanz, und das am Ende einer Aufschwungperiode, bevor die Krise auf dem Arbeitsmarkt überhaupt angekommen ist! Was wir jetzt dringender denn je brauchen, ist mehr und bessere Arbeitsmarktpolitik. Deshalb ist das Allerletzte, was man in einer solchen Situation machen kann, eine Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. ({3}) Die Bundesagentur für Arbeit muss doch in der Lage sein, eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, und zwar angesichts der steigenden Arbeitslosenzahlen mehr denn je. ({4}) Dafür braucht sie eine angemessene finanzielle Ausstattung und nicht reduzierte Einnahmen. Die Bundesagentur für Arbeit selbst rechnet bei einer Senkung des Beitragssatzes auf 2,8 Prozent für 2009 mit einem Defizit von fast 6 Milliarden Euro, vorausgesetzt, die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt stagniert. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Herr Weise, hat es im Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgerechnet: Sollte es im nächsten Jahr durchschnittlich nur 130 000 Arbeitslose mehr geben, dann müsste die BA allein im Jahr 2009 mit 700 Millionen Euro Mehrausgaben rechnen, und das bei nur 130 000 Arbeitslosen mehr, eine Zahl, die wahrscheinlich weit untertrieben ist und die weit weg von der zu befürchtenden Realität ist. Um es deutlich zu sagen: Wenn Sie in der aktuellen Lage auf Beitragssatzsenkungen bestehen - teilweise wider besseres Wissen, wie ich aufgrund dessen, was ich aus der Koalition höre, vermute -, dann fahren Sie die BA und damit auch die Wirksamkeit und die Legitimation der Arbeitslosenversicherung insgesamt an die Wand. ({5}) Auch mit dem Gesetzentwurf zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente werden Sie das Steuer in der Arbeitsmarktpolitik nicht herumreißen. Sie setzen damit - im Grunde ist das in der Rede des Staatssekretärs deutlich geworden - die Linie der Agenda 2010 und der Hartz-Reformen konsequent fort, konsequent in die falsche Richtung. Der repressive Charakter der Arbeitsmarktpolitik wird weiter verschärft. Arbeitslose werden weiter entrechtet. Die Daumenschraube der Sanktionen wird noch fester angezogen. Die Zumutbarkeitskriterien werden weiter verschlechtert. Die Bundesregierung strafft und flexibilisiert den Instrumentenkasten. Sie gehen dabei allerdings fast ausschließlich von quantitativen Aspekten aus. „Sparen vor Verbessern“ heißt offensichtlich Ihr Motto. ({6}) Die für eine sinnvolle Arbeitsmarktpolitik zentralen Fragen, ob und unter welchen Bedingungen Instrumente nicht nur eine schnelle, sondern tatsächlich auch eine nachhaltige Eingliederung in den Arbeitsmarkt ermöglichen, spielen in qualitativer Hinsicht offensichtlich keine Rolle. Deshalb werden Instrumente wie beschäftigungsbegleitende Eingliederungshilfen oder die Weiterbildung durch Vertretung ersatzlos gestrichen, während 1-Euro-Jobs nicht abgeschafft werden, obwohl alle Untersuchungen die Nichtwirksamkeit der 1-Euro-Jobs hinsichtlich einer nachhaltigen Arbeitsmarktpolitik längst belegt haben. Die Bundesregierung setzt weiterhin vor allem auf kurzfristige Qualifizierung, statt die berufliche Weiterbildung insgesamt wirklich zu stärken. ({7}) Hinzu kommt: Wer erst einmal in Hartz IV drin ist, kommt nicht mehr heraus; denn ALG-II-Beziehende haben weiterhin nicht zu allen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten Zugang. Jetzt wird auch noch die Möglichkeit der Förderung durch ABM für ALG-II-Beziehende abgeschafft. Eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die alle Arbeitslosen gleichermaßen gut fördert, sieht anders aus. ({8}) Stolz ist die Koalition darauf, dass der Handlungsspielraum der Arbeitsvermittler und Fallmanager vor Ort erhöht wird. ({9}) Fraglich bleibt nur, Herr Brauksiepe, ob und wie der einzelne Erwerbslose davon profitiert; das ist der Maßstab. ({10}) Denn Erwerbslose haben nur auf äußerst wenige Fördermaßnahmen einen Rechtsanspruch, auch nach Inkrafttreten Ihres Gesetzes. ({11}) Für die Vermittler bedeutet mehr Handlungsspielraum zunächst mehr Flexibilität. Das ist gut. Es bedeutet aber auch mehr Verantwortung für den Vermittler, ({12}) und es wird, Herr Brauksiepe, für den Vermittler mehr Spardruck von oben bedeuten. Das ist angesichts kommender Defizite - Sie senken ja gleichzeitig die Beitragssätze - doch vollkommen absehbar. ({13}) Das Gesetz macht insofern das Tor für weitere Einsparungen und weiteren Druck auf Arbeitslose weit auf. Die Löcher im sozialen Netz werden immer größer. Arbeitsmarktpolitik muss eine ausreichende soziale Absicherung bieten und die nachhaltige Integration in gute Arbeit tatsächlich fördern, nicht nur in Sonntagsreden, Herr Staatssekretär, sondern in der Praxis. ({14}) Verstärkt gefördert werden müssen gerade in der Krise Langzeitarbeitslose, Geringqualifizierte und andere besonders Benachteiligte. Wir, die Linke, fordern deshalb ein sofortiges Umsteuern in der Arbeitsmarktpolitik. Dazu gehören - ich will sie nur stichwortartig nennen mindestens die folgenden Punkte: Wir brauchen eine Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I. Wir brauchen eine sofortige Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze auf mindestens 435 Euro, verbunden mit der Einführung eines bedarfsdeckenden Satzes für Kinder und das alles nur als ersten Schritt zur tatsächlichen Überwindung von Hartz IV. Wir brauchen die Einführung eines individuellen Rechtsanspruchs auf Teilhabe an den Maßnahmen der aktiven Arbeitsförderung für alle Erwerbslosen. Wir brauchen die Abschaffung der 1-EuroJobs zugunsten von öffentlich geförderten Beschäftigungsverhältnissen, die nach Tarif bezahlt werden. So würden endlich wieder brachliegende Aufgaben angegangen und Langzeitarbeitslosigkeit effektiv bekämpft. Ganz wichtig ist: Arbeit und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen müssen existenzsichernd und voll sozialversicherungspflichtig sein, ({15}) der individuellen Qualifikation entsprechen, sie dürfen keine extremen Anforderungen an Flexibilität und Mobilität stellen, und sie müssen die politische und religiöse Gewissensfreiheit berücksichtigen. Das sind Mindestanforderungen aus der Sicht der Linken. Notwendig sind darüber hinaus wirksame Maßnahmen gegen den wachsenden Niedriglohnsektor und gegen die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse, um gute Arbeit tatsächlich zu stärken. Dazu gehört als wichtigste Maßnahme endlich die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von mindestens 8,71 Euro wie in Frankreich. ({16}) Zusammengefasst: Wer ausgerechnet in der Krise die Beiträge kürzt und damit notwendige und sinnvolle Arbeitsmarktpolitik weiter demontiert, ist entweder zynisch oder betätigt sich als Geisterfahrer. Jedenfalls ist er weder christlich noch sozial. ({17}) Eine solche Politik haben die Menschen, die jetzt Angst um ihren Arbeitsplatz haben, und die Arbeitslosen wirklich nicht verdient. Vielen Dank. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält die Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen. ({0}) - Den hätte ich eingesammelt, und das hat sich wohl vorher herumgesprochen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will darauf verzichten, den gesamten Kanon der arbeitsmarktpolitischen Debatten, die wir hier immer wieder führen, zum Thema zu machen, sondern ich will mich auf die hier zur Beratung stehenden Gesetzentwürfe konzentrieren; denn ich meine, dass sie wichtig sind und dass sie es verdient hätten, dass wir uns in der Debatte auf sie konzentrieren. Die Anhörung zur Neuordnung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente war - das wissen alle, die dabei waren - ein echtes Desaster für diese Regierung. ({0}) Das ist an den Koalitionsfraktionen nicht vorbeigegangen - offensichtlich auch nicht an Ihnen, Herr Müller -, und das ist auch gut so. Ich finde es richtig, dass Sie die 2 Prozent, die im Gesetzentwurf für die Freie Förderung vorgesehen waren, auf 10 Prozent heraufgesetzt haben. ({1}) Gut so, sage ich - aber das ist noch zu wenig -, und das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir dadurch weder quantitativ noch qualitativ das erreichen, was wir vorher mit dem Instrument der weiteren Leistungen hatten. ({2}) Das fällt immer noch weit hinter den Status quo zurück. ({3}) - Liebe Frau Nahles, das wissen Sie wirklich ganz genau. ({4}) Wenn es tatsächlich nur darum gegangen wäre, auf die Kritik des Bundesrechnungshofes an den weiteren Leistungen einzugehen, dann hätte man einfach nur für ein Aufstockungs- und Umgehungsverbot für weitere Leistungen bei Arbeitgebern sorgen können. Dann hätten wir dieses Instrument beibehalten können, das im Einzelfall vor Ort so gute Wirkungen erzielt hat. ({5}) Stattdessen haben Sie die vorhandene Handlungsfreiheit und Flexibilität im großen Stil rasiert. Seit mittlerweile über einem Jahr beschäftigen sich die Argen und die Kommunen mit den Folgen dieser Entscheidung. Das ist wirklich schlecht für die Arbeitslosen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Das ist kein Zufall; das ist offenbar regelrecht gewollt. ({6}) - Nein, Frau Nahles. Ich mache Ihnen jetzt einmal folgenden Vorschlag: Lassen Sie uns das hier nicht nur theoretisch im Streit ausfechten; wir treffen uns in einem Jahr wieder. Dann werden wir ganz genau wissen, wo die Probleme dieses neuen Instruments sind. ({7}) Ich will Ihnen sagen: Das Problem liegt im Wesentlichen darin, dass dieses Instrument erst angewendet werden darf, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. ({8}) Die Arbeitslosen müssen erst zu Langzeitarbeitslosen werden, damit die Flexibilität, die wir brauchen, tatsächlich vorhanden ist. ({9}) Vorher werden Instrumente von der Stange angewendet, die überhaupt nicht zielführend sind. Das ist das zentrale Problem Ihrer Neuregelung. ({10}) Davon ganz besonders negativ betroffen sind die Jugendlichen. Mittlerweile hat uns das IAB ein Gutachten vorgelegt, aus dem hervorgeht - das muss man sich einmal vorstellen -, dass nur 40 Prozent der jungen Menschen unter 30 Jahren, die abhängig von Leistungen aus dem Bereich Hartz IV geworden sind, einen dauerhaften Ausstieg daraus schaffen. Das wissen Sie sehr genau; trotzdem beschränken Sie die Möglichkeit, hier Hilfe zu leisten, mit Ihrem Instrumentenkasten noch einmal ganz deutlich. ({11}) Wir brauchen Herrn Scheele mit seinem Drahtverhau von Verordnungen überhaupt nicht. Sie haben doch schon dafür gesorgt, dass dieses Instrument wahrlich nicht passgenau eingesetzt werden kann. ({12}) Herr Brauksiepe, jetzt komme ich noch zu dem von Ihnen so hochgelobten Vermittlungsbudget. Sie sagen: Gut, wenn da nicht kleinkariert vorgegangen werden muss, wenn nicht jede Leistung en détail abgerechnet werden muss, wenn das vielmehr budgetiert werden kann. Stimmt, das sieht der Gesetzentwurf tatsächlich so vor. Aber parallel dazu überlegt sich die BA, wie sie dieses Instrument in ihrem Statistikwahn zerstückeln kann. Haben Sie sich einmal den Entwurf angeschaut, den die BA vorgelegt hat? Darin ist Folgendes vorgesehen: Nachdem das Geld dem Arbeitslosen pauschal gegeben worden ist, muss sich der Sachbearbeiter hinsetzen und genau diese Pauschale - in 36 Einzelpunkten aufgegliedert - abrechnen. ({13}) Ich kann Ihnen nur sagen: Sie pauschalisieren. In der Praxis bringt das für die einzelnen Arbeitsagenturen und für die Vermittler rein gar nichts. Sorgen Sie dafür, dass das nicht Wirklichkeit wird. ({14}) Das qualitativ wirklich einzig Neue in diesem Gesetzentwurf ist die Verordnungsermächtigung. Sie sagen jetzt hier: Es geht um mehr Flexibilität vor Ort und um mehr Vertrauen in die einzelnen Jobcenter. Parallel dazu stellen Sie in dieses Gesetz eine Verordnungsermächtigung ein, die es dem Ministerium jeden Tag, den Gott werden lässt, ermöglicht, in das operative Geschäft vor Ort unmittelbar einzugreifen. ({15}) Dass Sie überhaupt nicht schüchtern sind, von so etwas Gebrauch zu machen, wissen wir aus den Erfahrungen - aus schmerzhaften Erfahrungen, kann ich dazu nur sagen - mit den weiteren Leistungen. Was ich als weiteren Punkt wirklich tragisch finde, ist, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf - ich möchte es einmal so sagen - die Architektur, die Idee dieser Gesetze völlig verkehren. Wir sind immer davon ausgegangen, dass Arbeitsmarktpolitik nur dann erfolgreich sein kann, wenn Arbeitsuchender und Fallmanager tatsächlich auf Augenhöhe miteinander in Kontakt treten und vereinbaren, was für den Arbeitsuchenden gut ist. Was Sie jetzt machen, ist, dieses Machtgefälle zwischen Fallmanager bzw. der Institution zulasten des Arbeitsuchenden noch einmal zu verschärfen. ({16}) Wenn es so ist, dass eine Eingliederungsvereinbarung keine gemeinsame Vereinbarung ist, sondern qua Verordnung gesetzt wird, und wenn sich dann der Arbeitsuchende darin nicht wiederfindet und diese Vereinbarung nicht eingehalten wird, dann gibt es sofort Sanktionen. Ich frage Sie: Was hat denn das mit Augenhöhe zu tun? Das ist wieder Ausdruck des tiefen Misstrauens, das Sie gegenüber den Arbeitsuchenden haben. Sie bringen damit die Idee dieses Gesetzes wirklich zu Fall. Das werfe ich Ihnen vor. ({17}) Insgesamt ist dieser Gesetzentwurf nicht nur Ausdruck des Misstrauens gegenüber den Arbeitslosen, sondern nach wie vor auch gegenüber den Akteuren vor Ort, gegenüber den Vermittlern und den Maßnahmenträgern. Sie sitzen hier in Berlin und sind von der Idee verfolgt, dass diese Menschen Sie alle übers Ohr hauen und mit Steuer- und Beitragsmitteln Schindluder treiben wollen. Aber Sie sehen nicht, dass mit dieser kleinteiligen ÜberBrigitte Pothmer prüfungstechnik viel mehr Geld verschwendet wird, als das andersherum möglicherweise der Fall sein könnte. ({18}) Ich muss leider zum Schluss kommen. ({19}) Lassen Sie mich noch einen Satz zu der Frage der Absenkung der Beitragssätze sagen. Herr Weiß rechnet uns im Ausschuss jedes Mal neu vor - ich höre ihm auch jedes Mal wieder gerne zu -, dass die Absenkung eines Beitragssatzpunktes hunderttausend Arbeitsplätze bringt. Aber, lieber Herr Weiß, das geht nur, wenn es tatsächlich auch unter dem Strich 1 Prozentpunkt weniger ist. ({20}) Das geht nicht, wenn Sie auf der einen Seite wie bei der Krankenversicherung den Beitragssatz um 1 Prozentpunkt erhöhen und auf der anderen Seite bei der Arbeitslosenversicherung um 1 Prozentpunkt reduzieren. So funktioniert das in der Praxis nicht. ({21}) Das ist eine Milchjungenrechnung, Herr Weiß. Die Beitragssatzsenkung bei der Arbeitslosenversicherung hat mit den Bedürfnissen in diesem Bereich nichts zu tun. Sie kompensiert Fehler, die bei der Reform der Krankenversicherung gemacht worden sind. Das werden bei steigender Arbeitslosigkeit die Arbeitslosen noch bitter bezahlen müssen. Schließlich brauchen wir gerade in dieser Zeit eines: langfristige und gute Qualifizierung. Dies wird mehr Geld kosten, als derzeit zur Verfügung steht. ({22})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, Sie müssen nun wirklich zum Schluss kommen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. - Ich will nur noch darauf hinweisen, dass all das noch dadurch verschärft wird, dass es mal wieder ein Verschiebemanöver gibt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nein, jetzt gibt es keine neue Abteilung einer längst überschrittenen Redezeit. ({0})

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dann lassen Sie mich sagen: Ich fürchte, ({0}) dass im nächsten Jahr die angeblichen Verbesserungen in der Arbeitsmarktpolitik nur auf rein statistische Effekte zurückzuführen sein werden. Der Minister ist sehr gut darin, in diesem Bereich Verschiebungen vorzunehmen. Ansonsten wird die Situation für die Arbeitslosen mit diesen Instrumenten jedenfalls nicht besser. Ich danke Ihnen. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Katja Mast ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Am liebsten würde ich Ihnen, Frau Pothmer, einen Bildungsgutschein anbieten, damit Ihnen das vorliegende Gesetz noch einmal erläutert wird. Vielleicht hören Sie mir einfach zu. Dann verstehen Sie es besser. ({0}) Das doppelte „V“ ist aus meiner Sicht die Überschrift für das heute zu verabschiedende Gesetz. Das doppelte „V“ steht für Vertrauen und Verantwortung in die Kraft der Gestaltung vor Ort. Die Neuorganisation der arbeitsmarktpolitischen Instrumente setzt Vertrauen in dezentrale Entscheidungsspielräume und innovative Möglichkeiten, auch wenn es einige meiner Vorrednerinnen und Vorredner nicht so sehen. ({1}) Dieses Gesetz ist ein kraftvolles Signal für Vor-OrtLösungen. Wir als Gesetzgeber eröffnen bewusst Handlungsspielräume. Unsere Erwartung ist: Wir wollen, dass diese Möglichkeiten verantwortlich genutzt werden. Unsere Hoffnung geht weit darüber hinaus. Wir setzen damit auch ein Signal für eine gute Lösung bei der Neuorganisation der Argen. ({2}) Auch wenn man sich über das eine oder andere Detail streiten kann, ist doch die zentrale Frage: Wo finden wir diese Handlungsspielräume im heute zu verabschiedenden Gesetz? Erstens. Wir haben es geschafft: Wir reduzieren die Anzahl der Einzelgesetze für Arbeitsvermittler vor Ort und schaffen durch Budgets Spielräume für passgenaue Lösungen, auch wenn Sie, Herr Niebel, das noch nicht richtig erkannt haben. ({3}) Diese Budgets sind sowohl nach dem SGB III als auch dem SGB II möglich. Sie finden sich als Vermittlungsbudget in § 45 und als Aktivierungsbudget in § 46. ({4}) Zweitens. Noch nie gab es eine Freie Förderung für dezentrale Projekte im SGB II. Diese schaffen wir jetzt. Das ist erklärter Wille sowohl der Bundesregierung als auch des Parlaments. ({5}) Uns Volksvertretern ist es gelungen, den Ansatz der Regierung von 2 Prozent auf das Fünffache - ich betone: das Fünffache -, also auf 10 Prozent, anzuheben. Unser sozialdemokratischer Fraktionsvorsitzender Peter Struck hatte recht mit dem von ihm vielbeschworenen Grundsatz: Kein Gesetz verlässt den Bundestag, wie es eingebracht wurde. Eine Steigerung von 2 auf 10 Prozent für die Freie Förderung ist ein Durchbruch in der bundesdeutschen Arbeitsmarkt- und Vertrauenspolitik. ({6}) Doch damit nicht genug: Drittens. Wir schaffen weitere Möglichkeiten für dezentrales Handeln. Das Aufstockungs- und Umgehungsverbot wird für Langzeitarbeitslose gelockert. Das ist Ergebnis vieler Gespräche mit Experten vor Ort und mit Fachverbänden. Das ist größtmögliches Vertrauen in die Akteure vor Ort. Dieses Vertrauen fordert auch Verantwortung. Im Gesetz steht klar: Bei Leistungen an Arbeitgeber ist darauf zu achten, Wettbewerbsverfälschungen zu vermeiden. Das meinen wir sehr ernst. Wir wollen keine vollfinanzierten Lohnkostenzuschüsse und keine vollfinanzierten betrieblichen Ausbildungen - um extreme Beispiele für solche Verfälschungen am Arbeitsmarkt zu nennen. Es gilt natürlich geltendes Recht, zum Beispiel das europäische Beihilferecht. Unser Vertrauen steht: Die Akteure vor Ort können mit dieser Verantwortung umgehen. Viertens. Mit dem Recht auf die Vorbereitung eines Hauptschulabschlusses im SGB III setzen wir auf vorsorgende Arbeitsmarktpolitik. Wir wollen jedem eine zweite Chance geben. Aufstieg durch Bildung ist seit 145 Jahren sozialdemokratisches Kernanliegen. Das ist gut so. ({7}) Wir übernehmen damit Verantwortung da, wo die Bundesländer bei jährlich 70 000 Schulabgängern ohne Hauptschulabschluss versagen. Denn jedem Sozialpolitiker ist doch klar: Ohne Schulabschluss keine Ausbildung und ohne beides ist die Wahrscheinlichkeit für Langzeitarbeitslosigkeit hoch. Wir sind froh, dass wir mit der Union einen Partner haben, der unseren Argumenten an dieser Stelle nicht widerstehen konnte. Handlungsspielräume vor Ort entstehen hierdurch, weil jetzt absolut klar ist: Der Hauptschulabschluss ist Sache des SGB III. Ich bin froh, dass die Bundesagentur für Arbeit in unserer Expertenanhörung zugesagt hat, das Fachkonzept für die berufsvorbereitenden Maßnahmen zu überarbeiten. Nur in der Verbindung von Begleitung durch berufsvorbereitende Maßnahmen und Vorbereitung auf den Hauptschulabschluss machen wir es schulmüden Jugendlichen möglich, ihren Schulabschluss nachzuholen. Mit diesem Gesetz und seinen Budgets stärken wir die Vermittler. Dies ist wichtig, da sie der Partner der Arbeitsuchenden sind. Durch sie wird Arbeitsmarktpolitik jeden Tag konkret. Deshalb stellen wir weitere Vermittler ein ({8}) und werden mehrere Tausend befristete Arbeitsverträge bei der Bundesagentur für Arbeit entfristen. So weit nun zu den abstrakten Möglichkeiten der neuen Handlungsspielräume. Aber wie geht eigentlich Silvia Müller, Vermittlerin bei der Agentur für Arbeit in meiner Heimat Pforzheim, damit um? ({9}) Vor ein paar Tagen hat sie erfahren, dass ihr befristeter Arbeitsvertrag jetzt unbefristet weiterlaufen kann. Sie hat nun endlich einen dauerhaften Arbeitsvertrag. Peter Kühn, ein ehemaliger Lagerarbeiter von 45 Jahren, der seit ein paar Wochen arbeitslos ist, sitzt heute vor ihr. ({10}) Er ist zum Vorstellungsgespräch in Düsseldorf eingeladen. Im Bewerbungskurs wurde ihm empfohlen, mit Schlips und Kragen zum Gespräch zu gehen. Sowohl Fahrtkosten als auch Schlips und Kragen kann er sich nicht leisten. Er wollte den Termin zum Vorstellungsgespräch deshalb absagen. Frau Müller motiviert ihn, hinzugehen, und sagt ihm zu, die Kosten zu übernehmen. Bis vor einigen Wochen hatte sie immer aus verschiedenen Töpfen genauestens berechnen müssen, wie sie Herrn Kühn helfen kann. Doch mit unserem Gesetz ist das anders: Sie hat jetzt ein Budget, Verwaltungskosten werden gespart - eine passgenaue Lösung also. Dieses Gesetz verändert das Verhältnis zwischen Vermittler und Arbeitsuchendem. Das wollen wir so. ({11}) Lassen Sie mich zusammenfassen: Der Gesetzentwurf trägt eine deutliche Handschrift. Wir haben erreicht, dass jeder und jede künftig das Recht hat, sich auf den Hauptschulabschluss vorzubereiten. Das ist ein großer Erfolg und wieder ein Beleg dafür, dass Sozialdemokraten den Aufstieg durch Bildung gestalten, auch gemeinsam mit der Union.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin gleich fertig. - Die Budgets werden die notwendigen Spielräume geben, um Menschen individuell und bedarfsgerecht zu fördern, und die Freie Förderung ermöglicht passgenaue Lösungen vor Ort. Das ist Politik, die verantwortungsvoll mit den Mitteln der Beitragszahler und der Steuerzahler haushaltet. ({0}) Das ist Politik mit und für die Menschen. Das ist Politik mit doppeltem „V“: Vertrauen und Verantwortung für maßgeschneiderte Lösungen vor Ort. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Erwin Lotter ist der nächste Redner für die FDPFraktion. ({0})

Dr. Erwin Lotter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003895, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Brauksiepe, eines haben die heutige Debatte und die zurückliegenden Beratungen im Ausschuss ganz klar bewiesen: Die Regierungsfraktionen lernen nicht aus ihren Fehlern. ({0}) - Das denken Sie! ({1}) Sie haben in drei langen Jahren der Bedenkzeit seit Unterzeichnung des Koalitionsvertrages nicht viel zustande gebracht. Anders kann man Ihren Gesetzentwurf zur Neuregelung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente nicht bewerten. ({2}) Sie haben einige wenige Instrumente gestrichen; aber viel zu viele bleiben bestehen. Der Instrumentenkasten der Arbeitsvermittlung ist immer noch so vollgestopft, dass kein Jobvermittler alle Instrumente kennen, geschweige denn beherrschen kann. ({3}) Manchmal ist eben weniger mehr. ({4}) Bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten gilt dies mit Sicherheit. Aber es kommt noch schlimmer. Ohne jeden Grund deckeln Sie die Freie Förderung auf einem viel zu niedrigen Niveau. ({5}) Warum gestehen Sie kreativen Argen und Optionskommunen nur 10 Prozent Freie Förderung zu? ({6}) Viele Kommunen haben großen Erfolg bei der Jobvermittlung, gerade weil sie sich nicht aus dem Standardinstrumentenkasten bedienen, sondern eigene, passgenaue und individuelle Fördermöglichkeiten für ihre Kunden entwickeln. Das aber geht Ihnen von CDU/CSU und SPD gegen den Strich. Wenn es nach Ihnen geht, dann soll sich der Jobsuchende an den Bedürfnissen der Arge und nicht die Jobvermittlung an der Persönlichkeit des Arbeitslosen orientieren. ({7}) Hier verschenken Sie viel Potenzial, sowohl bei den Arbeitslosen als auch bei den Jobvermittlern. Als auch kommunalpolitisch aktiver Bundespolitiker kann ich nicht das geringste Verständnis für Ihr Handeln aufbringen. Anstatt richtigerweise kommunale Handlungsspielräume auszuweiten, schränken Sie diese ein und gehen damit genau in die falsche Richtung. ({8}) Auch in der Frage des Rechtsanspruchs auf einen Hauptschulabschluss haben Sie ordnungspolitisch leider völlig die Orientierung verloren. ({9}) Ein Schulabschluss ist für die meisten Arbeitsuchenden zweifellos wichtig. Die Frage ist jedoch, ob dies tatsächlich für alle gilt. Wer nicht mehr zur jungen Generation gehört, wird nicht wegen seines nachgeholten Hauptschulabschlusses eingestellt, sondern wegen seiner Lebens- und Arbeitserfahrung. ({10}) Das Nachholen des Hauptschulabschlusses ist vielleicht für viele, aber eben nicht für jeden der direkteste Weg aus der Arbeitslosigkeit. ({11}) Vor allem: Ein fehlender Hauptschulabschluss resultiert in den allermeisten Fällen aus einem Versagen des Bildungssystems. Insofern ist dies eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nicht durch die Beitragszahler zu leisten ist. ({12}) Wenn wir Fehler in der Bildungspolitik korrigieren wollen, dann müssen wir Steuergelder dafür einsetzen und dürfen nicht die Bundesagentur für Arbeit mit diesen Kosten belasten. ({13}) Meine Damen und Herren von der Koalition, ich habe Ihnen jetzt nur drei von etlichen Versäumnissen in Ihrem Gesetzentwurf vorgehalten. Allein diese reichen aber schon aus, um Ihren viel zu kurz greifenden Gesetzentwurf abzulehnen. ({14}) Aus diesem Grund haben wir, die FDP, einen eigenen Antrag und einen eigenen Entschließungsantrag vorgelegt. Vielen Dank. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Stefan Müller für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Lotter, ({0}) vorweggeschickt: Man hat bei der FDP gelegentlich den Eindruck, als gebe es einen zentralen Redenschreiber oder als ob jede Rede, die Sie sich zusammenschreiben, zunächst durch die Zensur von Herrn Niebel muss. - Herr Dr. Lotter, Sie haben jedenfalls die Chance vertan, hier ausnahmsweise einmal einen konstruktiven Beitrag der FDP abzuliefern. ({1}) Sie werden ja noch ein paar Chancen dazu haben. Schade eigentlich! Es wäre nicht schlecht, wenn neue Abgeordnete auch einmal neue Reden halten würden. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist ja wohl unstrittig, dass in den vergangenen Jahren ein beeindruckender Umbau in der deutschen Arbeitsmarktverwaltung und Arbeitsvermittlung stattgefunden hat. Dazu beigetragen haben die Arbeitsmarktreformen der vergangenen Jahre, eine Geschäftspolitik, die an Effizienz und Effektivität ausgerichtet war, und der Fleiß und das Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit, die es gemeinsam geschafft haben, aus einer Behörde einen leistungsfähigen Dienstleister am Arbeitsmarkt zu machen. ({3}) Wir werden diesen Erfolgskurs mit dem Gesetzentwurf, den wir heute beschließen werden, fortsetzen. ({4}) Mit der Reform der Arbeitsmarktinstrumente werden wir einen weiteren Schritt machen, um die Bundesagentur für Arbeit noch schlagkräftiger und dynamischer aufzustellen und die Arbeitsvermittlung noch besser zu gestalten. Wir werden mit diesem Gesetzentwurf vorhandene Instrumente, sofern sie unwirksam sind, abschaffen und andere, die wirksam sind, fortentwickeln und zusammenfassen. Es ist heute schon des Öfteren von der Zahl der Instrumente die Rede gewesen. Es ist in der Tat nicht einzusehen, warum die Bundesagentur einen ganzen Bauchladen voller Arbeitsmarktinstrumente hat, am Ende aber nur ein Bruchteil dieser Arbeitsmarktinstrumente tatsächlich genutzt wird. Deswegen ist richtig, was wir hier tun: Wir reduzieren den Arbeitsmarktinstrumentenkasten, wir machen ihn übersichtlicher und transparenter. Damit helfen wir nicht nur den Vermittlern, denen es leichter gemacht wird, vor Ort zu arbeiten, sondern auch denjenigen, die Arbeit suchen. ({5}) Wichtig ist, einen Punkt noch einmal herauszuarbeiten: Mit dem Vermittlungsbudget lassen wir mehr Innovation bei der Vermittlung zu. Der Kreativität sind zunächst einmal keine Grenzen gesetzt. Jedenfalls ist es erklärter Wille der Koalitionsfraktionen, aber wohl des Gesetzgebers insgesamt - davon gehe ich einfach mal aus -, dass alle Möglichkeiten genutzt werden, um an den Stellen, wo der Instrumentenkasten nicht eingesetzt werden kann, im Rahmen dieses Vermittlungsbudgets dem einzelnen Arbeitsuchenden etwas anbieten zu können, was genau zu ihm passt. Zudem wollen wir den Praktikern vor Ort damit ermöglichen, etwas Neues auszuprobieren. Wir wollen aber nicht, dass das, was da vor Ort ausprobiert wird, nur dort angewendet wird. Vielmehr streben wir einen lernenden Prozess an, in dessen Rahmen Neues, das in einzelnen Regionen gut funktioniert, auf andere übertragen wird. Ich verspreche mir durchaus, dass gerade mit dem Vermittlungsbudget und dem Experimentierkasten in der Arbeitsvermittlung neue Ideen entwickelt werden, die dann in ganz Deutschland angewendet werden können. Herr Staatssekretär, wir haben schon etwas Vergleichbares im Zusammenhang mit der Initiative „50 plus“, einem Bundesprogramm, in dessen Rahmen etliche Regionen gefördert werden und bei dem wir genau diesen Ansatz des Experimentierens und Ausprobierens bereits praktizieren. Die Ergebnisse dieses Bundesprogramms geben uns recht. Diesen Weg werden wir mit dem, was wir heute beschließen werden, weiter beschreiten. ({6}) Darüber hinaus werden wir die Entscheidungsspielräume vor Ort erhöhen. Das bedeutet natürlich für den Vermittler dort zunächst einmal mehr Verantwortung; Stefan Müller ({7}) das ist überhaupt keine Frage. Aber es ist ja richtig, demjenigen, der die Stärken und Schwächen des Arbeitsuchenden kennt, dieses Maß an Verantwortung zu geben, weil er dies am besten einschätzen kann. Im Mittelpunkt muss stehen, dass dadurch nur noch solche Maßnahmen finanziert werden, die dazu beitragen, eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt zu erreichen. Eines darf meines Erachtens jedoch nicht unerwähnt bleiben: Erfolgreich wird jedes Bemühen des Vermittlers vor Ort nur dann sein, wenn auch der Arbeitsuchende selber bereit ist, eigene Anstrengungen zu unternehmen. ({8}) Das beste Instrument hilft ja nichts, wenn die eigenen Bemühungen dem im Wege stehen. Deswegen wird Fördern und Fordern auch in Zukunft an dieser Stelle, bei den Arbeitsmarktinstrumenten und in der Arbeitsmarktpolitik, ein wichtiges Prinzip bleiben müssen. Wir werden auch langfristig eine schlagkräftige Arbeitsvermittlung brauchen, weil uns der demografische Wandel vor große Herausforderungen stellen wird. Eine Prognos-Studie sagt voraus, dass uns in rund 20 Jahren etwa 5,5 Millionen Arbeitskräfte fehlen werden. Das heißt, die Arbeitsmarktpolitik wird eine Dauerbaustelle bleiben, weil der Fachkräftemangel letztlich auch dazu führt, unsere wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten einzuschränken. Insofern brauchen wir, langfristig gesehen, eine funktionierende Arbeitsvermittlung. Wir benötigen sie aber auch kurzfristig, um die Auswirkungen der Finanzmarktkrise auf die Realwirtschaft und den Arbeitsmarkt abschwächen bzw. ihnen entgegenwirken zu können. Alles, was wir dazu hören, ist sicherlich kein Grund zur Panikmache. Die Beschäftigungsentwicklung wird im nächsten Jahr sicherlich weitaus weniger dynamisch sein, vielleicht sogar ein negatives Vorzeichen aufweisen; diese Prognose der Bundesagentur mussten wir im Ausschuss vernehmen. Wir müssen also mit einem gewissen Anstieg der Arbeitslosigkeit rechnen. Deshalb müssen wir auch mit Mitteln der Arbeitsmarktpolitik versuchen, hier Schlimmstes zu verhindern. Genau deswegen werden wir die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes verlängern; genau deswegen hat die Bundesagentur den Ansatz für das Kurzarbeitergeld im Haushalt noch einmal aufgestockt. Alles das wird dazu beitragen, ein wichtiges Signal zu geben und den Abbau von Arbeitsplätzen möglichst zu verhindern bzw. zumindest die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt zu dämpfen. ({9}) Noch eine Bemerkung zur Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages: Wir setzen mit der Beitragssatzsenkung, die wir heute beschließen werden, den konsequenten Kurs der Reduzierung der Sozialversicherungsbeiträge, der Arbeitslosenversicherungsbeiträge fort. Wir haben den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung gesenkt: von 6,5 Prozent auf jetzt 2,8 Prozent, aber begrenzt auf höchstens 3,0 Prozent. Das ist eine Entlastung um 27 Milliarden Euro. ({10}) - Herr Kolb, selbst wenn Sie alle Erhöhungen gegenrechnen, bleibt unterm Strich immer noch eine Entlastung übrig. ({11}) Mit dieser Politik der Beitragssatzsenkung haben wir einen wesentlichen Beitrag geleistet, um Einstellungshemmnisse und damit Arbeitslosigkeit in diesem Land abzubauen und sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse aufzubauen. Das ist nicht nur die Konjunktur, sondern das ist die Politik der Großen Koalition. ({12}) Ich halte diese Beitragssatzsenkung für verantwortbar. Manchmal hilft es, sich einfach die Zahlen anzuschauen, Herr Dreibus: Die Rücklagen der Bundesagentur zum Jahresende 2008 betragen 16 Milliarden Euro. Die BA geht davon aus, dass sie - die Senkung des Beitragssatzes auf 2,8 Prozent eingerechnet - im nächsten Jahr ein operatives Defizit von 6 Milliarden Euro machen wird. Ich stelle fest: Nach Adam Riese bleiben dann immer noch knapp 10 Milliarden Euro Rücklagen übrig. ({13}) Das zeigt doch, dass das solide finanziert ist. Der Beitrag kann stabil gehalten werden, und zwar auch dann, wenn die Arbeitslosigkeit ansteigt, Herr Dreibus. Ich glaube, Sie waren gestern im Ausschuss nicht dabei, als Herr Weise das vorgetragen hat. Auch die Bundesagentur geht davon aus, dass, selbst wenn die schlimmsten Befürchtungen eintreten, der Beitragssatz stabil gehalten und die Rücklagen nicht komplett aufgebraucht werden. Nehmen Sie doch einfach einmal zur Kenntnis, was Experten dazu sagen! ({14}) Herr Dreibus, ich halte es für unredlich, dass Sie sich hier hinstellen und sagen, aufgrund dieser Beitragssatzsenkungen würde bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik Geld gespart werden. Das ist schlichtweg falsch. Der Mittelansatz für die aktive Arbeitsmarktpolitik bleibt im Haushalt der Bundesagentur unverändert. Es wird dort nichts eingespart. ({15}) Ich will deutlich machen, dass wir den Beitragszahlern nicht gnädigerweise irgendetwas zurückgeben. Wir geben den Beitragszahlern in der Tat das Geld zurück, das wir ihnen vorher abgenommen, aber nicht gebraucht haben. Es scheint wichtig zu sein, darauf hinzuweisen. Wichtig ist aber auch, dass wir auch künftig darauf achten, dass mit den Mitteln der Beitragszahler verantwortungsvoll umgegangen wird. Auch dem wird Rech20992 Stefan Müller ({16}) nung getragen. Mit den beiden Gesetzentwürfen leisten wir einen wesentlichen Beitrag, um Einstellungshemmnisse abzubauen und die BA noch besser aufzustellen. Ich hätte jetzt gerne noch etwas Unfreundliches zu den Oppositionsanträgen gesagt. ({17}) Herr Präsident, ich fürchte, Sie werden mir das nicht mehr genehmigen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das ist eine zutreffende Vermutung.

