Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie alle herzlich
und wünsche uns einen guten und erfolgreichen Tag.
Vor Eintritt in die Tagesordnung gebe ich bekannt,
dass der Kollege Gert Winkelmeier am 13. Februar aus
der Fraktion Die Linke ausgetreten ist und dem Deutschen Bundestag künftig als fraktionsloser Abgeordneter
angehören wird.
({0})
Die Fraktion der SPD teilt mit, dass der ehemalige
Kollege Eckhardt Barthel sein Amt als stellvertretendes
Mitglied im Stiftungsrat der Kulturstiftung des Bundes
aufgibt. Als Nachfolgerin wird die Kollegin Monika
Griefahn vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin
Monika Griefahn als stellvertretendes Mitglied in den
Stiftungsrat der Kulturstiftung des Bundes gewählt.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat noch ein
stellvertretendes Mitglied für den Wahlprüfungsausschuss zu benennen. Hierfür wird die Kollegin Silke
Stokar von Neuforn vorgeschlagen. Ich gehe davon aus,
dass Sie auch damit einverstanden sind. - Das ist der
Fall. Damit ist die Kollegin Silke Stokar von Neuforn
als stellvertretendes Mitglied in den Wahlprüfungsausschuss gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN:
Zu den von der Bundesregierung geplanten Kürzungen
bei Hartz IV zulasten junger Erwachsener ({1})
ZP 2 Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung
Aktuelle Situation zur Vogelgrippe
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Übernahme ehemaliger Regierungsmitglieder in Vorstände und Aufsichtsräte deutscher
Energiekonzerne
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Piltz, Jens
Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Der Informationsfreiheit durch transparente und niedrige
Gebühren zum Durchbruch verhelfen
- Drucksache 16/659 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer,
Irmingard Schewe-Gerigk, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mindestarbeitsbedingungen mit regional und branchenspezifisch differenzierten Mindestlohnregelungen sichern
- Drucksache 16/656 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Trittin,
Winfried Nachtwei, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für ein friedliches Vorgehen im Konflikt über das iranische Atomprogramm - Demokratische Entwicklung unterstützen
- Drucksache 16/651 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 7 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({5})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ilse Aigner,
Michael Kretschmer, Katherina Reiche ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten René Röspel, Jörg Tauss, Nicolette
Kressl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Informatives Berichtswesen als Grundlage einer guten Forschungs- und Technologiepolitik
- Drucksache 16/646 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Verwendung der Regionalisierungsmittel offen legen
- Drucksache 16/652 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Wieland, Volker Beck ({9}), Jerzy Montag, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Resozialisierungsziele des Strafvollzugs bewahren -
Sicherheit nicht gefährden
- Drucksache 16/653 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Zukunftsfähige Rahmenbedingungen für ein wirksames Umweltrecht im föderalen Deutschland schaffen
- Drucksache 16/674 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({10})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll - so-
weit erforderlich - abgewichen werden. Außerdem ist
vorgesehen, jeweils die Tagesordnungspunkte 4 und 5, 7
und 8 sowie 9 und 10 zu tauschen.
Der Tagesordnungspunkt 17 - hierbei handelt es sich
um die zweite und dritte Beratung des Gesetzes zur För-
derung ganzjähriger Beschäftigung - soll abgesetzt wer-
den. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? -
Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur steuerlichen Förderung von
Wachstum und Beschäftigung
- Drucksache 16/643 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({11})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen
- Drucksache 16/634 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Verringerung steuerlicher Missbräuche und Umgehungen
- Drucksache 16/520 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({13})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Das ist offenkundig einvernehmlich und damit so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Sie wissen, dass die Bundesregierung einen finanzpolitischen Zweiklang verfolgt, nämlich einerseits die Wachstumskräfte in Deutschland zu
stärken und andererseits die öffentlichen Haushalte zu
konsolidieren. Aus diesem Zweiklang leiten sich die
steuerpolitischen Ziele für diese Legislaturperiode ab.
Wir brauchen erstens dauerhaft sichere Einnahmen.
Der Staat muss diese Einnahmen generieren, damit er
die Kernaufgaben einschließlich Zukunftsinvestitionen
tätigen kann. Ich wiederhole, dass wir auf der Einnahmenseite ein Niveauproblem haben, während wir auf der
Ausgabenseite kein Niveauproblem haben; vielmehr
stimmt die Zusammensetzung der Ausgaben nicht. Sie
sind zu stark auf Vergangenheitsfinanzierung und zu
wenig auf Zukunftsfinanzierung orientiert. Aber tatsächlich ist der Bundeshaushalt bezogen auf die Ausgaben, die wir für die Zukunft tätigen wollen, zu
20 Prozent strukturell unterfinanziert.
Wir müssen zweitens Wachstumsimpulse durch Verbesserung der steuerlichen Wettbewerbsfähigkeit des
Standortes Deutschland geben. Dahinter steht das große
Vorhaben einer Unternehmensteuerreform zum 1. Januar
2008.
Es geht drittens um eine Verbesserung der Steuergerechtigkeit und auch der Transparenz der Besteuerung.
Das wirkt sich dann auch darauf aus, wie wir Steuern erheben und wie wir beispielsweise Karussellgeschäfte
oder Steuerhinterziehung insbesondere bei der Umsatzsteuer zukünftig stärker vermeiden können. Das ist ein
wichtiges Thema, das wir aktuell auch in Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern verfolgen.
