Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/16/2006

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche uns einen guten und erfolgreichen Tag. Vor Eintritt in die Tagesordnung gebe ich bekannt, dass der Kollege Gert Winkelmeier am 13. Februar aus der Fraktion Die Linke ausgetreten ist und dem Deutschen Bundestag künftig als fraktionsloser Abgeordneter angehören wird. ({0}) Die Fraktion der SPD teilt mit, dass der ehemalige Kollege Eckhardt Barthel sein Amt als stellvertretendes Mitglied im Stiftungsrat der Kulturstiftung des Bundes aufgibt. Als Nachfolgerin wird die Kollegin Monika Griefahn vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin Monika Griefahn als stellvertretendes Mitglied in den Stiftungsrat der Kulturstiftung des Bundes gewählt. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat noch ein stellvertretendes Mitglied für den Wahlprüfungsausschuss zu benennen. Hierfür wird die Kollegin Silke Stokar von Neuforn vorgeschlagen. Ich gehe davon aus, dass Sie auch damit einverstanden sind. - Das ist der Fall. Damit ist die Kollegin Silke Stokar von Neuforn als stellvertretendes Mitglied in den Wahlprüfungsausschuss gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN: Zu den von der Bundesregierung geplanten Kürzungen bei Hartz IV zulasten junger Erwachsener ({1}) ZP 2 Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung Aktuelle Situation zur Vogelgrippe ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Übernahme ehemaliger Regierungsmitglieder in Vorstände und Aufsichtsräte deutscher Energiekonzerne ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Piltz, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Der Informationsfreiheit durch transparente und niedrige Gebühren zum Durchbruch verhelfen - Drucksache 16/659 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Rechtsausschuss ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe-Gerigk, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Mindestarbeitsbedingungen mit regional und branchenspezifisch differenzierten Mindestlohnregelungen sichern - Drucksache 16/656 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für ein friedliches Vorgehen im Konflikt über das iranische Atomprogramm - Demokratische Entwicklung unterstützen - Drucksache 16/651 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({4}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 7 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({5}) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ilse Aigner, Michael Kretschmer, Katherina Reiche ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten René Röspel, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Informatives Berichtswesen als Grundlage einer guten Forschungs- und Technologiepolitik - Drucksache 16/646 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({7}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Verwendung der Regionalisierungsmittel offen legen - Drucksache 16/652 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8}) Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Volker Beck ({9}), Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Resozialisierungsziele des Strafvollzugs bewahren - Sicherheit nicht gefährden - Drucksache 16/653 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Zukunftsfähige Rahmenbedingungen für ein wirksames Umweltrecht im föderalen Deutschland schaffen - Drucksache 16/674 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll - so- weit erforderlich - abgewichen werden. Außerdem ist vorgesehen, jeweils die Tagesordnungspunkte 4 und 5, 7 und 8 sowie 9 und 10 zu tauschen. Der Tagesordnungspunkt 17 - hierbei handelt es sich um die zweite und dritte Beratung des Gesetzes zur För- derung ganzjähriger Beschäftigung - soll abgesetzt wer- den. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlos- sen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung - Drucksache 16/643 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({11}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen - Drucksache 16/634 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({12}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verringerung steuerlicher Missbräuche und Umgehungen - Drucksache 16/520 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({13}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Das ist offenkundig einvernehmlich und damit so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück.

Peer Steinbrück (Minister:in)

Politiker ID: 11004165

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sie wissen, dass die Bundesregierung einen finanzpolitischen Zweiklang verfolgt, nämlich einerseits die Wachstumskräfte in Deutschland zu stärken und andererseits die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren. Aus diesem Zweiklang leiten sich die steuerpolitischen Ziele für diese Legislaturperiode ab. Wir brauchen erstens dauerhaft sichere Einnahmen. Der Staat muss diese Einnahmen generieren, damit er die Kernaufgaben einschließlich Zukunftsinvestitionen tätigen kann. Ich wiederhole, dass wir auf der Einnahmenseite ein Niveauproblem haben, während wir auf der Ausgabenseite kein Niveauproblem haben; vielmehr stimmt die Zusammensetzung der Ausgaben nicht. Sie sind zu stark auf Vergangenheitsfinanzierung und zu wenig auf Zukunftsfinanzierung orientiert. Aber tatsächlich ist der Bundeshaushalt bezogen auf die Ausgaben, die wir für die Zukunft tätigen wollen, zu 20 Prozent strukturell unterfinanziert. Wir müssen zweitens Wachstumsimpulse durch Verbesserung der steuerlichen Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland geben. Dahinter steht das große Vorhaben einer Unternehmensteuerreform zum 1. Januar 2008. Es geht drittens um eine Verbesserung der Steuergerechtigkeit und auch der Transparenz der Besteuerung. Das wirkt sich dann auch darauf aus, wie wir Steuern erheben und wie wir beispielsweise Karussellgeschäfte oder Steuerhinterziehung insbesondere bei der Umsatzsteuer zukünftig stärker vermeiden können. Das ist ein wichtiges Thema, das wir aktuell auch in Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern verfolgen. Die beiden Ihnen vorliegenden Gesetzentwürfe sind erste wichtige Schritte - keiner behauptet, dass das ein umfassendes Gesamtkonzept ist - in diese Richtung. Sie wissen, dass der Schwerpunkt dieses Gesetzes zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung auf die Belebung der Investitionstätigkeit in Deutschland gerichtet ist. Ich füge hinzu: auch und gerade bei kleinen und mittleren Unternehmen. Wir wissen, dass sie das Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft bilden. ({0}) Wir sind zum dritten Mal Exportweltmeister und zeigen inzwischen eine ziemlich starke internationale Wettbewerbsfähigkeit. Viele deutsche Unternehmen, die sich auf den Exportmärkten bewegen, haben ihre Wettbewerbsfähigkeit sehr verbessert. Eine günstige Entwicklung der Lohnstückkosten - und damit auch die Beiträge von Gewerkschaften und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Rahmen der Lohnpolitik der vergangenen Jahre - hat übrigens maßgeblich dazu beigetragen. Aber wir brauchen eine Stärkung der Binnennachfrage. Die Binnennachfrage ist nicht nur davon abhängig, dass die Menschen mehr konsumieren, also mehr Vertrauen in die Zukunft haben und daher mehr Geld ausgeben, sondern sie hängt auch davon ab, dass es mehr private und - das füge ich ausdrücklich hinzu - öffentliche Investitionen gibt. ({1}) Die finanzielle Lage der Kommunen ist nach wie vor angespannt. Viele Kommunen sind aufgrund ihrer finanziellen Beklemmungen gar nicht mehr in der Lage, öffentliche Investitionen vorzunehmen. Dasselbe gilt für die Entwicklung der Investitionsquote des Bundeshaushaltes und der Länder. In vielen Fällen ist die Zinsquote in diesen öffentlichen Haushalten höher als die Investitionsquote. Wir sprechen hier im Wesentlichen über diverse steuerliche Maßnahmen. Die eine ist die auf zwei Jahre befristete Verbesserung der Abschreibungsbedingungen für bewegliche Wirtschaftsgüter. Sie ist deshalb auf zwei Jahre befristet, weil wir zum 1. Januar 2008 einen fundamentalen Paradigmenwechsel der Besteuerung der deutschen Unternehmen durchführen wollen, sowohl der kleinen Unternehmen - soweit sie Personengesellschaften sind - als auch der größeren Unternehmen, die meistens Kapitalgesellschaften sind. Sie wissen, dass es inzwischen zwei Vorschläge dazu gibt: von der Stiftung Marktwirtschaft und vom Sachverständigenrat. Ich möchte hier noch einmal deutlich sagen, dass ich dankbar wäre, wenn dem BMF zwei bis drei Monate Zeit gegeben werden könnte, um diese solide zu prüfen. ({2}) Ich werde gern Rede und Antwort stehen, wenn es so weit ist. Aber da wir von der Kritik umgeben sind, dass Politik manchmal zu sehr aus der Hüfte schießt, ({3}) also unvorbereitet ist, sollten wir uns selbst gelegentlich die Reifezeit geben, um ein so wichtiges Vorhaben so solide vorzuarbeiten, dass wir anschließend nicht mehr korrigieren müssen. ({4}) - Ja, Herr Kauder, gelegentlich kann die Kraft in der Ruhe liegen. Ich werde versuchen, keine täglichen Wasserstandsmeldungen zu machen, die durch den Druck einer medialen Neugier ausgelöst werden können und neue Unruhe und Unsicherheit in die Debatte hineinbringen würden. ({5}) Es geht zweitens darum, die Liquidität insbesondere von kleinen und mittleren Unternehmen zu verbessern. Das wollen wir durch die Anhebung der Umsatzgrenzen für die Umsatz-Ist-Besteuerung erreichen. Diese wichtige Maßnahme war auch Gegenstand der Koalitionsverhandlungen. Wir versprechen uns davon, dass in der Tat insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen dadurch sehr viel liquider werden und durch manche Engpässe unter den nach wie vor obwaltenden konjunkturellen Bedingungen kommen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die steuerliche Förderung privater Haushalte, die wir auch als Feld zusätzlicher Beschäftigungsmöglichkeiten sehen. Ich will jetzt nicht auf alle Bestandteile eingehen. Aber ich möchte noch einmal meinen Standpunkt darstellen. Ich denke, dass der Kompromiss zur verbesserten steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten positive Impulse setzt, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Wir versprechen uns einen Beschäftigungseffekt bei den Anbietern von Kinderbetreuungsplätzen und einen Konsumeffekt. Denn besonders die Familien mit geringem Einkommen, die nicht mehr jeden zusätzlichen Cent sparen müssen, sondern dann auch mehr ausgeben können, werden natürlich von einer solchen Regelung begünstigt. Dies ermuntert sie vielleicht, sich mehr zu leisten, was ohne eine solche steuerliche Begünstigung nicht möglich wäre. Ein weiterer Aspekt sollte nicht untergehen: die Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Diese brauchen wir in Deutschland vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung dringend, ({6}) weil es eine nach wie vor unzureichende Erwerbstätigkeit von Frauen gibt; das gilt auch im internationalen Vergleich. Die Frauenerwerbstätigkeit in skandinavischen Ländern ist deutlich höher. Inzwischen haben wir es mit schulisch, beruflich und akademisch sehr gut ausgebildeten Frauen zu tun, denen wir es letztlich verweigern, eine eigene Berufsbiografie zu schreiben, wenn die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bei uns nicht besser wird. ({7}) Es geht in diesem Zusammenhang auch darum, für private Haushalte die Möglichkeiten zur steuerlichen Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen zu erweitern. Diesen Aspekt sollte man nicht gering schätzen. Die meisten Vertreter von Handwerkskammern und Handwerksbetrieben begrüßen ihn außerordentlich. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks geht davon aus, dass durch diesen Schritt 40 000 bis 50 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Das ist nicht ausreichend, aber immerhin ein wichtiger Impuls. Ich könnte mir auch vorstellen, dass dadurch - zwar nicht umfassend, aber teilweise - der Schwarzarbeit entgegengewirkt werden kann. ({8}) Meine Damen und Herren, der Entwurf eines Gesetzes zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen zielt auf die Schaffung von mehr Steuergerechtigkeit, die Verwirklichung des Verfassungsprinzips der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und eine Stabilisierung der Steuereinnahmen. Ich halte es für unvertretbar, dass wir es im deutschen Steuerrecht nach wie vor mit vielen Umgehungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zu tun haben. Das deutsche Steuerrecht bietet aufgrund der Möglichkeiten zur Gestaltung seiner Bemessungsgrundlage viele Fluchtmöglichkeiten. Diese Fluchtmöglichkeiten stehen nach Lage der Dinge nicht den unteren, sondern den höheren Einkommensetagen zur Verfügung. Deshalb halte ich es auch vor dem Hintergrund der Herstellung einer größeren Steuergerechtigkeit für richtig, dass wir die Abschaffung von Steuerprivilegien ehrgeizig in Angriff genommen haben. In diesem Zusammenhang möchte ich - abgesehen von der Debatte über den vorliegenden Gesetzentwurf betonen, dass ich die gegenwärtige Diskussion über die Kontenabrufmöglichkeiten für ziemlich unsäglich halte. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass das Prinzip der Steuergerechtigkeit höher zu veranschlagen ist als gegebenenfalls auftretende administrative Schwierigkeiten ({9}) oder unbegründete datenschutzrechtliche Einwände. Das ist eine Kampagne derjenigen, die die Abfragen von Konteninformationen schlicht und einfach verhindern wollen. ({10}) Aber ich sage Ihnen: Diese Kampagne - wenn ich sie einmal so bezeichnen darf - wird nicht verfangen. Es wird bei den bestehenden Abrufmöglichkeiten von Konteninformationen bleiben. ({11}) Sie müssen sich einmal vergegenwärtigen, welch aberwitzige Zahlen angeführt werden, um dem deutschen Publikum den Verdacht einzuimpfen, es käme zur Abfrage mehrerer Millionen Konteninformationen. Davon sind wir weit entfernt. Gelegentlich wird Kritik an unserem Wachstumsprogramm in Höhe von 25 Milliarden Euro geübt: Für die einen ist dieser Betrag zu gering, für die anderen ist das Programm obsolet oder zu stark keynesianisch geprägt. ({12}) Ich will auf Folgendes hinweisen: Zu diesen 25 Milliarden Euro kommen weitere 12 Milliarden Euro von Ländern und Kommunen hinzu. Dann haben wir immerhin 37 Milliarden Euro zur Verfügung; das entspricht 70 Milliarden DM. Das ist nicht so wenig, wie manche Leute in dieser Republik vorgeben. Auch der Vorwurf, es handle sich um ein klassisches Konjunkturprogramm, geht an den Tatsachen vorbei. ({13}) Das, was wir im Bereich Forschung und Entwicklung machen, hat nichts mit unserer Konjunktur zu tun, sondern mit der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Bundesrepublik Deutschland. ({14}) Wir müssen unser Ziel erreichen, 3 Prozent unseres Bruttosozialproduktes in Forschung und Entwicklung zu investieren. Wie Sie wissen, sind in anderen Ländern um uns herum teilweise weit mehr als diese 3 Prozent des Bruttosozialproduktes in diesen Bereich geflossen. Da Reisen bildet, sage ich Ihnen, welche Erfahrungen ich hierzu in Finnland und Schweden gesammelt habe: Diese zwei Länder haben inzwischen Budgetüberschüsse zu verzeichnen und sie weisen sehr gute Wachstumsraten auf. Dort wurde insbesondere in Bildung, Hochschulen sowie Forschung und Entwicklung investiert. Diese zwei Länder sind ziemlich schnell unter Segel gekommen; denn dort wurden sechs bis sieben Jahre früher als bei uns Reformmaßnahmen eingeleitet. Daher sollte man auf die Erfahrungen dieser beiden Länder gelegentlich Obacht geben. ({15}) - Tatsachen müssen ausgesprochen werden. Man darf nicht an den Problemen vorbeireden. Abschließend möchte ich die Diskussion über unsere Maßnahmen im Bereich Forschung und Entwicklung mit einem deutlichen Appell verbinden, der sich auch an die deutsche Wirtschaft richtet. Die öffentlichen Haushalte haben in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, diesen Bereich finanziell zu stützen. Man muss auch sagen, dass sich die letzte Bundesregierung mit Nachdruck um die vorhandenen Nachholbedarfe gekümmert hat; denn der Anteil von Forschung und Entwicklung am Bundeshaushalt ist in den vorigen Legislaturperioden deutlich gesunken. Wir haben ihn mühsam auf 2,55 Prozent erhöht. Diese Entwicklung war in den letzten beiden Legislaturperioden mit deutlichen Steigerungen verbunden. Aber das, was wir uns vorgenommen haben, wird nicht gelingen, wenn die deutschen Unternehmen nicht selbst Verantwortung übernehmen und sehr viel mehr als bisher tun, damit wir unser Ziel, 3 Prozent unseres BruttoBundesminister Peer Steinbrück sozialproduktes in Forschung und Entwicklung zu investieren, erreichen. ({16}) Da wir nicht billiger werden wollen und können und da wir einen Kostenwettbewerb nach Lage der Dinge nie gewinnen werden - das wird immer ein Hase-und-IgelRennen mit anderen Standorten weltweit sein -, müssen wir besser werden. Besser werden wir aber nur, wenn wir in Bildung, Forschung und Entwicklung, Technologietransfer und alles, was damit zu tun hat, investieren. Wenn die Bundesregierung mit diesem Programm für entsprechenden Schub sorgen kann, hat sie einen erheblichen Teil ihrer Verantwortung und ihrer Aufgaben wahrgenommen. Herzlichen Dank. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Carl-Ludwig Thiele, FDP-Fraktion. ({0})

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Steinbrück! Auch die FDP ist der Auffassung - das möchte ich hier von vornherein herausstellen -, dass wir mehr Wachstum benötigen, dass wir mehr Beschäftigung benötigen und dass die öffentlichen Haushalte dringend saniert werden müssen. Deshalb werden wir die Koalition aus Union und SPD konstruktiv unterstützen, wenn wir der Auffassung sind, dass auf der Basis eines klaren Konzeptes die richtigen Entscheidungen getroffen werden. ({0}) Allerdings sind unsere Unternehmen im internationalen Vergleich viel zu hoch besteuert. Da reicht es nicht, wenn Sie sagen, es gibt zwei Konzepte, um dies zu ändern. Ich darf Sie im Übrigen darauf aufmerksam machen, dass es drei Konzepte sind: Es gibt ein ausformuliertes Konzept der FDP, welches in dieser Woche in den Deutschen Bundestag eingebracht wird und welches wir schon im März hier beschließen können. Warum sollen wir eigentlich warten, bis es in unserem Land bergauf geht, warum können wir Reformen nicht einfach beschließen? Wir bitten Sie von der Regierung, sich mit den Vorschlägen der FDP objektiv auseinander zu setzen und sie, wenn sie gut sind, zu übernehmen. ({1}) Zum Bankgeheimnis, Herr Minister. Fakt ist: Praktisch ist das Bankgeheimnis ausgehebelt. Mit welchen Folgen eigentlich? Die Bürokratie wuchert in unserem Land - das Gegenteil von dem, was Sie wollten -, Rechtsstaatlichkeit ist in diesem Bereich nicht gewährleistet und viele Bürger treibt die Sorge um, dass der Staat in irgendeiner Form in ihren Konten herumschnüffelt. Die Folge ist Kapitalflucht. Wir brauchen aber Kapital, das in Deutschland investiert wird: damit Gewinne entstehen, die hier in Deutschland versteuert werden. ({2}) Was wir im Moment erleben, zeigt, dass die Regierung weder ein klares Konzept noch die notwendige Einsicht hat, dass die öffentlichen Haushalte vorrangig durch Einsparungen und durch die Überprüfung von Leistungsgesetzen saniert werden müssen. Mit ihrem Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung will die Koalition durch verschiedene kleine Maßnahmen Investitionen auslösen und so das Wachstum ankurbeln. Wir begrüßen ausdrücklich, dass bei den Kinderbetreuungskosten - wenn auch nach jahrelangen ideologischen Diskussionen, insbesondere bei der SPD, über das so genannte Dienstmädchenprivileg - der Forderung der FDP nachgekommen wird, die privaten Haushalte endlich als Arbeitgeber anzuerkennen. ({3}) Denn dies kann dazu führen, dass mehr Menschen einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz finden und die Betreuung der Kinder verbessert wird. Allerdings war ursprünglich eine klare Regelung vorgesehen. Jetzt, nach wochenlangem Gezerre, ist eine Regelung entstanden, die in ihrer Komplexität und Kompliziertheit nur schwer zu übertreffen ist: Ein Teil der Familien soll jetzt einen Teil der Kosten für einen Teil der Kinder für einen Teil der Aufwendungen absetzen dürfen. Das soll einer verstehen! Wer sich damit auseinander setzt, sieht doch sofort, dass eine Überregulierung stattfindet. Das wird den Wunsch, mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse in den privaten Haushalten zu schaffen, nicht erfüllen. ({4}) Das Gezerre und Gefeilsche innerhalb der Koalition führt auch an dieser Stelle zu einem Kompromiss auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, der das Steuerrecht weiter verkompliziert. Deswegen appelliere ich noch einmal ausdrücklich an die Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, unseren Gesetzentwurf zum Vorbild zu nehmen. Wir haben eine klare Regelung, die einfach und gerecht ist und die es ermöglicht, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze innerhalb und außerhalb des Haushaltes zu schaffen: Wenn nachgewiesenermaßen Kosten von 12 000 Euro entstehen, können diese steuerlich berücksichtigt werden. Zu den Abschreibungen. 2000 wurden die Abschreibungssätze von 30 Prozent auf 20 Prozent reduziert. Jetzt werden sie, für zwei Jahre, wieder auf 30 Prozent erhöht. Das ist eine Politik der Trippelschritte und erinnert an die Echternacher Springprozession. Diese Politik ist nicht verlässlich und wird leider kein stetiges Wachstum in unserem Land auslösen können. Die beiden anderen Gesetzentwürfe dienen dem Missbrauch im angeblichen Steuerrecht. Parallel zu diesen Gesetzen - auch das muss heute debattiert werden - will die große Koalition schon in der nächsten Woche das größte Steuererhöhungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beschließen. Mit diesen Steuererhöhungen wird aber nicht mehr, sondern weniger Wachstum erzeugt und werden wir nicht mehr, sondern weniger Beschäftigung in unserem Lande erhalten. Durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte sowie weitere Steuererhöhungen will der Staat pro Jahr mehr als 25 Milliarden Euro von den Bürgern und Unternehmen einnehmen. In drei Jahren werden den Bürgern dadurch 80 Milliarden Euro ihres selbst erwirtschafteten Einkommens entzogen. Diese Steuererhöhungen sind auch der Grund dafür, dass die Steuereinnahmen in den nächsten Jahren um 80 Milliarden Euro steigen. Auf der anderen Seite fehlen sie unserer Bevölkerung aber beim Konsum und bei den Investitionen. Mit dieser Steuererhöhungsorgie legen Sie ein massives Desinvestitionsprogramm gegen die deutsche Bevölkerung vor. ({5}) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ein Konzept aus einem Guss kann ich nun überhaupt nicht erkennen. Alle Welt spricht von der Unternehmensteuerreform. Wir sind international nicht mehr wettbewerbsfähig und insofern können wir auch nicht nur warten, dass sich etwas ändert, ({6}) sondern diese Regierung mit ihrer Mehrheit im Deutschen Bundestag von fast zwei Drittel hat die Aufgabe, ihre Verantwortung wahrzunehmen und die Gesetze hier tatsächlich kurzfristig auf den Weg zu bringen. ({7}) Die Rezepte liegen seit langem vor. Hier nur zu warten - ab 2008 soll das gelten -, ist verschenkte Zeit. Diese Zeit dürfen wir in unserem Lande nicht verschenken. ({8}) Glauben Sie eigentlich wirklich, dass sich die Binnenkonjunktur dauerhaft ankurbeln lässt, indem Sie den Unternehmen und Bürgern heute sagen: Investiert, konsumiert und gönnt euch in diesem Jahr noch etwas, denn im kommenden Jahr stehen Steuererhöhungen an? - Eine solche Logik lässt sich selbst zur Karnevalszeit nur als schlechter Witz bezeichnen. Sie ist nicht wider den tierischen Ernst, dafür aber gegen jede politische Ernsthaftigkeit. So käme - um im Bild zu bleiben - nicht einmal ein Narr auf die Idee, den Menschen zu sagen: Feiert in diesem Jahr doch bitte schön bis Ostern Karneval; denn im kommenden Jahr wird ganzjährig gefastet. - So läuft das nicht und die Menschen werden sich auch nicht so verhalten, sodass ich die Sorge habe, Herr Minister Glos, der Sie nach mir reden werden, dass das ein Strohfeuerprogramm ist, durch das nicht die Weichen dafür gestellt werden, dass wir in unserem Lande den lang anhaltenden Aufschwung bekommen, den wir dringend benötigen. ({9}) Noch im Wahlkampf hatte die Union gefordert, die Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte zu erhöhen, um mit genau dem daraus resultierenden Betrag die Lohnnebenkosten um ebenfalls 2 Prozentpunkte zu senken. Die SPD hatte die Steuererhöhung abgelehnt und als MerkelSteuer gebrandmarkt. Und nach der Wahl soll nichts mehr von dem gelten, was vor der Wahl in Deutschland auf diesem zentralen Feld der politischen Auseinandersetzungen diskutiert wurde? Die Wählerinnen und Wähler haben die Politik der ruhigen Hand doch nicht deshalb abgewählt, damit darauf eine Politik der nehmenden Hand folgt. Gerade dies geschieht aber nun durch die geplanten Steuererhöhungen. Der schwarz-rote steuerpolitische Arm greift viel zu kurz und vor allem greift er in die falsche Richtung, nämlich in das Portemonnaie unserer Bürger. Das ist der falsche Weg. ({10}) Wenn wir alle mehr Glaubwürdigkeit in der Politik einfordern und wenn wir alle der Auffassung sind, dass nach den Wahlen das durchgesetzt werden soll, was vor den Wahlen gefordert wurde, dann darf diese Steuererhöhungsorgie in der nächsten Woche nicht vom Kabinett beschlossen werden. Die Arbeitslosenzahl ist auf über 5 Millionen gestiegen. Weitere Millionen Menschen haben Sorge um den Verlust ihrer Arbeitsplätze: bei VW, bei der Deutschen Telekom, bei AEG in Nürnberg und auch bei der Firma Karmann in meiner Heimatstadt. Diese Liste lässt sich leider weiter fortsetzen. Ich verstehe nicht, wie sich die Politik bei dieser Sorge der Menschen einen schlanken Fuß machen und die Sanierung der öffentlichen Haushalte nahezu ausschließlich durch Steuererhöhungen angehen kann. Ich verstehe nicht, dass die Koalition aus Union und SPD den vermeintlich einfachsten Weg geht, nämlich die Sanierung durch Steuererhöhungen anstatt durch Sparmaßnahmen durchzuführen. In jedem privaten Haushalt, in dem man feststellt, dass man über seine Verhältnisse lebt, dass man mehr ausgibt, als man einnimmt, werden die Ausgaben reduziert. Notgedrungen fängt man an, bescheidener zu werden. Man überlegt sich, ob alles, was man derzeit ausgibt, noch finanzierbar ist. Das ist für viele Bürger in unserem Lande ein ausgesprochen schmerzhafter Prozess. Warum aber sollte das bei den öffentlichen Haushalten anders sein? Warum fängt die öffentliche Hand nicht an, stärker zu sparen? Warum werden weiter Subventionen und Staatsausgaben erhöht, von denen wir wissen, dass sie auf Pump finanziert sind und die Zukunftschancen unseres Landes weiter einschränken? Warum nehmen Sie nicht endlich zur Kenntnis, dass der Sozialstaat in der heutigen Form nicht mehr finanzierbar ist und hier dringender Handlungsbedarf gegeben ist? Herr Minister Steinbrück, ich möchte Sie ganz persönlich ansprechen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sie müssen sich dabei aber ein bisschen beeilen.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nachdem die rot-grüne Koalition mit Finanzminister Eichel nicht den Mut hatte, ernsthaft zu sparen und den Haushalt über die Ausgabeseite zu sanieren, haben Sie mit Ministerpräsident Koch ein Konzept vorgelegt. Das war die Koch/Steinbrück-Liste; Sie werden sich vielleicht noch daran erinnern. ({0}) Wir haben Sie auf diesem Weg der Sparsamkeit konstruktiv begleitet. Dies werden wir auch weiterhin tun. Wenn aber der Haushalt Ausgaben in Höhe von über 250 Milliarden Euro aufweist, wenn in dem Subventionsbericht aus Kiel von über 150 Milliarden Euro an Subventionen gesprochen wird, wenn laut des Subventionsberichts der Bundesregierung 60 Milliarden Euro für Subventionen aufgewendet werden, dann frage ich Sie: Warum werden die Steuern erhöht, anstatt beim Staat wirksam zu sparen? ({1}) Mit einem solchen Weg könnten wir vernünftige Rahmenbedingungen setzen, um zu mehr Wachstum und Beschäftigung in unserem Lande zu kommen. Herzlichen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Michael Glos. ({0})

Michael Glos (Minister:in)

Politiker ID: 11000691

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer in diesen Tagen die Wirtschaftsmeldungen aufmerksam verfolgt, der stellt fest: Die lange vermisste Zuversicht ist nach Deutschland zurückgekehrt. ({0}) Herr Kollege Thiele, wir sollten unser Land im wirtschaftlichen Bereich weder schöner reden, als es ist, noch sollten wir es schlecht machen, sondern wir sollten uns gemeinsam darüber freuen, dass es wieder aufwärts geht. ({1}) Ich habe vorhin den Protest zumindest der Grünen vermisst, als Sie von einem Strohfeuer sprachen; denn das ist immerhin Energie aus nachwachsenden Rohstoffen. ({2}) Aber Spaß beiseite. Lassen Sie mich stellvertretend für den Optimismus in der Wirtschaft eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages unter 25 000 Unternehmen anführen. Die Konjunktur hat zu Jahresbeginn 2006 einen großen Satz nach vorne gemacht. Die Unternehmen bewerten die Geschäftslage so gut wie seit fünf Jahren nicht mehr. Die Konjunktur dreht auf. Der Ausfuhrboom geht weiter. Das Volumen der Inlandsinvestitionen wird in diesem Jahr deutlich zulegen; das ist ganz besonders wichtig. Zu Jahresbeginn 2006 erreichen die Investitionspläne der Unternehmen per saldo den besten Wert seit elf Jahren. Die Beschäftigung geht mit der Konjunktur langsam auf Tuchfühlung. - All das waren Zitate aus dem Bericht des Deutschen Industrie- und Handelskammertages. Mir liegt ebenfalls eine Konjunkturbewertung der KfW vor. Ich will es Ihnen ersparen, sie vorzulesen. Ich will nur sagen, dass sie „Stimmungsfeuerwerk zu Jahresbeginn!“ heißt. Ich habe ein Gespräch mit der Spitze der KfW geführt. Dort hieß es: In den ersten zwei Monaten dieses Jahres wurden, wie man feststellen kann, doppelt so viele Investitionskredite bewilligt wie im Jahr davor. Also, man spürt: Der Aufschwung kommt ganz massiv. Darüber freuen wir uns. Von dem Aufschwung profitieren nicht nur die Exporteure, die optimistisch in die Zukunft schauen können. Es wird in Deutschland auch wieder investiert. Sowohl deutsche als auch ausländische Unternehmen werden wieder in den Standort Deutschland investieren. Das ist wichtig. ({3}) Viele Branchen haben inzwischen ihre Hausaufgaben gemacht. Insbesondere die großen exportorientierten Unternehmen stehen gegenwärtig zum Teil glänzend da. Sie haben allerdings auch viele Arbeitsplätze abgebaut oder verlagert. Insofern ist uns bewusst, dass ein dauerhafter Aufschwung nur über den Mittelstand erfolgen kann. Ich möchte nun auf die Steuern zu sprechen kommen. Wir müssen eine Unternehmensteuerreform durchführen, durch die Personenunternehmen und Kapitalgesellschaften gleich behandelt werden. Das ist deshalb besonders wichtig, weil es bekanntlich diese Unternehmen sind, die dauerhaft in Deutschland bleiben. ({4}) Ich habe in letzter Zeit sehr viele Gespräche mit Vertretern verschiedener Branchen geführt. Wenn ich alle Branchen aufzählen würde, müsste ich einen Teil meiner Redezeit leichtsinnig verbrauchen. In den Gesprächen wurde deutlich, dass es durchweg aufwärts geht. Nur die Baubranche bietet noch Anlass zur Sorge. Ich hoffe aber, dass der Konjunkturfunke auch langsam auf den Bau überspringt. Die großen Unternehmen haben die vergangenen Jahre genutzt, um ihre Gewinne kräftig zu erhöhen. Das ist erfreulich. ({5}) - Mit guten Gewinnen kann man Eigenkapital bilden vielen Dank für den Zwischenruf, Herr Kollege Ramsauer - und dann kann man auch wieder investieren. In bestimmten Branchen wird aber deutlich, dass es möglich ist, auch ohne Arbeitskampf zu sinnvollen Lösungen zu kommen. Das soll nicht heißen, dass der Wirtschaftsminister für irgendeine Seite Partei ergreift. Ich möchte nur feststellen, dass die Tarifpartner eine gewaltige Verantwortung dafür haben, wie es bei uns im Land weitergeht. ({6}) Darin sehe ich eines der größten Risiken. Ich wünsche mir dabei eine sehr genaue Differenzierung und die Fähigkeit, Zugeständnisse zu machen, wenn es darum geht, Unternehmen hier zu halten. Mich erreichen immer mehr Zuschriften, Gesprächswünsche und Einladungen. Erst kürzlich hat eine der führenden deutschen Landmaschinenfabriken, die im Allgäu zu Hause und inzwischen in Händen amerikanischer Eigentümer ist, schriftlich bei mir angefragt, ob ich ihnen helfen könne. Sie wollten hier 500 Arbeitsplätze schaffen. Mit der IG Metall ist zwar über bestimmte Zugeständnisse verhandelt worden, sie sehen sich aber gezwungen, die Arbeitsplätze woanders zu schaffen. Das ist kein Einzelfall; Ähnliches findet immer wieder statt. Man muss aber berücksichtigen, dass auch in anderen Ländern die Kosten steigen. Das wird bei den Investitionsplanungen sicherlich berücksichtigt. Wenn man im Einzelfall für das gleiche Geld mehr arbeitet, um die Investitionen hier zu halten, dann ist das meiner Ansicht nach das Allerbeste, was man in diesem Land für Beschäftigung tun kann. ({7}) Im Koalitionsvertrag ist bereits das vorweggenommen, was später in Genshagen verfeinert worden ist - darüber diskutieren wir heute - und jetzt zur Beschlussfassung ansteht. Ich will noch einmal festhalten - vorhin ist der Finanzminister stark kritisiert worden -: Wir finanzieren die Konsolidierung zur einen Hälfte durch die Beseitigung von steuerlichen Ausnahmetatbeständen, die von Ihnen übrigens immer wieder heftig kritisiert wurden. Dass wir Transferleistungen des Staates weiter zurückschrauben, wird zwar im Einzelfall auch wieder hart kritisiert werden - ich nenne nur die Stichworte „Gemeinschaftsaufgabe“ und „Regionalisierungsmittel im Verkehrsbereich“; das wird alles sehr schwer durchzusetzen sein -, ist aber unumgänglich. Was die andere Hälfte hinsichtlich der Haushaltskonsolidierung angeht, kommen wir um die Mehrwertsteuererhöhung nicht herum. Ich bekenne mich zur mittel- und längerfristigen Konsolidierung der öffentlichen Finanzen. Wenn wir längerfristig einen Aufschwung wollen, dann kommen wir um diese Maßnahme nicht herum. ({8}) Vor allen Dingen ist es notwendig, eine dauerhafte Senkung der Lohnzusatzkosten unter die 40-ProzentGrenze zu erreichen. Das ist für die Beschäftigung in Deutschland eminent wichtig. Ich bin auch der Meinung, dass das Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung den Aufschwung auf ein breiteres Fundament stellt. Durch den gelegentlich vermittelten Eindruck, nach dem Gasgeben 2006 folge 2007 eine Vollbremsung - Sie haben das eben angesprochen, Herr Thiele -, wird, wie ich meine, ein völlig falsches Bild gezeichnet. Zutreffend scheint mir zu sein, im Zusammenhang mit 2006 von einer Tempobeschleunigung zu sprechen. Wenn der Zug auf der Schiene sehr rasch fährt, dann kann er 2007 nicht ohne weiteres abgebremst werden. Ich meine, dass der Zug 2007 weiterhin in Richtung Aufschwung rollen muss. Darauf sind unsere Maßnahmen auch angelegt. Ich möchte noch ein paar Maßnahmen ansprechen, die ebenfalls 2007 greifen werden. Die Anhebung der degressiven Abschreibung für bewegliche Wirtschaftsgüter von 20 auf 30 Prozent ist eine solche Maßnahme. Das wird 2007 erhebliche Investitionen veranlassen, vielleicht sogar mehr, als dem Finanzminister aus rein haushälterischer Sicht - denn damit ist ein Steuereinnahmeverzicht verbunden - erst einmal lieb sein kann. Aber ich bin überzeugt, dass diese Maßnahme ein Mittel zur Ankurbelung der Konjunktur wird. Das Ganze wird dann von einer Unternehmensteuerreform abgelöst, die die Impulse für mehr Wachstum und Beschäftigung weitertragen soll. Diese Steuerreform muss dazu führen, dass die Besteuerung unabhängig von der Rechtsform der Unternehmungen erfolgt. Dabei werden wir selbstverständlich auch über Ihre Vorschläge diskutieren. Es macht ja keinen Sinn, nur Professoren und Vertreter von Stiftungen zu Wort kommen zu lassen und andere vernünftige Vorschläge beiseite zu legen. Wir werden das alles bewerten und diskutieren. Am schönsten wäre, wenn wir zu gemeinsamen Lösungen in Sachen Unternehmensteuerreform kämen. ({9}) Das Stichwort „Stärkung der privaten Haushalte als Arbeitgeber“ ist schon gefallen. Ich halte das für ein wichtiges Anliegen, genauso wie die Tatsache, dass wir die zunehmend um sich greifende Schwarzarbeit dadurch bekämpfen, dass wir Handwerkerrechnungen steuerlich absetzbar machen. Die genauen Zahlen sind bekannt. Bis zu 600 Euro der Lohnkosten kann man von der Steuerschuld abziehen, wenn man dem Handwerk Arbeit gibt. Dem dient insbesondere das Programm zur energetischen Gebäudesanierung. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um mich bei den Handwerksbetrieben und selbstverständlich bei vielen anderen Firmen zu bedanken, die die Initiative zur Schaffung von Ausbildungsplätzen mitgetragen haben und weiterhin mittraBundesminister Michael Glos gen. Auch in diesem Jahr wird eine der wichtigsten Aufgaben sein, dafür zu sorgen, dass junge Menschen, die aus der Schule kommen, Ausbildungsplätze finden. ({10}) Beim Stichwort „Dienstleistungen für den Haushalt“ fällt mir natürlich ein, dass heute im Europäischen Parlament über die Dienstleistungsrichtlinie abgestimmt wird. Nun wird der der Abstimmung zugrunde liegende Kompromiss sicherlich nicht allen Wünschen gerecht. Die einen haben Angst vor gewaltigem Sozialdumping - gerade in einem Land wie Deutschland -, während andere ihre Hoffnung, die qualifizierten deutschen Dienstleistungen in stärkerem Maße außerhalb Deutschlands anbieten zu können, ohne über zu große bürokratische Hürden springen zu müssen, nicht in dem Maße erfüllt sehen, wie sie es sich wünschen. Deswegen müssen wir im Rat - hier sind wir noch einmal gefragt - helfen, dass weder die Befürchtungen zum Tragen kommen noch dass die Hoffnungen zerstört werden. Ich weiß, dass ein gemeinsamer europäischer Dienstleistungsmarkt per saldo Deutschland als Gewinner sieht; denn wir können qualifizierte, bessere und nachhaltig nachgefragte Dienstleistungen der Zukunft anbieten. Darüber werden wir sprechen. Wir sind in der Koalition kurz davor, eine gemeinsame Sprachregelung zu finden. ({11}) Ich halte das im Hinblick auf Kalkulierbarkeit und Verlässlichkeit für notwendig. Wir müssen alles tun, damit es zu einem nachhaltigen, dauerhaften Aufschwung und zu mehr Beschäftigung in Deutschland kommt und unsere Wettbewerbsfähigkeit in Europa gestärkt wird. Dann können wir im Sinne der Lissabonstrategie dazu beitragen, dass Europa wieder zur Lokomotive der Weltwirtschaft wird. Dazu gehört der Motor Deutschland. Darum kümmern wir uns. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke. ({0})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsminister hat uns aufgefordert, Deutschland nicht schlecht zu reden, und er hat, wie es seine Pflicht ist, auch Silberstreifen am Horizont ausgemacht und festgestellt, dass die Konjunktur jetzt doch in Gang gekommen ist. ({0}) Zunächst einmal, Herr Bundeswirtschaftsminister: Deutschland ist schön und es kann auch niemand bestreiten, dass es hier oder dort Daten gibt, die man so interpretieren kann, wie Sie sie interpretiert haben. Aber schon bei der Aussage, Deutschland sei schön, möchte ich darauf hinweisen, dass der Begriff Deutschland zu allgemein gefasst ist. Es gibt viele Deutsche. Darunter gibt es Deutsche, denen es gut geht, und es gibt Deutsche, denen es weniger gut geht. Es gibt Deutsche, die arbeitslos sind, und es gibt Deutsche, die unterhalb des Existenzminimums leben. Auch über die müssen wir reden. Das ist kein Schlechtreden Deutschlands, sondern schlicht und einfach ein Sich-Auseinander-Setzen mit der Realität, eine Aufgabe, die wir in diesem Hause nicht aus den Augen verlieren dürfen. ({1}) Nun hat der Bundesfinanzminister in der ihm eigenen Klarheit seine Argumente vorgetragen. Das ist erfrischend. Deshalb kann man sehr gut darauf eingehen. Er hat zwei Ziele für die Regierung angegeben, nämlich die Wachstumskräfte zu stärken und den Haushalt zu konsolidieren. Wer wollte gegen diese zwei Ziele etwas haben? Die Frage ist aber, wie diese beiden Ziele zueinander in Bezug gesetzt werden; das ist die entscheidende Frage der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wenn man die Wachstumskräfte tatsächlich enorm stärken kann, dann hat man in dem Maße der Stärkung Mehreinnahmen und Minderausgaben. So zeigt sich überall in den Industriestaaten, dass auf diesem Weg die Haushaltskonsolidierung tatsächlich gelingt. Wenn der Akzent zu stark auf der Haushaltskonsolidierung liegt, dann gelingt es eben nicht, die Wachstumskräfte zu stärken, und es gelingt auch nicht, den Haushalt zu konsolidieren. Man muss doch fairerweise zugeben, dass Ihr Vorgänger im Amt enorme Anstrengungen unternommen hat, den Haushalt zu konsolidieren. Er hat aber zwei Fehler gemacht: Es gelang ihm nicht ausreichend, die Wachstumskräfte zu stärken, und er hat darüber hinaus die Einnahmen deutlich geschwächt. So landete er bei einer immer höheren Verschuldung. Die Frage ist, ob die jetzige Handlungsweise der Regierung sinnvoller und in sich stimmiger ist. Zunächst einmal zur Frage der Haushaltskonsolidierung. Es wird in diesem Zusammenhang immer wieder von der Nettoneuverschuldung gesprochen. Man muss darauf hinweisen, dass diese zunächst einmal nichts über die Frage aussagt, die ich aufgeworfen habe. Die einzige Aussage, die man heranziehen kann, betrifft die Ausgabenseite. Da stellen wir fest, dass Sie angeben, in diesem Jahr genauso viel ausgeben zu wollen wie im letzten Jahr. Wenn Sie die Preiseffekte abziehen, dann haben Sie eine leicht restriktive Haushaltspolitik. Insofern kommen auch die Beobachter der Wirtschaft zu dem Ergebnis, dass die Haushaltspolitik in diesem Jahr keinen Beitrag zu Wachstum und Beschäftigung leistet. Damit muss man sich rational auseinander setzen. Solange man die Ausgaben nicht steigert, kommt kein positiver Impuls - so ist nun einmal die Logik - von der Haushaltsseite zur Stärkung von Wachstum und Beschäftigung. ({2}) Nun haben Sie dankenswerterweise - das möchte ich ausdrücklich anerkennen, weil das gewissermaßen eine Zäsur hier im Hause darstellt - gesagt, dass Sie auf der Einnahmeseite ein Niveauproblem haben. Ich bin dankbar, dass seit Monaten jetzt zum ersten Mal hier im Plenum die Steuer- und Abgabenquote in Deutschland realistisch dargestellt wird. Wir haben nun einmal im OECD-Vergleich mit 34 Prozent eine einmalig niedrige Steuer- und Abgabenquote. Wir liegen um 6 Prozentpunkte unter dem europäischen Durchschnitt. Ich möchte Ihre Unterhaltung mit der Kanzlerin nicht stören, will aber auf einen wichtigen Punkt zu sprechen kommen. Sie, Frau Bundeskanzlerin, müssen sich entscheiden, welche Steuer- und Abgabenquote Sie anstreben; sonst ist alles, was hier vorgetragen wird, leeres Gesums. Man muss das in aller Klarheit sagen. ({3}) Die Frage, die Sie beantworten müssen, ist folgende: Wollen Sie auf das europäische Niveau? Es wäre ja vorstellbar, dass jemand in Deutschland den Mut hat, das europäische Niveau der Steuer- und Abgabenquote zu erreichen. Oder wollen Sie das nicht? Wollen Sie weiterhin 6 Prozentpunkte unter dem europäischen Niveau bleiben? Das heißt: Wollen Sie weiterhin 130 Milliarden Euro Mindereinnahmen im Vergleich zu den europäischen Nachbarn haben? Das ist für die Konsolidierung und für die Haushaltspolitik nun wirklich keine irrelevante Frage. In diesem Zusammenhang haben Sie beispielsweise auch auf die Überschüsse Finnlands und Schwedens hingewiesen. Herr Bundesfinanzminister, die Angaben sind ja richtig; ich will Ihnen aber einen Hinweis geben: Hätte Deutschland die Steuer- und Abgabenquote dieser Länder, dann würden Sie im Geld schwimmen. Sie brauchen das nur umzurechnen. ({4}) Wenn man schon diese Beispiele anführt, dann muss man auch die Zahlen nennen und die daraus resultierenden Konsequenzen ziehen. Sie hätten dann keine Probleme, Forschung, Bildung, öffentliche Investitionen usw. zu finanzieren. Diese Länder stellen nun einmal eine Widerlegung des neoliberalen Glaubens dar, dass man bei einer möglichst niedrigen Steuer- und Abgabenquote viel Wachstum und Beschäftigung hat, tolle Bildungseinrichtungen vorhalten kann, Forschungsausgaben finanzieren kann usw. Was in diesen Ländern geschehen ist, steht im Gegensatz zu der lange Jahre herrschenden Ideologie und ist ein Beweis dafür, dass eine hohe Steuer- und Abgabenquote sehr wohl mit einem hohen Beschäftigtenstand, einem dichten sozialen Netz und einem hervorragenden Bildungswesen einhergeht. Wir sollten in Deutschland genau die Schritte, die dort gegangen worden sind, anstreben. ({5}) Sie haben wieder auf die steuerliche Wettbewerbsfähigkeit hingewiesen. Auch der Kollege von der FDP hat darauf hingewiesen, dass dies ein Problem sei. Ich möchte deutlich sagen, dass dies in Deutschland überhaupt kein Problem ist. Herr Kollege von der FDP, Sie sagen, wir seien international nicht wettbewerbsfähig. Das ist, da wir Exportweltmeister sind, einfach nicht mehr nachvollziehbar. ({6}) Aber wenn Sie es einfach steuerlich gemeint haben, dann ist das schlicht falsch. ({7}) Sie müssen sich von den nominalen Steuersätzen lösen - aus propagandistischen Gründen werden sie ununterbrochen angeführt - und sich der Realität stellen. ({8}) Hans Mundorf, der Chefredakteur des „Handelsblatts“, hat schon vor der Steuerreform 2000 im „Handelsblatt“ geschrieben, dass die angeblich so hohe Belastung der deutschen Unternehmen mit Steuern ein reiner Phantomschmerz sei. Nach all dem, was in den letzten Jahren geschehen ist, ist das immer noch ein reiner Phantomschmerz. Wenn Sie angesichts der exorbitanten Gewinne, die die Unternehmen mittlerweile ausweisen, immer noch meinen, die Lösung der Probleme bestehe darin, die Steuerlast der Unternehmen zu senken, dann liegen Sie völlig falsch. Ich möchte das hier in aller Klarheit sagen. ({9}) Richtig liegen Sie natürlich, wenn Sie auf die Probleme der kleinen und mittleren Unternehmen hinweisen. Die 2,9 Millionen Unternehmen, die weniger als zehn Beschäftigte haben, profitieren von den ganzen Steuergesetzen der letzten Jahre, von der Freistellung von Veräußerungsgewinnen, von der Änderung der Körperschaftsteuersätze usw. usw., nicht. Herr Kollege Steinbrück, Sie haben hier die Einkommensteuer angesprochen. Dem ist zu entgegnen, dass 73 Prozent dieser Unternehmen den Spitzensteuersatz niemals erreichen. Insofern war dies eine Fehlentscheidung. Aus unserer Sicht ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass die Mehrheit des Volkes dasselbe Interesse wie die kleinen und mittleren Unternehmen hat. Dieses Interesse lässt sich ganz einfach formulieren: Die 2,9 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten sind in erster Linie darauf angewiesen, dass Löhne und Renten in Deutschland endlich wieder steigen; sonst gibt es keine Erholung der Binnennachfrage. Alles andere ist schlicht kalter Kaffee. ({10}) Herr Bundesfinanzminister, Sie haben behauptet - auch im Dialog mit Ihren Kollegen auf europäischer Ebene -, unsere Lohnstückkosten hätten sich günstig entwickelt. Dies ist an dieser Stelle noch einmal zu hinterfragen. Deutschland betreibt mittlerweile ein solches Lohndumping, dass die Europäische Währungsunion gefährdet ist. Ich weiß, dass es im Moment noch wenig Sinn hat, das hier anzusprechen; darum spreche ich es nur für das Protokoll an. Mit einem solchen Lohndumping ist die Europäische Währungsunion auf Dauer nicht zu halten. Wir haben mittlerweile Wettbewerbsvorteile von bis zu 20 Prozent gegenüber Portugal. Gegenüber Spanien und Italien ist unser Wettbewerbsvorteil etwas geringer. Wenn wir dieses Lohndumping fortsetzen, dann gefährden wir die Europäische Währungsunion und damit die europäische Einigung. ({11}) Herr Kollege Steinbrück, Sie haben die öffentlichen Investitionen angesprochen. Geboten ist hier einfach der Blick auf das europäische Durchschnittsniveau. Das deutsche Niveau fällt immer weiter zurück. Wenn wir nur das europäische Durchschnittsniveau erreichen wollten - das hat natürlich etwas mit der Einnahmeseite zu tun -, dann brauchten wir pro Jahr zusätzliche öffentliche Ausgaben in Höhe von 25 Milliarden Euro. Ohne ein solches Verstetigen der öffentlichen Investitionen kommt es bei uns auch nicht zu einem Wachstum und einer Beschäftigung wie in unseren Nachbarstaaten. Dies ist ein weiterer Hinweis von unserer Seite zu Ihren Ausführungen. ({12}) Da die Zeit knapp wird, möchte ich noch etwas zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sagen. Alles, was Sie da tun, ist zu unterstützen. Aber es gibt eben viele Familien, die keine Steuern zahlen. Wenn Sie bei der steuerlichen Förderung ansetzen, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern, dann klammern Sie gut 20 Prozent der Bevölkerung aus. Das ist nicht gerechtfertigt. ({13}) Auch die Menschen, die ein geringes Einkommen haben, müssen Familie und Beruf vereinbaren können. Insofern setzen Sie hier wiederum an der völlig falschen Stelle an. Nachträglich unterstützen möchte ich Ihre Aussagen zu Kontoabfragen. Es ist gut, dass ein Bundesfinanzminister dies hier einmal in aller Klarheit sagt. Das so genannte Bankgeheimnis ist nichts anderes als ein Scheinrecht, das denjenigen, die davon profitieren und die sich darauf immer wieder berufen, Steuerhinterziehung ermöglicht. ({14}) Wenn Sie darauf hinweisen, meine Damen und Herren, dass damit zu viel Bürokratie verbunden ist, dann möchte ich Ihnen sagen: Vergleichen Sie einmal die Bürokratie an dieser Stelle, an der es darum geht, höhere Vermögen und Einkommen zu besteuern, mit der Bürokratie gegenüber Hartz-IV-Empfängern! ({15}) Wenn Sie das tun, dann werden Sie sehr schnell einräumen müssen, dass hier einiges im Ungleichgewicht ist. Zusammenfassung: Ich glaube, dass Sie die entscheidende Frage nicht beantwortet haben, nämlich: Mit welchem Steuer- und Abgabensystem wollen Sie auf Dauer öffentliche Investitionen sicherstellen, bei Bildung und Forschung sowie dann auch notwendigen antizyklischen Maßnahmen mit anderen Industriestaaten konkurrieren? Was Sie bisher beschlossen haben, ist überhaupt keine Antwort darauf. Die Mehrwertsteuererhöhung - ich muss es am Schluss noch einmal sagen - ist nicht nur ein Wahlbetrug, sondern sie ist auch konjunkturell ein Schlag ins Gesicht. Die jetzt sichtbaren Wachstumskräfte reichen nicht aus, den Einbruch zu kompensieren, der im nächsten Jahr zu erwarten ist. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube nicht, dass es für die Konjunktur und für die Zukunft dieses Landes hilfreich ist, wenn man heute ein Gute-Laune-Programm für Teile der Wirtschaft verkündet, kurz darauf den roten Teppich, der gerade ausgerollt wurde, wieder einrollt und die Bürger und Bürgerinnen dieses Landes weitaus mehr belastet, als man sie vorher zu entlasten geglaubt hat. ({0}) Wir haben hier die Situation, dass auf der einen Seite ein paar kleine Änderungen gemacht werden, die teilweise okay sind, über die man teilweise aber noch reden muss, dass aber auf der anderen Seite eine Mehrwertsteuererhöhung kommt, der Sparerfreibetrag halbiert wird, obwohl man den Leuten sagt: „Sorgt mehr fürs Alter vor, spart mehr für das Alter!“, und die Versicherungsteuer erhöht wird, obwohl bestimmte Versicherungsbereiche für die Altersvorsorge genutzt werden. Insgesamt sammelt man in einer Größenordnung von rund 25 Milliarden Euro pro Jahr ein. In diesem Jahr gibt man den Leuten bzw. der Wirtschaft 2,5 Milliarden Euro zurück. Das ist die Relation, um die es geht. Ich glaube nicht, dass mit dieser kurzsichtigen Politik das Vertrauen von Bürgern und Unternehmen insgesamt in den Standort Deutschland mittel- und langfristig gestärkt wird. ({1}) Alle reden darüber, dass strukturelle Reformen für dieses Land zwingend notwendig sind. Wir sehen aber, dass, abgesehen von dem bisherigen Klein-Klein, die große Koalition immer noch nicht in der Lage ist, sich auf Strukturreformen zu einigen. Peer Steinbrück nimmt 2006 ein verschärftes EU-Defizitverfahren in Kauf, rückt Deutschland damit in eine gefährliche Nähe zu Strafzahlungen in der Größenordnung von rund 10 Milliarden Euro an die EU ({2}) und setzt alles auf die Steuererhöhungskarte. Sie müssen einmal Folgendes sehen: Wenn Deutschland 2007 das Maastrichtkriterium eventuell wieder einhält, dann nur deswegen, weil das Aufkommen der auf 19 Prozent erhöhten Mehrwertsteuer vorwiegend in den Haushalt fließt. Die gesamte Finanzplanung hängt aber völlig in der Luft. Wir sehen, dass es in der großen Koalition keine Einigung gibt, dass das geringere Defizit allein das Ergebnis der Steuererhöhungen ist und dass die strukturellen Probleme, wie gesagt, unverändert bestehen bleiben. Wenn die Konjunktur ein Stück nachlässt, schnellt das Defizit im Prinzip sofort wieder nach oben. Das ist keine gute Politik, ({3}) bei der man mit Verlässlichkeit für die Zukunft planen kann. ({4}) Eindrucksvoll ist auch, wie die große Koalition ihre mangelnde Einigungsfähigkeit beispielsweise bei der Gesundheitsreform derzeit inszeniert. Es gibt einen ideologischen Grabenkampf zwischen SPD und Union. Da ist, wie man lesen kann, jetzt Stillstand eingetreten. Ulla Schmidt will Beitragsfinanzierung. Stimmen aus der Union fordern Steuerfinanzierung. Fazit dieser festgefahrenen Debatte: Wir machen überhaupt nichts. - Derjenige, der gegenüber einer Zeitung gesagt hat, dass man sich jetzt nur noch auf die Ausgabenseite konzentrieren will, hat seinen Namen nicht genannt. Ich kann auch verstehen, dass der zitierte Spitzenpolitiker auf eine Namensnennung verzichtet hat. ({5}) Bei der Unternehmensteuerreform sollen, wie Peer Steinbrück sagt, Steuerausfälle ausgeschlossen werden. Nach dem von der Stiftung Marktwirtschaft vorgelegten Modell ist mit Steuerausfällen in Höhe von 10 Milliarden Euro zu rechnen, nach dem vom Sachverständigenrat der Bundesregierung vorgelegten Modell ist mit Steuerausfällen in Höhe von 22 Milliarden Euro, und zwar pro Jahr, zu rechnen. Letzterer kommt dann auf die Idee, dass man die 22 Milliarden Euro Steuerausfälle abfangen kann, indem man die Mehrwertsteuer auf 21 Prozent erhöht. Dazu kann ich nur sagen: Klasse Idee! Das wäre ein Totschläger für die Inlandsnachfrage. Das wissen auch Sie. So bin ich ganz froh, dass Sie sich nicht darauf einlassen, obwohl Herr Meister von der CDU ja gesagt hat, man müsse das alles völlig vorurteilsfrei prüfen. Das Fazit lautet auch hier: Es ist ein Konflikt vorprogrammiert. Deswegen wird die Unternehmensteuerreform wohl nicht in der Form kommen, wie sie sich manch einer vorstellt; denn es ist ja bislang überhaupt keine Einigung absehbar. Was Bürger und Bürgerinnen und Wirtschaft wollen, Frau Bundeskanzlerin, sind Steuervereinfachung und Bürokratieabbau. ({6}) Statt einer Vereinfachung des Steuerrechts haben wir heute jedoch eine Vielzahl von neuen Regelungen präsentiert bekommen, die das System noch komplizierter machen, seien es nun die Regelungen zu Kinderbetreuungskosten, seien es andere Maßnahmen. ({7}) In der Konsequenz bedeutet Steuerpolitik der großen Koalition: komplizierter, verworrener, vertrackter. ({8}) Die Bürger haben nicht, wie es Herr Merz von der Union immer gefordert hat - er ist ja immer noch im Rennen und hat, wie man hören konnte, jetzt einen Orden erhalten -, eine Steuerreform bekommen, bei der ein Bierdeckel ausreicht, sondern das Steuerrecht gleicht nun eher einem riesigen Bierzelt mit einem eingebauten Labyrinth. Das ist die Konsequenz der von Ihnen betriebenen Politik. ({9}) Der Bürokratieabbau - das war die zweite Maßnahme, die sich die Bürgerinnen und Bürger dringend für dieses Land wünschen und die nötig ist, damit mehr Investitionen kommen - wurde zunächst von der Kanzlerin zur Chefsache erklärt, ({10}) wird jetzt aber von ihr eigenhändig von der Tagesordnung des Kabinetts gestrichen. Daran sieht man, dass Ankündigungen anscheinend bloße Ankündigungen bleiben und dass sich diese Koalition, wenn es konkret wird, nicht einigen kann. Das heißt, es gibt keine konsistente Strategie, sondern es regiert das Prinzip Hoffnung. Peer Steinbrück hat ja jüngst vor der IHK in Frankfurt festgestellt, dass wir im Haushalt ein Strukturproblem haben, indem wir zu viel Vergangenheit und zu wenig Zukunft finanzieren. Damit haben Sie, Herr Steinbrück, wirklich Recht. Nur lösen Sie genau dieses Problem mit Ihren Vorschlägen nicht. Wenn Sie sich hier hinstellen und fordern, die Ausgaben für Bildung und Forschung müssten 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erreichen, aber zugleich in der Kabinettssitzung der Ansatz für Bildung und Forschung zurückgefahren wird, frage ich mich, welche Perspektive man verfolgt. ({11}) Die Wachstumsstrategie des Wirtschaftsministers Michael Glos erschöpft sich im Hoffen auf Besserung. Mittlerweile beklagen sich bereits Wirtschaftsverbände der Union. Im „Handelsblatt“ vom 14. Februar fordern sie: Wir brauchen in diesem Amt eine Persönlichkeit, die als marktwirtschaftliches Gewissen der Regierung ernst genommen wird. Weiter heißt es: Glos fehle die erforderliche klare ordnungspolitische Orientierung ebenso wie das nötige Fachwissen. Dazu kann ich nur sagen: Hört! Hört! Wenn aus den eigenen Reihen eine solche Kritik geübt wird, dann brauchen wir sie gar nicht mehr zu formulieren. Sie erledigen das ja anscheinend selbst. ({12}) Als Reaktion auf die Probleme am Arbeitsmarkt verteuert die große Koalition das Erfolgsmodell Minijob. Wir haben ja mittlerweile gelernt, dass es sich dabei um etwas Positives handelt, auch wenn das Linksbündnis das immer noch nicht kapiert hat, aber egal. Sie verteuern dieses Modell, indem Sie die Abgaben von 25 auf 30 Prozent anheben, und gefährden damit viele kleine Jobs. ({13}) Auf der anderen Seite diskutieren Sie über ein Kombilohnmodell, das Milliarden kostet. Ich frage mich, um welche Strategie es sich handelt, wenn man zuerst Jobs im unteren Lohnbereich verteuert und dann Kombilohnmodelle anbietet, die vielfältige Mitnahmeeffekte auslösen. Da haben die Grünen wahrlich einen besseren Vorschlag eingebracht. ({14}) Meine Damen und Herren, wir brauchen gezielte Politik für Zukunftsbereiche, in denen Arbeitsplätze entstehen. Wir haben als Grüne in den letzten Jahren im Umweltsektor viel für die regenerativen Energien getan, einen boomenden Bereich, in dem Deutschland weltweit führend ist. Wir brauchen eine Wirtschafts- und Finanzpolitik, die unsere Stärken konsequent weiterentwickelt. Wir brauchen vor allen Dingen eine verlässliche Perspektive. Diese gibt Schwarz-Rot derzeit beileibe nicht. Danke schön. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ortwin Runde, SPD-Fraktion.

Ortwin Runde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Thiele, Sie haben über den Kernbereich der FDP-Politik geredet. Eigentlich habe ich bisher vermutet, es sei nur ein Verdacht, dass der Schutz vor Kontenabfragen und das Schützen derjenigen, die ein bisschen Steuern hinterziehen, zum Kernbereich Ihrer Politik gehören. Dass Sie das in Ihrer Rede aber so direkt als einen der ersten Punkte ansprechen, hat mich schon ein wenig verwundert. ({0}) Diese Art von Offenheit und Ehrlichkeit hat man wirklich selten. Der vorliegende Gesetzentwurf ist Teil eines umfassenden Konzeptes. Neben dem Gesetzentwurf gibt es die Aussage in der großen Koalition, für Forschung und Entwicklung 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auszugeben. Das ist eine Zielsetzung, die, wie ich sehe, von fast allen Fraktionen des Hauses geteilt wird. ({1}) Langfristig hat das eine sehr positive Wirkung. Ein anderer Teil des Konzeptes, der hier nicht enthalten ist, weil wir hier nur über 21 Milliarden Euro reden, ist die energetische Gebäudesanierung. Auch das ist ein Punkt, der, wie ich glaube, bei nüchterner Betrachtung sehr positiv bewertet wird. ({2}) Bei dem Gesamtkonzept wird etwas sichtbar, was auch für die verschiedenen Bestandteile des vorliegenden Gesetzentwurfes gilt, dass nämlich nicht allein die Haushaltsausgaben und die Steuerausfälle eine Rolle spielen, sondern dass es Multiplikatoreffekte gibt, die bei der energetischen Gebäudesanierung, der AfA, aber auch bei anderen Teilen wirksam werden. Das heißt, die 37 Milliarden Euro, die über vier Jahre ausgegeben werden sollen, vermehrfachen sich entsprechend in der Wirkung. Frau Scheel, Sie haben gesagt, das sei ein „GuteLaune-Programm“. Da muss ich sagen: Ich wäre in früheren Zeiten froh gewesen, wenn wir im Bereich Wirtschaft die pessimistische Stimmung in Richtung guter Laune hätten drehen können. ({3}) Da waren gewisse „gesäßgeographische“ Veränderungen schon sehr hilfreich, dass das jetzt in großem Umfang gelungen ist. Der alte Vorwurf, Herr Thiele, es handele sich lediglich um ein Strohfeuer und nicht um ein wirksames Programm, ist schon durch die Veränderung bei den Prognosen widerlegt. Man muss sich einmal anschauen, wie die Prognosen vor einigen Monaten aussahen und wie sie sich verändert haben. Zunächst wurde ein Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent prognostiziert, dann waren es 1,8 Prozent; inzwischen spricht der Deutsche Industrie- und Handelskammertag von 2 Prozent. Daran wird deutlich, dass dieses Programm konjunkturpolitische Wirkung entfaltet, dass es einen erheblichen Impuls für die wirtschaftliche Entwicklung gibt und damit eine Chance nicht nur für mehr Wachstum, sondern auch für mehr Beschäftigung. Das ist nicht unser Urteil, sondern das können Sie überall in der Presse und bei den Ökonomen nachlesen. Herr Thiele hat wie üblich gesagt, im Haushalt sei im Bereich der Ausgaben nicht hinreichend eingegriffen worden. ({4}) Schauen wir uns das einmal an. Die Ausgabenseite des Haushalts war in den letzten Jahren nicht das Problem. Die Ausgabenzuwächse waren sehr gering. Was die Herstellung der Handlungsfähigkeit des Staates behindert, ist ein Einnahmeproblem. Da sind wir wieder bei der Kontenabfrage. Das entspricht Ihrer Mentalität, auch im Zusammenhang mit den Steuereinnahmen, dem Abbau von Steuersubventionen und Ähnlichem mehr. Es besteht jedoch kein Problem auf der Ausgabenseite. Sie müssten auch sagen, in welchen Bereichen Sie Ausgabenkürzungen vornehmen wollen, um das für die Finanzierung Ihrer Programme benötigte Geld einzusparen. ({5}) Wir kennen doch alle die großen Ausgabenblöcke. Man kommt sehr schnell auf Bereiche wie aktive Arbeitsmarktpolitik und soziale Sicherungssysteme von Rente bis zur Gesundheit. An diese Bereiche müsste man herangehen. Mathematisch geht es gar nicht anders. Wir stehen natürlich vor einer großen Herausforderung, was den gesamten Bereich Steuerpolitik und insbesondere den Bereich Unternehmensteuerpolitik angeht. Wir werden in den nächsten eineinviertel Jahren sehr intensive Diskussionen darüber führen müssen. Dabei wird es um folgende Fragen gehen: Welche Art der Unternehmensteuerreform ist zielführend? Kann es immer nur um Steuersatzdumping gehen oder muss es nicht vor dem Hintergrund europäischer Aspekte auch um andere Dinge gehen? Wir müssen uns auch mit der Frage beschäftigen, wie wir Wettbewerbsfähigkeit auf der europäischen Ebene schaffen können, ohne die Finanzierungs- und Handlungsgrundlagen aller europäischen Länder zu zerstören. ({6}) Es ist ein Unterschied, ob steuerpolitische Maßnahmen in Ländern wie Estland oder Lettland oder in Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt werden. Die Übertragung der Steuerpolitik kleiner Länder als Muster auf die Volkswirtschaft eines Landes mit 83 Millionen Einwohnern ist methodisch nicht sehr günstig. Wir werden uns damit beschäftigen müssen, ob wir den Wettbewerb bei den Steuersätzen, den wir in den letzten anderthalb Jahrzehnten in Europa zu verzeichnen hatten, nicht durch entsprechende Harmonisierungen auf der europäischen Ebene verhindern können. Dieses wird eine der ganz wesentlichen Herausforderungen sein. In den vorliegenden Steuerreformkonzepten des Sachverständigenrates und der Stiftung Marktwirtschaft werden, gleiche Bedingungen vorausgesetzt, Ausfälle in Höhe von 22 Milliarden Euro vorhergesagt. Können wir uns in der gegenwärtigen und in der absehbaren Situation Steuerausfälle in der Größenordnung von 22 Milliarden Euro zugunsten von Unternehmen leisten? Ist das mit der Konsolidierung der Haushalte und mit der Einhaltung der Maastricht-Kriterien zu vereinbaren? Das sind ganz spannende Fragen, die wir zu beantworten haben. Bezüglich der Gewerbesteuer müssen wir Folgendes sehen: Was bedeutet die Umschichtung von 32,5 Milliarden Euro Gewerbesteueraufkommen für die Investitionstätigkeit und für die Investitionsbereitschaft der Gemeinden? ({7}) Denn durch die schon anderthalb Jahre währende Diskussion über die Abschaffung der Gewerbesteuer, die in Ihrem Konzept enthalten ist, wurden die Gemeinden verunsichert. Ich kann nur sagen, dass wir die Finger davon lassen sollten. Der frühere Vorsitzende des Sachverständigenrates, Herr Wiegard, hat in kluger Voraussicht gesagt, die Wissenschaftler seien 30 Jahre gegen die Gewerbesteuer angerannt und sie könnten dieses Anrennen auch weiterhin aushalten. Wir sollten die Gewerbesteuer beibehalten, weil sie für die Handlungsfähigkeit dieser Körperschaftsebene dringend gebraucht wird und die Investitionen für das Wachstum von entscheidender Bedeutung sind. ({8}) Natürlich ist es so, dass wir bezogen auf die gegenwärtige Situation eine Stärkung der Binnennachfrage brauchen. Da sind aber nicht nur der Staat, sondern auch die Unternehmen gefragt, die heute große Gewinne machen. Dass diese Unternehmen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Gewinn beteiligen, liegt im volkswirtschaftlichen Interesse, langfristig aber auch im Interesse dieser Unternehmen. Insofern sind die früheren Aussagen von Herrn Glos, die zwischenzeitlich aufgrund seines neuen Amtes ein wenig relativiert wurden, immer noch richtig. In diesem Punkt unterstützen wir ihn weiterhin. Schönen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die drei vorliegenden Gesetzentwürfe sind bezeichnend für die Finanzpolitik der Bundesregierung. Mit dem einen bekommen die Bürger ein wenig zurück; mit den beiden anderen wird kräftig einkassiert. ({0}) Nun ist es bestimmt - da gibt es überhaupt keinen Zweifel - eine gute Sache, gegen Steuermissbrauch vorzugehen. Aber, Herr Minister Steinbrück, dann muss man das auch konsequent machen. Ein schon hundertmal geflickter Sack wird nicht besser, wenn man zwei weitere Flicken aufnäht. Während Sie ein Loch flicken, reißen in unserem Steuersystem zwei neue auf. Wenn man sich die Begründung zu Ihren Gesetzentwürfen durchliest, dann hat man den Eindruck: Da ist ein beleidigter Gesetzgeber, der sich echauffiert, weil die Bürgerinnen und Bürger in den Gesetzen Schlupflöcher finden und nutzen. Dabei wird ausgeklammert, dass der Gesetzgeber selbst diese Schlupflöcher geschaffen hat. ({1}) Das Problem sind nämlich nicht die Bürgerinnen und Bürger mit ihren wohlverstandenen Sparbemühungen; das Problem sind handwerklich schlecht gemachte Gesetze. In der Begründung zu Ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Verringerung steuerlicher Missbräuche und Umgehungen heißt es wörtlich: Einzelne Steuerzahler versuchen, sich der Steuerzahlung … durch legale, aber unerwünschte Umgehungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zu entledigen. „Legal, aber unerwünscht“, das ist die zentrale Aussage. Der Gesetzgeber macht schlechte Arbeit und beschwert sich dann über legale, aber unerwünschte Steuersparmöglichkeiten. ({2}) Das ist ein offensichtlicher Offenbarungseid der Politik. Sollen denn Steuerzahler sich nicht mehr daran halten, was in Deutschland legal ist, sondern daran, was Herr Steinbrück wünscht? Das ist doch kein vernünftiges Steuersystem und kein verlässliches Steuerrecht. ({3}) Wenn Sie in Zukunft vernünftige Gesetze vorlegen, die ein Konzept darstellen und mit denen Steuerhinterziehung und Steuerumgehung ausgeschlossen werden sollen, dann kämpft die FDP an Ihrer Seite; das ist gar keine Frage. Aber die Einführung der Kategorie „unerwünscht“ oder „erwünscht“ in Gesetze, so wie es sich der Finanzminister vorstellt, lehnen wir ab. So kann man sich nicht aus der Verantwortung stehlen, endlich ein klar verständliches Steuerrecht aus einem Guss auf den Tisch zu legen. ({4}) Nun sollte man von einer großen Koalition eigentlich große Schritte erwarten. Aber wir bekommen von Ihnen nur Flickschusterei geboten. Ihnen fällt nichts anderes ein, als einen zerrissenen Sack immer wieder mit einem neuen Flicken zu reparieren. Zu einem Steuersystem, das endlich nicht mehr mit politischen Absichten und sich widersprechenden Gerechtigkeitsansprüchen überfrachtet ist, sind Sie schlichtweg nicht imstande. Ihre Diagnose ist richtig: Die Menschen nutzen jeden Spielraum, um die Zahlung von Steuern zu vermeiden. Nur, bei der Therapie liegen Sie komplett falsch. Es sind nicht die Bürgerinnen und Bürger, Herr Steinbrück, die an den Pranger gehören. Zu Ihrem Umgang mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten, den Sie vorhin diffamiert haben, indem Sie so locker sagten, er mache seine Arbeit nicht richtig und fahre eine Kampagne gegen Sie, muss ich sagen: Ich bin sehr froh, dass der Datenschutzbeauftragte Ihnen und Ihren Finanzbehörden im Interesse der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes auf die Finger schaut. ({5}) Denjenigen, die von Ihnen fordern, dass beim Vollzug der Kontenabfragen die Grundsätze unseres Grundgesetzes eingehalten werden, zu unterstellen, sie unterstützten Steuerhinterzieher, und darüber freundlich zu lächeln, ist ein Rechtsstaatsverständnis, über das man sich nur wundern kann. ({6}) Man kann die Steuerumgehung durch ein einfaches und gerechtes Steuersystem bekämpfen, ein Steuersystem, wie es die FDP vorgelegt hat und wie wir es seit langem fordern. Sie können in unseren Gesetzentwürfen nachlesen, wie man so etwas macht. Dort finden Sie praktikable Lösungen, zu deren Umsetzung Ihnen aber die Kraft fehlt, weil Sie sich nicht darauf verständigen können. Die große Koalition der kleinen Schritte ist eine Koalition des Wankelmutes; das haben Sie mit den heute vorliegenden Gesetzentwürfen wieder bewiesen. Sie können sich nicht zu klaren Signalen durchringen. Deshalb bieten Sie uns ein finanz- und wirtschaftspolitisches Hin und Her. Da soll die Wirtschaft mit einem Sofortprogramm entlastet und angekurbelt werden und dann kommt die Mehrwertsteuererhöhung und macht all das wieder kaputt. Mit einem Schritt vor und zwei Schritten zurück kommen wir nicht weiter. Auch wenn Sie an der einen Stelle ein bisschen entlasten, stehen bei Ihnen unterm Strich - das wissen Sie ganz genau - massive Belastungen im Vordergrund. ({7}) Die größte Einigkeit, die wir bei dieser Koalition festgestellt haben - das hätten die Wählerinnen und Wähler von Ihnen am wenigsten erwartet -, ist die Einigkeit auf eine Mehrwertsteuererhöhung um drei Prozentpunkte. Obwohl die Steuereinnahmen steigen und ein Licht am Horizont erkennbar ist, nutzen Sie diese Situation nicht, um die von Ihnen geplante, völlig verfehlte Mehrwertsteuererhöhung zu überdenken. Sie passen sich der Entwicklung überhaupt nicht an und lassen der Wirtschaft keine Entwicklungsspielräume, sondern halten starr an diesem Steuererhöhungsprogramm fest, obwohl wir alle wissen, dass es für die Binnennachfrage schädlich ist und dass es sich negativ auf die Wirtschaft und natürlich auch auf den Arbeitsmarkt auswirken wird. ({8}) Einem Licht am Horizont wird von Ihnen damit begegnet, Herr Steinbrück, dass Sie ihm durch Ihre Mehrwertsteuererhöhung den Strom abdrehen. Das ist kein Programm für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. Die Kunst besteht heute nicht darin, den Menschen das Geld, das sie erwirtschaftet haben, zu nehmen und es umzuverteilen. Die Kunst und die Aufgabe, vor der diese Regierung steht, besteht darin, den Bürgerinnen und Bürgern einen angemessenen Teil zu belassen, damit sie die Vorsorge treffen können, zu der der Staat nicht mehr in der Lage ist, und damit die Wirtschaft wachsen kann und neue Arbeitsplätze in unserem Land entstehen. Ihre Vorschläge führen in dieser Hinsicht keinen einzigen Schritt weiter. Vielen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Michael Meister, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Scheel, der Regierungswechsel macht sich in Deutschland positiv bemerkbar. Die Verwirrung ist im Herbst gewichen, Klarheit und Perspektive haben Einzug gehalten. ({0}) Ich glaube, das ist ein Verdienst dieser Koalition. ({1}) Zu Recht ist heute früh die positive Stimmung in der Wirtschaft gelobt worden; auf die Konjunktur und das Ergebnis der Stimmungsumfragen ist hingewiesen worden. Ich glaube, wir können feststellen, dass das viel damit zu tun, dass der Wechsel von Verwirrung zu Klarheit und Verlässlichkeit bei den Menschen im Land, bei denen, die Entscheidungen treffen, angekommen ist. ({2}) Der Stimmungswechsel in Deutschland hat etwas mit den objektiven Faktoren zu tun, zum Beispiel mit dem guten Export. Der Stimmungswechsel hat aber auch etwas damit zu tun, dass die neue Regierung starkes Vertrauen in der Bevölkerung genießt. Das zeigt sich nicht nur daran, dass der Export gut läuft, sondern auch daran, dass die Inlandsnachfrage mittlerweile anzieht, dass die Investitionszurückhaltung überwunden scheint und dass die Menschen wieder Vertrauen in eine bessere Zukunft haben. Die Basis dafür sind der Koalitionsvertrag und diese neue Bundesregierung. ({3}) Wir diskutieren heute in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung. Dies ist Teil unseres Impulsprogrammes, mit dem wir zwei Ziele verfolgen: Erstens müssen wir versuchen, den einsetzenden Aufschwung zu verstärken, indem wir ihn an Breite gewinnen lassen und ihn dauerhaft selbsttragend machen. Zweitens geht es darum, die Wachstumsbasis unserer deutschen Volkswirtschaft nachhaltig zu stärken und dauerhaft zu festigen. 1 Prozent Potenzialwachstum ist auf Dauer zu wenig. Wir brauchen langfristig stärkere Wachstumskräfte für unsere Wirtschaft. Auch dazu werden wir einen Beitrag leisten. ({4}) Ich möchte dem einen oder anderen Redner in dieser Debatte sagen: Es bringt nichts, das Gesamtkonzept dieser Regierung auseinander zu dividieren. Wir reden über das Sparen - in der Haushaltswoche werden wir klare Worte zur Haushaltskonsolidierung sagen -, wir reden über das Investieren - das werden wir heute gemeinsam tun - und wir reden über langfristige Reformen, die in Vorbereitung sind und die wir zu gegebener Zeit, wie vereinbart, diskutieren werden. Hören Sie endlich auf, diese drei Elemente auseinander zu nehmen. Wir haben ein Gesamtprogramm und dabei sollte es auch bleiben. ({5}) Ich will ausdrücklich festhalten, dass dieses Impulsprogramm kein Konjunkturprogramm ist. Es geht zwar auch um die Stimulierung der Binnennachfrage. Aber dies allein wäre aufgrund unserer weltwirtschaftlichen Vernetzung viel zu wenig. Deshalb müssen wir uns auch mit der Frage beschäftigen: Wo können in unserem Land zusätzliche Arbeitsplätze entstehen? Mit diesem Programm haben wir versucht, eine Antwort darauf zu geben. Ich will Ihnen einige Beispiele nennen. Wir haben in Deutschland die klassisch-mittelständischen Unternehmen. Wir glauben, dass hier sehr viel Potenzial vorhanden und mobilisierbar ist. Wir müssen den Unternehmen bei der Stärkung des Eigenkapitals und der Verbesserung der Liquidität helfen. Wir können diese Unternehmen aber nicht bis zum 1. Januar 2008, also dem Zeitpunkt, bis zu dem wir die große Unternehmensteuerreform handwerklich sauber hinbekommen wollen, vertrösten, sondern müssen ihnen für diesen Zeitraum ein Angebot machen. Dabei werden wir die Umsatzgrenze bei der IstBesteuerung in den neuen Ländern so beibehalten, wie sie heute existiert, und die Umsatzgrenze für die Ist-Besteuerung in den alten Ländern verdoppeln. Damit stärken wir das Eigenkapital und verbessern die Liquidität gerade kleiner und mittelständischer Unternehmen. ({6}) Jetzt kann man sagen, dass wir die Abschreibungsbedingungen im Jahr 2000 verschlechtert haben, sie nun aber wieder verbessern wollen. Wir bieten eine klare und konsistente Unternehmensteuerreform zum 1. Januar 2008 an. ({7}) - Frau Scheel, auch an dieser Stelle gilt: Diese Unternehmensteuerreform ist ein Angebot und sie wird rechtzeitig hier im Haus verabschiedet werden. ({8}) Sie wird eine klare Perspektive bieten. Wir können den Unternehmen aber nicht sagen: Bis zu dem Zeitpunkt tun wir nichts und lassen die Probleme anwachsen. Deshalb bauen wir für diese zwei Jahre eine Brücke, indem wir die Abschreibungsbedingungen verbessern. Deshalb beschließen wir das jetzt. ({9}) Der zweite Bereich, von dem wir glauben, dass dort Arbeitsplätze entstehen können, ist der Privathaushalt. Wir sind der Meinung, dass in Privathaushalten viele neue Beschäftigungsmöglichkeiten entwickelt werden können. Wir denken dabei an Kinderbetreuung sowie die Betreuung Pflegebedürftiger. Deswegen tun wir mit diesem Gesetz etwas zur Verbesserung der Situation in diesen Bereichen. Wir kümmern uns darum, die steuerliche Absetzbarkeit der Kosten für haushaltsnahe Dienstleistungen zu vereinfachen. Außerdem schaffen wir mit den verbesserten steuerlichen Absetzungsmöglichkeiten für Handwerkerleistungen Anreize, Handwerker in Privathaushalten legal auf Rechnung arbeiten zu lassen. Dadurch werden diejenigen - das ist heute schon mehrfach gesagt worden -, die ohne Rechnung arbeiten, aus dem grauen oder schwarzen Bereich herausgedrängt und Arbeit wird legalisiert. ({10}) Wir müssen doch einmal zur Kenntnis nehmen, dass wir in Deutschland ein Schwarzarbeitsvolumen haben, das fast so hoch ist wie das Volumen der Arbeit, die von den derzeitigen Arbeitslosen geleistet werden könnte. Dann muss man sich doch die Frage stellen, ob wir diese illegale Beschäftigung nicht in die Legalität überführen können und so auch Steuer- und Abgabenzahlungen für die Volkswirtschaft sowie vernünftige Beschäftigungsbedingungen für die betroffenen Menschen bekommen. ({11}) Ein weiterer Bereich betrifft das Thema, wie wir es schaffen, die Wachstumspotenziale unserer Wirtschaft nachhaltig zu verbessern. Es ist wichtig, dass wir uns im Sinne des Lissabonprozesses darüber klar werden, dass wir hochwertige Dienstleistungen und Produkte brauchen. Das Zeichen für Spitzenqualität im Bereich Dienstleistungen und Produkte „Made in Germany“ muss auch in Zukunft eine Chance auf dem Weltmarkt haben. Wir müssen daher verstärkt in Technologieentwicklung und Forschung investieren. ({12}) Das kann die Politik aber nicht alleine. Wir können jedoch die Wirtschaft nicht einladen, sich stärker zu beteiligen, wenn die Politik nicht ihren Beitrag leistet. Deshalb verpflichten wir uns auf das Lissabonziel und erhöhen dauerhaft den Anteil für Forschungs- und Entwicklungsausgaben auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. ({13}) Die nachhaltige Stärkung unserer Wachstumsbasis, unserer Volkswirtschaft, hat auch etwas mit Mobilität zu tun. Es geht hierbei zunächst einmal nicht um die Menge an Geld, das wir bereitstellen, sondern für diejenigen, die an der Ausführung beteiligt sind, geht es zunächst einmal darum, dass wir Planungssicherheit schaffen und für Stetigkeit sorgen. Deswegen machen wir eine Vorgabe zur Festlegung der Ausgabevolumina für Infrastruktur in Deutschland für die nächsten vier Jahre. Damit sind an dieser Stelle Stetigkeit und Planungssicherheit gegeben. Darüber hinaus werden wir das Volumen deutlich steigern und mehr Geld zur Verbesserung der Infrastruktur bereitstellen. Wir müssen uns darüber klar sein, dass Mobilität und damit auch Infrastruktur die Basis für wirtschaftliches Wachstum ist. Das gehört zusammen. Ich glaube, dass langfristig mehr Mobilität zu mehr Wachstum führt, und diese Regierung ermöglicht mehr Mobilität und damit auch mehr Wachstum. ({14}) Es gibt noch einen weiteren Bereich, in dem wir versuchen, ein Zukunftsfeld zusammenzuführen: Klimaschutz sowie Arbeit in Bau und Handwerk. Wie können wir hier die Konjunktur in Gang bekommen und dadurch Arbeitsplätze schaffen? Wenn wir das Klimaschutzziel erreichen wollen, ist der finanziell günstigste Weg, in Gebäude zu investieren. Es gibt aus finanzieller Sicht keinen günstigeren Weg, um dieses Ziel zu erreichen. Deshalb hat diese Koalition gesagt: Wir nutzen den günstigsten Weg und legen die drei Ziele, die ich genannt habe, an dieser Stelle zusammen. Das ist zwar nicht Inhalt dieses Gesetzes, aber es gehört zum Impulsprogramm. ({15}) Dieses Impulsprogramm - eingebettet in unsere Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung und in unsere langfristigen strukturellen Reformziele - ist gut angelegtes Geld. Wir sollten nicht ständig darüber klagen, dass wir das Programm auflegen. Die Argumente für das Programm habe ich gerade vorgetragen. Zu den langfristigen Reformzielen: Ja, wir werden zum 1. Januar 2008 eine Unternehmensteuerreform verabschieden. Wir werden in diese Unternehmensteuerreform auch die Punkte, die heute Morgen angesprochen wurden, einbeziehen, also die Besteuerung der Kapitalerträge und der Veräußerungsgewinne. An dieser Stelle wird deutlich, was diese Koalition auszeichnet, nämlich dass wir in Zusammenhängen denken und nicht in Einzelheiten und dass wir versuchen, die Probleme, die strukturell zusammengehören, gemeinschaftlich zu lösen. ({16}) Wir brauchen international wettbewerbsfähig Steuersätze. Ich möchte folgende Frage aufgreifen: Was nützt uns die Debatte über die Steuer- und Abgabequote? Die Steuer- und Abgabequote interessiert doch keinen Unternehmer in diesem Land, wenn er eine Investition tätigt oder einen neuen Arbeitsplatz schafft. Den Unternehmer in unserem Land interessiert der Durchschnittssteuersatz für sein Unternehmen. Wenn er investieren will, interessiert ihn die Grenzbelastung. Deshalb müssen wir darüber nachdenken, welches Signal wir bei der Grenzbelastung setzen. Über diese Frage denkt die Koalition nach. Wir sagen: Hier muss das Signal besser gestellt werden. Wir brauchen eine niedrigere Grenzbelastung. Aber wir müssen klar und deutlich dazu sagen: Wir haben nichts zu spendieren. Das heißt, wir müssen die Entwicklung nachzeichnen, die in anderen europäischen Ländern schon stattgefunden hat: breite Bemessungsgrundlage und dafür niedrige nominale Steuersätze als attraktives Angebot an diejenigen, die in Deutschland etwas unternehmen wollen. ({17}) Wir machen nicht nur ein Angebot für Kapitalgesellschaften, sondern ein Angebot für alle Unternehmen in diesem Land: eine umfassende Unternehmensteuerreform, durch die es zu keiner unterschiedlichen Behandlung der Familien- und der Kapitalunternehmen kommt. Das, was wir beim Jobgipfel angedacht haben, war ein Notbehelf. Der würde an dieser Stelle zu kurz springen. Deshalb bin ich dafür, dass wir mutiger sind und diese umfassende Reform für alle Rechtsformen von Unternehmen zustande bringen. ({18}) Herr Kollege Wissing hat gerade beklagt, dass ihm die Zuversicht dafür fehlt, dass diese Koalition im steuerlichen Bereich zu umfassenden Reformen in der Lage sei. Ich gebe ihm die Empfehlung, den Koalitionsvertrag - ich schicke Ihnen gern ein Exemplar - zu lesen. ({19}) Darin steht, dass wir uns über die Unternehmensteuerreform, aber auch darüber hinaus über entsprechenden Reformschritte, zum Beispiel bei der Grundsteuer, verständigt haben. Diese werden wir auch umsetzen. Haben Sie etwas Zuversicht und glauben Sie an den Willen dieser Koalition, Herr Kollege Wissing. ({20}) Diese Reform braucht allerdings Zeit. Denn wir wollen keinen Schnellschuss aus der Hüfte, den wir dann wenige Monate später nachbessern; darauf hat der Herr Finanzminister heute Morgen hingewiesen. Damit würden wir keine Verlässlichkeit und kein Vertrauen schaffen. Deshalb haben wir gesagt, dass wir diesen komplexen Vorgang in Ruhe und mit aller Sachlichkeit beraten und rechtzeitig vor Inkrafttreten am 1. Januar 2008 über dieses Reformwerk entscheiden. Damit schaffen wir Vertrauen und Verlässlichkeit. Ich möchte ausdrücklich denjenigen danken, die uns geistig zugearbeitet haben, und zwar sowohl dem Sachverständigenrat wie auch der Stiftung Marktwirtschaft. Ich denke, dadurch haben wir eine hervorragende Plattform für die Arbeit, die jetzt vor uns als Gesetzgeber liegt. ({21}) Ich bin ausdrücklich der Meinung, dass wir in diesem Zusammenhang das Problem der kommunalen Finanzreform lösen müssen. Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, die Gewerbesteuer zu einer kommunalen wirtschaftskraftbezogenen Unternehmensteuer fortzuentwickeln. Diesen Ansatz haben wir jetzt einvernehmlich von beiden Facharbeitsgruppen, sowohl dem Sachverständigenrat wie auch der Stiftung Marktwirtschaft, vorgelegt bekommen. Die Unterschiede an dieser Stelle sind marginal. Deshalb bin ich guten Mutes, dass wir gemeinsam mit den Kommunen eine für die Zukunft stetige und verlässlich kommunale Finanzreform zustande bekommen. Das hilft den Kommunen, das hilft dem Standort, das hilft den Arbeitnehmern und den Unternehmen. ({22}) Wir werden im Rahmen des Bürokratieabbaus die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren vorantreiben. Diese Koalition hat als erste nicht nur die Klage geführt, dass Bürokratielasten wachsen, sondern wir haben auch klare Vereinbarungen getroffen, wie wir diese Lasten überwinden wollen. Ich wundere mich darüber, dass all diejenigen, die immer über zu viel Bürokratie geklagt haben, jetzt, da wir dieses Problem angehen, Klage darüber führen, all unsere Maßnahmen seien nichts Rechtes. Lassen Sie uns die Schritte, die wir vereinbart haben, doch erst einmal implementieren! Dann werden wir sehen, wie weit wir an dieser Stelle kommen. Sie sollten nicht nur in Sonntagsreden ständig Klage über die Bürokratie führen, sondern auch bereit sein, dieses Problem wirklich anzupacken. Daher sollten Sie den neuen Ansatz der Koalition unterstützen. ({23}) Meine Damen und Herren, auch beim Thema Senkung der Lohnnebenkosten bitte ich um etwas mehr Ehrlichkeit. Wir haben festgelegt, dass der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung zum 1. Januar 2007 um 2 Prozentpunkte gesenkt wird. Der Ehrlichkeit halber haben wir auch gesagt, wie wir das finanzieren wollen: zum Teil durch Einnahmen aus Effizienzgewinnen der Bundesagentur für Arbeit, zum Teil aber auch durch Einnahmen aus der Mehrwertsteuererhöhung. Man kann nicht nur die Senkung der Lohnnebenkosten befürworten, wenn es aber um die Mehrwertsteuererhöhung geht, still aus dem Raum gehen, weil man hier nur sehr ungern dabei ist. Ich bin der Meinung, man muss beide Aspekte gemeinsam betrachten. Auch in der Haushaltswoche, wo wir über die Haushaltskonsolidierung diskutieren werden, wird man nicht einfach sagen können: „Wir wollen das strukturelle Defizit des Bundeshaushalts in Höhe von 60 Milliarden Euro beseitigen“, aber durch die Hintertür rausgehen, wenn all die anderen Maßnahmen zur Debatte stehen. Das, was zusammengehört, muss auch in seiner Gesamtheit betrachtet werden. Es geht nicht, dass immer nur punktuell Klage geführt wird. ({24}) Ich will ausdrücklich unterstreichen - das ist bereits heute Vormittag gesagt worden -, dass die Wachstumskräfte in unserem Lande durch die Konsolidierung des Bundeshaushalts nachhaltig stabilisiert werden. Hier gilt der Satz des vorherigen Bundesfinanzministers: Die Schulden von heute sind die Steuern und Abgaben von morgen. - Durch die Reduzierung der Staatsschulden leisten wir also einen positiven Beitrag zur zukünftigen Entwicklung bei Steuern und Abgaben. Ich glaube, wenn wir die Haushaltskonsolidierung vorantreiben, entsteht dadurch auch ein Impuls für nachhaltiges Wachstum in unserem Land. ({25}) Zum Abschluss meiner Rede möchte ich auf den zweiten Gesetzentwurf eingehen, der nicht von den Koalitionsfraktionen, sondern heute Morgen von der Bundesregierung eingebracht wurde. In ihm geht es um die Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen. Zu diesem Gesetzentwurf will ich Folgendes sagen: Es ist ja nett, zu sagen, dass der Gesetzgeber die eine oder andere Möglichkeit geschaffen hat, die von den Steuerpflichtigen auch wahrgenommen wird; soweit ist alles in Ordnung. Wenn wir aber der Meinung sind, dass diese Möglichkeiten in Zukunft nicht mehr wahrgenommen werden sollten, dann hilft auch hier nicht die Klage. Dann müssen wir diese Möglichkeiten schlicht und ergreifend abschaffen, wie es zum Teil im vorliegenden Gesetzentwurf steht. ({26}) Dabei handelt es sich nicht um eine vollständige Übersicht, sondern nur um einen kleinen Ausschnitt dessen, was wir in Angriff nehmen. In den anstehenden Beratungen sind wir natürlich offen, an der einen oder anderen Stelle über Änderungen zu sprechen. Wir werden Sachverständige anhören, mit der Opposition diskutieren und versuchen, die betreffenden Regelungen geländegängig zu machen und sie so wenig bürokratieanfällig wie möglich zu gestalten, damit wir letzten Endes zu einem Ergebnis kommen, das in unsere Gesamtkonzeption passt. Hierzu lade ich Sie herzlich ein und freue mich auf die Diskussionen. Vielen Dank. ({27})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Axel Troost, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Koalitionsvertrag ist den Bürgerinnen und Bürgern in der Tat versprochen worden: „Mit gezielten Maßnahmen wollen wir die Konjunktur in Fahrt bringen.“ Auch haben Sie sich vorgenommen, verstärkt gegen Steuermissbrauch vorzugehen. Dass an dieser Debatte gleich zwei Minister teilnehmen, die versuchen, die heute vorliegenden Gesetzentwürfe unter diesem Motto vorzustellen, ist ja schon eine ganze Menge. Aber aus Sicht der Linken muss ich sagen: Die Bürgerinnen und Bürger werden von den beiden Gesetzentwürfen, die Sie vorgelegt haben, zutiefst enttäuscht sein. ({0}) Der Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen“ hört sich klasse an. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Einen kleinen Augenblick, Herr Kollege. - Darf ich darum bitten, dass Gespräche nicht im Plenarsaal, sondern höchstens am Rande des Plenarsaals geführt werden? ({0}) Bitte schön, Herr Kollege.