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bitte deshalb abschließend um Zustimmung zu den beiden Gesetzentwürfen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Andrea Nahles ist die nächste Rednerin für die SPDFraktion.

Andrea Nahles (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente trägt den Stempel der Parlamentarierinnen und Parlamentarier in diesem Haus, die sich dafür stark gemacht haben - das waren übrigens auch Oppositionspolitiker -, dass wir mehr Verhandlungs- und Gestaltungsspielraum für die Vermittler vor Ort organisieren. Das lösen wir mit diesem Gesetz ein. ({0}) Vergessen Sie die sonstigen weiteren Leistungen. Das, was wir hier haben, ist viel besser. ({1}) Das werde ich Ihnen jetzt gerne beweisen. Wir haben - das ist hier schon ausgeführt worden - die Mittel für die Freie Förderung ausgehend vom ursprünglichen Gesetzentwurf von 2 Prozent auf 10 Prozent angehoben. Das war übrigens eine Forderung, die von allen Oppositionsparteien in diesem Haus erhoben wurde, deren Umsetzung heute aber mit keinem Wort lobend erwähnt wurde. ({2}) Das halte ich hier einfach einmal so fest. Das ist aber nicht der einzige Punkt. Wir haben zum Zweiten dafür gesorgt, dass die Freie Förderung nicht länger befristet ist. Es gibt kein Verfallsdatum mehr. Das schafft mehr Planungssicherheit für die Akteure vor Ort. Meines Erachtens ist es besonders wichtig, dass wir für die Projekte der Freien Förderung rechtlich abgesicherte Spielräume geschaffen haben, die es vorher nicht gab. Das wurde zwar unter der Hand gemacht, war aber rechtlich nicht sauber. Das geschah nicht auf Basis einer gesetzlichen Grundlage. Deswegen gab es die Mahnbriefe, von denen hier die Rede war. Jetzt sorgen wir für Rechtsklarheit. Aber auch darüber hört man kein positives Wort. Noch wichtiger ist, dass wir zusätzlich - das erhöht übrigens auch das Volumen - das Vermittlungsbudget als ein ganz neues Momentum einführen. Es ist ganz klar: Das Vermittlungsbudget ist etwas sehr Individuelles, etwas sehr Persönliches, etwas, was vor Ort zwischen dem Arbeitsvermittler und dem jeweiligen Arbeitslosen ausgehandelt werden kann. Ich kann Ihnen nur recht geben: Wir werden unsererseits darauf achten, dass die Spielräume, die wir als Gesetzgeber einräumen wollen, auch durch die BA ermöglicht werden. Ich habe Herrn Weise, der in dieser Woche bei uns im Ausschuss war, an dieser Stelle so verstanden, dass er unseren sozialpolitischen Auftrag bzw. die Spielräume, die wir einräumen wollen, bejaht. Wir nehmen ihn schlichtweg beim Wort. ({3}) Da werden wir in den nächsten Monaten nachfassen. Ich denke, dass wir darüber hinaus eine Chance geschaffen haben. Die arbeitsmarktpolitischen Gesetze sind Ihnen allen ja als bürokratisch und nicht funktionierend vorgekommen. Das war bei dieser Reform nie das Thema. Wir haben gesagt, wir wollen weniger Gesetze, weil dies zu mehr Übersichtlichkeit führt. Wir sind aber nicht der Meinung, dass alle unsere Instrumente nichts taugen. ({4}) Trotzdem sagen wir: Es kann sein, dass sich am Ende, nachdem versucht wurde, alle möglichen regulären Instrumente anzuwenden, für einzelne Personen, die vor einem Arbeitsvermittler sitzen, dadurch keine Lösung ergibt. Das kann vorkommen. Genau für diesen Fall, liebe Frau Pothmer, ist in unserem Gesetzentwurf die Möglichkeit vorgesehen, durch eine Modifikation der arbeitsmarktpolitischen Instrumente, so wie sie vorgegeben sind, einen individuellen Instrumentenkatalog zu erstellen. Das heißt, wir haben an dieser Stelle das Umgehungs- und Aufstockungsverbot gelockert. Das ist auch richtig so, weil hier passgenaue Lösungen nötig sind. Insoweit kann ich nur sagen: Die sonstigen weiteren Leistungen waren bisher in einem solchen Fächer von Möglichkeiten, die wir jetzt gesetzlich verankern, nicht im Entferntesten vorgesehen. Ich bitte, diese Botschaft an alle Skeptiker und Briefeschreiber weiterzugeben. Hier gibt es nämlich nur ein Problem: Diese haben noch nicht gesehen, welches Potenzial und welche Verhandlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort in dem vorliegenden Gesetzentwurf stecken. ({5}) Ein weiterer Punkt ist: Wir haben die Möglichkeit des nachträglichen Erwerbs eines Schulabschlusses als Rechtsanspruch verankert. Ich sage Ihnen ganz offen: Es ist eigentlich nicht unser Job, nicht der Job der Bundesebene, dies vorzusehen. ({6}) Ich bin 1998 in das Parlament gekommen. Seit dieser Zeit haben wir immer wieder festgestellt, dass 500 000 der Langzeitarbeitslosen keinen Schulabschluss haben. Das ist ein erhebliches Vermittlungshemmnis; da können wir nichts schönreden, meine Damen und Herren von der FDP. Jetzt ging es um entsprechende Appelle an die Länder. Wir haben diese 1999, 2000, 2001, 2002, 2003, 2004, 2005, 2006 formuliert. Gerd Andres, ({7}) der damals Staatssekretär war, hat das immer besonders laut gemacht, weil er natürlich nicht wollte, dass der Bund am Ende diese Aufgabe übernehmen muss. Ich frage aber an dieser Stelle: Wie lange wollen wir denn noch warten, bis die Länder ihre Hausaufgaben machen? Sollen die Arbeitslosen, die keine Chance auf Bildung bekommen, weitere zehn Jahre schmoren? Das wollen wir nicht. ({8}) Deswegen haben wir an dieser Stelle den Rechtsanspruch auf den Erwerb eines Schulabschlusses geschaffen. Jetzt gibt es ganz spitzfindige Kritiker, die feststellen: Wir sehen einen solchen Rechtsanspruch nur aus Gründen der Berufsvorbereitung vor. Natürlich ist das so; das ist ja unsere Aufgabe. Wir sehen diesen Rechtsanspruch doch nicht zum Spaß vor, sondern deshalb, damit die Leute einen Beruf bekommen. Das ist unser Ziel; das ist der Witz der ganzen Sache. Wenn diese Vorgabe nicht reicht, haben wir immer noch die Freie Förderung, die auch in Zukunft die Möglichkeit eröffnet, im Einzelfall andere Maßnahmen zu ergreifen. Das ist wirklich eine tolle Sache. Ich warne die Länder: Das machen wir nicht sehr oft. - Es ist peinlich, dass sie entsprechende Volkshochschulkurse, all die Angebote, die es in diesem Zusammenhang gegeben hat, zurückgefahren haben. Das ist wirklich ein Armutszeugnis. Diejenigen Länder, die immer laut schreien, wenn es darum geht, Bildungskompetenz zu bekommen, haben ihre Leistungen an dieser Stelle weitestgehend zurückgefahren. Das muss von uns heute ganz scharf kritisiert werden. ({9}) Ein letzter Punkt. Wir sorgen vor, Herr Dreibus, indem wir 1 000 zusätzliche Vermittler bei der Job-to-JobVermittlung im Rahmen des SGB III und 1 900 Vermittler im ALG-II-Bereich einstellen. Wir haben es geschafft, die Befristungen zurückzuführen; sie werden bis 2011 auf 10 Prozent heruntergefahren. Das alles wirkt neben den ganzen Instrumenten. Lassen Sie uns ehrlich sagen: Es ist wunderbar, wenn man ganz tolle Instrumente hat ({10}) und einige davon noch bessere Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort bieten. Aber ganz wichtig ist, dass der Vermittler vor Ort Zeit hat, ({11}) sich mit den individuellen Problemen der Arbeitslosen zu beschäftigen. Dafür haben wir in diesem Jahr eine wichtige Grundlage gelegt. Besten Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Karl Schiewerling für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Kernfrage lautet: Wie schaffen wir es, dass Menschen, die erwerbslos sind bzw. von Erwerbslosigkeit bedroht sind, wieder in Beschäftigung kommen bzw. erst gar nicht erwerbslos werden? Die gesamte Diskussion über den Instrumentenkasten und über das SGB II und das SGB III führen wir in der Politik gelegentlich technisch und stellen sie oft auch technisch nach außen dar. Im Kern geht es um die Aufgabe, Menschen zu helfen und sie wieder in der Lage zu versetzen, mit ihrer eigenen Hände und ihres eigenen Kopfes Arbeit den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien zu verdienen. Die Idee der arbeitsmarktpolitischen Instrumente hat nun einige Jahrzehnte auf dem Buckel. Über fast vier Jahrzehnte hinweg haben sich alle Bundesregierungen darum bemüht, Menschen vor Erwerbslosigkeit zu bewahren oder sie wieder in Beschäftigung zu bringen. Diese Instrumente wurden als Bundesgesetz geschaffen, sie wurden zentral eingerichtet und sollten möglichst im Gleichschritt in der gesamten Bundesrepublik über die damaligen Arbeitsamtstrukturen umgesetzt werden. Allerdings hat es immer wieder neue Herausforderungen und veränderte Problemlagen gegeben. Das große Problem, vor dem wir stehen, ist die zunehmende Individualisierung der Probleme der Menschen. Wir tun uns schwer, mit bundeszentral gestalteten Instrumenten vor Ort flexibel zu reagieren; denn die Verwaltung macht es uns oft schwer, vor Ort flexibel zu handeln. ({0}) Das sind im Kern die Auseinandersetzung und die Problemlage, um die wir uns kümmern. Ein weiteres Problem ist dazugekommen. Als wir, der Gesetzgeber, dieses Parlament, in den Jahren 2004 und 2005 beschlossen haben, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzulegen und damit ein neues Instrument für die Menschen zu schaffen, die besonders lange arbeitslos sind und besonders viele Vermittlungshemmnisse aufweisen, hatte man nicht geahnt, dass gerade für diese Zielgruppe besonders intensive und individuelle Hilfen zwingend notwendig sind und angegangen werden müssen. Die Probleme, die wir heute haben, hängen damit zusammen, dass die Instrumentarien für die Menschen, die in der Kurzzeitarbeitslosigkeit sind, auch bei den Menschen angewandt werden sollen, die in der Langzeitarbeitslosigkeit sind. Hinter diesen Instrumentarien stehen Finanzierungssysteme - und auch die Fragen, was beitragsfinanziert und was steuerfinanziert ist. Folgerichtig haben viele Träger vor Ort die sonstigen weiteren Leistungen, die das Instrumentarium des SGB II vorsieht, genutzt, um flexibel handeln zu können. Das war kein böser Wille, keine Faulheit, auch keine Hinterhältigkeit; ({1}) das war schlicht eine Notwendigkeit, um Menschen flexibel zu helfen. ({2}) Dass das nicht im Rahmen des Gesetzes erfolgte, wissen wir. Deswegen wurde § 16 f SGB II eingeführt; dadurch ermöglichen wir diese Flexibilisierung. Ich bin außerordentlich dankbar, dass wir die Mittel für die Freie Förderung nun auf 10 Prozent aufstocken konnten und dass wir den Helfern und Fallmanagern vor Ort mit den unterschiedlichen Instrumentarien, die vorhanden sind, unmittelbare Hilfen an die Hand geben und sie daraus eine passgenaue Hilfe für die Betroffenen organisieren können. ({3}) Meine Damen und Herren, ich möchte auf den neu eingeführten § 45 SGB III kurz eingehen, auf das sogenannte Vermittlungsbudget. Erklärter Wille der Politik ist, dass dieses Vermittlungsbudget ebenfalls flexibel eingesetzt werden kann. Wir müssen sicherstellen, dass dies durch Verwaltungshandeln nicht wieder konterkariert wird. Es ist erklärter Wille der Koalitionsfraktionen, dass diese Mittel durch die Argen eingesetzt, verwaltet, verantwortet und gestaltet werden, das heißt: sowohl durch die BA als auch durch die Kommunen. Das ist deswegen an dieser Stelle wichtig, weil es im Kern um die Frage geht, wer die Verantwortung für die Integration der Langzeitarbeitslosen trägt. Die spannende Frage, die sich in dieser Diskussion stellt, lautet: Wie wird die Grundsicherung für Arbeitsuchende in Zukunft organisiert? Sie wissen alle, dass das Bundesverfassungsgerichtsurteil umgesetzt werden muss. Ich sage Ihnen: Die Frage, die beantwortet werden muss, damit wir den Menschen helfen können, ist, wie wir die Entscheidungshoheit über die arbeitsmarktpolitischen Instrumente organisieren. Das ist der Kern des SGB II. Im Zentrum des SGB II steht dies deswegen, weil es nicht darum geht, möglichst viele Leistungen auszuschütten, sondern darum, Menschen effizient zu helfen, damit sie wieder in Beschäftigung kommen. Das ist die große Herausforderung. Ich glaube, dass das, was wir mit dem heutigen Gesetzentwurf an Flexibilität auf den Weg bringen, in der Verantwortungshoheit der Grundsicherungsträger der Argen und der optierenden Gemeinden ein wichtiger Schritt zu mehr Flexibilität ist. Ich bitte sehr nachdrücklich darum, dass sowohl die Verwaltung des Bundesarbeitsministeriums als auch die Verwaltung der BA alles daransetzen, dass sich die dahinterstehenden Gedanken auch im Verwaltungshandeln deutlich niederschlagen. ({4}) Die letzte kurze Bemerkung will ich an dieser Stelle in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringen. Hinter diesem Gedanken steht, dass die Fallmanager selbst entscheiden und eigenverantwortlich vor Ort ihre Verantwortung wahrnehmen. Das wollen wir alle. Wir wollen, dass vor Ort Freiheit herrscht, um passgenau helfen zu können. Der Freiheit steht die Verantwortung gegenüber, die man natürlich für die verausgabten Mittel trägt. Aufgabe des Parlaments und der Regierung muss es aber doch sein, den Menschen in aller Deutlichkeit zu sagen: Ihr dürft bei diesen Schritten, die ihr oft in einer hochkomplizierten Situation geht, auch einmal Fehler machen, ohne dass sich sofort die Kameras dieser Welt darauf richten. Aus den Erfahrungen, die ihr dabei macht, können wir lernen, wie wir die nächsten Schritte gehen. Die Integration von Arbeitslosen, insbesondere von Langzeitarbeitslosen, ist und bleibt ein lernendes System. Ich freue mich sehr, dass wir mit diesem Schritt des Lernprozesses, mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf ein gutes Stück weiterkommen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zu den Abstimmungen über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instru- mente. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf der Druck- sache 16/11233, den Gesetzentwurf der Bundesregie- rung auf den Drucksachen 16/10810 und 16/11196 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zwei- ter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Bei gleichen Mehrheitsverhältnissen ist der Gesetzent- wurf damit angenommen. Präsident Dr. Norbert Lammert Wir setzen die Abstimmung zur Beschlussempfeh- lung des Ausschusses auf Drucksache 16/11233 fort. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung geht es um die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck- sache 16/9093 mit dem Titel „Arbeitsmarktinstrumente auf effiziente Maßnahmen konzentrieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dage- gen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussemp- fehlung mit breiter Mehrheit angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/10511 mit dem Titel „Arbeitslosenversicherung stärken - Ansprüche si- chern - Öffentlich geförderte Beschäftigte einbeziehen“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei spiegelbildli- chen Mehrheitsverhältnissen ist auch diese Beschluss- empfehlung angenommen. Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8524 mit dem Titel „Lokale Entscheidungsspielräume und passgenaue Hilfen für Arbeitsuchende sichern“ ebenfalls abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition ange- nommen. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 36 c. Hier geht es um die Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Rechte von Arbeitsuchenden stärken - Kom- petentes Fallmanagement sicherstellen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Druck- sache 16/11142, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen auf der Drucksache 16/9599 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung, wiederum mit den Stimmen der Koalition, angenommen. Bei der Abstimmung zu Tagesordnungspunkt 36 d geht es um den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitsförderung. Der Ausschuss für Arbeit und So- ziales empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 16/11241, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/10806 in der Aus- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zwei- ter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Lesung mit der Mehrheit der Koalition angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der FDP auf der Drucksache 16/11296. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt. Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 36 e. Hier geht es um die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Handlungsfähigkeit der Bundes- agentur für Arbeit erhalten - Auf Senkung der Beitrags- sätze verzichten“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11241, den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 16/10618 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussemp- fehlung zu? - Wer möchte dagegen stimmen oder sich der Stimme enthalten? - Damit ist die Beschlussempfeh- lung mit Mehrheit angenommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 h sowie die Zusatzpunkte 9 und 10 auf: 37 a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Allgemeine Erklärung der Menschen- rechte - Grundlage für 60 Jahre Menschen- rechtsschutz - Drucksache 16/11215 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Knoche, Ulla Jelpke, Hüseyin-Kenan Aydin, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die Allgemeine Erklärung der Menschen- rechte, der Zivil- und Sozialpakt - Grundla- gen für einen unteilbaren und universellen Menschenrechtsschutz - Drucksache 16/11189 - c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention - Drucksachen 16/3145, 16/4647 Berichterstattung: Abgeordnete Holger Haibach Florian Toncar Michael Leutert Volker Beck ({1}) d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt Präsident Dr. Norbert Lammert Müller-Sönksen, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Rechtsstaatskonforme Behandlung von Verhafteten nach der Übergabe durch deutsche Stellen im Ausland sicherstellen - Drucksachen 16/2096, 16/5315 Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Florian Toncar Michael Leutert Volker Beck ({3}) e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Volker Beck ({5}), Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechtsschutzlücken bei der Terrorbekämpfung schließen - Drucksachen 16/821, 16/8032 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Steinbach Burkhardt Müller-Sönksen Michael Leutert Volker Beck ({6}) f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Omid Nouripour, Josef Philip Winkler, Volker Beck ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN UN-Wanderarbeiterkonvention endlich ratifizieren - Drucksachen 16/6787, 16/10208 Berichterstattung: Abgeordnete Holger Haibach Florian Toncar Michael Leutert Volker Beck ({9}) g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({10}) zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck ({11}), Marieluise Beck ({12}), Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Menschenrechte der Uiguren schützen - Drucksachen 16/7411, 16/10283 Berichterstattung: Abgeordnete Holger Haibach Dr. Herta Däubler-Gmelin Florian Toncar Michael Leutert Volker Beck ({13}) h) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ergebnisse der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft - Drucksachen 16/6370, 16/8595 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Florian Toncar, Dr. Max Stadler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Rechtsstaatlichkeit sichern - Effektiven Rechtsschutz bei Terrorismusbekämpfung schaffen - Drucksache 16/8903 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({14}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({15}) zu dem Antrag der Abgeordneten Florian Toncar, Harald Leibrecht, Burkhardt MüllerSönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Das Verhalten von Birmas Junta muss Konsequenzen haben - Drucksachen 16/9340, 16/10392 Berichterstattung: Abgeordnete Holger Haibach Johannes Pflug Harald Leibrecht Dr. Norman Paech Kerstin Müller ({16}) Zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Aussprache eine Stunde dauern. - Das ist offenkundig einvernehmlich und damit so vereinbart. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Erika Steinbach für die CDU/CSUFraktion. ({17})

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 10. Dezember dieses Jahres jährt sich die Annahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die GeneralverErika Steinbach sammlung der Vereinten Nationen zum sechzigsten Mal. An diesem Tage vor 60 Jahren wurde im Pariser Palais de Chaillot Geschichte geschrieben. Man führe sich den historischen Kontext der Verabschiedung vor Augen. 1948 waren die Wunden des Krieges noch immer nicht richtig verheilt. Der Zweite Weltkrieg und seine Folgejahre hatten der Staatengemeinschaft auf drastische Weise vor Augen geführt, dass die Menschheit zu Grausamkeiten unvorstellbaren Ausmaßes in der Lage ist. Das Verhältnis vieler Staaten zueinander war zerrüttet. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war ein Zeugnis für den Konsens, den man in der Nachkriegszeit suchte. Nie wieder wollten viele zulassen, dass Diktatoren Menschen ihrer individuellen Freiheitsrechte berauben. Der Pferdefuß, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, allerdings war, dass die Sowjetunion, die anderen Ostblockstaaten, Saudi-Arabien und Südafrika nicht zugestimmt haben. Wer die Gulags der Sowjetunion, wer Stalins Handeln heute wirklich durchleuchtet, weiß auch genau, warum. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte benennt individuelle Rechte eines jeden Bürgers gegenüber seinem Staat. Sie benennt politisch-bürgerliche Rechte genauso wie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Viele rechtliche Fragestellungen mussten im Vorfeld erst geklärt werden. Viele Sichtweisen mussten miteinander versöhnt werden. Sehr viele Kompromisse mussten gefunden werden. Die Fronten in den Debatten verliefen entlang der Linie zwischen armen und reichen Staaten genauso wie entlang der Linie zwischen sozialistischen und marktwirtschaftlich orientierten Ländern. Soll die Erklärung rechtlich verbindlich sein oder nicht? Wie konkret können die einzelnen Artikel formuliert werden, ohne die Souveränität des einzelnen Staates zu gefährden? Fragen wie diese bewegten die Vorbereitungskommission unter dem Vorsitz von Eleanor Roosevelt über Wochen und Monate hinweg. Die Aufnahme von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten wurde sehr heftig debattiert. Schließlich war auch der Anspruch der Universalität der Rechte stark umstritten. So sah beispielsweise Saudi-Arabien die Rechtsgleichheit von Männern und Frauen bei der Eheschließung, so wie sie in Art. 16 vorgesehen ist, sowie das Recht auf Religionswechsel als rein westliche Werte an. Leider müssen wir feststellen, dass sich an dieser Einstellung in einigen Ländern bis heute nicht viel geändert hat, auch nicht in Saudi-Arabien; im Gegenteil. Die Universalität der Menschenrechte wird von vielen islamischen Staaten verstärkt infrage gestellt oder schlicht negiert. So fortschrittlich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war, so problematisch war von Anbeginn der fehlende Überwachungs- und Durchsetzungsmechanismus. Hier hat es erfreuliche Fortschritte gegeben. Ein Meilenstein dabei ist, wie ich meine, der 1998 geschaffene Internationale Strafgerichtshof. Damit ist endlich deutlich gemacht: Wir wollen Menschenrechte nicht nur postulieren, auf den Lippen tragen, auf dem Papier geschrieben sehen, sondern wir wollen sie am Ende auch so weit wie möglich durchsetzen. ({0}) Deshalb ist es gut und richtig, dass wir mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf europäischer Ebene eine eigene Menschenrechtsgerichtsbarkeit etabliert haben. Wie steht es nun heute um die Menschenrechte in der alltäglichen Realität? Ich stelle fest: Zwischen den hehren Worten und dem Wollen vieler auf der einen Seite und dem praktischen Handeln auf der anderen Seite klaffen leider immer noch Welten. Nahezu hilflos sehen wir etwa die afrikanischen Menschenrechtstragödien, die Vertriebenenströme, die sexuelle Gewalt oder die chinesischen Repressalien gegen Uiguren und Tibeter. Die Situation in Birma ist ein einziger Albtraum. An zwei Vokabeln in unserem Wortschatz, die wir eigentlich längst vergangenen Jahrhunderten zuschreiben, wird deutlich, dass archaisches Denken und archaisches Handeln auch heute noch dramatische Praxis sind. „Sklavenhandel“ und „Christenverfolgung“ sind heute Realität; die Worte stammen nicht aus vorigen Jahrhunderten. Das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit schließt die Freiheit ein, seine Religion oder seine Weltanschauung zu wechseln, und auch die Freiheit, seine Religion, seine Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich und privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen. In einer Vielzahl von Ländern werden Christen daran gehindert, ihr Menschenrecht auf freie Religionswahl auszuüben. Im Iran, in Saudi-Arabien oder im Sudan zum Beispiel wartet auf christliche Missionare oder Konvertiten das Beil oder die Steinigung. Die Experten von „Kirche in Not“, von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte und des Instituts für Religionsfreiheit stellen übereinstimmend fest, dass weltweit etwa 75 Prozent der aus religiösen Gründen verfolgten und 80 Prozent der aus religiösen Gründen ermordeten Menschen Christen sind. Keine andere Religionsgemeinschaft auf der Welt wird heute stärker verfolgt. Wir sind nicht im alten Rom: Das ist heute. Ein brennendes Problem ist die Situation der irakischen Christen. Eine bewegende Reportage in der taz vom 27. November titelte, dass niemand in Europa die Geschichte der irakischen Christen glaube. In dieser Reportage ist ein Zitat zu finden: Jeden Tag Blut, Tod, zerstörte Kirchen. Jeden Tag Zettel vor der Wohnung: „Verschwindet!“ Flüchtlinge, die in Zirndorf leben - so berichtet die taz weiter -, haben mit angesehen, wie die Haut von einem Christen wegrasiert wurde oder wie ein Christ gezwungen wurde, über das Bild Jesu zu treten, und als dieser sagte, er könne das nicht, wurde der Mann enthauptet. So der Bericht in der taz, ein ganzseitiger großer Dokumentationsbericht. Im Irak gehören Morde an Minderheiten wie Christen, aber auch an Mandäern zum Alltag. Damit gehen Begleitverbrechen wie Zwangskonversion, Vergewaltigungen und Vertreibungen einher. Schätzungen von kirchlichen Organisationen gehen davon aus, dass sich die Zahl der Christen im Irak seit Beginn des Krieges halbiert hat. In weiten Teilen des Irak droht die 2 000jährige Geschichte des Christentums ganz zu erlöschen. Angesichts der massiven Gewalt hat die große Mehrheit der geflohenen Christen keine Hoffnung mehr, in ihr Heimatland zurückzukehren. Letzte Woche haben die europäischen Justiz- und Innenminister beschlossen, die am schlimmsten verfolgten irakischen Flüchtlinge in Europa aufzunehmen. Das ist ein Verdienst von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, dem ich ausdrücklich danke, und ein großer Erfolg für die Menschenrechtspolitiker der Großen Koalition. ({1}) Ein weiteres Thema der Schande ist der Sklavenhandel. Der Handel mit der Ware Mensch bringt den Betreibern auf dem globalen Markt hohen Gewinn. Er ist ein profitables Geschäft des internationalen organisierten Verbrechens, vergleichbar nur noch mit Drogen- und Waffenhandel. Dabei ist die Ware, von der hier die Rede ist, immer wieder verwendbar und mit geringem Aufwand zu beschaffen. Dieser Gedankengang zeigt, wie abgrundtief menschenverachtend das Geschäft mit Menschen weltweit betrieben wird. Ich betone: heute und weltweit. Auch Deutschland ist ein Zielland dieses Handels. Am 2. Dezember wird alljährlich der Internationale Tag für die Abschaffung der Sklaverei begangen. Sklaverei bzw. der Besitz von Menschen und der Handel mit Menschen sind auch hier wiederum keine leeren Begriffe der Geschichte. Sie sind Synonym einer Vielzahl entsetzlicher Tragödien, und zwar auch wiederum heute. Ein wesentliches Feld des Sklavenhandels betrifft Frauen. Ihrer Würde und Selbstbestimmung beraubt und mit falschen Versprechungen gelockt, um ihrer Armut zu entkommen, erreichen zumeist junge Frauen den verheißungsvollen Westen. Sie sehen sich statt eines wirtschaftlichen Aufstiegs jedoch der grauenvollen Tatsache von Vergewaltigung, des Zwangs zur Prostitution oder der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft ausgesetzt. 12,3 Millionen Sklaven weltweit: Von dieser Zahl geht Terre des Hommes heute aus. Namhafte Autoren wie Benjamin Skinner oder Becky Cornell sprechen sogar von 27 Millionen versklavten Menschen. Eines ist sicher: Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit gab es mehr Sklaven als heute. Jeder von ihnen ist zutiefst in seinen Menschenrechten verletzt. Die meisten können sich aus ihrer Zwangslage nicht selbst befreien. Deshalb müssen wir nicht nur über dieses Problem reden, sondern versuchen, es aus der Welt zu schaffen. Auch in Deutschland leben zahllose Zwangsprostituierte, die den Menschenhändlern hilflos ausgeliefert sind. Wir müssen Mittel und Wege finden, um diesen barbarischen Geschäftemachern das Handwerk zu legen. Ich bitte unsere Innenpolitiker - ich weiß, sie arbeiten daran -, ({2}) Möglichkeiten zu schaffen und Maßnahmen zu ergreifen, damit das machbar ist. Wir müssen der Sklaverei ein Ende bereiten. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin gleich zu Ende; danke schön. In diesem Jubiläumsjahr für Menschenrechte können wir feststellen: Es ist gut, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vor 60 Jahren aus der Taufe gehoben wurde, damit das Bewusstsein für Menschenrechte geschärft wird. Wir müssen aber auch feststellen, dass Menschenrechte auf diesem Erdball immer noch nicht selbstverständlich sind. Vor uns liegt noch ein weiter Weg. Aber wir wollen und wir müssen diesen Weg auch gehen. Danke schön. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Burkhardt MüllerSönksen für die FDP-Fraktion. ({0})