Die beiden Ihnen vorliegenden Gesetzentwürfe sind
erste wichtige Schritte - keiner behauptet, dass das ein
umfassendes Gesamtkonzept ist - in diese Richtung. Sie
wissen, dass der Schwerpunkt dieses Gesetzes zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung
auf die Belebung der Investitionstätigkeit in Deutschland
gerichtet ist. Ich füge hinzu: auch und gerade bei kleinen
und mittleren Unternehmen. Wir wissen, dass sie das
Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft bilden.
({0})
Wir sind zum dritten Mal Exportweltmeister und zeigen inzwischen eine ziemlich starke internationale Wettbewerbsfähigkeit. Viele deutsche Unternehmen, die sich
auf den Exportmärkten bewegen, haben ihre Wettbewerbsfähigkeit sehr verbessert. Eine günstige Entwicklung der Lohnstückkosten - und damit auch die Beiträge
von Gewerkschaften und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Rahmen der Lohnpolitik der vergangenen Jahre - hat übrigens maßgeblich dazu beigetragen.
Aber wir brauchen eine Stärkung der Binnennachfrage. Die Binnennachfrage ist nicht nur davon abhängig, dass die Menschen mehr konsumieren, also mehr
Vertrauen in die Zukunft haben und daher mehr Geld
ausgeben, sondern sie hängt auch davon ab, dass es mehr
private und - das füge ich ausdrücklich hinzu - öffentliche Investitionen gibt.
({1})
Die finanzielle Lage der Kommunen ist nach wie vor
angespannt. Viele Kommunen sind aufgrund ihrer finanziellen Beklemmungen gar nicht mehr in der Lage, öffentliche Investitionen vorzunehmen. Dasselbe gilt für
die Entwicklung der Investitionsquote des Bundeshaushaltes und der Länder. In vielen Fällen ist die Zinsquote
in diesen öffentlichen Haushalten höher als die Investitionsquote.
Wir sprechen hier im Wesentlichen über diverse steuerliche Maßnahmen. Die eine ist die auf zwei Jahre befristete Verbesserung der Abschreibungsbedingungen
für bewegliche Wirtschaftsgüter. Sie ist deshalb auf
zwei Jahre befristet, weil wir zum 1. Januar 2008 einen
fundamentalen Paradigmenwechsel der Besteuerung der
deutschen Unternehmen durchführen wollen, sowohl der
kleinen Unternehmen - soweit sie Personengesellschaften sind - als auch der größeren Unternehmen, die meistens Kapitalgesellschaften sind.
Sie wissen, dass es inzwischen zwei Vorschläge dazu
gibt: von der Stiftung Marktwirtschaft und vom Sachverständigenrat. Ich möchte hier noch einmal deutlich sagen, dass ich dankbar wäre, wenn dem BMF zwei bis
drei Monate Zeit gegeben werden könnte, um diese solide zu prüfen.
({2})
Ich werde gern Rede und Antwort stehen, wenn es so
weit ist. Aber da wir von der Kritik umgeben sind, dass
Politik manchmal zu sehr aus der Hüfte schießt,
({3})
also unvorbereitet ist, sollten wir uns selbst gelegentlich
die Reifezeit geben, um ein so wichtiges Vorhaben so solide vorzuarbeiten, dass wir anschließend nicht mehr
korrigieren müssen.
({4})
- Ja, Herr Kauder, gelegentlich kann die Kraft in der
Ruhe liegen. Ich werde versuchen, keine täglichen Wasserstandsmeldungen zu machen, die durch den Druck einer medialen Neugier ausgelöst werden können und
neue Unruhe und Unsicherheit in die Debatte hineinbringen würden.
({5})
Es geht zweitens darum, die Liquidität insbesondere
von kleinen und mittleren Unternehmen zu verbessern.
Das wollen wir durch die Anhebung der Umsatzgrenzen
für die Umsatz-Ist-Besteuerung erreichen. Diese wichtige Maßnahme war auch Gegenstand der Koalitionsverhandlungen. Wir versprechen uns davon, dass in der Tat
insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen dadurch sehr viel liquider werden und durch manche Engpässe unter den nach wie vor obwaltenden konjunkturellen Bedingungen kommen.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die steuerliche Förderung privater Haushalte, die wir auch als Feld zusätzlicher Beschäftigungsmöglichkeiten sehen. Ich will jetzt
nicht auf alle Bestandteile eingehen. Aber ich möchte
noch einmal meinen Standpunkt darstellen. Ich denke,
dass der Kompromiss zur verbesserten steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten positive Impulse setzt, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Wir versprechen uns einen Beschäftigungseffekt bei den
Anbietern von Kinderbetreuungsplätzen und einen Konsumeffekt. Denn besonders die Familien mit geringem
Einkommen, die nicht mehr jeden zusätzlichen Cent sparen müssen, sondern dann auch mehr ausgeben können,
werden natürlich von einer solchen Regelung begünstigt.
Dies ermuntert sie vielleicht, sich mehr zu leisten, was
ohne eine solche steuerliche Begünstigung nicht möglich
wäre.