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke. - Aber wenn man sich die Gesetzentwürfe im Einzelnen ansieht, stellt man fest, dass es ausschließlich um steuertechnisches Klein-Klein geht. In der Summe sollen durch die vorgeschlagenen Maßnahmen Mehreinnahmen in Höhe von 820 Milliarden Euro erzielt werden. ({0}) Vor dem Hintergrund, dass die Einnahmeausfälle durch Steuerhinterziehung jährlich eine geschätzte Größenordnung von über 75 Milliarden Euro erreichen, sind diese Maßnahmen wirklich kein mutiger, sondern ein sehr kleinmütiger Schritt. ({1}) Und von den insgesamt erwarteten 820 Milliarden Euro entfallen alleine auf eine Maßnahme - die Steuerstundung - 500 Milliarden Euro. - Entschuldigung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe eben von Milliarden gesprochen. Es muss natürlich heißen: Millionen. - Gestern im Finanzausschuss konnte mir niemand schlüssig erklären, wie diese Steuerstundung dauerhaft zu jährlichen Steuermehreinnahmen von 500 Millionen Euro führen soll. Insofern steht auch das, was hier vorgelegt worden ist, auf ganz wackeligen Beinen. Trotzdem sind einzelne Maßnahmen sicherlich sinnvoll; wir werden sie diskutieren und gegebenenfalls unterstützen. Aber alles in allem bleibt der Entwurf hinter unseren Erwartungen weit zurück. Nicht anders beim Thema Konjunktur. Heute liegt der steuerpolitische Teil des Sofortprogramms für höheres Wachstum und mehr Beschäftigung vor. Nur damit sollten wir uns auch beschäftigen. Es ist ja schön, dass es später noch einen investiven Teil geben wird; aber darüber diskutieren wir schließlich in einer anderen Debatte. Wenn man sich den steuerpolitischen Teil anschaut, stellt man fest, dass die eingesetzten Instrumente wieder ausgesprochen fragwürdig sind. Aus unserer Sicht werden sie lediglich Mitnahmeeffekte bewirken. Insbesondere - auf diesen Teil entfallen 60 bis 75 Prozent des Gesamtvolumens - haben wir wieder eine Erleichterung von Abschreibungen, die letztlich dazu führen wird, dass die Kosten der Unternehmen für Investitionen gesenkt werden und die Gewinnmargen der Unternehmen steigen. Das Problem der deutschen Wirtschaft ist aus unserer Sicht aber gerade nicht, dass die Gewinnmargen zu klein wären und deswegen nicht investiert würde; das Problem ist und bleibt, dass die erwarteten Absatzchancen auf dem Binnenmarkt zu gering sind und deswegen die Investitionen ausbleiben. ({2}) Wenn Sie sich also loben, dass die Investitionen wieder angesprungen seien, muss man sagen: Sie sind trotz Ihrer Politik, nicht wegen Ihrer Politik angesprungen. ({3}) Den gesamten Haushalt 2006 zugrunde gelegt, auch die Kürzungen bei den Arbeitslosen, im öffentlichen Dienst und in anderen Bereichen, wird es kein expansiver Haushalt, sondern ein restriktiver Haushalt. Das bestätigt das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung. Das heißt, es wird keinen Konjunkturimpuls geben, sondern wir erwarten eher weitere Einschränkungen. Zu dem gleichen Ergebnis kommt auch die „Financial Times Deutschland“; sie hat ebenfalls festgestellt, dass Ihre Maßnahmen unter dem Strich nicht zu einer Expansion, sondern zu einer Schrumpfung führen werden. Zusammenfassend aus meiner Sicht: Was Sie hier heute vorgelegt haben, folgt erneut der Philosophie: Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen. Das aber ist ein Märchen aus der Sammlung „Tausendundein Arbeitsloser“; daran glauben wir schon lange nicht mehr. Danke schön. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Ulrich Krüger für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Ulrich Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003575, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als jemand, der über die Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltung sprechen möchte, wäre ich natürlich sehr froh, wenn dieser Gesetzentwurf dem Haushalt unserer Republik 820 Milliarden Euro bringen würde, nur, dieser Versprecher ist ja bereits korrigiert worden: Es sind 820 Millionen Euro. Gleichwohl ist dieser Gesetzentwurf notwendig und richtig. Unser Land, Deutschland, steht vor großen Herausforderungen: Hohe Arbeitslosigkeit und noch zu schwache Binnenkonjunktur bestimmen trotz positiver Signale die Finanzlage von Bund, Ländern und Kommunen. Die Verschuldung aller öffentlichen Haushalte beträgt 1,4 Billionen Euro und jeder sechste Euro der Bundesausgaben wird für Zinszahlungen aufgewandt. Die Menschen erwarten jedoch - das ist heute Morgen schon angeklungen - einen handlungsfähigen Staat, sie erwarten, dass unser Gemeinwesen die Infrastruktur finanziert, Sozialleistungen bereitstellt und innere und äußere Sicherheit gewährleistet. Deshalb ist es an der Zeit, Impulse für Wachstum und Beschäftigung zu geben, aber auch einen kritischen Blick auf Ungereimtheiten im Steuerrecht zu werfen. Der Ehrliche darf nicht der Dumme sein. ({0}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir die erfolgreiche Praxis der Schließung von Steuerschlupflöchern fort. Ein starker Staat kann nur dann Schutz bieten, wenn er die Auswüchse, die in der Praxis entstanden sind, beseitigt. In einem modernen und leistungsfähigen Staat ist es daher Pflicht, dafür zu sorgen, dass jeder nach seiner Fähigkeit und nach seiner Stärke zum Wohle des Ganzen beiträgt. Unsere Aufgabe als Gesetzgeber ist es, eine faire Verteilung der Chancen und Möglichkeiten zu gewährleisten. Mit dem Gesetz zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen, das ich soeben angesprochen habe, ist ein guter Entwurf gelungen, um mehr Steuergerechtigkeit im Sinne des Zusammenhalts und der Solidarität der Menschen in unserem Staat zu verwirklichen. Zurzeit gibt es in Deutschland ein lukratives Steuermodell, durch welches in unseren Ländern Steuerausfälle in Höhe von Hunderten Millionen Euro jährlich entstehen. Bei diesem Modell beteiligen sich Kapitalanleger unter Ausnutzung der Gewinnermittlungsvorschriften gemäß § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes an einer so genannten gewerblich geprägten Gesellschaft, die zum Beispiel im Wertpapierhandel tätig ist. Dies hat zur Folge, dass das investierte Kapital als Betriebsausgabe deklariert und als Verlust mit anderen positiven Einkünften verrechnet werden kann, obwohl es in Form der Wertpapiere noch vorhanden ist. Gleiches gilt für Steuerpflichtige, die im gewerblichen Grundstückshandel tätig werden wollen und Grundstücke erwerben, deren Wert sie voll als Betriebsausgabe absetzen können. Das ist ungerecht. Diese Lücke wollen wir schließen. ({1}) Wir planen daher, die Berücksichtigung der Anschaffungs- und Herstellungskosten erst zum Zeitpunkt der Veräußerung bzw. Entnahme zu gestatten und damit die bislang gegebenen Steuerstundungseffekte abzuschaffen. In diesem Zusammenhang nehmen wir auch die Äußerung des Bundesrates - zuletzt in seiner Sitzung am 10. Februar dieses Jahres - sehr ernst. Um nämlich der Ausnutzung weiterer Steuerstundungseffekte vorzubeugen, ist in der Tat zu überlegen, ob auch der Ankauf von Wirtschaftsgütern, die in dem Katalog der Bundesregierung bislang nicht genannt worden sind, unter eine Neuregelung fällt. In Betracht kämen Edelmetalle, Gold und auch Rohstoffe, die in großen Mengen auf dem Markt zur Verfügung stehen und kurzfristig weiterverkauft werden können. Wir werden auch die Anregung prüfen, bei dem Betriebsausgabenabzug nicht auf den Veräußerungszeitpunkt, sondern auf den Zeitpunkt des Zuflusses des Veräußerungserlöses abzustellen. Darüber hinaus wollen wir dafür sorgen, dass die handelsrechtliche Praxis zur Bildung von Bewertungseinheiten für die steuerliche Gewinnermittlung bei so genannten Grund- und Sicherungsgeschäften weiterhin das Maß aller Dinge ist. Damit wirken wir einer weiteren Differenzierung von Handels- und Steuerrecht entgegen. Das ist eine gute Nachricht für Unternehmen, wird doch dadurch der Verwaltungsaufwand, den eine steuerliche Einzelbewertung von Grund- und Sicherungsgeschäften nach sich ziehen würde, in erheblichem Umfang vereinfacht. Eine schlechte Nachricht ist das allerdings für die Unternehmen, die daran gedacht haben, mit dieser Möglichkeit zu spielen. Außerdem kommen wir in diesem Gesetz auch an der Regelung der Besteuerung der privaten Nutzung von Kraftfahrzeugen unter Anwendung der 1-Prozent-Regelung nicht vorbei. Das Problem ist, dass es durch die Ausweitung der Zulässigkeit der Bildung von gewillkürtem Betriebsvermögen bei Kraftfahrzeugen mit geringer betrieblicher Nutzung Fälle gibt, in denen der Wert der privaten Nutzung pro Monat mit 1 Prozent des Listenpreises zu ungerechtfertigten Vorteilen des Steuerpflichtigen führt, weil der Gesetzgeber bei der Schaffung dieser Möglichkeit von einer hohen betrieblichen Nutzung ausgegangen war. Diese Steuerlücke ist ungerecht. Auch sie werden wir schließen. ({2}) Daher werden wir bei dem infrage stehenden Personenkreis die Möglichkeit der 1-Prozent-Regelung auf Fahrzeuge des so genannten notwendigen Betriebsvermögens zu beschränken haben, also auf die Fälle, bei denen eine betriebliche Nutzung von mehr als 50 Prozent festzustellen ist. Eine Regelung des so genannten Dienstwagenproblems, das heißt der privaten Nutzung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einschließlich Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern von Kapitalgesellschaften, ist mit dieser Lösung allerdings nicht - noch nicht - verbunden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Europäische Gerichtshof hat fast auf den Tag genau vor einem Jahr entschieden, die gängige Praxis der Umsatzbesteuerung von zugelassenen öffentlichen Spielbanken im Gegensatz zu umsatzsteuerpflichtigen gewerblichen Glücksspielanbietern zu untersagen, und darauf verwiesen, eine derartige Ungleichbehandlung sei mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar. Mit dem vorliegenden Entwurf tragen wir diesem Monitum der Rechtsprechung Rechnung und schließen eine entstandene Besteuerungslücke. Last, but not least wird - das als Kleinigkeit am Rande - mit dem Gesetzentwurf auch die entgeltliche Weitergabe von Tankbelegen als Steuerordnungswidrigkeit geahndet. Es ist schon wirklich interessant, mit welcher Fantasie im Zeitalter des Internets versucht wird, auf der einen Seite durch Verkauf der Belege Kapital zu erwirtschaften, welches in der Regel nicht versteuert wird, und auf der anderen Seite illegal Belege zu erwerben, um das zu versteuernde Einkommen künstlich zu senken. Ich kann dazu nur sagen und Ihnen versichern: Mit der gleichen Fantasie, wie sie bei solchem Missbrauch zutage tritt, werden wir dieser Gestaltung entgegentreten und alles tun, um ein faires Steuerrecht zu schaffen, damit - da wiederhole ich mich gerne - der Ehrliche nicht der Dumme bleibt. Ich danke Ihnen. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich mich auf die Gesetzentwürfe beziehe, möchte ich zu der Debatte eines sagen: Man kann Ihnen von hier aus prophezeien, dass Ihnen bei der Unternehmensteuerreform nicht der große Wurf gelingen wird. Allein die Aussagen, die wir hier zur Gewerbesteuer gehört haben, sind derart unterschiedlich, dass ich wirklich gespannt bin, wie Sie die Unternehmensteuerreform und die Reform der kommunalen Finanzen auf den Weg bringen wollen. Wir werden darüber noch diskutieren. Aber man muss kein Prophet sein, um schon heute zu sagen, dass dies kein großer Wurf werden wird. ({0}) Die große Koalition hat nach heftigen Gefechten im zweiten Anlauf die steuerliche Förderung von Wachstum und Beschäftigung auf den Weg gebracht. So wie das gelaufen ist, hat das doch viel über den Zustand der Koalition ausgesagt. Nun liegt ein Sammelsurium von Einzelmaßnahmen vor. Es handelt sich im Wesentlichen um die Ausweitung dessen, was wir bereits in der letzten Legislaturperiode umgesetzt haben. Aber es gibt große Unterschiede: Anstatt einfacher, machen Sie es komplizierter. Anstatt transparenter, machen Sie es intransparenter. Anstatt gerechter, machen Sie es ungerechter. ({1}) Dem gemeinsamen Ziel, das Steuerrecht zu vereinfachen, kommen Sie mit diesem Gesetzespaket nicht näher. Ich möchte das am Beispiel der Ausweitung der Steuerermäßigung bei haushaltsnahen Dienstleistungen deutlich machen. Im Grundsatz gilt: je einfacher, desto wirksamer. Aber diesem Anspruch werden Sie nicht gerecht. Vielmehr schaffen Sie Abgrenzungsprobleme und Mitnahmeeffekte. Interpretationsspielräume tun sich auf. Nach welchem Kriterium grenzen Sie Handwerkerleistungen ab? Was ist absetzbar, was ist nicht absetzbar? Was sind nach Ihrer Definition handwerkliche Tätigkeiten? Gilt der Eintrag in die Handwerksrolle? Fragen über Fragen, die Sie in diesem Gesetzentwurf nicht beantwortet haben. Ich gehe davon aus, dass Sie hier noch nachbessern werden. Bei diesem Gesetz springen Sie wieder zu kurz. Ich hoffe, dass es Ihnen gelingt, Veränderungen vorzunehmen, um diese Abgrenzungsproblematik zu vermeiden. ({2}) Sie versprechen sich von dieser Maßnahme - das ist das Entscheidende - eine Verringerung der Schwarzarbeit und wollen mit diesem Gesetzentwurf der Schwarzarbeit etwas entgegensetzen. Aber mit der Mehrwertsteuererhöhung ab 2007 konterkarieren Sie dieses Ziel in zweierlei Hinsicht: Erstens. Die Handwerksarbeit wird noch teurer und der Weg in die Schwarzarbeit wieder attraktiver. Zweitens. Wenn Sie schon den zweifelhaften Weg wählen und die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöhen, dann nutzen Sie diese Einnahmen wenigstens für die Senkung der Lohnnebenkosten, und zwar die kompletten Einnahmen. Damit erreichen Sie nämlich, dass Arbeit billiger wird, womit Sie dem Ziel, die Schwarzarbeit einzudämmen, tatsächlich näher kommen. Das wären die richtigen, größeren Schritte. ({3}) Ich habe vorhin gesagt, dass die Neuregelung bei den Handwerkerleistungen kompliziert ist. Dies ist aber nichts im Vergleich zu dem, was Sie uns hinsichtlich der Absetzbarkeit der Kosten für die Kinderbetreuung vorschlagen. Nach Ihrem Vorschlag können zukünftig Familien, in denen beide Elternteile berufstätig sind, rückwirkend vom 1. Januar dieses Jahres an die Kosten für die Betreuung ihrer Kinder bis 14 Jahren vom ersten Euro an steuerlich absetzen, aber nur zwei Drittel der Kosten bis maximal 4 000 Euro. Wenn nur ein Elternteil berufstätig ist, dann gilt diese steuerliche Begrenzung für Kinder zwischen drei und sechs Jahren. So etwas Kompliziertes habe ich noch nicht erlebt. Vor allem geht es völlig an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei. ({4}) Nehmen wir einmal folgenden Fall: Ein junges Paar mit abgeschlossener Ausbildung, aber leider Vertreter der „Generation Praktikum“ - das ist heute ziemlich üblich: berufs-, aber nicht erwerbstätig -, hat zwei Kinder, die zwei und fünf Jahre alt sind. Nach der Hälfte ihres Praktikums wird die Mutter vom Betrieb übernommen, der aber leider ein halbes Jahr später in Konkurs geht, sodass sie ihre Stelle verliert. Sind Sie in der Lage, mir zu erklären, welche Ausgaben in diesem durchaus realistischen Fall absetzbar sind? Die Kitagebühren für die Kleine? Die Kindergartenbeiträge für den Älteren? Für den ganzen Zeitraum, also auch für die Praktikumszeit? Was Sie da auflegen, ist ein Steuerberaterbeschäftigungsprogramm; es ist kompliziert und geht an der Lebenswirklichkeit vorbei. Man kann nicht einmal von kleinen Schritten reden. Es wird geholpert und gestolpert und damit werden Sie auf die Nase fallen. ({5}) Ich begrüße es, dass der Finanzminister vorhin über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geredet hat. Für uns Grüne ist es völlig klar, dass der Ausbau der frühkindlichen Betreuung ein entscheidender Punkt ist. Es ist volkswirtschaftlicher Unsinn, wenn wir es uns leisten, dass gut ausgebildete junge Frauen - sie haben häufig die besseren Abschlüsse - zu Hause bleiben müssen, wenn sie Kinder bekommen, weil sie keinen Betreuungsplatz finden. Dass diese Frauen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, ist blanker volkswirtschaftlicher Unsinn. Deswegen ist der Ausbau der frühkindlichen Betreuung eines der wichtigsten Ziele unserer Gesellschaft. In diesem Punkt müssen Sie etwas auf den Weg bringen. Dabei können Sie mit unserer Unterstützung rechnen. Was Sie aber jetzt zur steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten auf den Weg gebracht haben, ist zu kompliziert. Wir werden eigene Vorschläge einbringen und hoffen, dass Sie uns darin folgen werden. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Antje Tillmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Einen Teil der heutigen Debatte könnte man unter das Motto „Wer das Ziel nicht kennt, darf sich nicht beklagen, dass er den Weg nicht findet“ stellen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Sie haben heute sehr viele Themen angesprochen, von der Haushaltskonsolidierung über eine Umsatzsteuererhöhung und die Steuersätze bis hin zur Unternehmensteuerreform. Sie haben aber sehr wenig über den vorliegenden Gesetzentwurf gesprochen. ({1}) Seien Sie sicher: Alle Themen, die Sie zu Recht ansprechen, werden in den nächsten Wochen hier diskutiert werden, zum Beispiel die Haushaltskonsolidierung im Rahmen der Haushaltsberatungen. Die Unternehmensteuerreform wird zum 1. Januar 2008 kommen. Ich bin optimistisch, dass wir das erreichen werden. Ich kann Sie nur auffordern, dieses Vorhaben mitzutragen. ({2}) Aber worum geht es heute? Was ist das Ziel des von uns eingebrachten Gesetzentwurfs? Es geht um die Stärkung der Wachstumskräfte durch die Wiederbelebung der Investitionstätigkeit, die Gewährung von Liquiditätsvorteilen der Unternehmen im Wege des Steuerrechts, die steuerliche Förderung der privaten Haushalte, um neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen, sowie um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch die Verbesserung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten. Dass Sie auf diese Ziele nicht eingegangen sind, macht mir Mut. Ich erwarte freudig Ihre Zustimmung zu dem Antrag; denn keiner von Ihnen hat sich gegen die degressive AfA ausgesprochen. Keiner von Ihnen hat festgestellt, dass er die steuerliche Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten nicht will. ({3}) Jedem Ihrer Beiträge kann man eigentlich nur den Satz folgen lassen: „Wir stimmen diesem Gesetzentwurf zu“. ({4}) Es würde mich freuen - ich bin sehr gespannt -, wenn Sie das im Laufe der Debatte auch tatsächlich tun. Lassen Sie mich nun auf die einzelnen Ziele zu sprechen kommen. Das erste Ziel ist die Berücksichtigung erwerbsbedingter Kinderbetreuungskosten. Es mag zwar sein, dass dabei ein gewisser Sinn für Steuersystematik erforderlich ist, aber die Tatsache, dass wir erstmalig Kinderbetreuungskosten als Werbungskosten und Betriebsausgaben anerkennen wollen, muss als Erfolg gewertet werden. ({5}) Zum ersten Mal gibt der Gesetzgeber zu, dass Kinderbetreuungskosten keine außergewöhnlichen Belastungen, sondern eine Voraussetzung dafür sind, um eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Man kann zwar bemängeln, dass die Kinderbetreuungskosten nicht in voller Höhe und nur bis maximal 4 000 Euro absetzbar sind. Aber wir werden sehen, was noch möglich ist. Ich bin optimistisch, dass dieser erste Schritt dazu beitragen wird, dass die Kinderbetreuungskosten in Zukunft weiter absetzbar werden. ({6}) Das zweite Ziel betrifft die Berücksichtigung nicht erwerbsbedingter Kinderbetreuungskosten. Dieser Teil der Abzugsfähigkeit der Kinderbetreuungskosten passt nicht ganz in das Konzept; ich gebe das offen zu. Aber ich bin froh, dass wir heute in erster Lesung über den vorliegenden Kompromissvorschlag und nicht über den Gesetzentwurf in der Fassung von Genshagen diskutieren, obwohl in wirtschaftspolitischer Hinsicht das, was dort beschlossen wurde, mit Sicherheit der richtige Weg gewesen wäre. Wenn wir aber das Wahlrecht der Familien wirklich ernst nehmen, wenn wir wollen, dass die Eltern entscheiden, wie sie ihre Kinder betreuen lassen, dann müssen wir auch akzeptieren - das tue ich aus voller Überzeugung -, dass sich manche Eltern dazu entscheiden, ihre Kinder selber zu betreuen, und dafür - ganz oder teilweise - auf ein Gehalt verzichten, sich also selber beschränken. Wenn wir das akzeptieren und fördern wollen, dann müssen wir es ermöglichen, dass die Kosten der Kinderbetreuung, die durch Eigenorganisation der Eltern geleistet wird, ähnlich steuerlich abzugsfähig sind wie die Kosten der erwerbsbedingten Kinderbetreuung. Deswegen ist der Kompromiss richtig. ({7}) Mit diesem Gesetz nehmen wir in der Summe 1,26 Milliarden Euro in die Hand, um private Haushalte und Familien zu fördern. Wir können daher unmöglich einen Gesetzentwurf verabschieden, über den 70 Prozent der Familien sagen könnten: Dieses Gesetz ist für mich ungerecht. - Deswegen, glaube ich, ist der vorliegende Gesetzentwurf trotz seiner Kompliziertheit richtig. ({8}) Im Zusammenhang mit dem ursprünglichen Gesetzentwurf ist uns vorgehalten worden, er sei wegen des Eigenanteils bei den Kinderbetreuungskosten in Höhe von 1 000 Euro sozial ungerecht und benachteilige Geringverdienerhaushalte. Eines sollte uns klar sein: Wir sprechen heute über ein Steuergesetz. Solchen Gesetzen ist immanent, dass sich mit ihnen soziale Probleme bei Geringstverdienern nicht lösen lassen, weil nur derjenige Steuern spart, der zuvor Steuern gezahlt hat. Das ist im Steuerrecht so. Wenn man Geringstverdiener und ihre Familien begünstigen will, dann muss man das im Sozialgesetzbuch und nicht im Steuerrecht regeln. Es steht Ihnen, liebe Kollegin von der Linken, frei, einen eigenen Gesetzentwurf mit entsprechender Zielsetzung auf den Weg zu bringen. Wir werden mit Ihnen darüber hier mit großer Freude diskutieren. ({9}) Heute sprechen wir aber über Steuergesetze. Das dritte Ziel ist: Wir sehen im Bereich der steuerlichen Abzugsbeträge Vergünstigungen für Privathaushalte vor. Wir haben erstmalig die private Pflege in den Begünstigungskatalog aufgenommen. Zudem begünstigen wir steuerlich sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse oder Minijobs, die im Haushalt geschaffen werden. Lassen Sie mich zu der Neiddebatte noch eines sagen: Ich persönlich kann nichts Schlimmes daran finden, wenn sich ein gut verdienendes Ehepaar eine Kinderbetreuung leistet, damit einer Arbeitnehmerin ermöglicht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und gleichzeitig Zeit dafür hat, sich selber um die Kinder zu kümmern. Wir reden über sozial problematische Familien ständig unter dem Aspekt, dass diese kein Geld haben. Aber seien wir doch ehrlich - wir müssen nur auf uns selber schauen -, soziale Probleme haben durchaus auch gut verdienende Familien. Wenn eine Mutter, die 40 bis 60 Stunden arbeitet, eine Haushälterin hat, damit sie abends eine Stunde mit ihrem Kind spielen kann, dann, finde ich, ist das familienpolitisch richtig und wir sollten das unterstützen. ({10}) Ein Vorwurf ist zutreffend - das sage ich ganz offen -: Dem Ziel, ein einfacheres Steuerrecht zu schaffen, sind wir mit diesem Gesetz nicht näher gekommen. ({11}) Liebe Kollegin Andreae und Frau Kollegin Scheel, ich habe schon gestern im Finanzausschuss gesagt, dass ich nicht ganz sicher bin, ob Ihre Aussage stimmt, dass die Bürger ein einfaches, durchsichtiges Steuerrecht haben wollen. Die Debatte über die Kinderbetreuungskosten hat sehr deutlich gezeigt, dass der Hang zur Einzelfallgerechtigkeit in Deutschland überdurchschnittlich groß ist. ({12}) Deshalb mache ich mir große Sorgen - das gebe ich gerne zu - hinsichtlich der geplanten Unternehmensteuerreform, die am 1. Januar 2008 in Kraft treten soll. Wir haben gemeinsam noch einiges bei den Bürgerinnen und Bürgern zu leisten. Mein Lieblingsmodell - sehr hohe Freibeträge, bei denen auch die Kinderbetreuungskosten berücksichtigt werden, bei gleichzeitiger Senkung der Steuersätze - zeigt zwar, dass wir Familien begünstigen. Aber wir sind damit noch nicht am Ziel. Wir haben noch gemeinsam Aufgaben zu erledigen. Ich würde mich freuen, wenn Sie unser Konzept einer Unternehmensteuerreform unterstützten. ({13}) Das vierte Ziel unseres Konzepts zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung ist die Verbesserung der Liquidität kleiner Unternehmen. Auch diesem Ziel wird der Gesetzentwurf gerecht. Durch die Anhebung der Bemessungsgrundlage bei der Mindest-Istbesteuerung verbessern wir die Liquidität der Unternehmen, insbesondere der kleinen und mittelständischen, weil sie die Umsatzsteuer erst dann abführen müssen, wenn ihre Rechnungen bezahlt worden sind. Das ist in den neuen Bundesländern schon seit einiger Zeit so. Das hat den dort tätigen Unternehmen geholfen. Ich finde, es ist richtig, dass dieser Grundsatz nun auf die alten Bundesländer übertragen wird; denn auch die Kleinunternehmer in den alten Bundesländern können selbstverständlich Liquiditätsprobleme haben. Dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, eine Unternehmerfeindlichkeit an den Tag legen, die kaum noch zu übertreffen ist, ist nichts Neues. Aber dass Sie behaupten, dass der kleine Handwerksbetrieb so exorbitante Gewinne hat, dass er auf die degressive Abschreibung verzichten kann, finde ich schon ein bisschen absurd. Ich hoffe, dass Sie das im Rahmen der Debatte überdenken; denn diese Forderung ist gerade von kleinen und mittelständischen Unternehmen erhoben worden. Wir kommen dem entgegen. Wir erhöhen die Liquidität durch Abschreibungsvereinfachung. ({14}) Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass wir heute die Debatte beginnen, also noch die Möglichkeit haben, das eine oder andere Knirschen im Gesetz über die Anhörung in den Griff zu bekommen. ({15}) Wir haben über dreißig Sachverständige eingeladen, mit uns über dieses Gesetz zu diskutieren. Wir werden die Vorschläge der Sachverständigen ernst nehmen. Liebe Kollegen der FDP, wir tun das deswegen, weil wir das Steuergesetz nicht alle naselang ändern wollen. Wir wollen es besser machen als manche Regelungen, die auch unter Ihrer Mitwirkung ins Steuergesetz gekommen sind. ({16}) - Ich war noch nicht dabei, aber das können wir später diskutieren. ({17}) Wir wollen, dass dieses Gesetz stimmig ist. Wir werden das zusammen mit den Sachverständigen erreichen. Ich glaube, wir werden dann auch das Ziel Wachstum und Beschäftigung erreichen. Danke schön. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Lydia Westrich, SPDFraktion.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich darf noch einmal zum schönsten Teil dieser zwei Gesetzentwürfe sprechen, zur Verbesserung der steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten. Wir als Koalitionsfraktionen haben zwar eine lange Diskussion gehabt, insgesamt aber einen guten Gesetzentwurf vorgelegt. ({0}) Auch Sie von der Opposition, Christine Scheel und Kerstin Andreae, hätten das schon gerne früher verwirklicht. Ich bin richtig froh, dass wir es jetzt in der großen Koalition verwirklichen konnten. Das ist ein guter Schritt für die Familien. ({1}) Sie von der FDP und den Grünen mögen über diese komplizierte Lösung herziehen; ({2}) aber wir haben es mit diesen Regelungen wirklich geschafft, allen steuerpflichtigen Familien, die Aufwendungen für Kinderbetreuung haben, künftig deutlich mehr Geld in die Hand zu geben. Die Vielfalt der Lebensplanungen macht einen Reiz in unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft aus. Uns als Staat obliegt es, den Müttern und Vätern bei ihren Lebensplanungen zu helfen und nicht zu dirigieren. Wir helfen ihnen auf verschiedenste Weise. Ich erinnere an die Erhöhung des Kindergeldes, die Steuersenkungen und das Ganztagsschulprogramm. Das ist nicht ganz ohne. Überall in unseren Wahlkreisen weihen wir neue Ganztagsschulen ein. Oft steht „Land sowieso“ darauf, aber es steckt unser Geld darin und es steckt unsere Idee dahinter. ({3}) - Dahinter steckt natürlich immer der Steuerzahler. Wir haben das TAG gemacht, wir haben den Anstoß für eine familienfreundliche Politik in der Arbeitswelt gegeben und wir haben die lokalen Bündnisse. Das ergibt ein gutes Fundament, auf das wir heute einen weiteren Stein setzen, worauf ich stolz bin. Es gibt eine Steuersenkung in Höhe von 460 Millionen Euro, die vor allem Müttern und Vätern zugute kommen wird, die Familie und Beruf unter einen Hut bringen. Frau Tillmann hat schon gesagt, dass wir mit der Veränderung von der außergewöhnlichen Belastung zu den Werbungskosten einen Zeitensprung erreicht haben. Wir alle haben in unseren Parteiprogrammen immer gesagt, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie an erster Stelle stehen soll. ({4}) In diesem Gesetz haben wir erstmalig festgeschrieben, dass Kinderbetreuungskosten erwerbsbedingt sein können. Sie sind bei erwerbstätigen Eltern und Alleinerziehenden Betriebsausgaben und Werbungskosten. Ich bin sehr froh, dass das im Gesetz festgeschrieben ist. Vielleicht erinnern Sie sich noch, Frau Scheel: Vor zehn Jahren haben Wissenschaftler das bei Finanzminister Theo Waigel vorgebracht. Dieser hat das in den Papierkorb gesteckt. Wir haben das jetzt verwirklichen können. ({5}) Es ist unser Wunsch und unser Wollen, das wir in die Praxis umsetzen. Pro Kind sind zwei Drittel der Betreuungskosten bis maximal 4 000 Euro als Werbungskosten oder Betriebsausgaben steuerlich absetzbar. Das bedeutet, dass zwei Drittel der Kosten für einen Kindergarten oder eine Tagesmutter abgesetzt werden können. Mir ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass auch geringe Kinderbetreuungskosten abgesetzt werden können. Ich will an dieser Stelle unserer stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Nicolette Kressl ganz herzlich danken: Sie hat die Drittelungsregelung angeregt und so dafür gesorgt, dass auch Eltern mit geringeren Betreuungskosten in den Genuss von Steuersenkungen kommen können. ({6}) Das war nicht selbstverständlich; dazu war ein langer Kampf notwendig. Ich will hinzufügen, dass dies - das müssen auch Sie zugeben - der verwaltungstechnisch einfachste Teil der neuen Regelung ist. Zwei Drittel der Betreuungskosten für Kinder bis 14 Jahren sind bis maximal 4 000 Euro steuerlich absetzbar. Wie viel das im Einzelfall ist, kann wohl jeder ohne einen Steuerberater ausrechnen. Der Rest ist tatsächlich etwas komplizierter. Paare, bei denen nur ein Elternteil erwerbstätig ist, können für Kinder im Kindergartenalter ebenfalls Kinderbetreuungskosten steuerlich geltend machen, nicht als Werbungskosten, sondern als Sonderausgaben, aber unter den gleichen Bedingungen. Wir haben hier oft genug darüber geredet - erst letzte Woche wieder -, wie wichtig die Betreuung von Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren ist. Wir begrüßen es, dass möglichst alle Kinder in den Genuss des Angebots der Kindertagesstätten kommen. Deswegen sollen alle Familien von der steuerlichen Absetzbarkeit profitieren dürfen. ({7}) Familien mit einem erwerbstätigen Elternteil, deren Kinder jünger als drei oder älter als sechs Jahre sind, können ihre Kinderbetreuungskosten wie bisher als Aufwendungen für haushaltsnahe Dienstleistungen nach § 35 a EStG geltend machen. Frau Andreae hat schon Recht: Das ist kompliziert. Aber das war schon vorher so. Es ist also kein neuer Tatbestand, der in das Gesetz eingefügt wird. ({8}) Auch das muss man noch einmal ganz deutlich sagen. Wir selbst haben gemeinsam für diese Kompliziertheit gesorgt. Wir wollen die Lebensplanungen von Familien unterstützen und wir wollen Familien nicht dirigieren. Wir haben mit diesem Gesetz Steuersenkungen in Höhe von insgesamt 460 Millionen Euro für Familien auf den Weg gebracht. Wir werden im Bereich Betreuung - davon bin ich überzeugt - eine Menge neue Beschäftigungsverhältnisse ermöglichen. Wir leisten endlich einen guten Beitrag zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Mit diesem Gesetz werden die Koalitionsfraktionen einen weiteren Stein auf das gute Fundament, das sie zusammen gelegt haben, setzen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch daran, dass wir ein Elterngeld einführen möchten. Wir werden es schaffen, dafür zu sorgen, dass der Besuch von Kindergärten kostenfrei ist. Außerdem werden wir dafür sorgen, dass die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten noch einfacher ist. Wir werden zusammen den Weg in ein kinderfreundliches Land fortsetzen. Ich denke, dass alle Fraktionen daran interessiert sind, dabei mitzuarbeiten. Ich würde mich sehr freuen, wenn uns das im Endeffekt gelänge. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nun das Wort Kollegen Rainer Wend, SPDFraktion.

Dr. Rainer Wend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach gut zwei Stunden dieser Diskussion, die sich nicht nur um die vorliegenden Gesetzentwürfe, sondern allgemein um finanzpolitische, steuerpolitische und wirtschaftspolitische Fragen gedreht hat, können wir schon feststellen, dass wir uns über die zwei großen Ziele, nämlich Wachstum anzuregen und den Haushalt zu konsolidieren, weitgehend einig sind. ({0}) Wenn es aber um die Instrumente zur Erreichung dieser Ziele ging, dann sind aus meiner Sicht nicht nur Meinungen aufeinander gestoßen; vielmehr haben wir zum wiederholten Male zwei in sich geschlossene Ideologien kennen gelernt, denen wir nach meiner Überzeugung nicht folgen dürfen. Da ist zunächst die Position der FDP, die durch den Kollegen Thiele vertreten wurde. Er sagt uns, wir müssten die Steuern nur genug senken, wir müssten die Sozialleistungen des Staates nur genug kürzen, dann springe sozusagen automatisch die Konjunktur an und belebe sich die Wirtschaft. ({1}) Ich sage Ihnen: Dieses neoliberale Konzept schafft nicht nur den Sozialstaat ab; es macht den Staat auch handlungs- und investitionsunfähig. ({2}) Wer den Staat handlungsunfähig macht, führt uns in eine Rezession, aus der man nur schwer wieder herauskommt. Diese Politik kann die große Koalition nicht unterstützen. ({3}) Das zweite ideologische Weltbild wurde von der Linkspartei durch den Kollegen Lafontaine vorgestellt und ist sozusagen das umgekehrte Extrem: Man müsse die Steuern nur genug erhöhen, dann würden wir, so sagte er wörtlich, in Geld schwimmen und weiter keine Probleme mehr haben, Bildung und Investitionen zu finanzieren. - Wer dieses umgekehrte ideologische Weltbild pflegt, verkennt die Gesetze der globalisierten Wirtschaft, schwächt uns im Wettbewerb mit anderen Volkswirtschaften und das Ende vom Lied ist die Vernichtung von Wachstum und Beschäftigung. Deswegen kann die große Koalition auch diesem Kurs nicht folgen. ({4}) Was wir an dieser Stelle versuchen, entspricht keinem geschlossenen Weltbild. Ich räume ein: Über jeden einzelnen unserer Punkte kann man kontrovers diskutieren. - Wir haben aber den Versuch unternommen, Ihnen für dieses und das nächste Jahr insgesamt etwas vorzulegen, von dem wir glauben, dass es die Bedingungen am Standort Deutschland verbessert: In diesem Jahr steht die Verbesserung der Abschreibungsmöglichkeiten an. Eben wurde auf Folgendes hingewiesen: Die Istbesteuerung wird in Zukunft großzügiger ermöglicht. Der Privathaushalt als Arbeitgeber wird gefördert. Die Finanzierungsbedingungen für kleinere und mittlere Unternehmen werden verbessert. Ein Gebäudesanierungsprogramm wird aufgelegt. Mehr öffentlich-private Partnerschaften werden begründet. Das ist eine Politik, die versucht, wirtschaftliche Belebung zu erzeugen. Im nächsten Jahr steht die Konsolidierung der Haushalte an. Wir wissen, dass die Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht unproblematisch ist, senken aber gleichzeitig die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte und damit die Lohnnebenkosten dauerhaft unter 40 Prozent. Im Jahr 2008 steht die große Unternehmensteuerreform an. Ich kann alle die verstehen, Frau Kollegin Andreae, die Zweifel daran haben, ob man das vernünftig hinbekommt. Das wird auch kein einfacher Schritt sein. Ich will es nur an einem Beispiel darlegen. Wir reden immer davon, dass wir die kleinen und mittleren Unternehmen, die eigentümergeführten Unternehmen unterstützen wollen. Jawohl! Wenn wir aber den von manchen Sachverständigen für Körperschaften und Einzelunternehmen vorgeschlagenen einheitlichen Steuersatz von 30 Prozent einführten, belasteten wir in erheblichem Umfang kleinere und mittlere Unternehmen zusätzlich, ({5}) weil sie nämlich jetzt weniger als 30 Prozent Steuern zahlen. Probleme sind also ohne Zweifel da. Deswegen muss man sich Zeit lassen, um zu versuchen, diese Probleme vernünftig zu lösen. Die Zeit haben wir, wenn wir eine Neuregelung zum 1. Januar 2008 auf den Weg bringen. Also: keine ideologischen Weltbilder bei der großen Koalition, Schritt für Schritt vorwärts gehen, eine klare Perspektive, ein Gesamtkonzept. Wenn ich mir vor Augen führe, wie die Wirtschaft darauf reagiert, dann können wir, glaube ich, optimistisch sein. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag sagte wörtlich: Für 2006 sind die Vorzeichen so günstig wie seit fünf Jahren nicht mehr. Lassen Sie uns das doch nutzen, indem wir weiter hart arbeiten und keine ideologischen Weltbilder verkaufen! ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 16/643 zur federführenden Beratung an den Finanzausschuss und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, Vizepräsident Wolfgang Thierse den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, den Ausschuss für Arbeit und Soziales, den Ausschuss für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für Gesundheit, den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sowie den Haushaltsausschuss zu überweisen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 16/634 und 16/520 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 auf: Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung Aktuelle Situation zur Vogelgrippe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Horst Seehofer. ({0})

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 14. Februar, kurz nach 19 Uhr, wurde die Bundesregierung unterrichtet, dass nach einer Laboruntersuchung von zwei Schwänen das Vogelgrippevirus H5N1 auch in Deutschland angekommen ist. Auch wenn der Kontrollbefund durch das EU-Referenzlabor noch nicht vorliegt, gehen wir davon aus, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dieses bei Tieren hoch aggressive Virus H5N1 hierzulande vorhanden ist. Wir haben es mit einer gefährlichen Tierseuche zu tun, die, wie die weltweite Erfahrung zeigt, auch potenzielle Gefahren für Menschen birgt. Bei dieser sehr ernsten Lage gibt es nur eine Antwort, meine Damen und Herren, nämlich rigoros und konsequent gegen diese Tierseuche vorzugehen und dabei der Sicherheit für Menschen oberste Priorität einzuräumen. ({0}) Der Schutz der Menschen steht an erster Stelle. Deshalb müssen wir die Menschen immer und immer wieder aufklären, wie sie sich selbst vor dieser Krankheit schützen können. Weltweit gibt es keinen Beleg für die Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch, aber sehr wohl für die von Geflügel auf Menschen. Eine solche Übertragung können die Menschen vermeiden, indem sie keinen engen und intensiven Kontakt zu Geflügel halten. Deshalb auch heute wieder die Empfehlung an die Menschen, sich von Geflügelhaltungen fernzuhalten, an die Geflügelhalter die Empfehlung, die ja auch rechtlich niedergelegt ist, konsequent und ausnahmslos sowie mit größter Sorgfalt alle Hygienemaßnahmen wie zum Beispiel das Tragen von Schutzkleidung zu beachten und betriebsfremde Personen von den Geflügelställen fernzuhalten, und an alle die Empfehlung, keine Privatentsorgung von totem Geflügel und bei erkennbaren Krankheiten keine Privattherapie vorzunehmen, sondern sofort die Behörden zu unterrichten, damit sie sich um diese Fälle kümmern können. Das ist der beste Schutz, den die Menschen selbst gegen dieses Virus ergreifen können. Ich appelliere auch von dieser Stelle an die Eltern, ihre Kinder über die Gefahren aufzuklären, damit Kinder totes Geflügel nicht anfassen. Vielmehr sollten diese ihre Eltern und diese dann die Behörden informieren. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. ({1}) Wir haben auch Geflügelmärkte und Geflügelausstellungen in Deutschland verboten. Sie stellen nämlich potenzielle Drehkreuze für die Weitergabe des Virus dar. Ich kann hier sagen, meine Damen und Herren, dass wir Geflügelausstellungen und -märkte ohne Ausnahme verboten haben. Das ist wichtig, denn in der Vergangenheit waren Ausnahmen möglich. Jetzt gibt es ausnahmslos keine Geflügelausstellungen und -märkte mehr in Deutschland. ({2}) Der erste und wichtigste Punkt ist der Schutz der Menschen vor diesem Virus. Ich bin, meine Damen und Herren, kein Anhänger von Panikmache. Deshalb sage ich auch deutlich, es gibt keinen Beleg für eine Übertragbarkeit von Mensch auf Mensch, aber es gibt weltweit viele Belege für die Übertragbarkeit von Tier auf Mensch. Deshalb kommt es auch auf das verantwortungsvolle Verhalten der Menschen selbst an. Ich bitte alle Menschen, sich an diese Hinweise zu halten, und insbesondere die Geflügelhalter, die Hygienebestimmungen konsequent einzuhalten. Die zweite wichtige Aufgabe ist, alles Erdenkliche zu tun, damit dieses Virus, das im Moment in der Wildvogelpopulation vorhanden ist, nicht in die Nutztierhaltung eingetragen wird. Das hängt wiederum mit dem Schutz der Menschen zusammen; denn ein Eindringen des Virus in die Nutztierhaltung erhöht auch die Gefahr für die Menschen, jenseits der ökonomischen Auswirkungen auf die Geflügelhaltung. Deshalb gilt unser zweites Augenmerk, übrigens seit vielen Monaten, der Frage: Wie können wir verhindern, dass das Virus von Wildvögeln auf Nutztiere übertragen wird? Da ist weltweit im Moment die Stallpflicht für Geflügel die wirksamste Maßnahme. Die Stallpflicht ist auf Rügen, wo die Wildvogelfunde waren, mit sofortiger Wirkung angeordnet worden. Das ist EU-Recht und seit langem vorbereitet. Es gibt eine Sperrzone und eine Beobachtungszone; die Sperrzone beträgt 3 Kilometer, die Beobachtungszone 10 Kilometer. Die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern hat - wir werden es hören - die Sperrzone sogar ausgedehnt. In der Sperrzone gilt das Aufstallungsgebot sofort. Bundesweit ist es heute veröffentlicht worden und wird morgen - die Anordnung ist mit Strafe bewehrt - in Kraft treten. Aber dort, wo das Geflügel aufgefunden wurde und der starke Verdacht auf die Virusinfektion aufgetreten ist, gilt das Aufstallungsgebot sofort. In den Sperr- und Beobachtungszonen sind die Behörden unterwegs, um klinische Befunde bei der Nutztierhaltung zu erheben. Denn jetzt ist es auch sehr wichtig, dass wir in dem Fall, dass die Weitergabe des Virus verdeckt erfolgt ist, sehr schnell entdecken, ob und wo die Nutztierhaltung betroffen ist. Deshalb besteht EU-weit die Regelung, dass in den Sperrzonen nicht nur für eine bestimmte Zeit ein Verbringungsverbot gilt, sondern dass auch sehr konsequent eine Identifizierung betrieben wird, bis hin zu den Kleinsttierhaltern, und eine Desinfektion der Ein- und Ausgänge der Ställe in der Sperrzone erfolgt. Für gleichermaßen wichtig halte ich, dass die Veterinäre klinische Befunde erheben, damit in dem Fall, dass sich der Virus ausgebreitet hat, sehr früh ein Virusherd in der Nutztierhaltung erkannt wird. Nach dem Schutz für die Menschen ist also die zweitwichtigste Maßnahme, zu verhindern, dass das Virus von den Wildvögeln auf die Nutztiere übertragen wird, im Interesse der Geflügelhalter, der Tiere, aber auch der Menschen, für die das die potenziellen Gefahren erhöhen würde. Der dritte Punkt ist die Beobachtung und Beprobung der Wildvögel. Epidemiologisch und seuchenpolitisch ist es ganz wichtig, sich sehr viel Klarheit über das Geschehen zu verschaffen. Deshalb sind wir in dem Fall von Mecklenburg-Vorpommern dazu übergegangen, die Laboruntersuchungen von toten Vögeln unmittelbar in unserem bundesdeutschen Referenzlabor in Riems, dem Bundesinstitut für Tiergesundheit, durchzuführen. Bisher war es so, dass das über die Landesuntersuchungsämter lief und erst, wenn der erste Screeningtest zu Ergebnissen geführt hat, die Weitergabe an das Referenzlabor in Riems erfolgt ist. Wir haben gestern mit dem Personal von Riems 40 tote Schwäne und andere Vögel in dieses Institut befördert. Dort ist man zur Stunde dabei, die Untersuchungen durchzuführen. Das verschafft uns schneller Gewissheit. Es soll auch zeigen, dass die Bundesregierung es mit ihren Hilfsangeboten gegenüber den betroffenen Ländern ernst meint. Wir werden heute im Laufe des Tages zu den 40 Proben erste Erkenntnisse bekommen. Ich sage hier ganz offen: Nach all den Geschehnissen und der Dynamik bei der Ausbreitung dieses Virus weltweit rechnen wir mit weiteren Fällen in der Bundesrepublik Deutschland. Wir erleben jetzt offensichtlich eine Ausbreitung in die nordischen Länder. Sehr dynamisch ist die Ausbreitung nach Süden, nach Österreich, Slowenien, Italien, Griechenland. Ich persönlich gehe nach Rücksprache mit unseren Experten und mit Wissenschaftlern davon aus, dass wir auch in der Bundesrepublik Deutschland mit weiteren Fällen zu rechnen haben. Die Beobachtung und die Beprobung der Wildvögel sind für die Tierseuchenbekämpfung ungeheuer wichtig, um sich möglichst frühzeitig ein klares Bild von dem Geschehen zu verschaffen. ({3}) Hinsichtlich des Schutzes der Menschen möchte ich noch Folgendes sagen: Auch wir haben jetzt eine Hotline geschaltet - für die Bundesländer wurde eine Hotline von Mecklenburg-Vorpommern eingerichtet -, weil es sehr viele konkrete Fragen aus der Bevölkerung, beispielsweise von Hunde- und Katzenhaltern, gibt. Es gibt Fragen, wie man bezogen auf die Ernährung mit Geflügel umgeht. Ich möchte an dieser Stelle öffentlich mitteilen, dass die Bevölkerung durch Anrufen dieser vom Bundesverbraucherschutzministerium geschalteten Hotline die Gelegenheit hat, mit Spezialisten über Detailfragen, die für das praktische Leben von Bedeutung sind, zu sprechen und entsprechende Informationen einzuholen. Denn auch die Information gehört zu einer erfolgreichen Bekämpfung. Nur mit ausreichenden Informationen kann man eines solchen Geschehens Herr werden. ({4}) Der vierte Punkt. Wir haben es mit einer weltweiten Entwicklung zu tun. Vor wenigen Wochen erfolgte die Ausbreitung nach Afrika. Ich möchte darauf hinweisen, dass eine solche weltweite Entwicklung nur durch eine intensive internationale Zusammenarbeit zu beherrschen ist. Wir arbeiten mit der Weltgesundheitsorganisation und natürlich auch mit der Europäischen Union zusammen. Gestern und heute kamen alle Spezialisten aus Europa zusammen. Nächsten Montag wird sich der Agrarrat in Brüssel treffen, um sich mit dem aktuellen Geschehen in Europa zu beschäftigen. Auch wenn im Moment das Schwänesterben in der öffentlichen Diskussion im Vordergrund steht, so möchte ich dennoch heute darauf hinweisen, dass es drei Gefährdungsstränge gibt, die wir gleichermaßen im Blick behalten müssen. Wir dürfen nämlich nicht glauben, dass die anderen Gefährdungsstränge in den Hintergrund treten, nur weil wir es jetzt mit einem Schwänesterben zu tun haben. Ich weise darauf hin, dass nach allen Risikoanalysen der Spezialisten die Rückkehr der Zugvögel - nach allgemeiner Erfahrung findet sie Anfang März bis Ende April statt; aber je nach Witterungsbedingungen kann sie auch früher stattfinden - nach wie vor ein hohes Risiko darstellt. Angesichts der neuen Virusfunde sind alle Rückkehrrouten der Zugvögel für uns außerordentlich bedeutsam geworden: die Rückkehrroute aus Richtung Südosteuropa wegen der Fälle in der Türkei, die Rückkehrroute aus Richtung Südwest wegen der Fälle in Afrika und Spanien und die Zentralroute über Italien wegen der Fälle in diesem Land. Aufgrund der Rückkehr der Zugvögel ist die Aufstallungspflicht unausweichlich. Indem wir sie jetzt in Kraft gesetzt haben, haben wir mehr Sicherheit geschaffen. In den nächsten Wochen müssen wir nicht pausenlos die Witterungsbedingungen und das Rückkehrverhalten der Zugvögel beobachten. Ein sehr hohes Risiko stellt auch der Waren- und Reiseverkehr aus Befallgebieten dar. Nach wie vor ist die Quote der Beschlagnahmungen von Geflügel und von Geflügelprodukten hoch. Deshalb wird die Bundesregierung - das haben wir schon vor einigen Wochen in die Europäische Union mit großer Unterstützung vieler Mitgliedstaaten eingebracht - die Kommission am Montag drängen, endlich eine Entscheidung hinsichtlich der Kontrollen an den Außengrenzen der Europäischen Union zu treffen. Wenn im Inland bei Kontrollen auf Straßen und Flughäfen illegal eingeführtes Geflügel und illegal eingeführte Geflügelprodukte beschlagnahmt werden müssen, dann deutet das darauf hin, dass die Kontrollen an den Außengrenzen der Europäischen Union nicht dicht genug organisiert sind. ({5}) Die entsprechenden Bemühungen müssen verstärkt werden. Die deutsche Regierung hat ebenfalls den Vorschlag gemacht - auch da hoffe ich, dass wir nächste Woche zu einer Entscheidung kommen -, eine Deklarationspflicht beim Waren- und Reiseverkehr, wie wir sie von anderen Kontinenten kennen, einzuführen. Menschen, die einreisen wollen, sollen eine Selbstdeklaration abgeben, dass sie verbotenes Geflügel und verbotene Geflügelprodukte nicht mitführen. Ich glaube, auch dieses Vorgehen ist dazu geeignet, die Menschen stärker aufzuklären; denn es ist natürlich mit Informationen verbunden. Gerade die Information und die Aufklärung sind ein ständiger Prozess. Wir dürfen nie glauben, dass wir damit fertig sind. Wir müssen die Informationen immer wieder auffrischen und erneuern. Dazu brauchen wir die Unterstützung der Medien, der Fluglinien und der Reisebüros, damit die Menschen wissen, was gilt und woran sie sich zu halten haben. Ich verweise auf die Problematik der Verstärkung der Forschung. Auch diese muss europaweit vorangetrieben werden. Zur Tierimpfung möchte ich sagen: Wir haben es im Moment mit einer Tierseuche zu tun, die in der Wildvogelpopulation vorkommt. Wir haben darüber gestern im nationalen Krisenrat sehr intensiv diskutiert. Bei den für Tiere verfügbaren Impfstoffen besteht im Moment das Problem, dass die Krankheit, wenn Tiere geimpft werden, verdeckt wird. Auch nach einer Impfung ist es möglich, dass ein Tier das Virus trägt und weitergeben kann, aber selbst nicht erkrankt. Deshalb haben diejenigen Länder, vor allem die Chinesen, die die Impfung betrieben haben, das Seuchengeschehen eher vergrößert; denn sie haben die Krankheit, die weitergetragen werden kann, verdeckt. Deshalb besteht hier ganz entschiedener Forschungsbedarf. Ich möchte Ihnen sagen, dass wir nachdrücklich darauf dringen - wir tun dies auch bei uns im Bundesinstitut -, die Forschung voranzutreiben, um vielleicht in absehbarer Zeit einen Markerimpfstoff zur Verfügung zu haben. Dieser hätte dann den Vorteil, dass durch eine serologische bzw. eine Blutuntersuchung festgestellt werden kann, ob ein Tier, das geimpft worden ist, das Virus in sich trägt. Die Wissenschaftler sagen mir, dass sie nach heutigem Stand wohl noch zwei Jahre brauchen, um über seriöse Grundlagen für einen Impfstoff zu verfügen. Wir werden die Anstrengungen enorm verstärken, damit es zu einem früheren Zeitpunkt einen Markerimpfstoff gibt, der das Problem der heutigen Impfung aufhebt, nämlich dass ein Tier das Virus trägt und es weitergeben kann, aber nicht daran erkrankt. Das ist das heute bei der Impfung bestehende Problem. Wir werden darüber am Montag auch im Agrarrat weiterreden. Denn es ist ähnlich wie bei anderen großen Entwicklungen und Seuchen: Je mehr sich international um dieses Thema kümmern, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir weiterkommen. Ich möchte ausdrücklich sagen, dass unsere Wissenschaftler und unser Bundesinstitut in Deutschland sich intensiv darum kümmern, die bei den Tieren bestehende Impfproblematik zu einem guten Ergebnis zu führen. Wir brauchen das auch deshalb, weil wir bei aller rigorosen und konsequenten Vorgehensweise nicht davon ausgehen können, dass wir dieses Geschehen in wenigen Wochen überwunden haben werden. Wenn wir im Frühjahr und im Herbst nicht immer wieder über die Stallpflicht, über entsprechende Fristen und zeitliche Korridore diskutieren wollen, müssen wir eine Strategie entwickeln, welche Alternative es zu der Pflicht, Tiere im Stall zu halten, gibt. Deshalb ist die Forschung bezüglich der Fortentwicklung der Impfmöglichkeit sehr wichtig. Es sollte sich dabei aber um eine seriöse, belastbare Impfung handeln und nicht um eine Impfung, die nur die Gefühle beruhigt, uns aber in der Praxis nicht nach vorne bringt. ({6}) Ich fasse zusammen: Erstens. Der Schutz der Menschen steht an erster Stelle. Die Menschen selbst können durch verantwortliches Verhalten eine ganze Menge dazu beitragen. Das Fernhalten von Geflügel und das Vermeiden von engerem und intensivem Kontakt mit erkrankten Tieren sind der beste Schutz für die Menschen. Zur Beantwortung der vielen Einzelfragen sind auf Bundes- und Länderebene Hotlines eingerichtet worden. Zweitens. Die Übertragung des Virus von Wildvögel auf Nutzgeflügel muss durch die Aufstallung und die Einrichtung von Sperrzonen an Fundorten vermieden werden. Betriebe, die Nutztiere halten, werden stärker reglementiert. Schließlich ist die internationale Zusammenarbeit wichtig, die alle Gefährdungsstränge zum Inhalt haben muss. Dabei geht es um Kontrollen des Waren- und Reiseverkehrs, die Zugvögelproblematik, die durch die Ausbreitung der Krankheit nach Afrika größer geworden ist, die Eigendeklaration und die intensive Forschung bezüglich der Tierimpfung. Aufgrund der aufgefundenen Schwäne stellt sich natürlich die Frage nach den Ursachen für die Gescheh1350 nisse in Italien, in Griechenland und jetzt auch im Norden unseres Landes, auf Rügen. Ich wiederhole hier, was ein Wissenschaftler im Krisenstab gestern darauf schlicht und einfach gesagt hat: Wir wissen es nicht. ({7}) Ich empfehle allen, die sich mit diesem Thema intensiver beschäftigen, keine Anekdoten oder Vermutungen zu verbreiten, sondern sich auf seriöser wissenschaftlicher Basis zu bewegen. Vor wenigen Tagen wurde in der Öffentlichkeit noch die Behauptung vertreten, Ursache sei die Nord-Süd-Wanderung der Tiere wegen des kalten Winters. Das kann nicht ernsthaft aufrechterhalten werden. Jetzt lautet die Argumentation, es habe eine OstWest-Wanderung gegeben. Es gibt auch die Spekulation, das Virus sei schon länger im Lande, allerdings verdeckt. Ich empfehle, wie wir es als Bundesregierung überhaupt halten, uns nach den Expertenmeinungen zu richten, weil nur so adäquate Maßnahmen möglich sind. ({8}) Wir haben gestern den nationalen Krisenstab einberufen. Er besteht nach einer Vereinbarung zwischen Bund und Ländern seit vielen Jahren. Ihm gehören Vertreter aller Bundesländer an - sie waren auch alle anwesend -, aber auch Vertreter der Geflügelwirtschaft. Ich darf dem Parlament mitteilen, dass die rechtlichen Vorsorge- und Schutzmaßnahmen, die im Kern seit August des letzten Jahres in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa gelten - eine Vielzahl der von mir geschilderten Maßnahmen sind europaweit festgelegt und werden in allen Ländern Europas gleichermaßen gehandhabt - und für deren nationale Umsetzung die Bundesregierung verantwortlich ist, begrüßt worden sind. Es gab keinen einzigen Vorschlag für eine Ergänzung oder eine Verstärkung dieser Maßnahmen; auch das ist wichtig. Es gab eine sehr lange sachliche Diskussion ohne jede Parteipolitik. Ich wiederhole hier, was ich gestern gesagt habe: Wir haben als Bundesregierung die Aufgabe der Koordinierung und der Unterstützung und ich biete jedem Betroffenen größtmögliche Hilfe an. Es gibt übrigens auch eine Vereinbarung zwischen den Bundesländern, nach der in dem Fall, dass ein Bundesland aufgrund seiner Kapazitäten überfordert sein sollte, jederzeit andere Bundesländer unterstützend eingreifen. Diese Notwendigkeit ist im Krisenstab bis gestern Abend in diesem aktuellen Fall nicht benannt geworden. Ich biete hier aber noch einmal ausdrücklich unsere Hilfe an. Wir sind als Bundesregierung zu jeder in unseren Kräften liegenden Unterstützung bereit, beispielsweise beim Personal oder bei der Logistik. Wir nehmen unsere Aufgabe der Koordination sehr ernst. Ich werde morgen mit dem Kollegen Backhaus aus Mecklenburg-Vorpommern das betroffene Gebiet und die Krisenstäbe im Kreis und im Land Mecklenburg-Vorpommern besuchen, um dieses Angebot zur Hilfe und zur Koordinierung zu untermauern. Meine Damen und Herren, wir haben es mit einer gefährlichen Tierseuche zu tun und, wie die weltweite Entwicklung zeigt, auch mit potenziellen Gefahren für die Menschen, was die Übertragbarkeit vom Tier auf den Menschen betrifft. Deshalb wiederhole ich, was ich eingangs gesagt habe: Wir gehen rigoros und konsequent nach der obersten Regel „Im Zweifel für die Sicherheit“ vor. Ich habe Verständnis für die wirtschaftlich betroffenen Geflügelhalter, die sich gestern im nationalen Krisenstab im Übrigen außerordentlich verantwortungsbewusst geäußert haben. Dafür möchte ich mich noch einmal bedanken. ({9}) Sie haben die Maßnahmen ausdrücklich für notwendig erklärt und auch begrüßt. Das ist angesichts ihrer ökonomischen Betroffenheit keine Selbstverständlichkeit und zeigt, dass dort ein hohes Maß an Verantwortung vorhanden ist. Ich habe angesichts der ökonomischen Auswirkungen dieser Maßnahmen gerade für die Großgeflügelhalter Verständnis. Aber ich wiederhole, was ich gestern am Schluss der Krisenstabssitzung gesagt habe: Wir müssen über diese ökonomischen Betroffenheiten diskutieren. Aufgrund der aktuellen Geschehnisse muss aber die Sicherheit der Menschen und des Nutzgeflügels an erster Stelle stehen. Sicherheit geht im Moment vor Ökonomie. Hier bitte ich um Ihre Unterstützung. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Frau Bundeskanzlerin! Sehr geehrter Herr Minister Backhaus! Wir freuen uns über die Regierungserklärung - nicht über den Anlass, sondern über die Art und Weise, mit der wir uns mit diesem Thema befassen. Wir unterstützen alle klugen und sinnvollen Maßnahmen, die Herr Seehofer zum Teil angesprochen hat. Ich sage „zum Teil“, weil ich noch einige Ergänzungen vornehmen möchte. Wir haben diese sehr konsequente Linie im Ausschuss erarbeitet, bis hin zum Kampf um inhaltliche Darstellungen, während andere sich mit diesem Thema schon gar nicht mehr beschäftigen wollten, wie in der gestrigen Ausschusssitzung. Wir erheben in dieser Frage einen sehr hohen fachlichen und sehr hohen fachwissenschaftlichen Anspruch. Wir wollen dazu beitragen, dass die Menschen wissen, wie wir sie schützen und wie sie sich selbst zu schützen haben. Wir stellen aber auch fest, dass das, was wir zu transportieren versuchen, in der konkreten Situation zerschlagen wird. Es ist absolut unerklärlich, dass die Schwäne noch immer vor der Insel Rügen liegen. Es ist absolut unerklärlich, dass Menschen - insbesondere Kamerateams und Touristen - ungehindert durch Absperrungen bis zu den Tierkörpern vordringen konnten. Es ist absoHans-Michael Goldmann lut unerklärlich, dass sich die Diagnosedauer über mehrere Tage hinzog, sodass auch Professor Kurth vom Robert-Koch-Institut sagt: Ich habe mich gewundert, dass dies so lange dauert. Das ist natürlich nicht ideal. Herr Minister Seehofer, Sie mahnen zu Recht die Eltern und erteilen ihnen den Auftrag, ihren Kindern das Notwendige zu sagen. Die Eltern werden damit aber Schwierigkeiten haben, wenn sie gleichzeitig feststellen müssen, dass wir mit dem Verbot des Zugangs zu den toten Schwänen so lax umgehen, wie sich das hier dargestellt hat. ({0}) Ich weiß, das Ganze ist in der Sache schwierig. Es ist aber absolut unerträglich, dass die Botschaft der Bundesregierung zerrissen ist. Herr Seehofer sagt: Die Vogelgrippe ist eine gefährliche Tierseuche mit potenziellen Gefahren für den Menschen. Das ist richtig. Frau Schmidt jedoch sagt: Es gibt keine Gefährdung. Es bleibt eine reine Tierseuche. Diese Position ist falsch. ({1}) - Genau das haben Sie gesagt. Vogelgrippe hat durch Anpassung auch schon zu Todesfällen bei Menschen geführt. Natürlich sind wir von der Mutation des Virus und damit der Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch Gott sei Dank noch ein Stück entfernt. Pandemieprobleme haben wir noch nicht. Aber vor dem Hintergrund der Gesamtentwicklung - ich weiß nicht, ob Sie die Gelegenheit hatten, heute Nacht eine hoch informative Fernsehsendung zu diesem Thema zu verfolgen - ist die Frage an die Bundesregierung zu richten: Was gilt denn nun? Was ist Ihr Handlungsstrang? Denken Sie, es ist eine reine Tierseuche wie Schweinepest oder Maul- und Klauenseuche? Oder ist es vielleicht doch eine Seuche, bei der man im Grunde genommen davon ausgehen kann, dass sie auf den Menschen übertragbar ist und übertragen wird und damit die Gefahr der Pandemie mit dieser Geflügelseuche ganz unmittelbar verbunden ist? Herr Minister, wir brauchen in diesem Bereich absolut passgenaue Informationen. Wir brauchen keine Aktionen, sondern klare Informationen an die Nutztierhalter, an die Hobbytierhalter, an die Reisenden. Es gibt einen Fall, in dem diese Krankheit auf einen Menschen nicht nach Berührung mit Tieren, sondern durch Geflügelkot übertragen worden ist. Wir müssen das in unseren Überlegungen berücksichtigen. In diesem Bereich sind Ihre Antworten zum Teil doch sehr dürftig. Es ist richtig, dass wir mehr forschen müssen. Ich bin darüber betroffen, dass die vorliegenden Forschungsergebnisse und Informationen aus Ländern wie Belgien, den USA, Großbritannien und den Niederlanden kommen und dass wir anscheinend nicht genügend für die Forschung getan haben. Wir müssen uns in diesem Bereich verbessern. ({2}) Ich denke, dass es ganz wichtig ist, dass wir alle den Wunsch haben, ideologische Grabenkämpfe zu beenden. Liebe Frau Kollegin Höhn, Sie haben heute gesagt, ({3}) - ja, das habe ich gemacht, da können Sie ganz sicher sein - sofortige Stallpflicht in Mecklenburg-Vorpommern sei Aktionismus. Das enttäuscht mich zutiefst - so werden Sie wörtlich zitiert. Ich habe alle Meldungen dabei. ({4}) So habe ich Sie heute Morgen auch eindeutig im Frühstücksfernsehen gehört. Es ist unerklärlich, dass Sie eine solche Position einnehmen. ({5}) Sie wissen das. Sie können mich gleich in Ihrer Rede korrigieren. Hören Sie endlich damit auf, eine bestimmte Klientel, die auf Freilandhaltung setzt und möglicherweise Ihre Wähler sind, zu bedienen. ({6}) Sorgen Sie vielmehr dafür, dass die Viruskette unterbrochen wird. Sie wird durch Aufstallung unterbrochen. Das sagt Ihnen jeder, der sich mit dieser Sache beschäftigt. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Goldmann, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. - Wir dürfen vor dem Ausmaß der Bedrohung nicht die Augen verschließen. Wir dürfen nicht bei der Stallpflicht stehen bleiben. Wir werden alle klugen und fachlich begründeten Aktionen, Maßnahmen der Information und der fachlichen Verbesserung aktiv begleiten. Im Vordergrund müssen die Menschen stehen. Es ist zudem ein Problem mit außerordentlich großen wirtschaftlichen Auswirkungen. Herzlich Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Ulla Schmidt.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aussagen des Kollegen Goldmann können hier nicht unwidersprochen bleiben. ({0}) Ulla Schmidt ({1}) Jenseits der Tatsache, dass ich mir wünschen würde, dass sich Abgeordnete, wenn sie hier im Deutschen Bundestag Behauptungen darüber aufstellen, was andere gesagt haben, umfassend informieren, möchte ich betonen, dass es in der Bundesregierung keine Differenzen über die Frage gibt, wie gefährlich das Virus ist und wie gefährdet die Menschen in Deutschland sind. Genau wie der Kollege Seehofer habe auch ich immer wieder deutlich gemacht, dass allein der Tatbestand, dass das hoch pathogene Virus H5N1 bei Wildschwänen auf der Insel Rügen gefunden wurde, keine Veränderung der Gefährdungssituation der Menschen in Deutschland bedeutet. Wir sind nach wie vor in Phase 3, die die Weltgesundheitsorganisation definiert hat, also einer Phase, in der keine Gefährdung für Menschen besteht, es sei denn, dass ein enger Kontakt zwischen infiziertem Geflügel und Menschen stattfindet. ({2}) Deswegen, Herr Kollege Goldmann, bitte ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Aussagen des Kollegen Seehofer von mir hundertprozentig unterstützt werden - wir sind uns in dieser Frage einig - und dass wir beide die Maßnahmen, zum einen die Aufstallungspflicht und zum anderen die Warnhinweise, eingeleitet haben, durch die versucht wird, den direkten Kontakt von Menschen mit infiziertem Geflügel zu verhindern. In der Einschätzung der Gefährdungssituation sind wir einer Meinung. Ich behaupte nach wie vor: Es gibt keine wissenschaftlichen Hinweise darauf, dass das Virus effizient von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Aber es gibt kein Nullrisiko. Deshalb wiederhole ich hier den Hinweis. Wir fordern alle Menschen auf: Wenn ihr tote und kranke Vögel, Geflügel oder Wildschwäne findet, haltet euch bitte von diesen fern und ruft die entsprechenden Behörden an. Wenn es keinen direkten Kontakt gibt, besteht im Moment keine Infektionsgefahr. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Goldmann, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Ministerin, ich habe Tiermedizin studiert und passe, wenn es um solche Begriffe geht, sehr genau auf. Sie haben eben wieder etwas vermischt - ich weiß nicht, ob Sie das mit Absicht tun; man könnte auch etwas anderes annehmen -: ({0}) Ich habe überhaupt nicht davon geredet, dass der vorhandene Virustyp H5N1 von Mensch zu Mensch übertragbar ist. ({1}) Wir sollten einmal rekapitulieren, wie die Situation ist - Sie kennen sie ja -: Erstens. H5N1 nennt man einen mutierten Virustyp, der eine Pandemie auslösen kann. Klar ist: Je mehr Viren vom Typ H5N1 in der Welt herumschwirren, desto größer ist die Gefahr, dass es zu einer Pandemie kommt. ({2}) Zweitens. Sie behaupten, es handele sich bei diesem Virustyp um eine Tierseuche. Als Tierarzt kann ich Ihnen sagen: Die Schweinepest ist eine Tierseuche, weil sie - Gott sei Dank! - nicht auf den Menschen übertragbar ist. Sie ist, wie der Name Schweinepest sagt, eine Pest der Schweine. Bei der Geflügelpest ist die Situation eine andere: Das Geflügelpestvirus H5N1 kann sich an den Organismus des Menschen anpassen. Aufgrund seiner Aggressivität, die ja bekannt ist, kann dieses Virus zum Tod von Menschen führen, wie es in der Türkei und in anderen Ländern bereits der Fall war. Jetzt komme ich zum springenden Punkt: Sie haben gesagt, die Situation habe sich nicht verändert. Ich dagegen sage: Doch, die Situation hat sich verändert. Denn nun ist der Kontakt mit infizierten Tieren, zu dem es in Deutschland bisher nicht kommen konnte, auch hierzulande möglich, zum Beispiel auf der Insel Rügen und eventuell auch an anderen Orten, wie es Herr Seehofer vorhin beschrieben hat. Vor diesem Hintergrund ist Ihre Einschätzung, dass wir noch die Möglichkeit haben, die Entstehung einer Pandemie zu vermeiden, richtig. Aber ich kann Ihnen nur empfehlen, sich auch mit den Aussagen, die Vertreter der WHO heute getroffen haben, zu beschäftigen. Dann werden Sie nämlich feststellen, dass höchster Alarm geboten ist. Deswegen ist Ihre Aussage, die Leute sollten zwar vorsichtig sein, sich aber nicht massiv betroffen fühlen, weil es sich ja nur um eine Tierseuche handele, aus meiner Sicht fachlich falsch. Sie trägt nicht zur Beruhigung, sondern eher zur Verunsicherung der Menschen bei. ({3}) Frau Schmidt, Sie sollten Ihre Aussage korrigieren und genau das sagen, was auch Herr Seehofer ausgeführt hat - denn seine Aussage ist fachlich richtig -: Es handelt sich um eine Tierseuche mit der Potenz der Übertragbarkeit auf den Menschen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile noch einmal Bundesminister Horst Seehofer zu einem kurzen Nachtrag das Wort.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe im Anschluss an meine Rede eine Mitteilung vom Friedrich-Loeffler-Institut erhalten, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte - damit Sie nicht glauben, ich hätte in meiner Rede etwas unterschlagen -: Das FriedrichLoeffler-Institut hat jetzt endgültig bestätigt, dass die zwei untersuchten Schwäne tatsächlich mit dem hoch pathogenen H5N1-Virus infiziert waren und dass es sich bei diesem Virus um einen Subtypen handelt, den man erstmals im letzten Jahr bei Wildvögeln in China registriert hat. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Volker Blumentritt, SPD-Fraktion.

Volker Blumentritt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003741, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Goldmann, zur Aufklärung und Beruhigung der Bevölkerung haben Sie nicht gerade beigetragen. ({0}) Zunächst möchte ich mich ganz herzlich für die von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen bedanken, die in der Öffentlichkeit auf eine sehr positive Resonanz gestoßen sind. Die Wiedereinführung der Stallpflicht im gesamten Bundesgebiet vorzuziehen, ist sicherlich eine geeignete Maßnahme, um die Situation in den Griff zu bekommen. Weit schwieriger erscheint es im Augenblick, die Bevölkerung im Rahmen einer angemessenen Informationspolitik umfassend und ehrlich zu informieren. Hier bewegen wir uns in einem Bereich, der nicht allein durch Maßnahmen der Bundesregierung zu beherrschen ist. Daher richte ich an dieser Stelle den klaren Appell an alle Medien, in ihrer Berichterstattung verantwortungsbewusst zu verfahren; ich bitte darum, diesem Appell zu entsprechen. ({1}) Für die Bevölkerung besteht derzeit absolut keine Gefahr - dies bestätigt insbesondere das Robert-Koch-Institut - und dies bleibt so, wenn wir das Hausgeflügel schützen. Diese und keine andere Botschaft gilt es zu vermitteln. Doch die Menschen haben im Augenblick Angst vor einer Ansteckungsgefahr. Durch gezielte Aufklärung sowie umfassende Information sollten wir die Bevölkerung davon überzeugen, dass keine Ansteckungsgefahr besteht und dass der Verzehr von Geflügelfleisch nicht gesundheitsgefährdend ist. Aufklärung ist gefragt, nicht irreführende Information. Wir brauchen klare Anweisungen wie zum Beispiel: Die Vogelgrippe ist eine Tierseuche! Berühren Sie keine verendeten Tiere! Verständigen Sie die Behörden, wenn Sie verendete Tiere finden! Importieren Sie kein Geflügel und keine Geflügelprodukte, wie zum Beispiel Federn, aus betroffenen Ländern! Vermeiden Sie vorübergehend den direkten Kontakt durch Anfassen von Geflügel! Mit solchen sachlich fundierten Informationen kann die Bevölkerung etwas anfangen; sie gehören meines Erachtens jeden Tag in die Presse. Öffentliches Spekulieren über die Möglichkeit von Pandemien und ihre Folgen vermag vielleicht notorischen Pessimisten und Freunden schwarzer Zukunftsszenarien Genugtuung bereiten, dient jedoch nicht der Sache: einer angemessenen, verständlichen Aufklärung unserer Bevölkerung. ({2}) Meine persönliche Bitte an die Presse lautet: Ehrlich und sachlich fundierten Journalismus betreiben, Verzicht auf jeglichen Schlagzeilenaktionismus, der die Ängste der Menschen schürt. Die Einrichtung eines Bürgertelefons am RobertKoch-Institut für eine umfassende Aufklärung oder Internetseiten über Schutzmaßnahmen geben denjenigen, die mehr Informationen brauchen oder wollen - ob Insider oder andere -, die Möglichkeit, mehr zu erfahren zu welcher Stunde auch immer. Nicht nur für die privaten Verbraucher, sondern auch für die Geflügelindustrie spielt Aufklärung eine besondere Rolle. Dabei geht es auch um den Erhalt von Arbeitsplätzen. Während wir uns in den Diskussionen um Gammelfleisch und verdorbenes Wildfleisch vorwiegend auf nationalem Terrain bewegten, handelt es sich bei der Vogelgrippe um ein Problem mit Ursachen und Ausmaßen, die uns global denken und handeln lassen müssen. Eines sollte allen Beteiligten klar sein: Eine perfekte Koordination und Handlungskompetenz im direkten Umfeld oder sogar EU-weit kann den Problemen vor Ort entgegenwirken und die Bevölkerung vorübergehend schützen. Schon jetzt wird allerdings nur allzu deutlich, dass weltweit bereits sehr viele betroffen sind und dass ihnen geholfen werden muss. Dies ist insbesondere wichtig, um uns perspektivisch selber helfen zu können. Ursachenbekämpfung ist gefragt. Denn eines ist sicher: Der nächste Vogelzug kommt bestimmt. Wenn wir zukünftig nicht zweimal im Jahr in bangem Warten verharren wollen, um hoffentlich jedes Mal erleichtert seufzend aus der Sache herauszukommen, müssen wir über den eigenen Tellerrand hinausblicken und handeln - vor Ort, zum Beispiel in Südostasien. Es hilft wenig, angesichts der Missstände dort zu sagen: Schaut auf uns in Deutschland, so müsst ihr es machen! - Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass unsere gesundheitlichen Standards, unsere veterinärmedizinischen Anforderungen und Kenntnisse, zum Beispiel das Aufstallen, nichts mit den Realitäten in den betroffenen Ländern zu tun haben und kaum übertragbar sind. Unser Know-how ist gefragt. Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen, darauf hinzuwirken, dass unsere Standards im Umgang mit dieser Seuche weltweit üblich werden. Daraus ergibt sich für mich als eine der wichtigsten Herausforderungen: Wir müssen Strategien erarbeiten, um eine Ursachenbekämpfung vor Ort zu ermöglichen und voranzutreiben. Nur durch weltweit einheitliche Standards wird es uns in Zukunft gelingen, derartige Epidemien von Pandemien zu minimieren, vielleicht sogar vollkommen zu bannen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Blumentritt, das war Ihre erste Rede. Herzlichen Glückwunsch und alles Gute für Sie! ({0}) Ich erteile das Wort Kollegin Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke. ({1})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Um es vorwegzuschicken: Auch wir wollen keine Panikmache, im Gegenteil; denn Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Bezüglich der aktuellen Infektionsgefahr für den Menschen muss in der öffentlichen Debatte aber daran gedacht werden: Bei 7 000 bis 13 000 Todesfällen jährlich infolge humaner Influenzaviren allein bei Menschen in der Bundesrepublik relativieren sich die bislang 79 Todesopfer durch H5N1 weltweit. Sie sind aber Anlass genug - auch hinsichtlich der Pandemiegefahr -, den humanmedizinischen Aspekt in dieser Diskussion niemals aus den Augen zu verlieren. ({0}) Die Debatte hat das gerade gezeigt, Herr Goldmann. Ich stehe hier an Ihrer Seite. Die aktuell größere Gefahr besteht allerdings für das 160 Millionen Tiere starke deutsche Geflügelvolk. Dem Geflügelpestausbruch in Italien sollen immerhin 30 Millionen Hühner zum Opfer gefallen sein. Die wirtschaftlichen Verluste zum Beispiel in Asien wurden im vergangenen Jahr auf mehr als 10 Milliarden Euro geschätzt. Es stehen damit auch wirtschaftliche Existenzen auf dem Spiel. Wir haben also zumindest potenziell ein sehr ernstes Problem. Nach den beiden Anhörungen im Ausschuss bin ich mir aber aus verschiedenen Gründen, von denen ich hier nur einige nennen kann, eher unsicher, ob wir dieser bedrohlichen Situation entsprechend aufgestellt sind. Vor allem die zentralen Defizite hinsichtlich der epidemiologischen Grundlagen der aviären Influenza sind beunruhigend; denn dieses Wissen ist der Schlüssel für effektive und angemessene Handlungskonzepte. Neben ganz grundsätzlichen Fragen stellen sich auch sehr konkrete Fragen, die alle unbeantwortet sind: Welche Konsequenzen hat die Situation in Norditalien, wo aufgrund der Impfung nicht zwischen infizierten und geimpften Tieren unterschieden werden kann? Wie ist das Virus zu uns gelangt? Wie lange hält es sich bereits hier auf? Tote Schwäne gab es schließlich jedes Jahr. Welche Verbreitungswege hat es genommen oder wird es noch nehmen? Warum sind jetzt ausgerechnet Höckerschwäne eine Indikatorspezies? ({1}) Sind sie infektionsgefährdeter? Sterben sie besonders schnell? Sind sie besonders oft untersucht worden? Geht von ihnen eine unmittelbare Gefahr für die Geflügelhaltung aus? Zumindest die letzte Frage könnte man grundsätzlich mit Ja beantworten; denn es gab Ausbrüche in Gebieten, in denen auch Schwäne infiziert waren. Was bedeutet das aber für die hiesigen Verhältnisse? Welche anderen Vogelarten sind involviert? Wie verhält sich das Virus in Wildvögeln? Wie groß ist die Gefahr, die durch Wildvögel für die Menschen entsteht? Durch diese Fragen werden die Defizite belegt. ({2}) Dabei war - das müssen Sie zugeben, wenn Sie ehrlich zu uns sind - die Wahrscheinlichkeit einer Einschleppung eher hoch. Ich habe darum auch von dieser Stelle aus mehrmals darauf hingewiesen; denn die wichtigsten Einschleppungsrisiken, die illegale Zufuhr von Risikomaterial und der Vogelzug, sind nicht beherrschbar. Es wären also Anlass und Zeit genug gewesen, sich einigen Fragen sehr ernsthaft zu widmen. Zugegeben, es ist ein gewaltiger Fortschritt, dass Bundes- und Landesregierung die Risikobewertung der Experten im Friedrich-Loeffler-Institut, vor allem im Institut für Epidemiologie in Wusterhausen, jetzt ernster nehmen. Selbst Epidemiologen können aber nicht alles gleichzeitig tun: wissenschaftlich arbeiten, die relevanten Daten sammeln, pflegen und evaluieren, in der Türkei, in Rumänien und in Nigeria die Bekämpfung unterstützen, in Brüssel, Bonn und Berlin Rede und Antwort stehen und tagesaktuelle Risikobewertungen schreiben. ({3}) Wenn jetzt die Wusterhausener epidemiologische Einsatzgruppe zu Seuchenausbrüchen gerufen wird, dann ziehen wir an der viel zu kurzen Decke wieder nur hin und her und uns wird gleichwohl kalt bleiben. Selbst mit dem Mut zur Lücke und dankenswert hohem Engagement der Kolleginnen und Kollegen sind unter solchen Bedingungen nicht mehr alle fachlichen Anforderungen zu erfüllen. Die Forschung bleibt fast gänzlich auf der Strecke. Fehlende Ressourcen durch nicht wieder besetzte oder nicht zugewiesene Personalstellen spitzen die Situation weiter zu. Die Frage nach der dringenden Notwendigkeit eines personell und finanziell angemessen ausgestatteten epidemiologischen Zentrums, wie es in Wusterhausen in Grundzügen besteht, ist in anderen Ländern Europas und der Welt längst positiv beantwortet. In Deutschland dagegen wird die Wissenschaftsdisziplin Epidemiologie oft auf Prozentrechnung und mehr oder weniger bunte Karten reduziert. Das ist bei der zunehmenden wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bedeutung von Tierseuchen in Zeiten von MKS, Schweinepest, SARS und Tollwut und auch aufgrund der gewachsenen Personenund Warenströme in der globalen Welt blamabel für ein Land der Dichter und Denker. ({4}) Dass eine epidemiologische Einrichtung an einen Standort gehört, der für ihre spezifischen Aufgaben geeignet ist, sollte eigentlich unstrittig sein. Die Wusterhausener kämpfen jetzt seit zehn Jahren um ihren Standort und sie werden das auch weiter tun. Die jetzigen Zeiten zeigen, dass sie Recht damit haben. Beim Thema Epidemiologie war die ehemalige DDR ihrer Zeit übrigens offensichtlich weit voraus. Das ist eine vergebene historische Chance. ({5}) Auch durch diese Defizite ist im Moment nur eines sicher: H5N1 ist in Deutschland angekommen. Spätestens jetzt stellt sich die sehr drängende Frage: Sind wir auf einen daraus möglicherweise folgenden Tierseuchenausbruch vorbereitet? Die Bundesregierung verweist auf standardisierte Bekämpfungsverfahren, deren Effektivität und Realisierbarkeit nicht bewiesen sind. Das sind jedenfalls keine Bekämpfungskonzepte, wie sie gebraucht werden: wissenschaftlich erarbeitet und evaluiert, mit Kosten-Nutzen-Rechnung, mit Ermittlung der notwendigen und, was sehr wichtig ist, tatsächlich verfügbaren finanziellen, materiellen und personellen Ressourcen und mit sachlicher Prüfung von Präventionsoptionen, zum Beispiel Impfstrategien. Antworten der Bundesregierung auf meine schriftlichen Anfragen verweisen auf weitere Unwägbarkeiten. Krisenübungen haben Defizite aufgezeigt. Das für solche Krisen so dringend gebrauchte mobile Bekämpfungszentrum scheint immer wieder in die Mühlen des Föderalismus und anderer sachfremder Erwägungen zu geraten. ({6}) Gleiches gilt für die bundesweite Koordination des so dringend benötigten Tierseuchenbekämpfungshandbuchs. Mit dem Wissen, dass sich Tierseuchen selten an administrative Grenzen halten, kann ich an dieser Stelle nur dazu aufrufen, weniger Föderalismus zu wagen. ({7}) Das Wissensdefizit bei Wildtieren als Erregerreservoir fällt uns auch bei anderen Infektionen immer wieder vor die Füße. Dass ausgerechnet jetzt den oft ehrenamtlich arbeitenden ornithologischen Experten mit ihren Strukturen das finanzielle Siechtum droht, ist eine dramatische Verkennung der Tatsachen. Vielmehr sind ein Ausbau und eine enge Verknüpfung von wildtierbiologischen und epidemiologischen Ressourcen zu fordern. Das ist am Ende auch billiger, wenn man die wirtschaftlichen Schäden durch Tierseuchen in die Bilanz aufnimmt. Mein Fazit ist: Wir wissen vieles nicht. Aber eines steht fest: Die Zeit des Beobachtens ist vorbei. Jetzt muss agiert werden. Ich hoffe, wir sind darauf einigermaßen vorbereitet. Danke. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Ursula Heinen, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ursula Heinen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor fast genau einem Monat haben wir hier schon einmal über das Thema Vogelgrippe gesprochen, und zwar im Rahmen einer Aktuellen Stunde. Damals ging es um die verstärkte Ausbreitung der Vogelgrippe in der Türkei. Aber die Debatte damals war ganz anders als die heutige Debatte. Die damalige Debatte war nämlich dadurch gekennzeichnet, dass sich alle Redner, auch die von der Opposition, bemüht haben, besonnen zu sein, vernünftig zu argumentieren und aus diesem wichtigen Thema kein innenpolitisches Kampfthema werden zu lassen, wie sich das heute darstellt. Ich bin sehr enttäuscht, dass so gehandelt wird. ({0}) Kollege Goldmann, ein Wort zur Ergänzung. Die Weltgesundheitsorganisation hat - das geht aus den Tickermeldungen hervor - Deutschland gerade bestätigt, dass wir gemeinsam mit Frankreich und den USA bei den Notfallmaßnahmen, die wir auf den Weg bringen, führend sind. Das sind doch Tatsachen. Das, was in Deutschland gemacht wird, wurde geprüft. Man kann doch nicht einfach sagen, dass das nicht stimmt. Dasselbe gilt für Sie, Frau Tackmann. Das Tierseuchenbekämpfungszentrum ist längst auf den Weg gebracht worden. ({1}) - Das kommt jetzt. Ich finde es einfach eine Frechheit, wenn Sie hier Sachen behaupten, die nicht stimmen. Heute Morgen habe ich in den Meldungen der Agenturen gelesen, dass Frau Höhn erklärt hat, die Tötung von Millionen von Tieren sei möglich. Ich finde es zum jetzigen Zeitpunkt unverantwortlich, so zu argumentieren. ({2}) Frau Höhn, als Sie Agrarministerin in Nordrhein-Westfalen gewesen sind, haben Sie versucht, mit Augenmaß zu handeln, als es im Jahr 2003 um den Ausbruch der Geflügelpest in Nordrhein-Westfalen und Holland gegangen ist. ({3}) Dass Sie dieses Verhalten über Bord werfen, nur um eine schnelle Schlagzeile zu bekommen, finde ich persönlich enttäuschend. ({4}) Vorhin wurde von dem Kollegen der FDP gesagt, er sehe keinen Handlungsrahmen. Vielleicht waren Sie 20 Minuten woanders als ich. Ich habe das, was der Minister an Maßnahmen vorgestellt hat und was nach seiner Meinung alles gemacht werden soll, sehr gut verstanden. ({5}) Ich kann nur sagen: Das Handeln der Bundesregierung ist zurzeit besonnen und effektiv. Die Aufstallung ist für den morgigen Tag angeordnet. In Mecklenburg-Vorpommern hat der Landwirtschaftsminister die Aufstallung bereits ab dem gestrigen Mittwoch verpflichtend gemacht. Damit wurde entsprechend dem Risiko gehandelt und reagiert. Dass die Bundesregierung diese Maßnahmen ergriffen hat und Vorbereitungen zum weiteren Handeln trifft, ist bekannt. Dies gilt verstärkt, seit in Österreich zu Beginn der Woche die ersten Fälle aufgetreten sind. Alles in allem sind die in Europa aufgetretenen Fälle zwar beunruhigend, aber es besteht kein Grund zur Panik. Unser wichtigstes Ziel ist es, die Menschen vor einer Ansteckung zu schützen. Aber wir wissen auch - die Gesundheitsministerin hat es eben in ihrer Kurzintervention noch einmal deutlich gemacht -: Es erfolgt, wenn überhaupt, nur eine Übertragung vom Tier auf den Menschen. Wir haben keinerlei Hinweise auf Übertragungen von Mensch zu Mensch. Auch das hat die Weltgesundheitsorganisation erst kürzlich noch einmal deutlich gemacht. ({6}) Dass sich die Geflügelpest in Asien beispielsweise derartig ausgebreitet hat, hängt auch mit den dortigen Lebensbedingungen zusammen. Wo Menschen mit Geflügel unter einem Dach leben, vergrößert sich nämlich die Ansteckungsgefahr erheblich. Das war in der Türkei der Fall, wo Kinder gestorben sind, weil sie mit toten Hühnern gespielt haben. Wir erinnern uns noch alle an diese Bilder. Wir sollten insofern mit Panikmache vorsichtig sein. ({7}) Das Friedrich-Loeffler-Institut ist ein renommiertes Institut, das uns bisher sehr fachkundig unterrichtet hat. Es hat in allen Bewertungen und Berichten, die wir vor einem Monat und auch in diesem Monat bekommen haben, die höchsten Risiken für uns deutlich gemacht. Das Wildvogelrisiko ist nur mäßig hoch. Auch durch legale Importe kann an sich wenig passieren. Unser Hauptproblem ist nach wie vor der illegale Import von Geflügel. Es hat bereits entsprechende Vorfälle gegeben. Im Januar hat ein Reisender fünf Gänse aus der Türkei mitgebracht. In dem Bericht des Friedrich-Loeffler-Instituts wird ein Reisender aus Bangkok angeführt, der zwei Bergadler mitgebracht hat, von denen einer mit dem Virus infiziert war. In solchen Fällen müssen wir handeln. Insofern ist es besonders wichtig, dass wir nächste Woche im Agrarministerrat der Europäischen Union um die Verschärfung der Einfuhrkontrollen und vor allem für die Deklarationspflicht kämpfen, die es bisher noch nicht gibt. Ich bedaure es, dass Ihre Kollegen auf EU-Ebene derzeit noch etwas zögern, den Vorschlägen der Bundesregierung in diesem Zusammenhang zu folgen und sie umzusetzen. Aber ich hoffe, dass die in Europa aufgetretenen Fälle dazu beitragen, das Bewusstsein auch der anderen europäischen Minister zugunsten einer verbesserten Handlungsfähigkeit zu schärfen, auch wenn es darum geht, das Schengenabkommen teilweise außer Kraft zu setzen, um die Kontrollmöglichkeiten weiter zu verbessern. ({8}) Wenn wir all diese Maßnahmen - vor allen Dingen hinsichtlich der illegalen Importe - sukzessive befolgen, dann wird die Vogelgrippe das bleiben, was sie ist, Kollege Goldmann, nämlich eine Tierseuche. ({9}) Ich bin der Meinung, dass wir als Abgeordnete dieses Parlaments mit diesem Thema verantwortungsvoll umgehen sollten. Danke schön. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Bärbel Höhn, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Informationen haben sich in den vergangenen Tagen überschlagen. Das machen zum Beispiel die Zeitungsüberschriften vom Mittwoch deutlich. Die Zeitungen, die früher in Druck gingen, brachten noch Titelzeilen wie „Vogelgrippe jetzt in Österreich“. Die Zeitungen, die etwas länger auf Informationen warten konnten, haben schon am Mittwochmorgen mit „Vogelgrippe jetzt in Deutschland“ getitelt. Die Nachrichten haben sich, wie gesagt, überschlagen. Aber gerade bei Tierseuchen kann etwas, das man lange hat kommen sehen, schnell eintreten. Ich halte es für notwendig, zunächst einmal festzuhalten, welche großen und wichtigen Gemeinsamkeiten bestehen. Eine wichtige Gemeinsamkeit ist aus meiner Sicht - darin stimme ich dem Bundesminister ganz und gar zu - die Auffassung, dass bei allen Maßnahmen, die wir durchführen, der Schutz der Menschen oberste Priorität haben muss. ({0}) Wichtig ist außerdem, dass wir die Bevölkerung umfassend und ausreichend informieren, um so das notwendige Vertrauen in die zu ergreifenden Maßnahmen zu schaffen. Damit meine ich richtige Informationen, lieber Herr Blumentritt. Ihre Ausführungen, die etwas ungenau waren, ({1}) möchte ich gerne korrigieren. Sie werden schnell merken, dass die Menschen Ihnen nicht glauben. Tatsächlich ist es so: Wenn man engen Kontakt zu erkrankten Tieren hat, kann man sehr wohl erkranken und sogar sterben. Mittlerweile sind weltweit circa 90 Menschen an der Vogelgrippe gestorben. Das sollten wir sicherlich nicht zum Anlass nehmen, Panik zu machen und für Hysterie zu sorgen. Aber wir dürfen das den Menschen nicht verheimlichen. Die für die Bevölkerung wichtige Information lautet: Normale Verbraucherinnen und Verbraucher, die totes Geflügel oder fremdes Federvieh nicht anfassen, müssen sich keine Sorgen machen. Für sie besteht keine Gefahr. So ist es exakt und differenziert darzulegen. Viele Punkte sind in dieser Debatte bislang - gerade von den Regierungsfraktionen - nicht angesprochen worden. Liebe Frau Heinen, es geht nicht nur darum, darzulegen, was gemacht wurde, und darauf zu verweisen, was auf EU-Ebene noch zu tun ist. Vielmehr geht es darum, darüber nachzudenken, was in Deutschland passiert ist, nachdem das Virus bei uns entdeckt worden ist. Ich muss sagen: Die Premiere ist absolut fehlgeschlagen. Das, was wir in Mecklenburg-Vorpommern gesehen haben, war in vielen Punkten fehlerhaft. ({2}) Es geht nicht nur darum, Notfallpläne aufzustellen, sondern auch darum, Notfallpläne umzusetzen. Die Umsetzung hat nicht funktioniert. Die Menschen, die im Fernsehen sehen, dass tote Schwäne - obwohl bekannt ist, dass sie mit dem Vogelgrippevirus infiziert sind - einen ganzen Tag herumliegen und nicht abtransportiert werden, glauben nicht daran, dass der Notfallplan richtig umgesetzt worden ist. ({3}) Dazu, dass im Ernstfall nicht richtig gehandelt wurde, haben Sie nichts gesagt. Es ist gut, dass Herr Backhaus auf der Bundesratsbank, und zwar hinter mir, Platz genommen hat; denn ich habe ein paar Fragen an ihn, die er oder gegebenenfalls die Bundesregierung beantworten soll. ({4}) Wir haben am vergangenen Dienstagabend erfahren, dass die Schwäne infiziert sind. Das ist durch einen Schnelltest festgestellt worden. Nun habe ich aber erfahren, dass die Tiere schon in der vorangegangenen Woche gefunden worden sind, und zwar - hierzu gibt es unterschiedliche Daten - entweder am 10. Februar oder am 8. Februar. Es hat also vier bis sechs Tage gedauert, die Ergebnisse des Schnelltests auszuwerten. Das ist doch kein Schnelltest mehr. Da ist doch etwas schief gegangen. ({5}) Hier haben die Behörden vor Ort, in Mecklenburg-Vorpommern, offensichtlich versagt. Ich möchte von Herrn Backhaus genau wissen, warum der Schnelltest vier bis sechs Tage gedauert hat, wann der erste tote Schwan gefunden wurde, wann die Untersuchung durchgeführt worden ist und wann die Öffentlichkeit informiert wurde. Auch das gehört zu einem wirksamen Krisenmanagement. ({6}) Wir müssen aufpassen, was als Nächstes passiert. Wir müssen jetzt verhindern, dass das Virus in die Geflügelställe gelangt. Wenn das geschieht, Frau Heinen - es stimmt, dass ich entsprechende Erfahrungen habe; vor drei Jahren hatten wir die Geflügelpest in den Niederlanden und in Nordrhein-Westfalen -, müssen leider Millionen Tiere getötet werden. Darauf müssen wir uns vorbereiten. Umso wichtiger ist es deshalb, Frau Heinen, dass wir eine mobile Einsatzstation bekommen, die dann in die Krisenzentren fährt, um die notwendigen Maßnahmen zu veranlassen. Eine solche Einsatzstation gibt es bislang - im Gegensatz zu dem, was Sie hier behauptet haben, Frau Heinen - leider nicht. ({7}) Es geht nicht nur darum, theoretische Notfallpläne aufzustellen. Vielmehr müssen die Notfallpläne dann, wenn sie zum Tragen kommen sollen, auch funktionieren. Wir müssen schauen, welches die besten Maßnahmen sind. Der Minister hat eben gesagt, die beste und wirksamste Maßnahme ist die Stallpflicht. Die Stallpflicht ist unbestritten wichtig und notwendig; darüber gibt es keine Diskussion. Aber noch wichtiger ist, dass wir die Ställe gerade in den Krisengebieten von Mecklenburg-Vorpommern schützen und desinfizieren lassen; denn gerade hier ist die Gefahr der Übertragung des Virus auf den Menschen viel gravierender. Es kann nämlich vorkommen, dass Menschen, die in die Gebiete gehen, in denen infizierte tote Tiere liegen, in einen Kothaufen treten, diesen unter ihren Stiefeln in einen Geflügelstall tragen und so für die Weiterverbreitung des Virus sorgen. Deshalb ist es umso notwendiger, dass wir jetzt zu einer Desinfektion der Ställe kommen, damit das Virus nicht in die Ställe gelangt. Auch das ist ein wichtiger Punkt. ({8}) Ich möchte am Ende noch eines zu den Ausführungen von Herrn Seehofer sagen. Er hat zum Schluss gesagt - ich hoffe, das war eine freudsche Fehlleistung -: Sicherheit geht im Moment vor Ökonomie. ({9}) Aus meiner Sicht geht Sicherheit immer vor Ökonomie. Das sollte immer der Fall sein. Auch in diesem Punkt. ({10}) Bei allen Gemeinsamkeiten, die wir haben und die wir immer vertreten werden: Achten Sie im Zusammenhang mit der Föderalismusdiskussion darauf, dass mehr Kompetenzen an den Bund gehen. Wir sehen momentan, dass die Länder überlastet sind. Herr Seehofer, Sie haben gestern gesagt, beim Krisenstab sei keine Hilfe angefordert worden. Heute gibt es eine Meldung der dpa, dass der Rügener Amtsleiter Karl-Heinz Walter sagt, er sei vollkommen überfordert, er könne die toten Schwäne überhaupt nicht einsammeln und er bitte um Hilfe. Es kann nicht sein, dass der Minister gestern im gemeinsamen Krisenstab sitzt und nichts sagt und heute der Amtsleiter um Hilfe bittet. Die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern muss verbessert werden. Der Bund muss mehr Kompetenzen bekommen, damit wir auf eine Tierseuche richtig reagieren können. Danke schön. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Minister für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten und Fischerei des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Till Backhaus. Dr. Till Backhaus, Minister ({0}): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Die Vogelgrippe hat Deutschland erreicht. Das macht uns sehr betroffen. Als zuständiger Minister für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten und Fischerei des Landes Mecklenburg-Vorpommern und als Verantwortlicher für den Verbraucherschutz nehme ich diese Lage sehr ernst. Frau Höhn, ich möchte zunächst Ihre Frage und Ihre Äußerungen aufgreifen. Wir wissen jetzt definitiv, dass es sich um das Virus H5N1 handelt, das hochpathogen ist. Diese Bestätigung haben wir heute Vormittag endlich bekommen. Die Behörden in Mecklenburg-Vorpommern haben seit August 2005 - Frau Höhn, damals waren Sie selbst noch in Ihrem Bundesland verantwortlich - Alarmpläne und klare Anweisungen erarbeitet. Ich will ausdrücklich betonen: Es gibt in Mecklenburg-Vorpommern einen ganz klar strukturierten Plan. Die Verantwortung vor Ort trägt zunächst der Landkreis, solange es sich um einen lokal klar definierten Raum handelt. Das heißt, die Landrätin des Landkreises Rügen hat die volle Verantwortung für die Umsetzung der Maßnahmen. Wir als Landesregierung haben dem Landkreis Rügen die volle Unterstützung und Hilfe angeboten. Sollte es zu weiteren Vorfällen kommen - das habe ich gestern in der Verbraucherschutzkonferenz deutlich gemacht -, werden wir als Landesregierung ganz stringent weitere Maßnahmen einleiten. ({1}) - Darauf komme ich gleich, Herr Westerwelle. Wir haben im Vorgriff auf die Bundesverordnung und in Absprache mit Ihnen, Herr Bundesminister, sowie im Vorgriff auf die Verordnung der Europäischen Union eine Verordnung innerhalb des Landes erlassen. Daraus geht ganz klar hervor, dass wir erstens die Stallpflicht in ganz Mecklenburg-Vorpommern durchsetzen, zweitens den Handel mit Geflügel in mobilen Einrichtungen untersagen und drittens insbesondere den Tierverkehr einschränken. Ich will auch betonen, dass wir in diesem Krisengebiet - das ist richtigerweise hier angedeutet worden - einen Schutzradius von 3 Kilometern gezogen und einen Beobachtungsraum von 10 Kilometer Breite eingerichtet haben. In diesem Gebiet sind folgende Dinge angeordnet worden: Jegliches Verbringen von Geflügel und frischem Geflügelfleisch ist untersagt. Die Einschränkung des Personen- und Fahrzeugverkehrs ist umgesetzt und - Frau Höhn, das sage ich Ihnen ausdrücklich; Sie hätten eigentlich die Unterlagen haben müssen - wir haben insbesondere Desinfektionsmaßnahmen vor den Ställen und an den Ausgängen angeordnet.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, gestatten Sie zwei Zwischenfragen, eine der Kollegin Iris Hoffmann und eine des Kollegen Guido Westerwelle? Dr. Till Backhaus, Minister ({0}): Ja, gerne.