Burkhardt Müller-Sönksen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003818, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Menschenrechte, die universellen und unteilbaren Rechte eines jeden Menschen, verbinden uns weltweit. Menschenrechte sind kein Luxus, nein, sie haben höchste Priorität. Um es noch deutlicher zu sagen: Menschenrechte sind die Grundlage all unseres politischen, wirtschaftlichen und sozialen Handelns. Zumindest sollten sie das sein. ({0}) Wir sind uns sicherlich darin einig, dass die Menschenrechte einer der größten Erfolge sind und gleichzeitig eine diffizile Herausforderung der Menschheit darstellen. Insbesondere der 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erinnert uns wieder daran. Nach der globalen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges einigten sich die Länder in einem harten Ringen auf eine rechtliche Wertebasis, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Heute, 60 Jahre später, kommt mit dieser Großen Koalition, auch nach langem und hartem Ringen, ein interfraktioneller Antrag „Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte - Grundlage für 60 Jahre Menschenrechtsschutz“ - zustande. Es ist bedauerlich, dass dieser so wichtige Antrag nach internen Streitereien der Koalition fast nicht zustande gekommen wäre. ({1}) Es ist leider symptomatisch, dass mit dieser Regierung nur der kleinste gemeinsame Nenner möglich ist ({2}) und die wichtige große Linie aus den Augen verloren wird. Die SPD vertrat die Position, dass etwaige Vorbehalte in den Menschenrechtsverträgen national wie international zurückgenommen werden sollten. Unionspolitiker haben darauf sehr aufgeregt reagiert. Schließlich könnte die Bundesregierung auf ihr Wort festgenagelt werden und am wunden Punkt, den Vorbehalten gegenüber der VN-Kinderrechtskonvention, kritisiert werden. Wo aber bleiben in diesem Gezerre der Mensch und die Rechte eines jeden Menschen? ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als FDP-Bundestagsfraktion sind enttäuscht über die Defizite, die die Menschenrechtspolitik dieser Großen Koalition hat. ({4}) Diese zeigen sich unter anderem im Mangel am politischen Willen zur Ratifizierung des 12. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention. ({5}) Wie die FDP-Bundestagsfraktion in ihrem Antrag bereits vor mehr als zwei Jahren forderte, muss Deutschland das 12. Zusatzprotokoll zur EMRK auch ratifizieren. Nur als Erstunterzeichner zu glänzen, ist Augenwischerei. Eine Neugestaltung des Diskriminierungsverbotes, wie es das 12. Zusatzprotokoll explizit fordert, ist die zeitgemäße politische Antwort - ich zitiere, Herr Kollege Strässer, aus dem FDP-Antrag auf Drucksache 16/3145 „im Kampf gegen Rassismus und Intoleranz und bei der Gleichstellung von Mann und Frau“. ({6}) Der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung zeigt zwar, dass im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft eine beeindruckende Bandbreite von Menschenrechtsthemen angesprochen worden ist. Aber der Bericht strotzt nur so vor Lücken. Ein prägnantes Beispiel ist die Zentralasienstrategie vom 8. Januar 2007. Selbstverständlich ist der Ausbau des politischen Dialogs mit der Region, insbesondere zu Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten, zu begrüßen. Aber wie ist dies mit dem skandalösen politischen Verhalten der Bundesregierung zur Menschenrechtssituation in Usbekistan in Einklang zu bringen? Die Repressionen hören nicht auf. Die Rücknahme der EU-Sanktionen gegen Usbekistan - auch dank Ihrer Unterstützung - ist ein völlig falsches Zeichen: ({7}) ein falsches Zeichen für die Menschen - denn deren Leid bleibt unerkannt und unbeachtet -, für die usbekische Regierung - denn sie ist in ihrer menschenverachtenden Politik bestärkt worden - und weiterhin für alle, die an Menschenrechte glauben; denn die Bundesregierung und die EU haben sich erneut in ihrer Machtlosigkeit und Widersprüchlichkeit gegenüber dem usbekischen Regime selbst entkräftet. In schriftlichen Fragen an die Bundesregierung forderten wir zur Aufklärung auf, warum ein mutmaßlicher Verantwortlicher für das Massaker in Andischan von offizieller Seite nach Deutschland eingeladen wurde. Manche Quellen vermuteten sogar eine Einladung durch den Bundesnachrichtendienst. Die Antwort der Bundesregierung ist substanzfrei. ({8}) Zeitgleich wurden Regimekritiker nach Folterungen zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Wie konnte die Chance, auf das Regime in Taschkent einzuwirken, auf diese Weise durch die Politik der Großen Koalition zunichtegemacht werden?! Es ist ein - zumeist ist das sogar wörtlich zu nehmen - Schlag in die Gesichter der Menschenrechtsverteidiger, zum Beispiel der Menschenrechtsverteidigerin Frau Umida Niazova. In einem persönlichen Gespräch berichtete mir die usbekische Journalistin, wie sie und weitere Aktivistinnen unter Druck gesetzt und gefoltert wurden. Sie wollte nur wissen, warum am 13. Mai 2005 in Andischan Hunderte Unschuldige von der Regierung ermordet wurden. Nehmen Sie Ihre eigenen Versprechen in der Menschenrechtspolitik ernst und machen Sie es uns als Opposition nicht so einfach, Ihre Wortblasen wie in der Antwort auf die Große Anfrage zur Menschenrechtsbilanz zu entlarven! ({9}) Ein weiteres Thema, das uns als FDP-Bundestagsfraktion am Herzen liegt, ist die Herausforderung der Rechtsstaatlichkeit in Zeiten des Terrorismus. Lassen Sie uns nicht immer auf andere Länder schauen und denen vorschreiben, wie sie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zu achten haben, ({10}) sondern lassen Sie uns schauen, was wir selbst tun können! Wir haben als Erste gefordert, dass bei Überstellung von Verhafteten im Ausland eine rechtsstaatskonforme Behandlung durchgeführt werden soll. Dass dies ein wichtiges und drängendes Problem darstellt, zeigt die sofortige Umsetzung unserer Forderungen in einen Befehl der Bundeswehr. Leider hat dieser ein wesentliches Manko: Nach der Übergabe der Gefangenen sind keine Kontrollen über eine rechtsstaatskonforme Behandlung mehr vorgesehen. Wir fordern Kontrollen auch nach der Übergabe, um die rechtsstaatliche Behandlung von Gefangenen zu gewährleisten; denn bei internationalen Friedenmissionen kommt es in einer Übergangsphase auch zu Verhaftungen von Personen durch internationale Streitkräfte. Im Rahmen der deutschen Beteiligung an solchen Missionen wie etwa im Kosovo oder in Afghanistan werden solche Verhaftungen auch von Angehörigen der Bundeswehr vorgenommen. Zudem wirkt die Bundeswehr an Verhaftungen durch Stellen anderer Nationen mit. Von der Bundeswehr festgenommene Personen werden anschließend regelmäßig den zuständigen örtlichen Behörden überstellt. An Informationen über deren weiteren Verbleib oder deren weitere Behandlung fehlt es bisher. Entscheidend ist, welchen Sicherungen diejenigen Menschen unterliegen, die deutsche Stellen in den Gewahrsam anderer Staaten überstellen bzw. an deren Ingewahrsamnahme oder Inhaftierung deutsche Stellen maßgeblich beteiligt sind. An dieser Stelle möchte ich auf einen anderen wichtigen Aspekt zu sprechen kommen: die Achtung rechtsstaatlicher Verfahren in der Terrorismusbekämpfung. Der internationale Terrorismus stellt eine ernste Bedrohung für die Sicherheit dar, auch in Deutschland. Der Rechtsstaat muss dem Terrorismus mit aller Konsequenz entgegentreten. Jedoch muss sich der Rechtsstaat treu bleiben und die eigenen rechtsstaatlichen Grundsätze beachten. Auf der Ebene der Vereinten Nationen wird zur Terrorismusbekämpfung ein Listungsverfahren durchgeführt, welches sich gegen Organisationen wie al-Qaida oder die Taliban richtet. Die EU übernimmt die Listung der UNO. Dabei besteht für Personen, die von diesem Listungsverfahren erfasst werden, keinerlei Rechtsschutz. Leider sind in der Vergangenheit aufgrund von Namensverwechslungen auch unbescholtene Bürger aufgelistet worden und mussten unter den Sanktionen leiden. Deutschland muss daher gemeinsam mit den europäischen Partnern auf UNO-Ebene darauf drängen, dass diese Defizite im Rechtsschutz beseitigt werden. Die EU hat daneben ein eigenes Listungsverfahren, von dem Organisationen wie die ETA oder die IRA erfasst werden. Bei diesem europäischen Listungsverfahren existiert jedoch ein funktionierender Rechtsschutz. Dies belegt, dass effektive Terrorbekämpfung auch mit den Mitteln des Rechtsstaats möglich ist. ({11}) - Ich übernehme das gerne: nur mit den Mitteln des Rechtsstaates. - Es ist dringend erforderlich, auf UNOEbene die bestehenden Mängel abzustellen. Die FDP hat dazu einen konstruktiven Antrag vorgelegt, Herr Außenminister. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Bundesregierung spricht nun der Bundesminister des Auswärtigen, Frank-Walter Steinmeier. ({0})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vor 60 Jahren war in der Tat ein Signal der Hoffnung für eine Welt, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern lag und deren Zukunft im Zeichen des Kalten Krieges ungewiss war. Heute leben wir in einer anderen Welt. Nicht nur Europa ist politisch geeint und friedlich wie nie zuvor, sondern auch viele Länder, die 1948 noch unter kolonialer Herrschaft standen und die von Armut und Unterentwicklung gekennzeichnet waren. Viele von diesen Ländern haben einen Zeitsprung in die Moderne gemacht. Besonders in Asien haben Hunderte Millionen Menschen Zugang zu Wohlstand - auf bescheidenem Niveau, aber immerhin - gefunden. Wissen ist heute verfügbar, jederzeit und fast überall. Ich weiß natürlich, dass das noch keinen Schutz von Rechten garantiert, aber gleichwohl verändert das Gesellschaften; denn auch wo Zensur und Unterdrückung nicht verschwunden sind - die gibt es in der Tat, Frau Steinbach, in vielen Staaten -, leben die Menschen im Bewusstsein ihrer Möglichkeiten und klagen an, dass ihnen Rechte verweigert werden. Mobilität, Information und politische Aktion sind heute keine Privilegien mehr von Europäern und Nordamerikanern. Das ist die Veränderung, die ich meine. Nicht nur die Märkte der Welt wachsen zusammen, sondern auch die sozialen Schicksale der Menschen wachsen zusammen. Vieles bedrängt uns, was vor 60 Jahren noch weit jenseits unseres Wahrnehmungshorizonts lag. Regionale Krisen finden globale Aufmerksamkeit, weil wir wissen, dass die Risiken kaum noch Grenzen kennen und am Ende uns alle treffen. Die Konsequenz daraus ist klar, es kann nur eine sein: Auf die Globalisierung der Märkte muss eine echte politische Globalisierung unter Einschluss der Durchsetzung der Menschenrechte folgen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Beck?

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Ja.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Beck.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, sind Sie bereit, die Verpflichtung, die Sie eben formuliert haben, ernst zu nehmen und nach allen Kräften in Ihrem eigenen Haus durchzusetzen, und anerkennen Sie die Verpflichtung gerade für ein weitentwickeltes Land wie Deutschland? Ich möchte erklären, weshalb ich diese Frage stelle. Marieluise Beck ({0}) ({1}) Ich habe mich in den vergangenen Monaten bemüht, drei minderjährigen Kindern, deren Eltern als nach der Genfer Konvention anerkannte Flüchtlinge seit sieben Jahren in meinem Wahlkreis in Bremen leben, zu helfen, das Recht der Familienzusammenführung, das ihnen nach der Genfer Konvention zusteht, durchzusetzen. Diese drei Kinder sind von deutschen Konsulaten innerhalb von vier Jahren dreimal in das Kriegsgebiet Irak zurückgeschickt worden, ohne dass ihnen auf irgendeine Weise ein Weg aufgezeigt worden wäre, wie vielleicht zu Recht offene Fragen hätten geklärt werden können. Ich habe mich an die Leitung Ihres Hauses gewandt. Das hat zunächst keine Folgen gehabt. Ich bin der festen Auffassung, dass so etwas in unserem eigenen Land - das müsste eine Selbstverpflichtung sein - nicht passieren darf und dass der Geist des Hauses, in dieser Abteilung und auf der Leitungsebene, ein anderer sein müsste. ({2})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Frau Abgeordnete, die in dem ersten Teil Ihrer Frage enthaltene Unterstellung, dass sich das Auswärtige Amt oder der Minister persönlich nicht ausreichend engagiert um Menschenrechtsfälle kümmern, weise ich mit Entschiedenheit zurück, und Sie wissen das. ({0}) Wir sind über Einzelfälle oft genug im Gespräch. Sie wissen, dass wir in vielen Fällen Lösungen gefunden haben. Den besonderen Fall in Bremen werde ich ihn mir gern persönlich noch einmal anschauen. Aber Rechtsauskünfte kann ich von diesem Mikrofon aus nicht geben; das wissen Sie. ({1}) Die internationalen Institutionen werden den Anforderungen dieser Aufgabe - das ist meine Auffassung noch nicht gerecht. Das gilt insbesondere für den Menschenrechtsrat, über den wir in diesem Hohen Hause schon verschiedene Male gesprochen haben. Es gibt einige hoffnungsvolle Ansätze. Immerhin hat sich am vergangenen Dienstag gezeigt, dass der Menschenrechtsrat in der Lage war, eine Resolution zur Situation im Ostkongo zu verabschieden. Damit hat der Menschenrechtsrat in der vergangenen Woche gezeigt - was nicht oft genug geschieht -, dass er in der Lage ist, auch auf tagesaktuelle Situationen wie die Menschenrechtsverletzungen in Kivu schnell zu reagieren. Wir brauchen Grundnormen, die uns für unsere Arbeit in der globalen Verantwortungspartnerschaft Orientierung geben. Wir brauchen einen normativen Kompass. Die universellen Menschenrechte sind für mich - ich habe das an anderer Stelle gesagt - ein solcher Kompass. Er gibt uns die Richtung an; aber er erspart uns eben nicht die politischen Anstrengungen, dem Ziel gleicher Rechte Schritt für Schritt näherzukommen. Nicht die Deklaration der Ansprüche ist unsere schwierigste Aufgabe, sondern die Arbeit daran, die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu schließen. Das war von Anfang an so, und das bleibt so. ({2}) Unsere Erfahrung, die Erfahrung in Deutschland, lehrt uns: Menschenrechte sind notwendig. Aber sie lehrt uns auch: Bürgerrechte sind die härtere Währung der Menschenrechte. Der demokratische Rechtsstaat ist unentbehrlich, damit die Menschenrechte nicht nur Postulat sind, sondern unmittelbar einklagbares Recht werden. Deshalb will ich auch hier daran erinnern: Fünf Monate nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erhoben die Mütter und Väter unserer Verfassung den Schutz der Grundrechte zum Auftrag staatlichen Handelns. Wenn wir bald den 60. Geburtstag des Grundgesetzes begehen, sollten wir nicht nur Geschichte feiern, sondern auch an die Gegenwart denken: Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat, um gleiche Rechte durchzusetzen. Soziale Spaltung bedroht die Geltung von Menschenrechten. Die bürgerlichen Freiheitsrechte sind nur dann für alle erreichbar, wenn soziale Teilhaberechte hinzutreten. Dafür zu sorgen, ist unser gemeinsamer Auftrag in Europa. Europa darf nicht nur Markt sein; es muss auch ein soziales Europa sein, um seinen Bürgerinnen und Bürgern gerecht zu werden. ({3}) Respekt vor jedem einzelnen Menschen, Schutz seiner unveräußerlichen Rechte, das ist ein elementarer Pfeiler deutscher Politik. In den vergangenen zehn Jahren haben wir gemeinsam den Menschenrechtsschutz in diesem Land weiterentwickelt. Wir haben in der Tat die Vertretung menschenrechtlicher Prinzipien in Deutschland gestärkt: mit dem Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechte, mit dem Deutschen Institut für Menschenrechte, mit der Vorlage eines nationalen Aktionsplans für Menschenrechte. Außerdem haben wir - das sollten wir nicht ganz vergessen - gemeinsam die Europäische Grundrechte-Charta auf den Weg gebracht. Wir waren für den Vertrag über eine Verfassung für Europa, der diese Charta enthält. ({4}) Auch wenn es am Ende nicht ganz so weit, also nicht zur europäischen Verfassung, gekommen ist: Die Charta jedenfalls behält ihre Bedeutung. Wir stehen zu ihr. Sie formuliert die politischen und sozialen Rechte, die Teil der europäischen Identität geworden sind. Mit unseren Partnern in der Europäischen Union treten wir im Übrigen auch für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe ein. ({5}) Da Sie Usbekistan angesprochen haben, ein Land, in dem unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten zweifellos unendlich viel zu tun ist: Ich persönlich habe mich in Usbekistan intensiv für die Abschaffung der Todesstrafe eingesetzt. Sie wissen, dass sie seit zwei Jahren nicht mehr vollstreckt wird und inzwischen auch rechtlich abgeschafft ist. Die Tatsache, dass wir gegenüber Usbekistan die Sanktionen gelockert haben - diesen Vorwurf werden wir sicherlich gleich von der grünen Seite hören -, hängt schlicht und ergreifend damit zusammen, dass wir auf Benchmarks gesetzt haben. Die Abschaffung der Todesstrafe gehört dazu ebenso wie die Kontaktaufnahme mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, um Zugang zu den Gefangenen zu erreichen. Das ist in begrenztem Maße geschehen. Insofern verstehen Sie bitte die europäischen Entscheidungsfindungen gegenüber Usbekistan. ({6}) Ich komme zum Ende. Wir setzen uns nicht nur für die rechtliche Abschaffung der Todesstrafe ein - das ist unter Menschenrechtsgesichtspunkten wichtig -, sondern wir haben uns gemeinsam mit Italien und anderen auch dafür eingesetzt, dass sich in diesem Jahr die Vereinten Nationen zum ersten Mal für ein Hinrichtungsmoratorium einsetzen. Das ist der Erfolg der starken gemeinsamen Stimme Europas, ohne die das nicht gelungen wäre. ({7}) Zum allerletzten Punkt. Natürlich gilt es auch, den politischen Druck zur Anerkennung und Durchsetzung von Frauen- und Kinderrechten zu erhöhen; Frau Steinbach hat darauf schon hingewiesen. Die Rücknahme des deutschen Vorbehalts gegen die UN-Kinderrechtskonvention ist aus meiner Sicht überfällig. ({8}) Deshalb appelliere ich an alle, die im Bundesrat die Möglichkeit haben, dazu ihre Stimme zu erheben. Ich finde, der 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wäre ein guter Anlass, diesen Schritt jetzt zu tun. Herzlichen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Wolfgang Gehrcke das Wort. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war wie die Gründung der Vereinten Nationen selbst eine Antwort auf den deutschen Faschismus, auf den Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden, auf den Vernichtungskrieg der Wehrmacht, auf die Verfolgung auch der eigenen Bevölkerung. Der Satz „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ ist der Geist der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Deswegen darf man hier nicht nur allgemein von Kriegsende oder Nachkriegszeit sprechen, sondern muss auch präzise sagen: Der deutsche Faschismus und der Krieg, den er verantwortet, waren der Ausgangspunkt dafür; das möchte ich hier klarstellen. ({0}) Ich bitte Sie sehr: Es lohnt sich, insbesondere die großartige Präambel der Allgemeinen Erklärung noch einmal zu lesen. Ich darf einige Sätze daraus zitieren, zunächst diesen: … da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen … Wie wahr, kann man heute nur dazu sagen. Ich möchte weiter aus der Präambel zitieren, wo es um den Schutz durch die Stärke des Rechtes geht: … die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen … ({1}) Eine wunderbare Formulierung: Hier beruft man sich auf die Gemeinschaft der Menschen, nicht auf die Gemeinschaft der Staaten. Das ist eine großartige Vision, für die es sich lohnt, zu arbeiten und zu kämpfen. Das ist auch nötig, denn die Menschenrechte sind vielfach und dramatisch noch uneingelöst: in der Welt und auch in unserem eigenen Land. Ich möchte gerne, dass wir auch über unser eigenes Land reden und nicht nur auf die Welt blicken, obwohl das sehr notwendig ist. Es ist ein schwerer Verstoß gegen das Recht auf Leben, wenn Menschen in der Welt hungern und hunderttausendfach verhungern, wenn sie von Massenkrankheiten dahingerafft werden. Es ist die Ungerechtigkeit der jetzigen Weltwirtschaftsordnung, die Teile unserer gemeinsamen Welt verarmen und verhungern lässt. Wir als Linke nehmen nicht hin, dass das Brot der Armen zum Kraftstoff für die Autos der Reichen wird. ({2}) Wir nehmen nicht hin, dass saubere Luft und sauberes Wasser privatisiert und - was das Wasser angeht - zum Luxusgut gemacht werden. Auch das gehört zu den Menschenrechten, und auch darüber müssen wir hier reden. ({3}) Wenn Menschenrechte universell gelten und, wie wir glauben, unteilbar sind, dann müssen wir gegen diese ungerechte Weltordnung kämpfen. Nicht nur wir als Linke, sondern viele Gruppen, Initiativen, Kirchen und Gewerkschaften setzen sich engagiert für eine gerechtere Verteilung der Güter und für gleiche Teilhabe ein. Wir meinen deshalb, die wirtschaftlichen Machtzentren dieser Welt dürfen nicht in den Händen der G 8 oder der G 20 liegen und die militärischen Machtzentren nicht in den Händen der NATO, sondern sie müssen wieder in die Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationen zurückverlagert werden. ({4}) Menschenrechte und Krieg sind Gegensätze. Im Frieden haben Menschenrechte eine Chance; im Krieg verkümmern sie. Bereits die Drohung mit Krieg und die Existenz von Massenvernichtungswaffen wie Atombomben gefährden das Menschenrecht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Das gilt für den Einzelnen wie auch für die gesamte Menschheit. Das hat Willy Brandt prägnant mit dem Satz beschrieben: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“ ({5}) Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Kriege in Afghanistan und im Irak belegen: Es gibt keine humanitären Militärinterventionen. Um der Menschenrechte willen müssen diese Kriege beendet werden. Auch das muss man einmal ganz deutlich sagen. ({6}) Wenn wir über Menschenrechte und über die Geschichte der Menschenrechte nachdenken, lohnt es sich, auf die ersten Initiativen während der Französischen Revolution aufmerksam zu machen. Damals waren Sklaven und Frauen ausgeschlossen. Heute sind alle eingeschlossen. Das ist ein bedeutsamer, ein ganz wichtiger Fortschritt. Wir wissen aber auch, dass Anspruch und Realität noch weit auseinanderklaffen. Nehmen wir zum Beispiel die Frauenrechte. Ich denke, dass Frauenrechte Menschenrechte sind. ({7}) - Lassen Sie uns doch einmal sehr konkret darüber reden! ({8}) Wenn in unserem Land jede fünfte Frau Gewalt erleidet, dann muss der Deutsche Bundestag feststellen, dass hier Menschenrechte verletzt werden. Das muss Konsequenzen haben. ({9}) Es ist doch furchtbar, dass Vergewaltigungen heute nicht mehr nur individuelle Verbrechen sind. Sie werden im Krieg wie Bomben und Gewehre als Kriegsmittel eingesetzt. Auch hier muss es einen großen Protest geben und eine harte Haltung dagegen durchgesetzt werden. ({10}) Im Krieg verrohen Menschen. Das müssen wir begreifen. Ich denke auch, dass wir darüber reden müssen, dass oftmals soziale und politische Menschenrechte gegeneinander abgewogen und hierarisch gewichtet werden. Das trifft auch auf mich zu; ich sage das sehr offen. Die Schale Reis für den Hungernden und der Arzt, der die Kranken behandelt, standen und stehen mir besonders nah. Aber ich habe gelernt und sage mir: Der Hungernde braucht die Schale Reis zum Überleben, und er braucht Demokratie und Pressefreiheit, um für sein Überleben zu kämpfen. ({11}) Deswegen gehören individuelle, kollektive, soziale und Freiheitsrechte zusammen. Sie bilden einen politischen Komplex, für den man kämpfen muss. ({12}) Ein großer Gedanke über die Menschenrechte findet sich in unserem Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Es heißt „die Würde des Menschen“ und nicht „die Würde des Deutschen“. Ich bitte Sie, darüber nachzudenken. Dieses Recht muss also auch für Flüchtlinge und Asylbewerber in unserem Land gelten, die vielfach diskriminiert werden. ({13}) In unserem Land müssen soziale Rechte und das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit auch für Frauen gelten. 23 Prozent der Frauen erhalten einen geringeren Lohn im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen. Existenzsichernde Löhne sind bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte enthalten. Mindestlöhne und soziale Absicherung gehören also in unserem Land durchgesetzt. ({14}) Je besser wir in unserem Land Menschenrechte in diesem umfassenden Sinne verwirklichen, desto glaubwürdiger können wir in der Welt für Menschenrechte agieren. Zum Abschluss noch eine Bitte. Ich würde mich freuen, wenn wir das gemeinsam herüberbringen könnten. Der vorliegende Antrag der vier Fraktionen enthält viel Wichtiges; aber er schweigt auch zu wichtigen Punkten. Das habe ich hier angesprochen. Deswegen haben wir einen eigenen Antrag eingebracht. Ich würde mich sehr freuen, wenn diese Bundestagssitzung dem neuen Präsidenten der USA deutlich machte, dass Guantánamo schnellstens aufgelöst und die Menschen freigelassen werden müssen. ({15}) - Man kann das nicht oft genug sagen. ({16}) Man kann nicht über Menschenrechte diskutieren, ohne auf diese Wunde aufmerksam zu machen. Ebenso müssen wir uns klar zur Todesstrafe, egal wo in der Welt sie angewandt wird, äußern. Wir müssen deutlich machen, dass wir sie ablehnen und verurteilen. ({17}) Wir wollen, dass die Todesstrafe nicht nur ausgesetzt, sondern abgeschafft wird. Man kann einige Normen -

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank für Ihre Geduld. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat der Kollege Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einer Debatte über 60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sollten wir nicht so sehr in den Vordergrund stellen, was wir beklagen können, oder uns mit großartigen Worten aufhalten, sondern wir sollten uns in erster Linie damit befassen, was wir in der Bundesrepublik Deutschland in den verschiedenen Politikbereichen konkret tun können, um die Menschenrechte zu stärken. Ich beginne mit der Diskussion über den Antrag. Zunächst hatten wir unter den Menschenrechtspolitikern einen gemeinsamen Text. Dann kam jedoch ein Abgeordneter aus der Arbeitsgruppe der Innenpolitik der CDU/ CSU, Herr Grindel, ({0}) und plötzlich war der gemeinsame Text nicht mehr aufrechtzuerhalten. Worum ging es? Es ging allein um die Vorbehalte zur Kinderrechtskonvention. Das zeigt deutlich, dass es an diesem Tag nicht nur um große Worte geht, sondern auch um ganz konkrete Taten. ({1}) Bei den Vorbehalten zur UN-Kinderrechtskonvention geht es letztendlich um die Rechte der 16- bis 18-jährigen Flüchtlinge, die von uns wie Erwachsene behandelt werden mit der Folge, dass sie in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden, dass sie in Abschiebehaft kommen und dergleichen mehr. Das würde die Kinderrechtskonvention eigentlich verbieten, wenn sie bei uns ohne Vorbehalte gelten würde. Dazu sollten wir uns heute bekennen. ({2}) Ich finde es paradigmatisch, dass die Integrationsund Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung an dieser Debatte nicht teilnimmt. Sowohl die Diskussion über den Antrag als auch die Präsenz der Bundesregierung bei dieser Debatte machen deutlich, was die Menschenrechte der Flüchtlinge manchen Leuten, die dafür zuständig sind, tatsächlich wert sind. ({3}) - Ja. Aber die Flüchtlingsbeauftragte hat bei einer solchen Debatte ebenfalls anwesend zu sein, weil es ganz konkret um die Menschenrechte von Flüchtlingen in Deutschland geht. ({4}) Aber ich will an dem Antrag nicht nur mäkeln; denn wir haben auch etwas erreicht, und das ist ein Fortschritt, den wir gemeinsam hinbekommen haben. Erstmals benennt ein Dokument der Mehrheit des Deutschen Bundestages auch die Yogyakarta-Prinzipien, die die Menschenrechte im Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung wahren. Da das keine Selbstverständlichkeit ist, will ich das würdigen. Wie hochaktuell das ist, sieht man daran, dass der UN-Nuntius, der Botschafter des Vatikans bei den Vereinten Nationen, Erzbischof Celestino Migliore, in dieser Woche die französische Regierung dafür kritisiert, dass sie mit Unterstützung aller Nationen, die Mitglied der Europäischen Union sind, einen Antrag vorbereitet hat, in dem gefordert wird, dass endlich auch die Menschenrechte von Homosexuellen zu wahren sind, dass Homosexuelle zu schützen sind vor gewalttätigen Übergriffen, vor strafrechtlicher Verfolgung und vor der Todesstrafe. Und was fällt dem Nuntius dazu ein? Er sagt, wenn das verabschiedet würde, würden neue, unerbittliche Diskriminierungen geschaffen. Zu Recht sind die Schwulen und Lesben in der Welt darüber aufgebracht. Am Samstag wird es in Rom eine große Demonstration gegen den Vatikan geben. Denn es ist an der Zeit, dass die Menschenrechte von Homosexuellen auch durch den Vatikan anerkannt werden. Wer für Glaubensfreiheit ist, muss auch die negative Glaubensfreiheit respektieren; das heißt, man muss sein Leben auch anders führen können, als es der Vatikan für von Gott gewollt hält. Deshalb muss man sich gegen Diskriminierung, gegen Gewalt und gegen strafrechtliche Verfolgung in diesen Fällen wenden. ({5}) Einen weiteren Punkt möchte ich konkret ansprechen; auch damit haben wir uns heute zu befassen. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung hat zum Thema Guantánamo - wir alle hier im Hause sind uns darin einig, dass Guantánamo geschlossen werden muss - gesagt: Die Schließung Guantánamos darf nicht daran scheitern, dass niemand die Häftlinge aufnimmt. ({6}) Es gibt in Guantánamo eine Reihe von Häftlingen, über die die US-Regierung sagt: Sie sind unschuldig; sie haben nichts getan. Wir haben uns geirrt. Wir haben sie festgenommen und die Falschen erwischt. Sie gehören eigentlich auf freien Fuß. Wir wissen aber nicht, wohin mit ihnen. Volker Beck ({7}) Dazu gehört zum Beispiel die Gruppe der Uiguren aus China, die in China verfolgt werden. Ich meine, im Sinne der Meinung des Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung sollten wir heute beschließen, dass sich Deutschland bereit erklärt, die uigurischen Gefangenen aus Guantánamo aufzunehmen. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Steinbach?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mit großem Vergnügen.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Beck, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, dass das Land, das die Menschen unschuldig eingesperrt hat, auch dafür zu sorgen hat, dass diese Menschen, wenn sie nicht in ihre Heimat zurückkönnen, in den Vereinigten Staaten aufgenommen werden und nicht in alle Welt abgeschoben werden? ({0})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Steinbach-Hermann, ich bin ausdrücklich nicht mit Ihnen dieser Auffassung, sondern ich bin der Auffassung des Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, der meines Wissens auch der CDU angehört, dass Deutschland und Europa, wenn sie es ernst damit meinen, dass Guantánamo geschlossen werden muss, auch einen Beitrag dazu leisten müssen. Guantánamo wird nicht geschlossen werden können, wenn wir nicht bereit sind, hier gemeinsam zu handeln. Frau Merkel, Ihre Bundeskanzlerin, hat seit Monaten eine Liste mit diesen Gefangenen auf dem Tisch. Ich erwarte, dass die Bundesregierung diese Prüfung vorantreibt und gemeinsam mit anderen europäischen Nationen hier einen aktiven Beitrag leistet; denn ansonsten ist es verlogen, wenn wir nicht bereit sind, an diesem Punkt auch zu helfen. Frau Steinbach, was machen 10 oder 20 Gefangene aus, die wir hier aufnehmen? Das verändert nichts, aber wenn es hilft, Guantánamo zu schließen, dann ist das für den Westen und seine Menschenrechtspolitik von ganz entscheidender Bedeutung. Abu Ghureib und Guantánamo: Das ist die Achillesferse des Westens in der weltweiten Diskussion über die Menschenrechtspolitik, ({0}) weil der Eindruck erweckt wird, wir würden das, was wir von anderen - von Russland, von China, von Usbekistan - jederzeit zu Recht erwarten, selber nicht umsetzen. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, Frau Steinbach-Hermann möchte gerne nachfragen. Erlauben Sie das?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Natürlich, der Frau Steinbach-Hermann kann ich in der Regel nichts abschlagen. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Sehr großzügig. - Frau Steinbach.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Beck, halten Sie es für richtig, dass ein Land, das Unrecht begangen und Menschen unschuldig eingesperrt hat, am Ende davonkommt? Natürlich haben Sie recht: Es ist überhaupt kein Problem, dass wir 10 oder 14 Menschen aufnehmen. Die Vereinigten Staaten haben sie aber eingesperrt, und sie sollen sie bitte schön auch aufnehmen. Für sie ist das auch kein Problem.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Steinbach, geschätzte Frau Kollegin, ich finde, wir sollten nicht den Fehler machen, auf dem Rücken der Gefangenen, auf dem Rücken unschuldiger Menschen, die dort seit Jahren einsitzen, ihre Gefangenschaft zu verlängern, indem wir jetzt auf hartherzige Rechthaberei setzen, ({0}) sondern wir müssen an einer Entspannung der Situation interessiert sein und dazu einen entsprechenden Beitrag leisten. Ich bin über die antiamerikanischen Töne aus dem Mund einer CDU-Politikerin erstaunt. ({1}) Ich nehme das mit Interesse zur Kenntnis. Die Welt befindet sich ja stetig im Wandel. Ich finde aber, Sie sollten sich einmal überlegen, was Ihre Position im Ergebnis heißt: Das bedeutet nicht, dass Amerika sie aufnimmt, sondern dass sie weiter in Guantánamo einsitzen. - Sie müssen auch bedenken: Wenn Sie unseren Antrag heute ablehnen und damit auch Ihren Menschenrechtsbeauftragten desavouieren sollten, dann tragen Sie damit Verantwortung dafür, dass diese Leute länger in Guantánamo einsitzen. Das sind dann auch Ihre Gefangenen. ({2}) Nächster Punkt. Herr Steinmeier hat sich ja gewünscht, dass wir auch über Usbekistan reden. Ich erkenne an, dass Usbekistan die Todesstrafe abgeschafft Volker Beck ({3}) hat. Wir waren mit einer Delegation des Menschenrechtsausschusses dort und haben uns genauso wie das Auswärtige Amt und die Bundesregierung nachhaltig dafür eingesetzt. Aber nach den Massakern von Andischan hat die internationale Staatengemeinschaft Forderungen an Usbekistan gestellt. Dazu gehören, wie Sie richtig erwähnten, der Zugang des Internationalen Roten Kreuzes zu den Gefangenen, aber auch der Zugang von Menschenrechtsorganisationen in das Land, und dazu zählt insbesondere, dass in Usbekistan eine Untersuchung der Vorfälle von Andischan vorgenommen wird. Diese Untersuchung hat bis heute nicht stattgefunden. Im Zusammenhang mit der letzten Resolution vor der endgültigen Aufhebung der Sanktionen hat die Europäische Union in Brüssel erklärt, die Wiedereröffnung des Büros zum Beispiel von Human Rights Watch sei eine Conditio sine qua non für die Lockerung bzw. Aufhebung der Sanktionen. Nichts ist geschehen; bis heute durfte niemand hinein. Ebenso ist bei der Aufklärung nichts geschehen. Wenn wir, die europäischen Staaten, uns so an der Nase herumführen lassen, dann erlangen wir nicht die Achtung dieser Regime und deren Respekt; vielmehr wissen sie, dass sie uns auf der Nase herumtanzen können. Der Hintergrund dieser Geschichte ist doch klar: Deutschland hat Interessen in Usbekistan, energiepolitische, aber auch militärpolitische, weil wir in Termes einen Militärflughafen haben, von dem aus wir unsere Einsätze nach Afghanistan fliegen. Dieser Preis ist aber zu hoch, zumal die Burschen in Usbekistan - da bin ich mir sicher - auf das Geld von unserem Militärflughafen in solchem Maße angewiesen sind, dass sie auch eine etwas strengere Diskussion mit uns aushalten. Die Sanktionen zu liften, ist eine Sache; aber dann am nächsten Tag, nachdem die Sanktionen aufgehoben sind, einen der mutmaßlichen Schlächter von Andischan, den usbekischen Minister für Staatssicherheit, Rustam Inojatow, seitens des Bundeskanzleramtes in die Bundesrepublik Deutschland einzuladen, das ist noch eine zweite Sache. Meines Erachtens sind wir in solchen Punkten inkonsistent. Ebenso frage ich mich, warum unsere Kleine Anfrage zu den Hintergründen dieses Besuchs seit Anfang November von der Bundesregierung nicht beantwortet ist. Da scheinen wir offensichtlich ins Schwarze getroffen zu haben. Meine Damen und Herren, ich nenne noch zwei Punkte, an denen wir in der Menschenrechtspolitik konkret etwas machen können. Es geht zum einen um folgende Frage: Was machen wirtschaftliche Unternehmen, transnationale Unternehmen weltweit? Wir sollten wie die USA, die das in ihrem Recht haben, dafür sorgen, dass derjenige, der Menschenrechte im Ausland verletzt, von den Geschädigten hier, vor deutschen Gerichten, für Schadenersatz in Anspruch genommen werden kann. ({4}) - Ja, das soll auch für Deutschland gelten. Hätten Sie sich doch in Ihrem Antrag tatsächlich mit den aktuellen menschenrechtspolitischen Fragen beschäftigt! Angesichts dessen, was Sie da aufgeschrieben haben - das möchte ich zum Schluss noch sagen -, dachte ich gestern, Titanic hätte mir einen Antrag auf den Tisch gespült. Diese Art der Kombination rein binnenpolitischer Anliegen ohne jedes Engagement für die Menschenrechte im Ausland - 8,71 Euro Mindestlohn, Abzug aller deutschen Militärbeobachter aus dem Ausland - zeigt, dass Sie mit Menschenrechten, mit der Menschenrechtspolitik allein so umgehen, dass Sie sie nach folgendem Motto instrumentalisieren: Wo kann ich das Argument Menschenrechte in der innenpolitischen Debatte einsetzen?