Ein weiterer Aspekt sollte nicht untergehen: die Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Diese brauchen wir in Deutschland vor dem Hintergrund
der demographischen Entwicklung dringend,
({6})
weil es eine nach wie vor unzureichende Erwerbstätigkeit von Frauen gibt; das gilt auch im internationalen
Vergleich. Die Frauenerwerbstätigkeit in skandinavischen Ländern ist deutlich höher. Inzwischen haben wir
es mit schulisch, beruflich und akademisch sehr gut ausgebildeten Frauen zu tun, denen wir es letztlich verweigern, eine eigene Berufsbiografie zu schreiben, wenn die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie bei uns nicht besser
wird.
({7})
Es geht in diesem Zusammenhang auch darum, für
private Haushalte die Möglichkeiten zur steuerlichen
Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen zu
erweitern. Diesen Aspekt sollte man nicht gering schätzen. Die meisten Vertreter von Handwerkskammern und
Handwerksbetrieben begrüßen ihn außerordentlich. Der
Zentralverband des Deutschen Handwerks geht davon
aus, dass durch diesen Schritt 40 000 bis 50 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Das ist
nicht ausreichend, aber immerhin ein wichtiger Impuls.
Ich könnte mir auch vorstellen, dass dadurch - zwar
nicht umfassend, aber teilweise - der Schwarzarbeit entgegengewirkt werden kann.
({8})
Meine Damen und Herren, der Entwurf eines Gesetzes zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen zielt auf die Schaffung von mehr Steuergerechtigkeit, die Verwirklichung des Verfassungsprinzips der
Gleichmäßigkeit der Besteuerung und eine Stabilisierung der Steuereinnahmen. Ich halte es für unvertretbar,
dass wir es im deutschen Steuerrecht nach wie vor mit
vielen Umgehungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zu
tun haben. Das deutsche Steuerrecht bietet aufgrund der
Möglichkeiten zur Gestaltung seiner Bemessungsgrundlage viele Fluchtmöglichkeiten. Diese Fluchtmöglichkeiten stehen nach Lage der Dinge nicht den unteren,
sondern den höheren Einkommensetagen zur Verfügung.
Deshalb halte ich es auch vor dem Hintergrund der Herstellung einer größeren Steuergerechtigkeit für richtig,
dass wir die Abschaffung von Steuerprivilegien ehrgeizig in Angriff genommen haben.
In diesem Zusammenhang möchte ich - abgesehen
von der Debatte über den vorliegenden Gesetzentwurf betonen, dass ich die gegenwärtige Diskussion über die
Kontenabrufmöglichkeiten für ziemlich unsäglich
halte. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass das Prinzip der
Steuergerechtigkeit höher zu veranschlagen ist als gegebenenfalls auftretende administrative Schwierigkeiten
({9})
oder unbegründete datenschutzrechtliche Einwände. Das
ist eine Kampagne derjenigen, die die Abfragen von
Konteninformationen schlicht und einfach verhindern
wollen.
({10})
Aber ich sage Ihnen: Diese Kampagne - wenn ich sie
einmal so bezeichnen darf - wird nicht verfangen. Es
wird bei den bestehenden Abrufmöglichkeiten von Konteninformationen bleiben.
({11})
Sie müssen sich einmal vergegenwärtigen, welch aberwitzige Zahlen angeführt werden, um dem deutschen
Publikum den Verdacht einzuimpfen, es käme zur Abfrage mehrerer Millionen Konteninformationen. Davon
sind wir weit entfernt.
Gelegentlich wird Kritik an unserem Wachstumsprogramm in Höhe von 25 Milliarden Euro geübt: Für die
einen ist dieser Betrag zu gering, für die anderen ist das
Programm obsolet oder zu stark keynesianisch geprägt.
({12})
Ich will auf Folgendes hinweisen: Zu diesen
25 Milliarden Euro kommen weitere 12 Milliarden Euro
von Ländern und Kommunen hinzu. Dann haben wir immerhin 37 Milliarden Euro zur Verfügung; das entspricht
70 Milliarden DM. Das ist nicht so wenig, wie manche
Leute in dieser Republik vorgeben. Auch der Vorwurf,
es handle sich um ein klassisches Konjunkturprogramm,
geht an den Tatsachen vorbei.
({13})
Das, was wir im Bereich Forschung und Entwicklung
machen, hat nichts mit unserer Konjunktur zu tun, sondern mit der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des
Standortes Bundesrepublik Deutschland.
({14})
Wir müssen unser Ziel erreichen, 3 Prozent unseres
Bruttosozialproduktes in Forschung und Entwicklung zu
investieren. Wie Sie wissen, sind in anderen Ländern um
uns herum teilweise weit mehr als diese 3 Prozent des
Bruttosozialproduktes in diesen Bereich geflossen. Da
Reisen bildet, sage ich Ihnen, welche Erfahrungen ich
hierzu in Finnland und Schweden gesammelt habe:
Diese zwei Länder haben inzwischen Budgetüberschüsse zu verzeichnen und sie weisen sehr gute Wachstumsraten auf. Dort wurde insbesondere in Bildung,
Hochschulen sowie Forschung und Entwicklung investiert. Diese zwei Länder sind ziemlich schnell unter Segel gekommen; denn dort wurden sechs bis sieben Jahre
früher als bei uns Reformmaßnahmen eingeleitet. Daher
sollte man auf die Erfahrungen dieser beiden Länder gelegentlich Obacht geben.