Iris Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003151, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, nachdem die Kollegin Höhn ausgeführt hat, dass der Notfallplan in Mecklenburg-Vorpommern fehlerhaft umgesetzt wurde - ich möchte sie mit meiner Frage nicht enttäuschen -: Können Sie hier erläuIris Hoffmann ({0}) tern, welche konkreten Maßnahmen in MecklenburgVorpommern erlassen worden sind und welche Sie noch zu ergreifen gedenken? ({1}) - Ja, aber ich möchte es ganz konkret wissen. Ich habe sehr wohl zugehört. Vielleicht ist es auch für Sie wichtig, das noch einmal zu hören. ({2}) Dr. Till Backhaus, Minister ({3}): Ich will die Maßnahmen, die ich gerade angedeutet habe, unterstreichen. Was den Wildgeflügelbereich angeht, werden wir bis zum Wochenende insgesamt 7 000 Tiere in Mecklenburg-Vorpommern untersucht haben. An dieser Stelle möchte ich wirklich um ein bisschen mehr Sachlichkeit bitten. Wir haben ein Problem. Das ist erkannt worden. Maßnahmen sind eingeleitet worden. Die Umsetzung wird jetzt mit aller Kraft betrieben. An dieser Stelle sage ich noch einmal sehr klar: Wir haben in Mecklenburg-Vorpommern zwei Höckerschwäne und einen Habicht mit dem Erreger H5N1 aufgefunden. Ich wiederhole: Bei 7 000 Tieren wurden Proben entnommen; drei davon wurden positiv getestet. Man muss der Bevölkerung sagen: Jawohl, wir haben hier ein Problem, aber wir werden alles dafür tun, Gefahren und Probleme für die Bevölkerung abzuwenden; außerdem werden wir alles dafür tun, dass in Mecklenburg-Vorpommern und anderswo das Übergreifen der Vogelgrippe auf Haustierbestände verhindert wird. Ich wiederhole an dieser Stelle auch, Frau Höhn: Wir haben ebenfalls angewiesen, dass verschärft Laboruntersuchungen von Hausgeflügelbeständen vorgenommen werden, um wirklich einen epidemiologischen Weg aufzuzeigen. Was hier dazu gesagt worden ist, ist richtig. Herr Bundesminister, ich bitte darum, dass wir die Behandlung dieser Fragestellung mit aller Kraft gemeinsam betreiben. Wir beproben und analysieren alle - ich betone: alle; ich verweise auf die Zusammenarbeit mit dem Bund tot aufgefundenen Wildvögel.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, ich möchte Sie daran erinnern, dass auch Herr Westerwelle eine Zwischenfrage stellen möchte. Außerdem hat sich die Kollegin Höfken zu einer Zwischenfrage gemeldet. Dr. Till Backhaus, Minister ({0}): Von mir aus beantworte ich diese Fragen gerne, wenn das nicht von meiner Redezeit abgeht, Herr Präsident.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, nein, es geht nicht von Ihrer Redezeit ab. Vorab möchte ich sagen: Ich habe nicht die tiermedizinischen Kenntnisse von Frau Kollegin Tackmann oder von Herrn Goldmann. Das geht wahrscheinlich fast allen anderen in diesem Raume so. Wenn ich den Verlauf dieser Debatte, Ihre Ausführungen und die Ausführungen von Herrn Minister Seehofer richtig verstanden habe, dann handelt es sich um ein Virus, das bei Kontakt mit dem verendeten Federvieh auf den Menschen übertragen werden kann. Das heißt, es besteht eine Gefährdung für den Menschen. Wie ist es zu erklären - ich habe es selber gestern Abend vor einer Veranstaltung bei RTL und im Zweiten Deutschen Fernsehen in den Hauptnachrichtensendungen gesehen -, dass in Ihrem unmittelbaren Regierungsbereich Kameras vor verendeten Schwänen aufgebaut wurden, die dort nicht stunden-, sondern tagelang lagen? Diese Bilder waren als Hintergrundmaterial für die Fernsehanstalten tauglich. Wenn das so ist, ist es meines Erachtens nahe liegend, dass Kinder oder andere, die weniger aufgeklärt oder informiert sind, möglicherweise Kontakt zu diesen verendeten Vögeln hatten. Ist es in dieser Lage zu verantworten, dass diese verendeten Vögel als Kulisse für Fernsehanstalten dienen konnten, weil niemand von Ihrer Regierung beauftragt wurde, diese Tiere wegzuräumen? ({0}) Dr. Till Backhaus, Minister ({1}): Herr Westerwelle, es tut mir Leid, sagen zu müssen: Was Sie hier zum Ausdruck bringen, ist eine Zumutung, ({2}) auch für Behörden, die versuchen, ordnungsgemäß ihre Arbeit zu machen. Ich will Ihnen Folgendes erklären - das werden auch Sie verstehen -: Auf der Insel Rügen ist es in den letzten Jahren, insbesondere in kalten Wintern, zu verstärktem Aufenthalt von Geflügel gekommen. Ich nenne Ihnen die Zahl - ich hoffe, man kann sich das bildlich vorstellen -: Am Tag sind es bis zu 100 000 Stück Geflügel der verschiedenen Arten und Gattungen. Bis zu 100 000! ({3}) - Augenblick mal! - In schweren Wintern - einen solchen haben wir gerade - ist es normal - so bitter das ist und so weh mir das auch in der Seele tut, weil ich Tierschützer bin -, dass bis zu 300 Tiere ({4}) aufgrund von Erfrieren oder Futtermangel verenden. Minister Dr. Till Backhaus ({5}) Bei der Bergung der toten Tiere, insbesondere der Schwäne, ist es - das ist richtig - zu Problemen gekommen. Warum? Wenn Tiere eingefroren sind, ist es außerordentlich kompliziert - das können Sie sich vorstellen -, diese herauszubekommen. Dazu kommt, dass jetzt Tauwetter herrscht und Menschen nicht auf das Eis gehen dürfen, um die Tiere zu bergen. Ich habe angewiesen, dass Katastrophenschutz und Polizei, insbesondere Wasserschutzpolizei, alles unternehmen, um die Tiere jetzt zu bergen und unverzüglich zur Beprobung zu bringen. Ich bitte auch die Medien an dieser Stelle um ein bisschen Verständnis. Ich kann sie ja verstehen. Mir ist es auch nicht anders gegangen. Wenn man diese Bilder sieht, bekommt man das Gefühl, als ob dort nicht gehandelt wird. Ich sage Ihnen aber: Mir ist mitgeteilt worden, dass der Landkreis - wir haben im Übrigen Verstärkung dorthin gegeben - bis gestern Abend in der Lage war, alle toten Tiere zu bergen. Ich werde das jetzt nochmals überprüfen und wir werden weitere Maßnahmen einleiten. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Letzte Zwischenfrage, Kollegin Höfken.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister Backhaus, einige Fragen. Erstens. Sie haben die Frage der Kollegin Höhn, warum zwischen dem Auffinden der Tiere und der Bekanntgabe des Ergebnisses so viel Zeit vergangen ist, nicht beantwortet. Das Zweite. Wir haben gestern im Ausschuss über das Wildvogelmonitoring gesprochen. Da wurde gesagt, es sei in Risikogebieten untersucht worden, gerade von Mecklenburg-Vorpommern. Haben Sie denn Risikogebiete, in denen eine solche Untersuchung stattfindet, definiert und ausgewiesen? Das Dritte. Die Schutzzone und das Beobachtungsgebiet umfassen eine Fläche mit einem Radius von 10 Kilometern. Nun gibt es dort in 13 Kilometer Entfernung große Geflügelbetriebe. Sind die jetzt in alle Schutzmaßnahmen einbezogen oder sind die, weil sie gerade außerhalb der Schutzzone und des Beobachtungsgebietes liegen, davon nicht erfasst? Das Letzte. Werden Sie sich auch im Bundesrat demnächst als Tierschützer betätigen, wenn es dort um das Verbot der Käfighaltung geht? ({0}) Danke schön. Dr. Till Backhaus, Minister ({1}): Sehr geehrter Herr Präsident, ich möchte natürlich auf die Fragen konkret antworten. Zu unserem Verfahren der Überwachung des Wildgeflügels und des Geflügels insgesamt ist Folgendes festzustellen: Im Zusammenhang mit einem Seuchengeschehen - es handelt sich hier um eine meldepflichtige Krankheit; das wissen Sie - hat jeder Tierhalter, ob klein oder groß, dann, wenn in den Beständen Symptome auftreten, die darauf hindeuten könnten, dass es sich um Geflügelpest oder -grippe handelt, unverzüglich - so ist es jedenfalls bei uns im Land - den Veterinär und den Landkreis zu informieren. Was das Auffinden der toten Schwäne anbetrifft, will ich konkret wie folgt antworten: Die Tiere sind am 8. Februar aufgefunden worden - das ist richtig - und in dem Verfahren in das Landesamt verbracht worden. Dann haben die Untersuchungen stattgefunden und es ist dann sofort gehandelt worden. ({2}) - Frau Höhn, ich komme gleich noch auf Ihr Problem mit dem mobilen Bekämpfungszentrum zu sprechen. Dann werde ich dem Deutschen Bundestag und der deutschen Öffentlichkeit auch einmal sagen, was da los gewesen ist ({3}) und welche Verantwortung Sie im diesem Bereich getragen haben, nämlich überhaupt keine. ({4}) Frau Höfken, ich kenne Sie viele Jahre. Deswegen sage ich Ihnen: Wir überprüfen die Abläufe sehr genau. Wir haben 7 000 Proben genommen. Was das Wildvogelmonitoring anbetrifft, so haben wir das selbstverständlich mit Ornithologen festgelegt, in MecklenburgVorpommern übrigens auch transparent. Ich bin gespannt, was uns andere Bundesländer dazu präsentieren werden. Wir haben die Gebiete ganz klar festgelegt. Das ist mit Wissenschaft und Forschung, mit dem Forschungsinstitut und insbesondere mit dem Bundesministerium abgestimmt worden. Dass wir in Mecklenburg-Vorpommern als gewässerreichstes Bundesland - auch deswegen ist es für mich das schönste Bundesland - eine besondere Gefahrensituation haben, hat mich im Übrigen zu der Entscheidung gebracht, dass wir als erstes Bundesland festlegen, in welcher Form Wildmonitoring zu betreiben und umzusetzen ist. Darauf ist auch von Ihrer Partei mit Häme und überzogenen Forderungen reagiert worden. So wurde gefragt, was denn dieser Quatsch solle. ({5}) Ebenso bin ich - auch von Kollegen von Ihnen - dafür beschimpft worden, dass wir schon im September ein Aufstallungsgebot erlassen haben. ({6}) Diese Kritik war unverantwortlich. Minister Dr. Till Backhaus ({7}) Ich bin kein Prophet, aber ich sage Ihnen, Frau Höhn, dass ich mittlerweile davon überzeugt bin, dass angesichts der Tatsache, dass das Virus aus Richtung China kommt, der Eintrag früher stattgefunden hat. Das muss natürlich noch wissenschaftlich abgeklärt werden. Somit tragen auch Frau Künast und Sie konkret dafür Verantwortung, das nicht rechtzeitig erkannt zu haben. ({8}) Damit komme ich auf die Argumentation von Ihnen und Ihrem ehemaligen Kollegen in Schleswig-Holstein zu sprechen, die mir in der Seele wehgetan hat; denn es ist für jeden Geflügelbetrieb und jeden Landwirt in Deutschland schlimm, wenn er jetzt die Tiere einstallen muss und dadurch wirtschaftliche Probleme bekommt. Wir haben in Deutschland 123 Millionen Stück Geflügelvieh. Allein mit dem Tiermaterial wird ein Umsatz von etwa 1,2 Milliarden Euro erzielt. Es muss doch jedem klar sein, dass daran Existenzen von Familien hängen. Deswegen bitte ich wirklich darum, diese Problematik hier nicht zum Anlass zu polemischen und populistischen Äußerungen zu nehmen. Das tut der Sache nicht gut. ({9}) Nun auch noch einmal zu den beiden anderen Beispielen. Zunächst zur unseligen Käfighaltung: Wenn es nach mir bzw. dem Willen meiner Landesregierung gegangen wäre, hätten wir längst ein TÜV-geprüftes Haltungsverfahren. Da waren Sie, Frau Höhn - Sie können jetzt ja die Wahrheit sagen -, mit uns auf einer Wellenlänge. Sie haben sich bloß gegenüber Frau Künast nicht durchsetzen können. ({10}) Das war doch das ganze Problem. ({11}) Wenn wir das geregelt hätten, hätten wir uns den jetzigen Zustand erspart, in dem die deutsche Geflügelwirtschaft auf der Stelle tritt und keinen Millimeter weiterkommt. ({12}) Nun zu dem zweiten Beispiel, dem mobilen Bekämpfungszentrum: Es ist richtig, dass die Länder und der Bund 2005 entschieden haben, ein mobiles Bekämpfungszentrum einzurichten. Ich sage hier an dieser Stelle - auch das gehört zur Wahrheit -, dass damals Ihr Haus und die nordrhein-westfälische Landesregierung erhebliche Probleme bei der Finanzierung gemacht haben. ({13}) - Das ganze Problem fällt auf Sie zurück, Frau Höhn. Wir hatten nämlich bis Anfang Januar keine Zustimmung Bayerns und Nordrhein-Westfalens zur Einrichtung dieses mobilen Bekämpfungszentrums. Darunter leiden wir heute. Ich bin dem Bundesminister sehr dankbar, dass wir gemeinsam - ich glaube nämlich, dass ich nicht ganz unbeteiligt war - die Länder Nordrhein-Westfalen und Bayern gezwungen haben, mitzumachen. ({14}) Das Problem, meine Damen und Herren Abgeordnete, ist, dass wir nun in Zeitverzug geraten sind. Die Verantwortung dafür tragen Sie, Frau Höhn, voll mit. ({15}) Hören Sie auch auf, in der Öffentlichkeit solch einen Blödsinn zu erzählen wie den, dass wir Seuchenmatten aufstellen sollten. Das steht doch in unserem Erlass. Ich bin immer davon ausgegangen, dass wir gemeinsam vernünftig miteinander reden können. Sie kennen meine Telefonnummer. Ich hätte wirklich erwartet, dass Sie mich wenigstens einmal angerufen hätten. Noch nicht einmal dazu waren Sie in der Lage. ({16}) Abschließend möchte ich, um meine Redezeit nicht völlig zu überziehen, noch einmal einige wenige Punkte aus der Sicht meines Bundeslandes sagen. Wir haben klare Handlungsanweisungen erarbeitet und veröffentlicht, um eine Infektionsgefahr für die Bevölkerung und für die Tierbestände in Mecklenburg-Vorpommern möglichst auszuschließen. Ich habe Ihnen darzustellen versucht: Wir haben uns über das Bundesrecht bzw. über das EU-Recht abgestimmt, um im Interesse der Menschen und im Interesse der Tiere zu handeln. Wir handeln mit ganz klaren Maßgaben. ({17}) Zweitens. Wir haben ganz klare Vorkehrungen getroffen, um ein Überspringen des Virus von Wildgeflügel auf Hausgeflügel zu vermeiden. Ich hoffe, dass uns das gelingt. Ich bin kein Prophet; aber wir wissen, was in Dänemark los ist und dass es erste Anzeichen des Virus in Schleswig-Holstein gibt. Wir werden also leider - das betone ich - keine Sonderrolle einnehmen. Dass Rügen, die schönste deutsche Insel, die es gibt, ({18}) betroffen ist, schmerzt nicht nur die Bundeskanzlerin, sondern, wie ich glaube, sehr viele Menschen in Deutschland, in Europa und auf der Welt. Denn die Geschehnisse sind natürlich auch für das Gesundheitsland Mecklenburg-Vorpommern und den Tourismusstandort wirklich schrecklich. Das sage ich ganz klar. Deswegen müssen wir weg von der Polemik hin zur Aufklärung, zur Information. Lassen Sie uns gemeinsam - Frau Höhn, da lade ich Sie ein - deeskalieren und uns austauschen! Minister Dr. Till Backhaus ({19}) Ich glaube, Folgendes darf ich noch sagen, Herr Bundesminister. Wir haben jetzt zwei Verbraucherschutzkonferenzen durchgeführt. Gestern habe ich ausdrücklich gesagt - Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben zum Teil dabeigesessen -: Wenn es kluge weitere Hinweise gibt, welche Maßnahmen wir ergreifen sollen, dann möge man mir das bitte sagen. - Ich habe zur Kenntnis genommen, dass nichts Neues auf den Tisch gelegt worden ist, sondern dass die Informationen über den Sachstand und auch die Maßnahmen, die wir eingeleitet haben, nicht nur von meinen Kolleginnen und Kollegen und vom Bundesminister akzeptiert, sondern auch von Brüssel als positives Beispiel dargestellt worden sind. Deshalb agieren wir in diesem Sinne. Ich glaube, das ist richtig so. Ich will nicht ausweichen. Ich sehe ein paar Punkte, bei denen wir Geschlossenheit in Deutschland benötigen, über alle Parteigrenzen hinweg. Ich habe Ihnen die Maßnahmen erläutert. Handlungsbedarf sehe ich erstens in Bezug auf ein einheitliches Vorgehen in Deutschland. Das wird jetzt endlich durchgesetzt. Endlich haben wir eine einheitliche Verordnung und alle haben sich daran zu halten. Das haben Sie in der Vergangenheit nicht fertig gebracht. ({20}) - Ich bin in dieser Frage ein Vorreiter; das wissen Sie ganz genau. Wir in Mecklenburg-Vorpommern sind Vorreiter, was die Frage der prophylaktischen Maßnahmen anbetrifft. ({21}) Zweitens muss mit Hochdruck an dem mobilen Bekämpfungszentrum gearbeitet werden. Ich glaube, Herr Bundesminister, hier müssen wir noch Kohle nachlegen, wenn ich das so sagen darf, damit wir vorankommen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Dr. Till Backhaus, Minister ({0}): Ich bin gleich fertig, Herr Präsident. Drittens müssen wir mit aller Kraft - das ist hier schon gesagt worden - an dem wissenschaftlich begründeten Markerimpfstoff arbeiten. Ich würde mir wünschen, dass das weltweit stärker unterstützt wird. Viertens sage ich mit aller Klarheit und Deutlichkeit: Wir brauchen alternative Haltungsformen, weil bei der Freihaltung und auch bei anderen Haltungsformen Risiken bestehen. Der letzte Punkt: Wir brauchen wissenschaftlich begründete, aussagefähige epidemiologische Untersuchungen. ({1}) Alles andere ist Stochern im Nebel. ({2}) Meine letzte Botschaft richtet sich an die Bevölkerung in Deutschland insgesamt: Hände weg von toten und kranken Tieren! Herzlichen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Es liegen jetzt zwei Wortmeldungen zu Kurzinterventionen vor. Ich erteile zunächst dem Kollegen Karl Addicks, FDP-Fraktion, das Wort.

Dr. Karl Addicks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003713, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich sehe mich, Herr Minister, zu dieser Kurzintervention genötigt, da Sie mir leider gerade eine Zwischenfrage verweigert haben. Herr Minister Backhaus, nachdem Sie versucht haben, einen Teil der Verantwortung auf Ihre Landrätin abzuschieben, möchte ich von Ihnen schon gerne ganz genau wissen: Wann hat Ihre Landrätin erfahren, dass tote Vögel herumliegen, wann haben Sie davon erfahren und wann kam es zu den ersten Maßnahmen? Es gibt Präventivmaßnahmen wie beispielsweise die Aufstallung. Es gibt aber auch Notfallpläne. Ich möchte schon gerne wissen, ob die dazu gehörenden Alarmpläne entsprechend eingehalten wurden. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, Sie haben Gelegenheit zur sofortigen Reaktion. Dr. Till Backhaus, Minister ({0}): Ich will noch einmal betonen: Das Verfahren nach dem Auffinden toter Tiere ist in Mecklenburg-Vorpommern wie in anderen Bundesländern durch die Alarmpläne ganz klar geregelt. Die aufgefundenen Tiere werden dem Veterinäramt gemeldet. ({1}) In diesem Fall ist das am 8. Februar geschehen. Danach sind alle weiteren Maßnahmen eingeleitet worden. Ich bin am Dienstagabend um 20.15 Uhr darüber informiert worden, dass das Ergebnis der zweiten Analyse von Riems positiv war. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile jetzt der Kollegin Bärbel Höhn das Wort zu einer Kurzintervention.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister Backhaus, ich möchte zwei Punkte ansprechen. Der erste Punkt. Ich will auf das mobile Bekämpfungszentrum zurückkommen. Sie wissen, dass sich Nordrhein-Westfalen damals bei der Geflügelpest sehr genau in den Niederlanden umgesehen hat. Wir haben uns sehr genau angeschaut, was wir von den Niederländern lernen können. Sie wissen ebenfalls, dass Nordrhein-Westfalen den Antrag, ein solches mobiles Bekämpfungszentrum auch in Deutschland einzurichten, in die Agrarministerkonferenz eingebracht hat. ({0}) Das alles wissen Sie! Erzählen Sie also nicht solche Märchen! Der zweite Punkt. Wir wissen, dass die toten Schwäne am 8. Februar aufgefunden worden sind. Sie wissen genauso gut wie ich, dass man für einen Schnelltest weniger als einen Tag braucht. Ich frage Sie, ob Sie den Schnelltest erst deshalb am Montag gemacht haben, weil Sie die Kosten für eine Prüfung schon am Wochenende sparen wollten. Ich frage Sie weiter: Warum haben Sie für den Schnelltest, für den man weniger als einen Tag braucht, sechs Tage benötigt? Was war der Grund? ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, Sie haben Gelegenheit zur Antwort. ({0}) Dr. Till Backhaus, Minister ({1}): Zur ersten Frage. Es ist richtig - etwas anderes ist von mir auch nicht gesagt worden -, dass das mobile Bekämpfungszentrum ein Thema in der Agrarministerkonferenz war. Ich habe im Übrigen diese Anschaffung unterstützt. Das Problem war aber der Zeitpunkt, zu dem Nordrhein-Westfalen die Bund-Länder-Vereinbarung unterschrieben hat. ({2}) Diese Vereinbarung hätten Sie in Ihrer Amtszeit umsetzen können. Das haben Sie aber nicht getan. Reden Sie also nicht um den heißen Brei herum! ({3}) Zur zweiten Frage. Wir haben am 8. die Information bekommen. Die toten Tiere sind in das Landesamt gebracht worden. Sie müssen einmal versuchen, sich in unsere Lage zu versetzen. Wir haben zurzeit eine hohe Kontrolldichte. Diese Kontrollen reichen - ich will das an dieser Stelle einmal sagen - vom Wellensittich über den Spatz bis hin zu Schwänen, Gänsen und Enten. Dass sich diese Belastung auf die Abfolge der Untersuchungen auswirkt, ist doch ganz klar. Das wäre in jedem anderen Landesinstitut genauso. Nachdem es diesen Hinweis gegeben hat, ist die entsprechende Probe sofort auf den Riems geliefert worden. Ich betone noch einmal: Es gab bis dato 3 220 Tiere, die zur Beprobung angeliefert wurden. ({4}) Davon fiel nicht eine Untersuchung positiv aus. Danach wurden die Untersuchungen in der üblichen Reihenfolge schrittweise durchgeführt. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nunmehr das Wort dem Kollegen Edmund Geisen, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Edmund Peter Geisen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Sehr geehrte Herren! Die Vogelgrippe kam, wie wir wissen, nicht aus heiterem Himmel. Nein, wir wussten seit langem, dass sie kommt; jedenfalls mussten wir seit langem damit rechnen. Weil dem so ist, wird dieses Problem auch nicht in wenigen Tagen oder Monaten zu lösen sein, vielleicht nicht einmal in Jahren. Dies müssen wir den Menschen sagen. Wir müssen die Bevölkerung umfassend informieren. ({0}) Panikmache ist nicht meine Sache; aber es kann nicht sein, Herr Minister Backhaus, dass Sie das Problem so tief hängen, wie Sie das getan haben, und die Verantwortung auf die Landkreise übertragen. ({1}) Es kann auch nicht sein, dass etwas als eine reine Tierseuche bezeichnet wird, ({2}) was Menschen zum Sterben bringt. ({3}) Ich will ganz persönlich erklären, dass ich nie für Panikmache war. Denn ich habe mir in Zeiten der BSEKrise nie den Genuss von Rindfleisch nehmen lassen. Auch in Zeiten der Vogelgrippe werde ich mir nicht den Genuss von Geflügelfleisch nehmen lassen. Das muss auch nicht sein. Auch das darf ruhig gesagt werden. ({4}) Die Bundesregierung sollte zusammen mit der Wissenschaft kurzfristige und langfristige Strategien entwickeln. An dieser Stelle möchte ich das jüngste Papier des Friedrich-Loeffler-Instituts zur Bewertung des Risikos der Vogelgrippe vom 14. Februar 2006 besonders lobend erwähnen. Mir ist keine bessere Bewertung bekannt. Die dort gemachten Vorschläge sind durchweg zu unterstützen. ({5}) Hierin wird besonders deutlich, dass die Einschleppung der Krankheit durch legalen - ich füge hinzu: kontrollierten - Handel vernachlässigbar ist, während das illegale Inverkehrbringen von Geflügelprodukten als hohes Risiko eingestuft wird. Ich meine, daraus darf abgeleitet werden, dass ordnungsgemäße und kontrollierte Geflügelhaltungen überall - auch in Deutschland - geringere Risiken in sich bergen als oberflächliche, nicht organisierte und nicht kontrollierte Verfahren. ({6}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für die FDPFraktion fordere ich die Bundesregierung auf: Erstens. Entscheiden Sie kurzfristig unter Berücksichtigung der vorgeschlagenen Handlungsoptionen des FLI! Dabei müssen die Quarantäne der Wirtschaftsbetriebe, deren Qualitätssicherung und die Erhaltung der Märkte und Handelsströme im Vordergrund stehen. Zweitens. Beginnen Sie sofort internationale Handelsgespräche, um die bestehenden Wirtschaftsbeziehungen gerade auch für die Geflügelwirtschaft langfristig zu sichern! Funktionierende Märkte dürfen nicht willkürlichen und kurzfristigen Vorteilsnahmen zum Opfer fallen, die vordergründig mit dem Ausbruch der Vogelgrippe begründet werden könnten. ({7}) Wir von der FDP-Fraktion sind der Meinung: Die Bundesregierung sollte ihre Strategien in Sachen Vogelgrippe an folgenden Schwerpunkten orientieren: erstens an der Gesunderhaltung von Mensch und Tier, zweitens an der Existenzerhaltung unserer Geflügelwirtschaftsbetriebe sowie drittens an der langfristigen Erhaltung diesbezüglicher nationaler und internationaler Wirtschaftsbeziehungen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Geisen, dies war Ihre erste Rede im Bundestag. Herzliche Gratulation und alles Gute für Ihre politische Arbeit! ({0}) Nun erteile ich Kollegin Julia Klöckner, CDU/CSUFraktion, das Wort. ({1})

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Musste sich unser Bundeslandwirtschaftsminister Horst Seehofer noch am Dienstag dieser Woche gegen Vorwürfe wehren, die vorgezogene Stallpflicht sei bloßer Aktionismus, stellte ein Fernsehsender schon am gestrigen Mittwoch in einer Telefonumfrage die Frage: „Tut die Bundesregierung zu wenig für die Vogelgrippe?“ ({0}) - Sie haben Recht: gegen die Vogelgrippe. - Weder der Vorwurf vom Dienstag noch die Frage vom Mittwoch ist ernst zu nehmen; beides ist unseriös. ({1}) Leichtsinn ist hier genauso falsch wie übertriebene Furcht. Aber: Es war meiner Meinung nach auch keine Panikmache. Die Kommunikationsstrategie der Bundesregierung, die Bevölkerung zu warnen und sie auf die nahende Seuche vorzubereiten, war richtig. Wenn wir ehrlich sind, hätte es doch einem Wunder geglichen, wenn Deutschland von der Vogelgrippe verschont geblieben wäre. ({2}) Die entscheidende Aufgabe, vor der wir in den nächsten Wochen und Monaten stehen, wird sein, die Übertragung der Geflügelpest von den Wildvögeln auf das Hausgeflügel zu verhindern. Ich war schon etwas erstaunt, Frau Höhn, von Ihnen zu hören, dass Sie die Schnelltests lieber gegen einen Schnellschuss eintauschen. Uns ist es wichtig, wissenschaftlich belegbares Datenmaterial zu haben, statt wilde Panikmache zu betreiben, nur um Aktionismus zu zeigen. ({3}) Bisher handelt es sich noch um eine Tierseuche; deshalb war das, was Minister Seehofer und Ulla Heinen gesagt haben, richtig. Es geht hier nicht um eine Pandemie. Es ist noch nicht so weit - und wir hoffen, dass es auch nicht so weit kommt -, dass das Virus von Mensch zu Mensch übertragen wird. Eine moderne und effektive Tierseuchenbekämpfung muss aber auch Teil eines vorsorgenden gesundheitlichen Verbraucherschutzes sein. Nichts anderes, Herr Kollege Goldmann, hat der Herr Bundesminister eben gesagt. Es ist mir klar, dass die Opposition immer versucht, andere Aspekte herauszuarbeiten, weil ihr keine anderen Möglichkeiten bleiben. In dieser Frage aber sollte man seriös bleiben. Es ist auch im Sinne einer Deeskalation, wenn man sensibel mit der Bevölkerung umgeht, die sich Sorgen macht und natürlich oft nur Schlagzeilen in den Zeitungen mitbekommt. Ein anderes Verhalten kann nicht im Interesse verantwortlicher Politiker sein. ({4}) Es muss alles getan werden, um das Vordringen der Geflügelpest zu verhindern. ({5}) - Herr Westerwelle, Sie lassen sich gerade über die Farben meines Outfits aus. ({6}) Die Farbgestaltung Ihrer Kleidung überlasse ich Ihnen. Die Farbgestaltung meiner Kleidung können Sie mir überlassen. Schwarz-Rot würde Ihnen aber auch ganz gut stehen. ({7}) Wichtig ist für uns, dass wir aus gesundheitlichen und aus ökonomischen Beweggründen, aber auch aus Gründen des Tierschutzes darauf achten, dass jetzt alle Vorsorgemaßnahmen getroffen werden. Frau Höhn, ich möchte noch kurz auf das mobile Krisenzentrum eingehen. In der vorletzten Bund-LänderSitzung wurde beschlossen, dass nun endlich alle Länder im Boot sind. Was aber soll das Bundesministerium machen, wenn zwei Bundesländer noch nicht unterschrieben hatten? Sie kennen doch die Vorgehensweise. Das ist das Ergebnis des Föderalismus und der Demokratie. Ich hätte gerne gehört, was Sie damals als Landesministerin gesagt hätten, wenn das Bundesministerium zu Felde gezogen wäre und zwei Länder nicht unterschrieben hätten. Ich denke, wir sollten keinen Profit daraus schlagen, sondern uns erst einmal für den guten Abschluss bedanken, der erreicht werden konnte. ({8}) - Das hat unser Minister Seehofer in der Kürze der Zeit erreicht. Keiner von uns blendet die Vorfälle in Asien aus, bei denen 91 Menschen gestorben sind. Nun ist aber Besonnenheit statt Panikmache gefragt. Genau das haben uns gestern auch die Experten in der Anhörung des Ausschusses bestätigt. Besonnenheit bedeutet aber auch Vorsicht. Dieser Gesichtspunkt kam mir heute etwas zu kurz, auch von der FDP. Unsere Bevölkerung muss hier mitgenommen werden. Die Verbraucher müssen informiert werden und wir müssen gegen solche Schlagzeilen kämpfen. Vor allem muss eines geschehen: Die Kinder in Kindergärten und Grundschulen müssen gewarnt werden. Ihnen muss erklärt werden, warum sie kein totes Geflügel anfassen, geschweige denn Vögel an Gewässern füttern sollen; denn das zieht Zugvögel an. ({9}) Ich sage es noch einmal: Bisher besteht für den Verbraucher keine akute Gefahr. Ich möchte auch unterstreichen, dass der Verzehr von Geflügel und Eiern unbedenklich ist. Im Übrigen wird das Virus bei einer normalen Verarbeitung in der Küche bei 70° Celsius abgetötet. Also: Angst vor Hühnerfleisch auf dem Esstisch ist unbegründet. Uns sollte vor allem nicht das passieren, was in Italien durch überzogene Panikmache passiert ist, dass nämlich der Geflügelverbrauch um 40 Prozent zurückgegangen ist und dadurch rund 30 000 Menschen ihren Arbeitsplatz verloren haben - wie man erfahren konnte. Minister Backhaus hat zu Recht hervorgehoben, dass hier verschiedene Betroffene beteiligt sind. Die verantwortungsvoll handelnden Geflügelhalter dürfen nicht in einen Topf geworfen werden mit denen, die sich nicht an eine Aufstallungspflicht halten und das ignorieren, was vom Bund und von den Ländern beschlossen worden ist. Hier geht es um Existenzen in Deutschland, die wir unterstützen wollen, damit wir kein Geflügelfleisch aus dem Ausland importieren müssen, bei dem wir nicht die gleiche Gewähr wie bei Fleisch aus Deutschland haben. ({10}) Es gibt keine Alternative zu unseren umfassenden Vorsorgemaßnahmen. Deshalb möchte ich abschließend einen Blick auf die Länder werfen. Wir müssen vom Worst-Case-Szenario ausgehen. Die Länder dürfen jedoch die Kreisveterinäre nicht allein und im Regen stehen lassen. Auch das ist wichtig. Herr Backhaus, ich war etwas irritiert, dass man die verendeten Wildvögel noch relativ lange und so zahlreich auf Rügen herumliegen ließ. Sie haben das hier erläutert und ich fand es sehr gut, dass Sie auf die Vorwürfe sehr dezidiert eingegangen sind. Ich finde es auch sehr gut, dass Sie sofort die Stallpflicht angeordnet haben. ({11}) Aber eines möchte ich zum Schluss noch zum Thema Impfen sagen - Frau Höhn, damit komme ich schon wieder zu Ihnen -: Heute Morgen im „Morgenmagazin“ sind Sie noch auf das Thema Impfen eingegangen, in Ihrer Rede hier jedoch nicht. Ich denke, das ist der Einsicht geschuldet, ({12}) welche Nachteile für den Verbraucher im gesundheitlichen Verbraucherschutz damit verbunden sind. Auch Herr Seehofer hat das unterstrichen. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Klöckner, Sie haben Ihre Redezeit weit überzogen.

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Für uns gilt: Im Zweifel für die Sicherheit, im Zweifel für die Menschen, und dann mit dem Tierschutz zusammen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier von der SPD-Fraktion.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Deeskalation ist weiß Gott angesagt! Heute Morgen waren die Opposition auf der einen Seite sowie der verehrte Herr Minister aus Mecklenburg-Vorpommern auf der anderen Seite gut gerüstet. Nach meiner Einschätzung war klarer Punktsieger der Herr zu meiner - von hier aus gesehen - Linken. ({0}) Es geht nicht darum, die Debatte zu emotionalisieren. Die Fragen haben aber deutlich gemacht, dass man das hier zumindest zum Teil versucht hat. Wir müssen bei der Diskussion dieses Themas in diesem Hause vorsichtig sein, dass wir uns nicht auf das gleiche Niveau begeben, das in der Boulevardpresse herrscht. Heute Morgen stand in der „Berliner Zeitung“: Der gefiederte Tod ist gelandet. Andere Schlagzeilen lauteten: „Kein Tiramisu mehr essen“ - das ist ja noch recht friedlich - oder „Wie schütze ich meinen Wellensittich?“ Auf dieses Niveau sollten wir in der Debatte nicht sinken. Dazu ist die Lage viel zu ernst. ({1}) Wir müssen klar erkennen, dass wir unsere Natur nicht mit Trassierbändern abteilen und portionieren können. Aus diesem Grunde ist immer zu hinterfragen, ob die Schutzmaßnahmen ausgereicht haben. Aus entsprechenden Stabsrahmenübungen, die man auf der Ebene zwischen den Ländern veranstaltet hat, zieht man natürlich auch Erkenntnisse. Wesentlicher Zweck solcher Übungen ist, dass man Schwachstellen aufdeckt und die Beseitigung hinterher konsequent angeht. Die Debatte um ein mobiles Bekämpfungszentrum hält schon seit den ersten Erfahrungen mit der Geflügelpest im Jahre 2003 an. ({2}) In den Fachpublikationen konnte man lesen, wie so etwas auszugestalten ist. Es geht um einen ganz kleinen finanziellen Rahmen, nämlich um 3 Millionen Euro für die Beschaffung. In unserem real existierenden Föderalismus braucht man eine fast drei Jahre dauernde Debatte um 3 Millionen Euro! Man kann leicht die Anteile der einzelnen Bundesländer ausrechnen. Schlussendlich entscheidet man dann im Januar 2006, dieses zu beschaffen. Auf meine konkrete Nachfrage von heute Morgen, wann es verfügbar ist, bekam ich die Auskunft aus Niedersachsen, welches bei der Beschaffung federführend ist: frühestens im Herbst. Angesichts dieser Situation frage ich mich doch, wie das aussieht, wenn man Kompetenzen auf die Bundesebene verlagert und diesen Bereich ganz klar strukturiert und regelt. ({3}) Ich kann nachvollziehen, dass man sich hier bewegen muss, gerade weil es darum geht, unsere gesamte von diesem Bereich abhängige Wirtschaft vor Schäden zu schützen, letztendlich auch die Besitzer von kleinen Geflügelzuchten. Denn auch diese müssen einmal erwähnt werden. Es betrifft nicht nur die Großbetriebe, also die 90 000 Betriebe, die statistisch erfasst sind und mehr als 3 000 Stück Geflügel halten. Das macht 123 Millionen Stück Geflügel aus, davon leben ungefähr 4,4 Millionen in Freilandhaltung. Es betrifft vielmehr auch die 280 000 Geflügelzüchter, Kleintierzüchter und Hobbytierhalter, die zum Teil nicht erfasst sind und für die es im Augenblick zunächst einmal außer der Aufstallungspflicht keinen Hinweis gibt, wie sie ihre Tiere tierschutzgerecht halten können. Darüber sollten wir uns Gedanken machen und diesen Personenkreis wahrnehmen. Wir sollten auch bedenken, dass der Tierschutz neben der Ökonomie bei allen strategischen Überlegungen mit Sicherheit die wichtigste Rolle spielt. Denn wir müssen in diesem Bereich gerüstet sein. Das heißt, wir müssen auf den Tag X vorbereitet sein, sodass wir, wenn es zu Tötungen kommen sollte, diese tierschutzgerecht durchführen, und die Kapazitäten haben, das anfallende Material entsprechend den Tierseuchenvorgaben und dem Rahmenplan zu beseitigen. Darum geht es. In solchen Situationen dürfen wir nicht hilflos dastehen, wie wir es bei der MKS in England erlebt haben. Das wollen wir alle nicht. Das verunsichert die Verbraucher noch viel mehr. Ich glaube, unser nationaler Rahmenplan stellt eine ausreichende Sicherheit dar. ({4}) Allen voran marschiert in diesem Zusammenhang das Land Mecklenburg-Vorpommern. Das muss man ganz klar sagen. Mecklenburg-Vorpommern ist bei den Haltungsformen führend. 50 Prozent aller Hühner und Legehennen in Mecklenburg-Vorpommern leben in Freilandoder Bodenhaltung. ({5}) Hier sollte man keine Kritik aufkommen lassen oder es hinterfragen. Ich sehe die Gefahr, dass dieser Bereich im Augenblick zunehmend hinterfragt wird. Denn wo ist die Perspektive für die Hennenhaltung im Freiland? Nicht nur Legehennen laufen im Freiland, sondern natürlich auch Gänse und Enten in der Aufzucht. Wo sind die Perspektiven? Ich muss die Position, die ich früher vertreten habe, ein wenig revidieren. Haben wir hier denn eine konkrete Perspektive unter ökonomisch tragbaren Bedingungen? Das wird im Augenblick sehr hinterfragt. Wenn man ein dauerhaftes Aufstallungsgebot erlässt, auch nur in bestimmten Regionen, muss man sich schon die Frage stellen, wie man den betroffenen Betrieben zur Seite stehen kann. Im Augenblick sind wir glücklicherweise nicht in einer solchen Situation. Aber erinnern wir uns daran, dass im Jahre 2003 in den Niederlanden ein schwach pathogenes Virus die Seuche ausgelöst hat. Das ist eine Modellstudie für das, was uns unter Umständen erwartet. ({6}) Wir müssen das auf jeden Fall und unter allen Umständen verhindern. Es geht darum, das Problembewusstsein in der Bevölkerung zu schärfen, aber dabei nicht zu übertreiben. Es geht nicht darum, keinen Kuchen oder kein Frühstücksei mehr zu essen oder es erst zehn Minuten lang zu kochen, wie es in der Presse dargestellt wird. Das verursacht tiefste Verunsicherung. Wir sollten uns davor hüten, den schmalen Grat zwischen Überdramatisierung und sachlicher Information zu verlassen. Denn dann fällt das auf uns zurück und wir werden in aller Breite ökonomische Probleme bekommen. Ich gehe einmal davon aus, dass das Risiko in der jetzigen Lage - zumindest solange es keinen Ausbruch der Geflügelgrippe in einem Hühner- oder Geflügelbestand gibt - nicht anders eingeschätzt werden muss - auch nicht das Risiko für die Menschen, die in unserem Land leben. Es handelt sich konkret um eine Zoonose; die Krankheit ist also potenziell auf den Menschen übertragbar. Unter den gegenwärtigen Voraussetzungen gibt es dafür ganz bestimmte Bedingungen. Man muss eine größere Menge des Virus aufnehmen. Das wird auch Kollege Goldmann nicht bestreiten. Er spielt ja auch nicht im Sandkasten im Hühnerkot. Potenziell gefährlich ist es, das Virus zum Beispiel oral aufzunehmen oder es in einem Stall, in dem es infizierte Tiere gibt, massiv einzuatmen. Dann besteht ein großes Risiko. Das Risiko hängt aber auch davon ab, ob man mit geringen Virusmengen oder mit großen Virusmengen in Kontakt kommt. ({7}) Aus diesem Grunde sollte man hier deutlich unterscheiden, statt Szenarien zu konstruieren, die de facto nicht eintreten können. Das ist wichtig. ({8}) - Allerdings, Herr Kollege Goldmann, sollte man nicht versuchen, die gegenwärtige Situation zu instrumentalisieren. ({9}) Wer auf die andere Seite dieses Hauses blickt, sieht den Grund dafür, dass es heute Morgen dazu gekommen ist: Frau Kollegin Tackmann, ich schätze Sie als Epidemiologin, aber nicht als Ideologin. ({10}) Denn die Positionen, die Sie vertreten haben, haben zu einem großen Teil mit Ihrem Eigeninteresse zu tun. Das Institut für Epidemiologie liegt schließlich in Ihrem Wahlkreis. Ihre Forderung ist zwar opportun; aber sie passte nicht in die Debatte, die wir heute Morgen geführt haben. Diese Diskussion müssen Sie an anderer Stelle führen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Priesmeier.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Auch geht es darum, die Grundvoraussetzung anzuerkennen: dass wir in nächster Zeit, gerade was FLI angeht, 25 Millionen Euro investieren werden. ({0}) Auch dieser Bereich gehört dazu.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Priesmeier, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das muss ich zwangsläufig tun; denn sonst würde mir das Mikrofon abgestellt. Abschließend appelliere ich an die Bevölkerung, dieser Problematik mit Zurückhaltung und der gebotenen Vorsicht zu begegnen, aber auf gar keinen Fall Konsumverzicht zu üben. ({0}) Denn das würde unserer Wirtschaft und den Betroffenen noch viel mehr schaden. Danke schön. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Franz-Josef Holzenkamp von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Franz Josef Holzenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003775, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eingetreten, was wir seit Wochen, zumindest aber seit einigen Tagen befürchtet haben: Betroffenheit und Unsicherheit bei einem Großteil unserer Bevölkerung. ({0}) Wenn wir auf die Entstehung des Problems in Südostasien zurückblicken, dann müssen wir feststellen, dass vor allen Dingen zwei Fehler begangen wurden: Erstens haben die dortigen Behörden zu langsam reagiert, zweitens haben sie die Bevölkerung über die Folgen des Virus im Unklaren gelassen. Aus diesen Fehlern müssen wir für unser weiteres Vorgehen lernen und die entsprechenden Konsequenzen ziehen. An oberster Stelle steht die koordinierte Aufklärung unserer Bevölkerung und der Tierhalter, ({1}) aber, Frau Höhn, bitte schön kein Theater. ({2}) Um zur Aufklärung beizutragen, müssen wir sagen: Ja, auch Menschen können sich, wenn sie Kontakt mit infizierten Tieren haben, mit diesem Virus anstecken. Wir müssen sagen, dass diese Gefahr besteht. Aber - dieses „Aber“ gilt es der Bevölkerung zu verdeutlichen - die Vogelgrippe ist eine Tierseuche, die bisher ausschließlich in der Wildvogelpopulation ({3}) - vielen Dank für Ihren Hinweis, Frau Tackmann - aufgetreten ist. Die Gefahr der Ansteckung ist und bleibt für Menschen gering. Deshalb kann ich nur davor warnen, zu polemisieren, eine Krise herbeizureden oder eine Krise für Klientelpolitik zu missbrauchen. ({4}) Hans-Michael Goldmann, in einem Punkt sind wir wirklich eng beieinander: Wir brauchen keine ideologischen Grabenkämpfe. Aber wir sollten auch nicht dramatisieren, wie du es getan hast. Darauf hatten wir uns in der gestrigen Ausschusssitzung eigentlich geeinigt. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Hysterie wäre, so ernst sich die Lage auch darstellt, übertrieben. Dadurch würden wir keine Aufklärung betreiben, sondern vielmehr zur Verunsicherung beitragen. Das sage ich ganz bewusst auch in Richtung der Medien, an deren Verantwortung ich an dieser Stelle ausdrücklich appelliere. Im Übrigen muss ich sagen: Ich finde, dass sie in den letzten Tagen sehr sachlich und sehr ordentlich über dieses Thema berichtet haben. Unsere Bevölkerung ist nun auf eine solche nüchterne Tatsachenberichterstattung angewiesen. Wir alle müssen uns um Sachlichkeit in der Analyse und vor allen Dingen um Sachlichkeit in unserem Handeln bemühen, um zu verhindern, dass Panik entsteht. ({6}) Dass dies gewährleistet ist, davon zeugen sowohl die Aktivitäten, die die Bundesregierung im Vorfeld des jetzt aufgetretenen Falls der Vogelgrippe bei Wildgeflügel auf Rügen ergriffen hat, als auch die daraufhin eingeleiteten Maßnahmen. Dafür möchte ich mich ausdrücklich bei Herrn Seehofer bedanken. Ein solches Vorgehen wurde in den vergangenen Jahren nicht immer an den Tag gelegt. Nun wird besonnen agiert ({7}) und ehrlich und deutlich aufgeklärt. All das geschieht auf sachliche und sehr professionelle Weise. Herr Minister, auch hierfür ein herzliches Dankeschön! ({8}) Meine Damen und Herren, Sachlichkeit in der Kommunikation bedeutet auch, den Verbrauchern deutlich zu sagen: Bisher ist von der Vogelgrippe in Deutschland ausschließlich Wildgeflügel befallen. Die Nutztierbestände auf unseren Höfen und in den Betrieben sind von der Virusinfektion nicht betroffen. Wir haben jetzt dafür Sorge zu tragen - der Minister hat das vorhin deutlich gemacht -, dass dieses auch so bleibt. Denn Nutztierschutz ist Verbraucherschutz; das muss uns allen klar sein. ({9}) Deshalb begrüße ich die Maßnahmen, die die Bundesregierung auf den Weg gebracht hat, vor allen Dingen die Aufstallungspflicht. Ein Blick nach Asien und in die Türkei zeigt, dass dort gerade Tiere befallen wurden, die draußen, außerhalb von Ställen, gehalten wurden. Auch wenn der eine oder andere es nicht gerne hören mag, möchte ich eines noch einmal deutlich sagen: Gerade die moderne Geflügelhaltung in Deutschland stellt für unseren Verbraucher einen besonderen Schutz dar. ({10}) Das Fleisch unserer Nutztiere ist sicher. Daher warne ich vor überzogener Panikmache: Wir sind dem Virus nicht schutzlos ausgeliefert. Wie Frau Höhn, in deren Bundesland 2003 die Vogelgrippe aufgetreten ist, schon mitgeteilt hat, konnte damals mit der Aufstallungspflicht verhindert werden, dass bei uns in Deutschland passiert, was in den Niederlanden passiert ist. ({11}) Deswegen appelliere ich an alle Geflügelhalter, diese Aufstallungspflicht strikt zu befolgen. Ich weiß, dass das für viele Betriebe schwierig ist; aber es gibt dazu keine Alternativen. Neben den gesundheitlichen Folgen für unsere Bevölkerung, auf die meine Vorredner intensiv eingegangen sind, möchte ich Ihnen am Beispiel meiner Heimat Niedersachsen vor Augen führen, ({12}) vor welch enormen wirtschaftlichen Herausforderungen wir stehen, wenn wir es nicht schaffen, das Virus von unseren Nutztieren fern zu halten. Wie Sie sicherlich wissen, gibt es in Niedersachen sehr viele Geflügelhalter 15 000 Nutztierhalter; wenn man Kleintier- und Hobbytierhalter hinzuzählt, kommt man auf 20 000 -; wir haben 75 Millionen Stück Geflügel mit einem Gesamtproduktionswert von über 800 Millionen Euro. 2003 verursachte die Vogelgrippe in den Niederlanden bei einem Bestand von 90 Millionen Tieren einen Schaden von über 500 Millionen Euro. Sie können sich ausrechnen, welch ein wirtschaftliches Desaster ein Vogelgrippebefall unserer Nutztiere in Deutschland anrichten würde: Dann wären auch bei uns Tausende Arbeitsplätze betroffen; an denen wiederum hingen Tausende Familienschicksale. Wie vorhin ausgeführt worden ist: In Italien sind bereits 30 000 Arbeitsplätze durch die Vogelgrippe verloren gegangen. Der Verbraucherschutz steht natürlich an erster Stelle. Aber es ist auch wichtig, Herr Minister Seehofer, dass im Agrarrat am Montag auch die Sicherung der Drittlandexporte angesprochen wird. Die Kommission muss sich bemühen, dass nicht vollkommen unbegründet Märkte wegbrechen. ({13}) Abschließend noch einmal: Wir haben zurzeit keinen Befall unserer Nutztiere. Die Bevölkerung kann unbedenklich deutsches Geflügelfleisch genießen. Neben der Aufklärung der Verbraucher, die selbstverständlich an erster Stelle stehen muss, müssen wir aber auch alles in unserer Macht Stehende tun, um das Virus von unseren Tieren fern zu halten. Das ist aktiver Verbraucherschutz. Lassen Sie uns bei diesem wesentlichen Thema über die Parteigrenzen hinweg deeskalierend wirken und nicht polemisieren! Das wäre mein Appell an Sie alle. Danke schön. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Holzenkamp, ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 k sowie Zusatzpunkte 7 a bis 7 d auf - es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte -: 22 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes - Drucksache 16/644 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes - Drucksache 16/635 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes - Drucksache 16/645 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({3}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Personenbeförderungsrechts - Drucksache 16/517 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie e) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun- desrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 2005 - Einzelplan 20 - - Drucksache 16/500 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Reinhard Loske, Sylvia Kotting-Uhl, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für ein effektives, europataugliches und wirtschaftsfreundliches Umweltrecht - Drucksache 16/654 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vierunddreißigster Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ für den Zeitraum 2005 bis 2008 - Drucksache 15/5141 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss h) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({7}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: Leichter-als-Luft-Technologie - Innovations- und Anwendungspotenziale - Drucksache 15/5507 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({8}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung i) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Fortschritte zur Entwicklung der verschiedenen Felder des Geoinformationswesens im nationalen, europäischen und internationalen Kontext - Drucksache 15/5834 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({9}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung j) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung für den Zeitraum 2002 bis 2005 - Drucksache 15/6012 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({10}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung k) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({11}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: Internet und Demokratie - Abschlussbericht zum TA-Projekt „Analyse netzbasierter Kommunikation unter kulturellen Aspekten“ - Drucksache 15/6015 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({12}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ZP 7 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Ilse Aigner, Michael Kretschmer, Katherina Reiche ({13}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten René Röspel, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Informatives Berichtswesen als Grundlage einer guten Forschungs- und Technologiepolitik - Drucksache 16/646 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({14}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Verwendung der Regionalisierungsmittel offen legen - Drucksache 16/652 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({15}) Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Volker Beck ({16}), Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Resozialisierungsziele des Strafvollzugs be- wahren - Sicherheit nicht gefährden - Drucksache 16/653 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Zukunftsfähige Rahmenbedingungen für ein wirksames Umweltrecht im föderalen Deutschland schaffen - Drucksache 16/674 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({17}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Tagesordnungspunkt 22 a. Es ist vorgesehen, die Vorlage auf Drucksache 16/644 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und zur Mitberatung an den Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sowie an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/645 - Tagesordnungspunkt 22 c - soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss, den Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Die Vorlage auf Drucksache 16/654 - Tagesordnungspunkt 22 f - soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Rechtsausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union sowie den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Die übrigen Vorlagen sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 23 a bis i. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 23 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Reform hufbeschlagrechtlicher Regelungen und zur Änderung tierschutzrechtlicher Vorschriften - Drucksache 16/29 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({18}) - Drucksache 16/669 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Peter Jahr Hans-Michael Goldmann Bärbel Höhn Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/669, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/701? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/702? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis angenommen. Tagesordnungspunkt 23 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes über die Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums der Justiz - Drucksache 16/47 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({19}) - Drucksache 16/678 Berichterstattung: Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff Joachim Stünker Mechthild Dyckmans Wolfgang Neskovic Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/678, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 23 c: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Nr. 172 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 25. Juni 1991 über die Arbeitsbedingungen in Hotels, Gaststätten und ähnlichen Betrieben - Drucksache 16/342 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({20}) - Drucksache 16/626 Berichterstattung: Abgeordneter Dirk Niebel Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt auf Drucksache 16/626, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 23 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({21}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Richtlinie 95/50/EG des Rates über einheitliche Verfahren für die Kontrolle von Gefahrguttransporten auf der Straße KOM ({22}) 430 endg.; Ratsdok. 12360/05 - Drucksachen 16/150 Nr. 2.191, 16/537 Berichterstattung: Abgeordnete Dorothee Menzner Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 23 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({23}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung über Stoffe, die die Ozonschicht schädigen ({24}) - Drucksachen 16/411, 16/480 Nr. 2.3, 16/619 Berichterstattung: Abgeordnete Ingbert Liebing Frank Schwabe Michael Kauch Eva Bulling-Schröter Sylvia Kotting-Uhl Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 16/411 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion der FDP angenommen. Tagesordnungspunkte 23 f bis 23 i. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 23 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 10 zu Petitionen - Drucksache 16/558 Über die Beschlussempfehlung 1 und 2 in der Sammelübersicht 10 stimmen wir getrennt ab. Wir stimmen daher zunächst über die Beschlussempfehlung 1 des Petitionsausschusses in Sammelübersicht 10 ab. Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung 1 ist einstimmig angenommen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung 2? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung 2 ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Damit ist die Beschlussempfehlung und somit die Sammelübersicht 10 insgesamt angenommen. Tagesordnungspunkt 23 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 11 zu Petitionen - Drucksache 16/559 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 11 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 23 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 12 zu Petitionen - Drucksache 16/560 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 12 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen von der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 23 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 13 zu Petitionen - Drucksache 16/561 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 13 ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Übernahme ehemaliger Regierungsmitglieder in Vorstände und Aufsichtsräte deutscher Energiekonzerne Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in unserer Volkswirtschaft kaum eine Branche, die derartig monopolistisch strukturiert oder - so könnte man auch sagen - derartig vermachtet ist wie die Energiebranche. Vier Konzerne kontrollieren im Strombereich 80 Prozent der Produktion und 100 Prozent der Netze, Jahresumsatz: 80 Milliarden Euro. Allein Eon und RWE kontrollieren zwei Drittel der Stromerzeugung. Auf dem Gasmarkt sieht es im Grunde genommen noch schlimmer aus: Ein Unternehmen kontrolliert zwei Drittel des deutschen Erdgasmarktes. Es ist zufällig auch der größte Stromkonzern: Eon Ruhrgas. Im Braunkohlesektor haben wir es mit drei Unternehmen - im Wesentlichen ist es ein großer Spieler, nämlich die RWE-Tochter Rheinbraun - zu tun. Bei der Steinkohle haben wir es mit einem Unternehmen zu tun - der Deutschen Steinkohle AG, die ihrerseits eine Tochter der Ruhrkohle AG ist, deren Hauptanteilseigner Eon und RWE sind. Insofern sind im Bereich der Energieanbieter extrem monopolistische und vermachtete Strukturen und ein eklatanter Mangel an Wettbewerb zu verzeichnen. Selbst wenn die Wettbewerbsbehörde bzw. das Kartellamt über entsprechende Instrumente verfügen und diese auch sehr gut nutzen, fällt es sehr schwer, Transparenz zu schaffen. Ich glaube, in dieser Situation ist es die Aufgabe der Politik, für fairen Wettbewerb zu streiten und das Einstreichen von Monopolrenditen dieser marktbeherrschenden Konzerne zu bekämpfen. ({0}) Wir brauchen mehr Ordnungspolitik und Wettbewerbspolitik im Interesse der Verbraucher und weniger Industriepolitik, die sich als verlängerter Arm der Stromkonzerne begreift. Es gibt kaum einen Bereich, in dem politische Entscheidungen so unmittelbar durchschlagen. ({1}) - Ich komme sofort dazu. Das ist jetzt ein kleines Prélude. Hören Sie zu, Herr Kampeter! Vielleicht können Sie noch etwas lernen. ({2}) Politisches Handeln schlägt unmittelbar durch. Das Energiewirtschaftsgesetz setzt den Ordnungsrahmen. Der Emissionshandel hat Einfluss auf den CO2-Ausstoß. Kraft-Wärme-Kopplung und erneuerbare Energien werden in eigenen Gesetzen geregelt. Gerade weil das der Fall ist, sollte die Verquickung von Politik und Energiewirtschaft in äußerst engen Grenzen gehalten werden, und zwar sowohl im Interesse der Verbraucher, die keine Lobbypolitik wollen, die sie teuer zu stehen kommt, als auch im Interesse der Politik selbst. Denn wenn beim Bürger der Eindruck entsteht, Energiepolitik sei vor allem Gefälligkeitspolitik für die großen Konzerne, ({3}) dann ist das verheerend für das Ansehen der Politik insgesamt. ({4}) Damit wir uns nicht falsch verstehen: Es geht nicht darum, eine Art chinesische Mauer zwischen der Welt der Wirtschaft und der Welt der Politik hochzuziehen. Es geht auch nicht darum, die Berufsfreiheit von Abgeordneten und ehemaligen Ministern einzuschränken. Im Gegenteil: Ich glaube, dass der Wechsel zwischen Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Publizistik sogar eher gefördert werden sollte. Unzulässig ist aber der unmittelbare Wechsel aus Regierungsämtern in Vorstände und Aufsichtsräte von Energiekonzernen, mit deren Regulierung man früher selbst zu tun hatte. Das geht nicht. ({5}) Das hat mehr als einen Beigeschmack. Wir erinnern uns an den Fall Werner Müller, der aus dem Ministeramt zur Ruhrkohle AG - das ist, wie gesagt, eine Tochter von Eon und RWE - gewechselt ist, ({6}) nachdem er sich vorher jahrelang gegen Wettbewerb auf den Energiemärkten, das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz und das Erneuerbare-Energien-Gesetz profiliert hat. Des Weiteren gab es den Fall Alfred Tacke, der nach der Genehmigung der Fusion von Eon und Ruhrgas, die bekanntlich gegen das Votum des Kartellamtes zustande kam, zu STEAG, einer Ruhrkohle-Tochter - deren Hauptanteilseigner, wie gesagt, Eon und RWE sind -, gegangen ist. Der ehemalige Bundeskanzler Schröder wechselt jetzt in den Aufsichtsrat der Betreibergesellschaft der neuen Ostseepipeline, deren Hauptanteilseigner Gasprom und Eon sind. Außerdem berät er jetzt die Ruhrkohle AG - angeblich unentgeltlich - dabei, wie bei der Übernahme der Ewigkeitskosten der Bund am stärksten herangezogen werden kann. Wolfgang Clement wiederum wechselt in den Aufsichtsrat von RWE Power, nachdem er in seiner Zeit als Minister zunächst ein sehr schwaches Energiewirtschaftsgesetz zur Regelung des Wettbewerbes vorgelegt hat und vor allem durch Angriffe auf das EEG und den Emissionshandel aufgefallen ist. Ich glaube, das alles zusammengenommen ist keine gute Visitenkarte für die Politik und es verschärft deren Glaubwürdigkeitskrise, und zwar unabhängig von Parteigrenzen. Das möchte ich betonen. ({7}) Wir brauchen klare und kodifizierte Regeln. Notwendig ist eine Karenzzeit, wie es sie auf europäischer Ebene längst gibt, sodass ein unmittelbarer Wechsel aus dem Bereich, in dem man vorher im Rahmen politischer Ämter regulierend tätig gewesen ist, in die Unternehmen nicht mehr möglich ist. Das ließe sich im Rahmen eines Ehrenkodexes erreichen. Ich glaube, das ist zwingend. Wenn das nicht gelingen sollte, dann bedarf es eines Gesetzes. Es reicht nicht aus, in jedem Fall eines unmittelbaren Wechsels aufs Neue zu lamentieren. Ich möchte Sie bitten, das nicht als Polemik zu verstehen. Es schadet dem Ansehen der Politik enorm, wenn der Eindruck entsteht, dass Grenzen nicht eingehalten werden und Insiderwissen mitgenommen wird, was letzten Endes zulasten der Verbraucher geht. Wir brauchen vor allen Dingen freie und unabhängige Abgeordnete, die das thematisieren. Ich bitte Sie, darüber nicht nur entlang der parteipolitischen Grenzen zu diskutieren, sondern das Strukturproblem ernst zu nehmen. Dieser extrem vermachtete Sektor unserer Volkswirtschaft braucht klare Scheidelinien gegenüber der Politik. Sonst bekommen wir ein riesengroßes Glaubwürdigkeitsproblem. Danke schön. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Andreas Schmidt von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001999, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema der heutigen Aktuellen Stunde ist wichtig, aber auch schwierig. ({0}) Es ist ganz sicher kein energiepolitisches Thema. Ich will versuchen, es sehr grundsätzlich und ohne Polemik zu behandeln; denn ich glaube, dass es in der Öffentlichkeit eine gewisse Sensibilität bezüglich dieses Themas gibt. Deswegen haben wir eine große Verantwortung, wenn wir über dieses Thema sprechen. ({1}) Bei diesem Thema geht es um die Akzeptanz, ja sogar um die Reputation von Parlamentariern sowie von aktiven und ehemaligen Ministern, aber auch um die Reputation der parlamentarischen Demokratie als Institution insgesamt. Herr Loske, grundsätzlich haben Sie Recht: Das Fehlverhalten eines Einzelnen schadet nicht nur dem Betreffenden selber, einer politischen Partei oder einer Fraktion, sondern der parlamentarischen Demokratie als Institution. Bei diesem Thema geht es aber auch um die Frage nach der zukünftigen Qualifikation der Parlamentarier, darum, wie viel Berufs- und Lebenserfahrung wir in Parlamenten organisieren können. Welcher Politikertypus soll das Bild des Parlaments in Zukunft prägen: der Berufspolitiker, der direkt von der Universität ins Parlament einzieht, lebenslang Parlamentsmitglied ist und dann in Pension geht, oder derjenige, der mit Berufserfahrung ins Parlament einzieht und vielleicht wieder in seinen Beruf zurückgeht? Ich plädiere dafür, dieses Thema sehr differenziert zu betrachten. Ich möchte drei Eckpunkte nennen. Der erste Eckpunkt ist: Berufliche und parlamentarische Tätigkeit schließen sich nicht aus; das haben Sie schon gesagt. Ich stimme Ihnen zu und halte es für wichtig, dass das in dieser Debatte gesagt wird. Beispielsweise kann eine nebenberufliche Tätigkeit eines Freiberuflers seine Unabhängigkeit als Parlamentarier während der Mandatsausübung sichern, weil sie die Voraussetzung dafür ist, später wieder in den Beruf zurückzukehren. ({2}) Des Weiteren gilt auch für ehemalige Minister - das haben Sie schon erwähnt - Art. 12 des Grundgesetzes; das will ich unterstreichen. Es ist selbstverständlich möglich, dass ein Minister nach seiner Tätigkeit in der Politik zu einem Unternehmen geht. Warum auch nicht? Politische Erfahrungen können für ein Wirtschaftsunternehmen von großer Bedeutung sein. Grundsätzlich gilt schließlich - darin werden wir uns sicherlich einig sein -: Unternehmen, auch Energieunternehmen, sind keine kriminellen Vereinigungen. Unternehmen sind Voraussetzung für Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze. Der zweite Eckpunkt ist: Ich bin in diesem Zusammenhang grundsätzlich gegen die Normierung eines gesetzlichen Verbotes. Das wird nicht funktionieren. Wir haben mit § 331 des Strafgesetzbuches - Verbot der Vorteilsannahme - bereits ein gesetzliches Verbot. Dieser Strafrechtsparagraph gilt zweifellos auch für aktive und ehemalige Minister. Aber ich sehe weder eine Notwendigkeit für eine gesetzliche Regelung noch eine rechtsstaatliche Chance für ein gesetzliches Berufsverbot. Der dritte Punkt ist - er ist genauso bedeutsam -: Nicht alles, was legal ist, ist auch legitim. ({3}) Andreas Schmidt ({4}) Nicht alles, was nicht verboten ist, ist auch erlaubt. Wir erwarten von aktiven und ehemaligen Ministern und Parlamentariern Selbstbeschränkung, Sensibilität ({5}) - richtig, auch Anstand - und die Bewahrung der eigenen Reputation. Natürlich ist immer eine Einzelfalleinschätzung notwendig. Man muss auf jeden Fall die Trennschärfe bewahren. Wir sollten versuchen, die Trennlinie zu definieren. Das ist in der Tat schwierig. Ich will versuchen, eine Definition vorzunehmen - sie ist vielleicht noch sehr oberflächlich und diskussionswürdig -: Wenn Gefahr besteht, dass der Anschein entsteht, dass die berufliche Übernahme in einem nachträglichen Zusammenhang mit früheren politischen Entscheidungen steht, ist die Selbstbeschränkung eines ehemaligen Ministers geboten. Das ist die zu definierende Trennlinie. Wenn wir das in dieser Differenziertheit tun, dann können wir auch über einen Verhaltenskodex reden. Ich bin nur dagegen, dass wir diese Debatte parteitaktisch instrumentalisieren. Es geht nicht um einen kurzfristigen parteitaktischen Vorteil, sondern um das Ansehen des Parlaments als Institution. Deswegen sind wir aufgefordert, die Debatte zu führen, aber in aller Sachlichkeit, ohne Polemik und mit der gebotenen Verantwortung. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Koppelin von der FDP-Fraktion.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte mir eigentlich für diese Aktuelle Stunde eine Rede überlegt. ({0}) Aber nachdem Sie, Kollege Loske, hier gesprochen haben, lasse ich meine Rede da, wo sie ist, und sage: Herzlich willkommen in der Opposition! Mir kam Ihre Rede sehr bekannt vor. Damals, in der Aktuellen Stunde am 10. April 2003, waren das allerdings die Argumente der FDP-Fraktion. Rainer Brüderle und Frau Kopp haben damals gesprochen. Die Argumente wurden von den Grünen vehement abgelehnt. Ihre Kollegin Hustedt hat damals zu diesem Thema gesprochen. Es war teilweise wirklich sehr peinlich. Sie hat gesagt, die Aktuelle Stunde sei völlig überflüssig. Ich finde es schön, dass Sie heute zu den gleichen Erkenntnissen kommen wie wir. Damals hat die Kollegin Kopp gesagt: Liebe Frau Hustedt, Sie haben es versäumt, sich klar zu der Frage zu äußern, wie die Grünen dazu stehen, dass Herr Müller zur RAG wechselt. ({1}) Heute, nach drei Jahren, haben Sie die Frage beantwortet. Ganz herzlichen Dank! Das hat allerdings etwas lange gedauert. ({2}) Ich finde, das, was der Kollege Schmidt hier gesagt hat, ist sehr nachdenkenswert. Ich will das aufgreifen. Ich sage das deshalb, weil wir als FDP-Bundestagsfraktion in dieser Woche einen Antrag eingebracht haben, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, einen Ehrenkodex zu entwerfen, und zwar analog zu der entsprechenden Gesetzgebung für die Bundesbeamten. Allerdings stellen wir uns nicht eine Frist von fünf Jahren vor, sondern eine von zwei Jahren. Wir richten diese Aufforderung bewusst an die Bundesregierung, weil die Fälle überwiegend die Bundesregierung betreffen. Müller, Tacke, Koch-Weser und Schröder sind bekannte Beispiele. Nun weiß ich allerdings auch, Kollege Schmidt, dass ein solcher Ehrenkodex nicht unbedingt greifen wird. Trotzdem sollten wir es machen. Was wollen Sie machen, wenn Sie vielleicht neuer Bundeswirtschaftsminister sind, die Tür aufgeht und nicht nur der ehemalige Wirtschaftsminister Müller hineinkommt, sondern auch der gerade aus dem Amt geschiedene und von zwei Sicherheitsbeamten begleitete

Not found (Kanzler:in)

Die berate ich nur. ({0}) Er erhält übrigens kein Geld dafür. Darüber ist das also auch nicht zu greifen. Ich darf eine Agenturmeldung zitieren, wonach eine Mitarbeiterin von Gerhard Schröder gesagt hat, Schröder und RAG-Chef Werner Müller seien alte Weggefährten. Das heißt natürlich, dass er seine Erfahrungen als Altkanzler einbringt. Ich hätte fast mit Heinz Rühmann gesagt: „Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste, was es gibt auf der Welt“. ({1}) Das ist doch peinlich. ({2}) Da muss man doch auch als Sozialdemokrat dem ehemaligen Parteivorsitzenden und Bundeskanzler sagen - ({3}) - Ich weiß nicht, warum Sie krakeelen. Sie sind zwar bekannt fürs Krakeelen, aber ich finde, Sie sollten selber einmal überlegen, ob sich ein ehemaliger Bundeskanzler, der immer noch auf der Gehaltsliste der Bundesrepublik Deutschland steht, einen solchen Stil leisten kann. Ich glaube nicht. Er schadet uns allen. ({4}) Insofern ist das richtig, was in einer anderen Aktuellen Stunde von der Union gesagt wurde. Solche Leute gehören erst einmal - das ist ein wörtliches Zitat - auf die Wartebank. Diese Meinung teilen wir. Ich sehe, dass die Union jetzt etwas anbietet, was sie aber nicht gesetzlich regeln will. Die Grünen kommen nun auf unsere Seite. Da haben wir schon fast die Mehrheit. Lassen Sie uns doch einen Ehrenkodex entwerfen! Denn, Kollege Schmidt, es ist genau richtig, was Sie sagen. Es trifft zwar in erster Linie Minister - es kann auch in den Ländern passieren -, aber das ganze Parlament und das ganze politische Geschehen sind von diesen Dingen betroffen. Insofern sollten wir aus dem Parlament heraus Druck auf die jeweilige Regierung ausüben, egal wie diese zusammengesetzt ist. Ich sage in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch in Richtung der Grünen: Jeder hat da sein Päckchen zu tragen, auch meine Partei, die FDP. ({5}) - Natürlich, aber Sie können uns doch nicht für jeden haftbar machen. Machen wir doch endlich einmal Druck! Ich habe keine Lust mehr, seit drei Jahren dieses Thema zu diskutieren. Ich könnte auch zitieren, was die Bundesregierung zum Fall Koch-Weser gesagt hat. Das ist noch nicht lange her. Wenn Sie in diesen Genuss kommen wollen ich habe das Zitat hier. Damals hat die Bundesregierung gesagt, es seien nie Gespräche geführt worden. Ende 2004 ist in einer Fragestunde gefragt worden, was mit Herrn Koch-Weser sei. Die Antwort für die damalige Bundesregierung gab Staatssekretär Diller: Staatssekretär Koch-Weser hat zu keinem Zeitpunkt Anstellungsgespräche mit der Deutschen Bank AG geführt, richtig ist, dass es in den vergangenen Jahren gelegentlich Anfragen aus der privaten Wirtschaft gegeben hat. Herr Koch-Weser ist der Bundesregierung fest verbunden. Es bestanden und bestehen keine Wechselabsichten. ({6}) - Bei solchen Antworten fällt man vom Stuhl. Das kann ich gut verstehen. Das ging uns damals auch so. ({7}) Die alte Bundesregierung hat das Parlament teilweise hinters Licht geführt. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken! Fordern wir die Bundesregierung dazu auf, einen Ehrenkodex zu schaffen! Wir von der FDP sind es einfach leid, dass sich das Parlament damit beschäftigen muss, was ehemalige Bundeskanzler, Minister und Staatssekretäre machen. Herzlichen Dank für Ihre Geduld. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Lange von der SPD-Fraktion.

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, mir ging es so ähnlich wie fast allen hier im Saal, als ich den Titel dieser Aktuellen Stunde las. Ausgerechnet die Grünen haben es aufs Tapet gebracht. Ich dachte: Eingeklemmt in der Opposition zwischen PDS und FDP, erinnern sie sich an ihre Tradition als Protestpartei. Ich will ausdrücklich sagen: Herr Schmidt, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie dieses Thema auf das reduziert haben, was es ist: Es ist in der Tat kein energiepolitisches. Herr Kollege Loske, dennoch muss ich Sie schon an ein paar energiepolitische Aspekte erinnern. Im Jahr 1998, als der Bundeskanzler sein Kabinett berief, habe ich vonseiten der Grünen keinen Protest gehört, obwohl Herr Minister Müller schon damals in der Energiebranche tätig war, und zwar in einem Vorstand, also an führender Stelle. ({0}) Noch einmal: Ich habe keinen Protest gehört. Wo war er denn? ({1}) - In der Tat: „Warum auch?“. Stattdessen haben Sie Herrn Minister Müller eine Parlamentarische Staatssekretärin zur Seite gestellt, die ihm eifrig zugearbeitet hat. ({2}) Es drängt sich schon der Eindruck auf: Kaum in der Regierung, bedienen Sie sich; kaum in der Opposition, wollen Sie sich davon distanzieren. Diesen Vorwurf muss ich Ihnen schon machen. ({3}) Sie müssen sich der Politik, die sowohl Herr Müller als auch Ihre Staatssekretärin gemacht haben, nicht schämen, ganz im Gegenteil. Sie versuchen, einen halbseidenen Faden zu spinnen, ({4}) wodurch der Eindruck erweckt wird, als wäre von langer Hand die Abfolge „berufliche Tätigkeit in der Energiebranche, Ministeramt, danach wieder berufliche Tätigkeit in der Energiebranche“ vorbereitet. Davon kann doch überhaupt keine Rede sein. Christian Lange ({5}) Das gilt insbesondere für Fragen, die uns alle beschäftigt haben, etwa die Ministererlaubnis. Erinnern wir uns doch: Eine Ministererlaubnis ist in Deutschland ein Rechtsakt. Eine Ministererlaubnis wurde auch unter Rot-Grün gerichtlich überprüft und bestätigt. Hier zu sagen, es werde Gefälligkeitspolitik betrieben, nach dem Motto „Erst regieren, dann kassieren“, fördert den Politikverdruss in Deutschland. Was Sie behaupten, können Sie noch nicht einmal beweisen, weil es falsch ist. Deshalb bitte ich Sie, damit aufzuhören. ({6}) Sie schaden allen, die politisch tätig sind. Diesbezüglich haben Sie, Herr Dr. Loske, mit Ihren Bemerkungen Recht. Wer im Glashaus sitzt, der sollte nicht mit Steinen werfen. Ich muss an dieser Stelle einfach an Folgendes erinnern: Sie hatten einmal eine Sprecherin namens Gunda Röstel. Jetzt ist sie Managerin der Gelsenkirchener Gelsenwasser AG; das ist Deutschlands größer privater Wasserkonzern. ({7}) Pikant an dieser Sache ist für die Grünen, dass Gunda Röstel den Atomausstieg mit ausgehandelt hat und dann ausgerechnet bei einer Tochterfirma des Energiekonzerns Eon - das ist Deutschlands größter Atomkraftwerkbetreiber - anheuerte. Sie wollen einen halbseidenen Faden spinnen, auch wenn Sie zu Recht angemahnt haben, dass es eine Scheidelinie bezüglich dessen, was man nach dem Ausstieg aus der Politik tut, geben muss. Sie sollten deshalb ganz vorsichtig sein. Ich habe von Ihnen erwartet - ich will an das anknüpfen, was Herr Schmidt gesagt hat -, dass Sie ein paar Gedanken zum Thema Kodex äußern. Wir haben im Parlament angefangen, darüber zu sprechen. Ich bin sehr glücklich darüber, dass wir in der Frage der Transparenz einen Weg für uns Parlamentarier gegangen sind, der richtig ist. Leider gibt es auch in unserem Haus einige, die dagegen klagen. Ich denke an einige aus der FDPFraktion; vielleicht gibt es noch ein paar andere mehr. Ich wiederhole: Das ist der richtige Weg für uns aktive Parlamentarier. Es gibt eine Regelung für amtierende Minister: Sie dürfen überhaupt keiner Nebentätigkeit nachgehen. Wir müssen uns differenzierte Gedanken darüber machen - da bin ich ganz bei Ihnen -, wie es sich mit ehemaligen Regierungsmitgliedern verhält. Was machen wir zum Beispiel mit einem Herrn Müller, der in einer bestimmten Branche tätig gewesen war, dann für nur vier Jahre einen Ausflug in die Politik gewagt hat und danach wieder in seinen alten Beruf zurückkehren will, wenn auch zu einer anderen Firma? Was machen wir mit solchen Personen? Wollen wir ein Berufsverbot aussprechen? Ist das die Antwort, die wir geben? Was machen wir mit denjenigen, die als Rechtsanwälte, Unternehmensberater oder Publizisten tätig sind, Herr Loske? Welchen Weg gehen wir? Das ist in der Tat interessant. Ich bin gern bereit, mit Ihnen in die Diskussion einzusteigen, weil auch ich glaube, dass wir einen Kodex brauchen. Wenn wir die Diskussion so führen, wenn wir zu Berufsverboten Nein sagen, wenn wir die Kirche im Dorf lassen und zugleich an das denken, was moralisch vertretbar ist, dann, glaube ich, werden wir für die nächste Zukunft auch für ehemalige Minister einen guten Weg finden. In diesem Sinne wünsche ich mir eine Diskussion mit der Opposition wie auch mit den beiden Regierungsfraktionen. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste auf den Rängen! Es gibt eine Massenflucht von ehemaligen Politikern in die Wirtschaft. Exwirtschaftsminister Müller wechselte zur RAG AG, Exkanzler Schröder zum Konsortium der Nordeuropäischen Gaspipeline und Exstaatssekretär Caio Koch-Weser will zur Deutschen Bank. Dafür gibt es nur zwei mögliche Erklärungen: Erstens. Einige Politiker glauben nicht mehr daran, dass man mit der SPD noch einen Blumentopf gewinnen kann. Zweitens. Die ehemaligen Politiker haben augenscheinlich politische Vorleistungen gegenüber Unternehmen erbracht, die jetzt mit Vorstands- und Aufsichtsratsposten versilbert werden. ({0}) Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass ehemalige Politiker in die Wirtschaft gehen. Ich habe aber sehr wohl etwas dagegen, dass Mitglieder der Bundesregierung Entscheidungen zugunsten von Unternehmen treffen - Stichwort: Ministererlaubnis -, um sich ihre zukünftigen Jobs in der Wirtschaft zu sichern. Das ist eine Form von Korruption, die in Deutschland leider legal ist. ({1}) Wir müssen das im Bundestag gesetzlich ändern. Offensichtlich betrachten einige Politiker die Zeit in der Bundesregierung nur als so etwas wie das Qualifying für die Poleposition, ({2}) um sich dann beim Rennen einen Spitzenplatz in der Wirtschaft zu sichern - nach dem Motto „Erst die Macht, dann das Geld“ oder, wie Kollege Lange sagte: Erst regieren, dann kassieren. Das zeugt, finde ich, von einer gewissen Verachtung gegenüber den Wählerinnen und Wählern. Man hat fast den Eindruck, dass die Herren ihren Eid auf das Grundgesetz bei ihrer Entlassung an der Garderobe des Bundespräsidenten abgegeben hätten. Niemand glaubt doch ernsthaft, dass Herr Clement aufgrund seiner wirtschaftlichen Kompetenz in den Aufsichtsrat von RWE Power berufen wurde. ({3}) Herr Clement wurde als Wirtschafts- und Arbeitsminister nicht nur von den Wählerinnen und Wählern, sondern auch von seiner eigenen Partei wegen Unfähigkeit in die Wüste geschickt - und das zu Recht. ({4}) Alles, was Herr Clement als Minister angefangen hat, ist unfertig, unausgereift und aus dem Ruder gelaufen. Er hat die wirtschaftlichen Probleme nicht gelöst, sondern uns unzählige Probleme hinterlassen. Er trägt die Verantwortung für die unsäglichen Hartz-Gesetze. ({5}) Wir haben in der vergangenen Woche darüber diskutiert und festgestellt, dass nichts Positives eingetreten ist. ({6}) Ich glaube nicht, dass RWE einen solchen Mann wirklich zur Lösung der eigenen Probleme braucht. Nein, die Erklärung kann nur sein, dass der Posten als Dankeschön für frühere Entscheidungen des Ministers vergeben wurde. Wenn wir als Politiker nicht an Glaubwürdigkeit verlieren wollen, müssen wir - das ist schon angesprochen worden - gesetzliche Regelungen schaffen, die eine nachgelagerte Bestechung - ich sage ausdrücklich: nachgelagert - ausschließen. ({7}) - Das ist sehr gut verständlich. Auch Sie verstehen das sehr gut. Sie haben sich mit solchen Fragen schon auseinander setzen müssen. ({8}) Bekanntlich gibt es in anderen Ländern wie Schweden, aber auch in den USA ganz klare gesetzliche Regelungen, die eine große Transparenz garantieren. Warum sollten wir in Deutschland nicht auch solche Regelungen schaffen können? Das würde uns, glaube ich, sehr gut tun. ({9}) Wir können aber auch ganz klein bei uns anfangen. Der Kollege Koppelin hat es schon angesprochen. Auch wir Abgeordneten sollten unsere Einkünfte so offen legen, dass jeder genau weiß, woher und von wem wir unser Geld bekommen. ({10}) Kollege Koppelin, wir alle werden Sie sicherlich unterstützen, dass Sie auch in Ihrer Fraktion dafür eine große Mehrheit oder gar 100 Prozent Zustimmung bekommen. ({11}) Aber Sie haben ja schon gesagt: Man kann nicht jeden für alles haftbar machen. ({12}) - Oskar Lafontaine ist da, glaube ich, sehr offen. ({13}) Er wird Ihnen alles vortragen. Wir in der Fraktion haben viele technische Möglichkeiten, das im Internet zu veröffentlichen. Er wird das bestimmt gern tun, Herr Koppelin, und Ihnen damit eine besondere Freude machen. Ich möchte einen Vorschlag der deutschen Sektion von Transparency International aufgreifen. Danach soll die Karenzzeitregelung, die für Beamte gilt, auch für Parlamentarische Staatssekretäre, Minister und natürlich Kanzler gelten. Das Bundesbeamtengesetz legt für solche Fälle eine Karenzzeit von fünf Jahren fest. Eine solche Frist - man könnte sie auch Schamfrist nennen sollten auch Herr Schröder und Herr Clement einhalten. Ihre beachtlichen Ruhestandsbezüge werden eine Verarmung dieser Herren in dieser Zeit weiß Gott verhindern. Vielen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Steffen Kampeter von der CDU/CSU-Fraktion.