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Hätten Sie nur für 0,71 Euro Gehirnschmalz für Ihren Antrag verwendet, dann wäre es ein guter Beitrag zu dieser Debatte gewesen. Ich bin für viele Punkte, die Sie darin aufgeschrieben haben, ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, die Redezeit ist schon lange überschritten.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- aber da fehlt das ehrliche Engagement, sich für Menschenrechte einzusetzen, und das verlangt einfach auch Konsistenz, zum Beispiel beim Thema der Menschenrechte in Guantánamo ({0}) und um Guantánamo herum. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Christoph Strässer für die SPD-Fraktion. ({0})

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte es für sehr gut, dass wir hier so engagiert über dieses Thema debattieren, denn das ist es wert. Allerdings gehört es auch zur Wahrheit, ein paar Dinge richtigzustellen, die hier gesagt worden sind. ({0}) Das Erste, lieber Kollege Gehrcke, will ich Ihnen einfach nur einmal mit auf den Weg geben: Ich würde es begrüßen, wenn die Fraktion Die Linke ihre Mitarbeit im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe wieder aufnähme. ({1}) Sie weigern sich seit einiger Zeit, Sie sind nicht mehr da, erklären aber dann dem Hohen Hause, dass Frauenrechte Menschenrechte seien. Ich halte das für einen einigermaßen zynischen Beitrag. ({2}) Nachdem wir uns mehrfach und im Dutzend mit Resolutionen des Europarats und mit VN-Resolutionen zur Gewalt gegen Frauen befasst haben, erklären Sie hier im Jahre 2008, dass Frauenrechte Menschenrechte sind. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Erkenntnis! Sie ist bei uns schon sehr, sehr lange vorhanden. ({3}) Zwei Bemerkungen zum Kollegen Volker Beck: Ich glaube, der Bundesaußenminister hat zur Kinderrechtskonvention das politisch Nötige gesagt. Dafür herzlichen Dank. Das war aus unserer Sicht eine nötige politische Klarstellung. ({4}) Ich gebe ja zu, dass auch ich erst später festgestellt habe, dass das, was Sie mit Ihrem Änderungsantrag erreichen wollen, genau das Gegenteil von dem ist, was Sie hier vorgetragen haben. ({5}) - Lieber Kollege Beck, zuhören und den Antrag lesen! Dieser Änderungsantrag beschäftigt sich nämlich gerade nicht mit Vorbehaltserklärungen und der Umsetzungssituation im eigenen Land. Sie fordern vielmehr die Bundesregierung auf, die Umsetzung von Konventionen und Zusatzprotokollen in bilateralen und multilateralen Gesprächen mit anderen Regierungen voranzutreiben. Damit würden wir genau das tun, was Sie eigentlich verhindern wollen. Wir würden nämlich anderen Ländern sagen: Ihr müsst bitte schön das, was wir bei uns nicht umsetzen, tun. Das ist das Gegenteil von glaubwürdiger Menschenrechtspolitik. Ich lehne deshalb diesen Antrag nicht nur aus Koalitionsdisziplin, sondern auch, weil ich davon überzeugt bin, dass er inhaltlich falsch ist, ab. Das werden wir gleich tun. Ich glaube, das ist richtig. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber immer doch.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Beck, bitte.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Damit wir hier bei der Textexegese wenigstens eine gemeinsame Grundlage haben, frage ich Sie: Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass in dem Änderungsantrag steht, dass die Bundesregierung beispielgebend vorangehen soll, was voraussetzt, dass wir unsere Vorbehalte zurücknehmen? Wörtlich heißt es: … die menschenrechtliche Normsetzung voranzutreiben, dabei selbst beispielgebend voranzugehen sowie in bi- und multilateralen Beziehungen auf die Ratifikation, die Rücknahme etwaiger Vorbehalte und die Umsetzung von Menschenrechtskonventionen und Zusatzprotokollen zu drängen; Das heißt: Zuerst sollen wir etwas tun, und nachdem wir es getan haben, sollen wir zu den anderen gehen und sagen: Seht, wir haben es auch getan; schließt euch diesem Beispiel an. Wir wollen nicht, dass sich andere Ländern dem schlechten Beispiel Deutschlands anschließen und die Vorbehalte gegen die Kinderrechtskonvention aufrechterhalten.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ihr Vorgehen ist logisch nicht nachvollziehbar. Wir sagen der Bundesregierung - dem stimmt die Koalition ja zu -, sie soll beispielgebend vorangehen. Das ist Konsens. Aber dann sagen Sie: Unabhängig davon, ob Punkte in Deutschland umgesetzt worden sind oder nicht, sollen wir nach außen gehen und sagen: Ihr müsst trotz alledem auch die Punkte umsetzen, die wir noch nicht bearbeitet haben. Lieber Kollege Beck, das ist doch genau das Gegenteil von dem, was Sie eigentlich erreichen wollen. Ich bitte Sie dringend: Nehmen Sie den Antrag einfach zurück. Dann sind wir auf demselben Niveau. Dann wird das eine gute Veranstaltung. Dabei bleibt es. ({0}) Ein Weiteres will ich noch sagen: Lieber Kollege Beck, in der nächsten Sitzungswoche findet auf Antrag der SPD-Fraktion eine große Anhörung zur extraterritorialen Verpflichtung von Staaten in Konfliktsituationen statt. Wir haben gegen Ihre Stimme durchsetzen müssen, dass in dieser Anhörung auch die Verpflichtungen von Unternehmen eine Rolle spielen. Diesen Antrag der SPD haben Sie erst nicht unterstützt. Wir werden in dieser Anhörung genau dieses Thema, das Sie jetzt auch aufgegriffen haben, ganz massiv betreiben und in den Vordergrund stellen. Da können Sie sicher sein. Es ist schön, dass Sie sich jetzt unserem Antrag anschließen. Herzlichen Dank dafür. Das ist eine gute Entwicklung. ({1}) Ich habe mir eigentlich etwas ganz Anderes aufgeschrieben. Aber so ist das nun einmal in einer Debatte. Wenn eine Debatte läuft, halte ich es für richtig, die Dinge offen auszusprechen. Ich möchte allerdings noch zwei Dinge ansprechen, die mir sehr wichtig sind. Mehrfach ist angesprochen worden, dass die Umsetzung der Menschenrechte, insbesondere in ihrer Universalität, auf Probleme stößt; ich sage das einmal ganz zurückhaltend. Ich will das aber auch mit einer Zahl belegen: World Vision, eine der größeren international arbeitenden Menschenrechtsorganisationen im Bereich des Schutzes von Kinderrechten, hat im letzten Report eine Zahl veröffentlicht, die erschreckt, nämlich dass 9,7 Millionen Kinder weltweit nicht älter als fünf Jahre werden. Wenn man sich diese Dimension vor Augen führt, dann wird aus meiner Sicht klar, und zwar auch 60 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, was ein ganz wesentlicher Bestandteil unserer Forderungen sein muss: Da diese Kinder unter Armut und Krankheiten, die wir mit relativ geringen Mitteln bekämpfen könnten, leiden, ist eine der ganz wesentlichen menschenrechtspolitischen Forderungen des Deutschen Bundestages die Bekämpfung von Armut in der Welt. Ich glaube, das ist ein ganz zentraler Punkt, wenn man den Menschen in Afrika, in großen Teilen Asiens und anderen Teilen der Welt ein menschenwürdiges Leben unter der Herrschaft der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bereiten will. Das ist unsere Kernforderung. Ich sage der Bundesregierung bzw. dem BMZ ganz herzlichen Dank dafür, dass man diese Erkenntnis aufgenommen hat. Der Bundestag, dieses Hohe Haus, sollte an dieser Stelle seine Absicht erklären, die Bundesregierung dabei zu unterstützen und sie notfalls auch anzutreiben, die Millennium Development Goals auch wirklich bis 2015 umzusetzen. Das ist eine ganz wichtige Aufgabe für uns in diesem Hause. ({2}) Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der mir sehr wichtig ist. Er betrifft die Umsetzung der individuellen Menschenrechte in ihrem Verhältnis zum Völkerrecht. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war insofern ein Quantensprung, als darin nicht nur festgestellt wurde, dass das Völkerrecht Staaten und völkerrechtliche Subjekte bindet, sondern auch, dass die individuellen Rechte der Menschen in den Ländern eine Rolle spielen. Dies verändert ein Stück weit - dieser Punkt ist in der aktuellen Debatte sehr wichtig - die Vorstellung von der absolut geltenden Souveränität der Staaten. Ein Punkt missfällt mir in Ihrem Antrag sehr, Herr Gehrcke. ({3}) Ich stelle meine Ausführungen unter die Überschrift: Responsibility to protect. Liebe Kolleginnen und Kollegen, keiner in diesem Hohen Hause ist der Auffassung, dass man militärische Gewalt - wo auch immer - leichtfertig einsetzen darf. An erster Stelle müssen ohne jeden Zweifel - das geschieht auch; ich bin der Bundesregierung, dem Auswärtigen Amt und dem BMZ, auch dafür dankbar - Pläne zur zivilen Krisenprävention und zur zivilen Konfliktprävention stehen. Das alles ist auf dem Weg; das muss noch ausgebaut werden. Aber ich glaube, es hat noch keine Bundesregierung geschafft, dies so zu präzisieren und Benchmarks dafür aufzustellen, wo dies wichtig ist, wie diese Bundesregierung. Nichtsdestotrotz gibt es Situationen auf dieser Welt - schauen Sie in den Ostkongo; schauen Sie nach Darfur -, in denen diese Krisenprävention versagt hat: Da wurden Menschen massakriert, vergewaltigt, ermordet. Lieber Kollege Gehrcke - wir kennen uns ja schon ziemlich lange -, in diesem Zusammenhang kann ich die Einlassungen der Linken nicht verstehen. Ich kann nicht verstehen, dass man sagt: Auch in solchen Situationen ist der Einsatz von Militär eine Instrumentalisierung der Menschenrechte. Ich halte diese Einlassungen für total zynisch und menschenverachtend. ({4}) Ich sage im Gegenteil: Wer angesichts dessen, was dort passiert, den betroffenen Menschen sagt, man habe eine Ideologie und die besage, nie und nimmer Militär einzusetzen, instrumentalisiert diese Menschen, deren Leben, deren Menschenwürde für eine Ideologie, die ihnen nicht weiterhilft, sondern schadet, und die sie der grundlegenden Prinzipien der Menschenwürde beraubt, nämlich des Schutzes des Lebens und der persönlichen Ehre. Das kann nicht die Botschaft einer Menschenrechtsdebatte in diesem Hohen Hause sein. Ich werbe ganz massiv dafür, für die Durchsetzung der Menschenrechte zu kämpfen, dafür, dass die Menschen ausreichend zu essen haben, dass sie Zugang zu Gesundheitsleistungen haben, und dafür, dass man dafür möglichst keine militärischen Mittel einsetzt. Ich sage es aber noch einmal: Wenn all das versagt, vergehen wir uns an den Menschenrechten, wenn wir diese Menschen nicht schützen - notfalls auch mit Gewalt, so bitter das ist. Diese Erkenntnis sollte sich 60 Jahre nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durchgesetzt haben. Ich werbe dafür, dass wir bei diesem Kurs bleiben - im Sinne des Schutzes der Menschenrechte weltweit. Herzlichen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Holger Haibach für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debatte und die Anträge, die wir heute beraten, zeigen ganz deutlich, dass das Thema Menschenrechte 60 Jahre nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hochaktuell ist und die Spannbreite der Themen gewaltig ist. All dem kann man wahrscheinlich in einer Debatte von einer Stunde nicht in vernünftiger Art und Weise Rechnung tragen. Einen Fehler dürfen wir nicht machen: Wenn wir den Begriff der Menschenrechte überdehnen, dann tun wir unserer Sache keinen Gefallen. Deswegen, lieber Herr Gehrcke, halte ich den Antrag, den Sie vorgelegt haben, für ziemlich bemerkenswert. Sie fordern darin, die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von mindestens 8,71 Euro pro Stunde - warum nicht 8,72 Euro, 8,73 Euro, 9 Euro oder 10 Euro? - in Deutschland zur Grundlage menschenrechtlicher Standards zu machen. Damit tut man dem Anliegen der Menschenrechte keinen Gefallen. Sie überdehnen den Begriff und diskreditieren ihn damit. ({0}) Dabei geht es mir nicht um die Frage, ob wir einen gesetzlichen Mindestlohn brauchen oder nicht. Das ist eine Frage, über die wir anderswo diskutieren können. Ich finde es aber bemerkenswert, dass man die Fragen, um die es hier geht, an einer Summe festmachen will. ({1}) Ich bitte Sie auch, mit der Rhetorik des Kalten Krieges aufzuhören. Ich darf einmal ein bisschen aus Ihrem Antrag zitieren: Im System des Menschenrechtsschutzes haben sich Schutzmechanismen im Rahmen einzelner UNKonventionen herausgebildet. Hierbei wendet sich der Bundestag entschieden gegen alle Bestrebungen, die Forderung nach Gültigkeit der Menschenrechte als Vorwand zu nutzen, um weltweit kapitalistische Verhältnisse zu erzwingen, multinationalen Konzernen den Zugang zu Rohstoffen und Energiequellen zu sichern oder völkerrechtswidrige Angriffskriege gegen missliebige Staaten zu legitimieren. ({2}) Genau darum geht es eben nicht. Menschenrechte und internationale Schutzsysteme sind dazu da, genau das zu verhindern. ({3}) Wenn Sie das internationale System durch diese Äußerungen diskreditieren, tun Sie den Menschenrechten wiederum keinen Gefallen. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Strässer?

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, mit großer Freunde.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Haibach, sind Sie mit mir der Meinung, dass die Annahme des Antrages der Linkspartei zur Konsequenz hätte, die Bundesregierung aufgrund der Geltung von Kap. VII der UN-Charta und darin insbesondere Art. 43 aufzufordern, aus den Vereinten Nationen auszutreten? ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, das ist zweifelsohne zumindest eine denkbare Alternative. Insofern kann ich Ihnen da recht geben.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Damit haben wir einen weiteren Wunsch nach einer Zwischenfrage von Herrn Gehrcke.

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch gerne.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich wollte ja eigentlich keine Zwischenfrage stellen, aber es bleibt nicht aus. Ich muss einmal schauen, wie ich alles in einer Frage zusammenbinde; das wird mir schon gelingen. Erst einmal möchte ich Sie auf einige Artikel aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hinweisen, die sich sehr detailliert mit sozialen Fragen und sozialer Gerechtigkeit beschäftigen: Art. 22, 23, 24 und andere. ({0}) Wir empfanden es als einen Mangel - vielleicht können Sie uns da verstehen -, dass diese in Ihrem Antrag und in der Bundestagsdebatte keine Rolle spielen. Können Sie auch verstehen, dass wir davon ausgehen, dass man die Charta der Vereinten Nationen nur als Ganzes sehen kann? ({1}): Mit Kap. VII!]) - Kap. VII gehört dazu. Dann muss man sich überlegen, ob man eine Entscheidung der Vereinten Nationen nach Kap. VII politisch für richtig oder falsch hält. ({2}) Wenn man sie für falsch hält, muss man das auch ausdrücken können. ({3}) Das ist immer die Position der Linken gewesen, und damit sind wir sehr gut gefahren.

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn ich Ihre gerade getroffene Aussage in die Frage ummünze, ob ich die Allgemeinheit der Erklärung der Menschenrechte in all ihren Facetten bis hin zu den sozialen Rechten sehe, dann kann ich die Frage eindeutig mit Ja beantworten. Ich finde nur, dass man nicht denjenigen auf den Leim gehen darf, die versuchen, die Menschenrechte gegeneinander aufzuwiegen. ({0}) Ich finde, das geht nicht. ({1}) - Entschuldigung, vielleicht darf ich den Satz noch zu Ende bringen, Herr Kollege Beck! Sie, lieber Herr Kollege Gehrcke, dürfen nicht das Spiel von Staaten wie zum Beispiel Kuba mitspielen, die sagen: Okay, bei uns darf vielleicht nicht jeder alles sagen, aber dafür haben die Menschen etwas zu essen. Das ist nicht mein Verständnis von Menschenrechten. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Haibach, lassen Sie noch eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Beck zu?

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch das mit großer Freunde.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn Sie die erste Seite des Antrags der Linken und insbesondere die erste Forderung betrachten, würden Sie mir dann womöglich zustimmen, dass man die Frage von militärischem Engagement nicht allein unter dem Gesichtspunkt betrachten sollte, ob die PDS damit gut fährt, sondern auch unter dem Gesichtspunkt, ob die Menschen vor Ort damit gut fahren? ({0}) Könnte man also sagen, dass jemand, der aus dem Sudan sogar unbewaffnete Militärbeobachter abziehen will, die einen vereinbarten Friedensvertrag überwachen, wozu beide Seiten die UN und damit auch die deutsche Beteiligung eingeladen haben, ({1}) letztendlich Völkerrecht, Menschenrechte und Vereinte Nationen im Regen stehen lässt? ({2})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde Ihnen auf jeden Fall recht geben, wenn Sie mir diese Frage stellen würden, Herr Kollege Beck, und habe sie hiermit beantwortet. ({0}) Ich will aber dazu noch sagen: Ob die PDS oder die Linke - das ist ja auch bezeichnend - damit gut fährt oder nicht, ist nicht meine Frage. Gerade Entscheidungen über Auslandseinsätze sind Gewissensentscheidungen, die sich nicht an Fraktionsgrenzen festmachen lassen, sondern diese muss jeder für sich selbst treffen. Deshalb gibt es an dieser Stelle nicht die PDS oder die Linke. Es gibt aber eine internationale Verantwortung, und diese internationale Verantwortung - das hat Herr Kollege Strässer aus meiner Sicht zu Recht gesagt - bedeutet im Notfall auch militärisches Eingreifen. Das ist die Ultima Ratio, aber dass das möglich ist, ist zwingend notwendig. ({1}) Es gibt eben keine Entwicklung ohne Sicherheit und keine Sicherheit ohne Entwicklung. So einfach ist die Welt an dieser Stelle. Ich will ein Weiteres hinzufügen, weil Herr Kollege Strässer es angesprochen hat. Es ist diese Bundesregierung gewesen, die die Mittel für die zivile Krisenprävention innerhalb eines Haushaltsjahres mit der Zustimmung des Deutschen Bundestags von 12 Millionen Euro auf 60 Millionen Euro nach oben geschraubt hat. Wenn wir den zur Verfügung stehenden Betrag betrachten - ich weiß, dass hierfür weniger als für Auslandseinsätze der Bundeswehr ausgegeben wird, aber der Betrag ist fünfmal so groß wie vorher -, dann kann man tatsächlich sagen, dass wir unseren Worten Taten folgen lassen. Das muss man in einer solchen Debatte auch anerkennen. ({2}) Jetzt würde ich mich gern liebevoll dem Kollegen Beck und seinen Einwendungen widmen. ({3}) - Das gehört allerdings auch zu den Menschenrechten. Noch einmal zum Thema Kinderrechtskonvention. Sie wissen ganz genau, dass die Problematik sehr viel mehr aufseiten des Bundesrates als aufseiten des Deutschen Bundestages liegt. Ich glaube, darüber sind wir uns alle einig. In der vergangenen Wahlperiode des Deutschen Bundestages gab es einen Antrag der FDP zur Zurücknahme der Vorbehalte. Die FDP regiert ja auch in dem einen oder anderen Bundesland mit. Deshalb hat die FDP an dieser Stelle auch eine Aufgabe wie wir alle anHolger Haibach deren auch in diesem Hohen Hause. Wie auch immer. Jedenfalls wollte die damalige Regierungskoalition aus Gründen der Koalitionsraison - das ist ja nun einmal so üblich; das kennen wir alle - nicht zustimmen und hat einen eigenen Antrag zu diesem Thema eingebracht und diesem Antrag zugestimmt. Ich kritisiere das nicht. Ich will nur sagen, dass wir in jeder Konstellation an der einen oder anderen Stelle parlamentarischen Regeln und auch Koalitionsgepflogenheiten unterworfen sind. Ich finde, daraus sollte keiner dem anderen einen Strick drehen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die damalige Koalition beschlossen hat, dass sie für die Rücknahme der Vorbehalte zur Kinderrechtskonvention ist, und das es deshalb nur um unterschiedliche Antragstexte, aber nicht um eine Differenz in der Substanz geht, und dass wir heute die Situation haben, dass die Auffassung eines Abgeordneten der Arbeitsgruppe Innenpolitik der CDU/CSU-Fraktion dazu führt, dass eine Einigung unter den Menschenrechtspolitikern aufgehoben wird und schlichtweg das Wort „Vorbehalte“ aus dem Antragstext herausgestrichen wird? Um mehr geht es nicht. ({0}) Ich finde, daran zeigt sich, dass etwas schiefläuft. Ich denke, nicht die Innenpolitik sollte die Menschenrechtspolitik bestimmen, sondern die Menschenrechtspolitik sollte die Innenpolitik und die Außenpolitik bestimmen.

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Beck, ich bin gern bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Sie das damals beschlossen haben. Ich bitte Sie, aber auch zur Kenntnis zu nehmen, dass, wenn wir Ihrem Antrag heute nicht zustimmen, das nicht heißt, dass wir nicht für die Rücknahme der Vorbehalte sind. Darum geht es nicht. Ich glaube, das hat Herr Kollege Strässer vorhin relativ deutlich gesagt. ({0}) Momentan befinden wir uns aber in einer Situation, in der wir nicht allein Herr des Verfahrens sind. Solange wir nicht allein Herr des Verfahrens sind, muss man sich überlegen, ob eine solche Beschlussfassung tatsächlich sinnvoll ist. Zur Frage der Uiguren. Ich glaube, die Aussagen der Bundesregierung zu dieser Frage sind mehr als deutlich gewesen. ({1}) Man sollte an dieser Stelle keine Spielchen machen; denn damit tut man den Menschenrechten keinen Gefallen. ({2}) Wir sprachen über die Frage der Verantwortung. Es ist wichtig, dass wir als Bundesrepublik Deutschland beispielgebend vorangehen, wie es auch in unserem gemeinsamen Antrag heißt. Das bedeutet aber auch, dass wir unsere Verantwortung international wahrnehmen müssen. Ich möchte gerne noch auf einen Punkt zu sprechen kommen, der in der Debatte bisher keine große Rolle gespielt hat. Deutschland hat - ich glaube, das hat gute Gründe - einen guten Ruf, wenn es darum geht, international Menschenrechte zu schützen. Wir engagieren uns in vielen Gremien. Darauf hat der Bundesaußenminister hingewiesen. Deutschland hat - ich finde, so viel Eigenlob darf in dieser Debatte auch einmal sein - einen eigenständigen Vollausschuss zum Thema Menschenrechte, der über Parteigrenzen hinweg meines Erachtens gute Arbeit leistet und der in dieser Wahlperiode - das will ich zur Ehrenrettung des Deutschen Bundestages sagen - viel mehr Debattenzeit zu einer guten Tageszeit bekommen hat, als dies früher üblich gewesen ist. ({3}) - Darauf komme ich gleich noch zu sprechen. Auch wenn man mit dem Außenminister nicht in jeder einzelnen Formulierung einer Meinung ist, muss man anerkennen, dass dieser Bundesaußenminister in der Zeit der Großen Koalition in Menschenrechtsdebatten zweimal das Wort ergriffen hat. Ich kann mich noch an die letzte Legislaturperiode erinnern. Der damalige Bundesaußenminister hat bei Menschenrechtsdebatten im Allgemeinen durch Abwesenheit geglänzt. ({4}) - Mir fällt sein Name bedauerlicherweise nicht mehr ein. ({5}) Da wir gerade über fehlende Namen sprechen, möchte ich Ihnen sagen, was mir am Antrag der Linken noch aufgefallen ist. Auch die Linken haben einen Vertreter im Menschenrechtsausschuss, den Kollegen Leutert. Vielleicht ist er es jetzt nicht mehr. Es gibt momentan nämlich ein paar Unstimmigkeiten bezüglich der Frage, ob er Mitglied des Ausschusses ist oder nicht. ({6}) Der Kollege Leutert jedenfalls hat den Antrag der Linken nicht unterzeichnet. Sein Name steht nicht auf dem Rubrum dieses Antrags. ({7}) Ich finde, es ist bemerkenswert, dass Ihr Fachpolitiker offensichtlich nicht bereit ist, Ihren Antrag mit zu unterzeichnen. ({8}) Das sollte Ihnen zu denken geben. Vielleicht bedeutet das nämlich, dass Sie mit alledem, was Sie fordern, gar nicht richtig liegen. ({9}) Ich möchte meinen Gedanken gerne zu Ende führen: Das Wirken Deutschlands in internationalen Organisationen hat für mich mehrere Komponenten. Der erste Punkt ist, dass wir beispielgebend vorangehen müssen. Das bedeutet, die Menschenrechte überall, wo es möglich ist, zu fördern. Hierzu hat Deutschland verschiedene Möglichkeiten. Wir wirken unter anderem aktiv in den UN-Gremien mit. Der Menschenrechtsrat ist ein Gremium, das dringend unserer Unterstützung bedarf. Hier gibt es nämlich viele Probleme. Der Außenminister hat als Beispiel die Situation im Kongo erwähnt. So war es ein wichtiger Fortschritt, dass der Menschenrechtsrat eine Resolution zum Kongo verabschiedet hat. Man hätte sich allerdings durchaus eine schärfere Formulierung vorstellen können; denn bei diesem Thema geht es um nicht mehr und nicht weniger als darum, dass Menschen umgebracht bzw. geschlachtet und Frauen vergewaltigt werden. Das verdient, wie ich finde, eine scharfe Missbilligung. Wenn ein Gremium wie der Menschenrechtsrat dazu nicht in der Lage ist, muss uns das zu denken geben. Auch hier haben wir also eine Aufgabe. Der andere Punkt ist: Wir haben im Rahmen der Europäischen Union und auch im Rahmen des Europarates - viele von uns sind Mitglied der Parlamentarischen Versammlung - viele Möglichkeiten, über die verschiedenen Konventionen Einfluss zu nehmen. Darauf sollten wir an dieser Stelle in aller Deutlichkeit hinweisen und das auch tun. ({10}) Im Rahmen dieser zugegebenermaßen nicht immer sehr pressewirksamen Arbeiten ergeben sich mehr Handlungsmöglichkeiten, als wenn lediglich Schaufensteranträge in den Deutschen Bundestag eingebracht werden, über die wir dann diskutieren. Denn indem wir ein Anliegen in den Rang einer Konvention erheben, können wir Allgemeingültigkeit schaffen. Das ist auf jeden Fall ein Fortschritt. Ich will noch eine letzte Bemerkung machen - wie ich sehe, ist meine Redezeit bald zu Ende; ich bedanke mich für die vielen Zwischenfragen, die mir noch viel zusätzliche Redezeit ermöglicht haben -: ({11}) Man kann sich aus verschiedenen philosophischen Perspektiven der Frage nähern: Was sind eigentlich Menschenrechte? Die christliche Interpretation ist die der Gottesebenbildlichkeit. Daraus erwächst eine Menschenwürde, die dem Menschen nicht genommen werden kann. Daraus erwächst aber auch die Pflicht des Menschen, diese Würde anzunehmen. Das bedeutet, dass der Mensch das Recht hat, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, dass er aber auch die Pflicht hat, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Wenn wir eine gute Menschenrechtspolitik machen wollen, müssen wir die Menschen überall auf der Welt in die Lage versetzen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Danke sehr. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Johannes Jung für die SPD-Fraktion. ({0})

Johannes Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003779, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn feststellen, dass mich der Verlauf dieser Debatte ein wenig irritiert. Wir diskutieren eigentlich über einen Antrag, den die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD gemeinsam mit FDP und Grünen eingebracht haben. Wenn man den Verlauf dieser Debatte verfolgt, hat man allerdings den Eindruck, dass einige der Versuchung erlegen sind, sich gegenüber den anderen antragstellenden Fraktionen parteipolitisch zu profilieren. Ich werde darauf gleich noch einmal zu sprechen kommen. Wir haben hier in einigen Bereichen große Einigkeit. Das betrifft die Abschaffung der Todesstrafe, die Frauenrechte - beim Thema „gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ sieht es schon ein bisschen anders aus; wir werden uns zukünftig noch stärker einsetzen, um andere von der Notwendigkeit zu überzeugen -, die Kinderrechte, das Recht auf Bildung usw. Einen Bereich will ich, wenn auch kurz, besonders nennen, nämlich die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, und zwar im internationalen Maßstab; denn nach wie vor ist weltweit ein klassisches Problem bei den Menschenrechten die Verfolgung von GewerkJohannes Jung ({0}) schafterinnen und Gewerkschaftern. Das dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, meine Damen und Herren. ({1}) Es gibt nicht nur eine Menge von Institutionen, die sich mit Menschenrechten befassen und dazu aufgerufen sind, Menschenrechte zu sichern und weiterzuentwickeln; es gibt hierzulande Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern, aber auch Menschen ohne deutschen Pass, die sich tagtäglich insbesondere für die Verwirklichung und die Durchsetzung von Menschenrechten einsetzen, individuell, persönlich und in größeren Organisationen. Ihnen gebührt unser Dank. Ohne diesen Einsatz wäre es um die Menschenrechte schlecht bestellt. ({2}) Die Aufgaben in Europa sind schnell beschrieben. Sie betreffen im Wesentlichen nicht die Verhältnisse in der Bundesrepublik. Darüber diskutieren wir häufig an anderer Stelle; ich erinnere beispielsweise an die Rechte der Sinti und Roma hierzulande und anderer Minderheiten, sexueller Minderheiten, Menschen in Deutschland ohne deutschen Pass. Aber es gibt natürlich Staaten in Europa, in denen die Lage wesentlich schwieriger ist. Das sind insbesondere die Staaten, die wir als Transformationsstaaten bezeichnen. Das sind solche, die die Herrschaft einer Partei erst seit kurzer Zeit hinter sich haben oder eben noch nicht richtig hinter sich haben. Zu nennen sind ein paar Spezialfälle, nämlich Staaten, die eigentlich noch gar keine richtigen Staaten sind und deren Zukunft ungewiss ist. Das gilt für Bosnien-Herzegowina, den Kosovo, Moldawien, Transnistrien, Ukraine, Staaten des Kaukasus, Weißrussland. Betroffen davon ist damit natürlich auch das große Russland. Hier haben wir genug zu tun. Darauf müssen wir in der Menschenrechtspolitik des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung unser Augenmerk richten. Die Regierung des Kosovo hat gerade unter Beweis gestellt, wie notwendig das neue Instrument von Rechtsstaatsmissionen à la EULEX ist. Wer davon noch nicht überzeugt war, wird in diesen Tagen überzeugt worden sein. ({3}) Hoffnung gibt uns, dass das eingetreten ist, was ich von dieser Stelle schon prophezeit hatte, nämlich dass nur das amerikanische Volk selbst das Problem Guantánamo lösen kann: Mit einer Neuwahl, mit einer Defacto-Abwahl der Bush-Administration ist ein Ende der Politik der sogenannten Extraordinary Renditions möglich. Dafür noch einmal Respekt! Mein Glückwunsch an die Bürgerinnen und Bürger, die damit Schluss machen! Wir haben heute den Versuch erlebt, sich ein bisschen parteipolitisch zu inszenieren. Das ist bedauerlich. Das gilt insbesondere für Beck und Beck, meine Lieblingsfreunde - das ist übrigens aufrichtig gemeint - von der grünen Partei. Es ist durchaus schade, dass das Thema Visaerteilung auf diese Art hier instrumentalisiert wird. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Beck?

Johannes Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003779, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erst dann, wenn ich den Sachverhalt erläutert habe. Das wird etwa zehn Sekunden in Anspruch nehmen. Frau Beck, Ihnen liegt doch auch vor, was mir vorliegt. Sie sind nämlich am 10. November vom Außenministerium darüber informiert worden, dass die drei fraglichen Visa an diesem Tag erteilt worden sind. ({0}) Damit müsste doch das Thema für Sie im Grunde erledigt sein.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Gestatten Sie nun die Zwischenfrage?

Johannes Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003779, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich bitte Sie, die Antwort in Ihre Schlussbemerkung einzubeziehen. - Frau Kollegin. ({0})

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Jung, darf ich Ihnen den Vorgang noch einmal kurz erklären, damit das nicht so im Raum stehen bleibt? ({0}) Es kann nicht angehen, dass nur deshalb, weil ein Anwalt zufällig eine Wahlkreisabgeordnete hat, die über Monate hinweg im Austausch mit dem Auswärtigen Amt noch einmal und noch einmal nachsetzt, etwas erreicht wird. Nach dem vierten Anlauf können die Kinder Marieluise Beck ({1}) nun nach vier Jahren zu ihren Eltern, die in Deutschland anerkannte Flüchtlinge sind, kommen. So darf von den Visastellen des Auswärtigen Amtes nicht verfahren werden. ({2}) Eine Parlamentarierin, die auch die Aufgabe hat, das Handeln der Regierung zu beobachten, muss in diesem Haus das Recht haben, solche Missstände zu thematisieren. Ich habe das sehr vorsichtig getan. ({3}) Ich habe darauf Bezug genommen, dass die dreimalige Abweisung unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten schwerwiegend war und unendlich viel Leid erzeugt hat. So etwas darf im Auswärtigen Amt in Deutschland nicht passieren. ({4}) - Entschuldigung, vielleicht hätte ich den Satz hinzufügen sollen, wenn Sie ihn hätten hören wollen: Letztlich ist das Visum erteilt worden. ({5}) Ich finde es gut, dass das Visum erteilt worden ist, und bedanke mich dafür. Es kann aber nicht sein, dass Flüchtlinge davon abhängig sind, ob sie zufällig Abgeordnete im Rücken haben, die in dieser beharrlichen Form immer wieder gegen die Türen des Auswärtigen Amts rennen. ({6})

Johannes Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003779, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Beck, da mir ähnliche Vorgänge aus meiner eigenen Arbeit sehr gut vertraut sind, kann ich nachempfinden, dass Sie das empört. Ich hätte Sie allerdings auch darum gebeten, uns das gute Ende zu berichten, ({0}) das nämlich deutlich macht, dass das Auswärtige Amt gerade auch unter Leitung von Außenminister Steinmeier solche Fälle zu einem guten Abschluss bringt. Das gibt mir zum Ende der Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass es gerade bei diesen Sachverhalten immer wieder zwischen den kommunalen Behörden und dem Auswärtigen Amt - sprich: zwischen Innen- und Außenpolitik - Probleme gibt. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist es hochinteressant, wer in der heutigen Debatte auf der Regierungsbank anwesend war. Vielen Dank. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Bezüglich des Tagesordnungspunktes 37 a kommen wir zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und des Bündnisses 90/Die Grü- nen auf Drucksache 16/11215 mit dem Titel „Die Allge- meine Erklärung der Menschenrechte - Grundlage für 60 Jahre Menschenrechtsschutz“. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- sache 16/11228? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der FDP- Fraktion und gegen die Stimmen der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 16/11215? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 37 b. Abstimmung über den An- trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11189 mit dem Titel „Die Allgemeine Erklärung der Men- schenrechte, der Zivil- und Sozialpakt - Grundlagen für einen unteilbaren und universellen Menschenrechts- schutz“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dage- gen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist damit abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 37 c. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Rati- fikation des 12. Zusatzprotokolls zur Europäischen Men- schenrechtskonvention“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4647, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3145 ab- zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss- empfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 37 d. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Rechtsstaatskonforme Behandlung von Verhafteten nach der Übergabe durch deutsche Stellen im Ausland sicherstellen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 16/5315, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/2096 abzuleh- nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh- lung ist damit angenommen mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak- tionen. Tagesordnungspunkt 37 e. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt dem Titel „Rechtsschutzlücken bei der Terrorbekämpfung schließen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 16/8032, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/821 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 37 f. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „UN-Wanderarbeiterkonvention endlich ratifi- zieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 16/10208, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6787 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 37 g. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Die Menschenrechte der Uiguren schützen“. Dazu liegt eine persönliche Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung des Kollegen Müller-Sönksen vor, die dem Protokoll beigefügt wird.1) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 16/10283, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7411 abzu- lehnen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat bean- tragt, dass über die Ziffern I bis II Nr. 15 einerseits und über Ziffer II Nr. 16 des Antrags andererseits getrennt abgestimmt werden soll. Wir stimmen daher zunächst über die Ziffern I bis II Nr. 15 des Antrags auf Drucksache 16/7411 ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Ziffern I bis II Nr. 15 des Antrags sind damit abge- lehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktionen der FDP und der Linken. Wer stimmt für die Ziffer II Nr. 16 des Antrags auf Drucksache 16/7411? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- tungen? - Ziffer II Nr. 16 des Antrags ist damit abge- lehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion der FDP. Damit ist auch der Antrag insgesamt abgelehnt. Wir kommen zum Zusatzpunkt 9. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8903 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. 1) Anlage 2 Zusatzpunkt 10. Beschlussempfehlung des Auswärti- gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Das Verhalten von Birmas Junta muss Konsequenzen haben“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10392, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9340 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthal- tung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 38 a und 38 b sowie den Zusatzpunkt 11 auf: 38 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Binder, Ulrich Maurer, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verbesserung des Verbraucherschutzes beim Erwerb von Kapitalanlagen - Drucksache 16/11185 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Maisch, Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbraucherschutz auf den Finanzmärkten stärken - Drucksache 16/11205 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Christine Scheel, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Schutz der Anlegerinnen und Anleger bei Zertifikaten stärken - Drucksachen 16/5290, 16/11226, 16/11279 Berichterstattung: Abgeordnete Leo Dautzenberg Dr. Gerhard Schick Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so verfahren. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Karin Binder für die Fraktion Die Linke. ({3})