({15})
- Tatsachen müssen ausgesprochen werden. Man darf
nicht an den Problemen vorbeireden.
Abschließend möchte ich die Diskussion über unsere
Maßnahmen im Bereich Forschung und Entwicklung mit
einem deutlichen Appell verbinden, der sich auch an die
deutsche Wirtschaft richtet. Die öffentlichen Haushalte
haben in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, diesen Bereich finanziell zu stützen. Man muss auch sagen,
dass sich die letzte Bundesregierung mit Nachdruck um
die vorhandenen Nachholbedarfe gekümmert hat; denn
der Anteil von Forschung und Entwicklung am Bundeshaushalt ist in den vorigen Legislaturperioden deutlich
gesunken. Wir haben ihn mühsam auf 2,55 Prozent erhöht. Diese Entwicklung war in den letzten beiden Legislaturperioden mit deutlichen Steigerungen verbunden.
Aber das, was wir uns vorgenommen haben, wird nicht
gelingen, wenn die deutschen Unternehmen nicht selbst
Verantwortung übernehmen und sehr viel mehr als bisher tun, damit wir unser Ziel, 3 Prozent unseres BruttoBundesminister Peer Steinbrück
sozialproduktes in Forschung und Entwicklung zu investieren, erreichen.
({16})
Da wir nicht billiger werden wollen und können und
da wir einen Kostenwettbewerb nach Lage der Dinge nie
gewinnen werden - das wird immer ein Hase-und-IgelRennen mit anderen Standorten weltweit sein -, müssen
wir besser werden. Besser werden wir aber nur, wenn
wir in Bildung, Forschung und Entwicklung, Technologietransfer und alles, was damit zu tun hat, investieren.
Wenn die Bundesregierung mit diesem Programm für
entsprechenden Schub sorgen kann, hat sie einen erheblichen Teil ihrer Verantwortung und ihrer Aufgaben
wahrgenommen.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat nun der Kollege Carl-Ludwig Thiele,
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister
Steinbrück! Auch die FDP ist der Auffassung - das
möchte ich hier von vornherein herausstellen -, dass wir
mehr Wachstum benötigen, dass wir mehr Beschäftigung
benötigen und dass die öffentlichen Haushalte dringend
saniert werden müssen. Deshalb werden wir die Koalition aus Union und SPD konstruktiv unterstützen, wenn
wir der Auffassung sind, dass auf der Basis eines klaren
Konzeptes die richtigen Entscheidungen getroffen werden.
({0})
Allerdings sind unsere Unternehmen im internationalen Vergleich viel zu hoch besteuert. Da reicht es nicht,
wenn Sie sagen, es gibt zwei Konzepte, um dies zu ändern. Ich darf Sie im Übrigen darauf aufmerksam machen, dass es drei Konzepte sind: Es gibt ein ausformuliertes Konzept der FDP, welches in dieser Woche in den
Deutschen Bundestag eingebracht wird und welches wir
schon im März hier beschließen können. Warum sollen
wir eigentlich warten, bis es in unserem Land bergauf
geht, warum können wir Reformen nicht einfach beschließen? Wir bitten Sie von der Regierung, sich mit
den Vorschlägen der FDP objektiv auseinander zu setzen
und sie, wenn sie gut sind, zu übernehmen.
({1})
Zum Bankgeheimnis, Herr Minister. Fakt ist: Praktisch ist das Bankgeheimnis ausgehebelt. Mit welchen
Folgen eigentlich? Die Bürokratie wuchert in unserem
Land - das Gegenteil von dem, was Sie wollten -,
Rechtsstaatlichkeit ist in diesem Bereich nicht gewährleistet und viele Bürger treibt die Sorge um, dass der
Staat in irgendeiner Form in ihren Konten herumschnüffelt. Die Folge ist Kapitalflucht. Wir brauchen aber Kapital, das in Deutschland investiert wird: damit Gewinne
entstehen, die hier in Deutschland versteuert werden.
({2})
Was wir im Moment erleben, zeigt, dass die Regierung weder ein klares Konzept noch die notwendige Einsicht hat, dass die öffentlichen Haushalte vorrangig
durch Einsparungen und durch die Überprüfung von
Leistungsgesetzen saniert werden müssen. Mit ihrem
Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und
Beschäftigung will die Koalition durch verschiedene
kleine Maßnahmen Investitionen auslösen und so das
Wachstum ankurbeln. Wir begrüßen ausdrücklich, dass
bei den Kinderbetreuungskosten - wenn auch nach
jahrelangen ideologischen Diskussionen, insbesondere
bei der SPD, über das so genannte Dienstmädchenprivileg - der Forderung der FDP nachgekommen wird, die
privaten Haushalte endlich als Arbeitgeber anzuerkennen.
({3})
Denn dies kann dazu führen, dass mehr Menschen einen
sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz finden und
die Betreuung der Kinder verbessert wird. Allerdings
war ursprünglich eine klare Regelung vorgesehen. Jetzt,
nach wochenlangem Gezerre, ist eine Regelung entstanden, die in ihrer Komplexität und Kompliziertheit nur
schwer zu übertreffen ist: Ein Teil der Familien soll jetzt
einen Teil der Kosten für einen Teil der Kinder für einen
Teil der Aufwendungen absetzen dürfen. Das soll einer
verstehen!