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Austausch zwischen Parlament, Regierung, Wissenschaft und Wirtschaft ist notwendig. Er wird aber in Deutschland nach meiner Einschätzung viel zu wenig gepflegt und sollte daher eher gefördert denn diskreditiert werden. Wir alle können von den unterschiedlichen Lebenssphären der Kolleginnen und Kollegen, die nicht aus dem rein politischen Geschäft in den Bundestag gewählt werden oder in die Regierung eintreten, lernen. Wir sollten uns auch immer wieder deutlich vor Augen führen, dass Politik ein endliches Geschäft ist und Macht auf Zeit gibt. Somit sollten wir nach und vor der Parlamentszeit uneingeschränkt beruflichen Tätigkeiten nachgehen können. Ich habe mich allerdings schon etwas gewundert, dass die Sachverhalte, zu denen ich im Einzelfall noch kurz Stellung nehmen werde, von den Grünen erst entdeckt worden sind, nachdem sie die Stander ihrer Dienstwagen nach dem Regierungswechsel abgegeben haben. ({0}) Deswegen nehme ich all das, was von dieser Seite kommt, nicht sonderlich ernst. Ich will nun drei Gruppen voneinander unterscheiden: die Abgeordneten, das politische Leitungspersonal und die Spitzenbeamten. Wir Damen und Herren Abgeordneten des Deutschen Bundestages leisten ein Maximum an Transparenz über unsere privaten und finanziellen Verhältnisse. Wir haben uns gerade Verhaltensregeln gegeben, die, wie manche glauben, den Wechsel zwischen Wirtschaft und Politik eher erschweren und die wir uns deshalb noch einmal kritisch anschauen sollten. Der frei gewählte Abgeordnete ist also schon nahezu gläsern, seine Einkünfte sind uneingeschränkt transparent. ({1}) Im Übrigen ist jeder Abgeordnete - auch dazu möchte ich klar Stellung beziehen - Lobbyist, nämlich Lobbyist seiner Region. Ich lasse mich nur ungern darin überbieten, für das Gemeinwohl der Heimatregion, die ich hier als Abgeordneter vertrete, das Optimum herauszuholen. Das ist, meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere verdammte Aufgabe. Daran ist auch nichts Anstößiges. ({2}) Die zweite Gruppierung stellt das politische Leitungspersonal dar, insbesondere die Minister und Parlamentarischen Staatssekretäre. Diese sind im Gegensatz zu dem, was die Kollegin Lötzsch hier vorgetragen hat, keine Beamten, sondern auch sie haben ein Mandat auf Zeit, das vom Deutschen Bundestag legitimiert wurde. Auch hier gilt: Austausch und Wechsel müssen positiv bewertet werden. Ich finde, es gab viel zu wenige Wirtschaftsführer und leitende Geschäftsführer aus Wirtschaftsunternehmen in politischen Leitungsfunktionen. Vom Grundsatz her halte ich es auch nicht für schädlich, dass jemand, der ein Ministerium geführt hat, in der deutschen Wirtschaft beweist, dass er Führungsverantwortung wahrnehmen kann. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich an die großartige Sanierungsleistung, die Lothar Späth bei Jenoptik erbracht hat, erinnern. ({3}) Dass dieser Austausch zwischen Politik, Wissenschaft und Wirtschaft bestimmten Regeln unterworfen werden sollte und es bestimmte Vorgänge gibt, die ich bei anderen Konstellationen durchaus kritischer bewerten würde, als es die Zeit heute zulässt, ({4}) zeigt sich ja daran, dass sich alle Redner der Koalitionsfraktionen offen und gesprächsbereit für den Vorschlag gezeigt haben, über Verhaltensregeln wie einen Ehrenkodex zu reden. Zugleich waren sie sich aber auch darin einig, keine zusätzlichen gesetzlichen Regelungen zu schaffen. Nicht alles nämlich, was legal ist, ist auch legitim; und nicht alles, was legitim ist, ist auch anständig. In diesem Sinne müssen Regeln gefunden werden, die ausschließen, dass ein Wechsel zwischen Politik und Wirtschaft korrumpierende Strukturen schafft, wie hier behauptet worden ist. Das kann nicht unser Interesse sein und das ist auch nicht unser Interesse. Die Union wird sich aktiv an diesem Diskussionsprozess beteiligen. Ich will auch darauf hinweisen, dass ich ein ungutes Gefühl habe, was die Effektivität parlamentarischer Kontrolle durch informelle Strukturen angeht. Hier muss auch Transparenz herrschen. Deshalb sollten wir sehr sorgfältig über solche sinnvollen Kodizes nachdenken. Wenn klare Regeln da sind, gibt es auch ausgesprochen wenig Missverständnisse. Man muss auch prüfen, ob die Dienst- und Amtsausstattung nach der Dienstzeit lediglich für entsprechende Zwecke genutzt wird. Das gilt für ehemalige Bundeskanzler ebenso wie für andere. Ich komme dann zu der dritten Gruppe, nämlich den Behördenleitungen. Hier gibt es einige Vorgänge im Zusammenhang mit Staatssekretären, deren Wechsel in Energie-, Versorgungs-, Transport- und Finanzwirtschaft zum gegenwärtigen Zeitpunkt - wie es bei einem Regierungswechsel, glaube ich, ganz natürlich ist - etwas intensiver ist. Hier ist § 69 a Bundesbeamtengesetz einschlägig, der eine Überprüfung dieses Wechsels vorsieht. Zu überlegen wäre, ob man die Überprüfung nicht im eigenen Haus, sondern durch Innen- und Justizministerium oder andere Administrationen durchführt, um Amtsbrüderschaften auszuschließen. Aber im Kern gibt es in diesem Gesetz klare Regeln. Man muss schauen, dass sie effektiv angewandt werden. Dann gibt es noch die Vorteilsannahme nach § 331 StGB. Frau Kollegin Lötzsch, es ist unanständig, wenn Sie hier einen Vorgang konstruieren, der nach dem geltenden Strafrecht einschlägig bewehrt ist, und den Eindruck erwecken, es gäbe hier eine Rechts- und Regelungslücke. Wenn Sie der Auffassung sind, dass ein solcher Vorgang zu bestrafen ist, steht es Ihnen frei, die dafür vorgesehenen strafrechtlichen Wege zu gehen. Aber denunzieren Sie hier bitte nicht, ohne Ross und Reiter zu nennen! ({5}) Diese dritte Gruppe ist deswegen von den Parlamentariern sowie den Ministern und Parlamentarischen Staatssekretären zu unterscheiden, weil sie im Gegensatz zu den ersten beiden Gruppen eine sehr umfassende, lebenslange Versorgungsleistung erhält und nicht zwangsläufig zur Ausübung einer beruflichen Tätigkeit gezwungen ist. Von daher finde ich es nur recht und billig, dass wir als Parlament bei dieser Gruppe besonders kritisch hinschauen; denn sie wird von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern lebenslang alimentiert. In diesem Sinne kann das der Anfang einer weitergehenden, tiefer schürfenden Debatte sein. Aber wir müssen uns klar sein: Für vordergründige populistische Anwürfe, wie von PDS und Bündnis 90/Die Grünen hier vorgetragen, bietet das zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Anlass. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Berninger von Bündnis 90/Die Grünen.

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am vergangenen Freitag erschien im „Economist“ ein ziemlich umfangreicher Bericht über die aktuelle Situation in Deutschland. Darin sind mehrere Probleme beschrieben worden. Ein Problem, das wir in Deutschland haben, ist, dass der Arbeitsmarkt nicht genügend Durchlässigkeit für diejenigen bietet, die draußen stehen. Als zweites Problem wird das Schulsystem beschrieben, das insbesondere den sozial Schwachen nicht die gleichen Chancen einräumt wie anderen. Als drittes Problem haben die Journalisten des „Economist“ die Cliquenwirtschaft angeführt. Das sollte uns zu denken geben; denn ich glaube, dass das nicht nur ein Problem des kölschen Klüngels ist, sondern ein generelles Problem, das diesem Land erheblich schadet. Wenn es in bestimmten Branchen eine Nähe zwischen dem Staat auf der einen Seite und den Unternehmen auf der anderen Seite gibt, dann sind Wechsel von Politikerinnen und Politikern in diese Branchen grundsätzlich sensibel. Wenn diese Politikerinnen und Politiker darüber hinaus wesentliche Entscheidungen mit getroffen haben, die für diese Branchen Auswirkungen haben, dann sind solche Wechsel in höchstem Maße bedenklich. ({0}) Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen. Um die Kollegen der Sozialdemokratie etwas zu entlasten und dem Kollegen Kampeter für seinen Beitrag einen zurückzugeben: Dass der Kollege Wiesheu Wirtschafts- und Verkehrsminister war und einen Koalitionsvertrag mit ausgehandelt hat, der sehr sensible Fragen bezüglich der Zukunft der Bahn AG regelt, und unmittelbar danach in den Bahnvorstand gewechselt ist, gehört genauso in die lange Liste wie eine ganze Reihe anderer Punkte. ({1}) Ich glaube, dass wir uns als Parlament über bestimmte Grundsätze verständigen sollten, die das künftig nicht mehr erlauben. Ich habe mich an der Stelle, lieber Kollege Christian Lange, sehr über die klare Ansage gefreut, dass auch die SPD-Fraktion hier Verhaltensregeln für ehemalige Minister, Bundeskanzler und Bundeskanzlerinnen - da haben wir noch die Hoffnung, dass das einmal wieder ein Ende nimmt - festlegen will und dass auch das Kabinett sich künftig solche klaren Regeln gibt. ({2}) Der Kollege Schmidt hat in Moll genau das für die CDU/CSU-Fraktion erklärt. Damit hat die Aktuelle Stunde, beantragt von meiner Fraktion, einen wesentlichen Sinn erfüllt, nämlich dass diese Zustände in Deutschland ein Ende haben und der Cliquenwirtschaft der Nährboden entzogen wird. Daran sollten wir weiter arbeiten. ({3}) Warum ist es so problematisch, wenn ein Bundeskanzler aus Freundschaft einen Unternehmenschef dabei beraten will, wie er ein möglichst günstiges Ergebnis für sein Unternehmen erzielt? Es wird in dem Moment problematisch, wenn ein für die Ruhrkohle AG möglichst günstiges Ergebnis zulasten des Landes Nordrhein-Westfalen und zulasten des Bundes ausgehandelt wird. Genau darum geht doch zurzeit die Auseinandersetzung: Wie viel Geld überweist die Ruhrkohle dafür, dass die Ewigkeitskosten des Bergbaus künftig nicht mehr von dem Unternehmen und dessen Aktionären getragen werden, sondern vom Bund, also von uns, den Steuerzahlern. Ich erwarte von einem ehemaligen Regierungschef, der noch nicht einmal 100 Tage aus dem Amt ist, dass er - Freundschaft hin, Freundschaft her - an der Stelle nicht einem Unternehmen dabei hilft, ein möglichst günstiges Ergebnis zu erzielen. Das ist im Kern das Problem. Ich finde dieses Verhalten empörend, unabhängig von der Partei, der der ehemalige Regierungschef angehört. ({4}) Ich bin ebenfalls der Meinung, dass Herr Tacke ein veritabler Experte im Bereich der Energiewirtschaft ist. Er hätte natürlich in alle möglichen Positionen wechseln können. Dass er aber ausgerechnet in ein Unternehmen wechselt, von dem auch wieder Eon aufgrund einer Ministerentscheidung, die Herr Tacke zu verantworten hat, massiv profitiert hat, ist ein Zeichen von mangelnder Sensibilität. Uns Grünen ist vorgeworfen worden, dass wir das nicht laut gesagt haben, als wir mit der SPD koaliert haben. Dass der Vorwurf von der FDP kommt, ist relativ verständlich. ({5}) Aber dass die CDU/CSU den gleichen Vorwurf erhebt, ist verwunderlich. Heute erleben wir doch, wie schwierig die Situation für Sie ist. Eigentlich möchten Sie mehr über die Person Koch-Weser sagen und eigentlich würden Sie sich gerne mehr über den Bundeskanzler empören. Auch die Sache mit Müller - Sie haben sich in der letzten Legislaturperiode sehr darüber empört - stinkt Ihnen noch genauso wie vor der Bundestagswahl. Das bringt uns aber nicht weiter. Ich meine, es gibt Grenzen. Die Häufung von solchen Wechseln - zuletzt der Wechsel von Herrn Clement in den Aufsichtsrat eines RWE-Unternehmens - sollte endlich einmal vom Deutschen Bundestag mit einem klaren Stoppsignal beantwortet werden. Herr Lange hat heute einen mutigen Anfang gemacht. Nach seinem Vorschlag müssen sich alle ehemaligen Mitglieder des Kabinetts, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, überlegen, ob sie sich gegen diese Linie der SPD-Bundestagsfraktion stellen. Insofern begrüße ich diesen Vorschlag ausdrücklich. Es gibt ein Unternehmen, bei dem eine ähnliche Diskussion in naher Zukunft droht, nämlich die Bahn. ({6}) Nicht nur Herr Wiesheu, sondern gerüchteweise auch andere sind jetzt dabei, sich als Berater bei der Bahn zu verdingen. Es funktioniert nicht, dass wir auf der einen Seite über den Börsengang der Bahn im Sinne der Menschen, die die Bahn künftig benutzen wollen, und im Sinne des Bundes, der Besitzer der Bahn ist - er will beim Börsengang einen entsprechenden Ertrag erzielen -, entscheiden, wenn auf der anderen Seite ehemalige Entscheidungsträger als Berater im Hochhaus von Herrn Mehdorn sitzen. Das ist ein Weg, der die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler Geld kostet und diesem Land Lebensqualität nimmt. Gegen diese Cliquenwirtschaft sollten wir alle gemeinsam zu Felde ziehen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Garrelt Duin von der SPD-Fraktion.

Garrelt Duin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003751, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal an diejenigen, die für diese Aktuelle Stunde gesorgt haben, ein paar Worte richten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, was Sie hier veranstalten - Ihre beiden Redebeiträge haben das deutlich gemacht -, ist der Versuch, sich weißer als weiß zu waschen. Es ist in meinen Augen Heuchelei. Sie wollen den Versuch starten, sich als besondere Gutmenschen herauszukehren und sich einen weißen Fuß zu machen. ({0}) Aber wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. In den letzten Tagen konnte ich entsprechende Aussagen von Herrn Kuhn lesen. Er sagt beispielsweise, dass sich die SPD der Energiekonzerne als Versorgungsinstitut bediene. Er macht damit den Versuch, ähnlich wie die PDS ({1}) - ich meine damit alles, was dazu gehört -, ({2}) eine Linie zwischen der hier zu diskutierenden Frage und dem Thema Hartz IV zu ziehen. Das ist gerade in der Rede der Kollegin von der PDS gemacht worden. Aber auch Herr Kuhn hat dies in den vergangenen Tagen getan. Auf der einen Seite werden Beschlüsse im Rahmen der Agenda 2010 und von Hartz IV genannt und auf der anderen Seite wird eine Verbindung zu den Einkommen von Aufsichtsräten hergestellt. ({3}) Das ist unterhalb eines erträglichen Niveaus, zumal Sie an den entsprechenden Beschlüssen beteiligt waren. Man muss sich wirklich die Augen reiben. ({4}) Was kritisieren Sie eigentlich? ({5}) - Das haben Sie eben nicht klar gemacht. - Sind es die Entscheidungen, die es in den letzten beiden Legislaturperioden zu energiepolitischen Fragen gegeben hat und die natürlich die in Rede stehenden Unternehmen berührt haben? Wenn das so ist, dann möchte ich Sie ausdrücklich daran erinnern, dass es nicht nur eine, sondern zwei Parteien gewesen sind, die die energiepolitischen Entscheidungen der letzten sieben Jahre getroffen haben, und dass Sie bei allen Entscheidungen dabei gewesen sind und sie in Ihrem Beisein stattgefunden haben. ({6}) Sie tun jetzt aber so, als ob Sie damit gar nichts mehr zu tun hätten. ({7}) Entweder Sie stehen zu Ihrer inhaltlichen Mitverantwortung in diesen Entscheidungen ({8}) oder es wird deutlich, dass Ihnen die Beteiligung an der Macht damals wichtiger war als die Befolgung Ihrer hehren Grundsätze, mit denen Sie uns heute konfrontieren. ({9}) Sie wollen angeblich eine moderne Wirtschaftspolitik machen, wie ich gelesen habe. Im Rahmen Ihrer Klausurtagung haben Sie versucht, dies deutlich zu machen. Auch die PDS spricht immer wieder davon. Aber ich habe den Eindruck, dass Sie manchmal in einem Weltbild zu Hause sind, das den Karikaturen der 50er- und 60er-Jahre entspricht, in denen der Unternehmer noch der fette Bonze mit der Melone auf dem Kopf gewesen ist. ({10}) Da waren Sie wirklich schon sehr viel weiter. Oder ist für Sie nicht die wirtschaftliche Tätigkeit an sich, sondern die Branche das Entscheidende? Wollen Sie jetzt festschreiben, was politisch korrekt ist und was nicht? Verleger zu werden, ist dann in Ordnung, weil man sich da zu den aktuellen Fragen der Weltpolitik äußern kann. Aber Mitglied im Aufsichtsrat von RWE zu werden, ist nicht in Ordnung. Wie stellen Sie sich das vor? Wonach wollen Sie das entscheiden? ({11}) Sie eignen sich nicht zu besonderen Saubermännern oder Sauberfrauen; das hat mein Kollege vorhin schon gesagt. Den Fall „Gunda Röstel“ will ich nicht vertiefen und auch über Herrn Volmer will ich nicht sprechen. Von der Politik in die Wirtschaft und umgekehrt zu wechseln, ist nichts Ehrenrühriges. Das können Sie auch durch diese Debatten nicht zu etwas Ehrenrührigem machen. Wenn wir uns diese Wechsel ständig gegenseitig vorhalten, wird uns allen das insgesamt mehr schaden, als dies vielleicht Einzelnen von Ihnen klar ist. Wir brauchen eine Debatte darüber - Herr Lange hat dies schon angesprochen -, wie wir einen möglichen Kodex ausformulieren, sodass er uns wirklich nach vorn bringt. Ich war in den letzten fünf Jahren Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Auf der europäischen Ebene gibt es eine Reihe von Erfahrungen mit einem solchen Kodex. Im Übrigen wird auf keiner anderen Ebene, zum Beispiel schon beim Amtsantritt der Herren und Damen Kommissare, so darauf geachtet, welche Aktivitäten in der Wirtschaft die Betreffenden vorweisen. Das bei den Aktiven - damit meine ich nicht nur die Minister, sondern auch die Abgeordneten - zu betrachten, ist eine Debatte, die sich zu führen lohnt und die wir an der einen oder anderen Stelle sicherlich noch vertiefen werden. Die Frage eines Kodexes werden wir ernsthaft miteinander zu besprechen haben. Lassen Sie uns aber aufhören, anhand von Einzelfällen Aktuelle Stunden zu beantragen und so zu tun, als ob man eine weißere Weste habe als andere. Das ist nicht der Fall. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Geis von der CDU/CSU-Fraktion.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Abgeordnete werden gewählt und Minister bzw. Staatssekretäre werden in ihr Amt bestellt und berufen, damit sie dem Gemeinwohl uneigennützig dienen. Dazu gehört, dass sie darauf achten, dass, wenn sie aus dem Amt ausscheiden, die Interessen ihres früheren Amtes nicht beschädigt werden. Wenn ein Minister bzw. ein Staatssekretär in eine lukrative Stellung in der Wirtschaft wechselt, dann ist dies nicht zu beanstanden. Das ist Konsens der hier Anwesenden. Das ist in den USA üblich. Es hat vielleicht auch einen Nutzen, wenn es einen stärkeren Wechsel zwischen Wirtschaft und Politik sowie Politik und Wirtschaft gibt - und wenn es nur der wäre, dass die Wirtschaftskapitäne nicht so arrogant über die Unfähigkeit der Politik reden würden, wie sie das manchmal tun, ({0}) wenn sie selber am eigenen Leib erfahren würden, wie das so im politischen Geschäft ist. Wenn aber ein Staatssekretär bzw. ein Minister in einen wirtschaftlichen Bereich wechselt, für den er in seinem Ressort zuvor unmittelbar Verantwortung getragen hat - das ist das Problem -, dann bekommt die Sache einen anderen Akzent. ({1}) Dann kann es so weit kommen, dass der Wechsel zu verneinen wäre, zumindest wenn nicht eine bestimmte Karenzzeit eingehalten wird. Noch viel schlimmer aber ist der Fall - den müssen wir uns auch vornehmen -, wenn ein Minister oder ein Staatssekretär in einen Wirtschaftszweig wechselt, für den er nicht nur Verantwortung getragen hat, sondern zu dessen Gunsten er Entscheidungen getroffen hat, die an sich durchaus rechtmäßig und nicht zu beanstanden gewesen sind. Wenn dieser Übergang dann ohne die Einhaltung einer vernünftigen Karenzzeit geschieht, bekommt er den Geruch der Unlauterkeit. Das muss man hier beachten. ({2}) Ich meine, dass es wichtig ist - da müssen wir ehrlich miteinander sein -, eine Grenzziehung zwischen wirtschaftlicher und politischer Betätigung vorzusehen und auch eine Regelung dessen, was zu geschehen hat, wenn jemand aus seinem Amt ausscheidet. Das muss diskutiert werden. Dies ist in der Rede von Herrn Schmidt, aber auch in den Beiträgen aller Redner in dieser Debatte deutlich geworden. Wir sind uns alle darin einig, dass Art. 12 Grundgesetz im Auge zu behalten ist. Einem Minister oder einem Staatssekretär kann nicht verboten werden, nach dem Ausscheiden aus seinem Amt eine berufliche Tätigkeit aufzunehmen. Es gibt aber gesetzliche Regelungen über das Verhalten nach dem Ausscheiden aus einem Amt. In § 6 Ministergesetz ist vorgesehen, dass ein Minister, der aus seinem Amt ausgeschieden ist, für eine bestimmte Zeit zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Darüber hinaus gibt es natürlich auch Regeln des Anstandes. Es geht nicht an, dass ein im Amt befindlicher Staatssekretär oder Minister nur noch darüber nachdenkt, wer ihn nach dem Amt aufnehmen könnte. Ein solcher Staatssekretär oder Minister kann nicht mehr nur dem Gemeinwohl dienen. ({3}) Nun stellt sich die Frage, wie wir damit umgehen. Herr Schmidt hat vorgeschlagen - dieser Vorschlag ist allgemein aufgenommen worden -, so etwas wie einen Ehrenkodex einzuführen. Ich halte das für sehr richtig. Wir können uns nicht auf ungeschriebene Regeln verlassen, sondern müssen uns, nachdem es in letzter Zeit immer häufiger zu solchen Vorfällen gekommen ist, über solche Regelungen Gedanken machen. Dabei würde ich nicht ganz ausschließen, auch über eine gesetzliche Regelung nachzudenken. Ich meine keine strafrechtliche Regelung, aber beispielsweise eine Ergänzung des Ministergesetzes, wie es in der Wissenschaft bereits diskutiert wird. Danach hat ein ausscheidender Minister bzw. ein ausscheidender Staatssekretär eine gewisse Karenzzeit einzuhalten, wenn zu befürchten ist, dass er in seiner neuen Betätigung die Interessen seines alten Amtes beschädigt. Diese Regelung ist vorhin schon aufgezeigt worden; sie gilt für Beamte, Richter und Generäle. Die Regelung müsste nicht denselben zeitlichen Umfang beinhalten. Aber ich denke, dass über eine gesetzlich geregelte Karenzzeit nachgedacht werden müsste. Die Demokratie, die auf die Zustimmung der Bevölkerung angewiesen ist, sollte keinen Schaden nehmen. Deswegen müssen die Spitzenrepräsentanten der Demokratie immer darauf achten, dass ihr Verhalten nach dem Ausscheiden aus dem Amt akzeptabel ist und dass sie dem Amt, das sie ausgeübt haben, Ehre machen. Danke schön. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Klaas Hübner von der SPD-Fraktion.

Klaas Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003559, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Diskussion ist heute unter einem sehr polemischen Titel von den Grünen aufgesetzt worden. Es ging Ihnen offensichtlich - zumindest bei der Titelfindung nicht darum, generell darüber zu reden, welche Kodizes vielleicht für ehemalige Regierungsmitglieder angebracht wären, sondern Sie haben einen konkreten Fall - Wolfgang Clement - zum Anlass genommen und versucht, Herrn Clement zu diskreditieren. ({0}) Wolfgang Clement zu unterstellen, dass er seine Entscheidungen als Wirtschaftsminister in Bezug auf eine spätere Aufsichtsratstätigkeit bei RWE getroffen hat, oder das auch nur zu suggerieren, ist unglaublich und entbehrt jeder Grundlage. ({1}) Sie müssen sehen, dass viele Gesetzeswerke, die gerade für die Energiewirtschaft wichtig gewesen sind, unter der Federführung des damaligen Umweltministers Jürgen Trittin verabschiedet worden sind. Auch wenn manche Entscheidung in der alten Regierungskoalition strittig war: Es ist mir nicht bekannt, dass Jürgen Trittin wütend das Kabinett verlassen hätte, um dadurch seinem Protest Ausdruck zu verleihen. Viele Gesetzesvorhaben kommen aus Ihrem Hause. ({2}) Jetzt Wolfgang Clement dafür in Haftung nehmen zu wollen, halte ich für ein starkes Stück. Außerdem dürfen Sie eines nicht vergessen: Bei RWE ist Wolfgang Clement zum so genannten neutralen Mitglied im Aufsichtsrat gewählt worden. ({3}) Das entspricht dem Montan-Mitbestimmungsgesetz. Dort ist vorgesehen, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Aufsichtsrat paritätisch vertreten sind. Um aber eine Entscheidungsfähigkeit in diesem Gremium jederzeit sicherzustellen, hat man sich als Gesetzgeber darauf festgelegt, einen neutralen Mann zu bestimmen. Wolfgang Clement ist von Arbeitgebern und Arbeitnehmern einstimmig in diesen Aufsichtsrat gewählt worden. Das spricht nicht gegen Wolfgang Clement, sondern das spricht für die Person Wolfgang Clements. ({4}) Einen ähnlichen Fall sehe ich bei Werner Müller. Werner Müller kam aus einem ähnlich gearteten Großunternehmen der Privatwirtschaft, ehe er in das Kabinett eingetreten ist. Er war nur vier Jahre Mitglied des Kabinetts. Ich glaube, wir würden uns keinen Gefallen tun, wenn wir solchen Kabinettsmitgliedern, die aus der Wirtschaft kommen, den Weg zurück zu ihrem ursprünglichen Beruf verbauen würden. Wenn wir schon eine Diskussion über Kodizes führen wollen, dann lassen Sie uns darüber reden, unter welchen Rahmenbedingungen wir diese führen wollen. Ich bin für eine ergebnisoffene Diskussion an dieser Stelle. Sie muss aber unter bestimmten Prämissen geführt werden. Es muss klar sein, dass Gesellschaft und Politik und auch Politik und Gesellschaft immer verwoben sein werden und auch verwoben bleiben sollen. Es muss klar sein, dass auch ein eventuell mehrfacher Wechsel zwischen gesellschaftlichen Funktionen und politischen Funktionen gleich welcher Art nicht nur machbar, sondern in unseren Augen sogar wünschenswert ist. ({5}) Das ist die eine Prämisse. Die zweite Prämisse ist: Wir müssen darauf achten, dass wir nicht de facto bestimmte Berufsgruppen von der Übernahme von Regierungsämtern ausschließen. ({6}) Wenn wir jemandem, der zum Beispiel Wirtschaftsminister geworden ist, verbieten würden - und sei es auch nur für wenige Jahre -, später in einem Bereich tätig zu werden, mit dem er sich als Wirtschaftsminister beschäftigt hat, entspräche das de facto einem Berufsverbot für fast alle Bereiche, weil ein Wirtschaftsminister natürlich Einfluss auf fast alle gesellschaftliche Bereiche hat. Das kann nicht in unserem Sinne sein. So wird es auch schwierig sein, Menschen aus der Wirtschaft, aus der Gesellschaft für das Parlament zu gewinnen. Ich denke, auch das muss eine Grundprämisse sein. ({7}) - Kollege Koppelin, weil Sie einen Zwischenruf gemacht haben: Sie erzählten, wenn der Kollege Schmidt Wirtschaftsminister werden würde, träten der ehemalige Kanzler Schröder oder der ehemalige Wirtschaftsminister Müller bei ihm auf. ({8}) Ich persönlich glaube - das gilt auch für den Kollegen Schmidt -, dass sich kein Minister davon übermäßig beeindrucken lässt, sondern sich seiner Position als amtierender Minister bewusst ist. Ich weiß nicht, wie es zu Ihren Zeiten gewesen ist. Wir haben ein anderes Selbstverständnis von unseren Ministerinnen und Ministern. ({9}) - Das ist so. Wir müssen trotzdem Missbräuchen vorbeugen. Das ist keine Frage. Ich glaube, dass solche Dinge immer nur im Einzelfall zu klären sind. Der Kollege Schmidt hat darauf hingewiesen. Es ist relativ schwierig, einen sehr engen allgemeinen Rahmen für einen Ehrenkodex zu stecken. Es muss ein weiter Rahmen sein, weil die Biografien sehr unterschiedlich sind. Ich bin offen für eine ergebnisoffene Diskussion. Meine Fraktion ist es auch. Es kann aber auch sein - auch das heißt Ergebnisoffenheit -, dass wir nachher zu dem Schluss kommen, dass ein Kodex - gleich welcher Art - eine derartige Beschränkung bedeuten würde, dass man bestimmte Berufsgruppen von Regierungsämtern ausschließt. Das kann nicht das Ziel sein. Da müsste man andere Mittel suchen und vielleicht über einen Ombudsmann oder Ombudsrat nachdenken. Ich denke, diese Diskussion sollten wir führen. Meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Sie mutig gewesen wären, hätten Sie hier einen entsprechenden Entschließungsantrag eingebracht ({10}) und nicht diese polemische Debatte begonnen. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin erst seit dem Jahre 2002 im Bundestag, aber zu diesem Thema habe ich offensichtlich bereits alle Gefechtslagen erleben dürfen. Ich habe in unterschiedlicher Zusammensetzung und Abfolge schon alles gehört und mich auch an solchen Debatten beteiligen dürfen. In der Tat: Dieses Thema eignet sich hervorragend für Populismus. Aber ich warne davor, den Populismus bei diesem Thema auszuleben, weil wir am Schluss alle nur Verlierer sein werden. Herr Loske, ich will Folgendes ansprechen: In der Debatte am 10. April 2003 - Kollege Koppelin hat sie bereits erwähnt; auch ich habe diese Passage des Protokolls herausgesucht, da ich mitdebattiert hatte -, in der es um den Wirtschaftsminister Müller ging, hat die von mir persönlich sehr geschätzte Kollegin Hustedt gesagt, diese Debatte sei hochgradig scheinheilig. Weiter sagte sie: „Einen Anlass für eine Aktuelle Stunde bietet das Ganze in keinem Fall.“ Auch, Herr Berninger, auf die Anfrage der FDP 2004, als es um Herrn Tacke und um andere Fragen ging, hat die Regierung - damals waren auch Sie mit von der Partie - geantwortet, dass dienstliche Interessen keinesfalls beeinträchtigt werden. Es gibt im Übrigen schon heute Regelungen - es ist angeklungen, Regeln zu fordern gerade für Beamte, Ruhestandsbeamte bzw. frühere Beamte, dass sie nach bestimmten Bedingungen Beschäftigungen außerhalb des öffentlichen Dienstes nach drei bzw. fünf Jahren anzeigen müssen, wenn diese im Zusammenhang mit der früheren dienstlichen Tätigkeit stehen. Beim Verdacht der Vorteilsannahme kann diese neue Tätigkeit bis zu fünf Jahre untersagt werden. Gerade dieses wurde von Ihnen im Jahr 2004 für Herrn Tacke nicht getan. Herr Berninger, heute haben Sie das etwas anders dargestellt. Auch der Ehrenkodex, Herr Loske, wurde damals - in diesem Zusammenhang muss man schon sagen: Ehre, wem Ehre gebührt! - von der FDP gefordert und dann von Ihnen in der Debatte und schriftlich auf Anfrage von der Regierung abgelehnt. Ich habe das hier vorliegen. ({0}) - Ja. - Ich will hier nicht als Scharfmacher weder in die eine noch in die andere Richtung auftreten. Ich will wirklich nur davor warnen, dieses Thema zum Populismus zu nutzen, weil wir dann alle Verlierer werden würden. ({1}) Wir denken an neue gesetzliche Regelungen. Ich weiß nicht, ob das der richtige Weg ist. Jeder - auch das ist heute angeklungen - ist für seinen Ruf verantwortlich. Es ist eine Frage der Sensibilität, ob und wann ich politisches oder sonstiges Insiderwissen in bare Münze umwandele. Das Beispiel des Altbundeskanzlers ist sicher kein rühmliches. Wenn ich sechs Tage vor der Wahl noch einen Vertrag mit weitreichenden Auswirkungen nicht nur für das Land, sondern auch für eine bestimmte Branche unterzeichne und dann kaum 60 Tage nach Unterzeichnung dieses Vertrages in den Aufsichtsrat des betroffenen Unternehmens gehe, dann ist das für mich eindeutig zu kurz für eine Cooling-off-Phase, wie es im angelsächsischen Bereich heißt, oder eine Karenzzeit, wie sie heute angesprochen wurde, oder auch für eine politische Schamfrist. Aber das muss jeder Einzelne selber wissen. Wir können solche Dinge nicht abschließend gesetzlich regeln. Das zeigt sich in einem anderen Fall, in dem wir selber betroffen sind und in guter Absicht gehandelt haben. Aber gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Wenn wir nämlich wirklich der Meinung sind - das ist zumindest meine Meinung -, dass Politik kein Beruf ist, sondern eine Berufung auf Zeit, dann bedeutet dies, dass man vor seiner politischen Tätigkeit seine Berufsbefähigung außerhalb der Politik erhalten soll und muss, um dann das von Herrn Kollegen Loske eingeforderte freie und unabhängige Abgeordnetendasein zu führen. Wir werden auch hinsichtlich der Umsetzung der Verhaltensregeln, die wir uns selber gegeben haben - jetzt können wir sehen, mit welchen Abgrenzungsschwierigkeiten diese verbunden sind -, aufpassen müssen, dass wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. ({2}) Insofern denke ich, wir sollten diese Art von Debatten in Zukunft nicht in schöner Regelmäßigkeit wiederholen, sondern uns überlegen, wie wir den schmalen Grat, auf dem wir uns zweifelsohne bewegen, auf kluge Art und Weise begehen. Wie in dem genannten Dreiklang angedeutet, sollten wir Regierungsmitglieder, also unsere politische Spitze, sicherlich anders behandeln als die Mitglieder des Parlaments und Beamte. Nun müssen wir uns überlegen, wie wir mit dieser Dreiteilung umgehen. Ich halte es für überflüssig, auf den Gebieten, die bereits geregelt sind, neue Regelungen zu schaffen. Auch die Einführung eines die Regierung selbst verpflichtenden Ehrenkodexes - oder wie immer man das Kind nennen will - wäre sinnvoll. Wenn man Politik als Berufung auf Zeit versteht, werden wir uns mit Sicherheit schneller als uns lieb ist wieder mit der Frage befassen müssen, was wir Abgeordnete unter unserem freien und unabhängigen Mandat verstehen und wie wir mit ihm umgehen. Deshalb mahne ich in diesem Zusammenhang zu Besonnenheit und rate insbesondere bei diesem Thema von Populismus ab, sowohl heute als auch in Zukunft. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Tabillion von der SPD-Fraktion.

Dr. Rainer Tabillion (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003852, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Beginn meiner Ausführungen und am Ende dieser Aktuellen Stunde möchte ich auf unser oberstes Ziel hinweisen, dem wir uns in dieser Legislaturperiode verpflichtet haben: Unsere Kernaufgabe ist es, Deutschland wirtschaftlich wieder nach vorne zu bringen. Unser Land gehört an die Spitze, nicht nur, wenn es um seine Außenwirtschaft geht, sondern auch, was sein Innenverhältnis betrifft. Diesem Ziel sollten wir alles andere unterordnen. Unsere Devise lautet: Handlungsfähigkeit und Mut. Die Leute haben bemerkt, dass die große Koalition diese Devise praktiziert. Das finden sie gut. Weniger gut finden sie allerdings, wenn immer wieder Sand ins Getriebe gestreut wird. Leider muss ich sagen: Ich glaube, das ist die eigentliche Motivation, aus der das Bündnis 90/Die Grünen schon zum zweiten Mal in diesem Jahr eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt hat. ({0}) Über manche Kriterien muss man in der Tat reden. Aber ich unterstelle Ihnen, dass dies nicht der Anlass für Sie war, diese Aktuelle Stunde zu beantragen. Ihr Denken ist rückwärts gewandt. Sie sollten lieber positive Vorschläge machen, wie wir die Wirtschaft in Deutschland stärken können. Das werden die Leute dann auch gut finden. ({1}) Da es darum geht, für den wirtschaftlichen Aufschwung unseres Landes zu sorgen, sollten wir auf niemanden verzichten, der bereit ist, zu helfen. Erst recht sollten wir auf niemanden verzichten, der einmal eine wichtige Funktion in der Politik hatte. Wir sollten jedem, der sich einbringen will und der etwas zu bieten hat, ermöglichen, sich zu engagieren, ob es sich nun um einen ehemaligen Politiker handelt oder nicht. Mir ist es lieber, wenn ein ehemaliger Minister etwas Sinnvolles für unsere Gesellschaft oder die Unternehmen in Deutschland tut, als wenn er zuhause seine Staatspension verfrühstückt. Aktives Verhalten ist mir viel lieber als Passivität. ({2}) Deshalb will ich eine ganz klare Sprache sprechen: Das Engagement von Wolfgang Clement finde ich in Ordnung. Bereits zu Beginn der 90er-Jahre war er Mitglied des Aufsichtsrats von RWE Power. Dieses Unternehmen ist für unser Land wichtig. ({3}) Es verfügt über hohe technologische Kompetenz und beschäftigt 18 000 Arbeitnehmer. Das darf man nicht vernachlässigen, es sei denn, man verfolgt eine Deindustrialisierungsstrategie, wie sie zu Beginn dieser Debatte angeklungen ist. Wenn dem so wäre, fände ich das schlimm. ({4}) Wenn Herr Clement als neutraler Mann einen Beitrag dazu leisten kann, dass dieses Unternehmen im Interesse seiner 18 000 Beschäftigten und im Interesse unseres gesamten Landes Erfolg hat, dann ist dies unser gemeinsamer Erfolg. So muss man das sehen. Wenn es bei RWE Power gut läuft, ist das nicht nur ein Erfolg für einige wenige Aktionäre, sondern ein Erfolg für unsere gesamte Wirtschaft. Ich unterstelle Herrn Clement, dass er genau das will. Eines möchte ich noch betonen: Wenn in diesem Unternehmen Leute aus der Region tätig sind, ist das mit Sicherheit besser, als wenn jemand von irgendwoher angeflogen kommt und dann im Aufsichtsrat über das Schicksal von Beschäftigten entscheidet, mit denen er im Grunde gar nichts zu tun hat. Also: In den Unternehmen sollten Leute tätig sein, denen die Region auch etwas bedeutet. Genau das ist hier der Fall. ({5}) Wirtschaftliche Erfolgsmodelle - darauf hat der Kollege Kampeter hingewiesen - bauen oft auf Partnerschaft auf. Man kann nicht wirtschaftlichen Erfolg wollen und dann solche Stellungskriege führen. Wir müssen an einem Strang ziehen - ob Arbeitnehmer, Gewerkschaften, Wirtschaft oder Politik -, anstatt einander zu bekämpfen bzw. auszugrenzen, indem man das Engagement der einen gutheißt, das der anderen hingegen nicht. Insofern glaube ich, dass wir dem, was Bündnis 90/Die Grünen vorschlagen, nicht folgen sollten. Im Gegenteil, wir sollten froh sein, wenn es einen guten Austausch zwischen der Politik und der Wirtschaft gibt; wir sollten diesen sogar fördern. Es liegen, das ist hier angedeutet worden, gute Vorschläge auf dem Tisch, zum Beispiel um einen Kodex aufzustellen, wie sich Politiker, die als solche ausscheiden, verhalten sollen. Das ist alles in Ordnung; darüber kann man reden. Aber ich bin der Auffassung, man sollte nicht mit typisch deutscher Gründlichkeit Hürden aufbauen, die uns bei unserem Oberziel - die Wirtschaft voranzubringen - im Wege stehen. Wenn ich Vorschläge von der FDP höre, Leute, die politische Funktionen innehatten, für fünf Jahre sozusagen aufs Trockendock zu setzen, dann muss ich sagen: Das finde ich lächerlich, das muss man verhindern; denn das schadet der Gesamtheit. Wir müssen also ergebnisorientiert darüber reden. Aber wir müssen auch den Mut aufbringen, nicht jedem populistischen Unsinn das Wort zu reden. Ich hoffe und glaube, diese große Koalition hat dazu die Kraft. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Tabillion, im Namen des Hauses gratuliere ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag herzlich. ({0}) Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Reinhard Loske, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für eine sichere Energieversorgung im 21. Jahrhundert - Energieeinsparung und erneuerbare Energien statt Öl, Atom und Kohle - Drucksache 16/579 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJosef Fell, Cornelia Behm, Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Biokraftstoffe intelligent fördern - Steuerbegünstigung erhalten - Drucksache 16/583 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Hans-Josef Fell, Bündnis 90/ Die Grünen. Bitte schön, Herr Fell. ({3})

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Gaskrise am Anfang dieses Jahres hat viele wachgerüttelt. Sie hat die politischen Abhängigkeiten in unserer Energieversorgung aufgezeigt und sie hat die Ressourcenfrage in den Mittelpunkt gestellt. Diese Krise ist noch nicht beendet: Wer heute nach Italien schaut, sieht, dass dort eine Erdgasverknappung vorherrscht; auch die Tatsache, dass die Produktion in Großbritannien rückläufig ist, zeigt, dass der Energieträger Erdgas knapp ist. Die Ölpreise sind unverändert hoch, auf einem Stand, den wir noch vor wenigen Jahren als das Ende der Wirtschaft bezeichnet hätten. Dass dies die Volkswirtschaft belastet, ist unbestritten. Auch beim Öl steht die Verknappung im Mittelpunkt. Das Erdölgeologen-Netzwerk „The Association for the Study of Peak Oil and Gas“ warnt die Welt seit Jahren vor dem Ausschöpfen des Fördermaximums. Wahrscheinlich stehen wir unmittelbar davor. Doch viel zu wenige in der Wirtschaft und in der Politik nehmen dies wahr. Was sind die Antworten der Politik? Schauen wir uns die SPD an. Dort heißt es oft: Verstärkt auf Kohle setzen. Ich will jetzt nicht die Debatte von vorhin wiederholen, aber zumindest deutlich sagen: Kohle ist die schmutzigste Energieform, sie ist klimaschädlich und zerstört die Heimat; denken Sie nur an die Braunkohle und sehen Sie sich an, wie viele Dörfer verschwunden sind. Dies kann keine Antwort sein. ({0}) Wenn wir zur Union schauen, so erkennen wir die Forderungen: Laufzeitverlängerung für Atomenergie und Ministerpräsident Koch in Hessen tritt sogar für den Neubau von Atomkraftwerken ein. Auch das sind keine Antworten. Die Atomenergie deckt heute nur einen geringen Teil des Energiebedarfs in Deutschland, nämlich weniger als 6 Prozent. ({1}) Der Anteil der erneuerbaren Energien ist heute schon größer und er wächst weiter. ({2}) - Gemessen am Energieverbrauch ist das sehr wohl richtig. Die Ausbauwünsche der Branche sind so groß, dass erneuerbare Energien die Atomenergie mit Leichtigkeit ersetzen könnten. Jeder Wunsch, die Laufzeit der Atomkraftwerke zu verlängern, bedeutet keine Brücke ins Solarzeitalter, wie manche sagen, sondern eine Mauer zwischen dem Jetzt und dem Solarzeitalter. Dies müssen wir deutlich zur Kenntnis nehmen. Das behindert den Ausbau erneuerbarer Energien und Einsparungen. ({3}) Schlimmer noch: Die Atomenergie hat auch noch andere Probleme. Ich habe Herrn Bosbach heute Vormittag im Deutschlandfunk gehört. Er hat eine erhöhte Sicherheitsgefahr in Deutschland festgestellt und vorgeschlagen, die Bundeswehr zum Schutze der gefährdeten Atomkraftwerke einzusetzen. Ich fordere Sie auf, aufgrund der erhöhten terroristischen Bedrohung endlich ein Sicherheitskonzept für den Schutz der Atomkraftwerke vorzulegen, statt eine Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke zu fordern, durch die dieses Problem noch verschärft wird. ({4}) Wir sollten aber nicht nur auf die innere Sicherheit schauen, auch die äußere Sicherheit ist höchst gefährdet. Wir alle schauen mit Entsetzen in den Iran, der als einzige Begründung dafür, Atomkraftwerke in Betrieb nehmen zu wollen, anführt, er habe zu wenig Energie. Das sagt ausgerechnet der Iran, der reich an Sonnenschein, Wind und auch fossilen Kraftstoffen und Rohstoffen ist. Nein, ein Aufbau der Plutoniumwirtschaft im Iran - seit heute gibt es übrigens neue Töne aus der Türkei und der Ukraine in die gleiche Richtung - bedeutet einen Aufbau der Atombomben in dieser Welt und nicht einen Aufbau der Atomkraftwerke. Wer Atomkraftwerke will, der wird Atombomben ernten. Dies müssen wir ernst nehmen. Ich wundere mich, warum Kanzlerin Merkel im Iran nicht die deutsche Exportwirtschaft und unseren Exportschlager erneuerbare Energien, sondern stattdessen die Atomkraftwerke anpreist. Wahrscheinlich ist ihr Innovationsberater von Pierer - wir kennen seine Abhängigkeit vom Siemenskonzern, dem einzigen Atomkonzern in Deutschland - der Hintergrund für dieses Verhalten. Das ist ein ungeheuerlicher Verdacht und ich möchte, dass er ausgeräumt wird. Die Lösung ist doch klar! Wir haben ein riesiges Potenzial an Einspartechnologien und an erneuerbaren Energien: Sonne, Wind, Wasser, Biomasse, Erdwärme und auch Meeresenergie. Der Ausbau all dessen kann in hoher Geschwindigkeit vorangebracht werden. Die von Rot-Grün auf den Weg gebrachte erfolgreiche Ausbaupolitik für erneuerbaren Energien ist grandios. Gerade heute konnten wir feststellen, dass wir die Arbeitsplatzpotenziale bisher unterschätzt haben. Bisher dachten wir, 2004 seien 130 000 Arbeitsplätze dadurch gesichert gewesen. Nein, das Umweltministerium hat diese Zahl für uns neu berechnet: Es sind bereits 160 000 Arbeitsplätze in dieser Branche. 8,7 Milliarden Euro werden in diesem Jahr neu in die Branche der erneuerbaren Energien investiert. Das ist ein starker Wirtschaftszweig, was wir ja auch wollen. Wie sieht es in der großen Koalition aus? Wenn man gut darüber reden will, dann kann man sagen, dass dort Stillstand herrscht, wenn man es aber realistisch betrachtet, dann muss man von Rückschritt sprechen. Einsam und verlassen kämpft Umweltminister Gabriel im Kabinett für erneuerbare Energien. Ich höre von keinem anderen Minister eine starke Unterstützung. ({5}) Stattdessen fordert unser Finanzminister die Abschaffung der Steuerbefreiung für Biokraftstoffe. - Herr Präsident, ich hatte fünf Minuten Zeit.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ja, Sie haben auch fünf Minuten bekommen. Sie reden jetzt seit sechs Minuten.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vorhin standen vier Minuten dort.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, nein. ({0}) Entschuldigen Sie, Herr Kollege Fell. Die Uhr war bei fünf Minuten gestartet.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Okay, ich komme zum Schluss. - Es ist klar: Durch diese Vorschläge des Finanzministers wird es bei der Kraft-Wärme-Kopplung auf jeden Fall zu einem großen Problem kommen. Wir brauchen die Steuerbefreiung, denn sie dient der Energieeinsparung und hält Mischkraftstoffe mit höherem Biokraftstoffanteil wie E-85 sowie reine Biokraftstoffe wie Pflanzenöl am Markt. Wir sollten uns ein Beispiel an Schweden nehmen, das bis 2020 vollständig aus der Erdölnutzung aussteigen will. Stattdessen schlägt uns der Finanzminister eine Maßnahme vor, die den Ausbau der reinen Biokraftstoffe in Deutschland beenden würde. Dies kann nicht unser Ziel sein. Deshalb lehnen wir es ab. Wir wünschen uns einen stärkeren Ausbau und fordern die große Koalition auf, diesen von Rot-Grün eingeschlagenen Weg forciert fortzusetzen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Philipp Mißfelder von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Fell, Sie haben gerade in unnachahmlicher Weise Ihre ehemalige rot-grüne Ideologie in der Energie- und Umweltpolitik vertreten. ({0}) Ich finde das nicht richtig. Herr Gabriel muss sich keine Sorgen machen, alleine dazustehen. Wir von der CDU/ CSU-Fraktion unterstützen ihn tatkräftig. ({1}) Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag, der weder dem richtigen Ziel einer sicheren Energieversorgung im 21. Jahrhundert gerecht wird, noch den Klimaschutz im globalen Maßstab berücksichtigt. Die Menschen in unserem Land wollen keine Klientelpolitik, sondern Realitätssinn und erreichbare Ziele. ({2}) So war es der Wählerwille, dass Bündnis 90/Die Grünen nach sieben Jahren ideologiebeladener Umweltpolitik seit Herbst des vergangenen Jahres auf der Oppositionsbank sitzt und im Übrigen auch die kleinste Fraktion in diesem Hause geworden ist. ({3}) In Ihrem heutigen Antrag fordern Sie, für die deutsche Energieversorgung zukünftig auf sämtliche fossilen Energieträger zu verzichten, um sie vollständig durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Für diese wirklich fundamentale Umstellung sehen Sie nur wenige Jahrzehnte vor. Dabei ignorieren Sie wissentlich die natürlichen und ökonomischen Schranken, die einer so weit gehenden Nutzung von erneuerbaren Energien gesetzt sind. Das Bundesumweltministerium hat in einer aktuellen Studie, die Mitte Januar durch den Minister vorgestellt wurde, darauf hingewiesen, dass der Ausbau erneuerbarer Energien bei etwa 25 Prozent des Gesamtenergievolumens erschöpft sein dürfte. Der Grund ist vor allem der, dass das vorhandene Energiepotenzial besonders durch Standortfaktoren, aber auch ökonomisch begrenzt ist. ({4}) Ich nenne Ihnen in diesem Zusammenhang zwei Beispiele. Die einzige regenerative Energiequelle, mit der sich große Strommengen erzeugen lassen könnten, sind riesige Offshorewindparks. Diese erfordern angesichts technischer Probleme bei Errichtung und Wartung enorme Investitionen. Nur der Kapitalmarkt wird in der Lage sein, diese Investitionen zu tätigen, niemals jedoch die öffentliche Hand. ({5}) Ob diese Milliardeninvestitionen vom Kapitalmarkt aber getätigt werden, ist völlig offen. Ich halte es angesichts der daraus folgenden Energiepreise für absolut unrealistisch, davon auszugehen. ({6}) Gleiches gilt für die Solarenergie, deren Zukunftspotenzial bei weitem noch nicht erschöpft ist. Doch auch bei diesem wichtigen Energieträger der Zukunft muss klar sein, dass die Wirtschaftlichkeit einen höheren Stellenwert hat als unrentable Dauersubventionen. ({7}) Gerade die aktuelle Entwicklung in den Vereinigten Staaten von Amerika und insbesondere in Kalifornien zeigt, dass Solarenergie ein wichtiger Faktor werden kann. Aber die natürlichen Gegebenheiten gerade hier in Deutschland machen deutlich, dass diese Möglichkeiten bei uns sehr stark eingeschränkt sind. Dennoch gebe ich zu: Das Entwicklungspotenzial ist bei weitem nicht ausgereizt. Deswegen ist Energieforschung in diesem Bereich sicherlich wichtig. ({8}) Unsere Energiepolitik ist dem Wachstumsziel und dem ökologischen Grundgedanken gleichermaßen verpflichtet. Allerdings müssen auch Sie zur Kenntnis nehmen, dass energiepolitische Alleingänge auf globalen Märkten absolut sinnlos sind. Die Folgen führen zu Wettbewerbsverzerrungen, unter denen letztendlich die Verbraucher und die deutsche Wirtschaft zu leiden haben. Ohne auf dieses Thema näher eingehen zu wollen, zitiere ich hier nur den für Energiefragen zuständigen Staatssekretär im niederländischen Wirtschaftsministerium, Pieter van Geel: Wir haben festgestellt, dass wir in den nächsten zehn Jahren mindestens vier bis fünf neue Kraftwerke brauchen. Das können Kohle- und Kernkraftwerke sein. Am besten aber ein Mix aus beiden. Ich möchte das hier aus koalitionspolitischen Gründen gar nicht weiter kommentieren. ({9}) Aber festzustellen ist, dass in unserer unmittelbaren Nachbarschaft Energiepolitik mit einem vollkommen anderen Ansatz betrieben wird. Energiepolitik hat heute eine europapolitische und eine globale Perspektive. Angesichts des Klimawandels, aber auch wegen der Abhängigkeit von importierten Energieträgern müssen neue Formen der Energieerzeugung gefunden werden. Wir gehen diese Aufgaben aber mit großer Nüchternheit und ohne jegliche Ideologie an. ({10}) Denn alles, was wir auf diesem Gebiet planen, muss in technischer und finanzieller Hinsicht realisierbar sein. ({11}) Es liegt doch - politischer Wille hin oder her - in der Natur der Sache, dass die Stromerzeugung auch physikalischen Gesetzen folgt. Politische Theorien einer vermeintlich besseren Welt haben die Naturgesetze bisher noch nicht aushebeln können. ({12}) Dem richtigen Ziel, dem Klimaschutz zu dienen, wird es nicht gerecht, wenn die Akzeptanz von erneuerbaren Energien in weiten Teilen der Bevölkerung dauerhaft beschädigt wird. Damit ist niemandem geholfen, dem Klima am allerwenigsten. Ökosteuer, Einspeisungsverordnungen, Fördergelder oder Konzessionsabgaben klingen den Menschen tagtäglich unangenehm in den Ohren. Darüber hinaus sind viele Steuerungsinstrumente in diesem Zusammenhang ordnungspolitisch absolut falsch. ({13}) Die Bundesregierung und die große Koalition haben sich zum Ziel gesetzt, die Zukunft der Energiepolitik offensiv anzugehen. Das gilt auch - Sie mögen es kaum glauben - für die erneuerbaren Energien. Das hat der Bundeswirtschaftsminister, Herr Glos, ({14}) übrigens anlässlich der „Handelsblatt“-Tagung für Energiewirtschaft am 17. Januar 2006 in Berlin bereits deutlich gemacht: Wir müssen die erneuerbaren Energien weiter fördern, aber mit geschärftem Blick für ihre Wirtschaftlichkeit. Genau diese Auffassung vertreten wir in dem Zusammenhang. ({15}) Ich möchte in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, dass die heutige Bundeskanzlerin Angela Merkel seinerzeit als Bundesumweltministerin die Kiotobeschlüsse maßgeblich mitgeprägt hat. In dieser Kontinuität sehen wir uns, nicht aber in Aussagen, wie sie sich in Ihrem Antrag finden: zum Beispiel Braunund Steinkohle seien „keine Energieträger der Zukunft“ oder Biomasse könne ein „Ersatz für die Grundlast der abzuschaltenden Atomkraftwerke“ sein. Ich frage Sie: Wie wollen Sie eine dicht besiedelte und hoch entwickelte Industrienation wie Deutschland in der Grundlast mit Biomasse versorgen? Das wird nicht funktionieren. ({16}) Sie haben so etwas in Ihrem Antrag ausführlich beschrieben. Es kann jeder nachlesen, welche Meinung Sie in diesen Punkten vertreten. Die Koalition verfolgt einen konsequenten Kurs des Klimaschutzes und der Energieforschung, was gerade vor dem Hintergrund eines zunehmenden Energiehungers einer wachsenden Weltbevölkerung von existenzieller Bedeutung ist. Ein ausgewogener Energiemix ist dabei die Voraussetzung für Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit und damit auch für niedrige Strompreise. ({17}) Es ist bekannt, dass Deutschland als rohstoffarme Industrienation auf den Import von Energieträgern angewiesen ist. Gerade dies erfordert jedoch eine langfristige, vorausschauende und - das möchte ich gerade angesichts des vorliegenden Antrags betonen - eine realistische Energiepolitik. ({18}) Dem hat die Koalition sowohl im Koalitionsvertrag als auch in den Beschlüssen der ersten Wochen Rechnung getragen. Wir werden die Ausgaben für die Energieforschung schrittweise erhöhen, damit Deutschland an der Weltspitze bleibt. Dabei kann das emissionsfreie Kohlekraftwerk ein Modell der Zukunft sein; denn gerade mit der heimischen Kohle stehen uns von Importen unabhängige Energieträger zur Verfügung, die zudem - wie wir bei der Braunkohle sehen - keinerlei Subventionen bedürfen. Wir sind aber auch auf dem Gebiet der Energieeffizienz tätig. So haben wir mit dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm ein Instrument geschaffen, das auch in ordnungspolitischer Hinsicht sinnvoll ist. Um es kurz und knapp zu sagen: Unserer Meinung nach ist Ihr Antrag gänzlich falsch. Wir halten am Energiemix, den wir für richtig halten, fest. Vielen Dank. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Mißfelder, ich gratuliere auch Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Gudrun Kopp von der FDP-Fraktion. ({1})

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Die sichere Versorgung mit umweltfreundlich erzeugter und preisgünstiger Energie stellt für die FDPFraktion das Lebenselixier einer jeden modernen Volkswirtschaft dar. Das sei vorweg bemerkt. Im vorliegenden Antrag wird zu Recht festgestellt, dass Energieeinsparung und Effizienzsteigerung notwendig sind. Wir müssen durch eine Anschubfinanzierung - nicht als Dauersubvention - auch die erneuerbaren Energien fördern. All das ist richtig. Nach unserer Überzeugung gehören aber zu einem vernünftigen Energiemix auch die fossilen Energieträger, wie Öl, Braunkohle und Importsteinkohle. Diese müssen natürlich in effizienten Kraftwerken genutzt werden. Derzeit sind wir in starkem Maße von Energieimporten abhängig und wir werden das auch in Zukunft sein. In Ihren Anträgen fehlt aber völlig der Hinweis auf die Notwendigkeit eines breiten Energiemixes, der ausdrücklich die Nutzung der Kernenergie einschließt. ({0}) Wir werden eine sichere, klimaschutzorientierte und preisgünstige Energieversorgung in Deutschland nicht zustande bringen, wenn wir die Laufzeiten unserer Kernkraftwerke nicht verlängern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Kopp, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Tauss, bitte.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kollegin, da Sie hier versuchen, die Mär von der preiswerten Kernenergie einmal mehr in den Mittelpunkt Ihrer Betrachtungen zu stellen, möchte ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass beispielsweise in BadenWürttemberg, dem Bundesland mit dem höchsten Anteil an Kernenergie, nicht nur die Förderung der regenerativen Energien am geringsten ist, sondern auch die Strompreise bundesweit am höchsten sind? Ist Ihnen des Weiteren bekannt, dass wir aus unserem knappen Forschungsetat, dessen Mittel wir dringend für Zukunftsforschung brauchen, wieder 500 Millionen Euro für die Beseitigung von Altlasten aus Kernkraftwerken allein in meiner Region herauslösen müssen? Wollen Sie unter diesen Gesichtspunkten Ihre Behauptung ernsthaft aufrechterhalten, die Kernkraft könne einen Beitrag zu einem preiswerten Energiemix leisten? ({0})

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Tauss, die Kerntechnologie ist in ihrer wissenschaftlichen Erforschung auch staatlich gefördert worden. ({0}) Es ist ebenfalls richtig, dass Wissenschaft und Forschung gefördert werden müssen, und zwar auch - dafür sind wir - im Bereich der erneuerbaren Energien. ({1}) - Dafür gibt es Rückstellungen bei den Unternehmen; das wissen Sie auch. ({2}) Herr Kollege Tauss, Sie haben die hohen Energiepreise angesprochen. Ich darf Sie daran erinnern, dass es die rot-grüne Energiepolitik in den vergangenen sieben Jahren war, die dazu geführt hat, dass der Strompreis in Deutschland allein zu 41 Prozent durch staatliche Steuern und Abgaben, wie die Ökosteuer, und Auflagen, wie die Förderung der KWK und das EEG, belastet ist. ({3}) Fassen Sie sich also an die eigene Nase und versuchen Sie nicht, einen Popanz aufzubauen! Ich bin der Überzeugung, dass zu einem breiten Energiemix auch die Kernenergie gehört - davor sollte man die Augen nicht verschließen - und dass es notwendig ist, hier breit aufgestellt zu bleiben. Zurück zu den Anträgen der Fraktion der Grünen. Herr Kollege Fell, ich möchte mit zwei energiepolitischen Irrtümern aufräumen. Sie stellen fest, die Kernenergie verliere weltweit an Bedeutung. ({4}) Das ist nicht der Fall. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass Finnland, China, die USA, Großbritannien und Russland Kernkraftwerke bauen. ({5}) Russland will in den nächsten 20 Jahren sogar 100 Kernkraftwerke bauen. Davon sind 40 für den eigenen Markt und 60 für den Export bestimmt. Russland schafft das nur, weil wir Deutsche aufgrund unserer Abhängigkeit - über 36 Prozent unserer Gaslieferungen kommen aus Russland - diese Bauvorhaben mitfinanzieren. Für Russland ist das hervorragend. Die Russen exportieren Öl und Gas und bauen Kernkraftwerke, während wir von ihren Energieexporten abhängig sind und unsere sicheren Kernkraftwerke abschalten. Diese ideologisch motivierte Strategie ist mehr als nur irreal. Unsere Nachbarn, die Niederländer, haben gerade die Laufzeit ihrer Kernkraftwerke auf 60 Jahre verlängert. Das ist die Realität. Sie sprechen von einer Uranreichweite von 30 bis 40 Jahren. Das ist nicht richtig. Nach wissenschaftlichen Schätzungen sind es 60 Jahre und die Ressourcen reichen sogar für 400 Jahre. Summa summarum ist es wichtig, dass wir den Blick für eine ideologiefreie Politik freihalten, ({6}) dass wir tun, was für den Bürger richtig ist, was sicher ist, was umweltpolitisch vertretbar und auch preiswert ist. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Bundesminister Sigmar Gabriel.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Kopp, ich wollte zwei Dinge am Anfang klarstellen, die eben etwas durcheinander gegangen sind. Dass die Uranreserven 400 Jahre reichen, habe ich noch nicht einmal von den Energieversorgern gehört. ({0}) Die Zahlen schwanken, je nachdem, wie stark die Ressourcen genutzt werden, zwischen 25 und 120 Jahren. ({1}) Wenn sich die Ausbaupläne, die Sie geschildert haben, bewahrheiten sollten, dann nähert sich die Zahl eher 25 Jahren. Man muss aufpassen, dass man intellektuell einigermaßen redlich bleibt, auch wenn man politische Zwecke verfolgt. ({2}) Zu den Zahlen von geplanten Atomkraftwerken, die Sie genannt haben, muss man sagen, dass sich darunter eine Vielzahl von Projekten befindet, die, wie im Falle von China, seit 17 oder 25 Jahren angeblich geplant werden, bei denen aber niemand - noch nicht einmal in China - davon ausgeht, dass sie wirklich realisiert werden. Man muss auch gegenrechnen, was die Realisierung solcher Projekte am Ende für die vorhandenen Uranreserven bedeuten würde. Wir werden - ich bin sehr dankbar, dass die Frau Bundeskanzlerin einen Energiegipfel einberuft ({3}) in den kommenden Monaten intensiver in die Debatte einsteigen, damit wir etwas Klarheit bekommen. Die OECD, deren Zahlen uns vorliegen - die OECD ist ja keine des Atomausstiegs verdächtige internationale Organisation -, geht in ihrem Rotbuch von 65 Jahren aus. Ich glaube nicht, dass eine zukunftsorientierte Energiepolitik auf eine Energiereserve setzen sollte, deren Vorkommen derzeit geringer sind als die von Öl und Gas. Das scheint mir keine besonders kluge Energiepolitik zu sein. ({4}) Wenn Sie, Frau Kopp, sagen, 41 Prozent der Stromkosten seien durch staatliche Abgaben induziert, dann ist das zwar die Wiedergabe dessen, was die Energieversorger öffentlich erklären, aber deswegen noch lange nicht die Wahrheit. ({5}) Sie sind doch eine Partei, die etwas von Marktwirtschaft hält. In den 41 Prozent sind 10 Prozent enthalten, die die Kommunen als Konzessionsabgaben bekommen. Nun können Sie nicht sagen, dass eine Konzessionsabgabe eine Steuer sei. Wenn jemand eine Leitung über Ihr privates Grundstück legt und damit Geld verdient, dann, so vermute ich, kennt Ihr Altruismus Grenzen und Sie werden Ihrerseits von ihm Geld verlangen. Nichts anderes machen die Städte und Gemeinden. Das nennt man Konzessionsabgabe. Die ist in den 41 Prozent enthalten. Das hat mit Steuern und Abgaben wenig zu tun. Übrigens liegt der Anteil der Kosten für die regenerativen Energien bei 3 Prozent. Das, was allerdings stimmt, ist, dass die Netznutzungsentgelte unserer Oligopolisten bei 35 bis 40 Prozent liegen. ({6}) - Nein, weit über 30 Prozent, zum Teil bis zu 40 Prozent. Das ist zum Teil doppelt so hoch wie im Rest Europas. Nun sage ich Ihnen, warum ich ein Freund der Marktwirtschaft bin: weil wir Wettbewerb brauchen, nicht aber Oligopole. ({7}) Darin liegen die eigentlichen Probleme, die wir in den Griff bekommen müssen, aber nicht bei der Debatte über regenerative Energien. Ich habe mich aber nicht gemeldet, um Ihnen zu widersprechen - das mache ich sowieso ungern -, sondern um zu dem Antrag des Kollegen Fell einige Bemerkungen zu machen. Ich schätze Ihr Engagement für erneuerbare Energien sehr. Ich glaube auch, dass das Erneuerbare-Energien-Gesetz eine wirkliche Erfolgsstory in Deutschland ist. Es wird nicht umsonst in 30 Staaten der Welt kopiert. Ich wäre vorsichtig mit dem Begriff Subvention; denn sonst kommen wir schnell in die Debatte, was wir eigentlich bei anderen Energieformen gemacht haben, um sie marktfähig zu machen. Bei der Kernenergie, Herr Kollege Mißfelder, waren wir doch auch nicht so zimperlich. Dagegen ist das, was wir bisher im Bereich der erneuerbaren Energien einsetzen, eher ein zurückhaltender Betrag. ({8}) Deswegen, Herr Kollege Fell, stimme ich manchem zu, aber Sie schießen mit Ihrem Antrag ein bisschen über das Ziel hinaus. Ich habe mich aus einem Grund gemeldet, nämlich weil ich etwas zu dem Thema Kohle sagen wollte. An einer Stelle schreiben Sie, wir hätten wichtige energiepolitische Entscheidungen auf die lange Bank geschoben. Da will ich nur in aller Freundschaft darauf hinweisen: Die Bank ist jetzt 87 Tage alt. Ich verweise auf das, was wir gemacht haben: Wir haben die zweite Kiotoverpflichtungsperiode mit auf den Weg gebracht. ({9}) Wir bereiten jetzt den Nationalen Allokationsplan II vor. Bis zum 30. Juni müssen wir ihn vorlegen. ({10}) Wir haben den Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energien fortgesetzt. ({11}) Im Jahr 2020 wird der Anteil der erneuerbaren Energien bei bis zu 25 Prozent liegen, wie in der von Ihnen zitierten Studie erwähnt. Die Koalitionsfraktionen haben ein CO2-Minderungsprogramm auf dem Gebiet der Gebäudesanierung auf den Weg gebracht. Das war übrigens das Erste, was CDU/CSU und SPD in den Koalitionsverhandlungen verabredet haben. Ich glaube, das ist aller Ehren wert. Es bedurfte keines Antrags im Deutschen Bundestag - das wussten wir vorher -, um dafür vier Jahre lang 1,4 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen. ({12}) Wir setzen eine Kraftstoffstrategie um, die nicht mehr nur auf Nischen ausgerichtet ist. Auch ich persönlich bin sehr dafür, Herr Kollege Fell, dass diejenigen, die in Anlagen investiert haben, Vertrauensschutz genießen müssen. Die Koalitionsfraktionen, CDU/CSU und SPD, wollen eine industriepolitische Strategie, die vom Öl wegführt und dennoch für eine automobile Gesellschaft steht. ({13}) Das ist etwas anderes, als dafür einzutreten, Raps anzubauen und in Mühlen zu investieren. Rapsanbau und Windenergie waren Nischen, die auf dem Markt den Durchbruch geschafft haben. Das ist wirklich wichtig gewesen. Wir brauchen aber Kraftstoff der zweiten Generation; Qualitäten müssen definiert werden. Wir wollen nicht, dass der Anteil von Biokraftstoffen bei 3,5 Prozent stehen bleibt. Wir wollen, dass dieser Anteil auf 10 Prozent, 20 Prozent oder mehr steigt. Dieses Ziel liegt unserer Strategie zugrunde. Wir verdienen Ihre Unterstützung und keine Diskreditierung unserer Arbeit. ({14}) Was Sie fordern, haben wir in Genshagen beschlossen: die Erhöhung der Mittel im Haushalt des Umweltministeriums für Forschung und Entwicklung und die Erhöhung der Mittel für das Markteinführungsprogramm im Bereich der Förderung der regenerativen Wärmeenergie. All das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, haben wir auf den Weg gebracht. Wenn Sie sagten: „Okay, ihr habt in 87 Tagen eine Menge auf den Weg gebracht; aber das reicht uns noch nicht“, dann wäre ich einverstanden. Übrigens, was wir bisher auf den Weg gebracht haben, reicht auch uns nicht. Deswegen wollen wir mehr machen. Aber auf die lange Bank geschoben hat diese Koalition überhaupt nichts. ({15}) Ich gebe zu: Sie hat einige überrascht. Das wollten wir aber. Sie sollten sich im Grunde darüber freuen. Was ist der Kernfehler Ihres Papiers? ({16}) - Ich habe nichts dagegen. Mich muss nur jemand danach fragen, ob ich sie zulasse. Dann sage ich Ja.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich lasse aber nicht zu, dass eine Zwischenfrage gestellt wird, weil Ihre Redezeit bereits überschritten ist.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Sorry, dann müssen wir uns auf den letzten Punkt konzentrieren. Was ist der eigentliche Vorwurf an Sie? Bei einem Anteil regenerativer Energien von 20 bis 25 Prozent und der Unterstützung des Wachstumspfades durch höhere Energieeffizienz und Energiesparen müssen 75 bis 80 Prozent des Energiebedarfs auf der Basis fossiler Brennstoffe gedeckt werden. Dies kann man nicht erreichen, wenn man so vorgeht, wie Sie es hier bezüglich der Kohle gefordert haben. ({0}) Der Kohleabbau darf nicht aufgegeben werden; vielmehr braucht man effizientere Technologien, Stichwort „CO2Minderung“. ({1}) Deswegen kann man zu Sequestration, Clean Coal und Clean Gas nicht Nein sagen. Die Kohle muss Bestandteil der energiepolitischen Strategie Deutschlands sein. Dies auszublenden und der Versuch, alles auf den Bereich „regenerative Energien“ zu konzentrieren, schaden der Debatte über diese Energien; denn dadurch werden Messlatten gelegt, die wir immer wieder reißen müssen. Es ist übrigens unrealistisch, zu glauben, ein Technologieland wie Deutschland könnte darauf verzichten, Technologien für Kohle, Gas und Öl zu entwickeln. Das sind nämlich Brennstoffe, die in Entwicklungs- und Schwellenländern genutzt werden. Das werden wir ihnen wohl kaum verbieten können. Wir wollen, dass diese Länder unsere Anlagentechnik nutzen, ({2}) damit sie das Klima nicht in gleicher Weise schädigen, wie wir es in den letzten 100 Jahren getan haben. Das ist eine moderne Strategie in der Energiepolitik. Sie hat große Befürworter in dieser großen Koalition. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Hans-Kurt Hill von der Fraktion Die Linke. ({0})

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine sichere Energieversorgung muss sozial gerecht und ökologisch verträglich sein. Zurzeit ist sie weder das eine noch das andere. ({0}) Den Antrag der Fraktion der Grünen zur Energieversorgung bezeichne ich als Rundumschlag: von allem ein bisschen. Trotzdem begrüßen wir diesen Antrag durchaus. Ich muss Ihnen jedoch vorhalten, dass Sie in den letzten sieben Jahren der Regierung Wesentliches verschlafen haben. Die fatale Abhängigkeit von Energieimporten steht nicht erst seit diesem „russischen Winter“ in der Kritik. Wir halten an unserer bisherigen Forderung fest: konsequenter Umstieg insbesondere auf heimische erneuerbare Ressourcen und Steigerung der Energieeffizienz. Aber Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der CDU, „Koch-en“ lieber weiter Ihre giftige Atomsuppe. Dabei ist bei der Atomlobby Geldgier das einzige Motiv dafür, auf Kosten der Menschen und der Umwelt Laufzeitverlängerungen durchzusetzen. ({1}) Tatsache ist, dass ein Reaktor bei einer Laufzeitverlängerung um ein Jahr 300 Millionen Euro Reingewinn bringt. Wir wissen natürlich nicht, was zum Beispiel Herr Koch in der Zukunft noch vorhat. Er hat leuchtende, ja strahlende Beispiele. Aber ich sage Ihnen ganz offen, werte Kolleginnen und Kollegen: Wer weiter Atomkraft fordert, hat nach unserer Meinung kein Verantwortungsbewusstsein. ({2}) Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sind für den Importanstieg bei den Energieträgern ebenso verantwortlich. So baut Herr Schröder eine neue Gasautobahn. Es bleibt abzuwarten, ob bei Minister Gabriel den Ankündigungen auch tatsächlich Taten folgen. Auf jeden Fall hat das Energiekartell Zeit, munter den Status quo zu zementieren. ({3}) Der Umbau der Kraftwerksparks ist, wie Sie wissen, in vollem Gange. Die Energieversorger planen und bauen neue Erdgaskraftwerke und im größeren Umfang Stein- und Braunkohleblöcke. Der geplante Anteil an erneuerbaren Energien liegt bei unter 1 Prozent, und das nur, weil der Emissionshandel nicht konsequent angewandt wird. Die CO2-Zertifkate werden beim Neubau von Kraftwerken als Persilscheine für alte Technik verteilt. Dabei geht der Missbrauch im Emissionshandel zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Auf deren Stromrechnung hat das Ganze nun wirklich nichts zu suchen! ({4}) Aber ich will das Erreichte gar nicht kleinreden. Das EEG ist ein Erfolgsmodell, mit Brief und Siegel der EUKommission. Die Branche der erneuerbaren Energien ist nicht untätig gewesen, wie Sie auch heute der Presse entnehmen können. Sie plant allein in diesem Jahr den Ausbau von 1 500 Megawatt Windleistung. Das ist die Größenordnung von zwei Atomkraftwerken. Bis 2020 will die Branche 200 Milliarden Euro investieren und wird damit eine halbe Million Arbeitsplätze schaffen. Da spielt die Musik, meine Damen und meine Herren! ({5}) Energieeffizienz ist in Zukunft der wichtigste Baustein - das wird in dem Antrag ganz richtig betont -, aber wir brauchen dazu auch wirksame Instrumente. So müssen zum Beispiel auch Energieverbrauchskennzeichnungen von Haushaltsgeräten kontrolliert werden. Es gibt Bundesländer, die acht Jahre nach Einführung des Labels immer noch keine Behörden für den Vollzug benannt haben. Das ist mir unbegreiflich. ({6}) Ein schlimmes Beispiel ist das Land, aus dem ich komme, das Saarland. Dort erwartet man, dass der Bund den Vollzug regelt. Wenn ich dafür Noten vergeben müsste, würde ich sagen: Föderalismusreform: Eins, aber Ordnungsrecht: Sechs und setzen! ({7}) Ein weiteres Thema, das CO2-Gebäudesanierungsprogramm. So wie Sie das planen, meine Damen und Herren von der Regierung, greift das ins Leere. Sie verteilen mit der Gießkanne und wollen Maßnahmen fördern, die ohnehin vorgeschrieben sind. Dabei muss Ihnen doch klar sein, dass Entwicklungen wie die Passivhaustechnik, die 90 Prozent der Wärmeenergie einspart, dann einfach auf der Strecke bleiben. Ich möchte Ihnen vorschlagen, die Förderung nach dem Einspareffekt zu bemessen und den Geldtopf besser auszustatten. Herr Minister Steinbrück sollte die 1,5 Milliarden Euro Mehreinnahmen, die er über die hohen Energiepreise erhalten hat, dafür herausrücken. ({8}) Oder will man einen Teil des Bundeshaushalts über die Preistreiberei auf dem Energiemarkt - wiederum zulasten der Verbraucher - sanieren? Zum Schluss werde ich noch kurz auf den Antrag zu den Biokraftstoffen eingehen. Die Steuerbefreiung reiner Biokraftstoffe muss beibehalten werden. ({9}) Das machen die höheren Aufwendungen, zum Beispiel bei der Herstellung, beim Vorhalten der Tankanlagen und bei der Umrüstung der Motoren, notwendig. Außerdem ist das für die Förderung der Wirtschaft im ländlichen Raum unverzichtbar. Die Mitnahmeeffekte bei Biodiesel sind zwar aus Sicht der Hersteller begrüßenswert, aber da müssen wir natürlich aufpassen. Dass der Biosprit auf dem Markt so erfolgreich ist, darf nicht dazu führen, dass die Branche für das Stopfen des Haushaltslochs herhalten muss. Ich würde empfehlen, dass wir den Biodiesel behutsam an eine Besteuerung heranführen. Der Beimischzwang macht nur Sinn als zusätzlicher Baustein. Voraussetzung ist hier, wie gesagt, dass die reinen Biokraftstoffe wie Pflanzenöl über verlässliche Zeiträume befreit bleiben. Lassen Sie mich schließen mit einem Zitat von Thomas Nordmann und Christian Schmidt aus dem Buch „Im Prinzip Sonne“: Die Sonne scheint, als erste und letzte Energie. Sie verströmte ihre Kraft, bevor die Vegetation vergangener Zeiten zu Öl verfaulte, bevor der Mensch lernte, wie sich Uran spalten lässt, und sie wird noch da sein, wenn es all diese Energien dank Einsicht nicht mehr geben wird. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Hill, ich gratuliere Ihnen recht herzlich zu Ihrer ersten Rede hier in diesem Hohen Hause. Ich bin überzeugt, Sie werden das auch in Zukunft ohne demonstrative Unterstützung Ihrer Fraktion schaffen. Alles Gute! ({0}) Das Wort hat der Kollege Hans Michelbach, CDU/ CSU-Fraktion. ({1})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion hat in den vergangenen Jahren immer zum Aufbau der neuen Wirtschaftsbranche Biokraftstoffe gestanden. In meinem Bundesland werden 75 000 Tonnen produziert. Damit leistet es seit sieben Jahren einen erheblichen Beitrag zur Veresterung. Das heißt, unser Bundesland hat im Bereich Biokraftstoffe eine großartige Leistung vollbracht. Deren Markteinführung wurde durch Steuervergünstigungen gefördert. Die staatliche Förderung zur Einführung eines neuen Produktes am Markt ist natürlich immer wieder zu hinterfragen, insbesondere dann, wenn in der Vergangenheit unverantwortlich mit dem Bundeshaushalt umgegangen wurde. Die Grünen, die den vorliegenden Antrag gestellt haben, haben in der Vergangenheit jedoch im finanziellen Bereich jegliches Bemühen um Nachhaltigkeit ignoriert. Ökonomische Fragen scheinen sie generell nicht zu interessieren, sonst würden sie solche Anträge nicht stellen. ({0}) Wir müssen letzten Endes aber immer wieder die ökonomische Frage stellen, ob wir staatliche Ressourcen verschwenden, wenn wir, nachdem wir für die Markteinführung eines Produktes Anreize geschaffen haben, dauerhaft Unterstützung leisten. Diese Frage ist insbesondere dann positiv zu beantworten, wenn stattdessen ein Beitrag zur Konsolidierung des Gesamthaushaltes geleistet werden kann.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Loske?