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Viele Menschen in Deutschland haben in der aktuellen Finanzmarktkrise ihre Ersparnisse bereits verloren, das Geld, das sie für Notlagen oder für das Alter zurückgelegt hatten. Viele der Betroffenen haben ihr Geld auf Empfehlung geschulter Verkäufer zum Beispiel der Citibank, der Dresdner Bank, der Volksbank oder einer Sparkasse in vermeintlich sichere Anlagen gesteckt. Zigtausende wurden so Opfer der Finanzmarktkrise. Allein durch Lehman-BrothersZertifikate wurden vermutlich zwischen 40 000 und 80 000 Menschen in Deutschland geschädigt. Eine genauere Zahl ist bisher leider nicht bekannt. Aber offensichtlich waren die Verkäufer keine qualifizierten Finanzberater oder Finanzberaterinnen, was auch in einer Pressemitteilung der Verbraucherzentrale BadenWürttemberg vom 26. August dieses Jahres deutlich wird. Ich zitiere: Viel zu oft werden falsche Produkte empfohlen. „Die Berater verkaufen nicht das, was zur Situation des Sparers passt, sondern das, was Provision bringt.“ Solche Erfahrungen sammeln gerade die Verbraucherverbände, der Anlegerschutzverein oder spezialisierte Rechtsanwälte. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, können Berichte dazu auch auf Internetseiten nachlesen, die inzwischen von Interessengruppen geschaltet wurden. Betroffen sind vor allem viele ältere Menschen, die keine Chance haben werden, jemals das verlorene Geld wieder anzusparen. Ansprüche gegenüber den Finanzinstituten geltend zu machen, ist eine teure Angelegenheit. Hohe Streitwerte ergeben hohe Kosten für Anwälte und Gerichte. Das Geld dafür müssen die Betroffenen erst einmal aufbringen, bevor nach langer Prozessdauer vielleicht irgendwann etwas zurückfließen kann. Deshalb haben engagierte Menschen eine öffentliche Petition zu einem Prozesskostensicherungsfonds auf den Weg gebracht. Auf der Seite des Petitionsausschusses des Bundestages kann man diese Petition unterstützen. Es darf einfach nicht sein, dass Herr Minister Steinbrück als oberster Feuerwehrmann die Sprinkleranlage in Gang setzt und die Regierung für die Banken Rettungsschirme aufspannt, damit die Häupter der Manager in den oberen Etagen der Finanzinstitute nicht nass werden, während gleichzeitig die Menschen im Keller des Hauses, in der Hausmeisterwohnung, bereits bis zum Hals im Wasser stehen. Hier muss dringend etwas geschehen. Deshalb halte ich die Forderung der Petition für sehr gerechtfertigt. Ich komme nun zum vorsorgenden Brandschutz - wie ihn Herr Steinbrück bezeichnet hat -, der dringend geboten ist und den wir mit unserem Antrag erreichen wollen. Der Antrag der Linken umfasst sechs Punkte. Erstens. Wir wollen eine Prospektpflicht für Kapitalanlagen ohne Ausnahmeregelung. Das bedeutet, dass alle Angaben in den Prospekten vollständig und richtig sein müssen. Außerdem soll ein sogenannter FinanzTÜV eine Zertifizierung der Produkte vornehmen, damit Anlegerinnen und Anleger von vornherein wissen, ob sie es mit einer sicheren Geldanlage oder einem risikobehafteten Papier zu tun haben. ({0}) Zweitens. Wir wollen, dass die Beweislast bei der Anlageberatung umgekehrt wird. Verbraucherinnen und Verbraucher, die einen finanziellen Schaden erlitten haben, müssen nicht mehr beweisen, dass sie falsch oder irreführend beraten wurden, sondern die Finanzinstitute müssen belegen, dass sie ordnungsgemäß und richtig beraten haben. ({1}) Dies soll mit einheitlichen und verständlichen Beratungsprotokollen belegt werden. Drittens sollen die Unternehmen, die Finanzprodukte und Kapitalanlagen auf den Markt bringen, künftig viel stärker in Haftung genommen werden können. Die sogenannten Emittenten und deren Aufsichtsorgane müssen zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie falsche Angaben zu den von ihnen angebotenen Produkten machen. Wir wollen viertens die Verjährungsfristen für Ersatzansprüche, also Entschädigungszahlungen für falsch beratene Anlegerinnen und Anleger, gegenüber den Finanzdienstleistern verlängern. Eine fehlerhafte Beratung oder die Verletzung der Informationspflicht darf nicht bereits nach drei Jahren verjähren. Das ist viel zu kurz. Wir wollen, dass die Frist von zehn Jahren, wie sie im BGB auch für andere Schadenersatzansprüche gilt, zum Tragen kommt. ({2}) Wir wollen fünftens, dass eine unabhängige Finanzberatung bei den Verbraucherzentralen aufgebaut wird. Sie muss so gestaltet werden, dass langfristig innerhalb von zehn Jahren wenigstens 10 Prozent der Haushalte in Deutschland mindestens einmal beraten werden können. Die unabhängige Finanzberatung soll umfassend und branchenübergreifend sein und folgende Schwerpunkte abdecken: Altersvorsorge, Versicherungen und Kapitalanlagen. Im Augenblick können Menschen über die von der Regierung unterstützte Telefonhotline beraten werden, so sie denn das Glück haben, durchzukommen. Aber auch diese Hotline soll zum Jahresende eingestellt werden. Danach sind die Verbraucherinnen und Verbraucher bei Problemen mit der privaten Altersvorsorge oder bei anderen Geldanlagen wieder der unzulänglichen Beratung der Finanzinstitute ausgeliefert. Sechstens wollen wir eine weitaus bessere Ausbildung und Qualifizierung der Verkäuferinnen und Verkäufer bei den Finanzinstituten. Finanz- und Anlageberater sollen ähnlich wie im Versicherungsbereich ihre Befähigung zum Beispiel durch eine spezielle IHK-Prüfung nachweisen. Aufgrund der derzeitigen Politik, die die staatlichen Sicherungssysteme abbaut und immer mehr private Vorsorge von den Menschen erwartet, werden langfristige Geldanlagen gerade für Menschen mit niedrigen Einkommen eine immer größere Rolle spielen. Wenn die Politikerinnen und Politiker nicht zusehen wollen, wie diese Menschen ihre private Vorsorge auf den Geldmärkten dieser Welt verlieren, dann müssen sie jetzt handeln. ({3}) Nur wenn solche Maßnahmen, wie wir sie vorschlagen, rasch umgesetzt werden, haben Verbraucherinnen und Verbraucher in Zukunft tatsächlich mehr Rechte und damit mehr Schutz. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe auf eine konstruktive Beratung unseres Antrags. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Leo Dautzenberg für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzkrise hält uns weiter in Atem. Nach dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz haben wir gestern ein Paket zur Wachstumsstärkung verabschiedet. Die Große Koalition hat diese Maßnahmen nicht ergriffen, um einzelne Banken zu retten, und auch nicht, um Weihnachtsgeschenke an bestimmte Wirtschaftszweige zu verteilen; wir haben diese Maßnahmen vielmehr ergriffen, um die deutsche Volkswirtschaft zu schützen und zu stützen und damit das gesamtgesellschaftliche System zu stabilisieren. ({0}) Zu dieser Volkswirtschaft gehören auch die Verbraucherinnen und Verbraucher. Es ist falsch, wenn Sie, meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen und von der Linken, mit Ihren Anträgen den Eindruck erwecken, als habe der Verbraucherschutz in der politischen Aufarbeitung der Finanzkrise bisher keine oder nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Ich bin überzeugt davon, dass in dieser Krise der beste Verbraucherschutz darin besteht, die Funktionsfähigkeit der Kreditwirtschaft schnellstens und vollständig wiederherzustellen und die negativen Auswirkungen auf die Konjunktur zu begrenzen. ({1}) Dennoch - da sind wir uns wahrscheinlich fraktionsübergreifend einig in diesem Haus -: Die aktuelle Finanzkrise hat auch ganz spezifische verbraucherpolitische Probleme offengelegt. Ein zentraler Punkt ist die teils mangelhafte Beratung. Hierüber müssen wir diskutieren, und daraus müssen wir gegebenenfalls Konsequenzen ziehen. Meine Fraktion ist da im Übrigen nicht untätig. Als Finanzpolitiker sind wir mit unseren Verbraucherschutzpolitikern, mit Verbraucherschutzorganisationen, Bankenverbänden und Produktanbietern im Gespräch. Diskussionswürdig erscheinen uns zum Beispiel folgende Punkte: Erstens: Prüfung zusätzlicher Regelungen für den grauen Kapitalmarkt. Mit der Einführung der Anlageverwaltung in das KWG im Rahmen der anstehenden Novelle zum Pfandbriefgesetz macht die Große Koalition hier bereits einen Anfang. Zweitens: Verlängerung der Verjährungsfrist für Schadensersatzansprüche im Falle einer Falschberatung. Hier ist in der Tat zu fragen, ob drei Jahre ein ausreichender Zeitraum sind, innerhalb dessen Verbraucher ihre berechtigten Interessen durchsetzen können. Drittens - das ist ein zentraler Punkt -: Gewährleistung der Qualifizierung von freien Finanzberatern durch Befähigungsnachweis, ähnlich des gesetzlich geforderten Qualifikationsnachweises im Versicherungsbereich nach dem Versicherungsvertragsgesetz. Lassen Sie mich auf die Probleme der Beratung etwas genauer eingehen. In den letzten Tagen und Wochen sind viele Fälle von offensichtlicher Falschberatung an uns herangetragen worden. Uns beschäftigt nun die Frage, wie sich derartige Beratungsfehler künftig vermeiden lassen. Brauchen wir neue Gesetze mit mehr Informations- und Dokumentationspflichten? Meine Antwort ist: Nein. Wir haben nämlich das Wertpapierprospektgesetz, das Verkaufsprospektgesetz, das Wertpapierhandelsgesetz und seit November 2007 das FinanzmarktrichtlinieUmsetzungsgesetz, dem die sogenannte MiFID vorausging. Damit sind genügend rechtliche Grundlagen gegeben, auch was die Beratung angeht. Bereits seit 1994 ist im Wertpapierhandelsgesetz geregelt, dass Produkte nach den Risikoklassen 1 bis 5 einzuordnen sind. Mit der Umsetzung der MiFID geht die Dokumentationspflicht einher. Da stellt sich die Frage: Welcher Handlungsbedarf leitet sich aus Ihrer Forderung nach Umkehr der Beweislast ab? Vielleicht kann man sich dazu durchringen, dass dieses Beratungsprotokoll dem Anleger ausgehändigt wird; bei manchen ist dies schon Standard. Wenn die Aushändigung überall Standard wird, sind wir schon ein Stückchen weiter. Eine zusätzliche gesetzliche Regelung wäre dann nicht notwendig. ({2}) Bereits mit diesen Gesetzen haben wir ausreichende Vorkehrungen für eine umfassende Information und Dokumentation der Beratung getroffen. Das gilt auch für Zertifikate. Das Problem ist nicht ein Mangel an Informationen. Wenn man sich ansieht, was im Versicherungsbereich dokumentiert wird und welche Informationen dort herausgegeben werden, dann stellt man fest: Schriftliche Auskünfte haben oft einen Umfang von 150 Seiten. Durch eine Erweiterung würde der Informationsstand des Verbrauchers nicht besser. Vielmehr muss man sich im Grunde auf die wichtigsten Punkte konzentrieren, damit der Verbraucher überblicken kann, was mit dem Produkt tatsächlich verbunden ist. Das muss von den Beratern auch kommuniziert werden. Ich möchte auf folgenden Fall eingehen - Frau Kollegin Binder, Sie haben einige Fälle angedeutet -: Wenn die Auszahlung eines Anlageplans eines Rentnerehepaares - die Eheleute sind etwa 75 Jahre alt - erst nach 10 oder 15 Jahren beginnt, dann ging dem offensichtlich ein Beratungsfehler voraus. Wir brauchen hier keine anderen gesetzlichen Grundlagen; schließlich schreit es hier förmlich zum Himmel, dass falsch beraten worden ist. Wir sollten mit der Forderung, dass der Gesetzgeber handeln soll, keine falschen Richtungen einschlagen. Ich sehe die Geschäftsführung von Banken und Maklerpools selbst in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass ihre Berater kompetenter werden. Was die Produkte anbelangt, muss der Fokus stärker auf eine längere Kundenbindung ausgerichtet werden. Das muss wieder wichtiger sein als die Erreichung eines bestimmten Vertriebsziels. ({3}) Nehmen wir die Beispiele Lehman Brothers oder Kaupthing-Bank in Island. Bezüglich der Festgeldanlagen war genügend Information da, auch über die Risikoklassen. Es ist menschlich und durchaus nachvollziehbar, dass der Anleger selber nach dem etwas höher verzinslichen Produkt greift, obwohl er die Risiken kennen müsste. Aber es ist nun einmal so: Die Chancen auf höhere Rendite sind immer mit mehr Risiko verbunden. Das sollte im Grunde auch den Verbrauchern klar sein. ({4}) Es kommt auf den Kern an, nämlich eine bessere Beratung. Hier befinden wir uns mit den Verbänden in einer konstruktiven Diskussion. Dabei wird ersichtlich, dass viele diesen Punkt schon zu ihrem eigenen Maßstab entwickelt haben. Auf der anderen Seite muss das Wissen über Finanzmärkte und Wirtschaft über das Bildungssystem besser vermittelt werden, damit sich die Beteiligten auf Augenhöhe begegnen können. Ich komme zu den Forderungen der Linken zur Verbesserung des Einlagensicherungssystems. Sie beschreiben die Probleme sehr schön, aber Sie geben keine Antwort darauf, was Sie sich als Lösung vorstellen. Ihr Antrag ist eine Zustandsbeschreibung. Aber was Sie wollen, geben Sie in keiner Weise an. Von daher müssen wir die Grundlagen sehen, die wir jetzt haben. Auf europäischer Ebene wird eine Änderung der Einlagensicherungsrichtlinie in zwei Stufen vorbereitet, nach der die Deckungssumme der gesetzlichen Einlagensicherung demnächst auf 50 000 Euro und 2011 in der Endstufe auf 100 000 Euro festgelegt werden soll. Das ist die gesetzliche Einlagensicherung. Darüber hinaus gibt es in den drei Säulen unseres Bankensystems jeweils eigene freiwillige Sicherungssysteme: Die Deckungssummen bei den Privatbanken sind an dem Anteil des haftenden Eigenkapitals ausgerichtet und gehen so über die Summe von 100 000 Euro hinaus. Bei den Genossenschaftsbanken und den öffentlich-rechtlichen Sparkassen greift sogar eine Institutssicherung, die an sich weitestgehende Absicherung für Einlagen. Sie müssen mir wirklich erklären, wo Sie zusätzlichen Bedarf sehen, es sei denn, Sie sprechen sich dafür aus, alles zusammenzuwerfen. Dazu sind wir nicht bereit, sondern wir sehen in der Effizienz der einzelnen Arme auch in Zukunft die zielgerichtete Einlagensicherung in Deutschland, die auch Maßstab für andere Länder sein kann. Dann kommt die Forderung, der BaFin den Schutz der Verbraucher als zentraler Aufgabe zu übertragen. Die BaFin soll durchaus auch Verbraucherschutzinteressen berücksichtigen und sich um den Verbraucherschutz kümmern, aber wir brauchen die BaFin überwiegend als Aufsicht für die Stabilisierung des Finanzmarktes. Herr Schick, wenn Sie dann auch noch fordern, die zentrale Bankenaufsicht zusätzlich auf die BaFin zu übertragen, dann sage ich Ihnen für meine Fraktion: Wir wollen den umgekehrten Weg. Ohne Bundesbank ist die Bankenaufsicht im Grunde nicht zu gewährleisten; denn schließlich brauchen wir eine Liquiditätskontrolle. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Schick?

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich darf diese Ausführungen noch beenden. - Für Solvenz ist die BaFin zuständig, für Liquidität die Bundesbank. In dieser Banken- und Finanzkrise war diese Ergänzung für uns sinnvoll. Angesichts Ihrer Forderung nach Zentralisierung verweise ich auf den von uns verfolgten Weg, nämlich diese Aufgaben bei der Bundesbank anzusiedeln.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, bitte. ({0})

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, ich möchte kurz zum Thema Verbraucherschutz und BaFin nachfragen. Es ist heute so, dass die Aufgabe Verbraucherschutz von der BaFin etwa in Form eines Verbrauchertelefons wahrgenommen wird, dieser aber nicht Teil ihres gesetzlichen Auftrags ist. Da Sie aber sagen, dass die BaFin auch Elemente des Verbraucherschutzes gewährleisten soll, frage ich Sie: Sind Sie dann nicht mit mir der Auffassung, dass sie dafür einen gesetzlichen Auftrag braucht und das nicht nur freiwillig nebenher machen kann?

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schick, das kann die BaFin schon über ihre Aufsichtskompetenz. Wenn Sie als Verbraucher bestimmte Vorgaben haben und bei den Banken FehlentLeo Dautzenberg wicklungen beobachten, dann können Sie sich schon heute mit einer Eingabe an die BaFin wenden. Darüber hinaus stehen auch in den jeweiligen Bankenarmen Ombudsleute zur Verfügung, die den Interessen der Verbraucher und damit der Anleger nachgehen. In Ihrem Antrag stand ganz klar, dass Sie den Verbraucherschutz mit zur Hauptaufgabe der BaFin machen wollen. Das weisen wir im Grunde zurück, weil das nicht Hauptaufgabe der BaFin sein kann. Hauptaufgabe der BaFin ist, die Solvenz für den Finanzmarkt zu gewährleisten, ergänzt durch die Bundesbank, die für Liquiditätskontrolle sorgen muss. Wenn wir in einem stabilisierten Finanzmarkt für mündige Bürger auf der einen Seite und ein differenziertes Angebot auf der anderen Seite sorgen, tun wir für den Verbraucher das Beste. Kollege Schick, das, was in Ihrem Antrag zu den Zertifikaten gefordert wird, ist zusätzlich in die Beratungen einbezogen worden. Wir haben im Finanzausschuss sehr ausführlich darüber beraten, dass wir mit der bestehenden Gesetzgebung aus Wertpapierhandelsgesetz, MiFID und weiteren gesetzlichen Regelungen für den Finanzmarkt die Grundlage dafür haben, auch den Bereich der Zertifikate abzudecken, sodass wir auch da keinen zusätzlichen Handlungsbedarf sehen. Insofern werden wir diesen Antrag ablehnen. Darüber hinaus werden wir aber der Überweisung der beiden anderen Anträge in den Finanzausschuss zur weiteren Fachberatung zustimmen. Vielen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Hans-Michael Goldmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst einmal betonen: Ich bin Mitglied des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Mein Vorredner ist Mitglied des Finanzausschusses. Federführend in diesem Bereich ist auch der Finanzausschuss. Wir müssen einfach einmal darüber reden - damit können wir heute beginnen -, ob die Trennung - hier die Finanzpolitiker, da die Verbraucherschutzpolitiker - ein kluger Weg ist. Der Kernansatz der heutigen Debatte sollte sein, dass wir uns aufeinander zubewegen und dass wir nicht sagen: Bei den Banken ist zwar etwas Schlimmes passiert, aber eigentlich ist das nur ein bedauerlicher Zwischenfall. Wir sollten uns vielmehr die Frage stellen: Welche Konsequenz hat dieser bedauerliche Zwischenfall für die Verbraucherinnen und Verbraucher? In diesem Zusammenhang taucht immer ein unklarer Verbraucherbegriff auf. Verbraucher sind auch Mittelständler, Handwerker, Einzelhändler und Menschen, die eine Alterssicherung angespart haben. Da ich auch Kommunalpolitiker bin, bin ich manchmal bei diesen Leuten, wenn sie Goldene Hochzeit oder ihren 85. Geburtstag feiern. ({0}) Bei ihnen gibt es im Moment nur ein Thema: Sie haben Angst um ihre Alterssicherung. Herr Dautzenberg, Sie haben in Ihrem Beitrag eine ganze Reihe von Punkten erwähnt, bei denen wir aufeinander zugehen können. Aber ich warne davor, zu glauben, dass das Finanzmarktstabilisierungsgesetz ausreicht. Wir haben eine Menge für die Banken gemacht. Wir müssen aber auch eine Menge Konkretes in den Banken für die Verbraucher machen. ({1}) - Herr Dautzenberg, unterstellen Sie mir nicht auf diese primitive Weise, dass ich Ihnen nicht zugehört hätte! Auch Finanzpolitiker sollten es sich nicht so einfach machen. Sie können davon ausgehen, dass ich Ihnen zugehört habe. Sonst würde ich nicht auf Ihren Beitrag reagieren. Es gibt da einen Versagensstrang, Herr Dautzenberg - Sie kennen ihn auch -: Das Versagen begann in Amerika und wurde von den Ratingagenturen und von den deutschen Banken mitgemacht. Ich bin Mitglied im Verwaltungsrat einer Bank. Als ich vor kurzem einmal danach gefragt habe, wie es in Niedersachsen mit der Nord/LB ausschaut, wurde mir gesagt: Alles prima! Als ich nach dem Kreditwesen fragte, wurde mir gesagt: Alles prima! Gleichzeitig wurde mir aber eine Statistik vorgelegt, aus der hervorgeht, dass ab Juni 2007 diese Problematiken eindeutig abzusehen waren. Ich habe dann die vier Leute im Vorstand dieser Kreissparkasse gefragt: Warum haben Sie uns das eigentlich nicht gesagt? Warum haben Sie die Verbraucher auf die Problematiken, die darin stecken, nicht offensiv aufmerksam gemacht? Da ist eine Menge Vertrauen in der Beziehung zwischen der Bank und dem Kunden verloren gegangen. Es geht jetzt entscheidend darum, dass dieses Vertrauen wiederhergestellt wird. In diesem Punkt sollten wir uns wirklich einig sein. ({2}) Die FDP hat entsprechende Vorschläge gemacht. Dazu gehört zum Beispiel ein Vorschlag zur Verbesserung der Finanzaufsicht. Ich glaube, dass Sie vom Bündnis 90/Die Grünen da wirklich falsch liegen. Mit der BaFin ist das nicht zu machen; diese Aufsicht gehört in die Bundesbank. Wir schlagen eine Art Stiftung Warentest für Finanzprodukte vor. Wir machen auch einen emotionalen Vorschlag, indem wir sagen: Wir brauchen ein neues System der Vorstandsvergütung. Ich bin davon überzeugt, dass wir wieder zu einer Aussöhnung zwischen Anstand und Markt kommen müssen. ({3}) In diesem Bereich ist die Vorbildfunktion der Bosse der Banken verloren gegangen. Das müssen wir gemeinsam zurückgewinnen. Es muss in diesem Bereich Korrekturen geben. Die Branche hat jede Menge Porzellan zerschlagen. Wenn die Zeitschrift Die Wirtschaftswoche schreibt, dass in vielen Filialen deutscher Banken Zustände wie in einer Drückerkolonne herrschen, dann ist das nicht einfach dahingeplappert, sondern dann ist da etwas dran. Wir müssen uns mit dem Wechselspiel zwischen dem Kunden und demjenigen, der ihm etwas verkauft, beschäftigen. Für mich war es früher ganz einfach. Ich bin zu meiner Aschendorfer Bank gegangen; da saß mein Freund. Den habe ich gefragt: Was mache ich mit meinem Angesparten? Ich habe ihm vertraut. Aber heute ist in vielen Bereichen dieser direkte Kommunikationsprozess auf eine ganz andere Basis gestellt. Auch die Arbeit der Banken ist auf eine andere Basis gestellt. Das bringt zum Teil Veränderungen mit sich, die wir nicht einfach hinnehmen dürfen. Stattdessen müssen wir Verbesserungen erkämpfen. Ich bin ebenfalls hundertprozentig der Meinung, dass es in erster Linie um Eigenverantwortung, um den sich um Mündigkeit bemühenden Verbraucher gehen muss. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass sehr viele Verbraucher nicht in der Lage sind, bestimmte Dinge zu durchblicken, weil sie einer anderen Tätigkeit nachgehen und sich mit diesen Dingen nicht so intensiv beschäftigen. Deswegen müssen wir die Verbraucherberatung substanziell verbessern. Das müssen wir deutlich zum Ausdruck bringen. ({4}) In dieser Krisensituation sind Hunderttausende von Anrufen bei den Banken und Verbraucherzentralen eingegangen. Die Verbraucherzentralen waren auf diese Herausforderung nicht vorbereitet. Deswegen muss man hier sehr konkret sagen, dass Verbesserungen notwendig sind. Wir müssen auch darüber nachdenken, ob wir die richtigen Gesetze machen. Das Verbraucherinformationsgesetz ist in der Form entstanden, weil es einen Gammelfleischskandal gab. Das war eine Lappalie im Verhältnis zu dem momentanen Finanzskandal auf dem Markt. ({5}) - Am Gammelfleisch ist keiner - ich sage es in Anführungsstrichen - „kaputtgegangen“. Aber an dem Verlust von finanzieller Perspektive im Alter leiden eine Menge Menschen, und viele zerbrechen daran. Herr Dautzenberg, ich will ja nicht das eine ausschließen und das andere an dessen Stelle setzen. Vielmehr will ich dafür plädieren, dass wir die Dinge, die uns im Moment beschäftigen, zum Beispiel in ein Verbraucherinformationsgesetz aufnehmen, dass wir sie nicht nur mit Blick auf die Lebensmittelwirtschaft behandeln, sondern auch mit Blick auf die Verbraucher. Das kann zusammengefasst werden. ({6}) Ich möchte ein Beispiel nennen, das deutlich macht, wo es im Grunde genommen um den Kampf in der Sache geht. Ich habe hier die Kopie eines ausgefüllten Beratungsbogens einer Bank. Auch Sie bekommen ja Schreiben von Menschen, die sich bei den Banken haben beraten lassen. Die Banken haben von 100-prozentiger Sicherheit gesprochen. In diesem Wertpapiersammelordner ist die Einstufung des Kunden vermerkt; Sie kennen das sicherlich. ({7}) Da steht: konservativ. Dennoch hat der Kunde am Ende auf ausdrücklichen Wunsch ein hochriskantes Papier gekauft. Das hat nichts mit Eigenverantwortung zu tun. Das ist Fehlberatung. ({8}) Das fällt in die Verantwortung derjenigen, die die bessere Kenntnis haben. Deren Verhalten finde ich unmoralisch. Die Banken sollten schleunigst selbst dafür sorgen, dass sie nicht mehr solchen Vorwürfen ausgesetzt sein müssen. Banken sind die Oberinstitutionen des Vertrauens in unserer Gesellschaft. Deswegen müssen wir mit Ruhe und konsequentem Durcharbeiten Lösungen entwickeln. Ich halte die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken für nicht sehr erfolgsorientiert. Aber wir müssen ganz generell darüber diskutieren und entscheiden, wie wir hier zu Verbesserungen kommen, und dann die entsprechenden Weichen stellen. Parteipolitische Auseinandersetzungen finde ich in dem Zusammenhang überflüssig. Es geht um das Zurückgewinnen von Vertrauen in unser Gesamtsystem. Wir sollten die Interessen der Verbraucher angemessen - nicht überzogen - im Auge haben. Aber wir sollten auch deutlich machen, dass sich in diesen Bereichen etwas tun muss. Wir haben dazu Vorschläge gemacht, und wir hoffen, dass wir zu einer gemeinsamen Lösung und guten Ergebnissen kommen. Herzlichen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Ortwin Runde.