Wer sich damit auseinander setzt, sieht doch sofort,
dass eine Überregulierung stattfindet. Das wird den
Wunsch, mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse in den privaten Haushalten zu schaffen, nicht
erfüllen.
({4})
Das Gezerre und Gefeilsche innerhalb der Koalition
führt auch an dieser Stelle zu einem Kompromiss auf
dem kleinsten gemeinsamen Nenner, der das Steuerrecht
weiter verkompliziert. Deswegen appelliere ich noch einmal ausdrücklich an die Kolleginnen und Kollegen von
Union und SPD, unseren Gesetzentwurf zum Vorbild zu
nehmen. Wir haben eine klare Regelung, die einfach und
gerecht ist und die es ermöglicht, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze innerhalb und außerhalb des
Haushaltes zu schaffen: Wenn nachgewiesenermaßen
Kosten von 12 000 Euro entstehen, können diese steuerlich berücksichtigt werden.
Zu den Abschreibungen. 2000 wurden die Abschreibungssätze von 30 Prozent auf 20 Prozent reduziert.
Jetzt werden sie, für zwei Jahre, wieder auf 30 Prozent
erhöht. Das ist eine Politik der Trippelschritte und erinnert an die Echternacher Springprozession. Diese Politik
ist nicht verlässlich und wird leider kein stetiges Wachstum in unserem Land auslösen können.
Die beiden anderen Gesetzentwürfe dienen dem Missbrauch im angeblichen Steuerrecht.
Parallel zu diesen Gesetzen - auch das muss heute debattiert werden - will die große Koalition schon in der
nächsten Woche das größte Steuererhöhungsprogramm
in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beschließen. Mit diesen Steuererhöhungen wird aber nicht
mehr, sondern weniger Wachstum erzeugt und werden
wir nicht mehr, sondern weniger Beschäftigung in unserem Lande erhalten. Durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte sowie weitere Steuererhöhungen will der Staat pro Jahr mehr als 25 Milliarden Euro
von den Bürgern und Unternehmen einnehmen. In drei
Jahren werden den Bürgern dadurch 80 Milliarden Euro
ihres selbst erwirtschafteten Einkommens entzogen.
Diese Steuererhöhungen sind auch der Grund dafür, dass
die Steuereinnahmen in den nächsten Jahren um 80 Milliarden Euro steigen. Auf der anderen Seite fehlen sie unserer Bevölkerung aber beim Konsum und bei den Investitionen. Mit dieser Steuererhöhungsorgie legen Sie ein
massives Desinvestitionsprogramm gegen die deutsche
Bevölkerung vor.
({5})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ein
Konzept aus einem Guss kann ich nun überhaupt nicht
erkennen. Alle Welt spricht von der Unternehmensteuerreform. Wir sind international nicht mehr wettbewerbsfähig und insofern können wir auch nicht nur warten, dass sich etwas ändert,
({6})
sondern diese Regierung mit ihrer Mehrheit im Deutschen Bundestag von fast zwei Drittel hat die Aufgabe,
ihre Verantwortung wahrzunehmen und die Gesetze hier
tatsächlich kurzfristig auf den Weg zu bringen.
({7})
Die Rezepte liegen seit langem vor. Hier nur zu warten
- ab 2008 soll das gelten -, ist verschenkte Zeit. Diese
Zeit dürfen wir in unserem Lande nicht verschenken.
({8})
Glauben Sie eigentlich wirklich, dass sich die Binnenkonjunktur dauerhaft ankurbeln lässt, indem Sie
den Unternehmen und Bürgern heute sagen: Investiert,
konsumiert und gönnt euch in diesem Jahr noch etwas,
denn im kommenden Jahr stehen Steuererhöhungen
an? - Eine solche Logik lässt sich selbst zur Karnevalszeit nur als schlechter Witz bezeichnen. Sie ist nicht wider den tierischen Ernst, dafür aber gegen jede politische
Ernsthaftigkeit. So käme - um im Bild zu bleiben - nicht
einmal ein Narr auf die Idee, den Menschen zu sagen:
Feiert in diesem Jahr doch bitte schön bis Ostern Karneval; denn im kommenden Jahr wird ganzjährig gefastet. - So läuft das nicht und die Menschen werden sich
auch nicht so verhalten, sodass ich die Sorge habe, Herr
Minister Glos, der Sie nach mir reden werden, dass das
ein Strohfeuerprogramm ist, durch das nicht die Weichen
dafür gestellt werden, dass wir in unserem Lande den
lang anhaltenden Aufschwung bekommen, den wir dringend benötigen.
({9})
Noch im Wahlkampf hatte die Union gefordert, die
Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte zu erhöhen, um mit
genau dem daraus resultierenden Betrag die Lohnnebenkosten um ebenfalls 2 Prozentpunkte zu senken. Die
SPD hatte die Steuererhöhung abgelehnt und als MerkelSteuer gebrandmarkt. Und nach der Wahl soll nichts
mehr von dem gelten, was vor der Wahl in Deutschland
auf diesem zentralen Feld der politischen Auseinandersetzungen diskutiert wurde? Die Wählerinnen und Wähler haben die Politik der ruhigen Hand doch nicht deshalb abgewählt, damit darauf eine Politik der
nehmenden Hand folgt. Gerade dies geschieht aber nun
durch die geplanten Steuererhöhungen. Der schwarz-rote
steuerpolitische Arm greift viel zu kurz und vor allem
greift er in die falsche Richtung, nämlich in das Portemonnaie unserer Bürger. Das ist der falsche Weg.