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich darf bitten.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Michelbach, Sie sprachen gerade über Ökonomie und damit über Wirtschaft. Die Zuständigkeit für die Energiepolitik liegt zumindest teilweise auch beim Wirtschaftsministerium. Bedeutet nun die Tatsache, dass bei dieser energiepolitischen Grundsatzdebatte nur der Umweltminister anwesend ist, dass die Zuständigkeit für Energiepolitik komplett vom Wirtschaftsministerium abgezogen wurde? ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich gehe nicht davon aus, dass das letzten Endes nicht mehr in die Zuständigkeit des Wirtschaftsministeriums fällt. Der Wirtschaftsminister Michael Glos weiß natürlich, dass wir anwesend sind und dass es aufgrund des versammelten Sachverstandes der Unionsfraktion zu keiner Fehlleistung kommen wird. ({0}) Wollen Sie noch eine klügere Frage stellen? ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Loske, ich denke, der Kollege Michelbach sollte jetzt in seiner Rede fortfahren. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Loske, wir werden das bilateral fortsetzen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Wirtschaft benötigt wettbewerbsfähige Energiepreise. Firmenverlagerungen aus Kostengründen nutzen niemandem etwas, sondern schaden unserer Volkswirtschaft. Das können und sollten wir uns nicht mehr leisten. Ich glaube, wir sollten die energiepolitische Ideologie der Grünen überwinden und Wege der ökonomischen Vernunft beschreiten. ({0}) Lieber Herr Kollege Fell, es ist einfach falsch, dass wir Biokraftstoffe vom Markt verschwinden lassen oder die Wertschöpfung der Landwirte ins Ausland verlagern wollen, ({1}) wie dies der Antrag der Grünen suggeriert. Richtig ist: Wir wollen keine überzogenen Steuerpläne, sondern Marktfähigkeit, Sicherung des Produktes und finanzielle Solidität; denn die finanziellen Ressourcen des Staates bilden auch für die zukünftige Wachstumsentwicklung und gerade für die Einführung eines neuen Produktes eine wesentliche Grundlage. ({2}) Deswegen beleuchten wir die Wettbewerbsfähigkeit, die Umweltvorteile, das Marktgeschehen und natürlich auch die Investitionssicherheit bei neuen Konzepten. Wir haben uns mit folgenden Herausforderungen zu befassen, wenn wir dies sachgerecht und verantwortungsbewusst leisten wollen: Erstens müssen wir den EU-rechtlichen Vorgaben zum Verbot der Überkompensation Rechnung tragen und eine entsprechende Prüfung vornehmen. Zweitens müssen wir die haushalterischen Konsolidierungsaufgaben wahrnehmen. Drittens müssen wir der Marktsicherung und Marktförderung in Bezug auf Biokraftstoffe durch eine Beimischungspflicht dauerhaft Rechnung tragen. Das kann nur durch ein marktfähiges Produkt geschehen. Sicherheit für die Zukunft wird nur erreicht, wenn das Produkt auf Dauer marktfähig und wettbewerbsfähig ist. Das ist ein wichtiger Grundsatz. Die vierte Herausforderung ist die Strukturerhaltung bei unseren Landwirten durch eine lokale Wertschöpfung. Fünftens müssen wir für eine längerfristige Planungssicherheit bei Investitionen in dieser Branche sorgen. Dazu bekennen wir uns. Im Zusammenhang mit den EU-rechtlichen Vorgaben muss überprüft werden, ob die Steuerbegünstigung zu einer Überkompensation führt. Ich glaube, dass der in dem Entwurf des Energiesteuergesetzes gefundene Ausgleich für die Überkompensation von 10 bzw. 15 Cent nicht zwingend nachvollziehbar ist. Er schießt wohl etwas über das Ziel hinaus. Das müssen wir prüfen. Zum einen werden bisher keine tatsächlichen Grundlagen für die Zahlen genannt. Das stört mich; die Zahlen müssen unterfüttert werden. Man kann nicht nur eine Überkompensation in den Raum stellen, sondern muss das prüfen können. Wir sind der Gesetzgeber, der für ein solches Steuergesetz zuständig ist. Deswegen müssen wir hier genau hinschauen. Zum anderen sind die Produktionsschritte bei Pflanzenöl nicht wesentlich geringer, sodass ein Abstand von 5 Cent eher willkürlich erscheint. Ich glaube, dass reine Pflanzenöle letzten Endes nicht in die Besteuerung hineinkommen können. ({3}) Es ist auch zu überlegen, ob der Eigenverbrauch in der Landwirtschaft freizustellen ist. Darüber muss man reden, ohne dass wir deswegen die Bürokratie ausweiten müssten. Man muss sich Agrardieselregelungen anschauen, die im Zusammenhang mit dieser Steuerregelung möglich wären. Möglich wäre auch die Einführung eines Mindestabstandsgebots in Bezug auf fossile Brennstoffe. Auch darüber müssen wir nachdenken. Problematisch an diesem Steuergesetz ist sicher, dass der Preis für fossile Brennstoffe nicht nur innerhalb der Handelswege schwankt, sondern auch unter den tatsäch1396 lichen Herstellungspreis von Biokraftstoffen fallen könnte, wenn die Masse der Biokraftstoffe steigt. Das muss man sich mit Blick auf ein Gesetz genau anschauen. Ebenso sollte man über eine Cross-Compliance-Regelung in dem Entwurf des Energiesteuergesetzes nachdenken

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- und sich Gedanken machen, ob man dadurch den Landwirten neue Chancen eröffnet. In diesem Sinne möchte ich deutlich machen: Wir haben eine Aufgabe, die mit diesem Energiesteuergesetz auf dem Tisch liegt. Wir wollen eine sachbezogene Steuerkonzeption, die dauerhaft Planungssicherheit für alle Marktteilnehmer bietet. In diesem Sinne können sich alle Marktteilnehmer auf die Union verlassen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber, SPD-Fraktion.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen schreibt unter Punkt 11 ihres Antrages, die Koalition werde beim Gebäudesanierungsprogramm einen Investitionsstau auslösen. Ich darf dazu die „Financial Times Deutschland“ von gestern zitieren: So beweglich kann Haushaltspolitik sein: Im Vorgriff auf das 25-Milliarden-Wachstums- und Beschäftigungspaket … hat die Bundesregierung Anfang Februar das Rennen um die Fördermittel eröffnet. Doch damit nicht genug: Die Förderkonditionen … sind attraktiver und übersichtlicher geworden. ({0}) Zum zweiten Mal haben Sie bei der Beurteilung dieses Programms deutlich daneben gegriffen. Das erste Mal war, als Sie während der Koalitionsverhandlungen behauptet haben, die SPD müsse sich daran messen lassen, ob sie eine Verdopplung der Mittel für dieses Programm erreicht. Wir haben heute eine Vervierfachung der Mittel geschafft. Erkennen Sie endlich an, dass Tempo in diese Sache hineingekommen ist. ({1}) Wir stellen die Energieeffizienz in den Mittelpunkt; das Gebäudesanierungsprogramm ist nicht der einzige Punkt. Wir werden weitere Initiativen vorstellen. Eine Initiative ist dabei das Top-Runner-Programm. Es war übrigens schon eine SPD-Initiative zur Zeit der rot-grünen Koalition. Denn wir haben immer vermisst, dass das Umweltministerium das Thema Energieeffizienz genauso in den Vordergrund stellt wie andere Themen. Das wird sich nun ändern. Man merkt ein wenig, dass Sie in der Opposition angekommen sind. In früheren Koalitionszeiten haben Sie akzeptiert, dass Top-Runner allein schon wegen der Binnenmarktrichtlinie eine europäische Initiative sein muss. In Ihrem neuen Antrag fordern Sie, auf nationaler Ebene zu handeln, wissend, dass das nicht geht. ({2}) Ein weiterer Bereich sind die erneuerbaren Energien. Herr Mißfelder, 2005 betrugen die Investitionen in Deutschland in diesem Bereich 9 Milliarden Euro. Das ist schon eine tolle Sache. Es gibt auch hervorragende Zahlen für die Windenergie. Wir können außerdem einen Boom bei der Biomasse und bei der Solarenergie feststellen. Außerdem ist der Start bei der Geothermie erfolgt. Im Übrigen wären wir bei der kleinen Wasserkraft, die auch im Antrag der Grünen erwähnt wird, weiter, wenn der Streit innerhalb der Grünen-Fraktion während der Zeit der rot-grünen Koalition, ob man die kleine Wasserkraft ausbaut oder nicht, nicht immer so heftig gewesen wäre. Letzter Punkt: Atomdebatte. Sie machen jetzt immer das Spielchen „Sigmar allein zu Haus“. Ich glaube, dieser Bundesminister könnte das notfalls auch alleine stemmen. ({3}) Aber er ist nicht alleine. Das Haus ist eher schon überbevölkert. Neben den üblicherweise verdächtigen Sozialdemokraten wie Struck, Müntefering und Platzeck sind nun Merkel und Kauder mit in dieses Haus eingezogen und haben klar gesagt, was gilt, nämlich der Koalitionsvertrag. ({4}) Wenn ich den Antrag der Grünen lese - unter Punkt 1 wird vom „energiepolitischen Stillstand“ gesprochen -, dann muss ich feststellen, dass Ihr Antrag nicht ernst gemeint ist. Sie suchen händeringend nach einem Thema. Sie haben nämlich ein Problem: Die Grünen haben nicht erwartet, dass die SPD so erfolgreich in den Koalitionsverhandlungen ist. ({5}) Ich nenne den Atomausstieg, die Fortsetzung der Förderung bei den erneuerbaren Energien, Energieeffizienz und das Nationale Naturerbe. Es ist richtig, dass man sich auseinander setzt. Aber auf die Art und Weise, wie Sie es machen, helfen Sie dem Umweltschutz nicht, sondern betreiben Parteipolitik. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel HappachKasan, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einen Punkt möchte ich gerne aufgreifen: Wir wissen alle noch nicht, wer sich auf diese große Koalition verlassen kann. Auch Sie wissen es nicht. Denn das, was Sie im Bereich der Mineralölsteuerbefreiung für Biokraftstoffe angerichtet haben, ist ein unbeschreibliches Chaos. ({0}) Innerhalb von vier Monaten gab es vier verschiedene Steuermodelle. Das ist unschlagbar; das hat bisher noch niemand geschafft. Herr Minister Gabriel, ich darf Sie daran erinnern: „Mehr Rapsöl in den Tank“, das war vor der Wahl. Was ist nach der Wahl? - Ich fand den zweiten Teil Ihrer Rede gar nicht schlecht. ({1}) Aber wo ist Ihr Handeln? Wir müssen feststellen, dass Sie immer noch nicht wissen, wie Sie das Energiebesteuerungsgesetz tatsächlich gestalten wollen. Nach wie vor gibt es keine Einigung mit dem Landwirtschaftsminister und mit dem Finanzminister. ({2}) Niemand in dieser Republik weiß also, wie es mit den Biokraftstoffen tatsächlich weitergehen wird. ({3}) Wir müssen feststellen, dass die Mineralölsteuerbefreiung für biogene Kraftstoffe enorm viel bewirkt hat. Herr Kelber, Sie loben die Investitionsleistungen in diesem Bereich, die es unter den alten Rahmenbedingungen gab. Aber was ist jetzt der Fall? Wir wissen alle, dass Investitionen, die für dieses Jahr geplant waren, inzwischen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben worden sind oder in England bzw. in Schweden und nicht mehr in Deutschland geplant werden. Diese Entwicklung braucht unser Land wirklich nicht. ({4}) Wir haben aufgrund der Rahmenbedingungen eine Erhöhung des Rapsanbaus gehabt - das ist richtig - und wir haben eine Erhöhung der Investitionen in diesem Bereich feststellen können. Auch das ist gut gewesen. Es gab die Entwicklung von entsprechenden Technologien. Wir sind Marktführer in diesem Bereich. Auch das ist gut. Es wurden Arbeitsplätze geschaffen und es gab entsprechende Steuereinnahmen. Diese Steuereinnahmen sind so hoch wie die Einnahmen, die Minister Steinbrück durch die Aufhebung der Mineralölsteuerbefreiung in diesem Bereich erwartet. Das ist ein Spiel in der Sandkiste: hier ein Haufen und da ein Haufen. Das führt zu überhaupt nichts und bringt keine klaren Strukturen und keine Sicherheit für die Betriebe, die in diesen Bereich investiert haben. ({5}) Wir fordern für die Herstellung von Biokraftstoffen die gleiche planerische Sicherheit, wie Sie sie beispielsweise bei der Windkraft gewähren. ({6}) Wir brauchen zumindest bis zum 1. Januar 2009 eine Mineralölsteuerbefreiung und dann eine Nachfolgeregelung. Wir brauchen die gleiche Besteuerung für den Fall, dass nur der Biokraftstoff getankt wird, und für den Fall, dass er beigemischt wird. Es ist doch absurd: Wollen wir auch die Eier unterschiedlich besteuern, je nachdem ob sie Frühstückseier sind oder in den Kuchen gerührt werden? Das macht man doch nicht. Das kann doch nicht richtig sein. ({7}) Wir wollen keinen Beimengungszwang, weil wir meinen, dass wir mit der bisherigen Politik der Mineralölsteuerbefreiung wesentlich besser gefahren sind, als dies bei einem Beimischungszwang jemals der Fall sein kann. Ich fordere die Bundesregierung auf, planerische Sicherheit für die Betriebe der Biokraftstoffbranche zu gewährleisten. Ich fordere sie auch auf, weit mehr in diese Technologie zu investieren. Denn wir wissen, dass wir die Technologie des Einsatzes von Rapsmethylester weiterentwickeln müssen, wenn wir es tatsächlich schaffen wollen, den Weg weg vom Öl erfolgreich zu beschreiten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Reinhard Schultz, SPDFraktion.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich auf das Thema der Biokraftstoffe konzentrieren, weil meine Redezeit durch meine Vorredner großzügig beansprucht worden ist, ({0}) wobei Herr Kelber nett zu mir war, wie ich sagen muss; ansonsten wäre ich gar nicht mehr an die Reihe gekommen. Ich glaube, es geht hier um eine Umstellung von einem Versuchsbetrieb auf einen Normalbetrieb. Der Minister hat davon gesprochen, dass die nationale Kraftstoffstrategie dazu dienen soll, neben dem Zertifikathandel und der Gebäudesanierung auch im Bereich Verkehr Reinhard Schultz ({1}) ein verlässliches CO2-Minderungsprogramm zu gestalten und zu mehr Unabhängigkeit von Mineralölimporten zu kommen. Dieses Massenproblem, das es ja letztendlich ist, muss man mit einer massenhaft wirksamen Lösung angehen. Das bedeutet, die Menge an Biokraftstoffen in ein neues Verhältnis zum Kraftstoffverbrauch insgesamt zu setzen. Das ist das Beimischungsgebot bzw. die Beimischungsquote. Das ist eine verlässliche Zahl, die den Deutschen, aber möglicherweise auch ausländischen Teilnehmern einen riesigen Markt eröffnet. Ich verrate Ihnen kein Geheimnis, wenn ich sage, dass der Biodieselmarkt schon jetzt zu weit mehr als 40 Prozent aus Importprodukten besteht. Die reinen Pflanzenöle, die getankt werden, kommen zu einem großen Teil aus Ungarn, weil sie dort aus welchen Gründen auch immer besonders günstig hergestellt werden können und - das ist nett - bei Aldi bzw. an Spezialtankstellen verkauft werden. Sie werden in den seltensten Fällen bei uns hergestellt. Natürlich sind wir - wie bei allen anderen Produktionen auch - daran interessiert, dass ein großer Teil der Wertschöpfung - möglichst der größte - im Land bleibt. Deswegen wollen wir keine Stranded Investments, sondern ein vernünftiges Verhältnis von Importen und einheimischer Produktion insbesondere im Hinblick auf diejenigen Länder, die das neue Produkt Bioethanol ausgesprochen günstig herstellen können und auch importieren wollen, dies derzeit aber noch nicht im gewünschten Maße können, weil ein Außenschutz besteht. Herr Fell, wir beide wissen: Dieser wird schrittweise abgebaut werden müssen. Deswegen müssen wir dem rechtzeitig mit vernünftigen Möglichkeiten begegnen. Das Beimischungsgebot ist also die Regellösung. Darum herum kann man natürlich für eine Übergangszeit bei neuen Produkten wie BTL-Kraftstoffen oder anderen dabei bleiben, diese Produkte mit Steuerbefreiungsinstrumenten oder anderen Instrumenten zu fördern. ({2}) Aber bei Produkten, die Marktreife haben, ist das nicht erforderlich. Auf der einen Seite wollen wir diese besteuern; das ist auch mein Interesse als Finanzpolitiker. Auf der anderen Seite wollen wir ein Produkt haben, das massenhaft zum Einsatz kommt und hilft, CO2-Emissionen massiv zu senken. - Das ist das eine. Dies steht aber, wie Sie wissen, noch gar nicht im Energiesteuergesetz, so wie es angekündigt worden ist. ({3}) In der Übergangsphase steigen wir vorsichtig in die Besteuerung von Biokraftstoffen, insbesondere von Biodiesel, ein. Dies gilt in der ersten Phase nicht für Bioethanol, sondern nur für Biodiesel, Beimischungsprodukte und reines Pflanzenöl. In einem Bericht, der dem Bundestag im Vorlauf zu diesem Gesetz zugeleitet worden ist und der entsprechend den Beihilfebestimmungen der EU erstellt worden ist, wurde für mich sehr eindeutig nachgewiesen, dass in diesem Bereich eine Überförderung besteht. Die Überförderung wird an den Herstellungs- und Anwendungskosten gemessen; denn wenn die Kosten zur Nachrüstung eines Motors besonders hoch sind, muss das genauso Eingang finden wie die Herstellungskosten. In diesem Fall ist es eindeutig; hier streite ich mich nicht um einen halben Cent. Der Finanzminister ist mit seinen Besteuerungsvorschlägen deutlich unter den Überförderungstatbeständen geblieben: Bei Biodiesel liegt eine Überförderung bei 14 Cent vor; vorgeschlagen ist eine Besteuerung von 10 Cent.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Ihnen wurde etwas Redezeit genommen. Sie müssen sich an die neue Zeit halten.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin auch fast am Schluss meiner Rede. - Bei den Beimischungsprodukten liegt eine Überförderung bei 19 Cent vor; hier ist eine Besteuerung von 15 Cent vorgesehen. Das heißt, es wurde bewusst ein Abstand eingehalten, weil wir den Markt in dieser Situation nicht überfordern wollen und weil es sich um eine Übergangsregelung handelt, auf dem Weg zu einem Beimischungsgebot als Regelinstrument. Gehen Sie mit uns diesen Weg. Das werden die Landwirte danken, das wird die Umwelt danken und nicht zuletzt auch der Fiskus. Auch im Rahmen der Mineralölsteuerdiskussion ist dies ein vernünftiger Gesichtspunkt. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/579 und 16/583 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2005 - Drucksache 15/6000 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD, ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP und ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Wolfgang Tiefensee. ({1})

Wolfgang Tiefensee (Minister:in)

Politiker ID: 11004176

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einmal im Jahr wird der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit vorgelegt. Wir diskutieren heute den Bericht, den Sie seit September 2005 kennen. Diejenigen unter Ihnen, die die Fakten zur Kenntnis genommen haben, werden ihre Schlüsse daraus ziehen. Dieser Bericht ist die Basis, aufgrund derer wir den Stand des Aufbaus Ost und die zukünftigen Vorhaben diskutieren können. Aufgrund der Bewertung in diesem Bericht, aufgrund der Trends, die sich ihm entnehmen lassen, stellen wir fest, dass es ein Sowohl-als-auch gibt, eine äußerst schwierige Situation, die einer genauen Betrachtung bedarf. Lassen Sie mich dies an einigen Beispielen deutlich machen. Wir haben auf der einen Seite Zuwächse im verarbeitenden Gewerbe, auf der anderen Seite aber mehr als eine Stagnation in der Bauwirtschaft. Wir haben auf der einen Seite prosperierende Regionen, Innovationskerne in Jena, Dresden, um Berlin herum, in Chemnitz und in Leipzig, aber auf der anderen Seite zu wenig Potenzial für Forschung und Entwicklung in den Industriebetrieben. Wir haben auf der einen Seite eine Landwirtschaft, die sich im Weltmaßstab durchaus messen lassen kann, auf der anderen Seite aber große Probleme im ländlichen Raum. Wir haben durch eine gezielte Förderung die Wohnungsbaugesellschaften stabilisieren können. Wir haben einen besseren Bestand an denkmalgeschützten Gebäuden, die Innenstädte prosperieren. Auf der anderen Seite aber sind Leerstände zu verzeichnen. Noch schwieriger wird es, wenn wir uns den Arbeitsmarkt anschauen. Hier haben wir auf der einen Seite einen Mangel an Nachwuchsfachkräften; die Qualifikation entspricht nicht dem, was nachgefragt wird. Auf der anderen Seite haben wir eine hohe Arbeitslosenquote. Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Aufbau Ost ist mithin ein Sowohl-als-auch. In der Debatte gilt es, von einer Schwarzmalerei wegzukommen. ({0}) Es gilt, sowohl das Erreichte zu respektieren und herauszustellen als auch ganz dezidiert auf die Probleme und Herausforderungen hinzuweisen. Es nützt also nichts, im großen Ganzen zu diskutieren. Lassen Sie uns genauer hinschauen! Das erste Fazit ist: Die Entwicklung des Ostens ist gekoppelt an die Entwicklung Gesamtdeutschlands und eingebettet in die europäischen und internationalen Trends. ({1}) Wer diese Verbindung missachtet, wer allein glaubt, dass sich der Osten aus sich selbst heraus entwickeln kann, der verleugnet die Tatsachen. Die Bundesregierung hat an diesem Punkt angesetzt und hat einiges getan - heute Morgen ist viel darüber diskutiert worden -, um mit einem Programm für Wachstum und Beschäftigung für ganz Deutschland auch dafür Sorge zu tragen, dass es in den neuen Bundesländern vorangeht. Ich denke, das ist aller Ehren wert und das ist der richtige Weg. Gesamtdeutschland muss in der Wirtschaft vorankommen. ({2}) Das Zweite. Wir müssen den zeitlichen Horizont sehen. Wir befinden uns in der Spanne von 1989 bis 2019 im zweiten Drittel. Derjenige, der die Lösung im Handumdrehen erwartet, derjenige, der der Bevölkerung suggeriert, man könne es in wenigen Monaten oder Jahren schaffen, der weckt falsche Erwartungen, die am Ende in Aggressionen oder in Lethargie umschlagen können. Wir müssen also immer die Zeithorizonte beachten. Das Dritte. Die Bundesregierung setzt auf Wachstumskerne und will sie in der Verbindung mit der sie umgebenden Region entwickeln. Das Entscheidende wird also sein, in der Zukunft einerseits die Mittel auf diese Wachstumskerne zu konzentrieren und andererseits dafür zu sorgen, dass es ein Netzwerk, eine Verbindung, ein Bündnis hin zur Region gibt, damit die Lokomotiven die Hänger, die Tender in der Region mitziehen können. ({3}) Wir gehen davon aus, dass wir beispielsweise mit der gezielten Förderung über GA diese Wachstumsmotoren voranbringen können. ({4}) Wir reagieren damit auf einen weiteren Trend, den es zu beachten gilt, nämlich die Demographie. Ein Weiteres lesen wir aus dem Bericht: Wir müssen auf die Wachstumsbranchen setzen. Hier gibt es erfreuliche Anzeichen. Wir wollen unser Konzept der Branchenkonferenzen, der Stärkung von Netzwerken fortführen, weil wir glauben, darin liegt die Zukunft für das Wachstum im Osten. ({5}) Wenn es uns gelingt, diese Nuklei stärker auszubauen, noch stärker in Forschung und Entwicklung, in die Kopplung von Hochschulen, Universitäten und Instituten an die Wirtschaft zu investieren, dann wird der Aufschwung Ost gelingen. Ein nächstes Thema, mit dem wir uns beschäftigen müssen, ist die Solidität des Mittelstandes. Auch im Osten Deutschlands spielt der Mittelstand eine entscheidende Rolle. Wenn jedes Unternehmen mit zehn Beschäftigten einen weiteren Beschäftigten generiert, dann wäre ein Großteil der Probleme gelöst. Aus diesem Grund muss die Investitionszulage verstetigt werden. ({6}) Wenn wir auf den Arbeitsmarkt schauen, sehen wir noch immer eine bedrückend hohe Zahl von Arbeitslosen. Meine Damen und Herren, an dieser Stelle geht es schon ein Stück um Emotion und Leidenschaft; denn hinter diesen großen Zahlen stehen Einzelschicksale, stehen qualifizierte Menschen, die ihre Arbeitskraft anbieten, aber ihr Einkommen nicht mit ihrer Hände Arbeit, nicht mit ihrem Kopf verdienen können. Aus diesem Grund müssen wir auf dieses Problem fokussieren. Wir wissen: Wenn die Bundesregierung 1 Milliarde Euro in den Kreislauf einspeist, dann können 25 000 neue Arbeitsplätze entstehen. In dem Moment, wo wir die Wirtschaft voranbringen, entstehen Arbeitsplätze auch im Osten. Wir setzen auf den Mittelstand, wir setzen auf Innovationen - durch solche Programme wie Inno-Watt - und wir setzen darauf, dass die Existenzgründungen vorangetrieben werden; hier haben wir hervorragende Erfolge. Wir brauchen aber auch eine Umgehensweise mit denjenigen, die für längere Zeit keinen Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt finden. ({7}) Aus diesem Grund gelten unsere Anstrengung und auch die Justierung der Instrumente nicht nur dem Kriterium: Inwieweit gelingt es, Menschen aus der Arbeitslosigkeit in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen? Sie gelten auch dem Kriterium: Inwieweit gelingt es, Menschen eine sinnvolle Überbrückungszeit zwischen der Abstinenz vom Arbeitsplatz und der Wiedereinstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu verschaffen? Hier gilt es, Qualifikationen voranzutreiben, Wiedereingliederungsmaßnahmen finanziell zu unterstützen - Sie wissen, dass wir dafür ein Milliardenprogramm auflegen - und die Motivation zu stärken, nicht zuletzt dadurch, dass wir die Disparitäten zwischen Ost und West beim Arbeitslosengeld II abbauen. ({8}) Aus diesem Grund wollen wir im Osten das Arbeitslosengeld II an das Westniveau anpassen. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ahrendt?

Wolfgang Tiefensee (Minister:in)

Politiker ID: 11004176

Gern.

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, Sie haben eben ausgeführt, dass 1 Milliarde Euro 25 000 Arbeitsplätze schafft. Wie werden die Arbeitsplätze, die verloren gehen, zukünftig kompensiert, wenn man sich vor Augen hält, dass den neuen Bundesländern durch den Kompromiss beim EUHaushalt ungefähr 5 Milliarden Euro im Zeitraum von 2007 bis 2014 verloren gehen werden? ({0})

Wolfgang Tiefensee (Minister:in)

Politiker ID: 11004176

Sie geben mir die Gelegenheit, schon jetzt einen weiteren Punkt anzusprechen, den ich ohnehin noch angesprochen hätte, nämlich die Frage der finanziellen Sicherheit des Ostens. Die Bundesregierung hat zugesagt - nicht nur in der Koalitionsvereinbarung, sondern bei jeder sich bietenden Gelegenheit -, dass die Gelder aus dem Solidarpakt II, das gilt sowohl für den Korb I wie auch für den Korb II, in voller Höhe bis 2019 zur Verfügung stehen. ({0}) Die EU-Gelder, die Sie ansprechen, also die Mittel aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, die laut der Finanzvorschau ab dem Jahre 2007 verringert werden, müssen im Kontext betrachtet werden. Die Bundesregierung hat die 51 Milliarden Euro im Korb II, zu denen neben der GA und den europäischen Mitteln noch andere Positionen gehören, bis zum Jahre 2019 zugesagt. Sie wird dafür Sorge tragen, dass das in vollem Umfang und auch bei sinkenden Geldern der EU gilt. ({1}) Noch eine weitere Bemerkung: Vielleicht ist es Beleg einer hervorragenden Entwicklung in einigen Regionen, dass immerhin drei Regionen des Ostens aus dem Ziel-1Gebiet-Status in den Ziel-2-Gebiet-Status gelangt sind. Obwohl man in diesen Regionen den Höchstfördersätzen natürlich nachweint, muss man auf der anderen Seite sagen, dass das Bruttoinlandsprodukt, bereinigt durch den statistischen Effekt, offensichtlich über die 75-ProzentGrenze gestiegen ist und damit eine positive Entwicklung in einer Reihe von Regionen im Osten zu verzeichnen ist. ({2}) Diese findet ihre Entsprechung leider auch in sinkenden Zuwendungen der EU, die ja darauf gerichtet sind, genau diesen Angleichungsprozess zu unterstützen. ({3}) Ein weiteres Thema, das ich aufgreifen möchte, ist, wie wir für die finanzielle Stabilität in den ostdeutschen Ländern sorgen. Es kommt darauf an, die Gelder des Solidarpaktes II ergänzt durch andere Positionen zu verstetigen. ({4}) Darf ich Ihnen einige kurz anreißen? Wir wollen im Haushalt 2006 die Mittel für das Programm „Soziale Stadt“ erhöhen. Wir wollen die Gemeinschaftsaufgabe auf dem im Koalitionsvertrag beschriebenen Niveau halten. ({5}) Wir wollen die Programme „Stadtumbau Ost“ fortsetzen und werden hier zusätzliches Geld investieren. Das alles kommt den Bürgerinnen und Bürgern im Osten direkt zugute. Lassen Sie mich zum Schluss ein weiteres mir wichtiges Thema ansprechen. Es wird im Osten noch stärker vorangehen, wenn wir nicht nur Problembewusstsein schaffen, nicht nur den Sinn für die Zeithorizonte schärfen, sondern wenn wir auch erheblich mehr für die Motivation der Menschen tun. Letztlich muss es darum gehen, die Kräfte der Bürgergesellschaft insbesondere im Osten zu stärken. Denn der Aufbau Ost geschieht nicht nur in Berlin und in den Landeshauptstädten, sondern vor allem auch vor Ort. Aus diesem Grund richte ich auch von diesem Podium aus den dringenden Appell an uns alle: Tun wir alles, um die Menschen im Osten zu motivieren, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, und unterlassen wir alles, was defätistisch ist, die Menschen niederdrückt und unsere erreichten Erfolge schmälert. ({6}) Bauen wir lieber gemeinsam auf Vereine, Verbände, die Kommunen, die Oberbürgermeister und Landräte ({7}) und auf diejenigen im Osten, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können. ({8}) Wenn all das gelingt, wird aller Voraussicht nach auch der Bericht zum Stand der deutschen Einheit 2006 weitere gute Tendenzen aufweisen. Ich sage noch einmal: Wir sind weit davon entfernt, in unseren Anstrengungen nachlassen und uns ausruhen zu können. Wir haben viel erreicht, aber wir haben auch noch viel zu tun. Die Herausforderungen, die sich uns allen gemeinsam stellen, warten. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Joachim Günther, FDP-Fraktion. ({0})

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, zu Beginn möchte ich ganz klar sagen: Das, was Sie zum ersten Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit gesagt haben, war ein guter Einstand. ({0}) Allerdings werden wir genau das tun, was Sie gegen Ende Ihrer Rede erwähnt haben: Wenn Sie Ihren nächsten Bericht zum Stand der deutschen Einheit vorlegen, werden wir abrechnen. Der Form halber möchte ich daran erinnern, dass es CDU/CSU und FDP, indem sie im letzten Jahr einen gemeinsamen Entschließungsantrag eingebracht haben, überhaupt erst ermöglicht haben, dass dieser Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit auch in Zukunft verfasst wird. Wie wichtig er ist, können wir meiner Meinung nach heute sehen. ({1}) Um es vorwegzunehmen: Die positive Grundstimmung Ihres Berichts ist gerechtfertigt. ({2}) Es wurden wirklich sichtbare Fortschritte erzielt: bei der Infrastruktur, dem Bauwesen, dem Städtebau und in anderen Bereichen. ({3}) Wie Sie sehen, betreibe ich keine Schwarzmalerei, was ja schon befürchtet wurde. Ich möchte uns alle auffordern, im Rahmen unserer politischen Argumentation öfter einmal das Positive und nicht immer zunächst das Negative zu betonen. ({4}) Es gibt nämlich zwei, drei Punkte, die man erwähnen sollte: Wir haben immer wieder die große Gabe, die OstWest-Diskussion an einigen Punkten, an denen es meiner Meinung nach nicht notwendig wäre, zu vertiefen. Als Stichworte nenne ich den Solidarpakt II und den Solizuschlag. Durch solche Diskussionen werden Gräben geschaffen, nicht aber zugeschüttet. Vielmehr sollten wir mehr darüber informieren, welche Mittel nach Ostdeutschland fließen und wie sie eingesetzt werden. Außerdem sollten wir Rechenschaft darüber ablegen, ob sie Joachim Günther ({5}) richtig eingesetzt werden. Als Stichwort nenne ich die Bundesergänzungsmittel, die vorrangig für Investitionen vorgesehen sind. Hier gibt es zwischen den verschiedenen Ländern große Unterschiede. Aufgrund der Presselage in dieser Woche möchte ich sagen: Es muss sich endlich bis nach Zweibrücken herumsprechen, dass der Solizuschlag auch von den Menschen im Osten Deutschlands gezahlt wird ({6}) und dass er nicht etwa zweckgebunden für den Osten eingesetzt wird, sondern eine Einnahme des Gesamthaushaltes des Bundes ist. ({7}) Im vorliegenden Bericht wird die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland mit der Arbeitslosenquote in Westdeutschland verglichen: Im Osten liegt sie bei über 18 Prozent, im Westen bei 8 Prozent. Daran zeigt sich ein echtes Manko des Berichts: Wie es um die deutsche Einheit steht, ist nicht allein an der Differenzierung zwischen Ost und West zu erkennen; denn mittlerweile gibt es auch in den alten Bundesländern Gebiete, in denen die Arbeitslosenquote so hoch wie im Osten Deutschlands ist. ({8}) Auch dieser Gedanke sollte meiner Meinung nach in die zukünftigen Jahresberichte zum Stand der deutschen Einheit einfließen. Wir sollten uns in Zukunft mit der entscheidenden Frage beschäftigen, warum die Arbeitslosenquote im Osten flächendeckend so hoch ist. Hierfür sind aus meiner Sicht viele Mängel verantwortlich, die aus der Übertragung der gesellschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse resultieren. Sie ließen sich nicht eins zu eins, wie wir uns das vorgestellt hatten, übertragen. Wenn sich trotz finanzieller Unterstützung nichts bewegt, müssen wir neue Maßnahmen ergreifen und neue Wege gehen. Wir haben dazu in der Vergangenheit Vorschläge unterbreitet und sie in unseren jetzigen Antrag aufgenommen. ({9}) - Man muss sie wiederholen, damit sie sich einprägen: Modellregionen, Länderöffnungsklauseln, Sonderwirtschaftszonen, Mittelstandsförderung. Ich stimme mit dem Minister in dieser Hinsicht voll überein und bin optimistisch, dass das Ganze jetzt schnell umgesetzt wird. Lassen Sie mich einen Satz aus der letzten Debatte zitieren: Schon seit längerer Zeit fordern wir Sie auf, mit dem Bürokratieabbau sowie der Verkürzung von Planungs- und Genehmigungszeiten - das geht weit über das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz hinaus - Ernst zu machen. Recht hat Arnold Vaatz. Er hat ja gleich die Gelegenheit, zu sagen, wie schnell das jetzt umgesetzt werden soll. All das ist ja praktisch schon einmal auf den Weg gebracht worden. Wir als FDP stehen dazu und werden unsere Unterstützung dafür geben. Wir haben auch in der Förderpolitik konkrete Wege aufgezeigt. Es ist richtig: Wir brauchen Wachstumskerne, an die sich andere Gebiete anhängen dürfen. Aber wir müssen auch diesen anderen Gebieten eine Perspektive bieten. Denn wo die Infrastruktur wenig ausgeprägt ist, sind die Abwanderung und die Arbeitslosenzahl hoch. Da gleicht die demographische Entwicklung fast einer Katastrophe. Übrigens gilt das für Ost und West fast in gleichem Maße. Nur kann man das im Osten an einigen Stellen schon im Detail sehen, im Westen steht diese Situation noch bevor. Dem gilt es vorzubeugen. ({10}) Ich möchte ein Beispiel aus dem Gesundheitswesen nennen. Im Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2005 wird das Gesundheitswesen im Osten relativ positiv dargestellt. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Aufgrund der Altersstruktur der Ärzte und der Abwanderung aus bevölkerungsarmen Landstrichen wird von der Ärztekammer zum Beispiel Folgendes festgehalten: Behandlungsbedürftige Patienten müssen eine Entfernung von bis zu 50 km überwinden, um einen Arzt zu erreichen … In absehbarer Zeit werden sich weiße Flecken in der hausärztlichen Versorgung auftun. Ganze Landstriche werden ohne Hausarzt dastehen. Auch solche Punkte müssen wir bei der Diskussion beachten. Denn manche Probleme kann man nicht flächendeckend betrachten; sie betreffen nur einzelne Regionen, einzelne Gebiete. Deshalb ist es besser, in Zukunft mehr auf regionale Unterschiedlichkeiten zu achten. ({11}) Der Bericht der Regierung ist dieses Jahr so umfangreich wie lange nicht. Sie haben Ihren Koalitionsvertrag dort hervorragend abgebildet. Dagegen gibt es nichts zu sagen; viele Punkte sehen wir genauso. Am stärksten brennt uns der Wegfall von EU-Fördermitteln - ein Drittel weniger im Zeitraum 2007 bis 2013; das sind Millionenbeträge - auf den Nägeln. Herr Minister, ich freue mich, dass Sie zugesichert haben, dass das ausgeglichen wird; ({12}) ich habe es so verstanden und das hat die CDU in ihrem letzten Antrag ja auch so gefordert. Ich kann Ihnen dazu nur viel Erfolg wünschen und hoffe, dass auf den Aufbau Ost durch die Streichung von EU-Fördermitteln am Ende keine zusätzlichen Einbrüche zukommen. ({13}) Wir haben unseren Antrag vorgelegt. Ich bin gespannt, wie wir in der Diskussion an dem einen oder anJoachim Günther ({14}) deren Punkt noch zueinander finden können. Wir sollten im Interesse der Menschen nach vorn schauen und uns nicht in kleinkarierten Diskussionen verlieren. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, Professor Dr. Wolfgang Böhmer. ({0}) Dr. Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident ({1}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich wollte Ihnen in dieser Debatte einmal die Sicht eines neuen Bundeslandes „zumuten“. ({2}) - Das bestreite ich doch gar nicht. Ich will Sie auch loben; warten Sie es ab. ({3}) Erstens. In allen Bereichen, in denen es nicht um die wirtschaftliche Entwicklung, den Arbeitsmarkt und die Verschuldung geht, ist die Wiedervereinigung in Deutschland, die innere Einheit, so weit hergestellt, dass wir aus meiner Sicht kaum noch eine gesonderte Debatte über dieses Thema brauchen. ({4}) Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein purer Zufall ist, dass die beiden Männer aus Sachsen, die jetzt im Irak in Geiselhaft genommen worden sind, für Gesamtdeutschland haften sollen. Es ist aber kein Zufall, dass wir im Osten und im Westen sowie im Süden und im Norden unseres Landes in gleicher Weise Anteil an ihrem Schicksal nehmen, auf ihre Freilassung hoffen und darum bitten und kämpfen. ({5}) Sobald aber von Geld und Finanzen die Rede ist, wird der Ton in Deutschland - auch in den Medien - etwas unfreundlicher. Das erleben wir jedes Jahr. Lassen Sie mich deswegen bitte auch etwas zu dem Maßstab sagen, mit dem in den Fortschrittsberichten gemessen, bewertet und beurteilt wird. Wenn man die Situation nur haushaltstechnisch, nur fiskalisch und nur mit den unter den Finanzministern vereinbarten Maßstäben misst, dann ist alles richtig und dann gibt es nichts abzustreiten. Wenn es aber darum geht, den Wirtschaftsstandort unter Wettbewerbsbedingungen und zum größten Teil gegen einen gesättigten Markt aufzubauen - wo wir doch alle wussten, dass wir viel mehr als Konsumenten denn als Produzenten gefragt sind -, dann muss man eben nicht nur in Beton und Fabriken, sondern auch in Ausbildung, Fortbildung und vor allen Dingen in Innovationen, in Entwicklungsförderung usw. investieren. All dies zählt haushaltstechnisch aber nicht zu den investiven Mitteln. Deswegen müssen wir uns das regelmäßig mit so freundlichen Formulierungen wie der, dass das Geld zum Stopfen von Haushaltslöchern im Osten verplempert werden würde, um die Ohren hauen lassen. Diese Diskussion tun wir uns regelmäßig an, weil wir über diese Probleme mit der falschen Messlatte und viel zu einseitig diskutieren. ({6}) Wir haben auch noch einige andere Probleme. Ich höre mit großer Dankbarkeit, dass in den Diskussionen immer wieder ausgesagt wird, dass der Solidarpakt und der Korb II wie vereinbart weiter gelten und unverändert umgesetzt werden. Das ist unbestritten. Ich bitte aber, wenigstens darauf aufmerksam zu machen, dass die Probleme im Detail stecken. Bei der Definition der Begriffe, durch die gezeigt wird, was denn nun alles zum Korb II gehört, sind Interpretationen möglich. Es waren clevere Finanzbeamte, die das wussten. ({7}) Sie wussten, dass sich dort die eigentlichen Stellschrauben befinden, an denen man in beide denkbaren Richtungen drehen kann. Deswegen bitten wir darum - nicht erst seit gestern -, dass wir uns darüber einigen, mit welchen Definitionen festgelegt wird, was in diesen Korb eingerechnet werden kann und was nicht. Wir waren schon einmal so weit. Herr Tiefensee, mit Ihrem Amtsvorgänger, Herrn Stolpe, hatten wir uns in der Ministerpräsidentenkonferenz schon einmal darauf geeinigt, dass wir mit der Bundesregierung darüber in Gespräche kommen. Das ist vom damaligen Bundesfinanzminister zurückgenommen worden - so will ich einmal sagen -; denn diese Diskussion hätte im Grunde genommen dazu geführt, dass der Bund auf diese Stellschrauben verzichtet hätte. Für die eigene Planungssicherheit möchten wir, dass wir dieses Thema einmal ausdiskutieren können; denn wir werden - auch das steht uns bevor - in der Föderalismuskommission noch einige schwierige Grundsätze entscheiden müssen. Ich weiß, dass es viele Länder in Deutschland gibt, die für einen Wettbewerbsföderalismus schwärmen. Wir müssen ihnen sagen: Wir haben ja nichts dagegen, aber Wettbewerb setzt voraus, dass wenigstens am Start die gleichen Chancen bestehen. ({8}) Die sehen wir über längere Zeit noch nicht. Deswegen ist unser Ziel bestenfalls ein kooperativer Gestaltungsföderalismus, über dessen Ausgestaltung wir uns wahrscheinlich noch öfter und sicherlich auch kontrovers unterhalten müssen. ({9}) Ministerpräsident Dr. Wolfgang Böhmer ({10}) Dass die jetzige Bundesregierung ausdrücklich eine Deregulierungsmaßnahme vorgesehen hat, registrieren wir mit großer Dankbarkeit. Wir haben das in SachsenAnhalt hinter uns und sind dort ganz schnell an unsere Grenzen gestoßen. Ich sage Ihnen voraus: Alle Verbände, vor allem die Wirtschaftsverbände, die das fast jeden Tag von Ihnen fordern, werden in Beweisnot kommen, wenn Sie von ihnen verlangen, dass sie ganz konkrete Beispiele dafür nennen, wo es langgehen soll. ({11}) Trotzdem haben wir ein echtes Deregulierungsproblem. Ich kann mich erinnern, dass mir schon in den frühen 90er-Jahren viele Verwaltungsbeamte gesagt haben, dass sie die Wirtschaft in den alten Bundesländern in den 50er-, 60er- und frühen 70er-Jahren mit diesem Regelungsdickicht auch nicht hätten aufbauen können. Deswegen erhoffen wir uns von der Föderalismuskommission, insbesondere bei der Umsetzung von Verwaltungsvorschriften und Bundesgesetzen etwas mehr Länderkompetenz zu erreichen. ({12}) Jeder von Ihnen weiß, dass dieses Problem noch nicht ausdiskutiert ist, wir hier aber trotzdem zu einer Lösung kommen müssen. Verehrte Kollegen von der FDP, Ihre Forderung nach Modellregionen setzt voraus, dass wir dafür die verfassungsmäßige Grundlage schaffen. Ansonsten reden wir hier über Phantome. Die Probleme in diesem Bereich müssen jetzt - ich hoffe, dass uns dies gelingt - durch Länderöffnungsklauseln gelöst werden, sodass wir insbesondere für die neuen Bundesländer mehr Beweglichkeit erreichen. Ich sage auch, wo die Grenzen sein werden. Die ewige Forderung, mit der Gießkannenförderpolitik aufzuhören, halte ich bloß noch für Polemik in den Medien. In keinem mir bekannten Bundesland wird dieses Prinzip verfolgt; denn das können wir uns gar nicht mehr leisten. Alle Bundesländer - von Mecklenburg-Vorpommern bis Thüringen - haben in der Zwischenzeit ihre eigenen Schwerpunkte herauskristallisiert. Diese sind durchaus unterschiedlich. Selbstverständlich konzentrieren wir uns bei der Förderung auf Schwerpunkte. Aber - darin müssen wir uns einig sein - welches Land an welcher Stelle welchen Schwerpunkt setzt, sollten die Länder - das ist meine Bitte - selbst entscheiden. ({13}) Ich sage das deswegen, weil ich die Diskussion kenne, die Förderkapazitäten des Bundes zusammenzufassen und gleichsam in Berlin zu entscheiden, was in den neuen Bundesländern wo gefördert wird. So stellen wir uns das nicht vor. ({14}) - Da will ich ganz vorsichtig sein. Ich habe schon früher gesagt - Ihr früherer Chef weiß das -: Eine Wiederholung der Staatlichen Plankommission schwebt uns nicht vor. ({15}) Neben diesen Problemen werden wir auch noch die Zukunftsgestaltung untereinander ausdiskutieren müssen. Sie haben zu Recht auch die Arbeitsmarktproblematik angesprochen. Ich erlebe das, was uns allen schon längst klar ist und was wir nur noch umsetzen müssen: Die modernen Investitionen sind nicht nur immer kapitalintensiver, sondern in der Wirtschaft wird immer weniger Arbeit ausgekoppelt. Das heißt, die aktuellen Probleme werden sehr wahrscheinlich nicht nur in Gesamtdeutschland, sondern auch in allen mitteleuropäischen Industrienationen akut werden. Für mich ist erkennbar sicher, dass es zwischen dem geschützten sozialtransferfinanzierten, nicht nachfrageorientierten Arbeitsmarkt auf der einen Seite - den es schon immer gegeben hat - und dem freien, marktorientierten, am Wettbewerb teilnehmenden Arbeitsmarkt auf der anderen Seite irgendeine Übergangslösung, teils in Form von Sozialtransfers, teils tariffinanziert, geben muss, die wirtschaftsfern zu organisieren ist, die aber Langzeitarbeitslosen trotzdem eine Zukunftsperspektive bietet. Darüber diskutieren wir. Ich habe die herzliche Bitte, dass wir diese Diskussion erst dann abschließen, wenn wir wenigstens in einigen Ländern - die neuen Bundesländer sind dazu geradezu prädestiniert - Modellversuche unterschiedlichster Art zulassen, die wir dann gemeinsam auswerten, bevor endgültig über Modelle, wie etwa über den Kombilohn, entschieden wird. Aber darüber werden wir noch lange debattieren müssen. ({16}) Ich bin dankbar, dass inzwischen die Verlängerung der Dauer der Investitionszulage offensichtlich unstrittig ist. In den Koalitionspapieren haben wir, um dafür unter uns eine Mehrheit herzustellen, allerdings nicht nur von Verlängern und Weiterentwickeln gesprochen. Ich könnte Ihnen auch sagen, welche Hintergründe das hat. Schon die Verlängerung der Dauer der Zulage ist wichtig. Wenn wir uns im Zusammenhang mit den anderen Maßnahmen, die ich jetzt, wenn es um die Mittel für die GA geht, bewusst nicht anspreche, über eine komplexe Lösung hinsichtlich der Verlängerung der Dauer der Investitionszulage und eine entsprechende Verteilung der GA-Finanzierung einig werden, dann halte ich auch diese Probleme trotz der kontroversen Debatte für lösbar. Ich möchte noch eine weitere Bitte formulieren. Vieles wird für die neuen Bundesländer davon abhängen, wie wir die Konditionen für die Kofinanzierung strukturieren. Es hat keinen Zweck, uns Geld zur Verfügung zu stellen, das wir gerne einsetzen möchten, dies aber ohne eine exorbitante Verschuldung nicht tun können. Ministerpräsident Dr. Wolfgang Böhmer ({17}) Dadurch sind wir zum Teil in eine schwierige Situation gekommen, für deren Lösung wir keines neuen Geldes bedürfen. Vielmehr ist bei der Regelung zur Kofinanzierung ein größeres Verständnis füreinander notwendig. Wir diskutieren zurzeit über die Verteilung der EUMittel. Mir ist bekannt, dass der Bund ein eigenes, aus EFRE-Mitteln finanziertes Verkehrsprogramm auflegen möchte. Das halte ich für ausgesprochen gut und sinnvoll und meine, dass es darüber sehr schnell zu einem Konsens kommen wird. Was aber das vom Bund geplante ESF-Programm mit einem Volumen von etwa 1,3 Milliarden Euro angeht, haben wir - das sage ich deutlich - relativ große Bedenken, weil die in diesem Programm vorgesehenen Maßnahmen unserer Meinung nach auf Landesebene geplant und umgesetzt werden sollten. Führt der Bund ein solches Programm durch, können wir die Mittel nur im Rahmen einer Kofinanzierung abrufen. Dadurch erhöht sich der Aufwand für uns. Wenn wir hinsichtlich der Erleichterung der Kofinanzierung und der Verteilung der EU-Mittel auf die einzelnen Programme und die unterschiedlichen Ebenen einen Konsens finden, halte ich aber die Probleme im gegenseitigen Interesse für lösbar. Ich möchte ein letztes Problem ansprechen: die demographische Entwicklung. Bei diesem Thema wird deutlich, dass der Aufbau Ost eine gesamtdeutsche Aufgabe ist. ({18}) Die DDR ist zusammengebrochen, weil die Menschen davongelaufen sind. Wir müssen den Aufbau Ost so strukturieren, dass die Abwanderung der Bevölkerung in möglichst kurzer Zeit zumindest so weit aufgehalten wird, dass die Bevölkerungsbilanz ausgeglichen werden kann. Noch können wir viele negative Folgen einer starken Abwanderung vermeiden. Aus diesem Grunde ist es mir sehr wichtig, festzuhalten, dass es nicht nur im Interesse des Bundes, sondern auch aller deutschen Bundesländer liegt, dass wir die regionalen Probleme in den neuen Bundesländern in einem überschaubaren Zeitraum in den Griff bekommen. Dafür wollte ich auch an dieser Stelle werben. Vielen Dank. ({19})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Lothar Bisky, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Lothar Bisky (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003739, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bertolt Brechts „Kinderhymne“ beginnt mit den Zeilen: Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand, Dass ein gutes Deutschland blühe, Wie ein andres gutes Land. Das scheint mir immer noch aktuell zu sein, und zwar nicht nur für einen Teil des Landes. ({0}) Der Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit behandelt aber leider nur den Aufbau Ost. Überdies liest sich der Bericht wie eine unendliche Geschichte vom „Nachbau West“. Wie sonst ist es zu erklären, dass die ostdeutschen Verbände in dem Bericht gar nicht erwähnt werden? Der Arbeitslosenverband, die Volkssolidarität und das Kuratorium ostdeutscher Verbände kommen mit ihren Erfahrungen und Vorschlägen aus 15 Jahren deutscher Einheit nicht vor. Ich habe in Ihrer bemerkenswert sachlichen Rede, Herr Minister, ({1}) den Hinweis auf Verbände und Vereine zur Kenntnis genommen und bin guter Hoffnung, dass diese Verbände im nächsten Jahr berücksichtigt werden. Man muss zwar nicht auf alles eingehen, aber erwähnen sollte man sie schon. Vieles im Zusammenhang mit Ostdeutschland nach der Wende ist positiv hervorzuheben, zum Beispiel die individuellen politischen Freiheiten, die Entwicklung der technischen und medialen Infrastruktur und die Weltoffenheit. Bei allem Vorwärtsschauen dürfen aber die vorhandenen Probleme nicht verschwiegen werden. Der Aufholprozess Ost ist - Ihre eigenen Zahlen belegen das nachdrücklich - in ein heftiges Stocken geraten. Die Schere zwischen Ost und West wird nicht weiter geschlossen. Im Gegenteil: Sie öffnet sich wieder. Das hat zu dem Problem der massenhaften Abwanderung der jungen, leistungsstarken Menschen aus dem Osten geführt. Aus dem Bericht geht nicht hervor, wie Sie dieses Problem lösen wollen. Er geht zwar auf die alte Bundesregierung zurück, aber auch von der neuen Regierung sind noch keine substanziellen Vorschläge dazu erfolgt. ({2}) Im Gegenteil: Gestern hat der Kollege Ramsauer von der CSU vorgeschlagen, die Mittel für regionale Wirtschaftshilfen auch im Osten zu kürzen. Das ist Ihre Politik. Wir halten sie für falsch. ({3}) Sicher, der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen enthält manch richtigen Vorschlag, ({4}) wie zum Beispiel den, einen Schwerpunkt auf Bildung und Ausbildung zu legen. Aber warum so zaghaft? Eine „einvernehmliche Lösung bei der Bereitstellung von zusätzlichen Ausbildungsplätzen“, wie Sie es als Bitte an die Bundesregierung formulieren, wird ein weiteres Mal viele junge Menschen im Regen stehen lassen. Haben Sie doch den Mut, endlich eine Ausbildungsplatzumlage einzuführen! ({5}) Die Zauberformel zum Stopp der Abwanderung junger Leute aus dem Osten Deutschlands haben auch wir von der Linken nicht. ({6}) Aber wir wissen: Junge Menschen brauchen eine Perspektive und wer eine Familie gründen will, der braucht die Gewissheit, sie ernähren zu können. Genau deshalb brauchen wir eine aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die diesen Namen auch verdient. Die Arbeitslosigkeit ist das zentrale Problem in Deutschland, in Hessen und in Rheinland-Pfalz genauso wie in SachsenAnhalt und in Mecklenburg-Vorpommern. Aber im Osten Deutschlands gibt es mit fast 20 Prozent mehr als doppelt so viele Arbeitslose wie im Westen. Die Jobs, die es gibt, sind so schlecht bezahlt, dass es zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel ist. ({7}) Deshalb werden wir morgen einen Antrag auf Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns einbringen. Die politische Verantwortung für gleichwertige Lebensverhältnisse gehört in den Mittelpunkt der bundespolitischen Aufgaben. Die Probleme der Vereinigung Deutschlands müssen als soziale Fragen des ganzen Landes behandelt und gelöst werden, in Frankfurt am Main wie in Frankfurt an der Oder. Deshalb habe ich absolut kein Verständnis dafür, dass die Bundesregierung in ihrem Bericht an der Agenda 2010 festhält. Arbeitsvermittlung wird dort nicht besser, wo keine Arbeitsplätze sind. ({8}) Die Agenda 2010 hat sich in Ostdeutschland als das erwiesen, was sie in strukturschwachen Regionen nur sein kann: ein Entvölkerungsprogramm, eine Enteignung derjenigen, die in Umschulungen und Arbeitsfördermaßnahmen eine rasante Deindustrialisierung erlebt haben. Etlichen droht nun mit Hartz IV und der Rente ab 67 tatsächlich Altersarmut. ({9}) Darüber können wir nicht einfach hinweggehen, wie es der Jahresbericht glauben machen will, und so tun, als wäre alles gut. Nein, das ist nicht gut. Das muss verändert werden. ({10}) Zumindest haben Sie sich endlich dazu durchringen können, den Langzeitarbeitslosen im Osten Deutschlands 14 Euro mehr beim Arbeitslosengeld II zu zahlen. Wie aber sind Sie nur auf die absurde Idee gekommen, im Gegenzug das Arbeitslosengeld II für die jungen Leute zu kürzen und sie obendrein zu entmündigen und somit junge Erwachsene zweiter und dritter Klasse zu schaffen? Dazu sagen wir eindeutig Nein. ({11}) - Ich beglückwünsche Sie dann zum 40. Jahrestag dieses Arguments. Dieser wird bald kommen, Herr Vaatz. ({12}) Es geht in Ostdeutschland um die Stabilisierung der wirtschaftlichen und der sozialen Lage. Dazu hat die Linke Vorschläge gemacht, die in unserem Entschließungsantrag nachzulesen sind. Sie treffen sich in vielen Punkten mit dem, was die Dohnanyi-Kommission unterbreitet hat. Zu unseren Vorschlägen gehört selbstverständlich auch, die Kompetenzen und Leistungen der Ostdeutschen endlich und umfassend zu achten und diese Potenziale aktiv zu nutzen. ({13}) In den Debatten über die deutsche Einheit spielen die gewaltigen Transferleistungen immer wieder eine herausragende Rolle. Sie haben in der Tat eine entscheidende Bedeutung. Ich will das ausdrücklich würdigen. Ich wiederhole: Ich will das ausdrücklich würdigen. ({14}) Doch muss immer wieder daran erinnert werden - Herr Kollege Günther von der FDP hat es dankenswerterweise gemacht -, dass auch im Osten Solidaritätszuschläge gezahlt werden. Man muss auch daran erinnern, dass die Verschwendung von Transferleistungen für sinnlose Großprojekte nur selten allein in ostdeutschen Planungsbüros ausgetüftelt worden ist. ({15}) Meine Partei hat sich im Übrigen immer dafür eingesetzt, die Transfergelder statt für fragwürdige Großprojekte auch für den Mittelstand und für kleine Unternehmen einzusetzen, weil dann Arbeitsplätze entstehen. Nie zuvor habe ich von Vertretern aller Parteien Beispiele aus der DDR so oft positiv erwähnt gefunden wie im vergangenen Jahr. Sie, Herr Ministerpräsident Böhmer, haben an die Kredite für junge Familien erinnert. Zwölf Jahre bis zum Abitur sind in einigen Bundesländern schon Realität und die Poliklinik erlebt zu Recht eine Renaissance, ({16}) wenn sie in Ihrem Bericht auch als medizinisches Versorgungszentrum erscheint. Der Name ist nicht wichtig. Wir sind uns mit Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, einig, dass die deutsche Einheit eine Aufgabe Gesamtdeutschlands ist. Ihre Forderung, die Bundesregierung möge ein Gesamtkonzept für den Aufbau Ost entwickeln, unterstützen wir. Darum haben wir in unserem Entschließungsantrag unseren Vorschlag erneuert, einen speziellen Ausschuss für die Angelegenheiten der neuen Länder und anderer strukturschwacher Regionen einzusetzen. Da können wir dann über alles reden. Das, was wir allerdings entschieden ablehnen, ist Ihre Idee von den größeren Modellregionen für Deregulierung. ({17}) Das Tarif- und Arbeitsrecht zu schleifen, wird keinen einzigen Arbeitsplatz bringen. Das haben wir in 15 Jahren niedrigerer Löhne im Osten wohl hinreichend gründlich erfahren dürfen. ({18}) Mich freut es, wenn Sie, wie im Bericht zu lesen ist, mehr Ganztagsangebote in Kitas und Schulen als Plus für die Bildung erkannt haben. Besser eine späte Einsicht als gar keine. Überhaupt sollten wir die Bildungspolitik genauso ernst wie die Wirtschaftspolitik nehmen. Lassen Sie mich deshalb abschließend einen Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ zitieren. Er schrieb im Jahr 2005: Alle halten Bildung für wichtig, und alle haben sich daran gewöhnt, weniger dafür zu zahlen, als notwendig und vernünftig wäre. - Ende des Zitats und Ende meiner Redezeit. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({19})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Bisky, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen im Namen aller Kolleginnen und Kollegen und wünsche Ihnen persönlich und politisch alles Gute. ({0}) Das Wort hat der Kollege Peter Hettlich, Bündnis 90/ Die Grünen.

Peter Hettlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003554, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bevor ich zu meinen Ausführungen komme, möchte ich einige Vorbemerkungen machen. Ich bin 1990 von Köln nach Sachsen gezogen und habe die letzten 16 Jahre erlebt, wie der Aufbau stattgefunden hat. Ich glaube, dass es wichtig ist, die Würdigung der Leistungen der Ostdeutschen den Reden immer wieder voranzustellen. Herr Minister, Sie haben eben von der Motivation gesprochen, die wir in Ostdeutschland stärken müssten. Ich habe in den letzten 16 Jahren erlebt, dass die Ostdeutschen besonders hoch motiviert waren. Schauen Sie sich an, was die Ostdeutschen alles auf sich nehmen, um eine Arbeit aufzunehmen, wie weit sie pendeln. Wir müssen den Ostdeutschen nicht sagen, sie müssten stärker motiviert sein. Ich weiß, was Sie gemeint haben, wollte aber betonen, dass sich die Westdeutschen, was die Motivation angeht, eine Scheibe abschneiden könnten. ({0}) Weiterhin wurde in den Reden Optimismus und Pessimismus angesprochen. Dazwischen liegt für mich der Realismus. Der verpflichtet uns aus meiner Sicht zu einem ehrlichen Umgang mit der Situation und den Menschen. Die Menschen in Ostdeutschland erwarten von uns keine großen Hymnen, keine großen Programme und keine Masterpläne, sondern sie erwarten eine offene und ehrliche Analyse und ehrliche Botschaften. Und sie erwarten von uns vor allen Dingen, dass wir einen langen Atem haben, dass wir uns ehrlich bemühen und langfristig am Ball bleiben. Den Politikern wird immer wieder vorgeworfen, dass sie nur in Schritten von vier Jahren denken. Ein solches Denken ist für den Aufbau Ost genau das Falsche. Wir brauchen einen langen Atem. Wir sind in diesem Bereich Marathonläufer und keine 100-Meter-Läufer. ({1}) Ich muss auch an dieser Stelle sagen - das ist eine ehrliche Botschaft -: Die Lage in Ostdeutschland ist schwierig. Auch wenn ich kein Pessimist, sondern ein hoffnungsloser Optimist bin: Aus meiner Sicht ist die Situation dort schwieriger, als es von manchen heute gesagt wurde. Die weitere Entwicklung in Ostdeutschland - ich wünsche mir, dass sie positiv verläuft - ist von Gefahren bedroht und diese Gefahren müssen wir benennen. Wir können den Menschen in Ostdeutschland nicht immer nur „Das gibt es nicht“ sagen, sondern wir müssen auch konstruktive Vorschläge machen. Der Anpassungsprozess zwischen Ost und West wird aus meiner Sicht länger als 15 Jahre dauern. Ich weiß, dass häufig der Überbringer einer Botschaft geprügelt wird. Ich muss an dieser Stelle sagen: Meine Behauptung wird von einer ganzen Menge von Fachleuten gestützt. Auch sie sagen, dieser Anpassungsprozess wird nicht in 15 Jahren zu schaffen sein; wir werden einen längeren Zeitraum brauchen. Auch an diesem Punkt sage ich: Hier braucht es Marathonläuferqualitäten und keine Kurzatmigkeit. Wir werden diesen Prozess aus meiner Sicht über einen sehr viel längeren Zeitraum begleiten müssen. Ich möchte über drei Handlungsfelder sprechen. Manche Kollegen haben den demographischen Wandel angesprochen. Eines sollte uns bewusst sein: Dieser Prozess ist nicht mehr umkehrbar. Diese Entwicklung hat schon vor vielen Jahren begonnen. Professor Sedlacek von der Universität Jena hat gesagt: Die Geburtenraten in Deutschland sinken bereits seit dem Jahre 1890. 1937 war das letzte Jahr, in dem die Zahl der Geburten in Deutschland die der Todesfälle ausgeglichen hat. Der demographische Wandel findet also seit fast 70 Jahren in verschärftem Maße statt. Die Geburtenrate in der DDR lag zwischenzeitlich deutlich über dem westdeutschen Niveau. Heute ist die Geburtenrate in Ostdeutschland niedriger als die in Westdeutschland. Das Problem ist: Dieser Prozess ist nicht mehr umkehrbar. Da vor 20 Jahren zu wenige Kinder geboren wurden, fehlt es heute an Frauen, die Kinder zur Welt bringen. Wir müssen ganz deutlich sagen: Diese Entwicklung werden wir nicht ändern. Wir müssen diesen Prozess begleiten und gestalten; aber wir werden ihn nicht umkehren. Wir werden ihn vielleicht verlangsamen können. ({2}) Hinzu kommt - darauf hat auch Kollege Bisky eben hingewiesen - die Abwanderung. Wenn wir ein bisschen genauer hinschauen, erkennen wir, dass Abwanderung aus Ostdeutschland nicht immer unbedingt etwas damit zu tun hat, dass die jungen Leute dort weggehen, weil sie keine berufliche Perspektive haben. Sie gehen zum Teil weg, weil die Angebote in Westdeutschland besser sind. Ich habe mit dem Arbeitsamtsleiter von Bautzen gesprochen. Er hat mir gesagt: 40 bis 50 Prozent der jungen Leute, die weggehen, haben einen Job; aber sie gehen weg, weil die westdeutschen Unternehmen attraktivere Bedingungen bieten. Wir wollen keine Mauer hochziehen und keinen Zaun bauen, um diesen Menschen den Weggang zu verwehren. Dennoch handelt es sich um ein Problem. An dieser Stelle zeigt sich natürlich die Krux: Mit niedrigen Löhnen in Ostdeutschland kommen wir nicht weiter. ({3}) Das muss doch einmal deutlich gesagt werden. Junge Leute verlassen Ostdeutschland auch wegen der problematischen Ausbildungsperspektive. Kollege Bisky, wir wissen auch: Der Geburtenknick von 1991 wirkt sich nächstes und übernächstes Jahr auf den Ausbildungsmarkt aus. Dann werden die Handwerksmeister - der Kollege Rehberg hat es eben gesagt - auf den Knien darum bitten, junge Leute für die Ausbildung zu bekommen. Man wird sich in einen Wettkampf um diese jungen Leute begeben. Ich frage mich, ob die ostdeutschen Unternehmen den Wettkampf mit den westdeutschen Unternehmen, die genauso junge Leute suchen werden, auf die Dauer gewinnen können. Auch dieses Problem sollten wir uns noch einmal bewusst machen. Ich will an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir einen Wettbewerb um die Köpfe führen müssen. Voraussetzung für einen solchen Wettbewerb ist eine gute Ausbildung. Eine gute Ausbildung war übrigens immer ein besonderes Qualitätsmerkmal Ostdeutschlands. Das Industrial Investment Council - eine Organisation, die sich darum bemüht, ausländische Investoren nach Deutschland zu holen - hat das immer als einen der wesentlichen positiven Standortfaktoren Ostdeutschlands hervorgehoben. Wenn ich mir die Zahlen über die jungen Leute, die keinen Hauptschulabschluss haben, anschaue, dann erkenne ich: Hier droht weiteres Ungemach. Die Finnen wenden so viel Geld für ihre Schüler auf, weil sie der Auffassung sind, dass sie es sich nicht erlauben können, auch nur einen einzigen Schüler zu vernachlässigen. Ich wünsche mir, dass wir diese Philosophie in Deutschland insgesamt und speziell in Ostdeutschland praktizieren. ({4}) Das ist ein ganz zentrales Anliegen. Nur mit guten, fundierten Fach- und Hochschulausbildungen haben wir eine Chance, den Standort Ostdeutschland weiter nach vorn zu bringen. Zur Abwanderung junger Leute aus Ostdeutschland will ich noch etwas anderes sagen: Es fehlt die Sensibilität für weiche Standortfaktoren. Ich bin Vorsitzender eines Jugend- und Kulturzentrums in Oschatz. Ein Angebot wie dieses Zentrum fehlt in der Region. Es ist vielleicht das einzige Angebot dieser Art in einem Umkreis von 30 oder 40 Kilometern. Das ist selbst aus der Sicht des CDU-Bürgermeisters einer der positiven Standortfaktoren für diese Stadt. Deswegen müssen wir den Fokus stärker auf diese weichen Standortfaktoren richten; ({5}) denn das sind letztlich harte Faktoren dafür, dass junge Leute in Ostdeutschland bleiben. Es geht also nicht immer nur um Jobs, sondern es geht auch um solche Dinge. Wir können den demographischen Wandel, wie gesagt, nicht mehr umkehren; wir müssen ihn begleiten. Wir müssen uns - das haben schon einige Redner hier gesagt - intensiv um den Strukturwandel im ländlichen Raum kümmern. Dabei haben wir eine ganze Menge zu bewältigen. Die Frage ist: Wie gehen wir mit der Infrastruktur im ländlichen Raum, sowohl der technischen als auch der sozialen, um? Das sind Herausforderungen und die müssen wir in den nächsten zwei, drei, vier Jahren angehen, weil es da im Prinzip jetzt noch Möglichkeiten gibt. Wir müssen das also jetzt gestalten. Wir müssen das jetzt angehen. Wir werden unseren Teil dazu beitragen. ({6}) Ein Exkurs zur wirtschaftlichen Entwicklung und zur Arbeitslosigkeit. Wir wissen, dass das Wachstum seit dem Ende der großen Förderprogramme im Bauwesen, der Sonderabschreibungsprogramme, stagniert. Wir wissen auch, dass die Bauwirtschaft beim Wirtschaftswachstum in Ostdeutschland auch heute noch im Prinzip einen sehr negativen Effekt entfaltet. Es gibt eine positive Entwicklung im produzierenden Gewerbe. Aber wir müssen zugeben, dass der Anteil des industriellen Sektors an der Bruttowertschöpfung in Ostdeutschland nur 15 Prozent, in Westdeutschland dagegen 24 Prozent beträgt. Diese Lücke von 9 Prozentpunkten müssen wir überwinden. Das ist ein Riesenprojekt. Dazu müssen wir in den nächsten Jahren eine Riesenanstrengung unternehmen. Ob wir das Ziel überhaupt erreichen können, weiß ich nicht, aber ich sage Ihnen an der Stelle: Das ist heute noch zu wenig. Die Krux im produzierenden Gewerbe ist - Herr Böhmer hat es eben noch einmal gesagt -, dass die Betriebe sehr gute Wachstumsraten haben, aber keine oder zu wenige Arbeitsplätze schaffen. An der Stelle sind wir bei der Förderpolitik möglicherweise in einer Sackgasse. Ich bin zwar der Meinung, dass wir hier weiter fördern müssen und dass wir das als ein Standbein brauchen, aber wir müssen uns schon überlegen: Woher kommen eigentlich die Arbeitsplätze von morgen? Ich sehe die Aufgabe ganz klar darin, die wissensbasierten Berufe, Industrien und Produktionsfelder der Zukunft aufzutun. An diese Aufgabe müssen wir herangehen. Das ist aus meiner Sicht eine zentrale Aufgabe. ({7}) Ich habe eben schon gesagt, dass sich die niedrigen Löhne in Ostdeutschland aus meiner Sicht mittlerweile als ein zentrales Problem darstellen. Wir sehen, dass die Löhne nicht dabei helfen, junge Leute im Osten zu behalten. Ein zweiter Aspekt ist: Wir schaffen uns damit eigentlich die Probleme von morgen. Es ist schon heute so, dass Leute mit 800 Euro brutto nach Hause gehen. Das ist für manchen Westdeutschen wohl unvorstellbar. Sie können sich überlegen, was die Leute netto verdienen. Sie können sich überlegen, was die netto bekommen, wenn sie dann arbeitslos werden. Denken Sie auch einmal darüber nach, was die netto dann bekommen, wenn sie in Rente sind. Wir schaffen uns mit dieser Ideologie vom Niedriglohnsektor heute also die Altersarmut von morgen. ({8}) Wir kommen nicht daran vorbei - das wollte ich an dieser Stelle ganz deutlich sagen -, hier ohne Ideologie auch über das Thema „Mindestlöhne in Ostdeutschland“ zu sprechen. Was die Obergrenzen angeht, bin ich sehr offen. Eben wurden noch einmal die Förderprogramme angesprochen. Ich verstehe nicht, warum die Koalition an der Investitionszulage in der jetzigen Form festhält. Wir wissen alle wirtschaftswissenschaftlichen Institute auf unserer Seite. Die haben uns immer wieder bestätigt, dass die I-Zulage problematisch ist, weil sie zu großen Mitnahmeeffekten führt. Wir haben immer wieder vorgeschlagen: Lasst uns doch mit der Gemeinschaftsaufgabe Ost ein neues Instrument schaffen, bei dem wir stärkere Gestaltungsmöglichkeiten und vielleicht auch mehr Kontrolle haben! Ich verstehe nicht, warum Sie auf die Argumente noch nicht eingegangen sind. Wir werden das im Laufe des ersten Halbjahres verfolgen, wenn Sie darüber verhandeln. Wir werden die Diskussion mit Ihnen führen. Last, but not least: Herr Böhmer, ich weiß um die Probleme Ihres Landes. Ich weiß auch, dass die Herausforderungen, die Sie zu bewältigen haben, gewaltig sind. Aber ich sage noch einmal: Die Fehlverwendung der Solidarpaktmittel ist ein Problem. Die Frage ist, wie wir mit dem Thema umgehen. Ich habe kein Problem damit, wenn aus den Solidarpaktmitteln beispielsweise Kofinanzierungen bestritten werden. Das war beim Solidarpakt I möglich, ist aber beim Solidarpakt II nach dem Gesetzeswortlaut eigentlich nicht möglich. Ich bin an der Stelle sehr entspannt. Man müsste sich aber vorher einmal darüber unterhalten, was man macht. Dieses Gespräch zwischen Bund und Ländern muss unbedingt geführt werden. Für die gesamtdeutsche Solidarität ist es ganz wichtig, dass wir an dieser Stelle zu einer vernünftigen Lösung kommen. Eines will ich uns und Ihnen, uns allen hier im Hause, ersparen: diese unsäglichen Debatten, die wir immer im Januar oder Februar führen, wenn die Fortschrittsberichte auf den Tisch kommen oder an die Presse durchgestochen werden. Das hilft uns definitiv nicht. ({9}) Es gäbe noch vieles andere zu sagen. Der Aufbau Ost ist ein Riesenfeld. Wir werden den Prozess weiter kritisch und konstruktiv begleiten. Das garantiere ich Ihnen. Wir werden auch nicht zögern, den Finger in offene Wunden zu legen. Ich sage Ihnen aber noch einmal: Auf die nächsten vier Jahre kommt es an. Die große Koalition hat eine bedeutende Aufgabe vor sich und trägt große Verantwortung. Wir werden das jedenfalls von unserer Seite aus engagiert begleiten. Danke schön. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Andrea Wicklein, SPDFraktion. ({0})

Andrea Wicklein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003659, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heute hier diskutierte Bericht zur deutschen Einheit bildet aus meiner Sicht eine sehr gute Grundlage, um 15 Jahre nach der deutschen Vereinigung eine Zwischenbilanz zu ziehen. Der Blick in den Bericht zeigt: Wir sollten sehr zurückhaltend mit Pauschalurteilen sein, ({0}) weil sich die Entwicklung in Ostdeutschland wirklich sehr differenziert darstellt. ({1}) Weder Schwarzmalerei, so wie es die Linke in ihrem Antrag betreibt, ({2}) noch Schönfärberei bringen uns an dieser Stelle weiter. Ihr Antrag, sehr geehrte Damen und Herren von den Linken - ich habe ihn sehr intensiv gelesen -, ist enttäuschend. ({3}) Er wird nämlich weder der Realität in Ostdeutschland gerecht noch der Leistung des gesamten Landes zum Aufbau Ostdeutschlands. Noch etwas möchte ich Ihnen sagen: In Wahrheit machen Sie durch Ihre einseitige, düstere Situationsbeschreibung die Leistungen der Menschen in den neuen Bundesländern zunichte. ({4}) Neu sind Ihre Vorschläge auch nicht. Sie sind auch nicht konstruktiv. Sie sind zu einem großen Teil in unserem Entschließungsantrag enthalten, zum Teil auch schon im Koalitionsvertrag. Deshalb bringt uns der von Ihnen vorgelegte Antrag an dieser Stelle nicht weiter. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mehr und mehr werden die Entwicklungsunterschiede in Ostdeutschland sichtbar. Gerade deshalb lohnt es sich, genau hinzuschauen, wo wir erfolgreich waren und wo Nachholbedarf besteht. Deshalb bedanke ich mich auch bei Minister Tiefensee für die sehr differenzierte und sehr ehrliche Darstellung der Entwicklung im Osten unseres Landes. ({6}) Große Erfolge - das kann niemand ernsthaft bestreiten - gibt es beim Aufbau einer modernen Verkehrsinfrastruktur und des Telekommunikationsnetzes sowie bei der Sanierung unserer Städte. Jeder, der mit offenen Augen durch unser Land fährt, sieht das. Niemand bestreitet jedoch, dass es auch noch große Herausforderungen gibt und dass die weitere Entwicklung Ostdeutschlands kein Selbstläufer ist. Aus meiner Sicht stellen folgende drei Punkte dabei die Kernprobleme dar, die wir lösen müssen. Erstens ist es natürlich die hohe Arbeitslosigkeit, die im Jahresdurchschnitt immer noch doppelt so hoch liegt wie in den alten Ländern, obwohl wir auch hier sehr deutliche Spreizungen zwischen einer Quote von 10 Prozent in der Region um Berlin bis hin zu einer Quote von 30 Prozent in Sachsen-Anhalt erkennen können. Zweitens ist es die dramatische Abwanderung insbesondere von jungen und qualifizierten Menschen, vor allem auch von jungen Frauen in ganz bestimmten Regionen. Drittens nenne ich die demographische Entwicklung, die dazu führen könnte, dass die Regionen im Osten immer mehr auseinander driften und starke und schwache, wachsende und schrumpfende Regionen in Zukunft deutlicher als heute das Bild Ostdeutschlands prägen werden. ({7}) Die Menschen im ganzen Land erwarten zu Recht von uns Politikern im Bund, aber auch in den Ländern und Kommunen, wo übrigens auch Sie Verantwortung tragen, dass wir ihnen Antworten geben, wie wir mit diesen Herausforderungen umgehen wollen. Letztendlich geht es doch um die Frage: Wie schaffen wir es, dass die ostdeutschen Bundesländer bis 2019 auf eigenen Füßen stehen? Wie schaffen wir es, dass sie in der wirtschaftlichen Entwicklung so aufholen, dass sie national wie international wettbewerbsfähig sind? Und wie schaffen wir es, den Menschen in Ostdeutschland Perspektiven und Chancen in ihrer Heimat zu geben? Sehr geehrte Damen und Herren, die ostdeutsche Realität zeigt: Der Aufbau Ost ist schon heute überall dort erfolgreich, wo die Regionen ihre eigenen Potenziale zielgerichtet nutzen. ({8}) Insofern ist es wichtig, dass Konzepte für strukturschwache Regionen entwickelt werden. Aber das kann nicht ein Konzept der Bundesregierung sein, wie es im Antrag der FDP formuliert wird. Sie haben vollkommen Recht, Herr Ministerpräsident Böhmer: Diese Konzepte und Ideen müssen aus den Regionen heraus wachsen. Wir sollten den Regionen von dieser Stelle aus in einem engen Dialog mit den Ländern dabei helfen, ihre vorhandenen Potenziale und Fähigkeiten auszubauen. ({9}) Ich bin jedenfalls davon überzeugt, dass jede Region ihre Stärken hat. Die vorliegenden Anträge von der Linken und der FDP zeigen, dass sie ein wichtiges - um nicht zu sagen: das wichtigste - Innovationsfeld für die ländlichen Räume völlig vernachlässigt haben, und zwar die ländlichen Regionen künftig als Wirtschaftsstandort zur Produktion von Biomasse zu nutzen, die wiederum zur Produktion von Energie, Kraftstoffen und Bioprodukten dient. Wir hatten vorhin die Diskussion über die zukünftige Energieversorgung. Hier liegen noch ungenutzte Potenziale, von der Erforschung über den Anlagenbau bis hin zum Produkt und dessen Vermarktung. Deshalb finde ich es richtig, dass im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist, dass das neue Biomasseforschungszentrum nach Ostdeutschland kommt. ({10}) In diesem Sinne müssen wir den Weg der Konzentration der Mittel nach dem Motto „Stärken stärken - Profile entwickeln“ unbedingt weitergehen, ohne die strukturschwachen Regionen zu vernachlässigen. Der Bericht zur deutschen Einheit zeigt, dass die ostdeutschen Bundesländer dabei einen richtigen Weg eingeschlagen haben, indem sie auf Wachstumskerne und Cluster setzen. Wir müssen zukünftig Instrumente auf den Weg bringen, die eine differenzierte Förderstrategie ermöglichen. Die Investitionszulage wurde hier schon angesprochen. Aber auch die Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsstruktur“ und Programme wie „Unternehmen Region“ und „Inno-Watt“ sind Instrumente, die wir für den weiteren Aufbau in Ostdeutschland brauchen. ({11}) Natürlich müssen wir auch über die Fortentwicklung dieser Instrumente und Programme diskutieren. Warum soll man die Investitionszulage nicht auch auf touristische Infrastruktur ausdehnen? ({12}) Denn in vielen Regionen Ostdeutschlands ist der Tourismus der Motor der wirtschaftlichen Entwicklung. Sehr geehrte Damen und Herren, unser Ziel ist und bleibt die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Ost und West. Aber Gleichwertigkeit heißt aus meiner Sicht nicht Gleichmacherei. ({13}) Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse heißt vielmehr gleichwertige Chancen beim Zugang zu Bildung und Ausbildung, auf dem Arbeitsmarkt und auch bei der medizinischen Versorgung. ({14}) Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in diesem Sinne können wir nur erreichen, wenn die ostdeutschen Bundesländer nicht durch einen Wettbewerbsföderalismus abgehängt werden, der die Starken noch stärker macht und die Schwachen noch schwächer. ({15}) Wettbewerb braucht gleiche Startbedingungen. Ein sehr anschauliches Beispiel ist die Hochschullandschaft in Ostdeutschland. Dort ist der strukturelle Aufholprozess noch längst nicht abgeschlossen. Die ostdeutschen Hochschulen haben dank der Gemeinschaftsaufgabe „Hochschulbau“ einen guten Zwischenausbaustand erreicht. Aber wir haben eben noch keine gleichen Startpositionen, wie die Ergebnisse der Exzellenzinitiative uns jüngst gezeigt haben. Deshalb brauchen wir auch weiterhin die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der Hochschul- und Wissenschaftspolitik. Ich würde mir wünschen, dass die ostdeutschen Bundesländer uns in diesem Punkt ein Stück weit mehr unterstützen. ({16}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen in den neuen Bundesländern immer noch vor riesigen Aufgaben; das ist wahr. Wir sollten diese Aufgaben gemeinsam beherzt, mit aller Kraft und vor allen Dingen mit ganz viel Optimismus in Angriff nehmen. Vielen Dank. ({17})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Jens Ackermann, FDPFraktion. ({0})

Jens Ackermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003728, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit zieht eine Zwischenbilanz zum Aufbau Ost - eine Zwischenbilanz. Wir können davon ausgehen, dass dieser Prozess noch längere Zeit in Anspruch nehmen wird. Vieles ist erreicht worden. Große Herausforderungen liegen aber noch vor uns. Sich dieser Herausforderungen im Osten anzunehmen betrachte ich nicht als Risiko, sondern als Chance für ganz Deutschland. ({0}) Eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung, die den Osten aufbaut, muss das Ziel sein, damit wir insgesamt weltweit wettbewerbsfähig bleiben. Sie schreiben in Ihrem Bericht, dass die Übernahme des ausdifferenzierten westdeutschen Rechts hohe Anforderungen an die Bürger und Unternehmen stellte - zu hohe, wie ich meine. ({1}) Das Wirtschaftswunder in den 50er-Jahren hätte es mit diesem ausdifferenzierten Recht der heutigen Zeit nie gegeben. Ich fordere Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Bundesregierung, deshalb auf, Ihrer Erkenntnis auch Taten folgen zu lassen: weniger Regulierung, weniger Bürokratie und weniger Eingriffe. ({2}) Ich weise darauf hin: Am Vorabend des Mauerfalls, am 8. November 1989, merkte der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher in einem Bericht zur Lage der Nation an: Nichts wird mehr so sein, wie es war - nicht im Osten und auch nicht im Westen. Er machte damit deutlich, dass die Einheit keine Einbahnstraße ist. ({3}) Der Osten kann eine Vorreiterrolle im gesamtdeutschen Reformprozess einnehmen. Er kann eine Chance bieten, sich von erstarrten Strukturen zu befreien, die auch den Westen lähmen. Hier gibt es schon betriebliche Bündnisse und kürzere Ausbildungszeiten. Setzen Sie mehr auf Eigeninitiative und Selbstverantwortung! ({4}) Nur in einem Klima, in dem mehr möglich erscheint, werden Innovationen und Kreativität freigesetzt. Wenn Sie, sehr geehrter Herr Minister Tiefensee, den großen Schritt für Gesamtdeutschland nicht machen können, dann fordere ich Sie auf: Machen Sie für die neuen Bundesländer wenigstens einen kleinen Schritt! Lassen Sie Modellregionen zu, in denen es durch die Aussetzung bundesgesetzlicher Regelungen den Ländern ermöglicht wird, jenen freien Geist zu atmen, der das Wirtschaftswunder in den 50er-Jahren möglich gemacht hat. ({5}) - Ihre Kollegin Frau Wicklein hat darauf hingewiesen: Die Ideen müssen aus den Regionen kommen. Eine solche Idee gab es. Unterstützen Sie bitte die Bundesratsinitiative von Sachsen-Anhalt, das sich als Modellregion angeboten hat. Sie können gerne daran mitwirken. ({6}) Wer den Bericht liest, dessen Handschrift noch die der alten Regierung ist, schaut natürlich besonders genau hin, wenn es um sein eigenes Bundesland geht. Mich freut es besonders, dass Sachsen-Anhalt das beste Wirtschaftswachstum aller neuen Länder aufweist und weit über dem Bundesdurchschnitt liegt. Das folgt aus den Fakten, die in diesem Bericht enthalten sind. ({7}) Sachsen-Anhalt hat die höchsten Zuwächse in der Industrie mit einem Plus von 5 000 industriellen Arbeitsplätzen. Ein besseres Kompliment kann Wirtschaftsminister Rehberger gar nicht bekommen. ({8}) Aus eigener Kraft hat die Koalition aus CDU und FDP - der Ministerpräsident ist leider nicht mehr anwesend ({9}) das Land weit ins Mittelfeld unter den Bundesländern befördert, und das trotz der hemmenden Bundesgesetzgebung. ({10}) Als Modellregion könnten wir noch besser wachsen. Dies steigert die Produktivität und schafft soziale Sicherheit. ({11}) - Das möchte ich Ihnen ganz konkret sagen: Diesen Trend durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zu stoppen, dem wollen wir entgegenwirken. Denn sie ist unserer Meinung nach falsch. ({12}) Herr Minister Tiefensee, Sie sprachen den Mittelstand an. Sie haben gesagt, wenn es gelinge, in einem mittelständischen Unternehmen einen Arbeitnehmer mehr einzustellen, dann wäre schon sehr geholfen. Aber Sie unterstützen den Mittelstand nicht. Sie schröpfen ihn, indem Sie zum Beispiel im Januar zweimal dazu aufgefordert haben, die Sozialabgaben an die Sozialkassen abzuführen. Das belastet den Mittelstand und fördert ihn nicht. ({13}) Ich möchte auf Frau Wicklein eingehen, die sagte, dem Tourismus komme eine hohe wirtschaftliche Bedeutung zu. Sie hätten auch in unserer Region den Tourismus fördern können, wenn Sie es ermöglicht hätten, auch in der Hotellerie und im Gaststättengewerbe den reduzierten Mehrwertsteuersatz einzuführen. Diese Chance hätte es gegeben. ({14}) Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Es ist eine Frage der inneren Einstellung und nicht nur eine Frage der Finanztransfers: Wer die deutsche Einheit nicht wollte, ist meiner Meinung nach kein Patriot; wer sie infrage stellt, auch nicht. ({15}) Wer den Aufbau Ost zur Chefsache erklärt und nichts tut, ist ebenfalls kein Patriot. Ich erinnere an die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin, die das Motto hatte: „Mehr Freiheit wagen“. Es hat sich gezeigt: Das ist auch das beste Rezept beim Aufbau Ost. Wir möchten dieses Rezept anwenden, um zur Verwirklichung der deutschen Einheit unseren Beitrag zu leisten. Herzlichen Dank. ({16})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Ackermann, auch Ihnen zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause im Namen aller Kollegen herzlichen Glückwunsch und persönlich und politisch alles Gute! ({0}) Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz, CDU/CSUFraktion. ({1})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt das Ritual, dass sich die Abgeordneten der Parteien, die die Regierung stellen, zu Beginn ihrer Rede bei der Regierung bedanken. Ich habe die Angst, dass meine folgenden Worte so klingen. Diesmal meine ich es aber, abweichend von diesem Ritual, ernst: Herr Minister Tiefensee, ich bin Ihnen für eine Sache unendlich dankbar, nämlich dafür, dass Sie hier in aller Klarheit gesagt haben: Der Koalitionsvertrag gilt. ({0}) Sie haben sich in eindrucksvoller Weise zur Stabilität der finanziellen Rahmenbedingungen für den Aufbau Ost bekannt. Ich denke, das ist ein klares Wort, das man nicht deutlich genug unterstreichen kann. ({1}) Ich bin Ihnen für eine weitere Sache dankbar. Ich bin Ihnen dankbar dafür, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass der Aufbau Ost eine Sache ist, die ganz wesentlich im Kopf vor sich geht und die etwas mit Aufbruchsstimmung, Aufbruchswillen, einem Klima des Aufbruchs zu tun hat. Deshalb erwarten die Menschen berechtigterweise von uns als Politikern, dass wir ihnen sagen, an welcher Stelle wir Chancen für sie sehen und an welcher Stelle wir ihnen Möglichkeiten bieten können, diese Chancen in Zukunft zu verwirklichen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir darauf hinweisen, dass es bei all dem Schwierigen, das es in den letzten Jahren gab, an bestimmten Punkten doch deutliche Tendenzen einer Stabilisierung der Ausgangsposition gibt, Tendenzen, die zeigen, dass wir in Ostdeutschland an wichtigen Punkten tatsächlich allmählich Boden unter die Füße bekommen und eine feste Position für die Zukunft erarbeitet haben. ({2}) Meine Damen und Herren, was meine ich damit? Ich will auf einige Stichworte hinweisen. - Herr Bisky, Sie sind im Übrigen mit keinem Wort auf diese positiven Dinge eingegangen. ({3}) - Ich meine Ihren Antrag. In Ihrer Rede haben Sie es teilweise getan. Insofern ist dies anerkennenswert. Was sind also die positiven Punkte? Positiv ist erstens die Tatsache, dass die Wettbewerbsfähigkeit Ostdeutschlands gestiegen ist. Zweitens ist die Exportquote gewachsen. Zudem sind regionale Wachstumskerne entstanden, die inzwischen eine selbsttragende Stabilität entwickelt haben. Das Wichtigste an diesen Wachstumskernen ist aber nicht, dass sie bestehen, sondern dass die ländlichen Regionen mittlerweile verstanden haben, dass sie von diesen Wachstumslokomotiven gezogen werden müssen, wenn sie vorankommen wollen. Das heißt, es wächst eine allgemeine Akzeptanz, dass es diese Wachstumskerne geben muss, damit die Regionen, die strukturell nicht so gut entwickelt sind, an das allgemeine Niveau anschließen können. ({4}) In bestimmten Branchen - ich nenne nur die Tourismusbranche - gibt es ein enormes Wachstum. Es haben sich Landschaften entwickelt, in denen wir mit erheblichen Einnahmen im Tourismusbereich rechnen können. Das ist auch eine Folge unserer Stadtumbaupolitik, der Sanierung der Innenstädte. An dieser Stelle zahlt sich unsere Politik aus. Es gibt eine neue Attraktivität und das finde ich sehr gut. Im Übrigen sind wir auch, was PISA angeht, deutlich besser geworden. Es sind im Wesentlichen die ostdeutschen Länder, die im bundesdeutschen Durchschnitt aufgeholt haben. Wir müssen dieses Kompliment einmal aussprechen; denn dahinter steckt die Anstrengung vieler Menschen, die ein Recht darauf haben, dass dies von uns gewürdigt wird. ({5}) Es gibt natürlich auch eine Reihe von Schattenseiten, die wir in dieser Debatte nicht ausklammern dürfen. Es gibt Probleme, an denen wir schon einige Jahre laborieren; sie sind bereits genannt worden. So bestehen noch immer Unterschiede hinsichtlich des infrastrukturellen Ausbaus und des Stadtumbaus. Es gibt auch noch immer eine verdichtungsbedürftige Forschungslandschaft. Diese Probleme sollten wir im Rahmen unserer Politik zu lösen versuchen. Andere Probleme belasten uns schon Jahre, seit dem letzten Jahr teilweise sogar zunehmend. Eines dieser Probleme ist die Arbeitslosigkeit. Wir müssen im Durchschnitt eine Arbeitslosenquote von mehr als 18 Prozent konstatieren. Auch die demographische Entwicklung ist hier schon genannt worden. Ein einziges Problem verschärft sich laufend, und zwar die Überschuldung der öffentlichen Haushalte. Hier müssen wir eine ehrliche Sprache sprechen. Die Vorschläge, die Sie gemacht haben, Herr Bisky, laufen alle darauf hinaus, die Verschuldung der öffentlichen Haushalte ungehemmt zu erhöhen. ({6}) Aus diesem Grunde sind zumindest die Vorschläge, die etwas mit Geld zu tun haben, abzulehnen. Meine Damen und Herren, wir werden daran gemessen werden, ob wir diese Probleme lösen. Das wird nur gelingen, wenn wir stabile Rahmenbedingungen schaffen und diese mit einer vernünftigen Politik ausgestalten. Dieser Rahmen hat mehrere Dimensionen, von denen ich nur vier herausgreifen will: Die erste Dimension ist die rechtliche, die zweite die finanzielle, die dritte die infrastrukturelle und die vierte die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische. Was ist zum rechtlichen Rahmen zu sagen? Als erstes ist festzuhalten, dass strukturschwache Länder eventuell eine auf sie zugeschnittene Rechtslage benötigen. Das haben wir in unserem Antrag relativ deutlich formuliert, indem wir sagen, dass in Ostdeutschland in bestimmten Bereichen die Möglichkeit gegeben sein muss, vom Bundesrecht abzuweichen, wenn es erforderlich ist und dem Aufbau in den neuen Ländern dient. Aus diesem Grund haben wir die Einsetzung einer interministeriellen Arbeitsgruppe gefordert. Sie soll die Areale absuchen und genau definieren, an welcher Stelle wir aktiv werden sollen. Ich halte das für wichtig. Dies müsste, Herr Kollege Günther, auch ganz in Ihrem Sinne sein; denn das haben wir in der letzten Legislaturperiode gemeinsam gefordert. ({7}) Wir brauchen aber keinen Rückfall in die Zeiten vor dem Aufbau Ost. Das Bundesverkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz - ich bin Ihnen dankbar, Herr Günther, dass Sie vorhin darauf eingegangen sind - ist für uns eine positives Beispiel. Wir wollen, dass das Infrastrukturgesetz, das Sie, Herr Minister, vorgelegt haben, am Ende eine Gestalt hat, die es nicht hinter das Bundesverkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz zurückfallen lässt. Das ist unser Ziel. ({8}) Kommen wir zum Finanzrahmen. Wir haben einen zweiteiligen Finanzrahmen - Sie wissen, es gibt den Solidarpakt II -, dessen Einhaltung beiden Seiten großen Ehrgeiz abverlangt. ({9}) Mit seinem Volumen von 156 Milliarden Euro stellt er die Bundesrepublik Deutschland vor eine erhebliche Leistungsanforderung. Wir sind ausgesprochen dankbar, dass wir ein Klima der Solidarität in Deutschland haben, das uns diesen Solidarpakt ermöglicht hat; das kann man nicht oft genug sagen. Wir müssen uns des Wertes dieser Solidarleistung ständig bewusst sein. ({10}) Wir müssen mit den Geldern aber auch vernünftig umgehen. Es ist in der Tat nicht sehr förderlich, eine Fehlverwendungsdebatte zu führen, in der gesagt wird: Soundso viele Anteile des Solidarpakts werden nicht ordentlich ausgegeben. Dazu ist aber zu sagen: Für einen Teil dieser Fehler tragen wir in Ostdeutschland keine Verantwortung. Herr Böhmer hat es vorhin schon gesagt - ich glaube, das ist die Meinung des größten Teils der ostdeutschen Kollegen -: Es ist falsch, zu sagen, dass Ausgaben für Forschung und Bildung prinzipiell keine Investitionen seien. ({11}) Es sind allerdings erhebliche Kosten entstanden, mit denen die ostdeutschen Länder nicht rechnen konnten. Ich darf nur an die Verfassungsgerichtsurteile zu den Renten erinnern: Die Rentenauszahlungen schlagen in den Länderhaushalten voll zu Buche. All das verschärft die Lage. Leider geht meine Redezeit zu Ende. Ich hoffe aber, dass es uns auf der Ministerpräsidentenkonferenz Ost am 24. Februar - auf der zum ersten Mal seit 1990 unsere Kanzlerin als Bundeskanzlerin die ostdeutschen Ministerpräsidenten besucht und mit ihnen gemeinsame Beschlüsse fassen wird - tatsächlich gelingt, gerade über die Stabilität der Finanzbedingungen, über die Verwendung der Mittel und auch über die Berichte über die Verwendung der Mittel eine Einigung zu finden. Lassen Sie uns die Rahmenbedingungen verlässlich bereitstellen. Lassen Sie uns nicht ständig wichtige grundsätzliche Dinge einer Diskussion unterziehen und die Menschen verunsichern. Meine Damen und Herren, wenn uns das gelingt, dann sind wir, glaube ich, auf einem guten Wege. Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Petra Weis, SPD-Fraktion. ({0})