Ortwin Runde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Goldmann hat völlig zu Recht von Vertrauen gesprochen. Das wiederherzustellen, ist im Interesse der Verbraucher. Dass das kein einfacher Prozess ist, wissen die Finanzer so gut wie die Verbraucherschützer. Die Hohepriester der Finanzindustrie trauen sich gegenseitig nicht mehr und handeln nicht mehr miteinander. Das haben wir gespürt. Der Interbankenhandel ist zusammengebrochen. Wenn es um die Herstellung von Vertrauen geht, muss man aber auch sagen: Politik darf nicht in die Rolle gedrängt werden, die Verantwortung für all das zu übernehmen, was andere angerichtet haben. ({0}) Das halte ich für einen fundamentalen Fehler. Vielmehr muss Politik sehen, welche Rolle sie bei der Wiederherstellung des Vertrauens zu spielen hat. Dabei halte ich das, was die Kanzlerin und der Finanzminister zu einer politischen Garantieerklärung gegenüber den Verbrauchern gesagt haben, für einen wichtigen Schritt. ({1}) Ich erwarte von den Banken, Sparkassen und Finanzinstituten aber, dass sie zu den Fehlern, die sie gemacht haben, stehen und sie korrigieren. ({2}) Ich finde es richtig mannhaft, dass Herr Seehofer die Verantwortung von Vorgängern deutlich benannt und sich dafür mit entschuldigt hat. Noch mannhafter finde ich das, was Herr Faltlhauser getan hat. Er hat dort ja selbst Verantwortung getragen. ({3}) Ich sehe es bezogen auf Beratungsfehler als notwendig an, dass die Sparkassen, Banken und Finanzinstitute, die mit ihren Kunden so umgegangen sind, an die Kunden herantreten und sagen: Wir prüfen, ob wir dort Beratungsfehler gemacht haben. - Das halte ich für notwendig und richtig. ({4}) In Härtefällen müssen sie den Kunden dann auch entsprechend entgegenkommen. ({5}) Ich habe natürlich mit großem Interesse wahrgenommen, dass die Linke eine neue Zielgruppe hat, nämlich die Lehman-Geschädigten. Wenn man daran denkt, kommt man bei dem gesamten Thema auch zu einer anderen Verantwortung und einem anderem Aspekt: Wir haben uns über die Renditegier der Ackermänner und anderer beklagt. ({6}) Hier muss man aber doch auch sehen: Menschen, deren Löhne und Gehälter in den letzten Jahren nicht gewachsen sind, gehen an die Kapitalmärkte - auch als kleine Kapitalisten - und erwarten, dass sie nicht Zinsen von 3 bis 4 Prozent, sondern von 5 bis 6 Prozent bekommen. Wenn man sieht, welche Auswirkungen das insgesamt auf die Verteilung des Volkseinkommens hat - es geht um das Einkommen der abhängig Beschäftigten und deren Lohnquote und das Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen -, dann muss man einfach feststellen: Auch das Spiel am einarmigen Banditen ist Ausdruck einer falschen Geisteshaltung. Das ist ein Kasinobesuch für die Kleinen. Hier gilt einfach, dass der Besuch dieses Kasinos für die Kleinen auch durch bestimmte Geisteshaltungen befördert worden ist. Es muss sich auch an den Einstellungen etwas ändern. Jeder weiß aufgrund alter Volksweisheiten: Wer hohe Renditen haben will, der muss hohe Risiken eingehen. - Von dieser Grundregel können wir auch niemanden befreien - bei allen Schutzmaßnahmen, die wir dort vorhaben. ({7}) Für uns als Finanzpolitiker und Verbraucherschützer steht jetzt die Prüfung an, welche Maßnahmen die Verbraucher am besten gegen Risiken schützen. Ich habe die Garantieerklärung als eine wichtige Maßnahme zur Vertrauenswiederherstellung angesehen. Ich halte die Richtlinie zur europaweiten Einlagensicherung, die die EU jetzt sehr schnell auf den Weg bringt, für einen weiteren wichtigen Schritt. ({8}) Diese europäische Richtlinie wird wahrscheinlich noch in diesem Monat vorliegen, und wir werden sie dann in Deutschland umsetzen müssen. Bei der Umsetzung in Deutschland werden wir die 50 000 Euro, die dann einlagengesichert sind, ({9}) natürlich in Verbindung mit dem Einlagensicherungsfonds sehen müssen. Hierbei ist die Frage, was die Banken garantieren, das eine, das andere ist nach den Erfahrungen mit der Krise aber die Frage, zu was sie in der Lage sind. Mit Kaupthing in Island haben wir ja die Erfahrung gemacht, dass selbst Einlagerungssicherungszusagen nicht eingehalten werden können. ({10}) Das heißt also, die Fragen, ob die entsprechende Liquidität vorhanden ist und ob dieses Versprechen eingelöst werden kann, sind von entscheidender Bedeutung. Eines muss ich dazusagen: Es geht nicht - das habe ich von einigen gehört -, dass am Ende Staatsgarantien stehen sollen. Vielmehr müssen diejenigen für die Produkte haften, die sie vertreiben und im Normalfall damit viel Geld verdienen. ({11}) Wenn dann argumentiert wird, das koste aber etwas, muss ich sagen: Exakt das ist es. Wir müssen die Differenz zwischen Renditen im Bereich der Finanzwirtschaft und den Renditen, die es ganz normal gibt, abbauen. Wir brauchen auch wieder ein neues Verhältnis von Einkommen aus Arbeit zu Einnahmen aus Finanzanlagen. Das sage ich wegen Lehman noch einmal in Richtung der Linken. Ich halte also diese Regelung beim Einlagensicherungsfonds für etwas sehr Wichtiges, weil dies die Stabilität der Finanzmärkte erhöht. Wir müssen jedoch auch prüfen, welche Instrumente und Produkte geeignet sind, die Stabilität des Gesamtsystems zu gefährden. Damit bin ich bei den Leerverkäufen. Diese gehören für mich auf den Prüfstand, auf europäischer Ebene diskutiert und im besten Falle verboten. ({12}) Wir können ja nicht noch eine Einlagensicherung für Herrn Merckle wirken lassen, der mit entsprechenden Spekulationen auf sinkende Kurse der VW-Aktie nicht nur sein eigenes Vermögen, sondern auch seine Firmen und somit die an ihnen hängenden Arbeitsplätze gefährdet. So weit kann das Ganze nicht gehen. ({13}) In diesem Punkt halte ich es für zentral, dass wir die Aufsichtsmöglichkeiten verbessern. In dieser Krise haben wir gesehen, dass in Europa in der Aufsicht vieles noch verbesserungsfähig und -bedürftig ist, auch im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher. Deswegen spreche ich mich sehr deutlich für eine Stärkung der Regelwerke, für eine Verstärkung der Regelbeachtung und für eine Beobachtung durch die BaFin sowie für europäische aufsichtsrechtliche Regelungen aus. All dies ist dringend erforderlich. ({14}) Ich wundere mich ein bisschen über die Diskussion über das Verhältnis zwischen BaFin und Bundesbank. Dazu haben wir eine sehr dezidierte Auffassung. Es gab eine Verständigung zwischen Bundesbank und BaFin. Überall da, wo sie auftreten, erklären sie, sie kooperierten hervorragend. Das sollte man dann auch nicht stören, wobei man feststellen muss: Alle hoheitlichen Aufgaben und hoheitliche Funktionen können nur durch die BaFin wahrgenommen werden. Das Unabhängigkeitsmantra der Bundesbank hat uns schon vor kurzem bei anderen Gelegenheiten beschäftigt. Hierzu muss man feststellen: Der Steuerzahler, der Verbraucher, hat ein Anrecht darauf, dass es politisch Verantwortliche für solche aufsichtsrechtlichen Maßnahmen und Regulierungen gibt. Deswegen lautet hier die deutliche Ansage: An dieser Stelle ist die BaFin in ihrer Funktionsfähigkeit gefragt. Darüber, ob es klug ist, der BaFin das Thema Verbraucherschutz als weiteren Schwerpunkt zuzuweisen, muss man intensiv nachdenken. In diesem Zusammenhang sind mir Vorschläge, hier eine Art Stiftung Warentest zu schaffen, sehr viel näher und lieber. Ich bin der Meinung, dass wir, bezogen auf den Verbraucherschutz im engeren Sinne, in einer Reihe von Punkten übereinstimmen, beispielsweise hinsichtlich der Fragen, wann Verjährungsfristen zu laufen beginnen und ob es für Kunden die Möglichkeit gibt, den entstandenen Schaden auch wirklich geltend zu machen. Ich stimme auch mit Herrn Goldmann voll und ganz überein, dass wir überprüfen müssen: Ist das, was wir mit der MiFID an Dokumentationspflichten eingeführt haben, etwas, das auch vom Geiste des Vertrauens gelebt wird? Die Aussage, eine höhere Risikoklasse sei auf eigenen Wunsch gewählt worden, ist hierbei in der Tat nicht der richtige Ansatz. Das ist ein Beratungsfehler. Über die Beratungen müssen jeweils Protokolle gefertigt werden, die beide Seiten unterschreiben müssen. ({15}) Das halte ich für einen wichtigen Punkt, den wir hierbei einführen müssen. Wir haben eine Reihe von Anträgen vorliegen. In der nächsten Zeit werden wir die europäischen Richtlinien zur Einlagensicherung umzusetzen haben. Wir werden uns in diesem Zusammenhang auch mit diesen Anträgen beschäftigen. Ich glaube, wir werden eine konstruktive Diskussion führen und zu guten Ergebnissen auf diesem Feld kommen. Vielen Dank. ({16})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben eine ganze Menge über Vertrauen als Schmierstoff auf den Finanzmärkten und als Voraussetzung für das Funktionieren der Finanzmärkte gehört. Ich teile ausdrücklich die Analyse des Kollegen Goldmann, dass dieses Vertrauen erschüttert ist. Ich teile auch Ihre moralische Empörung. Es hätte mich aber interessiert, welche konkreten Maßnahmen zur strukturellen Verbesserung des Verbraucherschutzes auf den Finanzmärkten sich die FDP traut. ({0}) Es wäre sehr interessant gewesen, das zu erfahren. Noch interessanter wäre es gewesen, wenn das in Antragsform vorliegen würde. Von Ihnen haben wir bisher nämlich keine besonders aggressiven verbraucherpolitischen Vorschläge, die auch einmal gegen die Banken gerichtet sind, gehört. Das hätte mich sehr interessiert. Wir von Bündnis 90/Die Grünen haben Ihnen Vorschläge vorgelegt: Wir wollen die Rechte der Kundinnen und Kunden durch das Instrument der Sammelklage stärken. Menschen, die falsch beraten wurden, die betrogen wurden, sollen bessere Möglichkeiten zur kollektiven Rechtsdurchsetzung haben. ({1}) Wir fordern - das ist von den Vertretern der Regierung dankenswerter Weise positiv bewertet worden eine Verlängerung der Verjährungsfrist bei Schadenersatzansprüchen. ({2}) Die Lehman-Brothers-Geschädigten hätten von einer solchen Regelung profitiert. ({3}) Für sie ist das jetzt zu spät. Um zukünftige Schadensfälle vermeiden zu können, ist das aber zentral. ({4}) Wir brauchen eine starke Finanzmarktaufsicht. Die Vorschläge der Grünen hierzu wurden hart kritisiert. Ich möchte aber noch einmal betonen, dass es für die BaFin gut wäre, wenn der Verbraucherschutz eine ihrer Kernaufgaben, natürlich nicht die alleinige Aufgabe, wäre. Wir wollen ein sektorspezifisches Instrument einführen. Wir nennen es „Watchdog“, die SPD nennt es „Marktwächter“ - das ist vielleicht besser verständlich -, damit man sektorspezifisch Verbraucherschutzarbeit auf den Finanzmärkten in einer progressiveren Weise gestalten kann und damit die BaFin als Regulierungsbehörde einen Gegenspieler hat, der sie bei deutlichen Missständen auf den Finanzmärkten anrufen und aktivieren kann. Weiterhin wollen wir ein einheitliches Schutzniveau für alle Verbraucherinnen und Verbraucher. Dazu gehören strengere Regeln für den sogenannten grauen Kapitalmarkt. Wir sind diesem grauen Kapitalmarkt gegenüber nicht grundsätzlich negativ eingestellt - wir wissen, dass zum Beispiel im Bereich der erneuerbaren Energien viel darüber finanziert wurde -, aber es kann nicht sein, dass das Schutzniveau auf diesem Markt so schlecht ist, wie es im Moment ist. Wir wollen eine Vereinheitlichung, damit auch die Menschen, die ihr Geld auf diesem Markt anlegen, sich sicher sein können, dass ihr Geld in guten Händen ist. ({5}) Wir wollen die Beratungsqualität insgesamt verbessern. Eine ehrliche Beratung im Sinne der Kundinnen und Kunden und nicht im Sinne der Provisionsmaximierung ist das A und O bei Finanzgeschäften. Ich muss doch darauf vertrauen, dass mich mein Sparkassenberater, mein Bankberater ehrlich berät und nicht so, dass er die größtmögliche Provision kassiert. Wir Grüne fordern in diesem Zusammenhang einen Finanzvorsorgecheck bei einer unabhängigen Beratungsstelle. Das können zum Beispiel die Verbraucherzentralen sein. Dazu gehört aber auch, dass man die Finanzierung einer solchen Beratung klärt und sichert. Im Zweifelsfall müssen auch die Banken ihren Beitrag dazu leisten. Ich freue mich schon jetzt, wenn der Kollege Goldmann an unserer Seite diesen Wunsch gegenüber den Banken äußern wird. ({6}) Mein letzter Punkt ist die Hilfe für Menschen in der Not. Auch das hat mit den Finanzmärkten zu tun. Wir glauben, dass das längst überfällige Recht auf ein Girokonto für alle endlich realisiert werden muss. ({7}) Wir wollen - Stichwort Privatinsolvenz - eine Kultur der zweiten Chance; denn die Menschen, die reingefallen sind, brauchen eine zweite Chance. Ich finde es gut, dass unsere Anträge jetzt zur Beratung in die Ausschüsse überwiesen werden. Ich erwarte vom Verbraucherausschuss, dass er sich ähnlich wie die Finanzpolitiker mit diesen Themen beschäftigen wird. Die Bundesregierung kann ich nur auffordern: Sorgen Sie für mehr Sicherheit der Anleger! Dann funktionieren auch die Finanzmärkte wieder besser. Danke schön. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat die Kollegin Julia Klöckner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt genauso wenig die Banken und die Bankberater, wie es die Verbraucherinnen und Verbraucher gibt. Nicht alle Bankberater haben ihre Kunden über den Tisch gezogen. Es war auch nicht jeder Verbraucher ganz frei von dem Wunsch, möglichst noch mehr Zinsen zu bekommen. Auch beim Hinterherhecheln von einem Zehntel mehr Zins zu einem weiteren Zehntel mehr Zins ist sicherlich vieles auf der Strecke geblieben. ({0}) Ich möchte mich heute denjenigen Bürgerinnen und Bürgern zuwenden - ihr Anteil beträgt etwa 80 Prozent -, die ihr Geld nicht angelegt haben, um zu zocken, sondern die ihr Geld im Rahmen der Altersvorsorge bei einer sicheren Bank anlegen wollten. Ich meine diejenigen, denen es ähnlich erging wie zum Beispiel einem Petenten in meinem Wahlkreisbüro, der aufgrund seiner Frühverrentung seine Abfindung bis zum Eintritt in die Rente anlegen wollte und dieses Geld verloren, aber nicht verspielt hat. Zusammen mit meinen Kollegen aus dem Finanzausschuss war ich, als wir eine Expertenrunde einberufen haben, etwas erstaunt darüber, dass viele der geladenen Verbandsvertreter unterschiedlicher Sparten uns den Eindruck vermittelt haben, es sei alles ganz in Ordnung, man müsse nur etwas mehr aufklären und dann gehe schon alles seinen Weg. Dem ist nicht so. Deshalb danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Finanzausschuss sehr. Wir haben uns nämlich zusammen auf den Weg gemacht und wollen sinnvolle Vorschläge machen. Deswegen debattieren heute sowohl die Finanzwie auch die Verbraucherpolitiker von der CDU/CSUFraktion. Denn beides gehört zusammen: Gute Finanzpolitik ist guter Verbraucherschutz, ({1}) aber auch eine gute Wirtschaftspolitik für unseren Standort in Deutschland. ({2}) Über den Hinweis, wir sollten als Verbraucherpolitiker keine Schnellschüsse machen, den ich vom Bankenverband bekam, war ich etwas erstaunt. Es stimmt: Schnellschüsse sind immer ein schlechter Ratgeber. Nur, diesen Hinweis habe ich nicht gehört, als es darum ging, innerhalb einer Woche einen Bankenrettungsschirm aufzuspannen. Es war relativ zackig, was wir da hinbekommen haben. ({3}) Es war sehr gut und auch notwendig. Dazu höre ich von der Opposition nichts; denn wir könnten heute nicht über mögliche Schutzfunktionen für den Verbraucher reden, wenn wir diesen ersten Schritt nicht gemacht hätten. Ansonsten wäre alles den Bach hinuntergegangen. Dann hätte auch die Notwendigkeit von Beratungsprotokollen überhaupt nicht mehr auf der Tagesordnung gestanden. ({4}) Interessant ist natürlich die Betrachtung derjenigen Zahlen, die zum Ausdruck bringen, wie sich die Geldvermögensbildung der privaten Haushalte in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland entwickelt hat. 1997 hatten noch etwa 41 Prozent der privaten Haushalte ihr Geld in Geldanlagen bei der Bank. Zehn Jahre später sind es etwa noch 35 Prozent. Etwa ein Drittel der Anlagen sind in Wertpapieren, in Aktien, Anleihen, Investmentfonds und in anderen Beteiligungen, investiert. Das einmal wahrzunehmen, ist ganz interessant, vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass trotz dieser breiten Streuung - es wird ja immer geraten, das Vermögen auf mehrere Beine zu stellen - die Rendite bzw. die Kapitalerträge mitnichten gestiegen sind. Im Gegenteil! Bei einer repräsentativen Umfrage war auffallend - da setzen wir als Verbraucherpolitiker und Finanzpolitiker an -, dass die Deutschen nach wie vor konservativ anlegende Sparer sind, dass das Anlageverhalten eher risikoarm ist. Es gibt aber einen wachsenden Anteil risikobehafteter Anlagen und Depots von privaten Haushalten. Dieses Chancen-Risiko-Raster ist von diesen aber mitnichten so wahrgenommen oder verstanden worden. Das lässt mich fragen, ob die Beratung bei der Auswahl solcher Produkte falsch oder zumindest unzureichend war. Wir wissen auch: Ganz viele Verbraucherinnen und Verbraucher, die eben keine studierten Ökonomen sind, ({5}) treffen ihre Entscheidungen natürlich nicht alleine, sondern sie holen sich Rat von ihrem Bankberater und verlassen sich auf seine Empfehlungen; denn letztlich sind das die Profis. Besinnen wir uns einmal darauf, was „Kredit“ eigentlich heißt. Kredit kommt von „credere“, kommt also von Vertrauen und Glauben. Genau das müssen wir wieder hinbekommen: Wir müssen diesen Schmierstoff wiederherstellen. Das ist auch im Sinne derjenigen, die sich bei der Beratung in der Vorkrisenzeit ordentlich verhalten haben. ({6}) Nichtsdestotrotz zeigen die Erfahrungen - wir wissen das -, dass Banken gute wie auch schlechte Produkte im Angebot haben. Sowohl die guten als auch die schlechten Produkte werden empfohlen. Auch das ist Tatsache. Im jüngsten Frontal-Bericht des ZDF wurden aktuell Testpersonen losgeschickt. Eine Testperson, die 70 000 Euro für die Altersvorsorge anlegen wollte, war bei acht Banken, und immer wurden risikoreiche und nicht sichere Produkte angeboten. Es ist ärgerlich - ich betone noch einmal, dass das nicht für alle Banken gilt -, dass just in dieser Situation, in der die Sensibilität für diese Dinge gestiegen ist, so etwas noch vorkommt. Deshalb habe ich Zweifel an der Qualität der Beratungen. In der Wirtschaftswoche wird eine Bankmitarbeiterin zitiert, die namentlich natürlich nicht genannt werden möchte: Sie können sich nicht sicher sein, ob sie ein Produkt empfohlen bekommen, weil es wirklich gut ist oder weil es in dieser Woche noch verkauft werden muss. ({7}) - Oder weil die Rendite oder die Provision dementsprechend attraktiv sind. Es geht darum, dem Kunden die Produkte anzubieten, die er wirklich braucht, und sie auch dann anzubieten, wenn er sie braucht. ({8}) Ich komme noch einmal auf die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Sicherheit hier in Deutschland bei Otto Normalverbraucher, dem Durchschnittsanleger und Nichtzocker, und der Risikosteigerung zurück. Relativ neue Anlageformen sind zum Beispiel die Zertifikate. Bei einem Drittel aller Beratungen spielen diese Zertifikate nach Angaben von Bankberatern eine entscheidende Rolle. Ob aber Verbraucher das mit diesen Zertifikaten verbundene Risiko wirklich einschätzen können, ist fraglich. Laut einer Marktstudie des Deutschen Aktieninstitutes wird der Kenntnisstand der Kunden über Zertifikate von den Bankberatern durchweg als defizitär eingeschätzt. 83 Prozent der Bankberater schätzen das Risiko als sehr hoch ein, aber sie geben an, privaten Anlegern einen Zertifikateanteil von durchschnittlich 38 Prozent im Depot empfohlen zu haben. Da geht etwas auseinander. Das Hauptkriterium der Anlageempfehlung war zudem keinesfalls die Aussicht auf hohe Wertentwicklung. Etwa 23 Prozent der Bankberater gaben als Kriterium für die Empfehlung von Zertifikaten eine konservative, sichere Ausrichtung der Anlage an. 13 Prozent nannten sogar eine absolute Absicherung gegen Risiko als Kriterium für die Empfehlung. Rund die Hälfte aller Bankberater meinte zudem, die Papiere hätten unter der Berücksichtigung des Anlageziels und der Risikostruktur zum jeweiligen Kunden gepasst. Ich denke, das passt nicht zusammen. Diese Beschreibungen passen auch zu den Angaben der Lehman-Geschädigten. Es gibt jetzt ein Urteil aus Leipzig. Dort wurde einem Ehepaar recht gegeben, das sein Geld für die Ausbildung der Tochter absolut sicher anlegen wollte. Es wurden auch noch im Mai und Juni dieses Jahres Lehman-Zertifikate angeboten, als schon klar war oder sich zumindest abzeichnete, dass dort eine Zahlungsunfähigkeit anstehen würde. Was sind die Forderungen bzw. die Vorschläge der CDU/CSU-Fraktion? Diese sind zwischen Finanzpolitikern und Verbraucherschutzpolitikern abgestimmt. Denn es bringt wenig, hier jetzt Forderungen aufzustellen, die weder unserem Finanzmarktstandort helfen noch dem Verbraucher nützen. Es bringt nichts, Protokolle auszuhändigen, die nicht zu verstehen sind. Deshalb sind wir dafür, dass Protokolle verständlich abgefasst werden, sodass der Verbraucher nachvollziehen kann, was er erwirbt, und wir sind dafür, dass innere Logiken geschaffen werden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Denn es kann nicht sein, dass ein Protokoll ausgehändigt wird, auf dem vorne „risikoarm“ steht, aber „risikobehaftet“ hinten herauskommt. ({0}) Mit den Gelddingen ist es so wie mit der Gesundheit: Man sollte sich am Anfang beraten lassen, weil man da noch etwas unbedarft ist. Wir wissen auch, dass Bäume nicht in den Himmel wachsen. Das hat meine Oma immer gesagt. Deshalb sollten wir Maß halten, auch bei den Zinsen. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Gerhard Schick, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Klöckner, ich bin Ihnen sehr dankbar für die Ausführungen, die Sie zu dem Bereich gemacht haben, den ich jetzt ins Zentrum rücken will, nämlich den Zertifikatemarkt. Sie haben völlig richtig dargestellt, dass selbst nach der Einschätzung derjenigen, die beraten sollen, viele Menschen überhaupt nicht verstehen, was sie kaufen, und dass das „vorne“ abgefragte Anlagenprofil und das, was den Menschen nachher verkauft wird, nicht zusammenpassen. Vor dem Hintergrund Ihrer Analyse, die ich teile und der ich viele einzelne Beispiele von Fehlentwicklungen hinzufügen könnte, stellt sich jedoch die Frage, weshalb seit eineinhalb Jahren dem Finanzausschuss ein Antrag von Bündnis 90/Die Grünen vorliegt, der darauf abzielt, am Zertifikatemarkt etwas zu verändern, und der in der Bereitschaft formuliert worden ist, gemeinsam einen alternativen Antrag zu erarbeiten, der Ihre Erwägungen aufgreift, und es stellt sich die Frage, weshalb Ihre Fraktion nicht in der Lage war, eineinhalb Jahre lang etwas zu tun. ({0}) Sie haben bei der MiFID-Umsetzung erklärt, Sie seien bereit, sich das anzuschauen. Es gab aber keinen einzigen Vorschlag, der darauf abzielte, diesen Markt zu verändern. Ich finde es gut, dass wir uns heute im Plenum diesen Aspekt genauer anschauen; denn es gibt zwei Finanzmarktkrisen. Es gibt die große Finanzmarktkrise, über die in den Schlagzeilen berichtet wird, bei der es um Milliardenabschreibungen geht, und es gibt die täglich andauernde Finanzmarktkrise, bei der Anlegerinnen und Anleger in Deutschland schlecht beraten und über den Tisch gezogen werden. Sie werden provisionsorientiert beraten; denn der Markt setzt die falschen Akzente. Wir müssen uns in diesem Parlament mehr mit der andauernden kleinen Finanzmarktkrise der Anlegerinnen und Anleger beschäftigen. Heute ist ein Anlass dazu gegeben. Ich hoffe, dass es nicht nur bei Ankündigungen und Prüfaufträgen bleibt, sondern dass endlich etwas bei den Beratungen herauskommt. ({1}) Wir haben im Ausschuss über die Zertifikate diskutiert. Herr Runde pflegt eine gute antikapitalistische Grundhaltung. Er schimpft aber dann auf die Kleinkapitalisten. Das sind die Sparerinnen und Sparer, das sind Ihre Wählerinnen und Wähler, das sind die kleinen Leute, die Sie meinen zu vertreten. Das von Ihnen geführte Finanzministerium tut für diese Menschen im Zweifelsfall gar nichts. Ich möchte, dass die SPD-Fraktion nicht nur große Ankündigungen macht, sondern wirklich etwas unternimmt. Jetzt haben Sie Zeit dazu, etwas zu tun. Ich fordere Sie auf, konkrete Vorschläge zu unterbreiten. Dazu habe ich von Ihnen heute nicht viel gehört. ({2}) Der Zertifikatemarkt, der in den vergangenen Jahren stark gewachsen ist, ist ein ganz besonderes Beispiel. Daran sieht man wieder, dass es wichtig wäre, dass die BaFin etwas unternimmt. Herr Dautzenberg, da habe ich jetzt die Gelegenheit, auf Ihren Beitrag einzugehen. Es wäre wichtig, die entsprechenden Grundlagen zu schaffen, damit die BaFin die Prospekte auch inhaltlich prüft. All diese Punkte sind in unserem Antrag enthalten. Ich meine, es gibt die Spitze des Eisbergs; das sind die Leute, die konkret durch die Pleite etwa von Lehman Brothers geschädigt worden sind. Darüber hinaus müssen wir uns aber auch mit den laufenden Verlusten der Leute beschäftigen, die schlecht beraten worden sind und zu denen die Zertifikate, die ihnen aufgedrückt worden sind, nicht gepasst haben.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit bereits eine halbe Minute überschritten.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich hoffe, dass das nächstes Mal gelingt. Sie werden unseren Antrag heute ablehnen, aber die Verantwortung, etwas in diesem Bereich zu unternehmen, werden Sie nicht los. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Marianne Schieder, SPDFraktion.

Marianne Schieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003838, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Dr. Schick, ich möchte zunächst einmal feststellen, dass die Bundesregierung auf die Finanzmarktkrise nicht nur schnell und effizient reagiert hat, sondern mit den getroffenen Maßnahmen gerade im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher bereits Wesentliches auf den Weg gebracht hat. Ich meine, dass die Garantieerklärung zugunsten der Sparerinnen und Sparer zum richtigen Zeitpunkt abgegeben worden ist. Damit wurden nicht nur Panikreaktionen verhindert, sondern damit wurde auch neues Vertrauen aufgebaut. Nun steht für alle Inhaberinnen und Inhaber von Spar- und Girokonten, von Sparbriefen und von Tages- und Festgeldanlagen bei Banken mit Sitz in Deutschland fest, dass ihnen kein Euro verloren geht. Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz und die Finanzmarktstabilisierungsfonds-Verordnung, liebe Frau Binder, dienen eben nicht nur den Banken, sondern gerade auch den Verbraucherinnen und Verbrauchern. ({0}) Sie wissen doch, dass damit im Interesse aller nicht nur die Funktionsfähigkeit des Finanzmarktes stabilisiert wurde, sondern auch der Wirtschaftskreislauf aufrechterhalten und Arbeitsplätze gesichert werden konnten. ({1}) Auch auf EU-Ebene und auf internationaler Ebene wurden und werden Maßnahmen beraten, um die Finanzmarktkrise einzudämmen und dem künftigen Entstehen von Finanzmarktkrisen vorzubeugen. Aus verbraucherpolitischer Sicht ist besonders der Beschluss der EUFinanzminister hervorzuheben, nach dem die Deckungssumme der gesetzlichen Einlagensicherung zum 30. Juni 2009 auf 50 000 Euro angehoben werden soll; ab dem 31. Dezember 2011 sollen dann sogar 100 000 Euro geschützt sein. Ganz hervorragend angenommen wurde von sehr vielen verunsicherten Verbraucherinnen und Verbrauchern die vom BMELV finanzierte und für die Nachfragenden kostenlose Telefonhotline der Verbraucherzentralen. Entsprechend dem Bedarf wird sie auch über den zunächst geplanten Zeitraum von vier Wochen hinaus weiterhin zur Verfügung stehen. Mithilfe dieser Hotline können wir genau herausfinden, wo es hakt, wo im Sinne des Verbraucherschutzes nachgebessert werden muss und wo Information und Beratung nicht gut funktionieren. Die Bundesregierung ist, über dieses Krisenmanagement hinaus, inzwischen auch auf dem Wege, zusätzliche verbraucherpolitische Maßnahmen einzuleiten und vorzubereiten. Heute ist schon angesprochen worden, dass die kurzen kapitalmarktrechtlichen Verjährungsvorschriften an die Verjährungsvorschriften des Allgemeinen Schuldrechts angepasst werden sollen. Derzeit verjähren Ansprüche wegen fehlerhafter Anlageberatung, falscher oder unterlassener Mitteilung von Insiderinformationen und unrichtiger Verkaufsprospekte bereits ein Jahr nach Kenntnis und spätestens drei Jahre nach dem Pflichtenverstoß. Anleger erhalten häufig jedoch erst später Kenntnis von ihren berechtigten Ansprüchen; das ist übrigens auch im Zusammenhang mit den Lehman-Anlagen zu beobachten. Deshalb sollen die kurzen kapitalmarktrechtlichen Verjährungsvorschriften im Sinne des Schuldrechts so verändert werden, dass man ab Kenntnis drei Jahre, höchstens aber zehn Jahre Zeit hat, um Ansprüche durchzusetzen. Dies halten wir seitens der SPD-Fraktion für absolut geboten. ({2}) Intensiv geprüft wird auch, ob die Beweislast, dass über die Risiken einer Kapitalanlage ordentlich und richtig aufgeklärt wurde, im Sinne einer Beweislastumkehr auf den Anlageberater verlagert werden kann. Auch dies wird seitens der SPD-Verbraucherpolitikerinnen und -Verbraucherpolitiker nachhaltig unterstützt. Es geht uns um eine wesentliche Verbesserung der Informations- und Dokumentationspflichten von Banken und Beratern. Diese sollen ihre Kunden deutlich darauf hinweisen müssen, wenn bestimmte Produkte nicht ihrem Risikoprofil entsprechen. Sie sollen begründen und dokumentieren müssen, weshalb eine bestimmte Anlageempfehlung ausgesprochen wurde. Treffen die Kunden Entscheidungen entgegen dem Rat des Beraters, muss auch darauf deutlich hingewiesen werden, zum Beispiel in Form einer gesonderten Unterschrift; es reicht nicht aus, lediglich ein Häkchen hinter einem Kästchen zu machen, in dem „besonderer Kundenwunsch“ steht. Die Informationen müssen verständlich und vergleichbar formuliert werden, sind vom Kunden zu unterschreiben und müssen ihm auch ausgehändigt werden. Wir wollen die Regelung treffen, dass alle Finanzvermittler zukünftig einen Mindeststandard an Befähigungsnachweisen erbringen und eine Berufshaftpflichtversicherung nachweisen müssen. Es wird intensiv geprüft, wie die Verbraucherberatung und die Arbeit der Verbraucherzentralen gestärkt werden können. Denn es ist natürlich klar, dass gut informierte und gut beratene Verbraucherinnen und Verbraucher sicherlich besser davor geschützt sind, riskante Anlagen zu tätigen oder überteuerte Kreditverträge zu unterschreiben, und dass gut beratene Verbraucherinnen und Verbraucher auch ihre Rechte besser geltend machen können. Uns gefällt der Vorschlag der Verbraucherzentrale Bundesverband gut, einen Finanzmarktwächter einzusetzen, weil mit einem solchen Instrumentarium der Finanzmarkt sicherlich gut in den Blick genommen werden kann und dort auftauchende Produkte kritisch beleuchtet werden können. So kann rechtzeitig auf problematische Entwicklungen hingewiesen werden. Wir brauchen gerade in diesem Bereich nicht nur gute Vorschläge, sondern auch realistische Finanzierungskonzepte; denn ohne zusätzliche Mittel wird die Verbraucherberatung diesen zusätzlichen Aufgaben nicht gerecht werden können. Die Länder sind einmal mehr gefordert, die nötigen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, damit Schuldnerberatungsstellen ihre Dienste zeitnah und flächendeckend anbieten können. Es bedarf auch einer Stärkung der Allgemeinbildung in Sachen Finanzen - so möchte ich es einmal zusammenfassen -, insbesondere an den Schulen und in der Erwachsenenbildung. Sie sehen also, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und von der Linken: All das, was an Sinnvollem in Ihren Anträgen steht, ist entweder bereits auf den Weg gebracht ({3}) oder wird intensiv geprüft, und das wissen Sie auch; denn wir haben darüber im Verbraucherschutzausschuss schon ausführlich diskutiert. ({4}) Wir haben dort bereits am 12. November eine Anhörung dazu beschlossen. ({5}) Wegen der Komplexität der Materie und der nicht unerheblichen finanziellen Folgen, die bei den meisten Vorschlägen zu berücksichtigen sind, gilt für uns in diesem Bereich der Grundsatz: Gründlichkeit vor Eile. Schnellschüsse, Populismus und Aktionismus werden uns da nicht weiterhelfen. Ich habe eine herzliche Bitte: Nutzen wir die Anhörung, die wir gemeinsam beschlossen haben, um mit allen Beteiligten die aufgeworfenen Fragen und Forderungen in der gebotenen Sorgfalt zu diskutieren! Ich bin mir sicher, dass wir dabei sowohl für die Verbraucherinnen und Verbraucher als auch für das Finanzwesen zu vernünftigen und realisierbaren Lösungen kommen können. Jetzt danke ich für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/11185 - Tagesordnungspunkt 38 a - an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Rechtsausschuss und an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie vorgeschlagen, wobei der Finanzausschuss in der Beratung federführend sein soll. Die Vorlage auf Drucksache 16/11205 - Tagesordnungspunkt 38 b - soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Zusatzpunkt 11: Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Schutz der Anlegerinnen und Anleger bei Zertifikaten stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11226 - die Drucksache 16/11279 enthält den Bericht des Finanzausschusses -, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 16/5290 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Wohngeldgesetzes - Drucksachen 16/10812, 16/10999 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) - Drucksache 16/11229 Berichterstattung: Abgeordneter Patrick Döring - Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/11235 - Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Königshofen Dr. Frank Schmidt Dr. Claudia Winterstein Roland Claus Anna Lührmann Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Die Kolleginnen und Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Es sind dies Sören Bartol, SPD, Patrick Döring, FDP, Gero Storjohann, CDU/CSU, Dorothée Menzner, Die Linke, Jörg Vogelsänger, SPD, Bettina Herlitzius, Bündnis 90/Die Grünen.1) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Wohngeldgesetzes. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 16/11229, den Gesetzentwurf der Bundesregierung - das sind die Drucksachen 16/10812 und 16/10999 - in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a und 41 b auf: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Uschi Eid, Nicole Maisch, Rainder Steenblock, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Internationales Jahr für sanitäre Grundver- sorgung 2008 der Vereinten Nationen - Chan- cen und Potentiale der Sanitärversorgung - Drucksachen 16/9387, 16/10922 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uschi Eid, Marieluise Beck ({2}), Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sanitäre Grundversorgung international verbessern - Drucksache 16/11204 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({4}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so be- schlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- gin Dr. Uschi Eid, Bündnis 90/Die Grünen. 1) Anlage 3

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass sich der Deutsche Bundestag am Ende des Internationalen Jahres der sanitären Grundversorgung heute mit dem Problem befasst. Es geht um die Probleme, die zu lösen sind, um der Verknappung des Wassers als einer zukünftigen Herausforderung des Blauen Planeten entgegenzuwirken. Der Deutsche Bundestag hat mit seiner gemeinsamen Entschließung vom September 2006 dieses Internationale Jahr unterstützt und damit klargemacht, dass wir Abgeordneten nicht bereit sind, hinzunehmen, dass immer noch 2,5 Milliarden Menschen ohne ordentliche Toiletten und Abwasserentsorgung leben. ({0}) Wir erwarten von den betroffenen nationalen Regierungen und von der Bundesregierung im Rahmen ihrer internationalen Kooperation entschlossenes Handeln. Dafür sind vier Gründe zu nennen. Erstens. Sanitärversorgung ist unerlässlich für die menschliche Gesundheit und ein gesundes Wohnumfeld. Jedes Jahr werden mehr als 200 Millionen Tonnen menschlicher Ausscheidungen unbehandelt in die Umwelt entlassen und setzen Millionen Menschen Krankheitserregern aus. Besonders für Kinder sind die Folgen verheerend. Täglich sterben circa 4 000 Kinder an Durchfallerkrankungen, die hauptsächlich auf verunreinigtes Trinkwasser und mangelnde Hygiene zurückzuführen sind. Zweitens. Sanitärversorgung ist eine wichtige Voraussetzung für Geschlechtergerechtigkeit und Bildung. Aufgrund von fehlenden, nicht abschließbaren oder nicht geschlechtergetrennten Toiletten verlassen viele Mädchen bereits bei Erreichen der Pubertät die Schule und erlangen keinen Schulabschluss. UNICEF hat zum Beispiel in Bangladesch eine Kampagne durchgeführt und alle Schulen mit getrenntgeschlechtlichen Toiletten versorgt. Siehe da: Innerhalb kurzer Zeit ist die Quote der Schülerinnen um 10 Prozent gestiegen, die in der Schule geblieben sind und ihren Abschluss gemacht haben. Drittens. Sanitärversorgung trägt zur Würde und Sicherheit von Menschen bei. Ein Leben in Würde ist kaum möglich, wenn man sich in der Öffentlichkeit erleichtern muss, halb hinter einem Busch oder in einer dunklen Häuserecke verborgen. Ein stilles Örtchen zu haben, bedeutet gerade für Frauen und Mädchen auch mehr Sicherheit. Es schützt sie vor sexueller Gewalt, der sie häufig ausgesetzt sind, wenn sie im Dunkeln teils weite Strecken zu entlegenen Stellen laufen, um ihre Notdurft zu verrichten. Vor diesem Problem dürfen wir nicht länger die Augen verschließen. Wir müssen Abhilfe schaffen. ({1}) Viertens. Sanitärversorgung schützt wichtige Trinkwasserressourcen. In Entwicklungsländern werden 90 Prozent der Abwässer ungeklärt in den Boden, in Flüsse und ins Meer geleitet. Dass dadurch Trinkwasserquellen und das Grundwasser verschmutzt werden und die nachhaltige Verfügbarkeit von sauberem Trinkwasser gefährdet ist, bedeutet schlichtweg den schleichenden Tod für Menschen und Natur. Es wird oft übersehen, dass Sanitärversorgung wirtschaftliche Vorteile bringt. Alle Finanzminister in den Entwicklungsländern müssen hiervon überzeugt werden. Denn jeder in die Wasser- und Sanitärversorgung investierte Dollar erbringt nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation und von UNICEF einen im Durchschnitt achtfachen volkswirtschaftlichen Gewinn. Von einer solchen Rendite können Unternehmen nur träumen. Umso wichtiger ist es, das Thema international voranzutreiben. Deutschland fällt eine besondere Verantwortung zu. Denn schließlich war die damalige rot-grüne Bundesregierung als Gastgeber und Initiator der Internationalen Süßwasserkonferenz in Bonn 2001 eine treibende Kraft dafür, dass das Millenniumsentwicklungsziel zur Sanitärversorgung auf dem Weltgipfel für Nachhaltige Entwicklung in Johannesburg 2002 nachträglich in den Katalog der Millenniumsentwicklungsziele aufgenommen wurde. Auch die jetzige Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große Anfrage meiner Fraktion die Trinkwasser- und Sanitärversorgung als wichtigen Faktor für die Armutsbekämpfung anerkannt und die Hauptursachen für die Vernachlässigung des Sanitärbereiches richtig identifiziert. Dabei ist die Tabuisierung des Themas ein ganz wichtiger Punkt. Jedoch hat die Bundesregierung selbst zu wenig getan, um diesen Ursachen zu begegnen. Mit dem von uns eingebrachten Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, ihren Kurs zu korrigieren und der sanitären Grundversorgung einen neuen Impuls in ihrer internationalen Politik zu geben. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Sibylle Pfeiffer, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf Cocktailpartys redet jeder über Aids. Aber keiner will etwas über Durchfallerkrankungen hören. Dies, liebe Freunde, ist ein Zitat von John Oldfield, Vizepräsident der US-Kampagne „water advocates“. Worüber reden wir hier? Wir reden tatsächlich über ein Tabuthema. Deshalb ist es wunderbar, dass wir das tun, was, glaube ich, zwingend notwendig ist, nämlich Öffentlichkeit herstellen. Uns ist es gelungen, das Thema Aids gesellschaftsfähig zu machen, weil wir es in die Öffentlichkeit gebracht haben, weil wir uns trauen, es hier im Parlament zu diskutieren. Deshalb, glaube ich, ist es allerhöchste Zeit, dass wir über die in Rede stehende Thematik sprechen; denn hier besteht Handlungsbedarf. ({0}) Nicht nur in der Entwicklungszusammenarbeit an sich hat das Thema „sanitäre Grundversorgung“ nicht unbedingt die erste Priorität. Die NGOs kümmern sich relativ wenig darum. In Regierungsverhandlungen passiert insoweit eigentlich eher nichts. Auch unsere Durchführungsorganisationen sehen in der sanitären Grundversorgung nicht die erste Priorität. ({1}) Deshalb wiederhole ich: Was wir hier tun, ist unerlässlich. Wir stellen Öffentlichkeit her. Das heißt, wir wecken auch Interesse. ({2}) Über eines, liebe Freunde, müssen wir ab und zu nachdenken. Baden, Duschen, Händewaschen, Zähneputzen, das ist für uns etwas völlig Normales und Selbstverständliches; es ist jederzeit möglich. Es ist für uns nicht nachvollziehbar, dass das nicht auf der ganzen Welt der Fall ist. Es gibt 1,1 Milliarden Menschen ohne Wasserversorgung. 2,5 Milliarden Menschen sind ohne sanitäre Grundversorgung, davon sind im Übrigen mindestens 1,5 Milliarden Kinder. Was machen diese Menschen? Uschi Eid hat es eben schon gesagt: offene Latrinen, Eimer oder einfach gar nichts. Stellen Sie sich einmal das Zusammenleben in den Slums der Megacitys ohne Wasserversorgung, ohne sanitäre Grundversorgung vor. Das ist eine Katastrophe für alle Beteiligten. Eigentlich sollten wir doch wissen, worüber wir reden; denn auch bei uns waren Typhus und Cholera an der Tagesordnung, solange wir keine Kanalisation hatten. Als wir geboren wurden, gab es bei uns eine Kanalisation. Aber das war viele Jahrhunderte lang nicht so. Typhus und Cholera waren an der Tagesordnung. Die Lebenserwartung der Menschen ist, seitdem es eine Kanalisation bei uns gibt, um 30 Jahre gestiegen. Davon gehen mindestens 25 Jahre auf die vorhandene sanitäre Grundversorgung zurück. Es geht hier um das Thema Prävention. Prävention ist eigentlich genau unser entwicklungspolitischer Ansatz: Wir müssen handeln, bevor irgendetwas passiert. ({3}) Baden, Duschen, Händewaschen und Zähneputzen zu jeder Zeit, wann immer man will - ich finde, das ist kein Luxus; vielmehr ist das die Grundvoraussetzung für ein gesundes, lebenswertes Leben. Es geht auch um Armutsbekämpfung. Nicht umsonst ist dieses Thema, die Halbierung der Armut, auch Gegenstand der MDGs. Es geht ferner darum, die Kindersterblichkeit zu verringern, und es geht um die Müttergesundheit. Liebe Kolleginnen, ich war im Fistola-Krankenhaus in Äthiopien. Glücklich sind die Frauen, die in diesem Fistola-Krankenhaus behandelt und operiert werden können. Aber wehe denen, die diese Möglichkeit nicht haben. Welch Elend ist es für eine Frau, wenn es keine Grundversorgung im sanitären Bereich für sie gibt. Das ist fürchterlich für sie. Auch das, denke ich, sollte uns daran erinnern, wie wichtig es für die Menschen ist, über bestimmte Voraussetzungen zu verfügen, um mit ihren Krankheiten umzugehen. Deutschland engagiert sich. Wir haben gemeinsam die Initiative zur Ausrufung des Jahres 2008 zum Internationalen Jahr der sanitären Grundversorgung unterstützt. Auch für unsere Fraktion ist das eine wichtige Forderung. Die Bundesregierung erfüllt bereits einen Großteil der im Antrag enthaltenen Forderungen. Circa 350 Millionen Euro werden jedes Jahr vom BMZ für Wasserversorgung und Abwasserentsorgung zur Verfügung gestellt. Wir müssen in Zukunft darauf achten - vielleicht ist das eine wichtige Voraussetzung für künftige Verhandlungen -, dass parallel zu Trinkwasserprojekten Abwasserprojekte realisiert werden. ({4}) Genauso wie in allen anderen Bereichen der Entwicklungspolitik können wir das alles nicht ohne unsere Partner machen. Wir reden ständig von den Prioritäten - was hat erste, zweite und dritte Priorität? - in der Entwicklungspolitik. Wir selber wissen aber manchmal nicht, was Priorität hat. Es ist auf jeden Fall unsere Aufgabe, gemeinsam mit unseren Partnern über dieses Thema zu diskutieren und sie darauf aufmerksam zu machen, dass wir uns hier im Bereich der Prävention und zum Glück nicht unbedingt im Bereich der Therapie befinden. Ich möchte mit einem Zitat schließen: „Welcher Politiker lässt sich schon bei der Einweihung einer Latrine von der Presse begleiten?“ Alle dürfen raten, von wem dieses Zitat stammt. - Dieses Zitat stammt von unserer lieben Kollegin Uschi Eid. Das gilt nicht nur für die Politiker in den Entwicklungsländern, sondern auch - man möge mir das verzeihen - für uns. Ich gebe zu: Eine Schule oder ein Kindergarten für Aidswaisen ist mir hundertmal lieber als irgendeine Latrine. Trotzdem ist die sanitäre Grundversorgung ein wichtiges Thema. Wir sollten uns dessen annehmen. Ich bin mir nicht sicher, wie wir mit dem vorliegenden Antrag weiter verfahren sollen. ({5}) Ich bin aber durchaus bereit, in konstruktive Diskussionen einzutreten, um es vorsichtig zu formulieren. ({6}) Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Hellmut Königshaus, FDPFraktion. ({0})