({10})
Wenn wir alle mehr Glaubwürdigkeit in der Politik einfordern und wenn wir alle der Auffassung sind, dass
nach den Wahlen das durchgesetzt werden soll, was vor
den Wahlen gefordert wurde, dann darf diese Steuererhöhungsorgie in der nächsten Woche nicht vom Kabinett beschlossen werden.
Die Arbeitslosenzahl ist auf über 5 Millionen gestiegen. Weitere Millionen Menschen haben Sorge um den
Verlust ihrer Arbeitsplätze: bei VW, bei der Deutschen
Telekom, bei AEG in Nürnberg und auch bei der Firma
Karmann in meiner Heimatstadt. Diese Liste lässt sich
leider weiter fortsetzen. Ich verstehe nicht, wie sich die
Politik bei dieser Sorge der Menschen einen schlanken
Fuß machen und die Sanierung der öffentlichen Haushalte nahezu ausschließlich durch Steuererhöhungen angehen kann. Ich verstehe nicht, dass die Koalition aus
Union und SPD den vermeintlich einfachsten Weg geht,
nämlich die Sanierung durch Steuererhöhungen anstatt
durch Sparmaßnahmen durchzuführen.
In jedem privaten Haushalt, in dem man feststellt, dass
man über seine Verhältnisse lebt, dass man mehr ausgibt,
als man einnimmt, werden die Ausgaben reduziert. Notgedrungen fängt man an, bescheidener zu werden. Man
überlegt sich, ob alles, was man derzeit ausgibt, noch finanzierbar ist. Das ist für viele Bürger in unserem Lande
ein ausgesprochen schmerzhafter Prozess.
Warum aber sollte das bei den öffentlichen Haushalten anders sein? Warum fängt die öffentliche Hand nicht
an, stärker zu sparen? Warum werden weiter Subventionen und Staatsausgaben erhöht, von denen wir wissen,
dass sie auf Pump finanziert sind und die Zukunftschancen unseres Landes weiter einschränken? Warum nehmen Sie nicht endlich zur Kenntnis, dass der Sozialstaat
in der heutigen Form nicht mehr finanzierbar ist und hier
dringender Handlungsbedarf gegeben ist?
Herr Minister Steinbrück, ich möchte Sie ganz persönlich ansprechen.
Sie müssen sich dabei aber ein bisschen beeilen.
Nachdem die rot-grüne Koalition mit Finanzminister
Eichel nicht den Mut hatte, ernsthaft zu sparen und den
Haushalt über die Ausgabeseite zu sanieren, haben Sie
mit Ministerpräsident Koch ein Konzept vorgelegt. Das
war die Koch/Steinbrück-Liste; Sie werden sich vielleicht noch daran erinnern.
({0})
Wir haben Sie auf diesem Weg der Sparsamkeit konstruktiv begleitet. Dies werden wir auch weiterhin tun.
Wenn aber der Haushalt Ausgaben in Höhe von über
250 Milliarden Euro aufweist, wenn in dem Subventionsbericht aus Kiel von über 150 Milliarden Euro an
Subventionen gesprochen wird, wenn laut des Subventionsberichts der Bundesregierung 60 Milliarden Euro
für Subventionen aufgewendet werden, dann frage ich
Sie: Warum werden die Steuern erhöht, anstatt beim
Staat wirksam zu sparen?
({1})
Mit einem solchen Weg könnten wir vernünftige Rahmenbedingungen setzen, um zu mehr Wachstum und Beschäftigung in unserem Lande zu kommen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun der Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie, Michael Glos.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer in diesen Tagen die Wirtschaftsmeldungen aufmerksam verfolgt, der stellt fest: Die lange vermisste Zuversicht ist nach Deutschland zurückgekehrt.
({0})
Herr Kollege Thiele, wir sollten unser Land im wirtschaftlichen Bereich weder schöner reden, als es ist,
noch sollten wir es schlecht machen, sondern wir sollten
uns gemeinsam darüber freuen, dass es wieder aufwärts
geht.
({1})
Ich habe vorhin den Protest zumindest der Grünen vermisst, als Sie von einem Strohfeuer sprachen; denn das
ist immerhin Energie aus nachwachsenden Rohstoffen.
({2})
Aber Spaß beiseite. Lassen Sie mich stellvertretend
für den Optimismus in der Wirtschaft eine Umfrage des
Deutschen Industrie- und Handelskammertages unter
25 000 Unternehmen anführen. Die Konjunktur hat zu
Jahresbeginn 2006 einen großen Satz nach vorne gemacht. Die Unternehmen bewerten die Geschäftslage so
gut wie seit fünf Jahren nicht mehr. Die Konjunktur
dreht auf. Der Ausfuhrboom geht weiter. Das Volumen
der Inlandsinvestitionen wird in diesem Jahr deutlich
zulegen; das ist ganz besonders wichtig. Zu Jahresbeginn 2006 erreichen die Investitionspläne der Unternehmen per saldo den besten Wert seit elf Jahren. Die Beschäftigung geht mit der Konjunktur langsam auf
Tuchfühlung. - All das waren Zitate aus dem Bericht des
Deutschen Industrie- und Handelskammertages.