Petra Weis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003657, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Gestatten Sie mir, als geborene und gelernte Westdeutsche, aber bekennende Gesamtdeutsche, das Thema deutsche Einheit auch aus dem Blickwinkel einer Vertreterin einer Region zu diskutieren - dem Ruhrgebiet nämlich -, die es in den letzten drei, wenn nicht sogar vier Jahrzehnten gelernt hat, mit gravierenden Strukturproblemen und mit wirtschaftlichen und sozialen Transformationsprozessen fertig zu werden. Zumindest in meiner Region, im Ruhrgebiet, weiß jeder, dass der „Soli“ auch von den Menschen in Ostdeutschland bezahlt wird - das nur als kleine Nebenbemerkung. Mein erster Hinweis gilt in der Rückschau dem Jahr 1989. Das geflügelte Wort von den blühenden Landschaften in Ostdeutschland hat nicht nur eine Illusion genährt, wonach der Aufbau Ost relativ rasch vonstatten gehen und quasi aus der Portokasse bezahlbar sein würde, sondern es hat auch gleich eine zweite Illusion genährt, nämlich die Annahme, dass sich für den alten Westen und die dort beheimateten Menschen so gut wie gar nichts ändern würde. Im Verlauf der 90er-Jahre wurde den Menschen dann mehr oder weniger schmerzlich bewusst, dass weder das eine, noch das andere zutraf und zutrifft. Der Aufbau Ost braucht deutlich mehr Zeit und die Menschen in Westdeutschland mussten zur Kenntnis nehmen, dass trotz oder wegen der Einheit nun geteilt werden musste, und zwar vor allem die logischerweise begrenzten Finanzmittel, die zur Bewältigung des Strukturwandels in ganz Deutschland aufgewandt werden konnten und mussten. Im selben Zeitraum wurde in Westdeutschland der Blick auf die Tatsache versperrt, dass die uns aktuell bedrängenden Probleme des demographischen Wandels und auch des ökonomischen Strukturwandels mit allen zu erwartenden Folgen schon damals nachhaltige Konzepte zu ihrer Lösung erfordert hätten. Aber ich habe in der Rückschau den Eindruck, dass der Mut und die Einsicht, diese Konzepte umzusetzen, ein bisschen gefehlt haben. Ich erinnere mich nur zu gut daran, dass die Stimmen derjenigen in der Politik, aber auch in der Wissenschaft, die entsprechende Aktivitäten anmahnten, nur unzureichend ge- und erhört wurden, weil die akuten Teilungsprobleme zu groß waren. Ich sage das ausdrücklich ohne jeden Vorwurf und ohne jede Schuldzuweisung. Ich will das nur noch einmal ganz klar festgestellt haben. Zu dieser, wie wir heute wissen, verzerrten Wahrnehmung hat auch beigetragen, dass nach 1989 in Ostdeutschland ein heftiger, aber nicht automatisch nachhaltiger Wachstumsschub eingesetzt hat, der eine kurzfristige Euphorie nach sich zog - übrigens auch in Westdeutschland -, die aber relativ schnell abflaute, und zwar in dem Maße, in dem wir lernen mussten, dass es deutlich länger dauern würde, die nachhaltigen Probleme des Aufbaus Ost zu bewältigen. Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben schon darauf hingewiesen, dass es vor allen Dingen drei Herausforderungen sind, die wir in Ost und West schnellstmöglich angehen müssen. Das ist zum einen der demographische Wandel, der nicht nur zu einem Bevölkerungsrückgang und zu einer deutlich veränderten Altersstruktur führt, sondern auch zu einer Heterogenisierung in den städtischen Ballungsräumen, in denen die Probleme der Arbeitslosigkeit und der Migration zusammenkommen. Das ist natürlich hauptsächlich in Westdeutschland zu erkennen. Zweitens. In Ostdeutschland wie in den altindustriellen Kernen Westdeutschlands ist die strukturelle Entwicklung dadurch bestimmt, dass die im Zuge der Deindustrialisierung weggefallenen Arbeitsplätze durch das erfreuliche Anwachsen des Dienstleistungssektors bei weitem noch nicht kompensiert werden konnten. Der hohen Arbeitslosigkeit steht dennoch in absehbarer Zeit ein Fachkräftemangel gegenüber. Das wissen wir schon jetzt. Das ist im Übrigen nur ein scheinbarer Widerspruch; aber es ist relativ schwer, das zu kommunizieren. Drittens. Die finanziellen Möglichkeiten - Kollege Vaatz hat darauf hingewiesen - aller staatlichen Ebenen sind definitiv begrenzt. So müssen wir versuchen, alle Ebenen dazu zu bewegen, regional und fachlich stärker zu kooperieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, inzwischen sind auf den verschiedenen Handlungsfeldern des Aufbaus Ost Instrumentarien entwickelt worden, die sich als außergewöhnlich erfolgreich erwiesen haben. Das wird im Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit eindrucksvoll belegt. Ich würde gern als ein Beispiel von vielen noch einmal auf das Thema Stadtentwicklung eingehen. Das Programm „Stadtumbau Ost“ hat sich für die Anpassung des Wohnungsbestandes an eine dramatisch verringerte Nachfrage als geradezu modellhaft erwiesen. ({0}) Nicht nur der nach wie vor nötige Rückbau, sondern auch der vielerorts ganz geglückte Versuch, die historischen Innenstädte zu rekonstruieren, haben dazu geführt, dass sich das Lebens- und Wohnumfeld der Menschen und vor allen Dingen das Gesicht ganzer Städte nachdrücklich verbessert hat. ({1}) Dass das Programm „Stadtumbau Ost“ Vorbild war für das neue Programm „Stadtumbau West“, von dem vor allem Städte mit schrumpfenden industriellen Kernen in Westdeutschland - dazu gehört meine Heimatstadt Duisburg - profitieren können, ist ein Signal dafür, dass die entsprechenden Regionen des Westens von den Erfahrungen in Ostdeutschland profitieren können. Ich finde, das ist ein ganz wichtiger Tatbestand, den es gilt, in einer solchen Debatte festzuhalten. ({2}) Bei alledem lässt die Dynamik der Entwicklung und damit die Verpflichtung, die Programme stetig weiterzuentwickeln, nicht nach. Denn nun müssen alle beteiligten Akteure so schnell wie möglich darauf reagieren, dass der Einwohnerrückgang weit reichende Folgen für die Infrastruktur in den Städten hat, die ja auch von den Menschen genutzt wird, die im jeweiligen Umland leben. Es gehört sicherlich nicht viel dazu, sich auszumalen, dass dieser Anpassungsprozess schwierig ist und gleichzeitig den Blick auf zusätzliche Angebote wie beispielsweise Wohnraum für Ältere und für junge Familien nicht verschließen darf. Das leitet mich noch einmal zu der Aussage, dass Wachstum und Schrumpfung zusammengehören und dass wir große Anstrengungen unternehmen müssen, um das der Bevölkerung zu erklären. Das ist nur ein vermeintlicher Widerspruch, den man in der Praxis relativ schnell auflösen kann. ({3}) Viele Probleme des Landes spiegeln sich nach wie vor in Ostdeutschland wider. Aber in Ostdeutschland werden viele Lösungsansätze entwickelt, die beispielhaft für ganz Deutschland sein können. Das gilt in beiderlei Richtung. Der Regionalverband Ruhr hat erst in den letzten Tagen das Ruhrgebiet als ein Laboratorium für zukünftige gesamtdeutsche Entwicklungen bezeichnet. Ich würde ganz gern in diesem Bild bleiben. Es kommt nun darauf an, dass wir die Schutzzone des Versuchslabors verlassen, unsere Konzepte möglichst rasch mit der Wirklichkeit konfrontieren und dabei die Absicht verfolgen, sie ganz rasch und nachhaltig in strukturschwachen Regionen in Ost- und in Westdeutschland wirksam werden zu lassen. Ich glaube, dass es eine weitere große Aufgabe ist, unserer Bevölkerung zu vermitteln, dass die nächsten Jahre weiterhin Risiken bergen werden, aber natürlich auch Chancen. Das haben viele meiner Vorredner betont. Ich glaube, wir müssen der Bevölkerung auch deutlich machen, dass sich das Tempo der Veränderungen aller Wahrscheinlichkeit nach noch erhöhen wird, dass wir aber gleichzeitig - das unterscheidet die heutige Situation von der vor 16 Jahren - die Chance haben, diesen Prozess planvoll und aktiv mitzugestalten. Einige meiner Vorredner haben ja bereits auf das Engagement der Bürgerinnen und Bürger in der Zivilgesellschaft hingewiesen. ({4}) Ich meine, dass es der inneren Einheit Deutschlands gut tun würde, wenn alle Beteiligten mehr voneinander wüssten. Denn wie anders - vorausgesetzt, man möchte keine Böswilligkeit unterstellen - lassen sich viele Äußerungen, die in den letzten Jahren gemacht wurden, interpretieren, die augenscheinlich auch darauf beruhten, dass die Menschen viel zu wenig voneinander wussten? Das Thema Tourismus ist bereits zweimal angesprochen worden; seine Bedeutung spiegelt sich auch im Entschließungsantrag, den die Regierungskoalition eingebracht hat, wider. Vielleicht bräuchten wir einmal so etwas wie ein Programm für den innerdeutschen Tourismus - sowohl für Politikerinnen und Politiker als auch für den Rest der Bevölkerung. Vor dieser Art der Binnenwanderung sollte uns meines Erachtens nicht bange sein. Herzlichen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kollege Dr. Michael Luther für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Michael Luther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erlaube ich mir, meine Rede mit folgender Feststellung zu beginnen: Die Debatte, die wir heute über den Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit geführt haben, hat sich durch relativ große Harmonie ausgezeichnet. Wir sind uns in diesem Hause sehr einig, dass der Aufbau Ost fortgesetzt werden muss und dass beim Aufbau Ost viel erreicht worden ist. Wir sind uns aber auch einig, dass noch eine ganze Menge Aufgaben vor uns liegen. Das ist positiv festzuhalten. ({0}) Damit es nicht in Vergessenheit gerät, will ich auch auf das eingehen, was Sie, Herr Bisky, gesagt haben: Sie haben natürlich Recht, dass wir uns über den Aufbau Ost unterhalten, weil die Wirtschaft in der DDR in den 40 Jahren der SED-Diktatur niedergewirtschaftet worden ist. Die nachhaltigen Folgen dieser Entwicklung können wir noch heute spüren. ({1}) An dieser Stelle will ich zwei wichtige und für mich sehr bedrückende Daten erwähnen: Die Arbeitslosenquote liegt in den neuen Bundesländern bei fast 19 Prozent; damit ist sie doppelt so hoch wie die Arbeitslosenquote in den alten Bundesländern. Das Bruttosozialprodukt der neuen Bundesländer hat bislang erst 70 Prozent des Niveaus des Bruttosozialprodukts der alten Bundesländer erreicht. Darüber hinaus - das bewegt uns alle ganz besonders - haben wir eine Abwanderung insbesondere junger Menschen in die alten Bundesländer zu verzeichnen. Was den zuletzt genannten Aspekt betrifft, will ich auch an meine Kollegen aus den alten Bundesländern gerichtet ganz deutlich sagen: Das, was für die neuen Bundesländer ein Verlust ist, ist für die alten Bundesländer ein Gewinn. Deshalb sollte man bedenken, dass Solidarität, die sicherlich noch lange vonnöten sein wird, keine Einbahnstraße ist. Man muss sich auch darum kümmern, dass die jungen Menschen in den neuen Bundesländern bleiben; denn sonst wird der Aufbau Ost insgesamt nicht gelingen. Lassen Sie mich das eigentliche Problem schildern: Wir müssen den Menschen klar machen, ob wir in den letzten 15 Jahren überhaupt etwas erreicht haben. Das, was in dieser Zeit geschehen ist, will ich anhand von drei Zahlen, die das Land Sachsen betreffen, aufzeigen: Vor Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte Sachsen ein Bruttosozialprodukt, das 130 Prozent des damaligen Reichsdurchschnitts betrug. Nach dem Ende der DDR hatte Sachsen ein Bruttosozialprodukt in Höhe von 30 Prozent des Bundesdurchschnitts. Das bedeutet, dass Sachsens Bruttosozialprodukt in den mehr als 40 Jahren kommunistischer Diktatur 100 Prozentpunkte verloren hat. Jetzt liegt es bei 70 Prozent des Bundesdurchschnitts. Sachsens Bruttosozialprodukt hat sich in den letzten 15 Jahren also etwas mehr als verdoppelt. Daran wird deutlich, dass wir mit dem Aufbau Ost erfolgreich waren. ({2}) An dieser Stelle möchte ich recht herzlichen Dank sagen: sowohl für die Solidarität des Westens als auch für den Fleiß und Mut der Menschen in den neuen Bundesländern, die nicht den Kopf in den Sand gesteckt, sondern angepackt, aufgebaut und etwas unternommen haben; denn sonst würden wir nicht dort stehen, wo wir heute stehen. Man kann durchaus sagen, dass der Aufbau Ost bis zum heutigen Tag ein wirklicher Erfolg war. ({3}) Wie ich bereits sagte, haben wir das Ende dieser Entwicklung aber noch lange nicht erreicht. Daher stellt sich die Frage: Was muss die Politik nun tun? Lassen Sie mich auf einen Aspekt eingehen, der in der heutigen Debatte schon erwähnt worden ist: den Solidarpakt. Der jetzt geltende Solidarpakt II ist im Sommer des Jahres 2001 auf einer Sonderkonferenz der Länder mit dem Ziel vereinbart worden, gleichwertige wirtschaftliche und soziale Lebensverhältnisse in Ost und West zu schaffen. Aber im Unterschied zum Solidarpakt I wurde sein Schwerpunkt eindeutig bei den Investitionen gesetzt: Das im Vergleich zum Westen bestehende Infrastrukturdefizit soll durch Investitionen in den neuen Ländern abgebaut werden. Der Solidarpakt II setzt sich aus zwei Körben zusammen: dem Korb I, den so genannten Sonderbedarfsergänzungszuweisungen, und dem Korb II, den zusätzlichen Leistungen; dazu gehören die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, die Investitionszulage, europäische Strukturfondsmittel und andere. Dieser Solidarpakt II bedeutet aus der Sicht der neuen Bundesländer die Chance, den Aufbau Ost fortzusetzen. ({4}) Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Mittel auch tatsächlich für den Aufbau Ost eingesetzt werden. Lieber Kollege Hettlich, Sie haben es angesprochen: Es gibt leider die Diskussion über die so genannte Fehlverwendung, was nach geltender Definition bedeutet, dass nicht alle neuen Bundesländer eine solidarpaktgerechte Verwendung der Mittel nachweisen können. Darauf hat im Übrigen auch das Bundesfinanzministerium in seiner Stellungnahme vom Januar 2006 zu den Fortschrittsberichten „Aufbau Ost“ der ostdeutschen Länder hingewiesen; es hat eine aufbaugerechte Verwendung gefordert. Es ist ganz klar: Wenn die Mittel aus dem Solidarpakt nicht für den wirtschaftlichen und infrastrukturellen Aufbau Ost verwandt werden, würde der Solidarpakt zu Recht infrage gestellt werden. Wir müssen deshalb auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen der letzten Jahre darüber diskutieren, was eine solidarpaktgerechte Verwendung ist: Die Mittel müssen im Endeffekt für die Schaffung von Arbeitsplätzen - und zwar in der Wirtschaft - dienen; sie dürfen beispielsweise nicht, wie es diskutiert wird, zur Sicherung eines überhöhten Personalbestandes im öffentlichen Dienst verwandt werden. Denn 2019 läuft der Solidarpakt II aus und dann müssen die neuen Bundesländer aus eigener Kraft die finanziellen Mittel zur Erhaltung ihrer Infrastruktur und zur Erfüllung ihrer eigenen, staatlichen Aufgaben aufbringen. Dazu sind aus heutiger Sicht zwei Maßnahmen erforderlich: Erstens. Die Mittel des Solidarpaktes II müssen den neuen Bundesländern verlässlich zur Verfügung stehen. ({5}) Das kann am besten durch eine gesetzliche Fixierung des Korbes II erfolgen. Der Korb II darf keine Verfügungsmasse zur Aufstellung des jeweiligen Bundeshaushaltes werden. Für ihn muss eine ähnliche Regelung wie für den Korb I gefunden werden. Die Föderalismuskommission, die jetzt ihre Beratungen zum Ende bringt - ich hoffe, dass wir zu einem positiven Ergebnis kommen -, hat die Chance, exaktere Definitionen hierfür zu finden; Herr Vaatz hat darauf hingewiesen. Zweitens muss die solidarpaktkonforme Verwendung der Mittel sichergestellt werden. Das bedeutet auch: Wer davon abweicht, muss mit Sanktionen rechnen. Ich denke, das ist die Konsequenz aus diesen beiden Schritten und dies ist die Aufgabe, die wir als Politiker in den nächsten Wochen und Monaten zu erfüllen haben. ({6}) Der Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit zeigt: Die neuen Bundesländer sind auf einem guten Weg. Dennoch bleibt viel zu tun. Im Koalitionsvertrag nimmt der Aufbau Ost eine wichtige, zentrale Stellung ein. Deswegen ist mir auch nicht bange: Wir werden den Aufbau Ost bewältigen und ich bin optimistisch, dass wir irgendwann nicht mehr über den Aufbau Ost reden müssen. Danke schön. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/6000 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. Die Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/650, der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/693 sowie der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/692 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen Gehb, Dr. Günter Krings, Günter Baumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim Stünker, Dr. Peter Danckert, Klaus Uwe Benneter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Speicherung mit Augenmaß - Effektive Strafverfolgung und Grundrechtswahrung - zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Gisela Piltz, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gegen eine europaweit verpflichtende Vorratsdatenspeicherung - zu dem Antrag der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Volker Beck ({1}), Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Freiheit des Telefonverkehrs vor Zwangsspeicherungen - Drucksachen 16/545, 16/128, 16/237, 16/690 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Günter Krings Joachim Stünker Wolfgang Neskovic Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser Debatte hat der Kollege Martin Dörmann von der SPD-Fraktion das Wort. ({2})

Martin Dörmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003517, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei politischen Entscheidungen müssen wir oft eine Abwägung zwischen unterschiedlichen Gesichtspunkten und Zielen treffen, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Die Vorratsdatenspeicherung von Verbindungsdaten im Telekommunikationsbereich ist hierfür ein geradezu klassisches Beispiel. Auf der einen Seite geht es um eine effektive Strafverfolgung und den Schutz vor Verbrechen durch Terroristen, auf der anderen Seite geht es um den Grundrechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger sowie der betroffenen Unternehmen. Uns ist beides wichtig. ({0}) Mit dem vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen stellen wir einen angemessenen Ausgleich beider Ziele sicher. Der auf der europäischen Ebene gefundene Kompromiss bezüglich einer neuen EU-Richtlinie wird durch ihn unterstützt und innerhalb dieses Kompromisses werden die strengstmöglichen Anforderungen formuliert. Hierdurch leisten wir einen Beitrag zu einer effektiven Strafverfolgung. Es geht dabei um Verbindungsdaten und nicht um die Inhalte von Telefonaten und E-Mails. ({1}) Zurzeit haben die Strafverfolgungsbehörden bereits die Möglichkeit, bei den Telekommunikationsunternehmen solche Verbindungsdaten abzufragen, die diese zu Abrechnungszwecken bis zu sechs Monate speichern dürfen. ({2}) Diese Ermittlungsmöglichkeiten gehen nun jedoch immer weiter zurück, da immer mehr Kunden die so genannten Flatrates nutzen. Bei diesen Pauschaltarifen werden die Einzelverbindungen in der Regel eben nicht mehr erfasst. Diese Ermittlungsmöglichkeit ist für eine effektive Strafverfolgung jedoch geeignet und in vielen Fällen sogar erforderlich. Deshalb liegt uns sehr daran, hier eine gleichmäßige Speicherungspflicht für alle Verbindungsdaten vorzusehen. Mit dem Antrag machen wir aber zugleich auch deutlich, dass es dabei nicht darum gehen kann, möglichst viele Daten für eine möglichst lange Zeit zu speichern und abfragen zu können. ({3}) Vielmehr legen wir Wert darauf, den Eingriff möglichst gering zu halten, um somit die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger zu wahren. In der EU-Richtlinie sind im Hinblick auf die Daten, die erhoben werden dürfen, bereits deutliche Einschränkungen gegenüber den früheren Vorschlägen aus Mitgliedsländern vorgesehen. Darüber hinaus werden wir uns bei der gesetzlichen Umsetzung hier bei uns in Deutschland darauf beschränken - das ist in dem gemeinsamen Antrag der Koalition vorgesehen -, hinsichtlich der Speicherung lediglich die Mindestanforderungen umzusetzen, und uns eben nicht am oberen Rand der Möglichkeiten, die durch die EU-Richtlinie gegeben sind, zu orientieren. ({4}) Konkret heißt dies: Wir sehen lediglich eine Speicherungsfrist von sechs Monaten vor. Dieser Zeitraum kommt dem bisherigen faktischen Speicherzeitraum sehr nahe. Andere Länder, wie zum Beispiel Großbritannien, wollen bis zu 24 Monate speichern lassen; ursprünglich waren es sogar 36 Monate. ({5}) Außerdem werden wir die Voraussetzungen, unter denen die Ermittlungsbehörden Daten abfragen können, hoch ansetzen. Nur bei schweren Straftaten oder bei Straftaten, die mittels Telekommunikation begangen werden, soll die Abfrage erlaubt werden. Damit stellen wir die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen sicher. ({6}) Zudem werden wir die betroffenen Telekommunikationsunternehmen auch nicht im Regen stehen lassen. Sie werden durch die Speicherungspflicht und die Abfrage zunächst ja belastet. Bei der gesetzlichen Umsetzung werden wir eine angemessene Entschädigung für die Inanspruchnahme regeln. ({7}) Eine Totalverweigerung auf europäischer Ebene, wie sie der Opposition vorschwebt, hätte schwerwiegende Probleme aufgeworfen. Gerade in Europa kommt es darauf an, gemeinsame Standards zu verabreden, ({8}) und zwar sowohl im Hinblick auf eine effektive Strafverfolgung als auch im Hinblick auf den Grundrechtsschutz der europäischen Bürgerinnen und Bürger. Es ist der Bundesregierung und namentlich der Bundesjustizministerin Zypries zu verdanken, dass es in der EU nun zu einer angemessenen Kompromisslösung gekommen ist. Dadurch, dass wir in Deutschland die Fristen zur Speicherung der abgefragten Daten am unteren Ende der Möglichkeiten der Richtlinie ansetzen, die Anforderungen an den Eingriff jedoch heraufsetzen, wahren wir die notwendige Balance. Diese Speicherung mit Augenmaß wird dem Zielkonflikt zwischen effektiver Strafverfolgung auf der einen Seite und der Wahrung der Grundrechte auf der anderen Seite in vollem Umfange gerecht. Deshalb bitte ich Sie: Unterstützen Sie den ausgewogenen und sachgerechten Antrag der Koalition. Vielen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger für die FDP-Fraktion. ({0})

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Überschrift, Herr Dörmann, des Koalitionsantrags „Speicherung mit Augenmaß - Effektive Strafverfolgung und Grundrechtswahrung“ ist in allen Punkten falsch. Die geplante Maßnahme, die Einführung einer europaweit verpflichtenden Vorratsdatenspeicherung, ist eben nicht maßvoll, sondern sie ist eher maßlos. ({0}) Der Beitrag zur Verbrechensbekämpfung ist äußerst fragwürdig. Grundrechtswahrend ist dieser Eingriff mit Sicherheit nicht, sondern er ist grundrechtseinschränkend. ({1}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der SPD, in Ihrem Antrag verkaufen Sie Selbstverständlichkeiten als Sieg der Bürgerrechte. Wie muss es um die Bürgerrechte bestellt sein, wenn bereits der Verzicht auf die Speicherung von Standortdaten, erfolglosen Anrufversuchen und Inhaltsdaten als Erfolg gefeiert wird? ({2}) Am eigentlichen Paradigmenwechsel ändert sich überhaupt nichts; denn es wird künftig auch nach dem jetzt gefundenen Kompromiss das Kommunikationsverhalten von mehr als 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern in der Europäischen Union anlasslos und verdachtsunabhängig überwacht. ({3}) Natürlich hat die Justizministerin Vorschläge eingebracht. Warum? Weil ein einstimmiger Beschluss des Bundestages vorlag, diesem Vorhaben nicht zuzustimmen. ({4}) Sie hat versucht, eine Einigung zu erzielen. Wir konzedieren, dass sie sich in einer schwierigen Lage eingebracht und verhandelt hat. Aber letztendlich ist das, was als Kompromiss gefunden worden ist, immer noch eine falsche Weichenstellung. ({5}) Auch nach diesem Kompromiss wird es möglich sein, über Monate hinweg minutiös nachzuvollziehen, wer wo im Internet gesurft hat, wer wann mit wem per Telefon, Handy oder E-Mail kommuniziert hat, ({6}) wer wann welche Onlinedienste in Anspruch genommen hat. Die Daten sollen von allen gespeichert werden, und zwar nicht nur in einem gezielten Verfahren. ({7}) Das ist ein Bruch mit den bisherigen Grundsätzen der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung, weil eben die generelle Speicherung über einen längeren Zeitraum unabhängig davon ist, ob überhaupt ein Verdachtsmoment gegen eine Person vorliegt. ({8}) Die Folge ist, dass die Dauer des Eingriffs beliebig wird. ({9}) Das zeigt die Diskussion um die Speicherfristen. Ist die Dauer von sechs Monaten, wie jetzt in Ihrem Antrag vorgesehen, verhältnismäßig und die von neun Monaten unverhältnismäßig? Die Wahrheit ist: Die Unverhältnismäßigkeit beginnt nicht erst bei sechs, neun, zwölf oder 24 Monaten, sondern diese Form der Vorratsdatenspeicherung ist generell unverhältnismäßig. ({10}) Wir weisen außerdem darauf hin, dass es in Europa keine einheitlichen Regeln gibt. Das war immer ein Anliegen und auch die Zielrichtung. In den einzelnen Ländern können jetzt Maßnahmen von unterschiedlicher Dauer vorgenommen werden. ({11}) Die untere Grenze ist die Dauer von sechs Monaten. Aber es ist zu keiner Vereinheitlichung gekommen, weil die anderen Länder in unterschiedlicher Art und Weise Daten speichern können. ({12}) Von daher wird der Erfolg, von dem immer gesprochen wird, nicht eintreten. Alternativen sind nicht ernsthaft in Erwägung gezogen und geprüft worden. Auch das „quick freeze“-Verfahren, das immer wieder genannt wird, ist nicht als ernsthafte Alternative in die Debatten eingebracht worden. Mit diesem Verfahren wäre die Wirtschaft aber deutlich besser gefahren. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion vom 8. Oktober 2004 mitgeteilt, dass es mit der Vorratsdatenspeicherung zu einer Beeinträchtigung des Lissabonprozesses kommen wird, weil die Dynamik der Wirtschaft durch diese Form der Datenspeicherung behindert wird. Es war aber das erklärte Ziel des EU-Gipfels in Lissabon, Europa zur weltweit wettbewerbsstärksten Wirtschaftsregion zu machen. ({13}) Deshalb kann von einem Ausgleich mit Augenmaß keine Rede sein; vielmehr wird gerade dieses wichtige Ziel durch die vorgesehene Vorratsdatenspeicherung ein Stück weit konterkariert. ({14}) In dem Antrag ist des Weiteren eine Entschädigungsregelung für die Unternehmen vorgesehen, die verständlicherweise allein ob der Tatsache, dass eine solche Regelung aufgenommen wurde, positiv reagiert haben. Wie diese Regelung aber konkret beschaffen sein soll, geht aus dem Antrag nicht hervor. Wie sollen im Übrigen die damit verbundenen Kosten finanziert werden? Wir begrüßen zwar das Vorhaben, die Unternehmen zu entschädigen; ({15}) die vorgesehene Regelung geht aber zulasten der Bürgerinnen und Bürger. Die Finanzierung muss schließlich über den Haushalt erfolgen, sodass die Bürger letztendlich für ihre eigene Überwachung zahlen müssten. ({16}) Die Wirtschaft und die Datenschutzbeauftragten waren gegen die Vorratsdatenspeicherung. Der Bundestag hat sich, nachdem er sich ruhig und sachlich mit diesem Thema befasst hat, einstimmig dagegen ausgesprochen. Die Bundesregierung und die Koalition mit ihrem Antrag setzen sich aber über alle berechtigten Bedenken hinweg. Insofern ist von dem Versprechen der Bundeskanzlerin, mehr Freiheit zu wagen, auch in diesem Bereich äußerst wenig übrig geblieben. Recht herzlichen Dank. ({17})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Günter Krings für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Meine Vorrednerin hat darauf hingewiesen, dass sich der Bundestag in den bisherigen Debatten ruhig und sachlich mit dem Thema befasst habe. Ich glaube, dass wir das auch heute schaffen. An uns soll es jedenfalls nicht scheitern. In den heute zur Abstimmung stehenden Anträgen zur so genannten Vorratsdatenspeicherung ist viel von der Freiheit des Telefonverkehrs, von Wirtschaftsinteressen und der Pflicht zur Kostentragung die Rede. All das sind zweifellos ganz zentrale Punkte, auf die ich noch eingehen werde. Ich glaube aber, dass es wichtig ist, uns am Anfang der Debatte noch einmal klar zu machen, worum es den Befürwortern einer - wohlgemerkt: eingeschränkten Vorratsdatenspeicherung geht und was den Anlass zu dem vorliegenden Antrag gegeben hat. Ich möchte nur ein Beispiel von vielen Fällen anführen, in denen die Vorratsdatenspeicherung eine Rolle hätte spielen können. Anfang 2003 deckte die spanische Polizei ein Internetforum auf, in dem Bilddateien mit überwiegend kinderpornographischem Inhalt verbreitet wurden. Die Spur der Verantwortlichen führte nach Deutschland. Als sich die Polizei um die Daten der Tatbeteiligten bemühte, teilte ihr der Internetserviceprovider mit, dass keine gesetzliche Protokollierungspflicht hinsichtlich IP-Adresse und Nutzungszeitraum bestehe. Eine Identifizierung der Täter schied damit aus. Dies ist umso tragischer, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Forumsnutzer auch an Misshandlungen von Kindern beteiligt waren. Dieses Beispiel ist, wie gesagt, nur eines von vielen. Zahlreiche Verbrechen nicht nur im Bereich des Kindesmissbrauchs, sondern etwa auch rechtsradikale Straftaten, Taten des organisierten Verbrechens und des internationalen Terrorismus hätten in Deutschland aufgeklärt werden können, wenn es bereits eine entsprechende Regelung, wie sie Union und SPD in dem vorliegenden Antrag fordern, gegeben hätte. ({0}) Die Koalitionsfraktionen erkennen sehr wohl an, dass wir uns hier in einem schwierigen Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen und Grundrechte befinden. Die Interessen des Bürgers, möglichst wenigen Eingriffen in die Privatsphäre ausgesetzt zu werden, stehen dem staatlichen Interesse an der Verfolgung von Kriminellen gegenüber. Schon der Titel unseres gemeinsamen Antrages „Speicherung mit Augenmaß - Effektive Strafverfolgung und Grundrechtswahrung“ macht deutlich, dass wir einen vernünftigen Interessenausgleich vornehmen wollen und werden. Wir sind uns bewusst, hier in Rechte der Bürger einzugreifen. Aber es sind eben keine Rechte, die die Verfassung vorbehaltlos gewährt. Einschränkungen sind möglich, solange sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Bei einer ernsthaften Interessenabwägung darf man nicht bei dem vordergründigen Interessengegensatz Bürger/Staat stehen bleiben. Vielmehr muss man sich fragen, welches Gut auf der Seite des Staates steht. Hat denn nur der Staat als Institution ein Interesse an einer effektiven Strafverfolgung oder ist die Strafverfolgung nicht vielmehr ein Mittel zum Zweck, damit die Menschen in unserem Land in Sicherheit leben können? Auf diese Frage geben Sie von den Grünen und der FDP in Ihren Anträgen keine Antworten. Vielmehr verschanzen Sie sich hinter einer 30 Jahre alten Grundrechtsdogmatik, die nur Abwehrrechte kennt. Sie ignorieren, dass gerade die Grundrechte dem Staat auch die positive Pflicht auferlegen, Leib, Leben und Eigentum seiner Staatsbürger aktiv zu schützen. ({1}) Der Staat darf nicht tatenlos zusehen, wie seine Staatsbürger zu Opfern werden. In Wirklichkeit geht es also nicht nur um den Interessengegensatz Staat/Bürger, sonDr. Günter Krings dern auch um den zwischen dem Bürger als Opfer und dem Bürger als Täter. Wer dies ignoriert, betreibt Täterschutz auf Kosten von Opferschutz. ({2}) Die orwellschen Visionen, unter denen manch einer aus diesem Hause in den letzten Wochen offenbar gelitten hat, lassen sich schnell kurieren, wenn man nur bereit ist, zur Kenntnis zu nehmen, welche Daten überhaupt gespeichert werden sollen; der Kollege Dörmann hat das bereits dargelegt. Bei der Vorratsdatenspeicherung geht es lediglich um Verkehrsdaten und nicht um Daten, die über den Inhalt einer Kommunikation Auskunft geben. Es sind noch nicht einmal alle Verkehrsdaten, die von der Richtlinie erfasst werden, sondern es sind nur ausgewählte Daten, die für die Strafverfolgung unerlässlich sind. Das ist im Internet etwa die IP-Adresse; es sind aber nicht die aufgerufenen Internetseiten. Bei einem Telefonat sind das die Telefonnummer, die Verbindungsdauer und die Standortdaten zu Gesprächsbeginn, nicht aber der Inhalt des Gespräches. Erfolglose Telefonate und die Standortdaten im weiteren Verlauf eines Handygespräches im Auto sind von der Speicherungspflicht entbunden. Die angesprochenen Verkehrsdaten werden zum Teil schon heute gespeichert, wenn es sich um Daten handelt, die der Diensteanbieter aus abrechnungstechnischen Gründen braucht. Bei diesen Daten besteht für den Zeitraum der Abrechnung das Recht der Unternehmen, sie zu speichern. Für die Staatsanwaltschaft und die Polizei beginnt damit in schöner Regelmäßigkeit ein Wettlauf mit der Zeit, um noch rechtzeitig an die benötigten Daten zu kommen. Die Tataufklärung wird damit zum Roulettespiel. Sie ist von der Zufälligkeit des Vertragsverhältnisses und der Organisation der internen Betriebsabläufe in dem jeweiligen Telekommunikationsunternehmen abhängig. Da, wo Pauschalvergütungen, so genannte Flatrates, mit dem Kunden vereinbart sind, ist der Täter nahezu optimal geschützt; denn Alternativen zu solchen Telekommunikationsdaten stehen den Strafverfolgungsbehörden oft gar nicht zur Verfügung, Frau LeutheusserSchnarrenberger. Die traurige Folge der gelöschten Daten ist daher oft die unaufgeklärte Tat. Das wollen und können wir nicht hinnehmen. ({3}) Wie schon mein kurzes Eingangsbeispiel gezeigt hat, macht Kriminalität heute längst nicht mehr vor Landesgrenzen Halt. Wir brauchen daher einen verlässlichen Rahmen in der Europäischen Union, der den Strafverfolgungsbehörden eine solide Grundlage für ihre Ermittlungen gibt. Daher sind nationale Alleingänge keine Lösung; vielmehr müssen in allen Ländern der EU Mindeststandards gelten. Dass die Mindeststandards ihren Namen auch verdient haben und die Europäische Union auf übertriebene und unverhältnismäßige Speichervorgaben, etwa bei den Fristen, verzichten wird, ist ganz entscheidend dem Einsatz unserer Justizministerin, Frau Zypries, geschuldet. Ich möchte mich im Namen meiner Fraktion für die Brüsseler Verhandlungsführung der Ministerin ausdrücklich bedanken. Nur weil sich das BMJ dem Ansinnen einiger anderer Mitgliedstaaten zum Beispiel bezüglich einer verpflichtenden zwei- oder dreijährigen Speicherung oder einer Speicherung von Inhaltsdaten entgegengestemmt hat, können wir, die Koalitionsfraktionen, guten Gewissens unseren gemeinsamen Antrag mit einer abgewogenen Lösung zur Abstimmung stellen. ({4}) Die Bürger und die Unternehmer können sich darauf verlassen, dass wir die Vorgaben aus Brüssel nicht überschreiten werden. Getreu der in den Medien hinreichend oft genannten zentralen Devise der großen Koalition wollen wir auch diese Richtlinie nur eins zu eins umsetzen und nicht draufsatteln. In Deutschland wird die Speicherfrist daher nicht über sechs Monate ausgedehnt werden. Die Rückmeldungen aus der Praxis von Polizei und Staatsanwaltschaften zeigen übrigens sehr deutlich, dass die Sechsmonatsfrist in aller Regel ausreichend ist, um die relevanten notwendigen Daten für die Ermittlung zu erhalten. Mit der jetzt gefundenen Lösung, die unser Antrag widerspiegelt, können auch die betroffenen Unternehmen gut leben. Der Präsident des Branchenverbandes BITKOM hat dies am Montag auf einer Veranstaltung, auf der ich sein durfte, bestätigt und diese Regelung als annehmbar dargestellt. Diese Akzeptanz können wir von den betroffenen Unternehmen aber nur dann erwarten, wenn zumindest die Kosten abgegolten werden, die bei einem konkreten Auskunftsverlangen der Behörde entstehen. Wenn ein Unternehmen Ermittlungshandlungen für Polizei und Staatsanwaltschaft durchführen muss, darf es nicht auf den Kosten sitzen bleiben. Eine Anpassung der einschlägigen Entschädigungsvorschriften sieht unser Antrag daher ausdrücklich vor. ({5}) Die Unternehmen erhalten somit einen finanziellen Ausgleich durch den Staat auf der einen Seite, auf der anderen Seite bleibt die Belastung im Vergleich zu andern TK-Märkten auch innerhalb der Europäischen Union durch die Festlegung der Speicherungspflicht auf sechs Monate an der untersten Grenze. Wie Sie von der FDP vor diesem Hintergrund zu der Prognose kommen, hier drohe gerade der deutschen TK-Branche ein Verlust der wirtschaftlichen Dynamik, wird wohl Ihr Geheimnis bleiben. ({6}) Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine kurze Bemerkung. Wir haben in der Tat lange darüber nachgedacht, wie wir mit der Rechtsgrundlage bei dieser Richtlinie umgehen. Wir haben lange die Auffassung vertreten - ich vertrete sie heute noch -, dass ein Rahmenbeschluss das Richtige an dieser Stelle gewesen wäre. ({7}) Ich glaube aber, dass wir bei aller gebotenen Zurückhaltung bei europäischen Rechtsgrundlagen eine vertretbare Lösung gefunden haben. Ich habe auch gar nichts dagegen, wenn diese Angelegenheit vom EuGH geprüft wird. Ich glaube schon, dass wir es durch die konstruktive Haltung, uns auf die Verhandlungen innerhalb der Richtliniendiskussion einzulassen, geschafft haben, die Frist von sechs Monaten zu erreichen, die schlimmsten Dinge abzuwehren und eine ausgewogene und vernünftige Lösung zu finden. Vor dem Hintergrund kann ich auch bei Bedenken hinsichtlich der Rechtsgrundlage guten Gewissens für mich und meine Fraktion die Zustimmung nicht nur zum Antrag, sondern auch zu der dahinter stehenden Richtlinie erklären. Ich komme zum Schluss. Speicherung mit Augenmaß - das ist unser Ziel. Interessengegensätze können und dürfen wir, die wir Regierungsverantwortung tragen, nicht einseitig auflösen, wie das die beiden anderen Anträge wollen. Wir müssen vielmehr einen vernünftigen, adäquaten und fairen Ausgleich finden, gerade auch im Interesse der Bürger in Deutschland und der Europäischen Union. Sie werden mit dieser Vorratsdatenspeicherung ein Stück sicherer leben. Es wäre schön, wenn uns die Opposition im Interesse dieser Sicherheit begleiten würde. Danke schön. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich erteile das Wort dem Kollegen Jan Korte, Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist wieder eine typisch sozialdemokratische Logik. Nur weil man das absolut Schlechte verhindert hat, ist das Schlechte noch lange nicht gut. ({0}) Das gilt auch für diesen Antrag, bei dem unter der Überschrift „Speicherung mit Augenmaß - Effektive Strafverfolgung und Grundrechtswahrung“ die Leute in die Irre geführt werden sollen. Das ist euphemistisch. Unter dem Vorwand der Terror- und Verbrechensbekämpfung beschneidet die Koalition wieder einmal Grundrechte - sie setzt damit das fort, was Rot-Grün begonnen hat und sorgt dafür, dass niemand mehr vorbehaltsfrei kommunizieren kann. Konkret bedeutet das: Jeder steht unter Überwachung, wenn er die Telekommunikation nutzt. Über Monate werden Gesprächspartner, Zeitdauer oder, wie hier schon erwähnt, IP-Adressen verdachtsunabhängig - das ist der eigentliche Skandal - gespeichert. ({1}) Hinzu kommt, dass der Antrag der Koalitionsfraktionen zahlreiche Hintertürchen offen lässt, wie übrigens auch der Koalitionsvertrag, weswegen da in den nächsten Jahren noch Schlimmes zu befürchten ist. So ist zum Beispiel die Frist der Datenspeicherung, die Sie hier als großen Erfolg verkaufen, lediglich Mindeststandard. Es kann in Umsetzung der Richtlinie natürlich entschieden werden, dass wesentlich länger als sechs Monate gespeichert werden kann. Das ist durchaus möglich. Es können auch Standortdaten beim Mobilfunk vor und nach dem Gespräch gespeichert werden. Auch das ist bei der Umsetzung zulässig. Das ist sehr gravierend; denn diese Daten erlauben es, wenn man will, Bewegungsmuster zu erstellen. Angesichts des Trends zu Homezonetarifen für das Handy ist das besorgniserregend. Deswegen lehnen wir den Antrag ab. ({2}) - Ja, das ist PDS-Logik. Viele von uns haben nämlich schon einmal einen aufgeblähten Überwachungsapparat erlebt. ({3}) Wir haben aus der Geschichte gelernt. Das ist Ihnen offensichtlich intellektuell nicht vergönnt. ({4}) Wo ist das Augenmaß, das Sie versprochen haben? Sie stellen unbescholtene Bürger per se unter Generalverdacht, und zwar alle. Sie sorgen dafür, dass in letzter Konsequenz niemand mehr seinen Arzt oder Rechtsanwalt vertrauensvoll kontaktieren kann; denn der Staat kann im Zweifel mithören. ({5}) Damit torpedieren Sie übrigens im Vorbeigehen auch noch die Wahrung des Berufsgeheimnisses. ({6}) - Je mehr Sie sich aufregen, desto klarer wird, dass ich in dieser Frage richtig liege. ({7}) Was Sie vorhaben, ist also inakzeptabel. Routinemäßig wird von Ihnen angesprochen, dass die Vorratsdatenspeicherung nötig ist, um den Terrorismus effektiv zu bekämpfen. Ich kann dem, was auf der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder gesagt worden ist, nur zustimmen. Ich zitiere: Die damit verbundenen Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis und das informationelle Selbstbestimmungsrecht lassen sich auch nicht durch die Bekämpfung des Terrorismus rechtfertigen, weil sie unverhältnismäßig sind. Insbesondere gibt es keine überzeugende Begründung dafür, dass eine solche Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft zwingend notwendig wäre. Recht haben sie an dieser Stelle. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass Deutschland bereits jetzt „Abhörmeister“ ist, halte ich es für unerlässlich, bei künftigen Gesetzesvorhaben grundsätzlich eine Verträglichkeitsprüfung in Bezug auf die Grundrechte einzuführen, damit so etwas schon im Vorfeld verhindert werden kann. Es ist bedauerlich, dass so ein Schritt notwendiger denn je ist. Sie müssen sich darüber klar werden, dass Sie an den Grundlagen unserer Demokratie nicht herumdoktern können, wie es Ihnen gerade beliebt. Ich verweise auf das gestrige Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Darin wurde einiges zur Verfassung und zum Umgang dieses Hauses mit ihr deutlich gemacht. Ich glaube, dass auch dieses Vorhaben von Ihnen das Bundesverfassungsgericht noch beschäftigen wird. Blicken wir zurück auf die letzten Monate, was die Vermischung und Verquickung mit BKA und BND angeht. ({8}) Kaum noch jemand hat einen Überblick darüber, was unsere Dienste zusammen mit dem BKA wo und wann treiben. Mir wird angst und bange, wenn ich darüber nachdenke, dass wir die Grundlagen dafür schaffen, Tonnen an Daten zu sammeln. Die Linke wird dem Antrag der Koalitionsfraktionen deswegen selbstverständlich nicht zustimmen. Er zielt auf einen weiteren Eingriff in die Grundrechte. Wir stimmen in diesem Falle dem Antrag der FDP zu. Er ist äußerst trefflich. Ich wünsche mir, dass Sie so treffliche Anträge auch in Fragen der Sozial- und Wirtschaftspolitik vorlegen. ({9}) Dann könnten wir die große Koalition hier ordentlich unter Druck setzen. ({10}) Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Jerzy Montag, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Korte, Ihr Vergleich der Bundesrepublik Deutschland, selbst wenn sie von einer schwarz-roten Koalition geführt wird, mit dem Unrechts- und Spitzelstaat DDR, unter dem Sie vielleicht gelitten haben, war unangemessen. Ich sage „unangemessen“, um kein unparlamentarisches Wort zu benutzen. ({0}) Wenn ich mehr als fünf Minuten Zeit hätte, würde ich die Koalition gegen Sie in dieser Frage in Schutz nehmen. Wegen der knappen Redezeit, erspare ich es mir. ({1}) Die Menschen, die uns zuhören, und diejenigen, die vielleicht nachlesen, will ich daran erinnern, worum es geht: In Europa leben mehr als 450 Millionen Menschen. Die meisten von ihnen telefonieren, simsen, mailen, faxen und bewegen sich im Internet. Jede dieser Aktivitäten hinterlässt Spuren. Rufnummern, Rufumleitungen, Rufweiterleitungen, Namen, Anschriften der Kommunikationsteilnehmer, Benutzerkennungen, Internetprotokolladressen, IMSI- und IMEI-Kennungen, Datum, Uhrzeit, Dauer der Kommunikation und schließlich Standortdaten über Beginn und Dauer der Kommunikation mit Mobilgeräten, all das soll nach der vorliegenden Richtlinie auf Vorrat gespeichert werden. Bis auf die direkte Kenntnisnahme der Inhalte wird damit alles, was es an Standortdaten gibt - wirklich alles! -, durch die neue Richtlinie erfasst. ({2}) Wie weit aus diesen sensiblen und umfassenden Daten Rückschlüsse auf soziales Verhalten, persönliche Veranlagungen, ja, auch Inhalte der Kommunikation möglich sind, überlasse ich der Fantasie jedes Einzelnen. Aber ich weise darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht alle diese Daten im Rahmen des Fernmeldegeheimnisses unter den gleichen grundrechtlichen Schutz gestellt hat wie die Inhalte der Kommunikation selbst. ({3}) Um das Ausmaß dessen, was an Speicherung vorgesehen ist, auch für diejenigen, die sich technisch nicht so sehr damit befassen, klar zu machen: Nach den Zahlen von BITKOM, die unwidersprochen geblieben sind, würden für die Bundesrepublik Deutschland pro Tag - pro Tag! - 639 000 Disketten voll geschrieben werden. Für ganz Europa ergäbe sich für die sechs Monate, die Sie als Speicherungsdauer anstreben, eine Wegstrecke von 2 800 Kilometern, wenn man die Disketten nebeneinander legen würde. - Das sage ich nur, damit Sie sich einmal die Größenordnung vorstellen können. ({4}) Eine solch lückenlose Erfassung des Kommunikationsverhaltens aller Kommunikationsteilnehmer greift tief in unser Selbstbestimmungsrecht ein. ({5}) Dieses Selbstbestimmungsrecht ist Teil des Persönlichkeitsrechts. Es ist verfassungsrechtlich geschützt. Das ist ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das ist der Geist des deutschen Datenschutzrechts und das war bisher die Auffassung dieses Parlaments. Deshalb hat sich das Hohe Haus bei der Novelle des TKG ausdrücklich gegen jegliche Speicherung auf Vorrat ausgesprochen. Zum Schutz der Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger haben wir den Firmen Löschungsfristen auferlegt. Das war bisher die Auffassung des Parlaments. Deshalb hat dieses Parlament der Bundesregierung auch aufgegeben, auf europäischem Parkett dafür zu sorgen, dass Deutschland diese Richtlinie nicht mitträgt; so der Innenausschuss am 22. Dezember. Wir haben gefordert, dass Deutschland diese Richtlinie bei der Abstimmung ablehnt; so der Rechtsausschuss und der Wirtschaftsausschuss. Alle diese Entscheidungen haben Sie, meine Damen und Herren Kollegen von CDU/ CSU und SPD, mit uns zusammen getragen. Deswegen ist es richtig, wenn ich sage: Sie sind diejenigen, die einen Paradigmenwechsel vollzogen haben. ({6}) Das ist besonders enttäuschend bei Ihnen, meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen von der SPD, weil Sie, was Wortgewalt und auch Wortwitz anbelangt ({7}) - derjenige, der gemeint ist, meldet sich soeben -, bisher immer diejenigen waren, die sich am effektivsten und am stärksten für die Grundrechte der Bürger stark gemacht haben. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Montag, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber selbstverständlich.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Montag, vielen Dank dafür, dass Sie mir Wortwitz zuschreiben. Aber hier geht es nun wirklich um ein ernstes Thema. Sie sprechen zu Recht an, dass wir in diesem Haus eine gemeinsame Position gefunden haben. Diese gemeinsame Position haben wir übrigens auch deshalb gesucht, um gegenüber dem Europäischen Parlament deutlich zu machen, was die Meinung des deutschen Parlaments ist, so wie das andere nationale Parlamente ebenfalls getan haben. Nur, das Europäische Parlament hat jetzt entschieden, und zwar nicht in dem Sinne, in dem ich es mir gewünscht hätte. Ich halte das in der Tat für einen Anschlag auf Bürgerrechte und auf Datenschutz in Europa, der inakzeptabel ist; da stimme ich den Kritikern zu. ({0}) Mit dieser Bewertung komme ich jetzt aber nicht weiter. Wir haben diese Richtlinie nun einmal umzusetzen. Würden Sie deswegen nicht auch konstatieren, dass sich hier etwas an der Lage geändert hat? Wir müssen eine Richtlinie umsetzen, ob sie uns gefällt oder nicht. Wir haben uns im Sinne dessen, was wir beschlossen ha- ben, bemüht, nur ein Mindestmaß an Umsetzung vorzu- nehmen. Würden Sie, Kollege Montag, bei der Kritik, die Sie jetzt auch als Person geübt haben, mir zubilligen, a) dass es ein Bemühen, hier zu einer Verbesserung zu kommen, gegeben hat und b) dass wir uns mit unserem Antrag am unteren Rande dessen bewegen, was uns die Richtlinie zur Umsetzung vorgibt?

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, zuallererst freue ich mich darüber, dass Sie auch heute noch zu der Auffassung stehen, dass die Richtlinie, so wie sie jetzt Realität werden soll, wirklich einen Anschlag auf die Bürgerrechte darstellt. Für diese Klarstellung danke ich Ihnen. ({0}) Herr Kollege, nun zu der Antwort auf Ihre Frage an mich. ({1}) - Hören Sie lieber mir zu! Mit Ihren Kollegen können Sie sich später unterhalten. Wenn die Richtlinie nach einer höchstrichterlichen Überprüfung umzusetzen ist, dann werden wir uns darüber zu unterhalten haben, wie das zu geschehen hat. Ich will Ihnen aber in den Sekunden, die mir noch verbleiben, lieber erklären, was wir jetzt gemeinsam machen könnten, wenn Sie nur mitziehen würden. Wir stehen nämlich vor der Situation, dass Kommission und Rat die Pferde gewechselt haben. Im Jahre 2004/2005 haben sie es in Form eines Rahmenbeschlusses in der Dritten Säule, für den sie die Einstimmigkeit gebraucht hätten, auf den Weg gebracht. Jetzt wurden die Säulen gewechselt und es soll in Form eines Mitentscheidungsverfahrens geschehen, für das nur eine Mehrheit erforderlich ist. ({2}) Dies ist ein völliger Missbrauch der entsprechenden europäischen Vorgaben. Ich kündige Ihnen an, dass wir hier eine dahin gehende Initiative starten werden, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Nichtigkeitsklage erhebt, falls diese Richtlinie tatsächlich in dieser Form beschlossen werden sollte. Ich würde mich freuen, wenn Sie, Herr Kollege, dann die Initiative des Parlaments, eine Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof zu erheben, mittragen würden. In Ihrem eigenen Antrag steht ja, dass Sie immer noch Bedenken hinsichtlich der Rechtsgrundlagen, nach denen jetzt vorgegangen wird, haben. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn Sie es gestatten, gestatte ich es auch.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich gestatte es.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich habe Sympathie für diesen Vorschlag. Zwischen uns besteht ja bezüglich der Säulen völlige Übereinstimmung. Ist Ihnen aber bekannt, dass alle Rechtsgutachten, die dem Europäischen Parlament und dem BMJ vorliegen, den Weg über eine andere Säule nicht mehr als den einzig gangbaren erscheinen lassen? Hier hat sich die Rechtslage in Europa ziemlich eindeutig zu unseren Ungunsten gewendet. Wir prüfen es gerne. Ist Ihnen also dieses in Form von Rechtsgutachten vorliegende Material bekannt? Wenn nicht, stelle ich es Ihnen gerne zur Verfügung.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Tauss, mir ist das bekannt. Ich denke nur mit Grausen an folgende Situation: Wir hatten in diesem Hohen Haus über das Luftsicherheitsgesetz zu beraten und zu entscheiden. ({0}) - Das müssen Sie sich schon anhören. - Deshalb hatte der Innenausschuss dazu eine Sachverständigenanhörung durchgeführt, bei der uns alle geladenen Rechtsprofessoren mitgeteilt hatten, alle Regelungen seien verfassungsgemäß. Ich hoffe, Sie haben sich gestern ebenso wie ich dem Vergnügen der Selbstkasteiung hingegeben und es sich im Fernsehen angeschaut, mit welcher Klarheit das Bundesverfassungsgericht dazu eine eigene Position gefunden hat, eine Position, die, wie ich finde, keine schlechte ist. Wir sind deswegen - ich hoffe, das gilt auch für Ihre Fraktion und die Koalition - bereit, dann, wenn es zu dieser Richtlinie kommt, dafür zu sorgen, dass, wie es Irland schon angekündigt hat - Frankreich wird sich dieser Haltung offensichtlich auch bald anschließen -, eine Nichtigkeitsklage dagegen erhoben wird. Danach können wir immer noch vom EuGH prüfen lassen, ob die Rechtsgrundlage wirklich in Ordnung gewesen ist. Ich habe dazu meine eigene juristische Meinung. Ich sage Ihnen aber, dass die vorliegende Richtlinie auf sehr schwachen Füßen steht und dass es gut ist, wenn sie fällt, und nicht schlecht. ({1}) Meine Damen und Herren, ich habe schon darauf hingewiesen, dass die Koalition in ihrem Antrag unter Ziffer 13 sehr wohl die Bedenken formuliert hat, die sie immer noch gegenüber der zugrunde gelegten Rechtsgrundlage hat. Deswegen kann ich Sie nur noch einmal auffordern: Lassen Sie diesen Bedenken auch Taten folgen! Wenn es so weit ist und die Richtlinie im nächsten Monat tatsächlich kommen sollte, dann sollten wir gemeinsam versuchen, den Rechtsweg zu beschreiten. Wenn ich den Blick auf die linke Seite des Hauses richte, kann ich aus Ihren Gesichtern lesen, dass Sie eigentlich immer noch gegen eine solche Vorratsdatenspeicherung sind. Sie machen nur mit - das ist klar -, um die Koalition nicht zu gefährden. Danke schön. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Jan Korte. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es muss ganz schön langweilig gewesen sein ohne uns. Wie haben Sie das bloß ausgehalten? - Herr Montag, ich möchte nur eine Bemerkung machen: Erstens habe ich keinen Vergleich mit der DDR angestellt, sondern eine Schlussfolgerung aus der Analyse der Geschichte gezogen, wonach man heute zu bestimmten Standpunkten kommt. Zweitens ist zu sagen, dass die ständigen DDR-Vergleiche, insbesondere von dieser Seite des Hauses, ununterbrochen gegenüber uns angebracht werden, um sich nicht mit sachlichen Argumenten auseinander setzen zu müssen. Das ist die Wahrheit. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Kollege Montag, ich darf Ihnen versichern: Die Koalition steht fest, auch in dieser Sache. Es ist gut, dass es kritische Stimmen gibt; wir brauchen in diesem Deutschen Bundestag kritische Stimmen. Wir debattieren heute nicht zum ersten Mal über die Vorratsdatenspeicherung. Deswegen will ich mich ein bisschen kurz fassen und am Ende meiner Rede auf das kommen, was hier gesagt worden ist. Nur einige wenige Punkte: Erstens brauchen wir für eine wirksame Verfolgung und Bekämpfung von Straftaten dringend den Zugriff auf Telekommunikationsverkehrsdaten. Deshalb müssen diese Daten über einen gewissen Zeitraum gespeichert werden. Dies belegen Berichte der Länder und der anderen EU-Mitgliedstaaten und das belegt auch ein jüngst vorgelegter Bericht des Bundeskriminalamtes, der anhand Hunderter realer Fälle aufzeigt, dass die bestehende Rechtslage, die keine strafprozessuale Speicherpflicht vorsieht, unzureichend ist. Zweitens. Der in Brüssel erzielte Kompromiss hält die Balance zwischen den Interessen der Strafverfolgung einerseits und den Interessen der Bürger und der Diensteanbieter andererseits. Zum einen sind nur Daten erfasst, für die ein Bedarf tatsächlich belegt ist und deren Speicherung keinen unverhältnismäßigen Aufwand verursachen wird.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Ja, bitte.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, im Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen wird beklagt, dass die Bundesregierung nicht ebenso wie die Staaten Slowenien, Slowakei und Irland den Beschluss der Richtlinie abgelehnt hat. Können Sie mir sagen, warum diese Staaten die Richtlinie abgelehnt haben? ({0})

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Es gibt - Herr Tauss hat das mit seiner lauten Stimme schon gesagt - unterschiedliche Gründe. Irland will, wie der Kollege Montag schon ausgeführt hat, den Europäischen Gerichtshof anrufen, weil es meint, dass die Richtlinie nicht das richtige Rechtsinstrument sei. Das Gleiche meint übrigens auch die Slowakei. Die Slowenen haben ganz andere Gründe. Sie wissen, dass wir getreu dem Beschluss des Deutschen Bundestages vom Januar 2005 immer darauf gedrängt haben, im Rahmen der Dritten Säule zu verhandeln. Es gibt aber ernst zu nehmende Rechtsgutachten der Kommission und des Europäischen Parlamentes, die das anders sehen. Auch nach neuer Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes kann zum Beispiel Umweltstrafrecht in einer Richtlinie geregelt werden. Nun noch etwas, Herr Kollege Geis, was für Sie vielleicht von Interesse ist: Irland hat derzeit bereits eine Vorratsdatenspeicherfrist von 36 Monaten. Der Slowakei waren sechs Monate zu wenig; sie will eine Mindestspeicherfrist von 24 Monaten. ({0}) Slowenien hat sich für eine Speicherfrist von mindestens zwölf Monaten ausgesprochen. Gerade diese drei Staaten sind also nicht so altruistisch und menschenfreundlich, wie Bündnis 90/Die Grünen hier unterstellt. ({1}) Deswegen halten wir die Mindestspeicherfrist von sechs Monaten für maßvoll. In der Praxis bedeutet das, dass die meisten Unternehmen gar keine wesentlich längeren Speicherungen vornehmen müssen als bisher. Das haben auch die Abgeordneten des Europäischen Parlaments so gesehen und deshalb von sich aus gesagt, dass sie dem zustimmen können. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, auch die Reaktion der Unternehmen und Verbände war - Herr Krings hat es bereits gesagt - einhellig positiv. Wir wollen uns bei der Umsetzung der Richtlinie an Mindestanforderungen orientieren. Was jetzt in der Richtlinie als Mindestanforderung festgelegt ist, geht wesentlich auf unsere Verhandlungsführung zurück. Wir haben uns in Brüssel für maßvolle Speicherpflichten eingesetzt. Dabei ging es im Übrigen nicht um das Bewegungsprofil, das Sie, Herr Montag, angesprochen haben. Dies wird es nach unserem Willen nicht geben. Wir wollen diese Position mit Ihrer Unterstützung in Brüssel weiter vertreten. ({2}) Ich darf mich an dieser Stelle bei denjenigen sehr herzlich bedanken, die im Januar 2005 diesen Beschluss gefasst haben. Auch dank der Rückendeckung des Parlamentes wurden wir befähigt, die Verhandlungen in unserem Sinne zu führen. Es war keineswegs so, Herr Kollege Montag, dass wir generell gesagt haben, wir wollen keine Vorratsdatenspeicherung. Wir haben im Jahre 2004 einen Änderungsantrag des Bundesrates abgelehnt, ({3}) weil er nach unserer Ansicht nicht in das Telekommunikationsgesetz hineinpasste. Wir haben aber auch gesagt, dass wir im Moment und unter diesen Bedingungen keine Vorratsdatenspeicherung wollen, aber dass wir noch einmal in diese Thematik einsteigen, wenn sich die Bedingungen - damals war von Mindestspeicherfristen von 24 Monaten und von einer Erstellung des Bewegungsprofils die Rede - ändern. Verehrte Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, ich muss mich noch einmal an Sie wenden. Sie beklagen, dass wir Bürgerrechte verletzen ({4}) und dass wir wahllos in diese Rechte eingreifen. Herr Dörmann hat deutlich gemacht, dass Abfragen nur bei ganz bestimmten Straftaten überhaupt zulässig sind. Das von Ihnen vorgeschlagene „quick freeze“-Verfahren würde viele Fälle überhaupt nicht erfassen, wie zum Beispiel den von Herrn Krings genannten Fall. Ich kann Ihnen einen weiteren Fall nennen, der uns im Moment alle betrifft. Sie alle bekommen zurzeit sicher fingierte E-Mails, so genannte Phishing-Mails. Die vermeintlichen Absender sind beispielsweise Deutsche Bank, Commerzbank und Raiffeisen-Volksbank. ({5}) - Halt doch mal deinen Mund, Jörg. ({6}) In diesen Mails wird nach Ihren persönlichen Daten wie PIN und TAN-Nummern gefragt. Darauf fallen Leute rein. Die Täter sind nicht identifizierbar, weil sie dynamische IP-Adressen benutzen. All das können wir mit dem „quick freeze“-Verfahren überhaupt nicht verfolgen. Ich sage es noch einmal: Wer behauptet, dass man nicht einmal mehr harmlos telefonieren könne, der tut diesem Rechtsstaat unrecht. ({7}) Denn in unserem Rechtsstaat wird dafür Sorge getragen, dass man auf diese Daten nur dann zugreifen kann, wenn jemand gegen das Gesetz gehandelt hat. ({8}) - Herr Kollege Ströbele, ganz ruhig bleiben. Herr Kollege Montag, wir sind doch keine Straftäter. Aber wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Bürgerinnen und Bürger vor Straftätern geschützt werden. Vielen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Daniela Raab, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für die noch wenigen verbliebenen Zuschauer auf der Tribüne will ich drei Fußnoten anbringen. Sollten Sie bis zum heutigen Tage der Ansicht gewesen sein, Rechtspolitik sei eher unspannend und manchmal etwas langweilig und unbegreiflich, dann sehen Sie, dass es auch anders sein kann. Wir haben heute den Fall einer tiefenpsychologischen Anwandlung. Der Kollege Montag wollte in den Gesichtern der SPD erkannt haben, was die Kollegen wirklich wollen. ({0}) Es gibt den fast noch bemerkenswerteren Fall, dass die Linke, ehemals PDS, die Grundrechte für sich entdeckt. Respekt und Gratulation, möchte man nach einem jahrzehntelangen Lernprozess sagen. ({1}) Aber - das ist die dritte Fußnote - aufgrund Ihrer Unkenntnis fehlt noch einiges zum Verständnis unseres Antrages. Deswegen möchte ich auch gar nicht auf Ihre Position eingehen. ({2}) Zurück zum Thema. Es ist viel Richtiges, aber auch viel Falsches gesagt worden. Deswegen versuche ich, das Thema noch einmal für alle diejenigen einzufangen, die vielleicht in dem Gewusel den Überblick verloren haben. Worum geht es bei der Vorratsdatenspeicherung und worum geht es gerade nicht? Um es gleich vorweg in aller Klarheit zu sagen - ich denke, Kollege Krings hat es vorhin relativ deutlich ausgeführt -: Es geht nicht um das wahllose und wilde Anhäufen von Datenbergen, schon gar nicht von irgendwelchen CD-ROMs, die angeblich bis nach Rom reichen sollen. Es geht einzig und allein darum, beispielsweise aus der Telefon- oder Internetnutzung Kommunikationsdaten zu sichern und diese im Falle des Verdachts einer schweren Straftat für Ermittlungen abrufen zu können, also um nicht mehr und nicht weniger. Warum ist uns das so wichtig? Das lässt sich für diejenigen, die nicht sehr rechtskundig sind, am besten anhand von einfachen Beispielen erklären. Kollege Krings hat bereits eines erwähnt. Ich möchte ein zweites hinzufügen, weil es aus einem ganz anderen strafrechtlichen Bereich kommt: Gegen einen deutschen Staatsangehörigen wurde wegen des Verdachts ermittelt, Turbinen für Kampfhubschrauber zu beschaffen und nach Libyen zu liefern. Ursprünglich waren Verbindungsdaten vorhanden. Mangels gesetzlicher Speicherungspflicht konnte auf diese im Zuge des Ermittlungsverfahrens nicht mehr zurückgegriffen werden. Es gibt viele weitere Fälle, die belegen, wie wichtig es ist, dass wir Kommunikationsdaten in einem zeitlichen Mindestrahmen speichern. Ich füge hinzu: Wir reden hier nicht von Bagatelldelikten und vom viel zitierten Fahrraddiebstahl. Wir reden auch nicht davon, dass der Staat an der Muschel Ihres Telefones hängt und Ihre Gespräche belauscht. Es geht schlicht und ergreifend darum - am Rande sei festgestellt, dass das der Unterschied zwischen Speicherung und Abhören ist -, dass Kontaktdaten bis zu einem Zeitraum von sechs Monaten gespeichert und im Falle des Falles, also dann, wenn der Verdacht auf eine erhebliche Straftat vorliegt, abgefragt werden. ({3}) Wir leben leider nicht auf einer Insel der Glückseligen, die uns von all dem Bösen, das um uns herum geschieht, abschottet. Wir werden vielmehr mit Strukturen weit verzweigter Verbrechen, mit mafiösen Strukturen und mit Terrorismus konfrontiert; darauf ist heute schon vielfach hingewiesen worden. Die bisherigen Bestimmungen des Telekommunikationsgesetzes sind hier einfach nicht ausreichend. Deswegen muss es eine europaweit einheitliche Regelung geben. Der Bundesregierung ist es - der Staatssekretär hat es angesprochen - nach teilweise sehr zähen Verhandlungen auf europäischer Ebene gelungen, eine, wie auch ich finde, ausgewogene, allen beteiligten Interessen Rechnung tragende Lösung zu finden. Im Richtlinientext hat man sich auf eine allgemeine Speicherungsfrist von mindestens sechs und höchstens 24 Monaten geeinigt; all das ist gesagt worden. Erfolglose Anrufversuche werden nicht gespeichert und es wird - das betone ich - kein Inhalt gespeichert. Es wurde in der Tat ein Ausgleich zwischen dem effektiven Strafverfolgungsinteresse und, Frau LeutheusserSchnarrenberger, dem Grundrecht des Fernmeldegeheimnisses gefunden. Ich möchte Ihre Bedenken nicht kleinreden; dass wir uns da richtig verstehen. Wir müssen hier sensibel vorgehen. Das wollen wir auch tun. ({4}) Aber ich denke, der Bürger, der ein großes Interesse daran hat, dass sein Fernmeldegeheimnis gewahrt bleibt, hat ein ebenso großes Interesse daran, dass er vor Straftaten geschützt wird. Das dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren. Deshalb bin ich mir ziemlich sicher, dass wir, wenn die Richtlinie beschlossen worden ist - denn es gibt sie noch nicht -, vielleicht auch in Zusammenarbeit mit Ihnen - das würde mich sehr freuen - einen ausgewogenen Gesetzentwurf erarbeiten können. Wie gesagt, wir nehmen die Bedenken ernst. Sie sind angekommen. Ihr Beitrag war sachlich und absolut berechtigt. Ich bin mir sicher: Wir sind auf dem richtigen Weg. Es gibt keinen Paradigmenwechsel, höchstens im Bereich der internationalen Kriminalität. Wir sind gezwungen, darauf zu reagieren. Ob es uns wirklich gefällt, ist eine andere Frage. Ich danke Ihnen. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Peter Danckert, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Bevor ich es am Schluss meiner Rede vergesse, möchte ich das Bundesministerium des Innern und das Bundesjustizministerium bitten, zu prüfen, ob nicht ähnliche Erklärungen abgegeben werden sollten, wie sie inzwischen von etlichen Ländern eingereicht oder angemeldet worden sind. ({0}) Offensichtlich scheint es hinsichtlich der Frist im Bereich der Internettelefonie und der Internet-E-Mails technische Probleme zu geben. Wir wären gut beraten, dies noch einmal zu prüfen, um nicht nachher an dieser Stelle ein Problem zu bekommen. ({1}) Ich will mich nicht darüber auslassen, ob hier die Dritte oder die Erste Säule die richtige Rechtsgrundlage ist; das wissen die Kollegen Montag und LeutheusserSchnarrenberger sehr viel besser. Ich denke, wir sollten die Auffassung der Europäischen Kommission zur Kenntnis nehmen und abwarten, was daraus wird. Inzwischen ist eine gewisse Vorentscheidung ergangen. Ob sie standhält, bleibt abzuwarten. Es besteht vielleicht auch die Möglichkeit, dass der eine oder andere dagegen klagt. Ich stelle mich zunächst einmal auf den Boden der Tatsache, dass die Richtlinie auf Basis der Ersten Säule gerechtfertigt ist. Es hilft nichts, im Parlament darüber zu lamentieren; denn wir haben dies nicht zu entscheiden. Von daher lasse ich diesen Punkt einmal außen vor. Die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger hat heute einen Begriff geprägt, der mich angesichts der Materie, um die es hier geht, stark irritiert hat. Sie sprachen davon, dass hier eine Überwachung durch den Staat erfolgt. Das ist maßlos übertrieben ({2}) und trägt dem deutschen Anspruch, diese Materie fast minimalistisch zu regeln, in keiner Weise Rechnung. ({3}) Sie bauen hier einen Buhmann auf. Wir haben eine lange Rechtskultur, was die Grundrechtswahrung angeht, angefangen vom Volkszählungsurteil 1985. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass das, was sich im Bereich der Kriminalität bedauerlicherweise entwickelt hat, Lichtjahre von dem entfernt ist, was 1985 in diesem Bereich Usus war. ({4}) Heute haben wir weltweiten Terrorismus und europaweite Kriminalität. Von daher können wir Kriminalitätsbekämpfung nicht mit den Mitteln aus der Zeit des Volkszählungsurteils betreiben. ({5}) - Doch, das ist es, was Sie wollen. ({6}) Ich sage es Ihnen ganz offen: Wenn es den Telekommunikationsanbietern erlaubt ist, die Daten zum Zwecke der Abrechnung sechs Monate zu speichern, kann ich es nicht als Paradigmenwechsel empfinden, wenn wir jetzt sagen, dass es eine Verpflichtung geben soll, mehr als 450 Millionen Daten zu erfassen, aber nicht grundlos, sondern ausschließlich zum Zweck der Kriminalitätsbekämpfung, zur Bekämpfung des Terrorismus, zur Verfolgung schwerster Straftaten. Diese Regelung dient also nicht dazu, im Umfeld der Bürger herumzuschnüffeln, sondern lediglich dazu, im Falle schwerster Straftaten Aufklärung zu betreiben. Sie werden sicherlich den Bericht des Bundeskriminalamts erhalten haben, Frau Kollegin - auch der Kollege Montag -, ({7}) den die Justizministerin den Berichterstattern zugeleitet hat. In diesem Bericht, der Ergebnis einer rechtstatsächlichen Untersuchung ist, ist klar zu erkennen, welche Bedeutung die Datenspeicherung hat, und zwar in dem Umfang, wie wir sie vorgesehen haben, also für eine Dauer von maximal sechs Monaten. Das ist der Zeitraum, der für die Kriminalitätsbekämpfung am effektivsten ist; darauf können wir nicht verzichten.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger?

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr gerne, Frau Kollegin.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass Ergebnis dieser rechtstatsächlichen Untersuchung des Bundeskriminalamts gewesen ist, dass man sich bei Delikten des sexuellen Missbrauchs und bei Betrugsdelikten etwas von der Vorratsdatenspeicherung verspricht? Das sind die einzigen Delikte, die bei den entsprechenden Abfragen als relevant benannt wurden, nicht die Bereiche, die Sie hier die ganze Zeit anführen. Ist Ihnen das bekannt?

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist mir bekannt. Ich weiß auch, dass in diesem Bereich der höchste Prozentsatz an positiven Ermittlungsergebnissen erreicht wurde. Das spricht aber nicht gegen die Regelung an sich. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Montag?

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich fühle mich geehrt, dass der Kollege mich mit einer Zwischenfrage bedenkt.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön. - Sie haben mich persönlich angesprochen und darauf hingewiesen, dass ich einen Bericht auf der Grundlage einer rechtstatsächlichen Untersuchung erhalten habe. Sie haben auch gefragt, ob ich ihn gelesen habe. Ich frage Sie, ob Sie uns hier im Plenum bestätigen können, dass einerseits die Richtlinienentwürfe davon sprechen, dass die Vorratsdatenspeicherung eingeführt werden soll, um den internationalen Terrorismus zu bekämpfen, und dass sich andererseits aus der Studie ergibt, dass sich von den 361 Fällen, die das BKA zur Verfügung gestellt hat, genau 0,5 Prozent mit Straftaten des internationalen Terrorismus beschäftigt haben? ({0})

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Montag, diese Fakten kenne ich auch; sie liegen mir vor. Das stimmt auch alles. Das ist aber kein grundlegender Einwand gegen die Datenspeicherung. Selbst wenn es auch nur 0,2 Prozent oder drei Fälle sind, dann lohnt sich die Sache, um solche schwersten Straftaten aufzuklären. ({0}) Das ist der grundlegende Unterschied zwischen uns beiden. Wenn wir in die eigentliche Beratung gehen - das ist heute ja nur der Auftakt dazu; wir werden den Entwurf des Justizministeriums in den nächsten sechs bis zwölf Monaten haben; das muss gründlich vorbereitet werden -, werden wir uns an dieser Stelle sicherlich noch einmal genauso intensiv und - wie ich hoffe - sehr sachlich über diese Fragen unterhalten. Um eines bitte ich aber, und zwar dass denjenigen aus der Koalition, die heute den Antrag „Speicherung mit Augenmaß - Effektive Strafverfolgung und Grundrechtswahrung“ unterstützen und verabschieden werden, nicht unterstellt wird, sie würden den Bürgern Grundrechte vorenthalten. Genau das Gegenteil ist richtig: Wir sind besorgt um die Sicherheit der Bürger und wahren gleichzeitig ihre Grundrechte. Das ist das Ziel dieses Antrages. Vielen Dank. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt. Bevor wir zur Abstimmung kommen, erteile ich das Wort für eine Erklärung zur Abstimmung dem Kollegen Siegfried Kauder, CDU/CSU-Fraktion.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Die europäischen Institutionen beackern das Feld des Strafprozesses punktuell, aber außerordentlich konsequent und beharrlich. Ich bin der Meinung, dass wir dieses Vorgehen unter grundsätzlichen Erwägungen durchleuchten müssen. Dazu habe ich in einer Rede zum Europäischen Haftbefehlsgesetz am 9. Februar 2006 Ausführungen gemacht - ich darf dazu erwähnen: unter breitem Beifall aller Fraktionen. Es ging schlicht und ergreifend um die Frage, die wir uns auch hier stellen müssen: Hat die EU überhaupt eine Regelungskompetenz in dem Bereich der Vorratsdatenspeicherung? ({0}) Wenn eine Regelungskompetenz besteht, besteht sie dann in der Dritten Säule - mit der Möglichkeit, dass nur ein Rahmenbeschluss erlassen werden darf -, oder besteht die Möglichkeit, diese Kompetenz von der Dritten Säule in die Erste Säule zu verlagern? Siegfried Kauder ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe den Verdacht, dass die EU konsequent die Entscheidung des EuGH vom 13. September 2005 zum Umweltstrafrecht weiterverfolgt. Man zieht eine Kompetenz, die in die Dritte Säule gehört, als so genannte Annexkompetenz schlicht und ergreifend in die Erste Säule. Dabei stellt sich schon die Frage, ob so etwas überhaupt machbar ist und ob wir diesen Weg nachvollziehen wollen. Aber denklogisch setzt eine Annexkompetenz erst einmal voraus, dass für die Regelung eine Hauptkompetenz besteht. Diese Hauptkompetenz ist hier überhaupt nicht gegeben. Das heißt, man macht den so genannten Annex zur Hauptsache. Wenn wir diesen Weg verfolgen, werden wir zu dem, wovor Herr Schünemann uns warnt, nämlich zu einem Lakaien Brüssels. ({2}) Wir sind kein Abnickverein Brüssels und wir sind kein Abnickverein der deutschen Regierung! ({3}) Wir sind ein eigenständiges Parlament, das seine Rechte insbesondere bei europäischen Rechtsetzungsakten wahren muss. Deswegen werde ich diesem Antrag der CDU/ CSU und SPD nicht zustimmen. Ich werde ihn ablehnen. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 16/690. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/545 mit dem Titel „Speicherung mit Augenmaß - Effektive Strafverfolgung und Grundrechtswahrung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung angenommen mit den Stimmen der SPD-Fraktion, aller Stimmen der CDU/CSU-Fraktion mit Ausnahme einer Stimme, bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion, der Grünen und der Linken und einer Stimme aus der CDU/ CSU-Fraktion. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/128 mit dem Titel „Gegen eine europaweit verpflichtende Vorratsdatenspeicherung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP, der Grünen und der Fraktion Die Linke. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/690 die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/237 mit dem Titel „Freiheit des Telefonverkehrs vor Zwangsspeicherungen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Dann ist die Beschlussempfehlung angenommen mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 8: Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Martin Zeil, Christian Ahrendt und der Fraktion der FDP Bürokratieabbau - Jetzt sind konkrete Schritte gefragt - Drucksache 16/472 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile - sobald diejenigen, die der Aussprache nicht folgen möchten, ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaals fortführen - das Wort der Kollegin Birgit Homburger von der FDP-Fraktion. ({1})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute erneut über einen Antrag der FDPBundestagsfraktion zum Abbau bürokratischer Lasten in Deutschland. „Bürokratieabbau“ ist ja zum Schlagwort geworden. Es ist in aller Munde. Aber man muss sagen: Schon die letzte Bundesregierung hat dabei überhaupt nichts erreicht. Damals hat ein Bundeswirtschaftsminister namens Clement das Thema zur Chefsache gemacht. Das Ergebnis war, dass er ein paar Kleinigkeiten erreicht hat, wie beispielsweise die Erleichterung der Berichts- und Dokumentationspflichten beim Umweltmanagementsystem oder ein paar Erleichterungen bei der Arbeitsstättenverordnung, die nicht einmal richtig greifen. Es wurde auch ein Rechtsbereinigungsgesetz unter Justizministerin Zypries verabschiedet. Dadurch wurden so wichtige Gesetze und Verordnungen abgeschafft wie beispielsweise das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts von 1950 ({0}) oder die Verordnung zur einheitlichen Regelung der Gerichtsverfassung von 1935. So wichtige Sachen sind abBirgit Homburger geschafft worden - ich könnte die Liste fortsetzen - und alle sind von anno Tobak. Das hat nichts, aber auch gar nichts für die Entlastung der Betriebe von bürokratischen Kosten gebracht. Deswegen wird es jetzt endlich Zeit, dass wir damit anfangen. ({1}) - Herr Tauss, jetzt seien Sie einfach einmal ruhig oder melden Sie sich zu einer Zwischenfrage. Dann beantworte ich gern Ihre Frage zu Baden-Württemberg. ({2}) In der ersten Regierungserklärung, die Frau Merkel in dieser Legislaturperiode abgegeben hat, haben wir gehört, die neue Regierung wolle etwas für den Mittelstand tun. Frau Merkel hat erklärt: Meiner Meinung nach können wir am meisten beim Bürokratieabbau leisten … Wir werden uns das genau anschauen und erst einmal lernen, Bürokratiekosten zu berechnen und zu bemessen. Wir nehmen uns klare Reduktionsziele vor. Das Thema Bürokratieabbau hat es bis in die Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin und bis in ihre Rede auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos geschafft. ({3}) Dort hat sie dieses Thema zur Chefsache erklärt; diesmal allerdings nicht zur Chefsache des Wirtschaftsministers, sondern zur Chefsache der Bundeskanzlerin. ({4}) Zudem hat sie die Ermittlung der Bürokratiekosten und die Einsetzung eines Normenkontrollrats angekündigt. Jetzt stellt sich die Frage: Was machen Sie eigentlich? In unserem Antrag fordern wir genau das ein, was die Bundeskanzlerin angekündigt hat: die Einführung des niederländischen Bürokratiekostenmessverfahrens, des so genannten Standard Cost Model. Dort wird nämlich durch ein ganz einfaches Schätzverfahren herausgefunden, wie viel Zeit Unternehmen mit bürokratischem Aufwand verbringen und wie häufig ein bestimmter Vorgang stattfindet. Dies wird dann in betriebliche Kosten umgerechnet. Auf diesem Wege wird ermittelt, wie viel das die Betriebe insgesamt kostet. Deshalb brauchen wir einen Normenkontrollrat, der unsere Gesetzentwürfe im Vorhinein daraufhin kontrolliert, ob sie zu unsinniger Bürokratie führen. ({5}) In den Niederlanden will man dadurch eine Reduzierung der Bürokratiekosten um 25 Prozent erreichen. Die Bertelsmann-Stiftung hat unter Zugrundelegung der Annahme, dass dies gelingt, errechnet, dass die Betriebe in Deutschland dadurch um 20 Milliarden Euro entlastet werden könnten. Unsere Unternehmen ersticken in Bürokratie und die vorhandenen Arbeitsplätze werden unnötig belastet. Gleichzeitig könnten wir eine Entlastung erzielen, ohne in irgendeiner Form Haushaltsmittel in Anspruch nehmen zu müssen. Wir müssten lediglich überflüssige Vorschriften beseitigen. ({6}) Herr Tauss, es stellt sich die Frage, was eigentlich die Regierung macht - die SPD ist ja eine der Koalitionsfraktionen -: ({7}) In dieser Woche stand ebendieser Vorschlag auf der Tagesordnung der Kabinettssitzung. ({8}) Aber dann hat die Regierung diesen Tagesordnungspunkt abgesetzt. So ist sie auch mit Begleitgesetzen verfahren, zum Beispiel dem Vorschlag, den Mittelstand durch die Reduzierung von Statistikpflichten zu entlasten oder den Aufwand im Baurecht dadurch zu verringern, sowie den Vorschlag, dass Anträge dann als genehmigt zu betrachten sind, wenn man nach Antragstellung innerhalb von sechs Wochen nichts von der zuständigen Behörde gehört hat. All diese Vorschläge, über die Sie immer nur reden, hat die FDP-Fraktion bereits in den Deutschen Bundestag eingebracht. Aber was ist passiert? Es ist nicht nur so, dass diese Vorschläge vom Kabinett nicht behandelt wurden. Es wurde sogar als Begründung angegeben, die Koalitionsfraktionen hätten sich nicht auf die Besetzung des Normenkontrollrates einigen können. ({9}) Meine Damen und Herren, die Republik ächzt und stöhnt unter den hohen Bürokratiekosten und Arbeitsplätze sind gefährdet. Aber Sie können sich nicht einigen, wie Sie den Normenkontrollrat besetzen wollen. Das ist, was Ihren Einsatz für den Bürokratieabbau betrifft, eine Schande. ({10}) Stattdessen kommt es zu zusätzlichen Belastungen: Die Mehrbelastungen, die sich für die Unternehmen allein durch das Vorziehen des Fälligkeitstermins der Sozialversicherungsbeiträge ergeben, bewegen sich in einer Größenordnung von 3 bis 4 Milliarden Euro pro Jahr. Wir haben beantragt, dieses Gesetz zurückzunehmen. ({11}) Diesem Antrag haben Sie im zuständigen Ausschuss Ihre Zustimmung verweigert. Auch hier haben Sie erneut das Gegenteil dessen getan, was Sie angekündigt hatten. Deswegen sagen wir Ihnen klipp und klar: Hören Sie auf mit Ihrer Ankündigungspolitik und fangen Sie endlich mit dem Bürokratieabbau an! Im Rahmen der Ausschussberatungen haben Sie die Chance, zu zeigen, dass es Ihnen mit diesem Thema ernst ist. Wenn Sie sich nicht einigen können, nehmen Sie den Antrag der FDP als Grundlage. Dann haben Sie eine Vorlage und brauchen nicht länger nachzudenken. Vielen Dank. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Michael Fuchs für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Verehrte Frau Kollegin Homburger, ich danke Ihnen für die baden-württembergische Wahlrede, die Sie gehalten haben. Ich kann ja verstehen, dass Sie da nervös sind. Wenn ich mir Ihren Antrag so anschaue, darf ich Ihnen ein Kompliment machen: Sie sind im Abschreiben des Koalitionsvertrages hervorragend - grammatikalisch richtig und auch die Interpunktion ist in Ordnung gewesen. ({0}) In der Sache haben Sie ja völlig Recht. Allerdings denke ich, dass eine solche Abschreiberei einer Partei, die sich Freiheit auf die Fahne geschrieben hat, unwürdig ist; Sie sollten das Urheberrecht respektieren. ({1}) Bei all dem, was Sie hier vorgetragen haben, brauchen Sie uns nicht zu belehren: Es steht exakt so im Koalitionsvertrag. Ich habe Ihnen die entsprechenden Auszüge aus dem Koalitionsvertrag mitgebracht und werde sie Ihnen gleich geben. Ich habe mir nämlich schon gedacht, dass Sie die Originaltexte nicht haben. Manchmal hilft ein klein wenig Nachlesen. ({2}) Zur Sache. Wir wissen, dass wir beim Bürokratieabbau vorankommen müssen, und wir wollen das auch. Frau Merkel hat darüber nicht nur in Davos gesprochen, wie Sie es erwähnt haben, sondern sie hat das auch in ihrer Regierungserklärung angekündigt und ist sogar in ihrer Weihnachtsansprache darauf eingegangen. Sie hat gesagt, dass sie den Bürokratieabbau für eines der wichtigsten Elemente der Politik der Regierung in den nächsten vier Jahren hält. Insofern müssen Sie schon warten. ({3}) - Sie werden nicht vier Jahre warten müssen: In Kürze wird sich etwas tun. ({4}) - Wir werden das halt nicht so machen, wie Sie das gemacht haben, liebe Frau Scheel: Bröckelchen für Bröckelchen. Ich zitiere den Wirtschaftsminister der letzten Regierung. Er hat gesagt, es ist eine Verzettelung mit geringen bis minimalen Reförmchen, Einzel- oder Häuserkampf. Bundesminister Clement hat auch gesagt, es mache keinen Sinn, die 173. Verordnung zur Änderung einer weiteren Verordnung zu ändern. Dieses wollen auch wir nicht - wir wollen eine Politik aus einem Guss machen. ({5}) Wir haben uns vorgenommen, uns dabei nicht ständig mit neuen Dingen zu beschäftigen. Wir haben uns das niederländische Modell sehr wohl angeschaut. Das Standardkostenmodell macht Sinn und wir werden es mit dem Normenkontrollrat umsetzen. Das wird in Kürze auf Sie zukommen - Sie brauchen da keine Sorgen zu haben - und wir freuen uns schon jetzt auf den gewaltigen Applaus, den Sie uns dann spenden werden. Wenn Sie den Koalitionsvertrag etwas intensiver gelesen hätten, hätten Sie festgestellt, dass wir in ihm eine ganze Menge Sofortmaßnahmen vorgesehen haben. Es wird diesen Small-Company-Act geben, ein Gesetz, mit dem wir speziell den Mittelstand entlasten wollen. Das sind nur die wesentlichen Punkte. All das hätten Sie vorher wissen können; Sie hätten Ihren Antrag gar nicht zu stellen brauchen. Eigentlich ist es ohnehin unser Antrag: Denn es steht darin exakt so, wie wir es geschrieben haben. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Dr. Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Homburger?

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, es ist mir eine Ehre.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Dr. Fuchs, geben Sie mir Recht, dass die Unternehmen, die unter den bürokratiebedingten Kosten leiden, erst dann etwas von einer im Koalitionsvertrag angekündigten Maßnahme haben, wenn diese umgesetzt worden ist und zum Tragen kommt? Wollen Sie mir Recht geben, dass „Sofortmaßnahme“ heißt, dass man etwas sofort macht? Wenn Sie immer nur ankündigen, in Kürze würde etwas kommen - erst hieß das: Februar; man hat es verschoben, doch noch immer heißt es: in Kürze -, dann ist das doch keine Sofortmaßnahme!