Hellmut Königshaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003709, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir fällt gerade ein, dass auch ich schon einmal eine Toilettenanlage in Indien eingeweiht habe, und zwar mit Presse, aber ohne praktischen Gebrauch. Ich habe lediglich ein Band durchschnitten. Damals haben wir darüber gewitzelt. In der Tat ist dieses Thema weitestgehend tabuisiert. Deshalb sage ich ganz offen: Wir sind den Grünen und insbesondere Ihnen, Frau Dr. Eid, sehr dankbar, dass sie das Thema aufgegriffen haben. Dieses Thema ist uns in Deutschland nicht mehr so sehr im Bewusstsein. Ich erinnere mich an Freiburg, wo ich studiert habe. Dort gibt es Bächle, kleine Kanäle, durch die früher das Abwasser entsorgt wurde. Heute sind sie eine Touristenattraktion, weil durch sie klares Wasser fließt. Aber solche Bedingungen haben wir auch bei uns teilweise erst seit wenigen Jahrzehnten. Wir haben uns so sehr an eine funktionierende Sanitärversorgung gewöhnt, dass wir die Probleme in anderen Ländern aus den Augen verloren haben. Dabei betrifft dieses Problem ein Drittel der Menschheit. Laut WHO sind es nicht 2,5 Milliarden Menschen, wie es im Antrag der Grünen steht, sondern 2,6 Milliarden. Natürlich kann man sagen, dass diese Zahl fast genauso hoch ist. Aber das ist ein Unterschied von 100 Millionen Einzelschicksalen. Das ist die Dimension, um die es hier geht. Ich will die richtigen Begründungen sowohl von Frau Dr. Eid als auch der Kollegin Pfeiffer nicht wiederholen. Es ist völlig klar: Wir brauchen dringend eine Aufklärungskampagne, damit ein entsprechendes Bewusstsein vor Ort überhaupt erst geschaffen wird. Ein Problem in unserer Entwicklungszusammenarbeit ist, dass wir das, was wir vor Ort tun wollen, im Wesentlichen auf der Basis von Regierungsverhandlungen sowie Forderungen und Vorstellungen unserer Partner entwickeln. Die Partner vor Ort entwickeln leider nur sehr selten eine Fantasie dafür, wie die Mehrheit der Menschen in diesen Ländern tatsächlich lebt. Die Führungscrew in diesen Ländern ist oftmals ein bisschen abgehoben und übersieht die wirklichen und ernsthaften Probleme. Dieses Thema berührt uns selbst; denn die Krankheiten, die in diesen Ländern immer wieder ausbrechen - das wurde eben schon gesagt -, kommen zu uns zurück. Viele weltweite Seuchen, die uns unmittelbar bedrohen - sei es im Urlaub oder sei es dadurch, dass Besucher oder Touristen zu uns kommen -, haben ihre Ursachen in den genannten Problemen. Deshalb ist, wie gesagt, dort eine Aufklärungskampagne notwendig. Aber auch wir müssen sehen, dass wir bei der Implementierung unserer eigenen Entwicklungsprojekte daHellmut Königshaus rauf Rücksicht nehmen. Ich erinnere an das Projekt in Herat, Afghanistan. Dort haben wir sehr viel für die Wasserversorgung getan. Man hat die Brunnengalerien aus der Stadt herausgelegt, weil das sonst in der Innenstadt zu ungünstigen Verhältnissen geführt hätte. Außerhalb der Stadt sind aber jetzt Hunderttausende von Flüchtlingen, die sich in Zelten und in Bruchbuden ohne Sanitärversorgung über den Brunnengalerien niedergelassen haben. Jetzt haben wir genau das Problem, das wir mit unserem Projekt vermeiden wollten. Die Anlagen müssen jetzt mit hohem finanziellen Aufwand verlegt werden. Wir müssen also auch dort Fantasie entwickeln. Wir müssen uns eines immer wieder vor Augen führen, wenn wir irgendwo, wie in Herat, solche Brunnen bauen: Wir müssen den örtlich Verantwortlichen klarmachen, dass diese Brunnen freigehalten werden müssen, weil sonst nur die eigenen Fäkalien wieder hochgepumpt und die Probleme produziert werden, die eigentlich vermieden werden sollen. Dass Wasserversorgung auch etwas mit Hygiene zu tun hat, ist vollkommen klar. Deshalb sind alle Akteure gefragt. Ich sagte, dass die Probleme der Entwicklungsländer und der sich entwickelnden Länder aus unserem Bewusstsein geschwunden sind. Aber auch wir in Deutschland übersehen manchmal, was an unseren Schulen los ist. Wer in Berlin eine Schultoilette besucht, wird manchmal an Verhältnisse erinnert, die er an anderen Orten gesehen hat, und wird kaum glauben, dass diese Toilette hier bei uns steht. ({0}) Wir sollten das also von allen Seiten betrachten. Ich will noch ein Beispiel herausgreifen, an dem sich zeigt, dass wir massiv tätig werden müssen und dass auch das BMZ, Frau Staatssekretärin, gefordert ist. Simbabwe hat viele Probleme; das wissen wir. Es gibt aber ein ganz konkretes Problem: Anstatt die zur Wasseraufbereitung erforderlichen Chemikalien, nämlich Aluminiumsulfat - das hat mir der Kollege Addicks gesagt -, zu kaufen, was Devisen erfordert, hat man die Wasserversorgung eingestellt. Die logische Konsequenz waren all die Probleme, die hier geschildert worden sind. Die simbabwische Regierung verteilt jetzt als Gabe an die „dankbare“ Bevölkerung kostenlos Särge. So darf dieses Problem nicht gelöst werden. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin Gabriele Groneberg. ({0})

Gabriele Groneberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003540, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, Herr Königshaus, ist das letzte Beispiel gravierend. Zurzeit wütet die Cholera in Simbabwe. Mindestens 500 Menschen sind daran schon gestorben. Die Nichtregierungsorganisationen gehen sogar schon von über tausend Toten aus. Man empfindet Trauer und Wut, wenn man sich das im Fernsehen anschauen muss und wenn man die Berichte darüber hört. Die Probleme, die aus dem Umgang mit dieser Epidemie resultieren, sind hausgemacht. Wir wissen, dass Simbabwe unter dem seit 1980 regierenden Präsidenten Mugabe restlos zusammengebrochen ist. In dem ehemals reichen Land ist jetzt die Krankheit zum Ausbruch gekommen, die ein sicheres Zeichen für Armut und Vernachlässigung ist. Die Trinkwasserversorgung und das Kanalisationssystem in der Hauptstadt Harare sind komplett kollabiert - und das nicht erst seit gestern. Mich hat eigentlich gewundert, dass die Cholera erst jetzt so massiv zum Ausbruch kommt. Eine sanitäre Grundversorgung gibt es nicht. Die Menschen trinken das Wasser, woher auch immer sie es bekommen: aus verseuchten Brunnen, Wasserlöchern und Flüssen. Das ist deshalb so gefährlich, weil die Erreger nicht einzudämmen sind und nicht vor Grenzen haltmachen. Sie breiten sich schon jetzt in Richtung Südafrika, Botswana und Sambia aus. Die Erreger der Krankheit, die in den Fäkalien zu finden sind und die in die Flüsse und in das Meerwasser gelangen sowie Fische und andere Nahrungsmittel kontaminieren, führen zu vielen anderen Begleiterscheinungen, die sich auch in anderen Ländern in der nächsten Zeit zeigen werden. Damit möchte ich zur Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zum Thema sanitäre Grundversorgung überleiten. Auf Seite 2 der Vorbemerkung heißt es, dass Entwicklungspolitik Hilfe zur Selbsthilfe leistet. Wichtig sei die Stärkung der nationalen Handlungskapazitäten durch Strukturreformen; dies sei mittel- und langfristig der einzige Weg, diese Ziele nachhaltig zu erreichen. Bei sogenannten Failed States wie Simbabwe gibt es diese Handlungskapazitäten nicht. Auch Bad Governance können wir als einen Grund identifizieren, warum Menschen der Zugang zu sanitärer Grundversorgung versagt ist. Die Millenniumsentwicklungsziele sind bereits erwähnt worden - darauf brauche ich jetzt nicht weiter einzugehen -: Es ist in der Tat mangelndes Bewusstsein auch bei uns, was uns den Umgang mit diesem Thema so schwer macht. ({0}) Warum ist das eigentlich so? Wie die Kollegen schon deutlich gesagt haben, sind Toiletten für uns eine Selbstverständlichkeit - selbst wenn wir uns manchmal schönere wünschen -; 42 Prozent der Menschen weltweit haben aber keine angemessene Toilette. Ich frage Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer: Können Sie sich ein Leben ohne Toilette eigentlich noch vorstellen? Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie mehr als sechsmal am Tag zur Toilette gehen? ({1}) Haben Sie schon einmal überlegt, wie viel Zeit Sie auf dem stillen Örtchen verbringen? ({2}) - Der Kollege Hilsberg schüttelt sich vor Lachen. - Es ist doch in der Tat so, dass man darüber erst dann nachdenkt, wenn die Probleme so gravierend sind, dass man dazu gezwungen wird. Es sind mehr als drei Jahre des Lebens - auch deines Lebens, lieber Kollege Hilsberg -, die man auf der Toilette zubringt. Allein das zeigt uns, wie wichtig diese Angelegenheit ist. Wenn wir uns bewusst machen, dass die Menschen bei uns zum Wegspülen von Fäkalien, also mit ihrer Toilettenspülung, im Laufe ihres Lebens ungefähr 50 000 Liter Trinkwasser verschmutzen, dann ist klar: Auch für uns wird sanitäre Grundversorgung letztendlich immer ein Thema bleiben, und zwar in dem Maße, in dem Wasser teuer und knapp ist. Dass das Ganze auch etwas mit der Ungleichheit der Geschlechter zu tun hat, fällt uns auf, wenn wir auf Reisen sind und kein stilles Örtchen in der Nähe ist. Die von Sibylle Pfeiffer geschilderten Probleme betreffen vor allen Dingen die jeweiligen Frauen und Mädchen, und das in einer Art und Weise, die wirklich gravierend ist, weil die menschliche Würde verletzt wird. Die Einsicht in die Notwendigkeit haben wir auch international zum Ausdruck gebracht; ich verweise auf das, was in den MDGs festgelegt ist. Ich muss sagen: Uschi Eid, da gebührt auch dir Dank. Die deutsche entwicklungspolitische Zusammenarbeit ist in diesem Bereich sehr gut aufgestellt. Liebe Sibylle Pfeiffer, ich möchte dir ein bisschen widersprechen: Es ist durchaus so, dass unsere Durchführungsorganisationen dafür ein Bewusstsein haben. ({3}) - Okay, es ist nicht prioritär. Im Rahmen meiner Beschäftigung mit diesem Thema habe ich mir erst einmal angeschaut, was wir in diesem Bereich machen. Es ist natürlich eine gute Idee, eine Verbindung zwischen Trinkwasserversorgung und sanitärer Ver- bzw. Entsorgung herzustellen. Ich wiederhole: Uschi Eid gebührt Dank dafür, dass sie sich in diesem Bereich seit Jahren massiv engagiert. Unsere Konzepte im Bereich der sanitären Grundversorgung überschneiden sich mittlerweile mit Konzepten im Bereich der erneuerbaren Energien. Die Konzepte in beiden Bereichen müssen nachhaltig, ressourcenschonend und zielgruppenorientiert ausgerichtet sein, um einen dauerhaften Nutzen erzielen zu können. Wichtig ist vor allen Dingen ihre dezentrale Einsetzbarkeit, die wir hier immer wieder im Hinblick auf die ländliche Entwicklung fordern. Es gibt weitere Punkte, an denen sich diese beiden Bereiche berühren: Man kann Fäkalien, etwa Urin, nicht nur als Abfall, sondern auch als Biomasse zum Betreiben von Biogasanlagen ansehen. ({4}) Da setzt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in vorbildlicher Art und Weise an: Wir setzen auf ökologisch nachhaltige Kreislaufsysteme. ({5}) Dem wird auch mit dem Sektorkonzept „ecosan“ Rechnung getragen. ({6}) - Richtig: vorbildlich, weltweit. - Das ist einfach ein Kennzeichen einer neuen Ausrichtung der sanitären Grundversorgung, die man in den Entwicklungsländern übernehmen sollte. Der Ansatz, den wir dort verfolgen, berücksichtigt die lokalen Gegebenheiten und trägt dazu bei, die Sanitärsysteme bedarfsgerecht zur Verfügung zu stellen. Der Bereich Biomasse wird einen großen Teil des künftigen Konzepts ausmachen; denn die Versorgung mit Energie ist heute wichtiger denn je. Viele Projekte sehen mittlerweile die Nutzung von Gas aus der Klärgrube zum Heizen oder Kochen vor. Wir haben gerade über Entwicklungsorganisationen geredet. Ein gutes Beispiel ist BORDA in Bremen. Diese Organisation leistet eine hervorragende Arbeit; ich habe mir das bei verschiedenen Gelegenheiten anschauen können. Was BORDA erreicht, sollten wir im Hinterkopf behalten. Ich halte fest: Kreislaufsysteme erscheinen als eine perfekte Möglichkeit, die Lösung zweier Probleme zu verbinden. Wir müssen uns trotzdem kritisch fragen, ob unsere Lösungsansätze im Sanitärbereich für unsere Partner in der Entwicklungszusammenarbeit richtig sind, ob wir die Kultur und die Eigenarten der Länder und der Bewohner wirklich ausreichend berücksichtigen. Viele Konzepte sind in der Vergangenheit genau daran gescheitert. Andere Länder - andere Standards, kann ich da nur sagen. Unsere Konzepte sind offensichtlich nicht so einfach auf andere Länder zu übertragen. Es fehlt an Infrastruktur und an Wissen zum Betrieb und zur Abrechnung sowie vieles andere. Wenn wir leitungs- und nicht leitungsgebundene Wasserversorgungs- und Basissanitärsysteme ausbauen und erneuern, ist es auch wichtig, beim Aufbau von Verwaltungsstrukturen mitzuhelfen, ({7}) Wartungs- und Reparatursysteme einzuführen, die Menschen vor Ort einzubinden und ihnen zu sagen, warum wir das machen und warum das wichtig ist, damit sie das annehmen. Was nutzt eine tolle Sanitäranlage in irgendeinem Slum, die von den Menschen nicht benutzt wird, weil sie nicht wissen, wie sie damit umzugehen haben? Darum ist die Aufklärung und die Bewusstseinsbildung der Bevölkerung ein ganz wichtiger Punkt. Ich freue mich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, dass Sie mir mit Ihrer Großen Anfrage an die Bundesregierung Gelegenheit gegeben haben, aufzuzeigen, welchen Stellenwert mittlerweile für uns die Trinkwasser- und Sanitärversorgung gerade im Zusammenhang mit der Armutsbekämpfung hat. Ich muss allerdings auch sagen: Dass Sie nach Vorlage der Antworten in Ihrem Antrag schreiben, die Bundesregierung habe zu wenige Maßnahmen zur Beseitigung der Ursachen ergriffen, ist nicht wirklich überzeugend. Wir sind dabei. Die Umsetzung - das wissen Sie selber - dauert selbst bei Vorlage eines Konzepts ein paar Jahre, bis man die Mittel vor Ort in Projekte einbinden kann. Wir werden natürlich die Zeit haben, uns bei der Beratung des Antrages im Ausschuss noch darüber zu verständigen, wie wir damit umgehen. Ich würde es wirklich begrüßen, wenn wir hier fraktionsübergreifend zu einer Einigung kommen könnten und wenn wir hier öfter darüber reden könnten, gerade auch zu einer guten Zeit wie heute Mittag. Ich glaube, unsere Bevölkerung ist in vielen Fällen nicht unbedingt informiert, weil die sanitäre Grundversorgung in der Tat ein Tabuthema ist. Insofern ist es schön, dass wir darüber geredet haben, aber wir sollten nicht nur darüber reden, sondern auch eine Menge tun. ({8}) Insofern danke ich für Ihr Interesse. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Hüseyin Aydin, Fraktion Die Linke. ({0})

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Simbabwe ruft den Notstand aus, Tausende Menschen seien bereits an Cholera gestorben, mehr als 12 000 Menschen seien infiziert. Der Grund: kein sauberes Wasser. Der Zugang zu Wasser ist ein Menschenrecht. Weltweit steht genügend Wasser zur Verfügung. Ob es jedoch sauber und trinkbar ist und wie es verteilt wird, hat mit dem sozialen Gefälle in der Gesellschaft zu tun, aber auch mit dem Handeln der Regierungen. Das Recht auf Wasser ist unteilbar mit dem Recht auf sanitäre Grundversorgung verbunden. Was würden wir tun, wenn wir erst einmal eine halbe Stunde aus dem Dorf herauslaufen müssten, um uns hinter irgendeinen Busch zu hocken? ({0}) Im subsaharischen Afrika sind es zwei von drei Menschen, die unter solch menschenunwürdigen Bedingungen leben. Alle 20 Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an einfachen Erkrankungen wie Durchfall. Bei schlechter Abwasserbehandlung kommt es zu Cholera- und Ruhrepidemien, wie in Simbabwe. In Lusaka, der Hauptstadt von Sambia, leben 70 Prozent der Bevölkerung in informellen Siedlungen am Stadtrand. Hier greifen die Menschen auf die einfachsten Mittel zurück, wie die der „fliegenden Toiletten“: Man macht in eine Plastiktüte und wirft sie dann auf der Straße weg. Die Gefahr der Ansteckung ist enorm. Die Probleme der sanitären Grundversorgung betreffen vor allem Mädchen und Frauen. Mangelnde Privatsphäre und Scham führen oft zu einer langen Verschleppung von Klogängen und so zu Erkrankungen. Viele Mädchen besuchen mangels Toiletten keine Schulen; Frau Eid wies bereits darauf hin. Ein Teufelskreis aus schlechten sanitären Verhältnissen, mangelnder Bildung, Krankheit und Armut! Von der Erreichung des UN-Millenniumsziels, die Zahl der Menschen ohne Zugang zu Wasser und Abwasserentsorgung zu halbieren, sind wir weit entfernt. Pro Sekunde muss mehr als eine Toilette gebaut werden. Nur etwa 10 Prozent der Abwässer werden in den Entwicklungsländern geklärt. Es gibt kaum Kanalisation. Die Grünen sprechen also mit ihrem Antrag ein notwendiges Thema an. Viele von den dargelegten Forderungen können wir nur unterstützen. Ich möchte jedoch noch auf einige Punkte hinweisen: Der von Ihnen angesprochene Evian Actions Plan der G 8 von 2003 setzt bei Wasserver- und -entsorgung auch auf private Versorger. Private Versorger und Investitionen im Wassersektor haben in vielen Entwicklungsländern bereits zu katastrophalen Verhältnissen geführt. Es gibt Beispiele von unbezahlbaren Wasser- und Anschlusspreisen, was in Cochabamba in Bolivien zum Aufstand geführt hat. Wir brauchen dezentrale und technisch einfache Lösungen. Sanitärkonzepte müssen, wie auch Sie ganz richtig sagen, mit Konzepten in der Landwirtschaft und im Energiebereich zusammengeführt werden. Hier ist viel Potenzial für Biogasanlagen und für Düngeversorgung. Der Bedarf ist enorm. Diese Konzepte bringen kein Geld. Aber sie bedeuten Lebensqualität und Würde für die Menschen vor Ort. Darum geht es uns. Wir unterstützen den Antrag der Grünen, und wir werden die Umsetzung der Bundesregierung sehr genau beobachten, weil der Zugang zu Wasser ein Menschenrecht ist. Auch wenn die Bundesregierung mit 350 Millionen Euro im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit die Verhältnisse zu verbessern versucht - uns wurden bei unseren Besuchen bereits positive Beispiele gezeigt -, bedarf es hier vermehrter Anstrengungen. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/11204 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 42 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ina Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Bessere Vereinbarkeit von Familie und Dienst in der Bundeswehr - Drucksachen 16/8241, 16/10376 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion. ({0})

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 2005 ist das Soldatinnen- und Soldatengleichstellungsgesetz in Kraft getreten mit der Forderung nach familiengerechten Arbeitszeiten und Rahmenbedingungen und natürlich mit dem Benachteiligungsverbot bei Teilzeitbeschäftigung. Das muss seit dieser Zeit von der Bundeswehr umgesetzt werden. 2001 hat Tanja Kreil vor dem Europäischen Gerichtshof das Recht erstritten, die erste Soldatin der Bundeswehr zu sein. Schon damals hätte sich die rot-grüne Bundesregierung auf den Weg machen können, Soldatinnen mit attraktiven Angeboten anzuwerben. Das war aber von der damaligen Bundesregierung nicht gewollt. Alle Anträge der FDP-Bundestagsfraktion auf Öffnung der Bundeswehr für Frauen wurden abgelehnt. Nun haben wir sie seit Jahren, die qualifizierten Frauen in der Bundeswehr. Doch die Bundeswehr hat bis heute nicht die notwendigen Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst umgesetzt. Das kritisieren wir Liberale. Mit erheblicher zeitlicher Verzögerung hat erst im Mai 2007 der Generalinspekteur der Bundeswehr, Schneiderhan, eine Teilkonzeption Vereinbarkeit von Familie und Dienst in den Streitkräften erlassen. Um es gleich vorwegzusagen: Die Teilkonzeption ist bis jetzt nicht in die Praxis umgesetzt worden. Kein Wunder! Denn in ihr ist zu lesen: Es wird „angestrebt“, „Hilfe zur Selbsthilfe“, es wird „entwickelt“, „geplant“. Es wird also geprüft, geprüft und nochmals geprüft. So sieht es aus. Für Pilotprojekte muss sogar das Geld aus dem Topf für Familienmaßnahmen genommen werden. Das heißt, bestehende Maßnahmen für Familien werden dafür gekürzt. Der Wehrbeauftragte der Bundeswehr, Reinhold Robbe, hat wiederholt und auch in diesem Jahr die mangelnde Unterstützung von Soldatinnen bei der Vereinbarkeit von Dienst und Familie öffentlich kritisiert. Er hat das Bundesverteidigungsministerium und die Bundesregierung aufgefordert, die Verhältnisse endlich zu verbessern. ({0}) Das sind die Schwerpunkte der Großen Anfrage der FDP, die wir heute beraten: zum einen die Vereinbarkeit von Familie und Dienst und zum anderen die Gleichstellung von Frauen in den Streitkräften. Was sind nun die Antworten der Bundesregierung zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst? Bereits im Bericht des Wehrbeauftragten 2005 wurde ausgeführt: Kinderbetreuung ist für Soldatinnen und Soldaten ein dringendes Problem. Und was antwortet die Bundesregierung auf unsere Große Anfrage? Kommunale Kinderbetreuungseinrichtungen sollen den abweichenden zeitlichen Bedarf an Betreuungsplätzen abdecken. - So werden die Familien der Soldatinnen und Soldaten von dieser Bundesregierung im Regen stehen gelassen. ({1}) Herr Staatssekretär, ich frage Sie: Warum - das ist eine Idee, die ich Ihnen gerne weitergeben würde - können die 31 Familienzentren der Bundeswehr, die schon jetzt für Familien von Soldaten, die im Auslandseinsatz sind, zur Verfügung stehen, nicht für die Kinderbetreuung geöffnet werden? Das wäre eine gute Sache. ({2}) Das wären 31 Modellversuche. Hier könnte man sehr schnell etwas machen. Ich habe gehört, dass in manchen Einrichtungen schon Außenanlagen für Kinderbetreuung gebaut worden sind. Hier wäre also Platz für zielgenaue Hilfe. Liebe Kollegen und Kolleginnen, der Bundeswehr laufen im Sanitätsdienst die Ärzte und Ärztinnen davon, so die Presse in dieser Woche. Der Bundeswehr-Verband nennt als Gründe unter anderem schlechte Bezahlung und auch schlechte Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Nun soll es eine Gehaltserhöhung von monatlich 600 Euro geben, die, glaube ich, zeitlich befristet ist. Aber, Herr Kossendey, ich frage Sie: Was will der Bundesverteidigungsminister gegen die Familienunfreundlichkeit in der Truppe tun? Ich zitiere dazu die Aussagen des Bundesverteidigungsministeriums: Familienfreundliche Strukturen sind Ausdruck praktizierter Fürsorge. Das werden Sie sicher unterschreiben, Herr van Essen. Sie erhöhen die Motivation und stärken die Bindung zwischen dem Dienstherrn und seinen Soldatinnen und Soldaten. Ich kann nur sagen: Viel Lärm um nichts! Papier ist geduldig. ({3}) Die Bundesregierung erweckt den Eindruck, als sei alles bestens. In ihren Antworten auf unsere Große Anfrage wird behauptet, dass „nahezu an allen Standorten der Bundeswehr eine ausreichende Grundversorgung mit Kinderbetreuung sichergestellt ist“. Wie diese ausreichende Grundversorgung aussieht und wie die Soldatinnen davon wirklich profitieren könnten, darauf gibt die Bundesregierung jedoch keine Antwort. Es wird auf die Zentrale Dienstvorschrift und die Teilkonzeption zu Vereinbarkeit von Familie und Dienst verwiesen und angemerkt, dass jetzt weiter an dieser Teilkonzeption gearbeitet werde. Was bedeutet das, Herr Kossendey? Das bedeutet doch nichts anderes, als dass es auf den SanktNimmerleins-Tag verschoben wird. Vor der Wahl wird da wahrscheinlich nichts mehr geschehen. Damit hat diese Bundesregierung den Schwarzen Peter. Im Fall einer Versetzung zum Beispiel - das ist an mich herangetragen worden - erfahren Familien erst drei Tage vor Dienstantritt, wohin es geht. Es gibt einige wenige positive Antworten vonseiten der Bundesregierung: Das Eltern-Kind-Arbeitszimmer gibt es an fast 40 Standorten. Außerdem bemüht sich die Bundeswehr, die durchschnittliche Entfernung zwischen den Dienstorten von Ehepartnern geringer zu halten. Es gibt 114 weibliche Offiziere, die in Teilzeit arbeiten; davon sind jedoch - das ist die Krux - 113 im Sanitätsdienst. Wir sehen also, dass da nichts geschieht. Bei der Gleichstellung von Frauen in Streitkräften geschieht nur sehr wenig. Im Zusammenhang mit der Umsetzung der Sicherheitsresolution 1325 wurde gesagt, das könne sich nur auf der Zeitschiene verändern.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Lenke.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme gleich zum Schluss.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich bitte darum.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Auf Deutsch gesagt: Unbestimmter geht es nicht. Die Gleichstellung von Frauen in den Streitkräften und der Gender-Aspekt spielen eine untergeordnete Rolle. Ich komme jetzt - leider - zum Schluss. Diese Bundesregierung gefährdet die Nachwuchsgewinnung der Bundeswehr, wenn sie nichts tut.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Sie hatten bereits sieben Minuten, und Sie überziehen gerade um eine weitere Minute.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich wollte meinen Schlusssatz sagen. Darf ich?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ja.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die FDP wird sehr aufmerksam beobachten, was die Große Koalition im Sinne der Vereinbarkeit von Familie und Dienst noch vor der Bundestagswahl in dieses Parlament einbringen wird. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär der Verteidigung, Thomas Kossendey. ({0})