Mir liegt ebenfalls eine Konjunkturbewertung der
KfW vor. Ich will es Ihnen ersparen, sie vorzulesen. Ich
will nur sagen, dass sie „Stimmungsfeuerwerk zu Jahresbeginn!“ heißt. Ich habe ein Gespräch mit der Spitze der
KfW geführt. Dort hieß es: In den ersten zwei Monaten
dieses Jahres wurden, wie man feststellen kann, doppelt
so viele Investitionskredite bewilligt wie im Jahr davor.
Also, man spürt: Der Aufschwung kommt ganz massiv.
Darüber freuen wir uns. Von dem Aufschwung profitieren nicht nur die Exporteure, die optimistisch in die Zukunft schauen können. Es wird in Deutschland auch wieder investiert. Sowohl deutsche als auch ausländische
Unternehmen werden wieder in den Standort Deutschland investieren. Das ist wichtig.
({3})
Viele Branchen haben inzwischen ihre Hausaufgaben
gemacht. Insbesondere die großen exportorientierten
Unternehmen stehen gegenwärtig zum Teil glänzend da.
Sie haben allerdings auch viele Arbeitsplätze abgebaut
oder verlagert. Insofern ist uns bewusst, dass ein dauerhafter Aufschwung nur über den Mittelstand erfolgen
kann.
Ich möchte nun auf die Steuern zu sprechen kommen.
Wir müssen eine Unternehmensteuerreform durchführen, durch die Personenunternehmen und Kapitalgesellschaften gleich behandelt werden. Das ist deshalb besonders wichtig, weil es bekanntlich diese Unternehmen
sind, die dauerhaft in Deutschland bleiben.
({4})
Ich habe in letzter Zeit sehr viele Gespräche mit Vertretern verschiedener Branchen geführt. Wenn ich alle
Branchen aufzählen würde, müsste ich einen Teil meiner
Redezeit leichtsinnig verbrauchen. In den Gesprächen
wurde deutlich, dass es durchweg aufwärts geht. Nur die
Baubranche bietet noch Anlass zur Sorge. Ich hoffe aber,
dass der Konjunkturfunke auch langsam auf den Bau
überspringt.
Die großen Unternehmen haben die vergangenen
Jahre genutzt, um ihre Gewinne kräftig zu erhöhen. Das
ist erfreulich.
({5})
- Mit guten Gewinnen kann man Eigenkapital bilden vielen Dank für den Zwischenruf, Herr Kollege
Ramsauer - und dann kann man auch wieder investieren.
In bestimmten Branchen wird aber deutlich, dass es
möglich ist, auch ohne Arbeitskampf zu sinnvollen Lösungen zu kommen. Das soll nicht heißen, dass der Wirtschaftsminister für irgendeine Seite Partei ergreift. Ich
möchte nur feststellen, dass die Tarifpartner eine gewaltige Verantwortung dafür haben, wie es bei uns im Land
weitergeht.
({6})
Darin sehe ich eines der größten Risiken. Ich wünsche
mir dabei eine sehr genaue Differenzierung und die Fähigkeit, Zugeständnisse zu machen, wenn es darum geht,
Unternehmen hier zu halten.
Mich erreichen immer mehr Zuschriften, Gesprächswünsche und Einladungen. Erst kürzlich hat eine der
führenden deutschen Landmaschinenfabriken, die im
Allgäu zu Hause und inzwischen in Händen amerikanischer Eigentümer ist, schriftlich bei mir angefragt, ob ich
ihnen helfen könne. Sie wollten hier 500 Arbeitsplätze
schaffen. Mit der IG Metall ist zwar über bestimmte Zugeständnisse verhandelt worden, sie sehen sich aber gezwungen, die Arbeitsplätze woanders zu schaffen. Das
ist kein Einzelfall; Ähnliches findet immer wieder statt.
Man muss aber berücksichtigen, dass auch in anderen
Ländern die Kosten steigen. Das wird bei den Investitionsplanungen sicherlich berücksichtigt. Wenn man im
Einzelfall für das gleiche Geld mehr arbeitet, um die Investitionen hier zu halten, dann ist das meiner Ansicht
nach das Allerbeste, was man in diesem Land für Beschäftigung tun kann.
({7})
Im Koalitionsvertrag ist bereits das vorweggenommen, was später in Genshagen verfeinert worden ist
- darüber diskutieren wir heute - und jetzt zur Beschlussfassung ansteht. Ich will noch einmal festhalten
- vorhin ist der Finanzminister stark kritisiert worden -:
Wir finanzieren die Konsolidierung zur einen Hälfte
durch die Beseitigung von steuerlichen Ausnahmetatbeständen, die von Ihnen übrigens immer wieder heftig kritisiert wurden. Dass wir Transferleistungen des Staates
weiter zurückschrauben, wird zwar im Einzelfall auch
wieder hart kritisiert werden - ich nenne nur die Stichworte „Gemeinschaftsaufgabe“ und „Regionalisierungsmittel im Verkehrsbereich“; das wird alles sehr schwer
durchzusetzen sein -, ist aber unumgänglich.