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Homburger, ich bin anderer Meinung als Sie. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Wir wollen eine vernünftige Gesetzgebung hinbekommen, wir wollen, dass den einzelnen Fakten Rechnung getragen wird. ({0}) Wir wollen nicht die ganze Zeit hin und her springen und wie Sie jede Woche irgendein Anträgelchen auf die Beine stellen - das Sie noch dazu bei anderen abschreiben! ({1}) Wir wollen ein umfassendes Gesetz, das die Wirtschaft entlastet. Wir sind uns in dem Punkt, dass die Wirtschaft entlastet werden muss, völlig einig. ({2}) Nur, so wie Sie das machen - immer hin und her springend -, macht das nicht allzu viel Sinn. ({3}) Ich möchte kurz vortragen, was wir genau machen wollen: Wir werden die Statistik-, Nachweis-, Dokumentations- und Buchführungspflichten angehen und sie auf ein vernünftiges Maß reduzieren. Dabei muss auch mehr Kostenbewusstsein ins Parlament. Mich hat während meiner parlamentarischen Tätigkeit schon immer geärgert, dass § 44 GGO eigentlich sehr wenig beachtet wurde und es auf der ersten Seite eines Entwurfs stets hieß „Kosten: keine“. Wir hatten vor kurzem im Wirtschaftsausschuss eine Debatte darüber, dass die Erfassung der Folgekosten von Bürokratie bis jetzt nicht vernünftig vorgenommen worden ist. Dafür führen wir ja den Normenkontrollrat ein. Wir werden auch die Genehmigungsverfahren vereinfachen. Nebenbei: Das alles sind Dinge, die wir mit unserem Koalitionspartner abgestimmt haben, mit dem wir uns einig sind. Sie brauchen also überhaupt keine Hoffnung zu haben, dass Sie einen Keil in die Koalition treiben können. ({4}) Das tun wir gemeinsam. Der Kollege Wend und ich sind uns auf diesem Sektor völlig einig. ({5}) Wir werden darüber hinaus die Geltungsdauer des - ich kann das mittlerweile fast unfallfrei aussprechen Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes verlängern und die Geltung auf die ganze Bundesrepublik Deutschland ausweiten. ({6}) - Frau Homburger, wenn Sie manchmal zuhören würden, dann brauchten Sie nicht abzuschreiben. ({7}) Sie werden es erleben: Wir werden auch die Doppelund Mehrfachprüfungen einschränken. Hierzu will ich Ihnen ein schönes Beispiel aus meinem unternehmerischen Erleben erzählen - das können Sie dann in BadenWürttemberg anbringen; dort ist es wahrscheinlich genauso -: Das Gewerbeaufsichtsamt hat mein Unternehmen besucht. Es beschäftigte sich mit der Höhe, in der die Feuerlöscher in meinem Unternehmen aufgehängt sind, und stellte fest - oh Graus -, dass sie falsch angebracht sind, nämlich zu niedrig. ({8}) Ich habe dann alle Feuerlöscher auf die Höhe von 1,10 Meter hängen lassen. Ich weiß nicht, wie viele hundert Stück wir haben, aber ein Mitarbeiter war einen guten Tag lang damit beschäftigt. Es dauerte vier Wochen, dann kam ein Vertreter der Berufsgenossenschaft. Und dieser stellte fest, dass die Feuerlöscher viel zu hoch aufgehängt waren. Ich habe dann allerdings doch einen leichten Wutanfall bekommen und gefragt: Was sollen wir denn jetzt tun? Sollen wir eine Schiene anschrauben, sodass wir die Dinger immer rauf und runter schieben können, je nachdem, wer gerade zur Haustür hereinkommt? Das kann es nicht sein. - Das darf in Zukunft nicht mehr passieren. Es muss eine Richtlinie geben, nach der geprüft wird. Doppelprüfungen sind tunlichst zu vermeiden. Daran werden wir arbeiten. ({9}) Hier sind aber auch die Bundesländer gefordert, die alle auf diesem Sektor zusätzliche Vorschriften geschaffen haben. ({10}) Wir müssen das gemeinsam hinbekommen und den Bundesländern auch sagen: Hört mit diesem Unfug der Doppelprüfungen auf. ({11}) Wir werden die Schwellenwerte im Bilanz- und Steuerrecht vereinheitlichen. ({12}) - Ich weiß, dass das schon einmal Ihre Forderung war. Wir werden das jetzt aber tun. Sie brauchen keine Sorge zu haben. Wir werden die Begrenzung der Verpflichtung der Betriebe zur Bestellung von Beauftragten in die Hand nehmen; denn dieses Beauftragtenunwesen müssen wir ebenfalls eingrenzen. Darin sind wir uns einig. ({13}) Wir werden auch die betriebsärztliche und sicherheitstechnische Betreuung von Kleinbetrieben vereinfachen. Wir haben im Koalitionsvertrag auch festgelegt, dass wir bei den EU-Richtlinien genau hinschauen und sie möglichst nur noch eins zu eins umsetzen. Deutschland ist nicht mehr an der Spitze in Europa. Wir wollen wieder dorthin kommen und dafür sorgen, dass das wieder funktioniert. Das schaffen wir nur, wenn wir bei der Umsetzung der Richtlinien der EU nicht bis ins Äußerste gehen, wie das vielfach der Fall gewesen ist. Wir werden die Bürokratie sehr exakt messen und feststellen, welche Kosten da entstehen. Es ist gut, dass der Normenkontrollrat eine Art Vetorecht bekommen und sich damit beschäftigen wird, die Dinge, die zu bürokratisch sind, zu verhindern. Ich finde es besonders bemerkenswert, dass die Kanzlerin in Davos versprochen hat, sich im Jahr unserer Ratspräsidentschaft, im Jahr 2007, den Bürokratieabbau auf die Fahnen zu schreiben und ihn voranzutreiben. Das müssen wir auch; denn über Brüssel handeln wir uns sehr viel Bürokratie ein. Das heißt, wir müssen hier ein Forecheckingsystem aufbauen. Auch das haben Sie von uns dankenswerterweise gelernt und abgeschrieben. ({14}) Ich möchte nur noch auf einen Punkt hinweisen: Es würde sicherlich viel helfen und wir brauchten solche Debatten wie die heute Abend hier nicht zu führen, wenn Sie ganz simpel zur Kenntnis nehmen würden, dass wir in Deutschland die Kräfte wieder freimachen. Ich zitiere die Bundeskanzlerin, die in Davos darauf hingewiesen hat, dass wir im Augenblick grandiose Kräfte in Deutschland dadurch fesseln, dass wir uns in Regularien, die scheinbare Sicherheit versprechen, verfangen haben. Sie sagte auch: Ich glaube, wir kommen mit der Betrachtung der Einzelregelung nicht mehr voran, weil jede Einzelregelung inzwischen zu einer Lobby für eine bestimmte Gruppe geworden ist. ({15}) Deswegen möchte ich von diesem Hohen Hause aus die Lobbygruppen auffordern - das sollten wir schon gemeinsam tun -: Wenn Sie wirklich Bürokratieabbau wollen, dann verhalten Sie sich bitte nicht so, wie es der heilige Sankt Florian gesagt hat: Fangt doch bitte schon mal bei diesem Häuslein an, aber nicht bei mir. - Wenn jeder sagt, bei ihm dürfe nichts passieren, dann können wir nicht weiterhin glauben, dass wir die Bürokratie vernünftig abbauen können. Nur dann, wenn wir das gemeinsam tun, kommen wir voran. Lassen Sie uns auf diesem Weg bitte gemeinsam vorangehen. Deutschland und die deutschen Unternehmen haben einen vernünftigen Bürokratieabbau dringend notwendig. Wenn Sie alle mithelfen und uns gute Vorschläge machen, Frau Homburger, dann werden wir sie sogar umsetzen. ({16})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun für die Fraktion Die Linke die Kollegin Sabine Zimmermann. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Bei der Prüfung des vorliegenden Antrages „Bürokratieabbau“ fragt man sich, worin eigentlich der Unterschied zwischen der Regierung und der Opposition liegt. Ich muss Herrn Fuchs Recht geben. ({0}) - Ja, ich muss ihm tatsächlich Recht geben, dass es hier keinen Unterschied gibt; denn im Jahreswirtschaftsbericht sowie in der Koalitionsvereinbarung steht genau diese Forderung. Nun ist die Forderung nach Bürokratieabbau beileibe nicht neu. Die meisten Regierungen auf Bundes- und Länderebene beschäftigen sich seit Jahren mit diesem Thema, ohne dass bisher große Fortschritte erzielt worden sind. Im Gegenteil: Vor allem durch die Regulierungswut der Brüsseler Bürokratie sind viele neue Regelungen hinzugekommen. Wir als Linke sind grundsätzlich bereit, uns an der Diskussion konstruktiv zu beteiligen, ({1}) in welchem Umfange Unternehmen, Betriebe - vor allem kleine und mittlere Betriebe - und auch Selbstständige durch Verwaltungsvorschriften, durch immer neue Formulare, Statistiken und Nachweise in einem Maße belastet werden, dass sich dies hemmend auf Investitionen und auf das wirtschaftliche Wachstum und damit auch auf die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen auswirkt. Wir haben es aber nicht nur in der Wirtschaft mit einer übermäßigen Bürokratie zu tun. Auch das Gesundheitswesen leidet darunter. Sprechen Sie einfach einmal mit Klinikärzten und niedergelassenen Ärzten, welchen Bürokratieaufwand diese betreiben müssen. Auch das gehört zum Inhalt einer umfassenden Gesundheitsreform. Zu einer ehrlichen Diskussion gehört das Eingeständnis, dass viele unnütze Verwaltungsvorschriften das Ergebnis politischer Entscheidungen von Regierungen und Parlamenten sind. Es ist überhaupt mehr als auffällig: Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, reden von den Belastungen der Unternehmen und Bürger. Um Letzteres geht es bei Ihren konkreten Vorschlägen jedoch kaum. Kein Wunder; denn Sie hätten sonst einräumen müssen, dass das größte bürokratische Machwerk der letzten Jahre, das Millionen Menschen betrifft, den Namen Hartz IV trägt. Es kann nicht bestritten werden, dass von Rationalisierungsmaßnahmen, mögen sie auch notwendig sein, auch die Interessen von Beschäftigten betroffen sein können. Deshalb haben wir an Sie die Frage, weshalb dem vorgeschlagenen Normenkontrollrat zwar Vertreter der mittelständischen Wirtschaft, der Selbstständigen, der Kommunen, der Rechnungshöfe sowie des Bundes der Steuerzahler, aber keine Gewerkschaften als Interessenvertreter der Beschäftigten angehören sollen. ({2}) Noch eines fällt in Ihrem Antrag auf. Es soll sichergestellt werden, dass der Normenkontrollrat zu allen Gesetzesinitiativen aus der Mitte des Deutschen Bundestages Stellung nimmt. Damit würde der Normenkontrollrat nicht nur zu einem politischen Kontrollgremium, das nicht in unserer Verfassung steht ({3}) - darüber sollten Sie bitte einmal nachdenken -, auch die Entscheidungswege würden länger. Das wollen Sie als Liberale doch auf gar keinen Fall. Ihr Antrag weist noch einen Schwachpunkt auf. Es geht nicht nur um Bürokratie, von der die Wirtschaft entlastet werden soll und muss. Es geht nach unserer Meinung auch um übermäßige Zentralisierung beim Vollzug von Gesetzen und Verwaltungsvorschriften. Manches könnte nämlich vor Ort von den Verwaltungen und den Behörden schneller, besser und lebensnäher entschieden werden. Darüber sollten wir einfach einmal nachdenken. ({4}) Deshalb fordern wir, dass ein umfassender Bürokratieabbau mit einer Folgeabschätzung verbunden wird und seine wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Ziele klar beschrieben werden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Rainer Wend, SPDFraktion. ({0})

Dr. Rainer Wend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist immer wieder eine Freude, mit der FDP über Bürokratieabbau zu diskutieren. ({0}) Sie reden selbstgerecht mit volltönender Stimme, Frau Homburger, und tun so, als hätten Sie mit der Problematik nichts zu tun. Dabei bemühen wir uns gegenwärtig, bürokratische Vorschriften abzuschaffen, für die Sie in den Jahren 1949 bis 1998 mit Ausnahme der drei Jahre, in denen die große Koalition regierte, zumindest Mitverantwortung getragen haben. Deswegen gehören Sie genauso wie wir in die Phalanx derer, die eingestehen müssen, dass sie in der Vergangenheit nicht alles richtig gemacht haben. ({1}) Ein bisschen Selbstkritik und etwas weniger Selbstgefälligkeit würde Ihnen an dieser Stelle helfen, Frau Homburger. ({2}) Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht: Man kann das Thema Bürokratieabbau manchmal nicht mehr hören und hat auch keine Lust mehr, darüber zu sprechen; denn es hat quer durch alle Parteien schon viele Versuche gegeben, Bürokratieabbau in der Praxis umzusetzen. Aber wenn wir alle ehrlich sind, dann müssen wir erkennen: Richtig vorangekommen ist niemand. Glauben Sie mir - auch wenn Sie es mir nicht zutrauen -: Rot-Grün hatte es ernsthaft vor. Auch Wolfgang Clement hatte es ernsthaft vor. ({3}) Dennoch ist es letztlich nicht zu dem Erfolg gekommen, den wir uns gewünscht hätten. Wir haben dann nach den Gründen dafür gesucht. Ich glaube, dass es nicht nur eine Ursache gibt. Ich möchte zunächst einen - zugegebenermaßen - etwas polemischen, parteipolitischen Grund nennen: Es ist uns nicht geglückt, die ganze Breite unserer Gesellschaft - auch die gesellschaftlichen Gruppen - für dieses Thema zu gewinnen. Denn wenn die FDP von Bürokratieabbau sprach, dann meinte sie damit häufig genug den Abbau des Kündigungsschutzes ({4}) oder die Senkung von Umweltstandards. Wenn die Menschen und die Interessengruppen den Eindruck hatten, dass Bürokratieabbau der Vorwand war, um in Wirklichkeit Arbeitnehmerrechte und Umweltstandards abzubauen, dann hatte das zur Folge, dass wir sie nicht für dieses Thema gewinnen konnten. Insofern müssen wir in ideologischer Hinsicht abrüsten und den Bürokratieabbau darauf beschränken, was er in Wirklichkeit bedeutet, statt mithilfe dieses Stichwortes unredliche politische Absichten zu verfolgen. ({5}) Lassen Sie mich aber jenseits der parteipolitischen Polemik feststellen, dass der Kollege Fuchs durchaus Recht hat. Eine weitere Ursache dafür, dass der Bürokratieabbau bisher nicht geklappt hat, sind die Interessengruppen und auch zum Teil die Beamten selbst. Ich erinnere mich an ein Beispiel aus der letzten Legislaturperiode. Auch wir waren so schlau, uns zu fragen, ob Doppelprüfungen wirklich sein müssen: Zuerst läuft die Berufsgenossenschaft durch die Betriebe und ein paar Wochen später prüft die Arbeitssicherheit noch einmal mehr oder weniger dasselbe. Folglich haben wir gesagt: Lasst uns das zusammenlegen. Als wir das zum ersten Mal vorgeschlagen haben, sind die Berufsgenossenschaften und die für die Arbeitssicherheit zuständigen Ämter über uns hergefallen und haben unser Vorhaben für völlig unmöglich erklärt. Als sich dann abzeichnete, dass wir uns auf die Seite der Berufsgenossenschaften schlagen und ihnen die Zuständigkeit übertragen wollten, brachten sie ihre begeisterte Zustimmung zu dieser wundervollen Entbürokratisierung zum Ausdruck. Die betreffenden Ämter haben uns - das ist aus ihrer Sicht verständlich - darauf hingewiesen, dass diese Maßnahme das Ende des Arbeitsschutzes in der Republik bedeuten würde. ({6}) Ich bin sicher: Wenn wir uns für die andere Seite ausgesprochen hätten, dann wäre die Reaktion genau umgekehrt erfolgt. Solche Verbands- und Interessenegoismen verhindern eine effektive Gestaltung des Bürokratieabbaus. ({7}) Es gibt aber vielleicht einen noch wichtigeren Punkt. Fast jeder bürokratischen Regelung lag doch irgendwann einmal die gute Absicht zugrunde, etwas Vernünftiges zu tun. Nehmen wir zum Beispiel den Zusammenbruch der Halle in Bad Reichenhall vor wenigen Wochen mit vielen Todesopfern: Sofort wurde vom TÜV die Forderung erhoben, solche Gebäude stärker zu überwachen und häufiger zu überprüfen. Wer von uns hätte sich in dieser Situation getraut, diese Forderung strikt abzulehnen? Man hätte uns vorgeworfen, weitere Unfälle dieser Art und damit weitere Todesopfer zu riskieren. Wenn wir einer solchen Forderung nachgeben, werden wir uns vielleicht in 40 Jahren fragen lassen müssen, wie es zu dieser Regelung gekommen ist. Bis dahin hat sich nämlich das Vorhaben, das vor Jahrzehnten mit guten Absichten verwirklicht wurde, so verselbstständigt und die heute eingeführte Regelung so weit von der Ausgangssituation entfernt, dass sich am Ende mehr Probleme als positive Auswirkungen daraus ergeben haben. Das müssen wir auch den Menschen in unserem Land deutlich machen. Wenn wir Bürokratieabbau betreiben, dann bedeutet das auch, dass im Einzelfall einmal etwas schief laufen kann. Natürlich müssen solche Unglücke wie das eben angesprochene immer vermieden werden. Aber wie soll denn ein Beamter in einer Stadtverwaltung mit gesundem Menschenverstand eine Lösung jenseits aller Vorschriften und Untervorschriften anstreben, wenn er die Sorge haben muss, dass ihn, wenn er ausnahmsweise einmal schief liegt, anschließend die Bürger - das ist sicherlich ihr gutes Recht in einem Rechtsstaat - über gerichtliche Verfahren an den Hammelbeinen ziehen und dranbekommen? Wenn es uns nicht gelingt, in unserem Staat ein Verhältnis zu den Bürgerinnen und Bürgern zu finden, das dazu führt, dass nicht jede Situation in der Weise ausgenutzt wird, wie ich es beschrieben habe, dann verhindert das ebenfalls Bürokratieabbau. ({8}) - Ich danke der FDP dafür, dass sie unsere Koalitionsvereinbarung unterstützt; das ist nicht selbstverständlich. Das nehme ich positiv zur Kenntnis. Wir versuchen, zu vermeiden, was ich eben beschrieben habe. Wir wollen den Bürokratieabbau auf die Punkte konzentrieren, um die es geht, und ihn nicht auf ideologische Weise, zum Beispiel in den Bereichen des Arbeitnehmerrechts oder des Umweltschutzrechts, betreiben. Was bedeutet das im Hinblick auf das Standardkostenmodell? Wir haben den Unternehmen im Laufe der Jahrzehnte - zum Teil aus nachvollziehbaren Gründen - viele Dokumentations- und Berichtspflichten auferlegt. Das kostet die Unternehmen viel Geld. Die Niederländer behaupten, dass bei ihnen die Erfüllung dieser Pflichten 20 Milliarden Euro im Jahr kostet. Wenn man das - bezogen auf unser Bruttoinlandsprodukt hochrechnet und davon ausgeht, dass die Bürokratie bei uns nicht unbedingt kleiner ist als in den Niederlanden, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass die Erfüllung dieser Pflichten Kosten in Höhe von etwa 80 Milliarden Euro bei Bund, Ländern und Kommunen sowie den Unternehmen verursacht. Angesichts dieser Dimension sollten wir jenseits der inhaltlichen Fragen über die Dokumentations- und Berichtspflichten reden. Alle müssen weiß Gott nicht entfallen. Aber können wir sie vielleicht nicht reduzieren? Muss die Berichterstattung in manchen Fällen immer monatlich erfolgen oder reicht es nicht auch, wenn sie vierteljährlich erfolgt? Können wir dafür sorgen, dass mehr Pflichten online erledigt werden? Können wir sie zusammenfassen, indem wir sie nicht mehreren Instanzen, sondern nur einer staatlichen Instanz auferlegen, die dann verantwortlich ist? All das sind konkrete Dinge, die wir zu prüfen uns vorgenommen haben. ({9}) Wir wissen: Auch Großunternehmen leiden unter der Bürokratie, wohl wahr. Aber die Handwerksbetriebe, die Freiberufler und die Selbstständigen sind diejenigen, die ihre Zeit besser nutzen können - nämlich indem sie für ihre Produkte und Dienstleistungen arbeiten -, als sie für die Bürokratie aufzuwenden. ({10}) Wir unternehmen in dieser Legislaturperiode einen erneuten Anlauf zum Bürokratieabbau und nehmen dieses Thema sehr ernst. Ich freue mich ausdrücklich, dass die Bundeskanzlerin in Davos den Bürokratieabbau zu ihrer Sache gemacht hat, weil sie damit diesem Thema die Bedeutung beimisst, die es benötigt. Ich bin sicher, Frau Homburger: Wenn Sie unserem rationalen Ansatz folgen und nicht nur versuchen, um der Parteipolitik willen Schaum zu schlagen, dann werden Sie unsere Unterstützer sein. Wir wollen Sie jedenfalls dafür gewinnen. Warum denn nicht? Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken. Diese große Koalition kämpft, auch wenn es - das räume ich ein - nur in kleinen Schritten vorwärts geht. Aber ich bin sicher: Wir werden auch an dieser Stelle Schritt für Schritt weiterkommen. Man wird später sagen, dass die große Koalition auch auf diesem Gebiet etwas zustande gebracht hat. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich nun das Wort dem Kollegen Matthias Berninger, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich meine Rede mit dem Eifel-Weiderind beginnen. Diese Sache hat zumindest mir graue Haare in Sachen Bürokratieabbau beschert. Zum Glück sind es nur ein paar. Ich bin ganz froh, dass mein Nachfolger im Amt, der Kollege Paziorek, beim Bürokratieabbau keine zusätzlichen grauen Haare bekommen wird. Die Zulassung des Eifel-Weiderinds hat Jahre gedauert. Die betreffenden Vorschriften sind unglaublich kompliziert. Es ging hin und her. So mussten unter anderem die Fragen beantwortet werden, wie lange ein Weiderind auf der Weide stehen muss und wie groß die Weide sein muss. Die Diskussion verlief vollkommen chaotisch. Interessant ist: Die Vermarktung des Eifel-Weiderindes im Supermarktbereich war verboten, während es im Restaurantbereich erlaubt war. Der Hintergrund war, dass es EU-Vorschriften zur Etikettierung gegeben hat. Das ist das erste Problem, das wir beim Bürokratieabbau haben. Wir entscheiden auf Bundesebene eben nicht alles alleine, sondern es gibt eine ganze Reihe von EU-Vorschriften. Das jüngste Beispiel ist das kindersichere Feuerzeug ohne eine Regelung zur kindersicheren Streichholzschachtel. Ich glaube, dass man sehr genau darüber nachdenken sollte, ob man diesen Weg geht. Ich will ein zweites Beispiel aus meiner vorherigen Tätigkeit nennen, weil das viel mit dem Thema des heutigen Vormittags zu tun hat. Ich kann mich gut daran erinnern, wie Renate Künast dafür kritisiert wurde, dass sie eine Registrierungspflicht für Geflügelhalter eingeführt hat. Da gab es ein Riesenbohei, das sei eine unglaubliche zusätzliche Bürokratie usw. In diesen Tagen ist der Nachfolger Horst Seehofer sehr glücklich darüber, dass es eine Registrierungspflicht für Hühnerhalter gibt. Denn im konkreten Krisenmanagement erleichtert das den Behörden ungemein, auf ein solches Geschehen einzuwirken. Das bedeutet, dass wir bei der Bewertung von Bürokratie ein zweites Problem haben. Das, was an einem Tag als Bürokratie erscheint, ist langfristig betrachtet möglicherweise genau das nicht. Es ist also nicht ratsam, zu ideologisch an das Thema heranzugehen. ({0}) Ich halte es für wichtig, dass wir in Sachen Bürokratieabbau einen Konsens finden. Es sollten alle Beteiligten mit ins Boot kommen. Herr Wend hat es nun zum zweiten Mal angeboten. Herr Kollege, ich bin für meine Fraktion sehr gerne bereit, mitzugehen. Wir haben aus Gründen des Bürokratieabbaus dem Antrag der FDP keinen weiteren hinzugesellt, ({1}) denn wir sind mit der FDP und Ihnen in der Sache einer Meinung. Eine Schlüsselfrage ist, ob sich dieses Parlament in diese Debatte federführend einmischt - denn das Parlament ist der Gesetzgeber - oder ob man das allein externen Gruppen überlässt. ({2}) Ich will einen Punkt nennen, der mich sehr stört. Die Juniorchefin für Bürokratieabbau ist Hildegard Müller, Kanzleramtsministerin. ({3}) Sie hätte heute hier sein müssen. Ich finde, es gehört sich, dass man in der Debatte als die dafür im Kabinett Verantwortliche anwesend ist, wenn darüber diskutiert wird. Ihr geht es wie uns allen. Die Tagesordnung hat sich sehr stark verschoben, aber unter dem Strich erwarte ich, dass sie hier ist und dieses Parlament ernst nimmt. ({4}) Ich glaube, dass neben der Einbeziehung der Experten extrem wichtig ist, dass das Parlament insgesamt mitmacht. Im Zusammenhang damit, was die Koalition in Bezug auf die Kinderbetreuungskosten und die steuerliche Abzugsfähigkeit vorgelegt hat, will ich ein weiteres Problem des Bürokratieabbaus benennen. Häufig ist unsere Kompromissfindung so kompliziert, dass Regelungen herauskommen, die seitenlang sind und die keiner mehr versteht, es sei denn, er ist professioneller Steuerberater. Mein Wunsch wäre, dass wir bei der Kompromissfindung den Bürokratieabbau gleich einschließen. Ich glaube, dass es auch im Umweltrecht absolut notwendig ist, dass wir auf europäischer Ebene Vorgaben haben, diese national einheitlich umsetzen und nicht jedem Bundesland eine Ausnahmeregelung erlauben. Sonst halten Sie nämlich einem Unternehmer, der in mehreren Bundesländern investieren will, wieder das Stoppschild vor die Nase. Wir haben bei der Föderalismusreform in dieser Beziehung eine gemeinsame Verantwortung. Zum Abschluss noch ein Beispiel aus dem Umweltrecht, der Kammmolch in Nordhessen. Der Kammmolch in Nordhessen hat ein Autobahnprojekt gefährdet. Da gab es ein Riesenbohei. Zwei Jahre lang hat man sich über 5 000 Kammmolche aufgeregt. Dann hat die Straßenbaubehörde um das Gebiet der Kammmolche herum neu geplant. Das Autobahnprojekt ist nach der jetzigen Planung 50 Millionen Euro billiger. ({5}) Das heißt, jeder Kammmolch wird dem Steuerzahler 10 000 Euro sparen. ({6}) Insofern mein Vorschlag zur Haushaltssanierung für den Minister Steinbrück: Er sollte Kammmolche züchten. Das wird vielleicht helfen, den Haushalt wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Ich danke sehr. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/472 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes - Drucksache 16/430 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) - Drucksache 16/628 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Max Lehmer Dr. Christel Happach-Kasan Ulrike Höfken Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundesregierung dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Peter Paziorek das Wort.

Dr. Peter Paziorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001685

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist erfreulich, dass es trotz aller grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten im Deutschen Bundestag über die Grüne Gentechnik im bisherigen Beratungsgang gelungen ist, in dieser zeitlich drängenden Teilfrage eine breite Einigkeit zu erzielen. In den Ausschüssen haben nämlich nicht nur die Fraktionen von CDU und SPD, sondern auch die von FDP und den Grünen dem Entwurf zugestimmt. Diese Fraktionen sind sich einig, dass wir das Dritte Gesetz zur Änderung des Gentechnikgesetzes in der jetzt vorliegenden Fassung sehr dringend verabschieden müssen. Ich bitte Sie deswegen, dieses Gesetz mit derselben Einmütigkeit, mit der Sie es in den Ausschüssen unterstützt haben, heute im Plenum zu beschließen. Ich hoffe, dass auch der Bundesrat diesem Gesetz zügig zustimmen wird. Wie Sie alle wissen, dient das vorliegende Gesetz der Umsetzung der europäischen Freisetzungsrichtlinie, nicht mehr und nicht weniger. Es betrifft überwiegend Form- und Verfahrensvorschriften, wie Regelungen über den Inhalt der Antragsunterlagen oder Bearbeitungsfristen. Es ist hinreichend bekannt, dass es jetzt höchste Zeit ist, diese Regelung zu schaffen; denn Ende letzten Jahres hat uns die Europäische Kommission dazu aufgefordert, binnen zwei Monaten die Freisetzungsrichtlinie umzusetzen. Die Kommission drohte an, im Falle der Nichtumsetzung gegen Deutschland ein Zwangsgeld zu verhängen, das bis zu 792 000 Euro pro Tag betragen kann und außerdem mit einem Pauschalbetrag kombinierbar ist. Deswegen mussten wir so handeln. Uns blieb auch von der Sache her keine vernünftige Alternative. ({0}) Es ist aber auch völlig klar - das will ich hier betonen -, dass der heute zu beschließende Gesetzentwurf nicht ausreichend ist. ({1}) Die Anliegen des Bundesrates, die dieser schon in der letzten Legislaturperiode mit Nachdruck verfolgt hat, sind zum großen Teil nicht berücksichtigt. Auch nach Ansicht der Bundesregierung sind weitergehende Regelungen nun unverzüglich zu treffen. Ich denke beispielsweise an die Haftungsregelung, insbesondere im Hinblick auf die Schaffung eines leistungsfähigen Anspruchsgegners bei unverschuldeter Auskreuzung. Ganz wichtig wird die Definition der guten fachlichen Praxis sein, um eine Koexistenz der verschiedenen Anbauformen zu ermöglichen. ({2}) Außerdem wird es um die weitere Vorgehensweise beim Auskreuzen aus experimentellen Freisetzungen gehen. Darüber hinaus müssen wir uns die Frage stellen - das deckt sich mit dem, was in der Diskussion über den vorhergehenden Tagesordnungspunkt gesagt wurde -, ob wir bei Vorliegen von Kenntnissen bei weiteren FreisetParl. Staatssekretär Dr. Peter Paziorek zungen nicht zusätzliche Verfahrenserleichterungen schaffen. Es geht also um die Frage: Können wir dieses Verfahren zukünftig weiter vereinfachen? ({3}) Das Ziel der Bundesregierung ist, möglichst umgehend einen Gesetzentwurf zu diesen Fragen vorzulegen. Um es von vornherein klarzustellen: Dieser Gesetzentwurf wird von dem Grundsatz ausgehen, dass der Schutz von Mensch und Umwelt entsprechend dem Vorsorgeprinzip wichtigster Maßstab der deutschen Gentechnikpolitik ist und bleibt und dass die Wahlfreiheit der Verbraucher weiterhin gewährleistet ist. ({4}) Ich will unterstreichen: Es muss durch strenge Zulassungsverfahren zukünftig gewährleistet sein, dass keine schädlichen Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit eintreten. Was zentrale Fragen der Haftung angeht, gilt - ich zitiere bewusst den Koalitionsvertrag -: Die Bundesregierung wird darauf hinwirken, dass sich die beteiligten Wirtschaftszweige für Schäden, die trotz Einhaltung aller Vorsorgepflichten und der Grundsätze guter fachlicher Praxis eintreten, auf einen Ausgleichsfonds verständigen. Langfristig ist eine Versicherungslösung anzustreben. ({5}) Wir haben zur Frage des Haftungsfonds bereits in den letzten Tagen und Wochen mehrere Gespräche mit der Saatgutindustrie, mit den Vertretern der heimischen Landwirtschaft, aber auch mit der Versicherungswirtschaft geführt. ({6}) Es wäre schön, wenn ich mich hier hinstellen und sagen könnte, Herr Tauss: Der gordische Knoten ist durchgeschlagen. - Er ist aber noch nicht durchgeschlagen. Wir sind in dieser Frage leider noch nicht zu einem Durchbruch gekommen. Wir werden unsere Anstrengungen fortsetzen, einen für alle Seiten annehmbaren Lösungsweg zu finden. Ich sage an dieser Stelle aber auch ganz deutlich: Hier muss vonseiten der Wirtschaft noch mehr Bewegung kommen. ({7}) Wir fordern die Wirtschaft auf, sich in Fragen des Haftungsfonds zu bewegen. In den Gesprächen mit den Beteiligten, die ich gerade genannt habe, ist immer wieder betont worden, dass für die Koexistenz und für die damit zusammenhängenden Haftungsfragen eine verlässliche rechtliche Grundlage geschaffen werden muss. Die Bundesregierung hält es für ihre Aufgabe, die Wahlfreiheit von Verbrauchern und Landwirten hinsichtlich der verschiedenen Bewirtschaftungsformen - zum Beispiel: Anbau mit oder ohne GVO? - zu gewährleisten. Nur bei einem echten Nebeneinander, also bei der Koexistenz der Bewirtschaftungsformen, kann letztlich auch die Wahlfreiheit des Verbrauchers gewährleistet bleiben. Wir sollten uns vor Augen führen, dass die beste Lösung darin besteht, wenn von Anfang an vermieden wird, dass Ernteprodukte des Nachbarn beeinträchtigt werden. Prävention ist immer besser als Kompensation über Haftungsregelungen. Dennoch müssen wir auch daran denken, dass es einmal zu solchen Streitigkeiten kommen kann. Deshalb brauchen wir den Haftungsoder Ausgleichsfonds. Deshalb noch einmal unsere Bitte, dass sich die interessierte Wirtschaft bewegt, damit wir in dieser Frage ein Stückchen weiterkommen. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage einer Kollegin aus der Fraktion der Linken?

Dr. Peter Paziorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001685

Ja, die gestatte ich.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Zu der Frage des Haftungsfonds bzw. der langfristigen Versicherungsregelungen haben Sie gesagt, dass es noch nicht gelungen ist, den gordischen Knoten zu durchschlagen. Sind Sie in der Lage bzw. willens, einige Kernpunkte zu der Frage zu nennen, worin das Hauptproblem besteht?

Dr. Peter Paziorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001685

Hier stellt sich die Frage - die Diskussion ist auch durch die Tageszeitungen gegangen -, ob in Deutschland zukünftig jede Innovation durch einen Haftungsfonds begleitet werden muss. Das ist eine prinzipielle ordnungspolitische Frage. Die nächste Frage ist natürlich: Gibt es Erfahrungen im Bereich des Versicherungsrechts? Solche Erfahrungen liegen noch nicht vor. Deshalb ist die spannende Frage: Wie kann das Versicherungsrisiko taxiert werden? Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass es in diesem Bereich Fragen gibt. Weil das ein Gebiet ist, das politisch natürlich sehr strittig gesehen wird, bin ich der Ansicht, dass man hier bei einer Innovation ausnahmsweise einen solchen ordnungspolitisch neuen Ansatz wählen sollte; denn über den Haftungsfonds können wir zur Beruhigung in diesen Rechtsfragen beitragen. Deshalb plädiere ich dafür, dass wir in diesem Bereich wirklich einem Haftungsfonds näher treten. ({0}) Letztlich wird für die Frage der Haftung entscheidend sein, welche rechtlichen Regeln für die gute fachliche Praxis zugrunde liegen. Die entscheidende Frage ist ja, ob sich jemand - ich sage es jetzt einmal vereinfacht korrekt verhält oder nicht. Deshalb werden wir seitens der Bundesregierung in Kürze einen Verordnungsentwurf zur guten fachlichen Praxis vorlegen. Den Landwirten wollen wir in Form einer Verordnung klare Regeln dazu an die Hand geben, wie sie beim Anbau von GV-Pflanzen vorzugehen haben, sodass die Früchte von Nachbarfeldern von der Gentechnik unbeeinträchtigt bleiben. Ich glaube, dass wir mit einer solchen Verordnung Rechtssicherheit, die von allen Seiten gefordert wird, schaffen können. Bundesminister Seehofer wird in den kommenden Wochen einen intensiven Dialog mit allen betroffenen Seiten in Gesellschaft und Wirtschaft führen. Diese Gespräche sollen erstens den Diskussionsstand zur Grünen Gentechnik zusammenfassen und zweitens ein Forum für den Meinungsaustausch bieten. Diese Gespräche werden einen Beitrag zu einer gesetzlichen Lösung leisten können, die sowohl den Sorgen und Ängsten vieler Menschen als auch dem Bedürfnis nach Nutzung innovativer Potenziale Rechnung trägt. Aus Sicht der Regierung wird es darauf ankommen - das will ich an dieser Stelle noch sagen -, beide Punkte in Verbindung miteinander zu sehen. Wir müssen die Sorgen und Ängste der Menschen sehen; gleichzeitig müssen wir die Chancen für Innovation sehen. Es wird darauf ankommen, einen vernünftigen politischen Weg zu finden, um dies beides zusammenzuführen. ({1}) Somit wollen wir mit unserer Politik den Rahmen dafür schaffen, dass Wissenschaft, Forschung und Industrie die Chancen und Potenziale der Grünen Gentechnik ausloten und weiterentwickeln können. Wir nehmen dabei aber auch die Ängste und Besorgnisse eines sehr großen Teils der Bevölkerung unseres Landes ernst. ({2}) Wir werden darauf achten, dass die Sicherheit für die menschliche Gesundheit und für die Umwelt oberste Priorität hat und die Wahlfreiheit für Verbraucher und Landwirte gewahrt wie auch die Koexistenz der unterschiedlichen Anbauformen ermöglicht wird. So wie es uns hier im Bundestag gelungen ist, die unterschiedlichen politischen Ansätze nun zu einer fast einmütigen zustimmenden Entscheidung zu vereinen, hoffe ich, dass uns dies auch bei dem zweiten Schritt, nämlich der Ermöglichung von Koexistenz der Anbauformen, gelingen wird. Ganz zum Schluss noch ein Satz zum FDP-Antrag. Darin steht vieles Richtige, was ich persönlich unterstreichen kann. Aber einen Vorwurf möchte ich erheben: Die von mir gerade geschilderte Gesamtschau, bei der die Sorgen der Menschen ernst genommen und die Menschen mitgenommen werden, bei der Chancen auf Innovationen eröffnet werden und bei der als oberstes Prinzip nicht allein der Markt entscheidet, sondern auch die Sicherheit für Umwelt und Menschen eine Rolle spielt, fehlt mir in diesem Antrag. Vielleicht können wir hier noch zu einer gemeinsamen Position kommen. Unabhängig davon habe ich die Bitte an den Deutschen Bundestag, dem Dritten Gesetz zur Änderung des Gentechnikgesetzes zuzustimmen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Christel HappachKasan, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin einfach gut. ({0}) - Es ist ja auch nicht viel, aber gut bin ich trotzdem. ({1}) - Eben. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist wahrhaftig nicht die erste Rede zur Gentechnik, die im Deutschen Bundestag gehalten wird. Ich bedanke mich, Herr Paziorek, für Ihre Worte. Ich finde es schade, dass Sie unserem Antrag wohl nicht zustimmen werden. Ich freue mich aber, dass auch Sie gesehen haben, wie viel Änderungsbedarf beim derzeit geltenden Gentechnikrecht besteht. Ich hoffe sehr, dass es zu einer Novellierung des Gentechnikgesetzes kommt. Wir brauchen es; deshalb werde ich Sie dabei konstruktiv unterstützen. Dieses Land hat es verdient, dass wir Wege für Innovationen eröffnen, dass wir Wege für technologischen Fortschritt eröffnen, dass wir Wege eröffnen, um die Lebensmittelsicherheit zu erhöhen, dass wir jungen Menschen Wege eröffnen, zukunftsträchtige Arbeitsplätze zu bekommen, damit sie nicht abwandern. Vielen Dank, Herr Staatssekretär, wir werden Sie beim Wort nehmen. ({2}) Gentechnik ist in aller Munde: heute hier im übertragenen Sinne, aber auch ganz allgemein. Wir wissen alle, dass Gentechnik in der Medizin bei der Herstellung von Enzymen, Vitaminen und Aminosäuren Standard ist. Die Wiener Universität hat im letzten Jahr eine Machbarkeitsstudie zum Verzicht auf Gentechnik in der Tierhaltung erstellt. Dabei hat sich gezeigt, dass eine so genannte gentechnikfreie Schweine- und Geflügelhaltung nicht möglich ist. Gentechnikfreie Fütterung führt zu hohen Sterberaten, die schon allein unter dem Gesichtspunkt des Tierschutzes nicht hinnehmbar sind. ({3}) Die mit gentechnisch veränderten Mikroorganismen hergestellten Vitamine B2 und B12 sowie weitere Aminosäuren sind unverzichtbar. Das zeigt uns: Auch die Landwirtschaft ist an einem Punkt angekommen - das war zwangsläufig -, wo sie diese Technologie nutzen muss. Sie tut es, weil es ihr Vorteile bringt und die Herstellung von sicheren Produkten ermöglicht. Wir haben hier heute Morgen sehr ernsthaft das Auftreten der Vogelgrippe diskutiert. Die Vogelgrippe ist eine Zoonose, wie die Kollegen Goldmann und Dr. Tackmann ausgeführt haben. Der gegenwärtig entwickelte Markerimpfstoff gegen die Vogelgrippe wird mit gentechnischen Methoden erzeugt. Auch dabei wird also Gentechnik eingesetzt. Diese ist die Methode des 21. Jahrhunderts. ({4}) Warum gibt es nun eigentlich ideologische Hürden bei der Anwendung der Grünen Gentechnik auf dem Acker? Ich will es vorwegnehmen, Frau Höfken: Es wird vielfach zitiert, dass laut Umfragen 70 Prozent der Bevölkerung Gentechnik ablehnen. Aber 66 Prozent wollen - auch das wissen wir - einen gentechnisch veränderten Joghurt, der vor Darmkrebs schützt. 80 Prozent befürworten Bioprodukte - darauf sind Sie stolz, Frau Höfken -, aber der Marktanteil der Bioprodukte beträgt gerade einmal 2,6 Prozent. Bei der Suchmaschine Google rangiert das Stichwort „Gentechnik“ bei Ernährungsfragen auf Platz 47. Das zeigt sehr deutlich: In der Öffentlichkeit spielt das Thema Gentechnik keine Rolle, nur bei Verbänden, bei einer bestimmten Klientel. Die normalen Menschen in unserer Bevölkerung interessieren sich dafür überhaupt nicht. ({5}) Das heißt, die berühmten Umfragen zur Akzeptanz der Gentechnik spiegeln ein Meinungsklima wider, aber nicht das Kaufverhalten der Menschen. Da verwundert es nicht, dass in Österreich an einer Fleischtheke im Supermarkt nur eine Minderheit zu Fleischprodukten griff, die als „gentechnikfrei“ gekennzeichnet waren. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Frau Drobinski-Weiß, auch ein prononcierter Gegner sollte wissen, wie die Menschen sich verhalten. ({6}) Jede Ingenieurskunst hatte ihre Befürworter und ihre Gegner, das wissen Sie: die Dampfmaschine genauso wie die Eisenbahn, das Handy oder der PC. Die Evolutionsbiologie wird abgelehnt. Es gibt Kreationisten, Anhänger des Intelligent Design und Gentechnikgegner. Aber davon unabhängig sind wir in der Pflicht, die Freisetzungsrichtlinie der EU umzusetzen. Der vorliegende Gesetzentwurf bleibt weit hinter dem zurück, was CDU/CSU und SPD den Menschen im Koalitionsvertrag versprochen haben. ({7}) Im Koalitionsvertrag steht, das Gentechnikgesetz solle novelliert und die Regelungen sollten so ausgestaltet werden, dass sie Forschung und Anwendung in Deutschland befördern. Nichts von dem erreicht dieser Gesetzentwurf. ({8}) Deswegen bin ich dankbar, dass der Staatssekretär ganz klar gemacht hat, dass es eine weitere Novellierung des Gentechnikgesetzes geben muss. ({9}) Die Regierung darf hier nicht stehen bleiben. Es ist gut, dass in der Begründung des Gesetzentwurfes die weitere Novellierung versprochen wird. Haben Sie das nicht gelesen? Sie sollten etwas konkreter arbeiten. Heute hat die stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Frau Katherina Reiche, in der „Welt“ deutlich gemacht, dass wir eine weitere Novellierung brauchen. ({10}) Während sich in der rot-grünen Regierung die SPDMinister - erinnern Sie sich: Frau Bulmahn, Herr Clement, Herr Stolpe - mit ihren positiven Stellungnahmen zur Grünen Gentechnik übertroffen haben, versucht die SPD heute, den Grünen das Angstschüren abzunehmen. Das finde ich, ehrlich gesagt, schmählich und absolut schändlich. ({11}) Das heißt, die SPD ist die Opposition in der Regierung. Sie übernimmt von den Grünen deren Blockadehaltung. Wenn wir Liberalen heute dem Gesetz zustimmen, machen wir deutlich, dass wir die drohenden Zwangszahlungen von Deutschland abwenden wollen. Gleichzeitig schenken wir Ihnen Vorschusslorbeeren. Ich hoffe, dass Sie gut damit umgehen werden. Wir stimmen dem Änderungsantrag der Grünen nicht zu, weil wir das politische Ziel der Grünen, Angst gegen die Gentechnik und Misstrauen gegenüber Behörden zu schüren, ablehnen. Das wollen wir nicht. ({12}) Sie haben in unserem Entschließungsantrag unsere Vorstellungen zur Gentechnik gelesen. Ich bitte Sie, diesem Entschließungsantrag zuzustimmen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für die SPD-Fraktion. ({0})

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute nicht über die Novellierung des Gentechnikgesetzes, sondern über die Verabschiedung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes, Frau Kollegin. Mit der Verabschiedung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes tragen wir unseren Teil dazu bei, dass die EU-Freisetzungsrichtlinie nun endlich komplett umgesetzt wird. ({0}) Bereits bei der Einbringung des Gesetzentwurfes haben wir darüber debattiert, wie wichtig die zügige Umsetzung ist, damit wir einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof zuvorkommen und keine Strafzahlungen wegen Nichtumsetzung leisten müssen. Das Dritte Gesetz zur Änderung des Gentechnikgesetzes enthält die Regelungen, die zur Umsetzung der EU-Freisetzungsrichtlinie noch ausstehen. Ohnehin lassen die EUVorgaben für die in diesem Gesetz geregelten Verfahrensfragen nicht viel Spielraum. Ich bin sehr froh darüber, dass es uns gelungen ist, uns mit unserem Koalitionspartner in den Ausschussberatungen auf einen Änderungsantrag zum Gesetzentwurf zu verständigen, der für mehr Transparenz für die Öffentlichkeit sorgt. ({1}) Mit diesem Änderungsantrag wird der geplante § 28 a des Gentechnikgesetzes, der die Unterrichtung der Öffentlichkeit bei ungenehmigter Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen regelt, konkreter gefasst. So tritt anstelle der bisher vorgesehenen Kannregelung eine Sollregelung. Das heißt, die Behörden sollen die Öffentlichkeit informieren. Dies wird dem Informationsinteresse der Menschen besser gerecht. Das ist eine wichtige Maßnahme hin zu mehr Transparenz, die ständig gefordert wird. Jeglichem Verdacht der Geheimniskrämerei muss entgegengewirkt werden; ({2}) denn nur durch Transparenz lässt sich das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher gewinnen. ({3}) Vertrauen ist die Basis für mehr Akzeptanz. ({4}) 79 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher, Frau Kollegin Happach-Kasan, lehnen gentechnisch veränderte Lebensmittel ab und demonstrieren uns eindrucksvoll, dass es an Akzeptanz für die Grüne Gentechnik mangelt. Diese mangelnde Akzeptanz ist das eigentliche Problem. Wir könnten noch Jahre darüber debattieren, welcher rechtlichen Regelungen und welcher politischen Initiativen es bedarf, um die Potenziale der Grünen Gentechnik zu fördern. ({5}) - Die Argumente der Frau Kollegin haben wir schon rauf und runter diskutiert. Deswegen möchte ich ihre Zwischenfrage nicht zulassen. ({6}) Wenn die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht überzeugt sind, dann hilft alles nichts. Dann bleibt der Einsatz der Gentechnik in der Lebensmittelproduktion wirtschaftlich riskant. ({7}) Die Politik kann hier nicht für mehr Akzeptanz sorgen. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass den 79 Prozent der Menschen, die gentechnikfreie Produkte haben wollen, diese auch angeboten werden können. Der Schutz der konventionellen und der ökologischen Landwirtschaft vor Einträgen aus dem GVO-Anbau muss gewährleistet bleiben. Verbraucher und Landwirte müssen die echte Wahl haben und selbst entscheiden können, ob sie gentechnisch veränderte Produkte kaufen bzw. anbauen wollen oder nicht. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten stellt in ihrem Positionspapier aus dem Juli letzten Jahres fest: … der Zwang zum Konsum gentechnisch modifizierter Produkte und ungenügende Ausweichmöglichkeiten auf nicht gentechnisch veränderte Produkte reduzieren die Akzeptanz und Wahlfreiheit. Die Wahlfreiheit stärkt das Vertrauen der Verbraucher und dient damit letztlich auch den Interessen der Wirtschaft. Von der Möglichkeit, in Deutschland weiterhin gentechnikfrei produzieren zu können, hängen auch Arbeitsplätze ab, und zwar über 150 000 allein in der Ökolebensmittelbranche. In dieser Branche steckt wirklich wirtschaftliches Potenzial. Ja, sie boomt regelrecht. So wird im Zusammenhang mit der derzeit in Nürnberg stattfindenden Naturkostfachmesse Biofach darüber berichtet, dass es aufgrund der enorm gestiegenen Nachfrage nach Bioprodukten bereits zu Angebotslücken und Lieferengpässen kommt. Ich habe heute gelesen, dass dies vor allen Dingen im Bereich Milch und Fleisch der Fall ist. Das hängt zum einen mit der wachsenden Bedeutung von Biosupermärkten und dem Einstieg der Lebensmitteldiscounter ins Biogeschäft zusammen, zum anderen aber auch damit, dass Verbraucherinnen und Verbraucher Vertrauen in Bioprodukte haben. Vor dem Hintergrund der Lebensmittelskandale - derzeit müssen wir uns mit dem Gammelfleischskandal beschäftigen - gibt es eine wachsende Verunsicherung der Verbraucher hinsichtlich der Qualität der ihnen angebotenen Lebensmittel. ({8}) - Das ist überhaupt nicht weit hergeholt. - Da wird das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher zum echten Wettbewerbsvorteil. Dieses Vertrauen darf nicht verspielt werden. ({9}) Verbraucher wollen über die Produkte informiert sein und Verbraucher wollen selbst wählen können. Mit unseren gesetzlichen Regelungen ermöglichen wir gemäß den EU-Vorgaben den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen und stellen gleichzeitig sicher, dass der gentechnikfreie Anbau vor Beeinträchtigungen aus dem GVO-Anbau geschützt ist ({10}) und auch in Zukunft die Erzeugung ökologischer und konventioneller gentechnikfreier Produkte möglich ist. Eine Absenkung des Schutzniveaus für die gentechnikfreie Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion würde sowohl von den Verbraucherinnen und Verbrauchern als auch von den Landwirten als Bedrohung wahrgenommen ({11}) und könnte für einige konventionelle Unternehmen und die Ökolebensmittelwirtschaft zur Existenzgefährdung werden. Es gibt also gute Gründe, an unserem hohen Schutzniveau festzuhalten. Wenn wir das Dritte Gesetz zur Änderung des Gentechnikgesetzes verabschiedet und damit die EU-Freisetzungsrichtlinie komplett umgesetzt haben, haben wir eine gute Basis geschaffen. ({12}) Sehr geehrte Damen und Herren von der FDP, Ihren Entschließungsantrag lehnen wir ab. Das in Ihrem Antrag aus dem Zusammenhang gerissene Zitat aus einer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages belegt keinesfalls einen Verstoß gegen die europäischen Zielvorgaben der Freisetzungsrichtlinie. Ich bitte Sie, dies etwas genauer nachzulesen. ({13}) Für uns ist der Schutz von Mensch und Umwelt oberstes Ziel des deutschen Gentechnikrechts. Dabei gilt der Vorsorgegrundsatz. Mit diesem ist es nicht vereinbar, dass Ihrem Entschließungsantrag entsprechend Produkte aus Forschungsfreisetzungen ohne Genehmigung in Verkehr gebracht werden dürfen. ({14}) Die von Ihnen geforderte Sicherheit für die Forschung und die Produktentwicklung ist wichtig. Sie ist aber dem Schutz von Mensch und Umwelt unterzuordnen. ({15}) In Abwandlung des Einstein-Zitats schließe ich mit den Worten: Die Forschung ist für die Menschen und nicht die Menschen für die Forschung. Vielen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Drobinski-Weiß, schade, dass Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen haben! ({0}) Ich meine, wir sollten uns in Deutschland sehr viel intensiver damit beschäftigen, was Verbraucherumfragen eigentlich besagen. Ich habe es sehr deutlich gemacht: 70 Prozent lehnen die Gentechnik ab. 60 Prozent wollen aber einen Joghurt, der vor Darmkrebs schützt. ({1}) Das heißt, wir haben zwei verschiedene, zwei vollkommen entgegengesetzte Aussagen. Wir haben die Aussage, dass 80 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher biologische Lebensmittel bevorzugen. Der Anteil der Lebensmittel aus dem Ökolandbau am Gesamtmarkt beträgt aber nur 2,6 Prozent. Ich kann ein drittes Beispiel hinzufügen: 2002 wurde nachgefragt, wie gefährlich es ist, Fleisch von BSE-kranken Tieren zu essen, und wie gefährlich Rauchen ist. Die Verbraucherinnen und Verbraucher schätzten beides gleich gefährlich ein. Das heißt, wir sollten mit den Ergebnissen solcher Umfragen sehr viel vorsichtiger umgehen. Ich meine, dass sie nur das herrschende Meinungsklima abbilden. Sie sind nicht dazu geeignet, Vorhersagen zu treffen, wie die Verbraucherinnen und Verbraucher sich verhalten. Sie fragen in keiner Weise die tatsächliche Akzeptanz ab. Dies ist bei einem Thema wie der Grünen Gentechnik viel zu schwierig. Sie haben auf die Freisetzungsrichtlinie abgehoben. ({2}) Frau Kollegin Drobinski-Weiß, ich bitte Sie, die Freisetzungsrichtlinie einmal vollständig durchzulesen. Sie werden dort finden, dass es zur Zulassung von gentechnikveränderten Pflanzen notwendig ist, Freisetzungsversuche zu machen. Diese müssen also möglich sein. Ich bitte Sie, die Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes vollständig zu lesen. Ich bitte, zu entschuldigen, dass ich nicht das gesamte Gutachten in die Drucksache aufge1444 nommen habe. Das wäre wohl eine Überforderung gewesen. ({3}) Das Gutachten macht sehr deutlich - als es herauskam, waren Sie von der SPD-Fraktion es doch, die immer wieder gefragt haben, ob Sie es endlich bekommen könnten -, dass die Art und Weise, wie die rot-grüne Regierung die Haftungsregelung gestaltet hat, zu Rechtsunsicherheit führt. Dies lehnen wir als FDP ab. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Dann ist die nächste Rednerin Frau Dr. Kirsten Tackmann von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die Lebensmittelbranche, das heißt die Land- und Lebensmittelwirtschaft, hat in Deutschland und Europa unter den Bedingungen eines globalisierten Welthandels nur eine Zukunft, wenn ihre Produkte in Preis und Qualität dem entsprechen, was Verbraucherinnen und Verbraucher akzeptieren und - das muss man in Zeiten von prekären Beschäftigungsverhältnissen, Niedriglohnsektor und Hartz IV hinzufügen - was sie sich noch leisten können. Eine große Mehrheit der Verbraucherinnen und Verbraucher lehnt aus unterschiedlichen Gründen den Konsum, viele sogar die Produktion von GVO-Lebensmitteln ab. Auch Landwirte sind - ich denke mit Recht sehr skeptisch. Das ist eine Tatsache, die in der Debatte um das Gentechnikgesetz berücksichtigt werden muss. ({0}) Trotz des insbesondere auf dem amerikanischen Kontinent exorbitant gewachsenen Anbauanteils gentechnisch veränderter Pflanzen ist es bei uns in Europa ebenso wie in großen Teilen Asiens nicht zu einer höheren Akzeptanz von GVO gekommen. Der Druck, GVOKulturpflanzensorten zuzulassen, ist also nicht auf der Nachfrageseite entstanden. Ganz im Gegenteil: Er stieg vor allem auf der Seite der Saatgutanbieter. ({1}) Die Interessen der multinationalen GVO-Saatgutkonzerne haben aber nichts mit den Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher zu tun. Wenn man den neuesten Studien über die ökologischen und wirtschaftlichen Folgen der Anwendung Grüner Gentechnik auswertet, stellt man fest, dass sie auch wenig mit den Interessen der Landwirte zu tun haben. Der Koalitionsvertrag macht im Zusammenhang mit der Grünen Gentechnik drei Versprechen: Vorsorge, Koexistenz und Wahlfreiheit. Daran muss sich die konkrete Politik der Koalition messen lassen. Voraussetzung wäre die Sicherstellung einer Erzeugung ohne Gentechnik sowie des Bezugs von gentechnikfreien Rohstoffen, Zusatz- und Hilfsstoffen, und zwar unter den Bedingungen eines komplexen Systems der Arbeitsteilung; denn die meisten Lebensmittel gehen heute durch viele Hände, bevor sie beim Verbraucher ankommen. Wer aber Koexistenz und Wahlfreiheit unter diesen Bedingungen verspricht, muss auch für Transparenz und Information sorgen, und zwar ohne Einschränkung. ({2}) Genau das sichert der Entwurf nicht. In § 28 a Gentechnikgesetz wird nicht etwa ein konkreter Anspruch der Verbraucherinnen und Verbraucher auf Information formuliert, sondern lediglich eine Unterrichtungsermächtigung der Behörden mit eher komplizierten und einander widersprechenden Beurteilungs- und Ermessensspielräumen. Spielräume sind bekanntlich manchmal unergründlich. In Abs. 3 werden außerdem vier umfangreiche Fallgruppen definiert, wann Informationen gar nicht weitergegeben werden dürfen. § 28 a Gentechnikgesetz wird damit zum Unterrichtungsverhinderungsparagraphen. Es stellt sich die Frage, wessen Interessen gesetzlich eigentlich geschützt werden. Ich vermag vor allem eine kleine Gruppe zu erkennen, die offensichtlich wenig Interesse an Transparenz hat: die Saatgutkonzerne, vielleicht auch mancher GVO-Anwender. Es kann doch nicht Aufgabe von Politik sein, Lobbyinteressen über das berechtigte Informationsinteresse der Öffentlichkeit zu stellen, ({3}) erst Recht nicht im Zusammenhang mit der Anwendung einer Risikotechnologie, die mit nicht rückholbaren Folgen verbunden ist. Wenn Grüne Gentechnik denn so harmlos und selig machend ist, wie es von vielen Befürwortern dargestellt wird, frage ich mich, wieso die Informationsrechte dann so restriktiv gehandhabt werden müssen. Für die Fraktion Die Linke bleibt der Informationsanspruch der Öffentlichkeit elementarer Bestandteil demokratischer Teilhabe. Schon deswegen können wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich komme erst einmal auf das Positive zu sprechen. Gut ist auf jeden Fall, dass die schwarz-rote Koalition heute die EU-Freisetzungsrichtlinie in gleicher Weise umsetzt wie unter grüner Federführung. Angesichts einer Strafandrohung in Höhe von 792 000 Euro pro Tag vonseiten der EU bei Nichtumsetzung der Richtlinie war es unverantwortlich - das haben Sie, Herr Staatssekretär, richtigerweise gesagt -, dass dieser Teil des Gesetzes im Bundesrat an CDU und CSU, unter tatkräftiger Mithilfe von SPD und PDS aus MecklenburgVorpommern und - leider - SPD und FDP aus Rheinland-Pfalz gescheitert ist. ({0}) Es ist jedenfalls gut, dass die wichtigen, geltenden Regelungen im Gentechnikrecht wie Haftung, Transparenz im Standortregister und Schutz ökologisch sensibler Gebiete erhalten bleiben. Damit ist - soweit es im Rahmen der EU-Gesetze möglich ist - der Schutz der gentechnikfreien Produktion und vor allem auch die Wahlfreiheit gesichert. Damit haben alle, die in Deutschland gentechnikfrei produzieren wollen - das sage ich ganz klar -, einen Rechtsanspruch auf Schadensausgleich, wenn ihre Ernte gentechnisch kontaminiert wird. Frau Happach-Kasan, wo kämen wir denn hin - ganz ernsthaft -, wenn in Zukunft plötzlich diejenigen, die einen Schaden erleiden, nicht mehr entschädigt werden können, obwohl dies im BGB verankert ist? Das wäre doch wohl nicht zu machen. ({1}) Ich finde, Herr Staatssekretär Paziorek hat Recht, wenn er sagt: Koexistenz muss gesichert werden. So sagt es auch die EU-Freisetzungsrichtlinie. In Ihrem Antrag, Frau Happach-Kasan, steht: Koexistenz ist nicht möglich. Ganz klar ist: Ihr Antrag ist absolut abzulehnen, weil er überhaupt nicht den Anspruch erhebt, die Freisetzungsrichtlinie umzusetzen und Koexistenz zu sichern. ({2}) Ich komme aber auch zum schlechten Teil - Frau Tackmann hat es schon angesprochen -: Die Öffentlichkeitsbeteiligung ist nicht gut geregelt. Wir werden unseren grünen Antrag verteidigen, auch auf der europäischen Ebene. Wir verlangen nämlich, dass die zuständigen Behörden zur Unterrichtung verpflichtet sind. In diesem Zusammenhang komme ich auf den FDPAntrag zu sprechen, in dem so nett steht: Die umfangreichen Zulassungsverfahren ... sichern die Unbedenklichkeit ... Aber genau das ist der Punkt. Wenn man nämlich, so wie Greenpeace das durch die Klage erwirkt hat, einmal in diesen Zulassungsbedingungen nachschaut, was zur Prüfung herangezogen wurde, dann stellt man fest, dass das erstens viel zu wenig war und dass zweitens die Aussagen sehr bedenklich sind. Nehmen wir einmal MON 863, insektizidresistenten Mais, an Ratten verfüttert: Die Versuchstiere hatten verschiedene Veränderungen an Organen. Sie hatten ferner eine Verminderung der weißen Blutkörperchen, eine Erhöhung des Blutzuckers und Veränderungen an den Nierenkanälen. Bei den Versuchen mit gentechnisch veränderten Erbsen stellte man Lungenentzündungen bei den Versuchstieren fest. ({3}) Wenn man hinter diese unterschiedlichen Beurteilungen kommt, dann sieht man sehr wohl, dass mehr Bedenken und ein höher eingeschätztes Risiko hinsichtlich der Agrogentechnik angebracht sind, als dass Nutzen damit verbunden ist. ({4}) Deshalb darf es da keine Verheimlichung geben. ({5}) Wir werden uns mit aller Entschiedenheit gegen die illegale Zulassung des MON 810 wehren, die Herr Seehofer in erster Amtshandlung erwirkt hat. Denn dieses Produkt ist eine Altlast aus dem Jahr 1998, die erstens keine saatgutrechtliche Zulassung hat und zweitens auch nach heutigem Rechtsstand überhaupt nicht mehr zugelassen würde. Ich finde, es ist eine absolute Zumutung, dass ein solch unzureichend geprüftes Produkt auf die Menschheit und die deutsche Landwirtschaft losgelassen wird. Das ist eine Art Menschenversuch. Angesichts der Tatsache, dass diese Zulassung 2006 endet - was Monsanto in seinen Werbeanzeigen nie sagt -, ist das eine unverantwortliche Vorgehensweise, gegen die wir uns mit aller Entschiedenheit wenden. Ich verlange von Herr Minister Seehofer - auch wenn er jetzt nicht da ist -, dass er bitte persönlich die Haftung übernimmt. Danke schön. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ge- setzentwurf zur Änderung des Gentechnikgesetzes, Drucksache 16/430. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/628, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/694 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt mit den Stim- men aller Fraktionen bei Zustimmung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge- setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Zustim- mung aller übrigen Fraktionen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms genstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen bei Zustimmung aller Fraktionen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke bei einer Enthaltung aus der Fraktion Die Linke. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/ 695. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschlie- ßungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen aller Fraktio- nen bei Zustimmung der FDP-Fraktion. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Föderalismusreform im Bildungsbereich - Drucksache 16/647 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Innenausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista Sager, Priska Hinz ({2}), Kai Boris Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Kooperationsmöglichkeiten von Bund und Ländern in Bildung und Wissenschaft erhalten - Drucksache 16/648 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Cornelia Hirsch von der Fraktion Die Linke. ({3}) Einen Moment, Frau Kollegin Hirsch. - Kann ich die Kollegen bitten, die diesem Tagesordnungspunkt nicht folgen wollen, den Saal zu verlassen, damit wir der Rednerin Gehör schenken können? - Bitte schön, Frau Hirsch.

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern während der Fragestunde haben wir schon einmal kurz über die geplante Föderalismusreform gesprochen. Wir haben dort die Frage gestellt, inwieweit bei der Beratung im Kabinett auf die geäußerten bildungspolitischen Bedenken eingegangen wurde. Dazu bekamen wir vom Staatsminister bei der

Not found (Kanzler:in)

Wir haben nicht im Einzelnen Bedenken und Anregungen, die hier und dort aus den unterschiedlichsten Richtungen vorgetragen worden sind, erörtert, sondern wir haben einmütig vereinbart, … alles dazu beizutragen, dass die inzwischen vorliegenden Texte … eingebracht und verabschiedet werden. Vor ein paar Stunden haben wir über die Ticker die Nachricht erhalten, dass das heutige Spitzengespräch erfolgreich war und die Reform nun vor der Sommerpause unter Dach und Fach sein soll. Aus unserer Sicht ist die Art und Weise, in der bei dieser Föderalismusreform vorgegangen wird, nicht nur eine Missachtung des Parlaments, sondern es ist auch eine Missachtung der bildungspolitischen Fachöffentlichkeit, ({0}) die sich fast geschlossen mit sehr vielen guten Gründen und im Übrigen quer über alle politischen Richtungen hinweg gegen die vorliegenden Vorschläge ausspricht. ({1}) Ich möchte versuchen, zumindest einige der Bedenken deutlich zu machen. Im Prinzip besteht bei einigen grundlegenden Fragen in der Bildungspolitik Einigkeit quer über alle Fraktionen, beispielsweise darüber, dass wir endlich mehr Chancengleichheit im Bildungssystem realisieren müssen, dass die frühkindliche Bildung gestärkt werden muss, dass die Studierendenquote erhöht werden soll oder dass die Weiterbildung ausgebaut werden muss. ({2}) Die geplante Föderalismusreform steht allerdings in krassem Widerspruch zu all diesen Zielen. Auch hier möchte ich einige Beispiele nennen: Initiativen wie das Ganztagsschulprogramm wären zukünftig verboten. Jedes Land könnte beim Hochschulzugang und bei den Abschlüssen seine eigenen Regelungen verabschieden. Es gäbe keine bundesweit abgesicherten Arbeitsbedingungen für die im Bildungsbereich Beschäftigten mehr. Der dringend erforderliche Ausbau der Hochschulen wäre gefährdet. Aus unserer Sicht ist solch eine Föderalismusreform keine Grundlage für eine progressive Bildungspolitik. ({3}) Die Frage, weshalb trotzdem ein Interesse an dieser Reform bestehen könnte, lässt sich relativ leicht beantworten. Im Prinzip handelt es sich einfach um einen faulen Kompromiss im Machtgezerre zwischen Bund und Ländern, der zudem ziemlich durchsichtig ist. Die Länder verzichten auf Zustimmungspflicht im Bundesrat, im Gegenzug erhalten sie mehr Kompetenzen, etwa in der Bildungspolitik. Das Problem dabei ist aber, dass eine Diskussion über die Konsequenzen für die Bildung so weit es geht vermieden wird. Genau das wollen wir mit unserem Antrag ändern. Wir fordern darin, dass man den bildungspolitischen Bereich aus dem Föderalismuspaket vorerst ausklammert und neu darüber diskutiert. ({4}) Wir wollen an dieser Stelle klarstellen: Wir sind durchaus der Ansicht, dass wir eine Föderalismusreform brauchen. Aber wir sind nicht der Ansicht, dass wir eine Föderalismusreform brauchen, die zulasten von Vätern und Müttern, Schülerinnen und Schülern, Studentinnen und Studenten und Lehrerinnen und Lehrern geht. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Hirsch, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Tauss.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Kollegin, ich nehme das, was Sie sagen, mit Interesse zur Kenntnis. In vielen Punkten haben wir noch nicht einmal unterschiedliche Auffassungen. Aber angesichts der Vehemenz, mit der Sie vortragen, möchte ich Sie fragen: Haben Sie in den beiden Ländern, in denen Sie mitregieren - in Berlin und in MecklenburgVorpommern -, schon eine ähnlich feurige Rede gehalten, und ist zu konstatieren, dass die dortigen Landesregierungen aufgrund Ihrer Intervention aus der bisherigen Phalanx der 16 : 0-Ministerpräsidentenriege ausbrechen und ihre Auffassungen möglicherweise überdenken? ({0})

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Tauss, vielen Dank für Ihre Nachfrage. - In meiner ersten Aussage habe ich darzustellen versucht, dass ich vor allen Dingen die Problematik der Missachtung parlamentarischer Vorgänge sehe. ({0}) Ebenso habe ich kritisiert, dass heute das Gespräch zwischen den Regierungsspitzen stattgefunden hat. ({1}) Sie persönlich kritisiere ich in keiner Form. ({2}) Ich rufe lediglich die anwesenden Abgeordneten ganz grundsätzlich dazu auf, dieses Anliegen, das für uns sehr wichtig ist, abzulehnen, wenn es in das Parlament eingebracht werden sollte. ({3}) Das ist kein Vorwurf an Sie, sondern nur ein Aufruf. Nochmals danke für Ihre Nachfrage, Herr Tauss. Da ich das Ende der mir zur Verfügung stehenden Redezeit schon erreicht habe, will ich abschließend klarstellen: Es geht uns nicht darum, jemandem widersprechen zu wollen, dass wir eine Föderalismusreform brauchen. ({4}) Wir wollen deutlich machen, dass das Parlament einer Grundgesetzänderung aus gutem Grund zustimmen muss und sie nicht einfach im Rahmen eines Koalitionsvertrags beschlossen werden kann. ({5}) Deshalb unser Appell: Wir alle sollten den jetzt vorliegenden faulen Kompromiss nicht mittragen. Danke schön. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Marcus Weinberg von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Allerliebste Frau Hirsch, das war schon eine ganz bestimmte Form der Konsequenz, die Sie uns gerade präsentiert haben. Ich habe Ihren Antrag mit Interesse gelesen. In seinem ersten Satz heißt es, dass Sie eine Reform des Föderalismus in der Bildungspolitik begrüßen. Im 17. oder 18. Satz Ihres Antrags fordern Sie die Bundesregierung allerdings auf, den Bildungsbereich von der Reform auszunehmen. Diese „Konsequenz“ können wir natürlich nicht mittragen. Wir begrüßen diese Reform und wir werden sie auch durchführen. ({0}) Gerne gehe ich auf die von Ihnen angesprochenen Kritikpunkte ein - allerdings stand Ihnen eine kürzere Redezeit zur Verfügung als mir; das ist bedauerlich für Sie, aber gut für mich -: Grundsätzlich ist es so, dass wir nicht nur durch den Koalitionsvertrag gebunden sind, die Föderalismusreform durchzuführen. Vielmehr liegt dem auch unsere Einsicht in die pure Notwendigkeit zugrunde, dass wir eine Reform unserer bundesstaatlichen Ordnung durchführen müssen, um unser föderatives System endlich wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen, damit wir insbesondere unter dem Gesichtspunkt einer modernen und progressiven Bildungspolitik die richtigen Reformschritte einleiten können. Dabei geht es im Wesentlichen um drei Punkte: erstens um die klare Zuordnung von Kompetenzen, zweitens um den Abbau von Blockaden und Blockademechanismen und drittens um die Schaffung von Transparenz. In den letzten Tagen, Wochen und Monaten mag man irritiert gewesen sein, wenn man die Diskussion über die Föderalismusreform verfolgt hat. Noch vor ein paar Jahren waren sich die Bildungspolitiker in den Ländern und im Bund einig, dass die Notwendigkeit für eine solche Reform besteht. Auch wenn ich Ihre Bedenken nicht mittragen kann, kann ich sie teilweise durchaus nachvollziehen. Es wäre schon ärgerlich, wenn eines der größten Reformvorhaben, das es in den letzten 40 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat, in den nächsten Wochen möglicherweise zerredet werden sollte, und das aufgrund einzelner Detailfragen, die vielleicht noch zu lösen sind. Wir sind dieses Thema angegangen. Aus Ihrem Antrag, liebe Frau Hirsch, haben Sie einige Punkte hervorgehoben; hier möchte ich gerne nachhaken. Erstens muss ich etwas zu den Ganztagsschulen sagen. Verzeihen Sie mir, aber als ehemaliger Landespolitiker hatte ich zu diesem Thema in der Vergangenheit eine etwas andere Position als der eine oder andere in diesem Hohen Hause. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir waren sehr kritisch, was das Ganztagsschulprogramm betrifft, und das zu Recht. ({1}) - Das Geld haben wir uns geholt, richtig. Aber ich kann Ihnen eines sagen, lieber Herr Tauss: Wir hätten die Mittel wesentlich zielgenauer eingesetzt und damit größeren Erfolg erzielt. ({2}) - Das ist nicht lächerlich. Man muss die Situation im Land schon kennen. Sie wissen doch auch, dass es in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlichen Bedarf gab. Sie haben in Ihrem Antrag angesprochen, dass es notwendige Reformen gibt, und fordern ein, dass diese auf der Bundesebene angeschoben werden, zum Beispiel die vorschulische Bildung. Nun ist unser föderatives System nicht von ungefähr gekommen, sondern es hat sich aus der Verschiedenheit sozialer, kultureller und auch bildungspolitischer Hintergründe in den Regionen entwickelt. Das hat zur Folge, dass wir, was die Bildungspolitik angeht, unterschiedliche Vorgaben haben. Sie können Bayern, Rügen, Hamburg, Bremen und Dresden nicht gleichsetzen - es gibt jeweils andere Problembereiche. Deswegen ist es nur richtig und konsequent, den Ländern die Kompetenz zu geben. Sie wissen, wo man die Mittel am besten einsetzt. ({3}) - Herr Tauss, wenn ich meine Ausführungen zu Ende bringen darf; Sie können gleich noch reden. Es war schon damals sehr schwierig, von oben oktroyiert zu bekommen, welche Reformen man durchführen muss. ({4}) - Wir haben diese Diskussion in den Ländern geführt. Zweitens. Sie sprechen in Ihrem Antrag von mangelnder Transparenz. Da stimme ich Ihnen zu. Doch diese mangelnde Transparenz ist letztendlich das Ergebnis davon, dass die Kompetenzen nicht genau definiert sind. Deshalb ist es richtig, dass im Zuge der Föderalismusreform endlich Klarheit geschaffen wird, wer für den Bildungsbereich verantwortlich ist. Bisher konnten Politiker auf Landesebene die Verantwortung Richtung Bund schieben, und auch in der Gegenrichtung wurden Verantwortlichkeiten hin- und hergeschoben. In Zukunft - das ist das Gute - sind die Landesregierungen aufgefordert, die notwendigen Reformen im Bildungsbereich durchzuführen. Sonst bekommen sie nämlich ein Problem: das der möglichen Nichtwiederwahl. Das heißt, die Föderalismusreform mit der klaren Zuordnung der Kompetenz für den schulischen Bereich an die Länder ist gut und richtig. Dadurch sind die Länder gezwungen, an sich zu arbeiten. Wenn Sie verfolgen, was in einigen Ländern hinsichtlich vorschulischer Bildung, Kindertagesbetreuung und Schulreformen passiert, dann müssen Sie zugeben, dass viele Länder das bereits verstanden haben und die richtigen Reformen durchführen. Drittens. Sie sprechen vom europäischen Bildungsraum. Auch diesen muss eine Reform berücksichtigen; da stimme ich Ihnen zu. Wir haben mittlerweile drei Ebenen und man kann zu Recht sagen: Drei Ebenen, das ist eine zu viel. Den Rahmen für Bildungspolitik wird mehr und mehr Europa vorgeben; dort werden die Bedingungen festgelegt. Aber die Ausführung muss auf der untersten Ebene geleistet werden. Deswegen kann man sich fragen, ob die Kompetenzen der mittleren Ebene überflüssig sind. Ich sage explizit „kann man sich fragen“ - man kann auch eine andere Position vertreten. Ich glaube allerdings, es ist richtig, sich an Europa zu orientieren und den Ländern die Ausführung zu überlassen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Weinberg, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hirsch?

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich finde es sehr spannend, dass Sie mir grundsätzlich zustimmen, dass sehr große Anforderungen an die Föderalismusreform bestehen und dass das auch für die Bildungspolitik gilt. Offensichtlich erfüllen die vorliegenden Vorschläge diesen Anspruch aber nicht. Denn wie sonst würden Sie sich erklären, dass in der bildungspolitischen Fachöffentlichkeit der Widerstand gegen die vorgelegten Vorschläge so groß ist? Andernfalls wäre das doch unsinnig.

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich stimme Ihnen in der formulierten Zielsetzung - Transparenz, europäische Ebene - zu. Aber Sie haben unter dem Strich die falschen Ergebnisse - wir haben die richtigen. ({0}) Was heißt in diesem Zusammenhang „Bildungsöffentlichkeit“? Dass sich zu dieser Frage jetzt alle möglichen Leute äußern, stimmt. Aber die Experten, gerade in den Ländern, sind, was den schulischen Bereich angeht, durchaus positiv gestimmt. Im Hochschulbereich sieht es ähnlich aus. Insoweit kann ich nicht feststellen, dass sich die gesamte so genannte Bildungsöffentlichkeit einen anderen Prozess wünschen würde. Für den Bildungsbereich Schule lässt sich konstatieren, dass sie auf Länderebene organisiert werden muss. Das heißt in der Konsequenz - das ist unsere Analyse -, dass die Föderalismusreform mit sich bringen muss, dass im schulischen Bereich die Kompetenz der Länder gestärkt wird. Soweit es die Zeit erlaubt, möchte ich noch auf den Hochschulbereich eingehen; das ist auch der Schwerpunkt des Antrags von Frau Sager und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Sie haben mit Ihrem Antrag zum Ziel, die Kooperation zu stärken. Sie werden wahrscheinlich gleich in Ihrer Rede monieren, dass es eine solche nicht mehr gibt. Das möchte ich etwas relativieren, zum Beispiel, was die so genannte Abweichungsgesetzgebung angeht. Folgendes ist dabei zu beachten: Im engeren Sinne wird der Bund zwar seine Kompetenz verkleinern, aber - das halte ich für einen interessanten Aspekt - er erhält in diesem Bereich auch eine Kompetenz zur Voll- und Detailregelung, während er bislang auf Rahmenregelungen beschränkt war. Die Kritik lautet, dass diese Abweichungsgesetzgebung vermutlich zur Kleinstaaterei führt. Erstens ist dies nicht bewiesen und zweitens glaube ich, dass es für die Länder sehr schwierig oder problematisch wird, wenn sie diese Kleinstaaterei tatsächlich betreiben; denn auch dort wirkt der europäische Rahmen. Wer davon abweicht - gerade nach dem Jahr 2010 -, der wird sicherlich Probleme bekommen. Des Weiteren muss festgestellt werden, dass die Kompetenz des Bundes in ebenfalls zeitweise sehr umstrittenen Bereichen bei ihm geblieben ist. Ich nenne die berufliche Bildungskompetenz, die Forschungsförderung, die Ausbildungsbeihilfe und die Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung, also auch das, was im Zuge der Reform des Art. 91 b Grundgesetz geleistet wird. Hier hat der Bund seine Position und seine Kompetenzen durchaus behauptet. Es gab es sicherlich Punkte, die offen waren und zur Diskussion standen. Sie haben gerade gesagt - was ich noch nicht wusste -, dass das Spitzengespräch positiv ausgegangen ist. ({1}) - Sagen wir es einmal so: Zumindest längerfristig wird man die Übergangsregelungen hinbekommen. Außerdem muss auch einmal hinterfragt werden, was durch die Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung in den letzten Jahren massiv bewegt wurde. Ich komme zum Schluss: Die Bedenken, Wünsche und Visionen, die man so hat, kann man sicherlich auch anders ausleben. Alternativen gibt es immer. Man muss dann aber auch eine gewisse Konsequenz vertreten. Ich glaube, unter dem Strich ist es sowohl für den schulischen Bereich als auch für den Bereich der Hochschule richtig und wichtig, dass diese Föderalismusreform möglichst zügig umgesetzt wird; denn es gilt, den europäischen Rahmen zu fassen und auch dort Bildung zu produzieren, wo sie ankommt, nämlich auf der untersten Ebene, dort, wo Menschen Bildung erleben. Deswegen werden wir diesen Prozess natürlich positiv begleiten. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Weinberg, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch. ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Meinhardt von der FDP-Fraktion. ({1})

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion heute ist wirklich so sinnlos wie ein Kropf. ({0}) Wir sollten über diese beiden Anträge dann diskutieren, wenn es hier im Parlament um das ganze Föderalismuspaket geht. Alles andere ist aus unserer Sicht vergeudete Zeit. ({1}) Herr Tauss, die These, dass die Bildungspolitik aus der gesamten Föderalismusdebatte herausgebrochen werden soll, ist nur der neueste Taschenspielertrick, um die dringend notwendige Föderalismusreform doch noch auf die lange Bank schieben zu können. Diese Entscheidung ist seit Jahren überfällig. Deshalb erwarten wir als FDP auch, dass jeder hier in diesem Haus zu seiner politischen Verantwortung steht. ({2}) Es muss aber die Frage erlaubt sein, wer eigentlich für die Bildungspolitik in dieser Regierung verantwortlich ist. Ist es Frau Ministerin Schavan oder ist es Frau ExMinisterin Bulmahn, die im Hintergrund den koalitionsinternen Widerstand organisiert? ({3}) Hier müssen Schwarz und Rot Farbe bekennen. ({4}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag wackelt, wenn die Koalition als Ganzes nicht weiß, wo sie hin will. Die Zweidrittelmehrheit im Bundesrat gibt es nicht ohne die FDP. ({5}) Kollege Tauss, Sie werden es nicht glauben, aber ich zitiere Sie jetzt, und zwar sogar aus der „taz“: ({6}) „Der FDP kommt eine entscheidende Rolle zu.“ ({7}) Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht, Herr Tauss. ({8}) Das heißt aber nicht, dass wir als stärkste Oppositionsfraktion für Sie die Kohlen aus dem Feuer holen. ({9}) Wir alle wissen doch genau, dass eine Föderalismusreform nur dann Sinn macht, wenn sie auch mit einer Neujustierung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern verbunden ist. ({10}) Deswegen muss parallel dazu ganz klar festgelegt werden, in welcher Form, mit welchem Zeitplan und mit welchem Ziel die Finanzverfassung reformiert wird. ({11}) Auch hier muss der Grundsatz gelten: Wer bestellt, bezahlt. ({12}) Inhaltlich machen die beiden Anträge sehr deutlich, wo die wirkliche Trennlinie in dieser so wichtigen Debatte verläuft, nämlich zwischen denen, die eine Bildungsbürokratie von oben wollen, und denen, die wie wir Liberale die Bildungsfreiheit vor Ort umsetzen wollen. ({13}) Was wir in Deutschland wirklich brauchen, ist eine neue Schulkultur. Jede Schule muss zu einer kreativen Denkfabrik werden. Jede Schule muss eine individuelle Talentschmiede sein. Jede Schule muss zu einer wirklichen Verantwortungsgemeinschaft von Lehrern, Eltern und Schülern werden. Deswegen will die FDP die freie Entscheidung der Schulen vor Ort über Budget, Personal, Organisation und Profil. ({14}) Die FDP will die selbstständige Schule. ({15}) Häufig sagt das, was in einem Antrag nicht steht, mehr über ihn aus als das, was in ihm steht. Die größte Bildungskrake, die wir in Deutschland haben, ist die Kultusministerkonferenz. ({16}) Sie ist extrem träge. Sie ist Bürokratie pur. Am allerschlimmsten ist: Sie hat über Jahrzehnte hinweg schlicht und ergreifend versagt. ({17}) Die Integration von Migranten ins Bildungssystem, die Chancengerechtigkeit am Start, die gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse durch alle Bundesländer, die Perspektivdiskussion über Kindergärten, die Reform der Lehrerausbildung und die Freizügigkeit der Lehrer, die Bewältigung der stark ansteigenden Studentenzahlen, die Autonomie der Hochschulen und die Autonomie der Schulen - hier hätte eine verantwortungsvolle Kultusministerkonferenz mit sage und schreibe über 240 Mitarbeitern aktiv werden können und aktiv werden müssen. ({18}) Deswegen gilt für die FDP ganz klar: Die Kultusministerkonferenz ({19}) in dieser Form hat ausgedient. Sie muss zusammen mit der Bund-Länder-Kommission zu einer schlanken Bildungskonferenz werden. ({20}) Schließen wir hier im Deutschen Bundestag ein Bündnis für die Abschaffung der Kultusministerkonferenz. ({21}) Die Schulen werden es uns danken. Beide Anträge sind Ausdruck einer Geisteshaltung, die wir Liberale nicht teilen. Wir brauchen in diesem Land mehr Bildung der Freiheit und mehr Freiheit der Bildung. Vielen Dank. ({22})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Oppermann von der SPD-Fraktion. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Meinhardt hat eben den Kollegen Tauss zitiert. ({0}) Das Zitat besagte, dass die FDP in dieser Frage eine wichtige Rolle spiele. Nach dem, was Sie eben vorgetragen haben, ({1}) ist für mich nicht erkennbar, welche Rolle Sie in dieser Debatte spielen. ({2}) Vor allen Dingen ist für mich nicht erkennbar, was Sie wirklich genau wollen; denn die Abschaffung der Kultusministerkonferenz steht jedenfalls dem Bundestag nicht zu. Das ist eine freiwillige Veranstaltung ({3}) autonomer Länder in einem föderalistischen und demokratischen Staat. Hier kann man nicht einfach Verbote aussprechen. Verbotspolitik war übrigens bisher nicht die Grundlinie der FDP, aber vielleicht verändert sie sich gerade. Wenn der Vorsitzende einmal nicht da ist, kann das schnell passieren. ({4}) Die Föderalismusreform wird gelegentlich von Herrn Ramsauer und Herrn Stoiber als die Mutter aller weiteren Reformen bezeichnet. Ich weiß nicht, ob das eine zutreffende Beschreibung ist. Richtig ist aber, dass die Föderalismusreform die größte Änderung des Grundgesetzes seit 1949 ist. Daraus folgt, dass jedenfalls wir sie mit größter Sorgfalt beraten und begleiten werden. ({5}) Wenn das, Frau Hirsch und Frau Sager, die Absicht Ihrer Anträge gewesen sein mag, dann rennen Sie bei uns offene Türen ein. Frau Hirsch, worin die Missachtung des Parlamentes liegen soll, die Sie kritisiert haben, kann ich nicht sehen. Die Koalition hat heute beschlossen, dass ein Gesetzentwurf vorbereitet und ins Parlament eingebracht werden soll. Auch wenn Ihnen das nicht gefällt, wird das Parlament deshalb noch nicht missachtet. Die Koalition macht lediglich Gebrauch von ihrem Recht, Gesetzentwürfe einzubringen. Das können Sie genauso gut machen. Vielleicht bringen Sie ein besseres Gesetz ein. Die gründliche und sorgfältige Beratung der Verfassungsänderung ist schon wegen der Tragweite der möglichen Änderungen und aus Respekt vor der Verfassung geboten. Es darf aber kein Zweifel daran bestehen, dass wir diese Reform wollen. In Deutschland sind mehr Transparenz in den politischen Prozessen und die Entflechtung von Gesetzgebungszuständigkeiten notwendig. Des Weiteren müssen die Blockademöglichkeiten im Bundesrat durch die deutliche Verringerung der Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze reduziert werden. Altbundespräsident Roman Herzog - in einer großen Koalition darf man sich schließlich gegenseitig zitieren hat einmal zutreffend festgestellt: „In einem System, in dem alle für alles Verantwortung tragen, trägt in Wirklichkeit niemand Verantwortung.“ Das ist in unserer Verfassungswirklichkeit in gewissem Maße der Fall. Deshalb ist es wichtig, dass die Föderalismusreform wieder die Deckungsgleichheit zwischen politischer Zuständigkeit und politischer Verantwortlichkeit herstellt. Aber die Menschen in Deutschland wollen nicht nur eine Staatsreform, die zügige, klare und verantwortungsbewusste Entscheidungen ermöglicht. Es ist ihnen mindestens genauso wichtig, dass wir die Bildungsreformen vorantreiben, dass die Chancen der frühkindlichen Bildung besser genutzt werden, dass die deutschen Schüler und Schülerinnen bei künftigen PISA-Studien international in der Spitzengruppe stehen und dass vor allem der in Deutschland so stark wie nirgendwo sonst gegebene Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft aufgebrochen wird, damit die Bildungschancen der Kinder nicht mehr vom Geldbeutel der Eltern abhängen. ({6}) Um diese Ziele zu erreichen, brauchen wir bessere Schulen. Für die Schulen sind bisher die Länder zuständig - der PISA-Studie zufolge eher mit bescheidenem Erfolg - und es wird, hoffentlich mit besserem Erfolg, auch künftig so sein. Der Bund hat in der Schulpolitik keine Kernzuständigkeiten, aber es ist in der vergangenen Wahlperiode gelungen - das ist ein großes Verdienst der rot-grünen Bundesregierung -, ein Ganztagsschulprogramm mit einem Volumen von über 4 Milliarden Euro auf den Weg zu bringen, das einer zivilisatorischen Errungenschaft, die in allen entwickelten Industrieländern angeboten wird, auch in Deutschland zum Durchbruch verhelfen sollte. Das halte ich für ein Verdienst. ({7}) Wenn Sie in Hamburg die Mittel nicht zielgenau einsetzen konnten, Herr Kollege Weinberg, dann muss ich darauf hinweisen, dass sehr breite Einsatzmöglichkeiten bestanden haben. ({8}) Wenn die Länder etwas nicht hinbekommen haben, dann hat das damit zu tun, dass zwar aus Bundesmitteln Investitionen getätigt, aber leider keine pädagogischen Fachkräfte eingestellt wurden, um in den Ganztagsschulen Lehrer- und Sozialarbeiterstellen zu besetzen. Wie sollen denn Kinder mit Migrationshintergrund oder aus Familien der unteren Einkommensgruppen und aus so genannten bildungsfernen Schichten besser betreut, gefördert und gefordert werden als in Ganztagsschulen? Diese Kinder sind doch die ersten Opfer von Medienverwahrlosung. Deshalb sind Ganztagsschulen der richtige Weg. ({9}) Art. 104 b des Grundgesetzes in der neuen Fassung lässt Finanzhilfen des Bundes an die Länder nicht mehr zu, wenn es sich um einen Gegenstand handelt, für den die Länder die ausschließliche Gesetzgebung haben. Das heißt im Klartext: So etwas wie das 4-Milliarden-EuroProgramm wäre in Zukunft nicht mehr möglich. Das halte ich für außerordentlich problematisch. ({10}) Denn gerade auf einem Gebiet, auf dem Deutschland einen finanziellen und gestalterischen Kraftakt vor sich hat und deshalb alle verfügbaren Kräfte und Ressourcen mobilisieren müsste, erscheint ein Finanzhilfe- und Kooperationsverbot wenig plausibel. In verfassungsmäßiger Hinsicht geht es vielmehr um die folgende Frage: Wenn nach dem Urteil aller Beteiligten eine zeitlich begrenzte Kooperation zwischen Bund und Ländern richtig und vernünftig und zudem im Interesse der jungen Menschen dringend geboten ist und alle 16 Bundesländer und der Bund dies auch wollen, muss dann nicht die Verfassung in solchen Fällen eine Handlungsmöglichkeit - oder sozusagen eine Reservezuständigkeit - bieten? Anders formuliert: Wollen wir wirklich ein striktes und unumstößliches Kooperationsverbot normieren? ({11}) Wir werden das sehr genau zu bedenken haben. Den zweiten Kraftakt, der bewältigt werden muss, erfordert die Aufgabe, für die in den nächsten Jahren erfreulich große Zahl von Studierenden ausreichend Studienplätze zu schaffen. Auch hier erwarten die Menschen zu Recht, dass die Politik nicht versagt. Aber wir werden gewaltige Anstrengungen zu unternehmen haben; denn schon jetzt sind 52 Prozent aller Studiengänge zulassungsbeschränkt, das heißt, sie sind voll. Die in der finanziellen Obhut der Bundesländer befindlichen Hochschulen sind zudem strukturell unterfinanziert - es fehlen einige Milliarden Euro -, sodass sie aus eigener Kraft kaum die benötigten 200 000 Studienplätze schaffen können. Soweit Studiengebühren erhoben werden, sollen sie per definitionem ausschließlich zur Qualitätsverbesserung, nicht aber zur Schaffung zusätzlicher Studienplätze eingesetzt werden. Nun befürchten viele, dass der Bolognaprozess missbraucht wird und dass in eilig eingerichteten Bachelorstudiengängen eine Art Schnellbesohlung durchgeführt wird und die jungen Leute in Notprogrammen durch die Hochschulen geschleust werden. Das darf nicht passieren. ({12}) Damit das nicht passiert, brauchen wir den von Ministerin Schavan angekündigten und von vielen Seiten ausdrücklich begrüßten Hochschulpakt 2020. Ich glaube, niemand hätte das geringste Verständnis dafür, wenn die Föderalismusreform einen solchen Pakt, eine gemeinsame Anstrengung von Bund und Ländern, verbieten würde. ({13}) Also werden wir bei den Beratungen auch an dieser Stelle genau hinzuschauen haben. Die dritte und letzte Baustelle, die ich ansprechen möchte, ist der Hochschulbau. Wer jemals beruflich mit den bürokratischen Prozeduren des Hochschulbauförderungsgesetzes zu tun hatte, der wird diesem Gesetz keine Träne nachweinen. Die Übertragung der investiven Mittel des Bundes auf die Länder ist deshalb wohl in Ordnung. Aber soll die Zweckbindung dieser Mittel tatsächlich 2013 enden? Soll es danach den Ländern offen stehen, diese Mittel zum Beispiel zum Flicken von Schlaglöchern in Landesstraßen einzusetzen? Wir sollten darüber genauso nachdenken wie über die Verteilung der rund 700 Millionen Euro Kompensationsmittel auf die Bundesländer. ({14}) Es ist vorgesehen, die Mittel so zu verteilen, dass dorthin, wo die wenigsten Studierenden sind, die meisten Mittel gehen, und dort, wo die meisten Studierenden sind, am wenigsten ankommt. Daraus kann nur umgekehrt ein Schuh werden. Wir müssen also über den vorgesehenen Verteilungsschlüssel noch einmal sprechen. Sie sehen, dass über die neuen Zuständigkeiten für Bildung, Wissenschaft und Forschung im Grundgesetz noch sehr intensiv beraten werden muss. Dafür wird meine Fraktion, dafür wird die Koalition Sorge tragen. Ich bin zuversichtlich, dass wir zu Ergebnissen kommen, die sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit finden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Oppermann, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Die beiden letzten Erstredner waren, wie man gemerkt hat, keine Anfänger mehr, sondern haben schon Erfahrungen in den Landesparlamenten gemacht. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Krista Sager vom Bündnis 90/Die Grünen.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als im Herbst 2004 die Föderalismusreform scheiterte, spielten die Differenzen bei der Bildung eine ganz zentrale Rolle. Ich kann Ihnen versichern: Alle, die dabei waren, wussten, worum es geht. Niemand hat diese Reform leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Aber es wurde deutlich, dass wir es nicht akzeptieren, dass in einem so zentralen Bereich wie der Bildung die Weichen falsch gestellt werden. ({0}) Deswegen war es damals richtig, zu sagen: Wenn wir die Reform nicht aufhalten wollen, dann ist es besser, die Bildung auszuklammern und keine falschen Weichenstellungen vorzunehmen. So sehe ich das noch heute. Es gibt keinen Grund, der es rechtfertigt, das, was man damals für falsch gehalten hat, heute zu schlucken. ({1}) Herr Weinberg, mit einer Verfassungsänderung kann man nicht so umgehen, als ob man sich auf einem traditionellen Pferdemarkt oder in einer Tarifverhandlung befände. Hier ist ein solches Geschacher nicht gut zu gebrauchen. Wenn es nicht nur ein hehrer Anspruch ist, dass Bildung und Wissenschaft Schlüsselbereiche für uns sind, dann müssen wir aufpassen, dass wir nicht zu einer falschen Weichenstellung kommen. ({2}) Herr Meinhardt, Sie sind in Bezug auf die Autonomie der Bildungseinrichtungen aus meiner Sicht nur ein Semiliberaler. Denken Sie den Gedanken des Qualitätswettbewerbs zwischen Schulen und Hochschulen doch einmal zu Ende! Was spricht denn eigentlich dagegen, dass sich Hochschulen und Schulen direkt um Bundesprogramme im Wettbewerb bewerben dürfen? ({3}) Das ist selbst in den USA möglich. Warum nicht auch in Deutschland? Wenn wir aber der Bundesebene die Finanzierungsmöglichkeit entziehen und ein Kooperationsverbot verhängen, dann ist das ein deutscher Sonderweg. Dieser Weg wird in keinem föderativen System auf der Welt so gegangen. ({4}) Aus meiner Sicht hat es überhaupt nichts mit Qualitätswettbewerb zu tun, wenn einige starke Ministerpräsidenten wie Herr Stoiber, Herr Koch und Herr Oettinger an der Spitze dafür sorgen, dass dem Bund nicht die Möglichkeit gegeben wird, in schwächeren Ländern Ganztagsschulen zu fördern und Studienplätze auszubauen. Das ist ein unfairer Machtkampf und kein Qualitätswettbewerb. Dieser Machtkampf geht auf Kosten von Kindern und jungen Leuten in diesem Land. ({5}) Jetzt, Herr Weinberg, zu Ihrer Position zu den Ganztagsschulen. Was soll denn das Kooperationsverbot in diesem Bereich? Das wird auch in Hamburg niemand verstehen. Die Landespolitiker auch bei uns in Hamburg - da hat Herr Oppermann vollkommen Recht - haben sich darüber beklagt, dass ihnen der Bund keine Personalmittel gibt und nur Investitionsmittel gewährt. ({6}) Selbst die Gewährung von Investitionsmitteln wollen Sie jetzt untersagen. ({7}) Erinnern Sie sich doch bitte auch daran, dass sich selbst der Hamburger Senat noch im letzten Bürgerschaftswahlkampf mit den Ergebnissen des Ganztagsschulprogramms gebrüstet hat. Das ist einfach wahr und das muss hier auch einmal erwähnt werden. ({8}) Tatsache ist auch, dass wir in Bezug auf die Hochschulen nicht einen handlungsunfähigen Bund brauchen, sondern einen helfenden Bund, damit wir mehr Studienplatzkapazitäten für wachsende Bewerberzahlen bekommen. Wir brauchen einen Ausgleich zwischen den Ländern, die viel für die Studienplätze tun, und den Ländern, die wenig für die Studienplätze tun. Auch dort haben Sie Recht, Herr Oppermann. Ich hoffe nur eines, nämlich dass die Bildungspolitiker hier im Hause in dieser Diskussion nicht nur den Mund spitzen, sondern - da schaue ich auch Sie an, Herr Tauss - auch den Mut haben, zu pfeifen, wenn wir jetzt in die parlamentarische Beratung gehen. ({9}) Wir müssen die parlamentarische Beratung jetzt nutzen, um Schaden vom Bildungssystem in Deutschland abzuwenden. Wenn wir uns das vornehmen, dann sind wir auf einem guten Weg. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 16/647 - Tagesordnungspunkt 10 a - zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Innenausschuss zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/648 - Tagesordnungspunkt 10 b soll an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung überwiesen werden. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 9 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Buchpreisbindungsgesetzes - Drucksache 16/238 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache ebenfalls eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Dorothee Bär das Wort. Ich sehe, Frau Kollegin Bär, dass Sie Ihren Namen kürzlich geändert haben. Ich entnehme dem, dass Sie geheiratet haben. Ich gratuliere Ihnen nachträglich herzlich. ({1})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für die lieben Glückwünsche. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In „Meyers Lexikon“ heißt es unter dem Stichwort „Buch“: „Im Kulturleben der Menschheit ist das Buch eine der bedeutungsvollsten Erscheinungen überhaupt.“ Dass uns Deutschen Bücher lieb und teuer sind, beweisen die Zahlen: Der deutsche Buchmarkt erwirtschaftet im Jahr ein geschätztes Gesamtvolumen von über 9 Milliarden Euro. Die Deutschen sind also durchaus bereit, für das Kulturgut Buch Geld auszugeben. Gleichzeitig liegt der Anteil von Nichtlesern in Deutschland bei rund 20 Prozent. Das bedeutet, dass ein Fünftel unserer Bevölkerung keine Bücher liest. Das ist eine erschreckende Zahl und sie lässt sich meiner Meinung nach nur durch eines verbessern: Wir müssen Kinder und Jugendliche so schnell und so intensiv wie möglich an das Lesen heranführen. ({0}) Das darf sich auch in haushaltspolitisch angespannten Zeiten nicht ändern. Genau deshalb beraten wir heute diesen Gesetzentwurf: um den Zugang zu Schulbüchern, zu Bildung weiterhin zu ermöglichen. ({1}) Einige Bundesländer sind aus fiskalischen Gründen gezwungen, die Eltern an der Finanzierung der Schulbücher zu beteiligen. ({2}) Zum Beispiel Bayern, Herr Tauss, aber auch Hamburg, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Das heißt, dass diese Bücher überwiegend nicht mehr von der öffentlichen Hand finanziert werden. Mit dem jetzt gültigen Gesetz würde der Sammelrabatt für Bestellungen von Schulen entfallen. Die Folge wäre, dass weniger Bücher angeschafft werden. Man kann zu der Einführung von Büchergeld stehen wie man will: Es ist sicherlich in unser aller Interesse, dass unsere Kinder schon so früh wie möglich an Bücher und damit an das Lesen herangeführt werden. Dazu ist es wichtig, dass sie aktuelle Bücher bekommen. ({3}) Die Finanzierung von aktuellen Büchern muss dabei auf eine breitere Basis als bisher gestellt werden. Dass dies sozialverträglich geschieht, ist eine Grundvoraussetzung. ({4}) Diese Form der Bildung - durch Lesen, durch die Reise in die Welt der Bücher und damit durch die Schulung des Vorstellungsvermögens und der Fantasie - ist unbezahlbar. Sie ist vor dem Hintergrund von Studien wie PISA oder IGLU umso wichtiger. In unserer Zeit nehmen Fernsehen, Internet und Computerspiele einen meiner Meinung nach viel zu großen Raum in den Tagesabläufen unserer Kinder ein. ({5}) Die Bindung des Buchpreises sichert eine Vielfalt an Buchtiteln, Verlagen und Buchläden, die notwendig ist. Das sieht auch der Großteil unserer Bevölkerung so. In einer Emnid-Umfrage aus dem vergangenen Jahr sprachen sich 55 Prozent der Befragten für feste Buchpreise aus. Besonders spannend dabei ist, dass sich 62 Prozent der 14- bis 29-Jährigen für die Beibehaltung der Buchpreisbindung ausgesprochen haben. Das zeigt, dass die Jugendlichen und Heranwachsenden, denen immer wieder gern unterstellt wird, dass sie nicht mehr lesen, eine ganz klare Meinung zum Thema Buchpreisbindung haben: Sie befürworten die Beibehaltung. Die Buchpreisbindung hat einen weiteren Effekt: Durch sie ist es unter anderem möglich, dass der deutsche Büchermarkt Klassiker oder Fachliteratur zu möglichst erschwinglichen Preisen anbietet. Gerade die deutsche Fachliteratur würde unter einer Aufhebung der Buchpreisbindung besonders leiden. Der englische Markt ist für sie weitaus größer als beispielsweise der deutsche. Eine Aufhebung der Buchpreisbindung hätte zur Folge, dass Bücher mit Spezialthemen unbezahlbar wären. ({6}) Die Folge davon wäre wiederum, dass unsere deutsche Fachliteratur - weil unverhältnismäßig teuer - allmählich vom Markt verdrängt würde und mit ihr auch die Arbeit der deutschen Forscher. So müssen wir uns schon fragen lassen: Soll ein Buch wie jedes andere Produkt behandelt werden oder ist es ein Teil unserer Kultur, ein Teil unserer Identität, die wir zu oft und zu gern verstecken? Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Christoph Waitz von der FDP-Fraktion. ({0})