Thomas Kossendey (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001188

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir vor 20 Jahren den Tagesordnungspunkt „Vereinbarkeit von Familie und Dienst in der Bundeswehr“ aufgesetzt hätten, dann wäre uns die Öffentlichkeit, aber auch das Parlament wahrscheinlich mit einem gewissen Lächeln begegnet. Ich glaube, damals war noch nicht die Zeit dafür. Heute, in einer Zeit, in der wir Frau von der Leyen als Familienministerin haben, ist die Situation anders. Die Familie ist in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt und damit auch innerhalb der Bundeswehr ein Schwerpunkt geworden. ({0}) - Frau Lenke, Sie haben ja gerade hier so engagiert vorgetragen. Ich darf Ihnen eine Zahl nennen: Heute sind bereits 800 Soldaten - männliche Soldaten - in der Elternzeit. ({1}) Das ist eine Situation, die wir uns vor einigen Jahren kaum vorstellen konnten. Dadurch zeigt sich, dass dort langsam, aber sicher ein Bewusstseinswechsel eintritt. Für uns im Ministerium ist es ganz wichtig, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf herzustellen. Sie hat geradezu eine strategische Bedeutung. Ich will Ihnen gerne sagen, was wir in diesem Bereich tun. Natürlich ist es nicht immer ganz leicht, das, was zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst beiträgt, mit den dienstlichen Anforderungen in Übereinstimmung zu bringen. Hier liegt auch die Schwierigkeit, auf die Sie, glaube ich, mit keinem einzigen Wort eingegangen sind. Natürlich sehen auch wir, dass wir durch den Arbeitsmarkt gezwungen werden, viel mehr als in der Vergangenheit zu tun, und ich hätte mir gewünscht, dass wir früher damit angefangen hätten; auch das ist richtig. Aber für uns gibt es keine Alternative zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Wir müssen allerdings darauf achten - das will ich wiederholen -, dass wir den Besonderheiten des Dienstes dabei Rechnung tragen. Damit Sie einige zusätzliche Informationen bekommen, will ich Ihnen sagen, was passiert ist. Im Frühjahr 2007 haben wir das Konzept beschlossen, durch das die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Dienst erreicht werden soll. ({2}) Mittlerweile haben wir es Schritt für Schritt umgesetzt. Der Wehrbeauftragte Robbe, der gestern hier gesprochen hat, hat gesagt, das sei nur bedrucktes Papier. ({3}) Möglicherweise sollte er sich etwas intensiver in der Truppe umtun, dann würde er einige Beispiele sehen. ({4}) - Nein, Herr Goldmann, der Kollege Robbe ist da; machen Sie sich keine Sorgen. Ich sage Ihnen aber sehr deutlich: Langfristig wird es hier keine wesentlichen Fortschritte geben, wenn wir nicht zusätzliches Geld dafür in die Hand nehmen. Das ist eine Sache, bei der auch das Parlament mitbestimmen muss. ({5}) - Ich komme ja dazu. - Pauschale Lösungen wird es nicht geben. Wir sind in einigen Bereichen weiter, als Sie glauben machen wollen. ({6}) - Ich nenne Ihnen gleich die Standorte. - Im Bereich der Kinderbetreuung und im Bereich der Pendlerunterkünfte haben wir einiges ins Werk gesetzt. Im Bereich der Kinderbetreuung haben wir Pilotstandorte ausgesucht, an denen wir sehr präzise prüfen wollen, welche Bedürfnisse vorhanden sind. Frau Lenke, es gibt Standorte - das wissen wir alle -, an denen der Betreuungsbedarf durch die kommunalen Träger gut abgedeckt ist. Es gibt aber auch Standorte, an denen wir das nachbessern müssen. Deswegen haben wir an vier großen Standorten sehr präzise Untersuchungen darüber angestellt, wo und wie wir die Kinderbetreuung besser organisieren können. Das müssen wir als Bundeswehr nicht alleine machen, sondern das können wir in Kooperation mit den kommunalen und freien Trägern tun. An den Standorten Wilhelmshaven, Koblenz-Lahnstein, Westerstede und Seedorf haben wir sehr konkrete Dinge ins Werk gesetzt. Sie werden das bei Ihren Besuchen vor Ort erfahren. Ihre Idee, das an die Familienbetreuungszentren anzugliedern, mag aufs Erste verheißungsvoll erscheinen. Wenn man das nachprüft, sieht man aber, dass das schwierig würde; denn diese Familienbetreuungszentren sind doch sehr weit von den Wohnorten der Menschen entfernt, die wir damit - ich sage das in diesem Falle einmal so - beglücken wollen. Das wird uns nicht weiterhelfen. Ich will auf die Teilzeitbeschäftigung eingehen. Im Jahre 2007 waren mehrere Hundert Soldatinnen und Soldaten teilzeitbeschäftigt. Wir können dort natürlich nachbessern. Wir brauchen auch mehr Geld für Telearbeitsplätze. Mit der Einrichtung dieser Plätze haben wir angefangen. Die ersten Erfolge zeigen sich. Ich denke, dass die modernen Arbeitszeitmodelle bei uns in Anspruch genommen werden. Auch das geht aus der Antwort auf Ihre Große Anfrage hervor. - Ich will ergänzen, dass wir mittlerweile an 37 Standorten Eltern-KinderZimmer eingerichtet haben. ({7}) Der Kollege Robbe, der gestern sagte, das stehe alles nur auf Papier, ist herzlich eingeladen, diese Standorte zu besuchen. Allerdings wird es wahrscheinlich kein flächendeckendes Netz geben; das werden wir nicht schaffen. Aber überall dort, wo wir in guter Kooperation und in unterschiedlicher Art und Weise Lösungen schaffen, sind wir dabei, und zwar allein schon deswegen, weil mittlerweile 62 000 Soldatinnen und Soldaten Kinder haben. Das ist eine Verpflichtung, durch die wir auch angetrieben werden, auch unter dem Gesichtspunkt, dass wir auch bei einer etwas angespannten Situation am Arbeitsmarkt guten Nachwuchs wollen. Auch das ist für uns ein Thema, das wir nicht außer Acht lassen sollten. Wenn Sie noch ein konkretes Beispiel wissen wollen: Ich habe vor einem halben Jahr in Koblenz-Lahnstein einen Kindergarten mit ins Leben gerufen, bei dem die katholische Kirche besondere Öffnungszeiten für die Bundeswehrangehörigen aus dem nahe gelegenen Bundeswehrkrankenhaus eingerichtet hat. Ich bin der katholischen Kirche dankbar, dass sie für das erste - für dieses - Jahr die Kosten dafür übernommen hat. Wir werden im nächsten Jahr zu prüfen haben, ob wir diese Mittel aus dem Verteidigungshaushalt ergänzen. ({8}) Ich bin dafür, das zu tun. Dass entsprechender Bedarf besteht, zeigt allein schon der Umstand, dass wir für diesen Kindergarten für das nächste Jahr bereits eine Warteliste haben. Wir sind dabei, ein Kinderbetreuungsportal einzurichten; das mag Ihnen nicht entgangen sein. Dieses Portal soll insbesondere die negativen Aspekte vermeiden, die wir häufig dadurch erleben, dass Familien, die vor einer Versetzung im Rahmen der Bundeswehr stehen, häufig nicht genau wissen, wie die Kinderbetreuungssituation in den Gemeinden ist, in die sie kommen. Über das Kinderbetreuungsportal wollen wir aufklären und es ermöglichen, frühzeitig entsprechende Informationen zu erhalParl. Staatssekretär Thomas Kossendey ten. Ebenso wollen wir eine Chat-Ecke einrichten, in der sich Eltern aus Kreisen der Bundeswehr über die am Ort vorhandenen Kinderbetreuungsmöglichkeiten austauschen können, und zwar weit vor dem tatsächlichen Umzug im Rahmen einer Versetzung. Ich spreche als weiteren Punkt die Pendlerunterkünfte an. Wir werden an verschiedenen Standorten - zunächst insbesondere in Laupheim und Seedorf, aber auch in Augustdorf, wo es schon in Gang ist - für diejenigen Soldatinnen und Soldaten, die nach einer Versetzung nicht an den neuen Standort umziehen, geeignete Möglichkeiten der Unterbringung anbieten. Das halte ich für sehr wichtig. Nach wie vor werden wir prüfen, wie wir mit familienbedingten Abwesenheitszeiten im Dienstbetrieb umgehen, zum Beispiel beim Elternurlaub. ({9}) - Wir sind doch dabei. Sonst wären nicht schon 800 Männer in Elternzeit. - Wir werden diese Abwesenheiten durch eine weitere Flexibilisierung des Laufbahnrechts auffangen. Sie sind herzlich eingeladen, mit mir durch die Standorte zu fahren, um sich das anzusehen. Auf der letzten Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten in Mannheim hat der Minister durchweg von allen Damen, die dort vertreten waren, Lob dafür bekommen, dass wir dieses Thema anpacken, nachdem lange Zeit nichts passiert ist. Im Moment wird ein Handbuch zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst erarbeitet, damit jeder Kommandeur vor Ort weiß, was er zu tun hat. Allerdings wiederhole ich: Perspektivisch werden wir nicht weiterkommen, wenn es uns nicht gelingt, dafür Geld im Haushalt bereitzustellen. ({10}) Da sind Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen im Parlament, natürlich gefordert. Ich bin sehr froh darüber, dass der Minister entschieden hat, die Ausgaben, die mit Familie und Dienst zu tun haben, demnächst im Haushalt gesondert auszuweisen, damit wir präzise nachprüfen können, was uns diese Angelegenheit wert ist; denn leider ist das Geld häufig das wichtigere Thema. Lassen Sie mich noch einiges zur Frage der Gleichstellung sagen. Die Zahl der Soldatinnen innerhalb der Bundeswehr hat sich in den letzten Jahren verdreifacht. Mit 15 200 Soldatinnen und einer Quote von 8,5 Prozent liegen wir durchaus im NATO-Mittel, und wir bleiben auch dabei, dass wir im Sanitätswesen 50 Prozent und in den übrigen Bereichen 15 Prozent erreichen wollen. Das ist eine wichtige strategische Aufgabe für uns. ({11}) Ergänzend sei gesagt: Wir sind dankbar, wenn der Druck aus dem Parlament, diese Aufgabe noch intensiver anzupacken, nicht nachlässt; denn dabei geht es häufig um das Bewusstsein im politischen sowie im administrativen Raum. So war es in diesem Ministerium, das männerdominiert ist, nicht leicht, für dieses Thema eine gewisse Akzeptanz zu finden. ({12}) Wir dürfen dies allerdings nicht isoliert nur für den Bereich der Bundeswehr betrachten. Das ist ein Problem, das wir im gesamtgesellschaftlichen Kontext sehen müssen. Ich kann Sie eigentlich nur ermutigen, in Ihrem Verlangen nicht nachzulassen, uns hierzu zur Rechenschaft zu bitten. Die Bundesregierung hat einiges mehr getan, begonnen beim Tagesbetreuungsausbaugesetz bis hin zum Kinderförderungsgesetz. Diese Gesetze sind selbstverständlich auch für die Bundeswehr gut. Aber ich ermutige Sie ausdrücklich, mit uns gemeinsam daran zu arbeiten, dass dieses Thema in der Öffentlichkeit und insbesondere der Bundeswehröffentlichkeit stärker verankert wird, damit es uns umso leichter fällt, die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr auch durch eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Dienst nachhaltig zu sichern. Herzlichen Dank. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die Kolleginnen Inge Höger, Fraktion Die Linke, und Petra Heß, SPD-Fraktion, sowie der Kollege Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Deshalb schließe ich die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 43 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - Drucksache 16/8980 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) - Drucksache 16/10507 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Michael Fuchs Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst, Fraktion Die Linke. ({1})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben im April 2008 einen Ge- 1) Anlage 4 setzentwurf vorgelegt, um die Neutralität des Sachverständigenrates zu gewährleisten. Wir wollten und wollen mit diesem Gesetz erreichen, dass die Mitglieder des Sachverständigenrates ihre Einkünfte offenlegen, wenn Interessenverbindungen, also andere Tätigkeiten, das erforderlich machen. Wir wollen, dass diese Einkünfte und Tätigkeiten veröffentlicht werden, und wir wollen, dass, wenn das nicht geschieht, eine Rückzahlung der Entschädigung durch diese Sachverständige erfolgt. Zum Zeitpunkt der Vorlage des Gesetzentwurfs im April war uns noch nicht klar, welche Aktualität er gewinnen würde. Fakt ist, dass der oberste Wirtschaftsberater der Bundesrepublik, Herr Rürup, jetzt, noch während er als Sachverständiger im Amt ist, bekannt gegeben hat, dass er demnächst zum Finanzberater AWD wechseln wird. AWD ist nicht irgendein Unternehmen. AWD macht 80 Prozent seines Umsatzes in Deutschland mit dem Verkauf von Vorsorgeprodukten für das Alter. Herr Rürup hat der Regierung Kürzungen bei der gesetzlichen Rentenversicherung vorgeschlagen. Er hat Millionen Menschen dazu gebracht, ihr Geld in Hoffnung auf eine hohe Rendite auf die Finanzmärkte zu tragen. Seinen Namen tragen Altersvorsorgeprodukte. Die Aufzählung der Ämter, die er schon heute bei Finanzdienstleistern und Versicherungskonzernen innehat, füllt die Rückseiten von Einladungen zu Veranstaltungen mit ihm. Und jetzt wechselt Herr Rürup, pünktlich zu seiner eigenen Pensionierung, zu einem der Profiteure der Rentenprivatisierung. Fakt ist: Jemand, der die Bundesregierung, die Öffentlichkeit und das Parlament in einer bestimmten Weise beraten hat, wird nun Profiteur seiner eigenen Beratung, weil er in einem Unternehmen, das von dieser Politik profitiert, tätig wird. Dazu könnte man sagen: Das ist in der freien Marktwirtschaft üblich; dagegen kann man nichts machen - möglich. Mit unserem Gesetzentwurf schlagen wir vor, dass zumindest die Interessenverbindungen bei Mitgliedern des Sachverständigenrates schon zum Zeitpunkt ihrer Tätigkeit offengelegt werden müssen, damit wir, die Bürger, das Parlament und auch die Regierung, wissen, woran wir sind, wenn wir „unabhängig“ beraten werden. ({0}) Im Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates ist die Neutralität des Sachverständigenrates festgeschrieben. Es heißt wörtlich: Der Sachverständigenrat ist nur an den durch dieses Gesetz begründeten Auftrag gebunden und in seiner Tätigkeit unabhängig. Diese Neutralität wird durch Herrn Rürup mehr als nur infrage gestellt. Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf zur Wahrung der Neutralität beitragen. Das kostet nichts, das ist auch nicht populistisch. Es ist schlichtweg ein Gebot der Stunde, wenn wir auf bestimmte Vorgänge politisch reagieren wollen. ({1}) Sie winken ab. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass Gerhard Schröder als Kanzler den Weg für die OstseePipeline geebnet hat und heute bei Gazprom im Aufsichtsrat sitzt. Wolfgang Clement hat die Leiharbeitsverhältnisse geradezu gefördert und leitet jetzt das AdeccoInstitut zur Erforschung der Arbeit beim Adecco-Konzern, einem der größten Leiharbeitskonzerne Europas. ({2}) Auch Herr Riester, der bekanntlich die Riester-Rente eingeführt hat, verdient am meisten als Vortragsreisender für die Versicherungsbranche. - Wenn wir das so lassen wollen und so dazu beitragen wollen, dass der Ruf der Politik weiter beschädigt wird, dann können wir so weitermachen. ({3}) Wir können es aber auch ändern, indem wir ein Gesetz beschließen, nach dem diese Dinge offengelegt werden müssen. Dann würde so etwas deutlich. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Ernst Hinsken, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ernst, Sie haben wieder die alte Platte aufgelegt: Neid, Neid, Neid! ({0}) Sie appellieren an die niedrigsten Instinkte des Menschen. Ohne auf die Problemstellung im Besonderen einzugehen, haben Sie die eine oder andere Person verunglimpft und an den Pranger gestellt. Lassen Sie mich aber zunächst darauf verweisen, was das eigentliche Thema ist, nämlich über den Sachverständigenrat insgesamt gesehen zu sprechen. Dieser Sachverständigenrat gehört seit 1963 zum wissenschaftlichen Tafelsilber der sozialen Marktwirtschaft. Seine Mitglieder sind die Vordenker unserer Wirtschaftspolitik. Hauptaufgabe ist die jährliche Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Dabei soll untersucht werden, wie die Ziele des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, die Stabilität des Preisniveaus, ein hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht - und dies alles bei einem stetigen Wirtschaftswachstum -, erreicht werden können. Politik und Wirtschaft verdanken dem Sachverständigenrat seit sage und schreibe 43 Jahren wertvolle Impulse. Über 49 Gutachten wurden in der Zwischenzeit erstellt. Sondergutachten bestimmten und beflügelten unsere Wirtschaftspolitik. Ich möchte besonders erwähnen und herausheben: Unvergessen und herausragend sind beispielsweise das Gutachten zur Ölkrise im Jahre 1973 und das Gutachten zu den Wirtschaftsreformen in der ehemaligen DDR 1990. Jetzt kommen Sie von den Linken und wollen diese Gutachter und Gutachten madigmachen. ({1}) Gerade Sie, Herr Ernst, tun so, als wüssten Sie alles besser. ({2}) Sie argumentieren populistisch, stellen den Zusammenhang nicht dar und sprechen nur an, was Ihnen passt. Wir brauchen aber harte Fakten und das Darstellen logisch zwingender Zusammenhänge, wie sie gerade der Sachverständigenrat liefert. ({3}) Wir brauchen diese ganz konkreten, an der aktuellen politischen Situation orientierten Vorschläge. Daran wollen gerade wir von der Unionsfraktion festhalten. Deutschland ist ein starkes und erfolgreiches Land. ({4}) - Vielen Dank, Kollege Meyer. - Der Sachverständigenrat hat diese Entwicklung hervorragend wissenschaftlich begleitet und gibt mit dem neuesten Gutachten vom 12. November 2008 mit dem Titel Die Finanzkrise meistern - Wachstumskräfte stärken weitere Impulse.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Hinsken, der Kollege Ernst würde gern eine Zwischenfrage stellen. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn es kurz geht, bitte. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Hinsken, ich habe eine sehr kurze Frage. Ich habe mit unserem Gesetzentwurf deutlich machen wollen, dass wir die Qualität des Sachverständigenrats und seine Ausführungen, die er bisher gemacht hat, nicht dadurch entwerten wollen, dass es bei einzelnen Mitgliedern des Sachverständigenrats für die Öffentlichkeit nicht zugängliche Interessenkonflikte aufgrund anderer Tätigkeiten gibt. Könnten Sie sich vorstellen, dass es die Bedeutung des Sachverständigenrats erhöhen würde, wenn die Bevölkerung, das Parlament und die Regierung jeweils wüssten, welche Gehälter das jeweilige Mitglied des Sachverständigenrats noch bezieht? Könnten Sie sich vorstellen, dass damit genau das, was Sie wollen, nämlich eine höhere Akzeptanz des Sachverständigenrats, gefördert werden kann?

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Werter Herr Kollege Ernst, Sie betreiben wieder einmal das Spiel mit dem Neid. ({0}) Die Gelder, die den Sachverständigen zur Verfügung gestellt werden, sind Peanuts im Vergleich zu vielen anderen Zuwendungen, die in der Bundesrepublik Deutschland diesbezüglich gezahlt werden. - Eines möchte ich hinzufügen: Ich kann mir einen guten Sachverständigenrat allemal vorstellen. Aber Sie würde ich für nicht befähigt halten. ({1}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich meine, dass wir uns den Sachverständigenrat von Ihnen, den Linken, nicht schlechtreden lassen dürfen. Gerade in der jetzigen Situation, angesichts der internationalen Finanzkrise und der sich eintrübenden Konjunktur, ist es unverzichtbar, die Ratschläge des Sachverständigenrates einzuholen und so weit wie möglich umzusetzen. ({2}) Wir von der Union haben eine Empfehlung aufgegriffen: Wir legen eine konjunkturgerechte Wachstumspolitik auf; Kollege Meyer hat vor wenigen Tagen hierzu eine bemerkenswerte Rede gehalten. Diese Maßnahmen geben Impulse für öffentliche und private Investitionen; dies geschieht auch durch unser gestern beschlossenes Beschäftigungssicherungsprogramm. Wir stärken den Mittelstand und das Handwerk; Bürger und Unternehmer werden entlastet. Der Konsum und die Binnenwirtschaft werden belebt. Unsere Bundeskanzlerin und unser Bundeswirtschaftsminister, Michael Glos, haben auf den Rat der Weisen gehört und entscheidende Weichenstellungen vorgenommen. Herr Staatssekretär Schauerte, Sie sind Kronzeuge in dieser Angelegenheit. Das sind Fakten und keine Wolkenkuckucksheime wie bei Ihnen von den Linken. ({3}) Ihnen, den Neokommunisten, ist doch ins Stammbuch zu schreiben: Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaft dürfen nicht ignoriert werden. Statt den Sachverständigenrat zu kritisieren, sollten Sie sich einmal vom Sachverständigenrat selbst Nachhilfeunterricht geben lassen; Herr Ernst, ich meine Sie. Dann würden Sie endlich auch die wichtigen Zusammenhänge begreifen und könnten hier konstruktiv mitarbeiten. ({4}) Mit Ihrem Populismus und Ihrer Umverteilungsrhetorik kommen wir nicht weiter. Das führt nicht aus der Krise heraus, sondern erst richtig hinein. Dieser Gesetzentwurf von Ihnen, den Linken, beweist erneut, dass Sie niemals an einer Regierung der Bundesrepublik Deutschland beteiligt sein dürfen. ({5}) Da Sie von der Linken bei den gegenwärtig zu bewältigenden Herausforderungen mit Ihrem Latein am Ende sind, ({6}) fällt Ihnen nichts anderes ein, als den Sachverständigenrat, wie man so schön im Volksmund sagt, durch den Dreck zu ziehen. Dies tun Sie wohl auch deshalb, weil Ihnen die Empfehlungen und der wirtschaftliche Sachverstand, der hier gebündelt ist, ein Dorn im Auge sind. ({7}) Unabhängig ist in Ihren Augen wohl nur jemand, der Ihnen nach dem Mund redet und Sie nicht von Ihrer dunkelroten Wolke herunterholt. Weil Sie keine Argumente haben und Ihnen jedes Verständnis für eine vernünftige Wirtschaftspolitik abgeht, versuchen Sie es auf diese fast hinterhältig zu nennende Weise. ({8}) Sie wollen nicht nur diese herausragenden Wissenschaftler treffen, sondern durch diese Persönlichkeiten auch unsere ganze soziale Marktwirtschaft. ({9}) Das lassen wir unter keinen Umständen zu. ({10}) Wir von der CDU/CSU werden dafür sorgen, dass die Mitglieder des Sachverständigenrats weiter hervorragende Arbeit leisten können. Ich fordere alle anderen Fraktionen auf: Lassen Sie uns gemeinsam über Parteigrenzen hinweg den Sachverständigenrat stärken statt ihn zu schwächen oder abzuschaffen! ({11}) Lassen Sie uns gemeinsam gegen die linke Neiddebatte vorgehen! Wir dürfen nicht zulassen, dass den Menschen etwas vorgegaukelt wird. ({12}) Im Großen und Ganzen ist es wichtig, das Folgende festzustellen: Eine hauptberufliche Tätigkeit im Sachverständigenrat wurde vom Gesetzgeber nicht festgelegt. Die Sachverständigen müssen unabhängig sein ({13}) vom Staat, von Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden und von den Gewerkschaften. ({14}) Bislang waren alle Räte Hochschulprofessoren. Im Sachverständigenrat sind Unabhängigkeit und wirtschaftlicher Sachverstand in besonderer und herausragender Weise repräsentiert. Die jetzt bestehenden Regelungen stellen sicher, dass dies künftig so bleibt. Sie haben sich bewährt und wesentlich zur hervorragenden Arbeit des Sachverständigenrates beigetragen. Hier brauchen wir von Ihnen, den Linken, keine vergifteten Verbesserungsvorschläge. ({15}) - Sie lachen über sich selbst, Herr Ernst. Dafür sind Sie ja bekannt. - Ihr Gesetzentwurf ist auch deshalb entbehrlich, weil die besondere Sorgfalt bei der Auswahl der Mitglieder des Sachverständigenrates sicherstellt, dass die Mitglieder dieses Gremiums nicht nur qualifizierte, sondern auch integere Persönlichkeiten sind. ({16}) Ich meine, abschließend feststellen zu dürfen und zu müssen: Auch in Zukunft brauchen wir in diesem Gremium die besten Köpfe. ({17}) Der von Ihnen, den Linken, geforderte Zwang zur Offenlegung der Tätigkeiten und Einkünfte ist kontraproduktiv, da der Anreiz, nebenberuflich zeitintensiv im Sachverständigenrat mitzuarbeiten, ganz stark zurückgehen würde. Die geringen Kosten, die die Tätigkeiten der Sachverständigen verursachen, kommen durch deren Ratschläge vielfach wieder rein. Wir brauchen auch in Zukunft einen starken Sachverständigenrat. Deshalb werden wir ihn weiterhin unterstützen und gegenüber Ihnen, den Neokommunisten, auch in Schutz nehmen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege!

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort erhält der Kollege Ernst Burgbacher, FDPFraktion. ({0})

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke wirft ihre üblichen Nebelkerzen und versucht, Dinge in die Welt zu setzen, die völlig an den Tatsachen vorbeigehen. Deshalb will ich einen Teil meiner Redezeit darauf verwenden, das noch einmal klarzustellen. Herr Ernst, Sie sprechen sich für die Offenlegung von Interessenverbindungen aus. Das ist völlig richtig, aber das ist längst der Fall. Dafür brauchen wir diese Debatte nicht. ({0}) Über das Verhalten gibt es tatsächlich immer wieder Diskussionen. Auch wir haben uns darüber unterhalten, ob das Verhalten von Schröder, Müller oder Tacke in Ordnung war. Auch wir fragen uns manchmal, ob es in Ordnung ist, wenn Linke in bestimmten Gremien vertreten sind. Uns geht es hier im Parlament aber doch um die Voraussetzungen. Lassen Sie sich einmal in aller Kürze sagen, dass es bereits bestehende Regelungen zur Offenlegungspflicht von Nebeneinkünften aller Ratsmitglieder gibt; denn alle Ratsmitglieder sind Hochschulprofessoren. Jedes Hochschulgesetz der Länder schreibt klipp und klar die Offenlegung von Nebeneinkünften vor, aber noch viel mehr. ({1}) Alle Hochschulgesetze schreiben vor, dass Nebentätigkeiten durch den Dienstherrn genehmigt werden müssen. Die Landesbeamtengesetze, die Hochschulgesetze der Länder und die Satzungen der deutschen Universitäten sehen vor, dass Nebentätigkeiten genehmigungspflichtig und die Einkünfte offenzulegen sind. ({2}) Herr Ernst, bevor Sie Anträge stellen und eine Debatte vom Zaun brechen, sollten Sie vielleicht ab und zu ins Internet gehen. Ich empfehle Ihnen die Internetseiten der Universitäten in Würzburg, in Regensburg, in Mainz, in Darmstadt und in Mannheim. Dort können Sie ganz genau sehen, welche Nebentätigkeiten die Mitglieder des Sachverständigenrates ausüben. Das Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates schreibt in § 1 Abs. 3 klar und unmissverständlich vor, dass die Mitglieder des Sachverständigenrates … weder der Regierung oder einer gesetzgebenden Körperschaft des Bundes oder eines Landes noch dem öffentlichen Dienst des Bundes, eines Landes oder einer sonstigen juristischen Person des öffentlichen Rechts, es sei denn als Hochschullehrer oder als Mitarbeiter eines wirtschafts- oder sozialwissenschaftlichen Institutes, angehören … dürfen. Weiter heißt es: Sie dürfen ferner nicht Repräsentant eines Wirtschaftsverbandes oder einer Organisation der Arbeitgeber oder Arbeitnehmer sein … Offener kann man das doch gar nicht legen. Sie sollten davor nicht die Augen verschließen und der Öffentlichkeit irgendetwas vorlügen, was überhaupt nicht stimmt. ({3}) Um was es Ihnen wirklich geht, das erfahren wir am besten, wenn wir die Rede von Gysi in der ersten Lesung nachlesen: Es geht darum, die Arbeit des Sachverständigenrates zu diskreditieren. Es geht darum, unser ganzes System zu diskreditieren. Das wird Ihnen aber nicht gelingen, da Sie völlig falsche Dinge in die Welt setzen. Schauen Sie doch einmal ins Internet, schauen Sie sich einmal die Gesetze an, dann ist alles geregelt. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Reinhard Schultz.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist wirklich nicht ganz einfach, sich zum zweiten Mal zu diesem „wegweisenden“ Gesetzentwurf Gedanken zu machen und dazu etwas Sinnvolles auszuführen. Trotzdem will ich mich dieser Mühe unterziehen. Ich hätte eigentlich gedacht, dass die Linken nach der Vorlage des aktuellen Gutachtens ihren Gesetzentwurf zurückziehen, weil die Sachverständigen, die eigentlich für angebotsorientierte und staatsferne Wirtschaftsstrategien bekannt sind, zur Überraschung aller dieses Mal richtig zugelangt und ein Keynesianisches Modell in Milliardenhöhe vorgeschlagen haben, was den Vorschlag der Bundesregierung und der Koalition noch um Längen getoppt hat und eigentlich zu dem passt, was man aus dem Bereich der Linkspartei an Forderungen gehört hat. Da habe ich mir gedacht: Jetzt passt das zusammen. Jetzt werden sie ihren Frieden mit dem Sachverständigenrat machen. - Aber nein, Ihr überschäumender Eifer war einfach nicht zu bremsen. Daher müssen wir uns heute mit diesem Gesetzentwurf auseinandersetzen. Zur Unabhängigkeit ist von Herrn Burgbacher schon einiges Treffendes gesagt worden. Bei den Sachverständigen handelt es sich in der Regel um Hochschullehrer, deren Nebentätigkeiten genehmigungsbedürftig sind und die inzwischen auch an allen Hochschulen veröffentlicht werden; dort gibt es lange Veröffentlichungsregister. ({0}) Es ist nicht so, dass zum Beispiel Bert Rürup zufällig auf der Straße entdeckt ({1}) und dann von der Bundesregierung aufgefordert worden ist: Mein lieber Junge, jetzt befass dich einmal in unserem Auftrag mit Fragen der Altersvorsorge. Vielmehr war es so, dass er als Sachverständiger genommen wurde, weil er von diesem Thema schon vorher Ahnung hatte und weil er schon vorher strategische Hinweise gegeben hat, die für die Politik so interessant waren, dass man sagte: Lasst den mal zusammen mit anderen Vorschläge erarbeiten, wie die gesetzliche Rente um ein kapitalgedecktes privates Element ergänzt werden kann. 21042 Es war so, dass er genommen wurde, weil er sich vorher Gedanken über dieses Thema gemacht hat. Er war doch nicht völlig unbefleckt und ist dann von den langen Krakenarmen derjenigen, die private Altersvorsorgeprodukte auflegen, sozusagen an Land gezogen worden. Ich finde es anständig, was Herr Rürup tut: dass er, weil er bei einem privaten Unternehmen eine zweite oder sogar dritte Karriere starten will, postwendend seine Tätigkeit im Sachverständigenrat - die ihn ja nicht gerade ernährt - aufgegeben hat. Das finde ich in Ordnung. Daran könnten sich manch andere ein Beispiel nehmen. ({2}) Gerade dieses Beispiel macht deutlich, was zu tun ist. Man kann von Leuten, die erfolgreich gearbeitet haben - das gilt für Sachverständige wie für Politiker -, doch nicht verlangen, dass sie sich nach dieser Tätigkeit sofort an Ort und Stelle öffentlich erschießen, damit sie bloß nicht in Versuchung geraten, noch einer anderen sinnstiftenden Verwendung zugeführt zu werden. Das kann man doch nicht ernsthaft verlangen. Das ist völlig blödsinnig und fernab der Realität. ({3}) Herr Ernst, ich würde nie auf die Idee kommen, mit Ihnen eine ernsthafte Debatte darüber zu führen, ob es eigentlich legitim ist, dass Sie einen großen Teil von Gewerkschaftern, insbesondere von IG-Metallern, hinter die Fichte geführt haben, weil Sie jetzt ständig im Namen der Linkspartei für sie sprechen. Das dürfen Sie machen. Das ist transparent und völlig in Ordnung. Kein Mensch wird das ernsthaft kritisieren. Unabhängigkeit ist immer relativ. In der ersten Debatte über dieses Thema habe ich mir eine ganz interessante Auseinandersetzung mit dem Kollegen Schui geliefert, der selber Wissenschaftler ist, der dem Sachverständigenrat sicherlich auch gerne angehören würde - dieses Schicksal war ihm allerdings nicht beschieden ({4}) und der sich hier über die geistige Unabhängigkeit verbreitet hat. Im wissenschaftlichen Bereich, vor allen Dingen in den Sozial-, Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften, gibt es überhaupt keine komplette Unabhängigkeit. Jeder Mensch kommt irgendwoher, und jeder hat ein bestimmtes Weltbild; wenn man einen Lebenslauf liest, weiß man meistens auch ungefähr, aus welcher Richtung jemand kommt. Es gab in allen Zeiten Sachverständige. Mal waren sie stärker angebotsorientiert, mal stärker nachfrageorientiert. Mal lehnten die Sachverständigen den Keynesianismus ab, mal befürworteten sie ihn. Dabei spielten natürlich auch Zeitströmungen eine Rolle. Dadurch, dass sich der Sachverständigenrat auf der Basis eines Rotationssystems rekrutiert, sind Innovationen zwangsläufig. Niemand bleibt auf ewig Mitglied des Sachverständigenrates; es kommen immer neue hinzu. Dieses System ist sehr gut angelegt. Das ist auch der Grund, warum die neue amerikanische Regierung unter Präsident Obama angekündigt hat, in den USA nach deutschem Vorbild einen unabhängigen Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung einzusetzen. ({5}) Im Gegensatz dazu haben die früheren amerikanischen Präsidenten, zum Beispiel Reagan und Bush, Wissenschaftler nur beauftragt, genau das wissenschaftlich verbrämt zu verarbeiten bzw. zu produzieren, was ihnen vorgegeben worden ist. Das ist ein Riesenunterschied. Ich finde es gut, dass sich das jetzt ändert. Auch andere europäischen Regierungen haben Sachverständigengremien. Diese Gremien sind allerdings durch die Bank nicht so unabhängig wie der deutsche Sachverständigenrat. Entweder unterstehen sie direkt dem Präsidenten - in Frankreich ist das zum Beispiel der Fall - oder dem Wirtschaftsminister. Sie haben eher den Charakter eines Beirats und denken nicht unabhängig. Was uns mit Blick auf die Sachverständigen ärgert, ist, dass sie § 2 des Sachverständigenratsgesetzes manchmal nicht ernst nehmen. Darin heißt es, dass sie die Lage analysieren, aber keine Empfehlungen für wirtschaftsund sozialpolitische Maßnahmen abgeben sollen, weil sie dadurch oftmals die Regierung, die Handelnden, vorführen. ({6}) Wir Politiker müssen bei der politischen Entscheidungsfindung nämlich noch andere Gesichtspunkte berücksichtigen als nur die einer bestimmten wirtschaftswissenschaftlichen Schule oder die der reinen ökonomischen Logik. Es gehört natürlich dazu, auch das Weiße im Auge des Wählers zu sehen. Die Wirklichkeit ist vielfältiger, als es die verengte wirtschaftswissenschaftliche Sicht zulässt. Deswegen kommen wir manchmal zu anderen Ergebnissen, um nicht zu sagen: Eigentlich sind die Kollegen, seit es den Sachverständigenrat gibt, seit 1963, fast immer zu anderen Ergebnissen gekommen als der Sachverständigenrat, aber wir alle haben die Analysen mit großem Interesse und hohem Genuss gelesen, für die eigene Erkenntnis genutzt, aber unterschiedliche Schlüsse daraus gezogen, so wie es sich eigentlich auch gehört. Insofern gibt es keinen Bedarf für ein solches Gesetz. Die Transparenz ist gegeben. Es bestehen keine verknöcherten Strukturen, weil die Besetzung des Sachverständigenrats regelmäßig wechselt. Professor Rürup ist das beste Beispiel dafür, wie die Unabhängigkeit gewahrt wird: durch ein charakterstarkes Verhalten. Nachdem er einen anderen Job hat, scheidet er aus. ({7}) Insofern: Es besteht kein Bedarf, den Gesetzentwurf weiterzuverfolgen. Wir lehnen ihn ab. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Meine Lehrveranstaltungen an der Universität Frankfurt zu Makroökonomie und Wirtschaftspolitik habe ich häufig mit einem Zitat von Terry Pratchett eingeleitet: Wissenschaft: Eine Möglichkeit, um Dinge herauszufinden und sie funktionieren zu lassen. Die Wissenschaft erklärt, was die ganze Zeit über um uns herum geschieht, ebenso wie die Religion. Doch die Wissenschaft ist besser, weil sie glaubwürdigere Ausreden bietet, wenn etwas nicht klappt. Damit wollte ich den Studentinnen und Studenten deutlich machen, dass die Volkswirtschaftslehre keine objektive Naturwissenschaft ist, sondern dass hinter den Modellen und vertretenen Positionen immer Ideologien stecken, die durchaus Religionen ähneln. Nun ist es traditionell so, dass der Sachverständigenrat einer dieser „Religionen“ nahesteht. So vertrat er in der Vergangenheit vor allem eine angebotsorientierte und marktliberale Position, auch bezüglich der Reform der sozialen Sicherungssysteme - eine Ideologie, die offensichtlich nicht der der Linkspartei nahesteht, wie wir alle wissen. Aber zu unterstellen, dass die einzelnen Mitglieder des Sachverständigenrats eine inhaltliche Position deshalb vertreten, weil sie auch Gutachten für bestimmte Auftraggeber erstellen, halte ich für aberwitzig. Das ist absurd. Wenn überhaupt, bekommen die Mitglieder des Sachverständigenrats Aufträge, weil sie eine bestimmte inhaltliche Positionierung haben, und nicht umgekehrt. ({0}) Ich gebe zu, dass der Wechsel des Vorsitzenden des Sachverständigenrats, Bert Rürup, zum Finanzdienstleister AWD scheinbar für den Gesetzentwurf der Linken spricht. Aber ich kenne Bert Rürup lange genug - für viele von Ihnen gilt das sicherlich auch -, um sagen zu können, dass er Politik bestimmt nicht für irgendeine Gruppierung oder politische Strömung macht, sondern aus Überzeugung. ({1}) Ich gehe davon aus, dass das ebenfalls für die anderen Mitglieder des Sachverständigenrats - einige kenne ich auch - gilt. ({2}) Das sieht man nicht zuletzt daran, dass der Sachverständigenrat im neuesten Gutachten seine Position, zumindest bei konjunkturpolitischen Fragen, geändert hat; das hat der Kollege Schultz gerade schon gesagt. Der Sachverständigenrat fordert jetzt fiskalpolitische Maßnahmen und eine konjunkturgerechte Wachstumspolitik durch öffentliche Investitionen in Höhe von 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, also 25 Milliarden Euro, die zumindest zum Teil durch eine höhere Neuverschuldung finanziert werden sollen. Diese Forderungen gehen sehr in Richtung dessen, was die Linkspartei konjunkturpolitisch vertritt. Okay, es geht wahrscheinlich nicht weit genug. Es ist eher die Position der Grünen, die da vertreten wird. Aber was denken Sie, Herr Ernst: Wer hat denn jetzt den Sachverständigenrat beeinflusst? Ich kann Ihnen sagen: die grüne Bundestagsfraktion sicherlich nicht. ({3}) - Sie unterstellen aber doch, dass der Herr Rürup bestimmte Positionen vertritt, weil er mit der Versicherungswirtschaft zusammenarbeitet.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schneider? ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe jetzt nur noch einen Aspekt vorzutragen. Dabei gehe ich auch auf die Frage ein, die der Kollege vermutlich stellen will. Er kann dann ja noch eine Kurzintervention machen. ({0}) Der Sachverständigenrat bestimmt seine Positionen nach meiner festen Überzeugung danach, was er ökonomisch für richtig hält, wobei ökonomische Theorien, Kenntnisse, aber natürlich immer auch Ideologien - dessen sollte man sich bewusst sein; das sage ich einmal den Kolleginnen und Kollegen auf der rechten Seite eine Rolle spielen. Dennoch bin ich der Auffassung, dass es völlig überzogen ist, zu fordern, dass die Wirtschaftsweisen denselben Regeln wie Abgeordnete unterworfen werden. Die fünf Wirtschaftsweisen sind Gott sei dank keine Wirtschaftsregierung und auch keine Abgeordneten, sondern ein Sachverständigenrat. Sie sind unabhängige Wissenschaftler, die sich der Wissenschaft verpflichtet fühlen. Sie müssen - darauf wurde schon hingewiesen bereits heute als Beamte gegenüber ihrem Arbeitgeber, der Universität, ihre Nebeneinkünfte offenlegen. Sie sind also bekannt. Insofern obliegt die Prüfung der Un21044 abhängigkeit der Professoren der Universität. Das ist gut so und reicht nach unserer Auffassung völlig aus. Insofern ist der Gesetzentwurf überflüssig. Wir werden dagegen stimmen. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Schneider.

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute war mehrfach zu hören, wie unbedenklich all das ist, was Herr Rürup tut, und welche Begeisterung in Bezug auf seine Person herrscht. Er hat fast einen Heiligenschein verliehen bekommen. Ich darf aber in diesem Zusammenhang auf eines hinweisen, was mich als rentenpolitischen Sprecher meiner Fraktion sehr berührt hat. Mir ist auf einmal aufgefallen, dass Herr Rürup - es war übrigens noch nicht die Rede davon, dass er wechselt - Riester-Produkte eines ganz bestimmten Anbieters empfohlen hat, nämlich Swiss Life. Ich war darüber etwas erstaunt, weil dieser Anbieter weder von Finanztest noch von Öko-Test, die regelmäßig die Riester-Produkte testen, in irgendeiner Form herausgehoben genannt wurde. Als dann die Mitteilung kam, dass Herr Rürup zu AWD wechselt, habe ich mich nicht mehr gewundert, weil nämlich der Hauptanteilseigner von AWD Swiss Life ist. Diese Zusammenhänge machen mich etwas skeptisch. Insofern kann ich Ihr unendliches Vertrauen in Herrn Rürup wahrhaftig so nicht teilen. Auch dass er als edle Geste am 31. März ausscheidet, weil er ab 1. April für AWD arbeitet, kann ich nicht nachvollziehen. Eine wirklich edle Geste wäre es gewesen, sofort zurückzutreten, weil er wegen seiner Tätigkeit für AWD nicht mehr unabhängig ist. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Strengmann-Kuhn, Sie können antworten.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, ich antworte ganz kurz: Es geht nicht um einen Heiligenschein, sondern darum, dass der Mensch nicht in eine bestimmte Ecke gestellt werden soll. Ich bin weiß Gott nicht immer einer Meinung mit Bert Rürup, aber es geht darum, sich mit ihm und dem Sachverständigenrat inhaltlich auseinanderzusetzen, statt ihm irgendetwas zu unterstellen. Es geht hierbei um objektive wissenschaftliche Positionen. Mit diesen kann man sich auseinandersetzen, genauso wie ich mich mit Herrn Schui auseinandersetze. Ihm unterstelle ich auch nicht irgendetwas. Darum geht es, nicht um einen Heiligenschein. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Die Linke zur Änderung des Gesetzes über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10507, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8980 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 17. Dezember 2008, 13 Uhr, ein. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch den Besucherinnen und Besuchern auf der Tribüne ein schönes Wochenende. Die Sitzung ist geschlossen.