Christoph Waitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003859, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu dieser fortgeschrittenen Stunde, in der es um das bedeutende Gesetz zur Änderung des Buchpreisbindungsgesetzes geht, bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit. Kollegin Bär hat den Grund unseres Hierseins schon sehr ausführlich begründet. Bislang war ein Rabatt bei Sammelbestellungen von Schulbüchern gesetzlich möglich, wenn diese Bücher überwiegend von der öffentlichen Hand finanziert oder von ihr erworben wurden. Dem ist eigentlich nichts weiter hinzuzufügen. Es ist natürlich richtig, Herr Kollege Tauss, dass es nicht immer einleuchtend ist, warum bestimmte Bundesländer versuchen, einen Großteil dieser Lasten auf Eltern und auf erwachsene Kinder abzuwälzen. ({0}) - Ich will diesen Namen gar nicht mehr in den Mund nehmen. Trotzdem verstehen wir Liberale natürlich die prekäre Situation. Damit meine ich nicht so sehr die prekäre Situation der Länderhaushalte - sie ist schon dramatisch genug - als vielmehr die der Kommunen und der Städte, die diese Finanzen im Zweifel aufbringen müssen. Aber ich will hier im Bundestag nicht darüber klagen, dass diese Erhöhung des Elternanteils etwas mit dem Aushöhlen des Prinzips der Lernmittelfreiheit in den jeweiligen Bundesländern zu tun hat. Das müssen die Landespolitiker in den Landtagen und in ihren sonstigen Gremien schon selbst ausfechten. Ich will vielmehr auf einige Absurditäten dieses Systems der Buchpreisbindung hinweisen, die hier offenkundig werden. Als Motive werden in der Stellungnahme der Bundesregierung genannt, dass das Buch als Kulturgut gestärkt werden muss und dass man die Vielfalt der Verlagsund Buchhandelslandschaft fördern möchte. All das scheint mir mit der gesetzlichen Normierung eines Anspruchs auf Rabattgewährung nicht notwendigerweise befördert zu werden. ({1}) Tatsächlich erfolgt die Schulbuchbeschaffung - ich habe es schon gesagt - durch die Städte und Gemeinden, die natürlich versuchen, den Bedarf an Schulbüchern möglichst vieler Schulen zu bündeln und auf diese Weise einen größtmöglichen Rabatt für sich erzielen. Aber diese Aufträge werden nicht dem örtlichen Buchhandel zugeleitet, wo sie im Zweifel die Nachfrage fördern und zusätzliche Umsätze generieren würden, sondern Spezialhändlern, die über große Lager, aber im Regelfall über keinerlei Verkaufsflächen für die Öffentlichkeit verfügen. Mit diesen Spezialhändlern kann und will der mittelständische Buchhändler nicht in Konkurrenz treten. Besonders grotesk wird es, wenn das Preisvolumen der zu beschaffenden Bücher nach dem EU-Recht eine öffentliche Ausschreibung des Auftrags erfordert. Der Schwellenwert dafür beträgt 200 000 Euro. Dies ist gerade in größeren Städten ein schnell erreichter Auftragswert. Sie erinnern sich sicherlich daran, dass der Buchpreis, der mögliche gesetzliche Rabatt und auch alle denkbaren zulässigen Angebotsnebenleistungen im Buchpreisbindungsgesetz festgelegt wurden. Das heißt, die Angebote der Fachhändler können sich nicht voneinander unterscheiden. Jede Ausschreibung, die von den Städten durchzuführen ist, erfordert eine umfassende Wertung der Angebote, die in vier Stufen erfolgen muss. Aus der Ausschreibung ergibt sich aber zwangsläufig eine Vielzahl fast gleichwertiger Angebote mit der Folge, dass die Städte das Losverfahren wählen. In meinen Augen ist dies ein sinnloser und zudem kostenträchtiger Vorgang, der die Vorteile des gesetzlichen Rabatts zumindest teilweise wieder aufhebt. ({2}) Wenn wir die Vielfalt der Buchhandelslandschaft in Deutschland wirklich fördern wollen, dann sollten wir in größtmöglichem Umfang von der Ausnahme nach § 7 Abs. 3 Gebrauch machen, die vorsieht, dass immer dann, wenn Schulen über einen eigenen Beschaffungsetat verfügen, Anschaffungslose den örtlichen Buchhändlern zugeteilt werden können. Auf diese Weise würde eine solche Ausschreibung umgangen. Auch während des Schuljahres könnte man noch problemlos Folgeanschaffungen tätigen. All das ist ansonsten nicht möglich. Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bundesrats eine ganze Reihe von praktikablen Ergänzungsvorschlägen gemacht. Dabei geht es insbesondere darum, dass auch die Privatschulen in den Genuss einer möglichen gesetzlichen Rabattregelung kommen sollen. Es geht um die Einführung einer Räumungsverkaufsklausel und Ähnliches mehr. Wir als FDP begrüßen diese Änderungsvorschläge der Bundesregierung, weil sie aus unserer Sicht das Leben mit dem Buchpreisbindungsgesetz für den Buchhandel erleichtern. Ich bedanke mich. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Tauss von der SPD-Fraktion. ({0}) - Jörg Tauss.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mein Name ist unverändert. Ich habe nicht geheiratet. ({0}) Liebe Kollegin Bär, herzlichen Glückwunsch selbstverständlich auch von unserer Seite. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Gesetzentwurf des Bundesrats zur Änderung des Buchpreisbindungsgesetzes. Wir begrüßen diesen Entwurf. Ich will die Gelegenheit nutzen, einmal ganz grundsätzlich - Sie haben das angesprochen, Kollege Waitz - auf das Buchpreisbindungsgesetz, die Regelungen insgesamt in ihrem positiven Wirken und darüber hinaus natürlich auch auf die Punkte einzugehen, die jetzt geändert werden sollen. Dabei geht es natürlich nicht nur, aber vor allem um Schulbücher. Das ist ein wichtiger Punkt, der uns als Bildungspolitiker ganz speziell interessiert. In einem Punkt bin nicht ganz Ihrer Auffassung. Ich glaube, es sind vor allem die Buchhandlungen, die von dem Buchpreisbindungsgesetz, das wir 2002 miteinander beschlossen haben, profitieren. Ich glaube auch, dass gerade dieses Gesetz - das war auch immer die Position der Verlage und der Buchhandlungen - entscheidend zu dieser langfristigen Vielfalt im deutschen Buch- und Verlagswesen beigetragen hat, die in der Tat weltweit einmalig ist. Diese Vielfalt gilt es weiter zu sichern. Wir hatten infolge der Gesetzgebung aus dem Jahre 2002 relativ heftige Probleme mit der EU-Kommission, die die Buchpreisbindung im Rahmen von Liberalisierungsbestrebungen untersagen wollte. Wir haben uns damals gemeinsam mit Österreich erfolgreich dagegen gewehrt. Ich glaube, das war gut so; denn mit dem Buchpreisbindungsgesetz werden drei kulturpolitische Ziele angestrebt: Erstens sollen Vielfalt und hohe Qualität des Buchangebotes gewahrt werden. Zweitens soll das enge Netz von Buchhandlungen mit qualifiziertem Personal in kleinen und mittleren Orten erhalten bleiben. Drittens soll den Autorinnen und Autoren natürlich weiterhin eine angemessene Vergütung gewährt werden. Dass wir hier erfolgreich waren, belegen übrigens einige Zahlen aus der Statistik: ({1}) In Ortschaften mittlerer Größe, also mit 20 000 bis 50 000 Einwohnern, gibt es in Österreich durchschnittlich 4,7 Buchhandlungen - damit ist Österreich in diesem Bereich Rekordhalter -, in der Schweiz 4,5 und in Deutschland „nur“ 3,2. Immerhin liegen wir damit zusammen mit den beiden anderen Staaten an der Spitze. In Großbritannien, wo es keine Buchpreisbindung gibt, gibt es in solchen Ortschaften im Schnitt 1,7 Buchhandlungen und in den USA sogar nur 0,75. Hier gibt es also sehr deutliche Unterschiede. Gleiches trifft bei einem anderen Aspekt zu. Die Zahl der lieferbaren Bücher pro 1 Million Einwohner liegt im deutschen Sprachraum um 44 Prozent höher als im angelsächsischen Sprachraum, wo man keine Buchpreisbindung kennt. Diese Zusammenhänge sind ganz eindeutig. Wir haben also mit unseren gesetzgeberischen Maßnahmen, die darauf abzielten, die Buchpreisbindung zu erhalten, auch wichtige kulturpolitische Ziele erreicht. ({2}) Übrigens haben wir ganz nebenbei rund 10 000 Arbeitsplätze in Buchhandlungen erhalten. Trotz aller Strukturprobleme, die es zweifellos auch in diesem Bereich gibt, haben wir damit auch einen wichtigen Beitrag für die Buchhandlungen geleistet. Heute reden wir aber vor allem über die Nachlassgewährung für preisgebundene Schulbücher. Darauf zielt die Initiative des Bundesrates ab. Sie ist sinnvoll, weil ansonsten aufgrund der Maßnahmen bestimmter Bundesländer - die Kolleginnen und Kollegen vor mir haben das schon angesprochen - die Rabattgewährung bei Schulbuchbestellungen durch Schulen wegfallen würde und Eltern und schulpflichtige Kinder die Betroffenen wären. Ich bedauere sehr, Frau Kollegin Bär, dass Bayern hier eine Vorreiterrolle eingenommen hat. ({3}) Ich halte es für ein schlechtes und politisch fatales Signal, dass ausgerechnet das nicht ganz arme Land Bayern signalisiert, die Schulbücher für seine Kinder und Jugendlichen nicht mehr finanzieren zu können. Das ist ein ganz schlechtes Signal auch an andere Bundesländer. Das muss ich kritisch sagen. ({4}) Wir müssen jetzt reagieren, weil andere Länder nachziehen. Hamburg, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben das angekündigt und begründen es mit dem Vorgehen Bayerns. Dass das ein Problem ist, ist doch völlig klar. Auch Schulbücher, die im Eigentum der Schule verbleiben, sollen jetzt zu einem großen Teil von den Erziehungsberechtigten bzw. den volljährigen Schülerinnen und Schülern finanziert werden. Die Formulierung im alten Gesetz gewährleistet den Sammelrabatt für Schulbücher aber nur dann, wenn keine oder nur eine geringe Beteiligung der Eltern bzw. der volljährigen Schülerinnen und Schüler erfolgt. Aus diesem Grunde müssen wir uns um diese Frage kümmern. Wenn wir die Änderung, wie sie vom Bundesrat vorgeschlagen wird, nicht vornehmen würden, bedeutete das in der Konsequenz, dass der Rabatt in Höhe von 8 bis 15 Prozent entfiele und die Bücher entweder entsprechend teurer würden oder nur eine entsprechend geringere Zahl von Büchern von den Schulen beschafft werden könnte. Deshalb ist es notwendig, diese Änderung vorzunehmen. Wir halten die Änderungsvorschläge des Bundesrates für richtig, durch die im gleichen Zuge einige Rechtsunsicherheiten beseitigt werden. Auf diese will ich jetzt aber im Detail nicht eingehen. Wir wollen nämlich noch einige andere Punkte mit dem Gesetzentwurf regeln, der seitens der Bundesregierung ins Parlament eingebracht wird. Hier geht es beispielsweise um die Frage, ob und wie unter stärkerer Betonung bildungspolitischer Aspekte auch Privatschulen - das halte ich nicht für eine Elitegeschichte, Frau Kollegin, sondern das ist ein Punkt, der für die Waldorfschulen usw. sinnvollerweise mitgeregelt wird - einbezogen werden können, damit sie ähnlich von den Rabatten profitieren. Auch diesem Vorschlag der Bundesregierung würden wir zustimmen. Aber, Herr Kollege Waitz, es geht nicht nur um die Rabatte. Wir haben eine Reihe weiterer Änderungen. Die Mängelexemplare sind ein Thema. Ein wichtiger Punkt ist, dass wir die Kennzeichnungspflicht für Mängelexemplare einführen. Das ist die eine Klarstellung. Zum Zweiten werden wir eine Räumungsverkaufsklausel in § 3 des Buchpreisbindungsgesetzes vorschlagen; denn es hat sich gezeigt, dass die Möglichkeiten der Lagerbereinigung, wie wir sie in der Vergangenheit hatten, nicht ausreichend sind. Hier kann man sich vorstellen, eine entsprechende Regelung zu finden. Vorgeschlagen ist ein Zeitraum von 30 Tagen, und zwar für die Bücher, die aus den gewöhnlichen Beständen des Unternehmens stammen und die zuvor den Lieferanten zur Rücknahme angeboten worden sind. Auch da wollen wir eine Klarstellung erreichen. Der dritte Punkt ist die Prüfung der Aufhebung der Buchpreisbindung für Ausgaben, deren erstes Erscheinen länger als 18 Monate zurückliegt. Auch das ist eine Klarstellung. Last, but not least: Die Gesetzesinitiative des Bundesrates ist sinnvoll. Wir werden seitens des Parlaments und der Bundesregierung alle vorgeschlagenen Änderungen diskutieren. Es gibt noch einige ergänzende Vorschläge vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, die wir im praktischen Gesetzgebungsverfahren ebenfalls sorgfältig betrachten wollen. Es geht bei diesem Buchpreisbindungsgesetz - ich glaube, da sind wir uns hier im Hause auch zu vorgerückter Stunde einig - um das wichtige Kulturgut Buch und dessen Verwendung in unseren Schulen sowie um die notwendige Sicherung der einzigartigen Vielfalt unseres Buch- und Verlagswesens. Das müsste doch ein Ziel sein, bei dem wir Übereinstimmung erzielen. Wenn wir dann nebenbei, wie beschrieben, für die betroffenen Eltern, Jugendlichen und Kinder und natürlich die Schulen die Rabatte erhalten, dann haben wir, glaube ich, etwas getan, womit wir in der Öffentlichkeit sehr gut bestehen können. Kulturpolitisch können wir ohnehin bestehen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({5}) Herr Präsident, ich habe Redezeit gespart. Wenn Sie mir die für das nächste Mal gutschreiben, bin ich hoch zufrieden. Einen schönen Abend! ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Redezeit haben Sie durch die vielfältigen Zwischenrufe schon verbraucht, Herr Kollege Tauss. ({0}) Das Wort hat die Kollegin Dr. Petra Sitte von der Fraktion Die Linke. ({1})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Grundbekenntnis vorweg: Wir halten die Buchpreisbindung natürlich für ein unverzichtbares Instrument, um das Kulturgut Buch allen zugänglich zu machen. Im Eingangsbeitrag wurde bereits darauf hingewiesen. Im Wissen um den Wert der Bücher für die Bildung und die Entwicklung eines jeden Menschen und vor allem der Heranwachsenden, also der jungen Menschen, haben wir uns stets dafür eingesetzt, Bücher aus der Logik des Marktradikalismus und der Profitmaximierung herauszuhalten, Schulbücher ganz besonders. Heute diskutieren wir dem Grunde nach eigentlich gar nicht über die Buchpreisbindung, wenn auch formalrechtlich; es besteht ja ein solcher Antrag vonseiten des Bundesrates. Tatsächlich reden wir aber über ein bildungspolitisches Thema; denn das, was sich aus dieser Entwicklung ergibt, ist höchst problematisch. Es ist schon erwähnt worden: Eigentlich beginnt damit an den Schulen die Abschaffung der Lernmittelfreiheit. An den Universitäten hat sie längst stattgefunden. Weil bereits fünf Bundesländer eine Regelung eingeführt haben, nach der Schüler bzw. Eltern an den Kosten der Schulbücher mit mehr als 50 Prozent beteiligt werden, ist die Sammelrabattklausel gefährdet. Danach ist für Schulbücher, die überwiegend von der öffentlichen Hand finanziert werden, ein Rabatt von 8 bis 15 Prozent vorgesehen. Dies ist aber wegen der hohen privaten Mitfinanzierung nicht mehr der Fall. Das heißt, wenn man von der bisherigen Summe ausgeht, nichts anderes, als dass in Zukunft weniger Bücher angeschafft werden können. Deshalb sollen wir jetzt einer Gesetzesänderung zustimmen, die den Preisnachlass für Schulbücher erhält, ungeachtet der Höhe der privaten Mitfinanzierung durch die Eltern bzw. volljährigen Schüler. Wir werden diesem Gesetz zustimmen, weil wir wollen, dass die Eltern in den Genuss dieses Rabatts kommen. Eigentlich fällt uns dieser Kompromiss sehr schwer, weil wir genau wissen, dass damit ein Tor geöffnet wird, was es den betreffenden Kommunen und den Ländern leichter macht, sich von ihrer Verpflichtung, Schulbücher künftig mitzufinanzieren, zu lösen. Ich habe diese Diskussion auf Landesebene mitgemacht. Auf der anderen Seite gibt es Eltern - das wissen wir genau -, für die jeder gesparte Euro, auch an dieser Stelle, von entscheidender Bedeutung ist. Ich hatte schon einmal gesagt, dass jedes zweite Kind in Armut aufwächst. Eltern solcher Kinder denken, wenn es um Anschaffungen geht, nicht in erster Linie an Bücher oder Schulbücher. Deswegen halten wir diesen Gesetzentwurf hinsichtlich seiner Auswirkungen auf den Bildungszugang, die soziale Gerechtigkeit und die sozialen Perspektiven, die sich daraus für Kinder ergeben, für höchst problematisch. Ich glaube, Länder wie Bayern machen es sich an dieser Stelle recht einfach. Diese Regelung darf man eigentlich nicht akzeptieren. ({0}) In den letzten Jahren wurde uns aufgrund der Ergebnisse der PISA-Studien immer ins Stammbuch geschrieben, dass in der Bundesrepublik Deutschland der soziale Hintergrund und - davon abhängig - die Bildungschancen der Kinder, ihre soziale Perspektive sowie die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Bildungschancen eine unheilvolle Wirkungskette bilden. Deshalb glaube ich, dass wir uns an dieser Stelle mit dem eigentlichen Problem, das hinter dieser Gesetzesänderung steckt, viel intensiver und offensiver befassen sollten. Selbst wenn die Föderalismusreform in der geplanten Weise durchgeführt wird, sollten wir die Verantwortung der Länder und der Kommunen, soweit sie mit betroffen sind, in der öffentlichen Debatte aufzeigen. Wir sollten versuchen, eine solche Entwicklung zu verhindern. Danke schön. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Rede der Kollegin Katrin Göring-Eckardt neh- men wir zu Protokoll.1) Damit kommen wir zur Rede der Kollegin Rita Pawelski von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Rita Pawelski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003607, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Herr Kollege Tauss, weil wir alle gemeinsam wollen, dass die Schulen künftig wieder Rabatte bei der Bestellung von Schulbüchern bekommen, wollen wir diesen Gesetzentwurf ganz schnell beraten. In einem Punkt muss ich Sie allerdings korrigieren: In dem Gesetzentwurf des Bundesrates geht es lediglich um die in § 7 des Buchpreisbindungsgesetzes festgelegten Sammelbestellungen von Büchern, die überwiegend von der öffentlichen Hand finanziert werden. ({0}) Die anderen Punkte, auf die Sie Bezug genommen haben - ich werde nachher noch darauf eingehen -, ({1}) sind lediglich Vorschläge der Bundesregierung. Hierzu gibt es noch keinen Gesetzentwurf. ({2}) - Es ist doch klar, dass wir das gemeinsam machen wer- den. Wie ich schon sagte: Rabatte und andere Ergänzun- gen, auf die ich gleich noch eingehen werde, soll es ge- ben. Bücher gehören zum täglichen Leben. Das fängt spä- testens in der Schule mit den Schulbüchern an. Ich kann mich dunkel daran erinnern, dass diese Bücher bei den Nutzern meist nicht ganz so beliebt waren. Aber das än- dert sich. Die Liebe zu Büchern wächst mit der Fähig- keit, sie zu lesen und zu verstehen. 1) Anlage 2 Aber Bücher haben ihren Preis, der - von wenigen Ausnahmen abgesehen - durch das Buchpreisbindungsgesetz festgelegt ist. Was sich hier höchst bürokratisch und verstaubt anhört, ist aber unbedingt notwendig. Denn ohne eine Preisbindung gäbe es nicht die Vielzahl der Verlage, Buchhandlungen und Titel. ({3}) Vor allem kleine und mittlere Verlage würden im Wettbewerb nicht überleben. Feste Ladenpreise für Bücher sind also eine Grundvoraussetzung für eine lebendige und vielseitige Literaturlandschaft in Deutschland. ({4}) Die Zahlen belegen es: Deutschland gehört zu den führenden Buchnationen. Darin sind wir Spitze und darauf können wir stolz sein. ({5}) Bei uns gibt es fast 5 000 Buchhandlungen und etwa 14 000 Verlage. Sie produzieren jährlich 700 Millionen Bücher. Rund 80 000 deutsche Titel kommen pro Jahr in Deutschland auf den Markt. ({6}) Fast 1 Million Buchtitel sind jederzeit lieferbar. Insgesamt beträgt der Umsatz des deutschen Buchmarktes 9 Milliarden Euro. Das ist ein unglaublich hoher Betrag. Aber die Praxis des Buchpreisbindungsgesetzes zeigt Änderungs- und Ergänzungsbedarf. Ich will hier drei Punkte aufgreifen, die die Bundesregierung nennt und bei denen es eine hohe Übereinstimmung mit den Wünschen des deutschen Buchhandels gibt: Erstens. Mit der wachsenden Bedeutung von Auktionen im Internet sind vermehrt Fälle von Preisbindungsmissbrauch aufgetreten. Verlagsneue, oft fehlerfreie Bücher wurden als Mängelexemplare angeboten, um die Preisbindung zu umgehen. Darum sollten wir prüfen, eine Kennzeichnungspflicht für Mängelware einzuführen. Im Internet kann man nicht immer erkennen, ob ein Buch wirklich einen Mangel hat. Das kann man erst sehen, wenn man es mit der Post erhalten hat. Wir sollten den Markt nicht durchlöchern. ({7}) Zweitens brauchen wir die Einführung einer Räumungsverkaufsklausel. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass bei einer Insolvenz die Möglichkeiten der Lagerbereinigung im Buchhandel nicht ausreichend sind. Eine vertraglich bestehende Verpflichtung zur Rücknahme besteht nicht immer. Alternativen sind relativ selten. Eine spezielle Räumungsverkaufsklausel könnte Abhilfe schaffen. Selbstverständlich müssen die Anforderungen besonders hoch sein, um Missbrauch zu vermeiden. Es kann nicht sein, dass einer seinen Laden schließt, ihn wieder öffnet und dann wieder schließt, nur damit er die Bücher günstig auf den Markt bringen kann. Drittens brauchen wir eine Klarstellung des Wortlauts in § 8 Abs. 1 Buchpreisbindungsgesetz. Die jetzige Regelung ist unklar. Bisher gilt, dass bei einem unveränderten Nachdruck die Preisbindung der alten Auflage nach 18 Monaten ausläuft und für die neue Auflage neu beginnt, auch wenn der Text absolut identisch ist. So gibt es für ein und denselben Titel mit identischem Text eine preisgebundene und eine preisfreie Version. Das verstehen die Kunden nicht. Hier muss Klarheit geschaffen werden. Die Pflicht zur Preisbindung bei älteren Titeln darf nur dann einsetzen, wenn sie überarbeitet worden sind oder in veränderter Form neu auf den Markt kommen. ({8}) Meine Damen und Herren, wir werden zudem darüber sprechen, ob die Rabattregelung auch für Privatschulen gilt. Ich denke, das ist notwendig. Wir haben sehr gute Privatschulen. ({9}) Warum sollen nicht auch die in den Genuss dieser Rabattregelung kommen? Ich kann abschließend sagen: Der Trend zum Buch ist Gott sei Dank ungebrochen. Wir können aber noch besser werden. In Finnland werden pro Jahr und pro Bürger - darin sind die Babys, die Kinder und die älteren Leute eingeschlossen - 24 Bücher verliehen. Die Finnen lernen schon im zweiten und dritten Lebensjahr lesen. Wir sollten uns Finnland zum Beispiel nehmen. Wir könnten noch besser sein, auch wenn wir schon gut sind. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 16/238 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Boris Gehring, Priska Hinz ({0}), Krista Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Mehr Qualität für die Hochschulen - Drucksache 16/649 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Kai Gehring vom Bündnis 90/Die Grünen.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es im Hochschulwesen mit einer einmaligen Chance zu tun. Die Zahl der Studienberechtigten wird in den nächsten fünf Jahren um mindestens 20 Prozent steigen. Das ist eine überaus erfreuliche Entwicklung. Uns steht ein kleines Zeitfenster zur Verfügung, um die Studierendenzahlen auf internationales Niveau anzuheben und dem absehbaren Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Doch was macht die große Koalition? Sie plant eine Föderalismusreform, die ein gemeinsames strategisches Handeln des Bundes mit den Ländern stark einschränkt. Das halten wir für einen Irrweg. ({0}) Eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund und Ländern ist bitter nötig, um die Hochschulen auf die stark steigenden Studierendenzahlen vorzubereiten. Nun kündigt Frau Ministerin Schavan einen Hochschulpakt mit den Ländern an. Der Kompetenzverlust wird mit schönen Worten verkleistert. ({1}) Ich meine, gerade dann, wenn Sie einen erfolgreichen Pakt wollen, dürfen Sie diese Föderalismusreform nicht verabschieden. ({2}) Aber immerhin, Sie scheinen den Hilferuf der Hochschulen endlich ernst zu nehmen. Ich bleibe skeptisch, was die Erfolgsaussichten eines freiwilligen Paktes angeht. Einen Pakt für mehr Qualität an den Hochschulen halte ich nur dann für denkbar, wenn die strategischen Ziele stimmen. Zukunftsweisende Hochschulpolitik muss aus unserer Sicht vor allen Dingen drei Ziele verfolgen: erstens die Teilhabe erhöhen und die Mobilität erleichtern, zweitens die Studienplatzkapazitäten erhöhen und drittens - als Leitidee über allem - die Qualität steigern. ({3}) Für einen solchen Qualitätspakt brauchen wir auch einen Ort gemeinsamer Strategiebildung von Bund und Ländern. Daher fordern wir Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Koalition, und Sie, Frau Ministerin Schavan, auf: Sorgen Sie dafür, dass die Studienplatz- und Personalkapazitäten an den Hochschulen an die steigenden Zahlen der Studienberechtigten angepasst werden. Die HRK hat hierzu den bedenkenswerten Vorschlag gemacht, 8 000 Stellen von Professorinnen und Professoren, die ab 2015 pensioniert werden, schon jetzt zu besetzen. Sorgen Sie dafür, dass die Ausgaben für die Hochschulinfrastruktur auf ein angemessenes Niveau angehoben werden und sichern Sie diese langfristig ab. ({4}) Sorgen Sie für ein System, das einen fairen Ausgleich der Studienplatzkosten zwischen den Ländern regelt. Derzeit entsteht ein Wettbewerb um die höchsten Studiengebühren und den schnellsten Studienplatzabbau. Dem muss mit einem intelligenten Anreizmodell entgegengewirkt werden. Ministerpräsident Milbradt und DIW-Forschungsdirektor Professor Wagner ({5}) denken ebenfalls in diese Richtung. Sorgen Sie dafür, dass Hochschulzugänge und -abschlüsse weiterhin bundesweit einheitlich, ohne Abweichungsrecht für die Länder, geregelt werden. ({6}) Anderenfalls verschlechtern Sie die Mobilität von Studierwilligen und Absolventinnen und Absolventen. Überprüfen Sie auch den Zwischenstand im Bolognaprozess. Sie müssen sich um eine gute Akkreditierungspraxis kümmern, vor allem aber dafür sorgen, dass sich Vergleichbarkeit und Mobilität verbessern und ein ungehinderter Übergang von Bachelor- zu konsekutiven Master-Studiengängen überhaupt möglich ist. Wenn wir uns die Realität an den Hochschulen anschauen, dann wird deutlich: Schöne Worte der Ministerin und der Koalitionspartner reichen nicht aus; denn Anspruch und Wirklichkeit klaffen immer weiter auseinander. ({7}) Zahlreiche unionsgeführte Bundesländer führen allgemeine Studiengebühren ein. Studiengebühren bringen weder mehr Qualität noch mehr Kapazitäten, sondern vor allen Dingen weniger Chancengleichheit, neue Zugangshürden und mehr soziale Selektion. ({8}) Mit den gerade genehmigten KfW-Studienkrediten geben die Union und übrigens auch die SPD eine Antwort auf Studiengebühren, die Studierende in eine Schuldenfalle treiben, ({9}) nach dem Motto: Wer vorher wenig hat, muss hinterher besonders viel zurückzahlen, und das ausgerechnet in der Rushhour des Lebens. - Das sind die traurigen Realitäten Ihrer Hochschulpolitik. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Koalition, ich kann Ihnen nur raten: Nehmen Sie die schönen Worte wie Qualität, Teilhabe und Gerechtigkeit erst wieder in den Mund, wenn Sie die Weichen für entsprechende Taten gestellt haben. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Gehring, auch Ihnen gratuliere ich zu Ihrer ersten Rede im Hohen Haus. ({0}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Grütters von der CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Prof. Monika Grütters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003761, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Christoph Georg Lichtenberg, der große Gelehrte, hat 1774 gesagt: Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muß anders werden, wenn es besser werden soll. ({0}) Herr Gehring, Sie haben mit Ihrem Antrag zur Qualität an den Hochschulen Vorschläge unterbreitet, die aus Ihrer Sicht die Situation der deutschen Hochschulen verändern sollen. Ob sie sie auch verbessern, darüber müssen wir noch diskutieren. Wir jedenfalls haben gemeinsam mit Frau Schavan die Weichen gestellt. Ihr wissenschaftspolitischer Auftakt galt insbesondere der Situation an den Hochschulen und dem Bildungsbereich insgesamt. Sie stellen zu Recht dar, dass die Modernisierung unseres Landes ohne gerechte Bildungschancen nicht denkbar ist. Deshalb verweisen Sie in Ihrem Antrag auf die, wie Sie es nennen, Zieltrias Teilhabegerechtigkeit, Kapazitätsausbau und Qualitätssteigerung. Damit liegen Sie in der Tat voll im Trend der Bildungsministerin dieser neuen Regierung. Sie hat schon in der Regierungserklärung deutlich gemacht, worum es ihr geht, wenn sie unser Land zu einer international anerkannten Talentschmiede - so nennt sie es - machen will. Frau Schavan hat damals gesagt: Dazu sind mehr Bildungsbeteiligung, die konsequente Förderung von Exzellenz und mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung notwendig. Dafür brauchen wir Freiraum für junge Talente, für neue Ideen und für unsere Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Herr Gehring wird jetzt gerade gestört, aber in der Tat scheint es so, als ob auch die Grünen Frau Schavan gut zugehört hätten. Sie hat nämlich schon drei Tage nach ihrem Amtsantritt Gespräche mit den Hochschulvertretern und übrigens auch mit den Bildungsministern der Länder aufgenommen. ({1}) - Ja, aber Sie behaupten ja, sie hätte das nicht getan und wir sollten die schönen Worte lassen und erst die Weichen stellen. Sie haben offensichtlich nicht mitbekommen, welche Weichen Frau Schavan - allerdings in den ersten Wochen ihrer Amtszeit - bereits gestellt hat. ({2}) - Frau Kollegin, Sie sitzen in einem fahrenden Zug. Offensichtlich gefällt es Ihnen ja ganz gut. ({3}) Ich sage einmal etwas zum Thema Teilhabegerechtigkeit. Die Erhöhung der Bildungsbeteiligung der gesamten Bevölkerung ist in der Tat der Schlüssel für die Zukunft des Landes. Frau Schavan hat wörtlich gesagt, dass mehr Qualität der Bildung, mehr Teilhabe an Bildung und mehr Gerechtigkeit die Ziele sind, die zu erreichen sie den Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs entwickelt hat. Wir stellen zusammen mit der Wirtschaft immerhin Mittel für die Ausbildung und Weiterbildung aller unter 25-Jährigen zur Verfügung, damit keiner auf der Strecke bleibt. Das hat Herr Gehring in seinem Antrag zu erwähnen vergessen. Sie sagen, das Hauptproblem sei der Hochschulzugang. Aber seien wir doch einmal ehrlich: Das Problem beginnt nicht nach dem Abitur und auch nicht vor der Hochschultür, sondern weit davor in der Bildungsentwicklung, und zwar bei den Grundschulen und am Ende sogar bei der Vorschulbildung, im Kindergarten. ({4}) Da sind, ehrlich gesagt, die Länder am Zuge. Mit dem berühmten Öffnungsbeschluss der 70er-Jahre ist ja versucht worden, genau dieses Missverhältnis bei der Teilhabe sozial Schwächerer am tertiären Bildungsangebot zu korrigieren. Ich frage Sie einmal: Mit welchem Erfolg? Mit gar keinem Erfolg, so weh uns das tut. Auch PISA hat das wieder bestätigt. 35 Jahre später müssen wir sagen: Einfach die Hochschulen zu öffnen, ist nicht die Lösung dieses Problems. Das sehen wir alle in der Analyse gleich. Deshalb müssen Sie die Länder bitten, bei Schulen und Hochschulen - ({5}) - Ich bitte Sie, der Bund leistet an dieser Stelle seinen Anteil. Ich habe schon auf den Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs verwiesen, über den das Ministerium mit der Wirtschaft gemeinsam diese Ausbildungsanstrengungen sichert. Ich weiß nicht, warum die Kollegin so aufgeregt ist. Zum Thema Kapazitätsausbau: Sie beschreiben den zu erwartenden Anstieg der Zahl der Studierwilligen, als ob er eine Bedrohung wäre. Wir sehen darin erst einmal eine hervorragende Chance für Deutschland. ({6}) Womit Sie natürlich Recht haben, ist das allseits bekannte Drama - auch Sie haben keine Weichen dafür gestellt, es anders zu machen - von Überlast und Unterfinanzierung an den Hochschulen. Auch das ist übrigens ein Phänomen, das wir seit 30 Jahren haben. Auch hier ist es ausgerechnet der Bund, der sich jetzt der Misere annimmt. Wir, diese große Koalition, haben uns dem Ziel verschrieben, gemäß der Lissabonstrategie kontinuierlich die privaten und öffentlichen Investitionen in Forschung und Entwicklung bis 2010 auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Nicht die Vorgänger, auch nicht die Grünen, sondern wir haben die 3 Prozent ins Programm geschrieben. ({7}) Darüber hinaus gibt diese Regierung mehr als jede andere vor ihr für den Bildungsbereich aus: 6 Milliarden Euro sind in dieser Legislaturperiode zusätzlich für den Bildungsbereich vorgesehen. So viel hat noch keine andere Bundesregierung vorher in den Bildungsbereich gesteckt. Es sind also die Länder, die wir in die Pflicht nehmen müssen. Die Grünen sind leider an keiner einzigen Länderregierung mehr beteiligt. Vielleicht regt Sie das deshalb so auf. ({8}) Ich versuche es einmal mit dem Beispiel Berlin. Im Jahre 2020 wird in Berlin - das ist unsere Hauptstadt, das betrifft auch Sie - nur noch jeder Zweite im berufsfähigen Alter sein. Das heißt, der Wettbewerb um die Jugend müsste hier mit aller Kraft gefahren werden. Aber was macht der rot-rote Senat mit seinem linken Wissenschaftssenator? In drei Jahren hat diese rot-rote Regierung in Berlin den Hochschulen so viel Geld gestrichen, wie es seit dem Krieg nicht geschehen ist. In der ganzen Nachkriegsentwicklung ist dem Wissenschaftsbereich nicht so viel Geld gestrichen worden. ({9}) Es ist so, dass in Berlin inzwischen drei von vier Studienplatzbewerbern allen Ernstes abgelehnt werden. Sieht so der Wettbewerb um die Jugend aus in einer Zeit, in der wir wissen, dass im Jahr 2020 nur noch jeder Zweite im berufsfähigen Alter sein wird? Dann erfolgt der Appell der Grünen an den Bund: Macht doch einmal was. Aber sie sehen zu, wie vor ihrer eigenen Haustür zwei Drittel der Hochschulkapazitäten binnen drei Jahren gestrichen werden. ({10}) Es ist doch kein Zufall, dass es ausgerechnet der Finanzsenator aus Berlin ist, der als einziger - wenig sachkundig - meint, er müsse zu den Prognosen über den neuen Studentenansturm im „Tagesspiegel“ vorletzte Woche sagen, das sei blanker Unsinn. Ich ahne, warum er das vorsichtshalber sagt. Wir wissen, dass es kein blanker Unsinn ist. Es ist eine Herausforderung an die Bildungspolitik von Bund und Ländern, damit Deutschland seine Chancen gerade im Hinblick auf den Bildungseifer der jungen Generation wahrnehmen wird. Hier geht es vor allen Dingen darum, nicht nur nach Kapazitäten zu rufen, sondern auch Bildungsverläufe zu ändern. Die jungen Menschen müssen, finde ich, in überschaubarerer Zeit, als es zurzeit möglich ist, ihr Studium abschließen können; selbst bei einer Drop-outQuote von 30 Prozent geht es um andere Verläufe. ({11}) Credit-point-Systeme und Prüfungsmuster wie Freischussregelungen sind erste Schritte in die richtige Richtung. Der Bachelor ist ein wichtiger erster berufsbefähigender Abschluss. Damit können die Studenten ihr Studium schneller abschließen. Das zielt natürlich auf den Arbeitsmarkt und auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Herr Gehring, Sie wollen mehr Qualität an deutschen Hochschulen. Das ist gut so. Denn das ist ja auch Konsens. ({12}) Sprechen Sie doch auch einmal mit den Bildungspolitikern Ihrer Koalitionsfraktionen in den einzelnen Bundesländern. ({13}) In Berlin beispielsweise ist es Ihre Kollegin Pau, die ganz vorne mitredet, wenn der Wissenschaftssenator von der Linkspartei wieder so etwas wie Viertelparität einführen will. Das ist das Gegenteil von Qualitätssteigerung. Das ist ein Rückschritt in die wissenschaftspolitische Steinzeit. So funktioniert Qualitätssicherung nicht. ({14}) Dazu sind ganz andere Maßnahmen nötig, Herr Gehring, wie zum Beispiel mehrjährige Verträge und andere Leitungsformen. Unterstützen Sie Bildungsministerin Schavan doch einfach darin, den Einstieg in eine neue Forschungsförderungsstruktur, zum Beispiel durch Berücksichtigung von Overheadkosten, zu bewerkstelligen. Hier greift auch Ministerin Schavans Programm zur Stärkung der Geisteswissenschaften mit 13,5 Millionen Euro, das die Grundlagenforschung in zehn Forschungsverbünden begünstigt. Sie mahnen ja an, dass die Fächer, die nur von wenigen studiert werden, gestärkt werden sollen. Hier hat sie ein Zeichen gesetzt, Bildungspolitik für die Kulturnation Deutschland sichtbar zu machen. Ich komme zum Schluss. Wir fördern auch die Exzellenzinitiative, ein Bundesprogramm, in dessen Rahmen der Bund in großem Umfang ausgewählte Bereiche an den Hochschulen finanziell unterstützt. Sie beklagen, Herr Gehring, dass es durch die Föderalismusreform

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin Grütters.

Prof. Monika Grütters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003761, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- weniger Möglichkeiten in der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern gibt. Wir sehen das anders. Frau Schavan hat sehr umsichtig und von Anfang an einen konstruktiven Dialog mit den Bildungsministern der einzelnen Länder unter Respekt der Länderzuständigkeit geführt. Wir sind auf dem besten Weg, einen Hochschulpakt zu schließen. Sie nennen es Hochschulqualitätspakt. Wir arbeiten schon daran. Ich glaube, wir sollten alle versuchen, die Situation der Hochschulen zu verändern, damit es - frei nach Lichtenberg - nur besser werden kann. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Barth von der FDP-Fraktion. ({0})

Uwe Barth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003735, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Koalitionsvertrag finden sich folgende schöne Worte: Nur an der Spitze des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts wird unser rohstoffarmes Land seine Zukunftschancen wahren. ({0}) Das ist richtig. Dazu brauchen wir starke, autonome Hochschulen mit Spitzenqualität in Forschung und Lehre. ({1}) Werfen wir einen Blick in die Realität. Im letzten Ranking der „Times“ liegt die beste deutsche Hochschule auf Platz 45. ({2}) Spitze ist das nicht. Die Wahrheit ist: Unsere Hochschulen sind weit entfernt von der Weltspitze. Ein wesentlicher Grund hierfür ist ihre notorische Unterfinanzierung. ({3}) - Herr Tauss, ich bin Ihr Verhalten ja aus dem Ausschuss gewohnt; deswegen bringt es mich auch jetzt nicht aus der Ruhe. ({4}) Während die OECD-Länder im Durchschnitt 1,1 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für die Lehre an den Hochschulen aufwenden, sind es in Deutschland gerade einmal 0,65 Prozent. Die Folgen sind überfüllte Hörsäle, schlecht ausgestattete Bibliotheken und ein schlechtes Betreuungsverhältnis. Mehr Qualität für die Hochschulen - so lautet ja die Forderung im Titel Ihres Antrags - ist deshalb dringend nötig. ({5}) Schade ist nur, dass der vorliegende Antrag nicht halten kann, was seine Überschrift verspricht. ({6}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und von der SPD, werter Herr Tauss: Niemand bestreitet, dass in Deutschland Kinder aus Akademikerfamilien häufiger ein Hochschulstudium aufnehmen als Kinder aus Familien mit niedrigeren Bildungsabschlüssen. ({7}) Was ich jedoch vehement bestreite, ist Ihre permanente Behauptung, dies sei eine Folge der materiellen Ausstattung des Elternhauses. ({8}) Nein, das ist vor allem eine Folge der Einstellung des Elternhauses und damit der Einstellung der Kinder zum Wert der Bildung. ({9}) Die Grundeinstellung zu Bildung als Wert muss sich in unserem Land verändern. Der Wert der Bildung muss zuerst in den Elternhäusern erkannt und vermittelt werden. ({10}) Hier besteht offenbar ein signifikantes Defizit, gerade in den Elternhäusern, die Sie als die vom System benachteiligten darstellen. Deshalb ist Ihre Unterstellung, das System betreibe eine beabsichtigte Sozialauswahl, unzutreffend. ({11}) Es geht um die Vermittlung von Leistungsmotivation und von Freude an Bildung, die vor allem in den Familien stattfinden kann. Das ist eine der wesentlichen Grundvoraussetzungen für einen guten Schulabschluss. ({12}) Letztlich wahrt man seine Chance auf ein Hochschulstudium durch gute Leistungen in der Schule, nicht aber durch den Geldbeutel der Eltern. Meine Damen und Herren, auch Ihre Behauptung, die Einführung von Studiengebühren würde den Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungserfolg drastisch verschärfen - so ist es in Ihrem Antrag formuliert -, ist unzutreffend. Tatsache ist: In Ländern mit Studiengebührensystemen - zum Beispiel in den USA, aber auch in Australien und England - gibt es mehr Studierende aus schwächeren Schichten als in Deutschland. ({13}) Auch in dem von mir genannten Ranking liegen viele Hochschulen aus diesen Ländern weit vor unseren. Es muss Schluss sein mit Legendenbildungen, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. ({14}) Wir sagen: Hochschulen müssen frei und unabhängig sein. Sie brauchen wirkliche Autonomie, um sich im internationalen Wettbewerb behaupten zu können. ({15}) Dazu gehören ein eigenständiges Budget, das von ihnen auch selbst verwaltet wird, und die volle Zuständigkeit für ihr eigenes Personal. Die Hochschulen sollen sich ihre Studierenden selbst aussuchen können und umgekehrt. ({16}) Die staatlichen Mittel, die für die Lehre an den Hochschulen bereitgestellt werden, müssen sich zum einen an der Zahl der Studierenden, zum anderen aber auch an der Zahl erfolgreicher Abschlüsse orientieren. So entsteht Wettbewerb unter den Hochschulen und letztlich mehr Qualität. ({17}) Die Hochschulen sollen Gebühren erheben dürfen, um ihre Finanzlage und damit letztlich ihre Qualität verbessern zu können. ({18}) Klar ist: Niemand darf aus sozialen bzw. finanziellen Gründen an der Aufnahme eines Studiums gehindert sein. Deshalb muss es jedem Studierenden ({19}) - darauf komme ich noch zu sprechen - unabhängig vom Einkommen seiner Eltern gesetzlich ermöglicht werden, die entsprechenden Entgelte sofort oder auch nachlaufend zu zahlen. In diesem Zusammenhang finde ich es schon bemerkenswert, dass insbesondere einige Abgeordnete der SPD der Meinung sind, Studienkredite dürften keinesfalls zur Bezahlung etwaiger Studiengebühren verwendet werden. Darüber sollten wir einmal unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit diskutieren. ({20}) Unsere Hochschulen und unsere Studenten brauchen Freiheit und Wettbewerb um die beste Qualität. Das ist der Weg, den wir einschlagen müssen, damit unser rohstoffarmes Land ganz im Sinne Ihrer Koalitionsvereinbarung an der Spitze des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts seine Zukunftschancen wahren kann. Vielen Dank. ({21})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Barth, ich gratuliere auch Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Dieter Rossmann von der SPD-Fraktion. ({1})

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir finden es verdienstvoll, dass die Grünen mit diesem Antrag ins Parlament hineingetragen haben, was viele an den Hochschulen bewegt. Sie begrüßen die Exzellenzinitiative, fragen sich aber gleichzeitig, was es an Hochschulinitiative gibt: für ausreichende Kapazitäten und gute Lehre, und das für möglichst viele Studierende. Die Grünen tragen damit etwas ins Parlament, was bereits von der Ministerin in die Agenda dieser Regierung eingebracht worden ist. Deshalb: Ausdrückliche Anerkennung, dass Sie parlamentarisch die Initiative ergreifen! Gleichzeitig - damit spreche ich auch die Kollegin der CDU an - habe ich die Bitte, dass wir uns, bevor wir mit dem Vorlauf eines kleingemünzten Wahlkampfs beginnen, ganz vorurteilsfrei die Zahlenverhältnisse in Deutschland anschauen. So, wie die Kollegin von der CDU meinte Berlin angreifen zu müssen, wollen wir Berlin natürlich verteidigen. ({0}) Ich will andere Länder nicht unbedingt angreifen, aber mir zumindest einen Hinweis erlauben - er hat etwas damit zu tun, wie wir ausreichende Kapazitäten für die wachsende Zahl von Studierenden in Deutschland aufbauen -: Ausweislich der Statistiken beträgt der Anteil der Studierenden in Berlin gemessen an der Gesamtzahl in Deutschland 7 Prozent. Sein Bevölkerungsanteil liegt aber unter 5 Prozent. Damit engagiert sich das Land Berlin überdurchschnittlich. ({1}) - Das ist eine Hauptstadtaufgabe, aber dennoch eine Leistung, die man anerkennen muss. - Das Land Bayern hingegen hat ausweislich der Statistiken unter 12 Prozent der Studierenden, aber über 14,7 Prozent der Bevölkerung. ({2}) Das größte Bundesland, Nordrhein-Westfalen, gibt 27 Prozent aller Studierenden Bildungschancen. Sein Anteil an der Bevölkerung beträgt 21,7 Prozent. ({3}) Das sind die Zahlen. Wenn es ein Gemeinschaftsanliegen aller Länder wird, Exzellenz nicht nur in der Forschung anzustreben, sondern auch in der Lehre und in der Versorgung der Studierenden, dann haben wir mit diesem Antrag etwas gewonnen; so habe ich auch die Ministerin verstanden. ({4}) Wir diskutieren heute zu später Stunde. Ebenfalls heute hat der Minister für Wissenschaft und Weiterbildung von Rheinland-Pfalz, einem Bundesland, dessen Anteil an den Studierenden mit dessen Anteil an der Bevölkerung zufällig genau übereinstimmt, in einer Regierungserklärung geschildert, wie sich Rheinland-Pfalz einen Ausgleich, ein Engagement der Länder zusammen mit dem Bund vorstellt für den Aufbau von Exzellenz in der Lehre und Exzellenz in der Ausbildung aller Studierenden - auch bei wachsenden Studierendenzahlen. An dieser Stelle lohnt es sich, sich in einen zentralen Punkt des Antrags der Grünen hineinzudenken: Ihr zentraler Punkt ist, dass Sie einen bundesweiten Fonds zur Ausgabe von Studiengutscheinen fordern, den Bund und Länder gemeinsam finanzieren. Dieser Vorschlag deckt sich nicht damit, wie Bund und Länder sich bisher an der Bewältigung von Studienerfordernissen beteiligt haben. Denn in Bezug auf die Hochschulen gibt es - bisher - keine Regelfinanzierung durch die Länder. Rheinland-Pfalz schlägt deshalb vor, dass der Bund einen besonderen Anteil in dem bundesweiten Ausgleich zwischen den Ländern übernehmen sollte: die Leistungen für diejenigen Studierenden, die aus dem Ausland zu uns kommen, etwa aus Entwicklungsländern. ({5}) Rheinland-Pfalz hält das für eine besondere Aufgabe, für die eigentlich kein Bundesland verantwortlich gemacht werden kann. Hier hätte der Bund besondere Verantwortlichkeiten. Damit ist der Charakter des Besonderen bei der Regelfinanzierung durch die Länder hervorgehoben. Es gab immer Sonderprogramme und ein besonderes Engagement. Rheinland-Pfalz hat dort eine besondere Idee. Es lassen sich auch andere besondere Anstrengungen des Bundes mit einfordern, wenn es darum geht, die stark wachsende Zahl der Studierenden zu bewältigen. Wir werben stark dafür, dass die Ministerin zusammen mit den Ministern der Länder auslotet, wo dieser besondere Beitrag liegen kann, der dann auch besonders definiert und besonders mit unterstützt wird. Wir sagen Ihnen gegenüber aber genauso freimütig: Das ist noch nicht entschieden und das kann auch noch nicht entschieden sein, solange diese Debatten laufen. Ihr Antrag wird in einen Ausschuss überwiesen, der sich in den nächsten zwei Monaten, in denen die Ministerin mit den Ländern Gespräche darüber führt, bei dieser Frage sicherlich auch sehr stark engagieren wird. Auch in Übereinstimmung mit der CDU, mit der wir jetzt gemeinsam die Regierung stellen, möchte ich noch einen zweiten Punkt positiv aufgreifen, den wir im Interesse der Sache voranbringen wollen. Frau Grütters sagte, es sei doch gut, dass jetzt auch die KfW Studienkredite anbietet, und zwar zu Kriterien, die uns wichtig waren: keine Bonitätsprüfung, keine soziale Ausgrenzung und anderes mehr. Wir als Sozialdemokraten sagen aber immer: Studienkredite ohne ein leistungsfähiges BAföG wären für uns nur das halbe Bild. Beides gehört uneingeschränkt zusammen. ({6}) Den Grünen müssen wir aber zumindest sagen, dass das mal eine weit nach vorne reichende Idee war, die in Bezug auf nachlaufende Studiengebühren aus dem Bereich der Grünen kam. ({7}) Letztlich ist dies ein Kredit, den man aufnimmt, um ihn dann später, wenn man leistungsfähig ist, abzuzahlen. Deshalb glaube ich, dass es aufgrund der Tradition eines Matthias Berninger keine Fundamentalkritik an dem geben wird, was wir jetzt diskutieren, nämlich an der Tatsache, dass wir den Studierenden anbieten, Bildungskredite à la KfW aufzunehmen. Noch einmal gesagt: BAföG muss bleiben. Zu den Inhalten habe ich noch zwei Anmerkungen zu machen. Sie haben einen Katalog an Ideen angesprochen, in dem viel Länderverantwortung enthalten ist. Wir wollen das aber gerne mit aufnehmen und möchten ergänzen: Wenn es um die Qualität von Hochschulen geht, dann muss es natürlich auch um die Qualität der Dinge gehen, die sich in Bezug auf das Ansteigen der Zahl der Studierenden verändern. Das, was sich an den Hochschulen bei der Vereinigung von Forschung und Lehre abspielt, muss verbessert werden. Was ist eigentlich in Deutschland und in der Welt los, dass wir zwar eine PISA-Studie in Bezug auf Schulen und auch Studien in Bezug auf die Qualität der vorschulischen Bildung haben, dass es aber keine wissenschaftliche Evaluation der Qualität der Lehrer an Hochschulen gibt? Welches Tabu in den Köpfen der Hochschulprofessoren, die in einer gewissen Unangreifbarkeit wegen ihres wissenschaftlichen Forschungsstatus leben, lassen wir ihnen in Bezug auf ihre zweite große Aufgabe, nämlich die Mitorganisation einer exzellenten Lehre, dort durchgehen? Die Ministerin will die Bildungsforschung mit in den Vordergrund stellen. Wir sehen es als einen wichtigen Punkt an, der mit aufgenommen werden sollte, dass die Bildungsforschung in Bezug auf die Qualität von Lehre und die Organisation von Hochschulen dazu gehört. ({8}) Wenn man das aber erforscht, dann gehört dazu auch, dass man Weiterbildung, Fortbildung und all das, was in allen übrigen Lehrbereichen selbstverständlich ist, auch bei den Hochschulen nicht außen vor lässt. Auch in Deutschland gibt es ja schon hochschuldidaktische Zentren. Wir sagen aber: Wenn es in den Jahren 2012, 2013 usw. rund 20 Prozent mehr Studierende gibt, dann muss man jetzt damit anfangen, diese Qualitätszentren für eine gute Lehre in der Zukunft mit aufzubauen. Es gehört dazu - das scheint in Ihrem Antrag etwas unterbelichtet zu sein -, dass wir auch die soziale Lage und die soziale Versorgung bis hin zur Studienberatung von Studierenden verbessern. Ich möchte noch eine Schlussbemerkung an die Kollegin von der CDU richten, die den Philosophen Lichtenberg so schön zitiert hat, einen Geist, den man immer gerne hört. Das Folgende ist nun nicht von Lichtenberg, aber ich möchte in Sachen Föderalismus, über den man ja fast verbotene Debatten führen könnte, so enden - vielleicht hätte Lichtenberg das ja auch zur Föderalismusdiskussion gesagt, wenn es um die Interessen der Studierenden geht -: Lasst doch Geist wachsen, lasst doch Einsicht wachsen und dann vielleicht auch Geld wachsen - bei Bund und Ländern für die Hochschulen und für die Studierenden. Danke schön. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Cornelia Hirsch von der Fraktion Die Linke. ({0})

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal ein Wort an Frau Grütters. Ich glaube schon, dass die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mitbekommen hat, dass die Bundesbildungsministerin einen Hochschulpakt vorgelegt hat. Was sie aber explizit fordern, ist ein Hochschulqualitätspakt. Wir halten es für richtig, dass diese Debatte über die Qualität eingefordert wird, die es bisher in dieser Form nicht gegeben hat. ({0}) Viele der Forderungen, die in dem Antrag genannt werden, finden wir richtig und sie werden von uns auch unterstützt. Das betrifft beispielsweise solche Punkte wie bessere Betreuungsrelationen, höhere Investitionen in den Hochschulbau oder den freien Zugang zum Masterstudiengang. In der Föderalismusdebatte haben wir dazu schon einiges gesagt. Was uns in dem Antrag fehlt, ist das, was im Titel steht, worauf aber fast gar nicht Bezug genommen wird. Im Zusammenhang mit der Qualitätsdebatte stellt sich die Frage: Wie sieht eine Qualitätsentwicklung inhaltlich aus? Dazu steht in dem Antrag relativ wenig. Ich will unsere Positionen einmal grundsätzlich nennen. Wir halten es nicht für sinnvoll, mittels Markt- und Wettbewerbsmechanismen die Qualitätsentwicklung im Hochschulbereich voranzutreiben. Vielmehr setzen wir auf eine demokratische Steuerung. Ich habe in der vorherigen Debatte überhaupt nicht verstanden, warum die Forderung nach Einführung der Viertelparität ein Schritt in die falsche Richtung sein sollte, um eine Qualitätsentwicklung zu erreichen. ({1}) Aus unserer Sicht ist vollkommen klar, dass gerade das ein Schritt zu einer demokratischen Hochschule ist und deshalb dazu beiträgt, eine Qualitätsentwicklung in Gang zu setzen. ({2}) Wenn man sich überlegt, welche Instrumente dazu taugen könnten, um zu einer Qualitätsentwicklung zu kommen, dann möchte ich ein Instrument herausgreifen, das gerade in der Debatte schon kurz angesprochen wurde und aus unserer Sicht gerade nicht dazu führen wird, dass Qualität entsteht. Ich beziehe mich jetzt weniger auf die Debatte zum Länderfinanzausgleich, sondern auf die Debatte zur Qualität der Hochschulen. Es geht um die Einführung von Studiengutscheinen. Studierende bekommen diese zwar laut dem Konzept zunächst einmal kostenlos zugeteilt und sollen sie dann verwenden, um sich dafür die entsprechenden Dienstleistungen zu kaufen. Erstens. Solche Gutscheine werden natürlich begrenzt sein. Von daher halte ich es von den Grünen für ziemlich doppelzüngig, sich auf der einen Seite klar gegen Studiengebühren auszusprechen, aber auf der anderen Seite die Einführung von Studiengutscheinen zu fordern. ({3}) Zweitens - das bezieht sich eher auf die Debatte zur Qualitätsentwicklung -: Man muss sich die Frage stellen, wie sich ein Instrument wie die Studiengutscheine auf das Angebot der Hochschulen auswirken wird. Wenn die Studiengutscheine die Nachfrage darstellen sollen, dann ist doch klar, dass sich das Studienangebot an der Nachfrage ausrichtet. Wenn eben keine Nachfrage vorhanden ist oder die Nachfrage nicht groß genug ist, wird das Angebot vom Markt genommen. Uns würde interessieren, welchen Platz Studiengänge wie Altorientalistik oder Kunstgeschichte dann noch an der Hochschule haben. Aus unserer Sicht gehören sie aber zu einer qualitativen Entwicklung einer Hochschule unbedingt dazu. ({4}) Ein Instrument, das in dem Antrag genannt wird, möchte ich gerne noch ansprechen. Es geht um die Akkreditierung. Hier steht nur sehr allgemein, dass das Akkreditierungssystem weiterentwickelt werden soll. Ich finde es wichtig, dass wir uns das derzeitige Akkreditierungssystem genau ansehen, weil es reichlich absurd ist. Der Akkreditierungsrat akkreditiert private Akkreditierungsinstitute. Diese akkreditieren dann an den Hochschulen gegen Geld die Studiengänge. Ein Beispiel, wie dadurch definitiv keine Qualität entsteht, konnte kürzlich an der Universität Leipzig erlebt werden. Weil Akkreditierung teuer ist, verständigte man sich darauf, eine so genannte Cluster-Akkreditierung durchzuführen. Das bedeutete, an drei Tagen 27 Studiengänge zu überprüfen. Wie so Qualität entstehen soll, ist uns vollkommen schleierhaft. ({5}) Was wir uns wünschen, ist, dass gerade die Aspekte Instrumente der Qualitätsentwicklung und speziell Akkreditierungssysteme in der Ausschussdebatte aufgegriffen werden. Wenn der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen einen Beitrag leisten kann, um dazu einen Impuls zu geben, dann halten wir das für richtig und sinnvoll. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 16/649 an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef Parr, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Sprint-Studie des Deutschen Sportbundes darf nicht folgenlos bleiben - Jetzt bundesweite Wende im Schulsport einleiten - Drucksache 16/392 Überweisungsvorschlag: Sportausschuss ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Debatte eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Detlef Parr von der FDP-Fraktion das Wort. ({1})

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast zwei Jahrzehnte herrschte wissenschaftliche Zurückhaltung hinsichtlich einer umfassenden Untersuchung des Schulsports in Deutschland. Jetzt liegt endlich in Form der Sprint-Studie eine systematische Bedingungs- und Situationsanalyse vor, die die bisherigen Einzeluntersuchungen weit übertrifft. In diesem Zusammenhang möchte ich den deutschen Bewerberstädten für die Olympischen Spiele 2012 meinen Dank aussprechen. Sie haben sich auf Initiative des Bundestages zur Finanzierung dieser Studie verpflichtet und damit für wertvolle Erkenntnisse zur zukünftigen Neugestaltung des Schulsports gesorgt. Wie auch immer wir diese Studie bewerten, wir sollten uns in einem Punkt einig sein: Sie muss die Grundlage für notwendige konkrete Reformschritte sein und sie darf nicht nach einem Aufflammen der öffentlichen Diskussion zum Strohfeuer werden und bei Bund und Ländern in den Schubladen verschwinden. Zu eindeutig sind auch die in anderen Untersuchungen getroffenen Feststellungen zum Gesundheitszustand unserer Kinder einerseits und zum sportlichen Leistungsvermögen und der Leistungsbereitschaft andererseits. Wir müssen diese Botschaften ernst nehmen. Zu lange haben wir die Spaß- und Kuschelpädagogik als vermeintlichen Fortschritt gepflegt ({0}) und die Werte des Sich-Anstrengens und Leistens und eines damit verbundenen anspruchsvollen Übens und Trainierens aus dem Blick verloren. ({1}) Der Sportausschuss des Deutschen Bundestages beschäftigt sich jetzt schon in der dritten Legislaturperiode mit dem Schulsport. Die Bildungspolitik ist zwar Ländersache und wir wollen nicht am föderalen Prinzip rütteln, aber wenn die zunehmenden Alarmmeldungen vor allem aus dem Gesundheitsbereich - ich nenne nur die Stichworte „Übergewicht“, „Herz-Kreislauf-Probleme“ und „Haltungsschäden“ -, aber auch aus dem Leistungssport keine wesentlichen Konsequenzen nach sich ziehen, dann dürfen wir uns als Bundespolitiker und der Bund als Mitglied in der Kultus- und Sportministerkonferenz nicht vor der Verantwortung drücken. ({2}) Deshalb stellt die FDP diesen Antrag heute zur Diskussion, um einen Anstoß zu einer bundesweiten Wende im Schulsport zu geben, die wir alle gemeinsam tragen sollten. ({3}) - Wenn Sie mir eben zugehört hätten, dann würden Sie jetzt nicht diese Zwischenfrage stellen, Herr Kollege. Es ist zu wenig, wenn die im Jahr 2000 erarbeitete gemeinsame Erklärung von DSB, KMK und SMK vor Weihnachten wolkig-unverbindlich fortgeschrieben wird. Wir brauchen eine neue konkrete schulische Sportkultur, für die wir in den Gremien offensiv eintreten müssen. Wenn wir uns auf der Bundesebene einigen, dann werden wir auch die Länder überzeugen können. Die neue schulische Sportkultur muss auf drei Säulen basieren: auf Bewegungsvielfalt, sportlichem Können und Leisten sowie durch Fairness geprägter sozialer Kompetenz. ({4}) Das alles muss sich am Leistungsvermögen jedes Einzelnen orientieren, das auch in der Benotung zum Ausdruck kommen sollte, und zwar weg von den wenig differenzierenden Ziffernnoten hin zu einer verbalen Beurteilung der Leistungen, die auch außerschulisches Engagement und ehrenamtliche Tätigkeiten mit einbeziehen. ({5}) Wir wollen über den Sportunterricht Sport und Bewegung für möglichst viele Menschen zu einem selbstverständlichen Teil ihres Lebens machen. Präventives Verhalten nimmt vor dem Hintergrund der Entwicklung unseres Gesundheitssystems an Bedeutung zu. Es ist zuallererst eine Frage der Verbesserung der Lebensqualität für jeden Einzelnen. Aber auch volkswirtschaftlich werden wir auf lange Sicht Nutzen daraus ziehen können. Bundesweit ist eine Einigung auf klare Zielsetzungen im Sportunterricht notwendig - bisher gibt es bei 16 Bundesländern acht unterschiedliche Zielvorgaben des Schulsports -, ({6}) die sowohl auf Gesundheits- als auch auf Leistungsförderung ausgerichtet sind. Wir brauchen des Weiteren einen leistungsorientierten erziehenden Sportunterricht, der sich nicht nur auf die Schule konzentrieren darf, sondern auch eine Brücke zu außerschulischen Aktivitäten bauen muss. ({7}) Die Kooperation von Schule und Verein ist nichts Neues, kann aber zum Beispiel durch die teilweise Freistellung von Lehrkräften für diese Aufgaben intensiviert werden. In diesem Zusammenhang gehören unsere Eliteschulen des Sports auf den Prüfstand. Die unterschiedlichen Ergebnisse in Ost und West geben zu denken. Wir stellen uns des Weiteren eine bundesweite Jugendmeisterschaft nach australischem Vorbild vor, die an den Olympischen Spielen orientiert ist und an die Stelle anderer schulischer Wettkämpfe tritt. Ich kann aus Zeitgründen nur einige Punkte aus unserem Antrag erläutern und freue mich deshalb auf unsere Diskussion im Ausschuss. Vor allem bin ich gespannt - der Kollege Danckert ist leider nicht anwesend -, wie die SPD und die Union auf unseren seit langem vorgetragenen Vorschlag eines „Goldenen Planes für Gesamtdeutschland“ reagieren werden. Unsere Sportstätten sind die Voraussetzung für qualitativ hochwertigen Schulsport. Mit dem Ganztagsschulprogramm - auch hier handelt es sich um eine Länderaufgabe, der sich der Bund angenommen hat - hat der Bund einen Anstoß gegeben, den die Bundesländer aufgegriffen haben. Das sollte auch bei der Förderung unserer Sportstätten möglich sein. Zum Abschluss noch eine Bemerkung der Präsidentin des Weltrates für Sportwissenschaft, Frau Professor Gudrun Doll-Tepper. Sie hat auf dem Weltgipfel zum Schulsport in der Schweiz Folgendes gesagt: Im internationalen Kontext ist die Sprint-Studie auf großes Interesse gestoßen; sie kann beispielgebend für andere Länder sein. So sollten auch wir sie in unsere Arbeit einordnen. Ich danke Ihnen, dass Sie zugehört haben. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Riegert von der CDU/CSU-Fraktion.

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zuerst mit dem Positiven beginnen. Dass heute im Bundestag über den Schulsport diskutiert wird, ist ganz eindeutig ein Verdienst der FDP. Das Thema nehmen wir dankbar auf. ({0}) Des Weiteren möchte ich Dank an unseren alten Sportsfreund Klaus Kinkel sagen, der dieses Thema vor vielen Jahren aufgegriffen hat. Als Bayern, das Saarland und Hamburg den Schulsport zurückfahren und Unterrichtsstunden streichen wollten, haben wir durch einen Anstoß von Klaus Kinkel und eine Anhörung im Sportausschuss eine Wende eingeleitet. Im FDP-Antrag ist von Entwicklungsstörungen, Koordinationsproblemen, Juniordiabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen die Rede. Natürlich kann das alles nicht allein auf den mangelhaften Schulsport zurückgeführt werden. Aber in der Tat zeigt die Sprint-Studie Defizite auf. Diese beginnen schon bei der Qualität des Sportunterrichtes, die von der Sportstättensituation und der Qualität der Ausbildung der Sportlehrer abhängt. Das ist der erste Punkt. Zum Zweiten wird in der Studie am Beispiel der Schwimmbäder klar gemacht, wie sich die Situation der Schulsportstätten auswirkt. Wenn zunehmend Schwimmbäder geschlossen werden und Bäder nur noch als Spaßbäder eröffnet werden, dann haben wir beim Schulsport und insbesondere beim Schwimmunterricht natürlich Probleme. Der dritte Punkt, der in der Studie als Defizit angesprochen wird, ist, dass oft fachfremder Unterricht gegeben wird. Der vierte Punkt betrifft die Einstellung der Schulleiter und der Kollegien gegenüber dem Schulsport. Wir Sportpolitiker leiden ein bisschen darunter, dass wir in unseren Fraktionen nicht immer den notwendigen Widerhall finden. Dass wir heute zu so später Stunde über dieses Thema diskutieren, zeigt ein Stück weit, dass der Stellenwert des Schulsports nicht so hoch ist, wie er eigentlich sein sollte. Als fünften defizitären Punkt wird in der Studie auf die hohe Ausfallquote beim Schulsport hingewiesen. Die Ergebnisse der Sprint-Studie müssen in den Bundesländern aufgegriffen werden. Umfang und Qualität des Schulsports müssen verbessert werden. Die Bundesländer arbeiten bereits daran. Ich weiß, dass beispielsweise in Baden-Württemberg schon einiges geschehen ist. Wir werden außerdem genau beobachten, was die FDP in NRW, wo ein freidemokratischer Minister für den Sport zuständig ist, auf diesem Feld leistet. ({1}) Der FDP-Antrag ist zu undifferenziert. Ich nenne nur drei Beispiele. Erstens. Es wird eine bundesweite Jugendmeisterschaft nach australischem Vorbild gefordert. Ich frage mich, warum nach australischem Vorbild. ({2}) Wir haben die Bundesjugendspiele, „Jugend trainiert für Olympia“ und - wenn man in die Vergangenheit schaut die Spartakiade als Vorbild. Wir haben gezeigt, dass wir bundesweite Wettbewerbe und Jugendmeisterschaften erfolgreich organisieren können. Der zweite Punkt betrifft Marketingmaßnahmen bei den Bundesjugendspielen. Ich weiß nicht, welche Marketingmaßnahmen Sie bei den Bundesjugendspielen planen. Ich glaube, wenn dort die Leistung stärker zählt, dann kommen wir schon ein großes Stück weiter voran. Der dritte Punkt ist die Sportbenotung. Sie haben sie in Ihrer Rede angesprochen. Eine verbale Sportbenotung und die Möglichkeit, dass ehrenamtliches Engagement im Zeugnis festgehalten werden kann, gibt es in BadenWürttemberg mit dem Zeugnisbeiblatt schon seit zehn Jahren. Die pädagogische Note kann bis zu zwei Zehntel positiv oder negativ abweichen. Wir hören, dass man dabei ist, dieses Zeugnisbeiblatt, das wir seit zehn Jahren haben, jetzt auch in NRW einzuführen. Damit sind wir schon ein gutes Stück vorangekommen. Wozu ich aber ein klares Wort sagen will, ist Folgendes: Wir dürfen die Schulsportnoten nicht abschaffen. ({3}) Sie werden ohnehin schon kritisch betrachtet, weil sie im Vergleich zu denen der anderen Fächer viel zu gut ausfallen. Wer Schulsportnoten abschafft, der wird Sport zum Randfach machen und kein gutes Ergebnis erhalten. ({4}) Lassen Sie mich zum Ergebnis der Sprint-Studie einige Sätze sagen. Erstens hat die Sprint-Studie festgestellt, dass sich Sport als Bildungsfach etabliert hat. Zweitens hat die Studie festgestellt, dass Sportlehrer von Schülern sportfachlich und pädagogisch positiv beurteilt werden. Drittens werden bei Sportlehrern ein hohes Fort- und Weiterbildungsengagement und hohe außerunterrichtliche Kompetenz festgestellt. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei den Sportlehrern, die sich bei mir zu Hause für „Jugend trainiert für Olympia“ engagieren, bedanken. ({5}) - Ich korrigiere mich. Ich habe die Erfahrungen bei mir zu Hause geschildert. Ich möchte mich natürlich bei allen Sportlehrern bedanken, auch bei denen, die bei Ihnen zu Hause sind. ({6}) Die Studie hat viertens festgestellt, dass die Schüler im Sport leistungswilliger als in den anderen Fächern sind. Fünftens schätzen Schüler, Eltern und Lehrer den Sportunterricht und erkennen die Wichtigkeit des Sportunterrichts an. Abschließend kann ich nur sagen, dass der FDP-Antrag - ich habe Defizite genannt - nur Teilaspekte aufzeigt. Was die Überschrift des Antrags betrifft - SprintStudie des Deutschen Sportbundes darf nicht folgenlos bleiben - Jetzt bundesweite Wende im Schulsport einleiten -, so kann ich in der Schulsprache nur sagen: Thema verfehlt, Fünf, setzen! ({7}) - Es sind auch richtige Elemente darin. Ich habe von der Überschrift gesprochen. Deswegen keine Sechs, sondern eine Fünf. Der Antrag hat wichtige Teilaspekte. Wir werden deshalb diesen Antrag in den Ausschuss überweisen und dann einen Koalitionsantrag einbringen, der die gesellschaftspolitischen und die sportpolitischen Aspekte des Sports einschließlich des Schulsports und anderer Elemente umfasst. Dann werden wir hoffentlich einen gemeinsamen Antrag des ganzen Hauses zum Sport bzw. Schulsport hier beschließen. Danke schön. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Katrin Kunert von der Fraktion Die Linke. ({0})

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vergangenen Tage bei Olympia in Turin wurden durch Otto und Fischer und Co zu Tagen der Seniorinnen und Senioren im Leistungssport. Letztes Wochenende bei den Deutschen Hallenmeisterschaften der Seniorinnen und Senioren der Leichtathletik wurde Katrin Kunert mit ihrer Staffel Vizemeisterin. ({0}) Die Zahl der Sportbegeisterten ab 30 aufwärts wächst. International stehen die Deutschen an erster Stelle. Die Anzahl der Europa- und Weltmeistertitel, die die Seniorinnen und Senioren in der Leichtathletik holen, wünsche ich mir auch für den Leistungssport. ({1}) Der Anteil der Seniorinnen und Senioren beim Deutschen Leichtathletik-Verband hat sich von 1984 bis heute von 30 Prozent auf 46 Prozent erhöht. Warum ist das so? Fest steht, dass für die Motivation für das weitere oder wieder begonnene Sporttreiben vor allem die Erfahrungen aus der Kindheit und aus dem Schulsport wichtig sind. Wer einmal Freude an der Bewegung und die Vorteile von Teamarbeit gespürt hat, eine bessere Fitness und einen gesunden Ehrgeiz besitzt, der zieht die Turnschuhe irgendwann wieder an. ({2}) Schulsport von heute ist jedoch oftmals eine Pflichtübung und steht auf der Liste der wichtigsten Fächer hintenan. Uns überraschen die Ergebnisse der Sprint-Studie nicht. Sie bestätigen gefühlte Werte. ({3}) - Wäre es möglich, dass die Herrschaften vielleicht mal etwas zuhören könnten?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kolleginnen und Kollegen, würden Sie bitte der Rede folgen oder den Raum verlassen!

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Im Sport geht man fair miteinander um. Das könnte auch im Bundestag mal auf der Tagesordnung stehen. ({0}) Herr Parr, wir werden Ihren Antrag unterstützen, weil er die Möglichkeit bietet, die für den Schulsport Verantwortlichen endlich zusammenzuführen und Nägel mit Köpfen zu machen - auch wenn wir im Detail Klärungsbedarf sehen. Ich finde, der Unterstellung, dass sich die Politik immer nur dann mit dem Sport beschäftigt, wenn große Events anstehen, sollten wir mit aller Ernsthaftigkeit entgegentreten. Vor allem müssen wir ein gewisses Maß an Verbindlichkeit an den Tag legen; ansonsten reden wir hier in diesem Hause alle Jahre wieder über die gleichen Themen. ({1}) Auch für den Schulsport gilt: Wenn bundesweit gültige Mindeststandards durchgesetzt werden sollen, dann müssen wir die Kleinstaaterei im Bildungswesen überwinden. ({2}) In 16 Bundesländern gibt es acht Zielvorgaben für den Schulsport; Sie haben darauf hingewiesen. Circa 70 Gremien bilden in Deutschland Sportpädagogen aus. Es wird viel geforscht, aber viel zu wenig effizient und praktikabel ausgebildet. Die Föderalismusdiskussion zeigt, dass nur ein zukunftsfähiges Nebeneinander von bundespolitischer Rahmensetzung und landespolitischer Detailsteuerung zum Erfolg führen kann. Referendare ziehen Warteschleifen, weil Stellen fehlen. Die Bundesländer verlassen sich aufeinander und die Sportlehrerausbildung ist verlassen. So sollte der Studiengang Sportwissenschaften an der Uni Halle in Sachsen-Anhalt aus Kostengründen geschlossen werden. Verantwortlich dafür war ein FDP-Kultusminister. Die Schulunterrichtsstunden für den Sport wurden von drei auf zwei pro Woche reduziert. In Hamburg, der so genannten Sportstadt, wird der Schwimmunterricht ab August 2006 privatisiert. Schwimmmeister vergeben dann die Noten. In Hamburg gibt es zwar die geforderte dritte Sportstunde; aber sie ist im Lehrplan flexibel gestaltet und fällt so anderen Fächern zum Opfer. Kinder brauchen Bewegung und Aktivität in biologischer, psychologischer und sozialer Hinsicht, um sich erproben und altersgerecht entwickeln zu können. Für die Vielzahl der Kinder und Jugendlichen ist der Schulsport die einzige Möglichkeit zur sportlichen Betätigung. Deshalb stehen für uns nicht die Leistung und die Nachwuchssicherung für Sportvereine im Vordergrund, sondern die Vermittlung der Grundlagen des Sports. Da meine Redezeit zu Ende geht, möchte ich zusammenfassend sagen, welche Schwerpunkte wir für die Diskussion sehen: klare Orientierung und Standards für alle Bundesländer für die Sportlehrerausbildung und die Unterrichtsinhalte; generelle Einführung der dritten Sportunterrichtsstunde; durchgängiger Einsatz von ausgebildeten Sportlehrern ab der Grundschule - das heißt natürlich, dass der Einstellungskorridor für junge Lehrer geöffnet werden muss -; Sicherstellung des Schwimmunterrichts; ausreichende Weiterbildung; Sicherstellung der Finanzierbarkeit des Schulsports; ein angemessenes Angebot an Wettkämpfen. In dieser Hinsicht ist die Spartakiadebewegung in der DDR durchaus ein lohnendes Beispiel. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Martin Gerster von der SPD-Fraktion. ({0})

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir von der SPD-Fraktion sind für den FDPAntrag sehr dankbar, weil er uns die Gelegenheit gibt, in diesem Hause über Schulsport zu reden, aber auch darüber, wer an der Schulsportmisere in Deutschland schuld ist. Die Diskussion um den Schulsport ist schon etwa 20 Jahre alt; seit 20 Jahren wird über das diskutiert, was im Schulsport im Argen liegt. Ein Artikel aus der „Frankfurter Rundschau“ von vor 20 Jahren belegt dies. Damals gab es ein Aktionsprogramm der Kultusministerkonferenz und des Deutschen Sportbundes. Die Probleme von damals sind auch die Probleme von heute: hoher Unterrichtsausfall, zu wenig qualifizierte Lehrkräfte und geringe Hallenkapazitäten. Da ist es nicht erstaunlich, dass die SPD-Bundestagsfraktion das Thema Schulsport schon vor 20 Jahren im Deutschen Bundestag auf die Tagesordnung gebracht hat. Ich zitiere die frühere Bundesministerin Wilms von der damaligen CDU/ CSU-FDP-Bundesregierung. Die Entwicklung des Schul- und Hochschulsports falle in erster Linie in die Zuständigkeit der Länder, war die lapidare Antwort auf die Initiative damals. - Was damals richtig war, ist heute natürlich auch noch richtig. Es ist schon interessant, dass vor einer halben Stunde hier vonseiten der FDP-Fraktion im Rahmen der Debatte über den Föderalismus noch gesagt wurde, der Bund dürfe den Ländern in Sachen Schule nicht hineinreden, und jetzt ein FDP-Antrag vorliegt, nach dem der Bund in Sachen Schulsport sehr wohl hinreden soll. ({0}) Es ist ganz klar, warum der FDP-Antrag hier im Bundestag und nicht etwa in den Ländern gestellt wird. Im Landtag von Baden-Württemberg beispielsweise könnte ein solcher Antrag auch gestellt werden. Bei näherer Betrachtung stellt sich ganz schnell heraus: Wo die FDP mit in der Regierungsverantwortung ist, ist es um den Schulsport gar nicht so gut bestellt. ({1}) Die Kollegin Kunert hat dazu vorhin schon etwas angeführt. In Hamburg beispielsweise gab es in der unsäglichen Koalition mit der Schill-Partei ein neues Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte, bei dem die Lehrkräfte für Sport degradiert wurden, weil der Schulsport dort wesentlich weniger wichtig war als beispielsweise der Deutschunterricht. ({2}) - Das ist richtig, Frau Homburger. ({3}) In Niedersachsen - Kollegin Kunert hat das ebenfalls angesprochen - wurde der Schwimmunterricht kaputtgemacht, wurden Lehrerstellen gestrichen und wurde die Verantwortung den Eltern übertragen. Wenn die Mutter oder der Vater nicht kann, fällt der Schwimmunterricht eben aus. Das ist nicht der Schulsport, den wir von der SPD-Bundestagsfraktion uns wünschen. ({4}) Ihr Antrag in allen Ehren, aber ich muss sagen: Es ist unredliche Politik, wenn man hier einen solchen Antrag einbringt, in den Ländern jedoch anders handelt. ({5}) - Herr Parr, ich komme darauf noch zu sprechen. ({6}) Konkret zum Antrag. Sie fordern dazu auf, Konsequenzen aus der Sprint-Studie zu ziehen, diese Studie auszubauen, zu erweitern und darüber zu diskutieren. Ich war im Dezember selbst auf einer Tagung in Karlsruhe, bei der es genau um dieses Thema ging. ({7}) Sehr interessant war, dass am Empfang an alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein Papier mit ergänzenden Informationen der Landesregierung Baden-Württemberg zur Sprint-Studie ausgehändigt wurde. Ich fand es schon fast kurios, dass darin mehr oder weniger gesagt wurde, die Sprint-Studie sei unseriös, was die wissenschaftliche Ausarbeitung angehe, ({8}) eine fragwürdige Methodik sei angewandt worden und um den Sport in der Schule sei es gar nicht so schlecht bestellt, wie in der Sprint-Studie behauptet werde. ({9}) Das fand ich schon sehr merkwürdig. ({10}) Hier bringt die FDP einen solchen Antrag ein und von der Landesregierung Baden-Württemberg heißt es, um den Schulsport sei es gar nicht so schlecht bestellt. Deswegen fragen wir uns natürlich: Warum debattieren wir die Sache überhaupt, wenn es um den Schulsport doch gar nicht so schlecht bestellt ist? ({11}) Wir diskutieren Ihren Antrag leider mit dem Ergebnis, dass wir ihn ablehnen müssen; denn auch inhaltlich hat er nicht das Potenzial, um den Schulsport wirklich zu retten. Die FDP fordert in ihrem Antrag leistungsorientierten erziehenden Schulsport. Ein Ergebnis der Studie ist nach unserer Meinung aber, dass der leistungsorientierte erziehende Sportunterricht, wie Sie ihn fordern, junge Leute gerade abschreckt. Wir müssen in Baden-Württemberg - Frau Homburger, Sie bringen das immer wieder zur Sprache - und in allen anderen Ländern einen Sportunterricht durchführen, ({12}) der junge Leute ermuntert, Sport zu treiben, ({13}) sich für den Sport zu begeistern. ({14}) Deswegen ist der Schluss, den Sie aus der Studie ziehen, falsch. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Hermann ({15}) Die FDP fordert eine Rückbesinnung auf traditionelle Sportarten, weil ansonsten angeblich der Leichtathletik der Nachwuchs wegbricht. ({16}) Wir sagen: Der Schulsport ist keine Produktionsstätte für Hochleistungssportler, ({17}) sondern er ist dafür da, jungen Leuten Mut zu machen, Sport zu treiben und sportlich aktiv zu sein. In einer Sache haben Sie, Herr Parr, völlig Recht. Die Sprint-Studie ist richtig und wichtig. Wir von der SPDBundestagsfraktion stehen ohne Wenn und Aber hinter dieser Studie. Wir wollen eine bessere Ausbildung für die Lehrkräfte im Sport; völlig d’accord. Wir wollen, dass der Sportunterricht nicht ausfällt, sondern dass er in den Schulen tatsächlich stattfindet. ({18}) Wir wollen eine gleichberechtigte Stellung des Schulsports mit anderen Fächern. Wir wollen einen Schulsport, der Kinder und Jugendliche für den Sport begeistert. Wir wollen mehr Schulen mit sportlichem Profil und einer bewegten Schul- und Lernkultur. Wir wollen, dass Sportvereine in die Schulen kommen können, insbesondere in die Ganztagsschulen; dann sollen aber bitte schön die Übungsleiterinnen und Übungsleiter auch entsprechende Vergütungen für das bekommen, was sie an diesen Schulen leisten. ({19}) Ich sage ganz bewusst: Wir wollen mehr Kooperationen zwischen den Sportvereinen und den Schulen. Wir wollen aber auch mehr Elternaufklärung über Elternabende und andere Veranstaltungen, damit den Eltern bewusst gemacht wird, welche Bedeutung der Sport tatsächlich in unserer Gesellschaft für die Erziehung und für das Aufwachsen von jungen Leuten hat. Wir wollen Qualitätssicherung in der Fachlehrerausbildung und - da bin ich mit Ihnen vollkommen d’accord - nationale Bildungsstandards auch beim Schulsport. Wir wollen - auch das ist ein wichtiger Punkt - mehr Kooperation im Vorschulbereich, also dass schon früher mit dem Schulsport begonnen wird. ({20}) Die Umsetzung all dieser Forderungen ist Ländersache. Deshalb fordere ich Sie ganz klar auf: Sprechen Sie mit Ihren Landesministern und Landesministerinnen, ({21}) damit auf allen Ebenen etwas zustande gebracht wird und wir hier nicht auf der einen Seite Scheindebatten führen, aber auf der anderen Seite die Bundesländer den Schulsport als finanziellen Steinbruch benutzen und die Mittel dafür kürzen. Herzlichen Dank. ({22})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Gerster, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Hermann vom Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich halte jetzt auch eine Jungfernrede, denn ich durfte noch nie als letzter Redner zu so später Stunde vor so viel Publikum sprechen. Ich bedanke mich im Voraus für Ihre Aufmerksamkeit. ({0}) Die Kollegen haben ja schon alles Mögliche aus der Sprint-Studie angeführt. In der Kürze meiner Redezeit kann ich nur ein paar neue Aspekte hinzufügen. Im Rahmen dieser Studie wurden die Schüler ja zum ersten Mal befragt, wie sie Sportunterricht wahrnehmen, was sie von ihm erwarten, was ihnen fehlt und was sie stört. Interessant ist, dass die Studie zutage gefördert hat, dass im Unterschied zu früher Sportunterricht inzwischen bei Schülern einen hohen Stellenwert hat, ja mit am besten im Fächerkanon der Schule angesehen ist und dass inzwischen auch die Schulleiter, die Kollegen und die Eltern den Sportunterricht weitaus höher einschätzen als früher. Umso bitterer ist es, wenn dieser Unterricht häufig ausfällt. Andererseits beklagen die Schüler, dass der Unterricht oft nicht das bringt, was sie erwarten. Sie vermissen Elemente, die sie aus der modernen Sportwelt mitbekommen. Was erwarten diese Schüler genau? Sie wollen die neuen Freizeit- und Erlebnismöglichkeiten, die es auf der Straße gibt, kennen lernen; das würden sie gerne auch in der Schule vermittelt bekommen. Ein anderer Punkt, über den sich beklagt wird, sind die Leistungsanforderungen. Es ist richtig, Herr Kollege Parr, dass herausgekommen ist, dass die Schüler den Sportunterricht als einen Ort ansehen, wo sie sich beweisen können, wo sie etwas leisten können, wo sie gefordert werden wollen. Das leistet schlechter Sportunterricht teilweise nicht. Das Problem ist nicht, dass hier Kuschelpädagogik betrieben wird. ({1}) Darum geht es nicht, sondern es geht um falsche Leistungsanforderungen. Es stört die Schüler, wenn man an alle den gleichen Maßstab legt, obwohl sie höchst unterschiedlich sind, wenn man sich formaler Messmethoden bedient, wenn man sie in althergebrachter Art und Weise auf die immer gleiche Art und Weise Runden laufen und immer nur dieselben alten Sportarten betreiben lässt. ({2}) Hier liegt das Problem. Ein solcher Unterricht ist nicht wirklich interessant für sie. Ich komme nun zum Antrag der FDP. Hierzu wurde schon einiges Kritisches gesagt. Aus meiner Sicht ist dieser Antrag nicht Fisch und nicht Fleisch. Er hat extrem zentralistische Züge und ist sehr staatsfixiert - ganz im Gegensatz zu dem, was Sie sonst immer fordern. Sie erwarten vom Bund, dass er alles richtet. ({3}) - Nein, Sie müssen einmal Ihren eigenen Antrag ernst nehmen. ({4}) Es ist absurd, welche Forderungen Sie darin an die Bundesregierung stellen. Das geht ja bis hin zur Aufforderung, flächendeckend für eine angemessene SportinfraWinfried Hermann struktur zu sorgen. Das ist aber nicht Aufgabe der Bundesregierung. Was ist zu tun? Ich glaube, wir müssen das Sportkonzept durch Einbeziehung moderner Sportarten und Schaffung vielfältiger Bewegungs-, aber auch Auswahlmöglichkeiten weiterentwickeln. Auf gar keinen Fall - da kann ich dem Kollegen Gerster voll und ganz zustimmen - kann die richtige Antwort die Rückkehr zu alten Konzepten sein. Gerade die Sportartenpädagogik ist in den Unterrichtsplänen längst überholt. In allen Bundesländern geht man eher von modernen Bewegungsfeldansätzen aus, die Sie in Ihrem Antrag beschimpfen. Genau das, was Fortschritt bedeutet und was die Schüler anerkennen, wollen Sie zugunsten der alten Sportarten wieder abschaffen. Das ist beschränkt; es ist kein Fortschritt und bringt uns nicht weiter. Es ist, lieber Kollege, leider keine Wende im Sportunterricht. Eine Wende ist übrigens auch gar nicht nötig. Wir brauchen eine Weiterentwicklung, einen Sprung nach vorne. Was Sie vorschlagen, ist jedoch eine Wende rückwärts, jedenfalls in Teilbereichen. Sie erwähnen auch den Gesundheitsaspekt; das ist gut. Aber in anderen Bereichen bedeuten Ihre Forderungen keinen Fortschritt. Ich finde, Ihr Antrag ist kein besonders intelligenter Anstoß für eine Debatte über einen modernen Sportunterricht. Ich bedanke mich. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/392 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. ({0}) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Kornelia Möller, Katrin Kunert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Übertragung der im Jahr 2005 nicht genutzten Mittel der Arbeitsmarktpolitik ins Jahr 2006 - Drucksache 16/546 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Sabine Zimmermann von der Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Zimmermann, Sie haben das Wort. ({1})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Riegert, wie soll es mir denn gehen: Ich spreche jetzt um 22.01 Uhr zum Thema Arbeitslosigkeit. ({0}) Da sehen Sie, welchen Stellenwert dieses Thema in diesem Hause hat. ({1}) - Nein, wir verzichten eben nicht, weil uns das Thema Arbeitslosigkeit am Herzen liegt; Ihnen offenbar nicht. ({2}) In ihrer Koalitionsvereinbarung haben die Regierungsparteien die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit eigentlich zu ihrer zentralen Aufgabe erklärt. Zu Recht, sagen wir; denn 5 Millionen Menschen sind ohne Arbeit, von der stillen Reserve will ich überhaupt nicht reden. Das ist ein gesellschaftlicher und sozialer Skandal in diesem Land. ({3}) Vergessen wir nicht: 3 Millionen Arbeitslose leben mit Hartz IV und damit unterhalb der offiziellen Armutsgrenze. An dieser Realität wird sich so lange nichts ändern, wie bei den Regierungsparteien der Irrglaube vorherrscht, mit Arbeitsmarktpolitik allein ließe sich die tatsächliche Massenarbeitslosigkeit wirksam bekämpfen. ({4}) Solange in der Wirtschaftspolitik nicht umgesteuert und Beschäftigung nicht gezielt durch mehr öffentliche Investitionen und Stärkung der Binnenkaufkraft gefördert wird, wird sich an dem Ausmaß der Arbeitslosigkeit in diesem Lande wenig ändern. ({5}) So ist es arbeitsmarktpolitisch auch ein Irrweg, die Wochen- und Lebensarbeitszeit in dieser Lage verlängern zu wollen. Wir unterstützen das Prinzip „Fördern und Fordern“ in der Arbeitsmarktpolitik grundsätzlich. In der Wirklichkeit wird dieses Prinzip von der Bundesregierung jedoch auf den Kopf gestellt. Mit verschärften Kontrollen, Zumutbarkeitsregelungen und Leistungskürzungen werden Arbeitslose zunehmend unter Druck gesetzt, obwohl es in diesem Land keine zu vermittelnden Arbeitsplätze gibt. Darauf haben Sie keine Antwort. ({6}) Das Prinzip „Fördern“ bleibt wie schon bei der vorhergehenden Regierung voll auf der Strecke. Seit Jahren haben wir mit dem Problem zu kämpfen, dass die Ausgaben für die aktive Arbeitsförderung gekürzt werden. Wie ist es mit dem Ziel, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, in Übereinstimmung zu bringen, dass die Ausgaben für die aktive Arbeitsförderung in den letzten vier Jahren von über 22 Milliarden Euro auf 14 Milliarden Euro im letzten Jahr gekürzt wurden, die Zahl der Langzeitarbeitslosen aber im gleichen Zeitraum auf 1,5 Millionen gestiegen ist? Wir haben den Eindruck, dass die aktive Arbeitsmarktpolitik inzwischen vom Rotstift ersetzt wird. Was wir mit unserem vorliegenden Antrag fordern, ist nicht weniger, als dass die Mittel, die für eine aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung stehen, auch ihrem eigentlichen Zwecke zugute kommen. ({7}) - Ja, das machen wir mal. Wir haben es mit dem Skandal zu tun, dass im letzten Jahr nur 57 Prozent des Eingliederungstitels im Rechtskreis SGB II abgerufen worden sind. In einzelnen Ländern, wie zum Beispiel bei Ihnen in Baden-Württemberg, ({8}) ist jeder zweite Euro nicht ausgegeben worden, obwohl es auch in Ihrem Land nicht wenige Arbeitslose gibt. Es sind also 2,8 Milliarden Euro im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit verloren gegangen. Wir wollen, dass der gesetzlich mögliche Teil von etwa 1 Milliarde Euro ins neue Jahr übernommen wird. ({9}) Bis jetzt unternimmt die Bundesregierung keine Anstalten, diese Mittel zu übertragen. Es mag sein, dass dieser vierstellige Millionenbetrag die Begehrlichkeiten der Regierung zum Stopfen des Haushaltsloches geweckt hat. Aber wir sind der Meinung, dass man die Haushaltssanierung nicht auf dem Rücken der Arbeitslosen austragen darf. ({10}) Ich meine, dass Sie, meine Damen und Herren von der Union und von der SPD, heute Farbe bekennen können. Halten Sie an Ihrem alten Kurs fest, wäre es von Ihnen ehrlicher, zu sagen, dass Sie den Haushalt auf Kosten der Arbeitslosen sanieren wollen. Oder Sie meinen es ernst mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und lassen Ihren Worten endlich Taten folgen. ({11}) Dann können Sie dem vorliegenden Antrag eigentlich nur zustimmen und 1 Milliarde Euro der Förderung der Arbeitslosen zugute kommen lassen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Reden der Kollegen Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion, Andrea Nahles, SPD-Fraktion, Dirk Niebel, FDP-Fraktion, und Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen, nehmen wir zu Protokoll.1) ({0}) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/546 mit dem Titel „Übertragung der im Jahr 2005 nicht genutzten Mittel der Arbeitsmarktpolitik ins Jahr 2006“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der Fraktion Die Linke abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie den Zusatzpunkt 4 auf: 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Grietje Bettin, Volker Beck ({1}) und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Bürgerfreundliche Kostenregelung für das Informationsfreiheitsgesetz - Drucksache 16/580 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Piltz, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Der Informationsfreiheit durch transparente und niedrige Gebühren zum Durchbruch verhelfen - Drucksache 16/659 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Rechtsausschuss Alle Reden sollen zu Protokoll genommen werden. Das sind die Reden der Kollegen Beatrix Philipp, CDU/ CSU-Fraktion, Dr. Michael Bürsch, SPD-Fraktion, Gisela Piltz, FDP-Fraktion, Petra Pau, Die Linke, und Silke Stokar von Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.2) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 16/580 und 16/659 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 17. Februar 2006, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.