Was die andere Hälfte hinsichtlich der Haushaltskonsolidierung angeht, kommen wir um die Mehrwertsteuererhöhung nicht herum. Ich bekenne mich zur mittel- und
längerfristigen Konsolidierung der öffentlichen Finanzen. Wenn wir längerfristig einen Aufschwung wollen,
dann kommen wir um diese Maßnahme nicht herum.
({8})
Vor allen Dingen ist es notwendig, eine dauerhafte
Senkung der Lohnzusatzkosten unter die 40-ProzentGrenze zu erreichen. Das ist für die Beschäftigung in
Deutschland eminent wichtig. Ich bin auch der Meinung,
dass das Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung den Aufschwung auf ein breiteres Fundament stellt.
Durch den gelegentlich vermittelten Eindruck, nach
dem Gasgeben 2006 folge 2007 eine Vollbremsung - Sie
haben das eben angesprochen, Herr Thiele -, wird, wie
ich meine, ein völlig falsches Bild gezeichnet. Zutreffend scheint mir zu sein, im Zusammenhang mit 2006
von einer Tempobeschleunigung zu sprechen. Wenn der
Zug auf der Schiene sehr rasch fährt, dann kann er 2007
nicht ohne weiteres abgebremst werden. Ich meine, dass
der Zug 2007 weiterhin in Richtung Aufschwung rollen
muss. Darauf sind unsere Maßnahmen auch angelegt.
Ich möchte noch ein paar Maßnahmen ansprechen,
die ebenfalls 2007 greifen werden. Die Anhebung der
degressiven Abschreibung für bewegliche Wirtschaftsgüter von 20 auf 30 Prozent ist eine solche Maßnahme.
Das wird 2007 erhebliche Investitionen veranlassen,
vielleicht sogar mehr, als dem Finanzminister aus rein
haushälterischer Sicht - denn damit ist ein Steuereinnahmeverzicht verbunden - erst einmal lieb sein kann. Aber
ich bin überzeugt, dass diese Maßnahme ein Mittel zur
Ankurbelung der Konjunktur wird. Das Ganze wird
dann von einer Unternehmensteuerreform abgelöst,
die die Impulse für mehr Wachstum und Beschäftigung
weitertragen soll. Diese Steuerreform muss dazu führen,
dass die Besteuerung unabhängig von der Rechtsform
der Unternehmungen erfolgt. Dabei werden wir selbstverständlich auch über Ihre Vorschläge diskutieren. Es
macht ja keinen Sinn, nur Professoren und Vertreter von
Stiftungen zu Wort kommen zu lassen und andere vernünftige Vorschläge beiseite zu legen. Wir werden das
alles bewerten und diskutieren. Am schönsten wäre,
wenn wir zu gemeinsamen Lösungen in Sachen Unternehmensteuerreform kämen.
({9})
Das Stichwort „Stärkung der privaten Haushalte als
Arbeitgeber“ ist schon gefallen. Ich halte das für ein
wichtiges Anliegen, genauso wie die Tatsache, dass wir
die zunehmend um sich greifende Schwarzarbeit dadurch bekämpfen, dass wir Handwerkerrechnungen
steuerlich absetzbar machen. Die genauen Zahlen sind
bekannt. Bis zu 600 Euro der Lohnkosten kann man von
der Steuerschuld abziehen, wenn man dem Handwerk
Arbeit gibt. Dem dient insbesondere das Programm zur
energetischen Gebäudesanierung. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um mich bei den Handwerksbetrieben
und selbstverständlich bei vielen anderen Firmen zu bedanken, die die Initiative zur Schaffung von Ausbildungsplätzen mitgetragen haben und weiterhin mittraBundesminister Michael Glos
gen. Auch in diesem Jahr wird eine der wichtigsten
Aufgaben sein, dafür zu sorgen, dass junge Menschen,
die aus der Schule kommen, Ausbildungsplätze finden.
({10})
Beim Stichwort „Dienstleistungen für den Haushalt“
fällt mir natürlich ein, dass heute im Europäischen Parlament über die Dienstleistungsrichtlinie abgestimmt
wird. Nun wird der der Abstimmung zugrunde liegende
Kompromiss sicherlich nicht allen Wünschen gerecht.
Die einen haben Angst vor gewaltigem Sozialdumping
- gerade in einem Land wie Deutschland -, während andere ihre Hoffnung, die qualifizierten deutschen Dienstleistungen in stärkerem Maße außerhalb Deutschlands
anbieten zu können, ohne über zu große bürokratische
Hürden springen zu müssen, nicht in dem Maße erfüllt
sehen, wie sie es sich wünschen. Deswegen müssen wir
im Rat - hier sind wir noch einmal gefragt - helfen, dass
weder die Befürchtungen zum Tragen kommen noch
dass die Hoffnungen zerstört werden. Ich weiß, dass ein
gemeinsamer europäischer Dienstleistungsmarkt per
saldo Deutschland als Gewinner sieht; denn wir können
qualifizierte, bessere und nachhaltig nachgefragte
Dienstleistungen der Zukunft anbieten. Darüber werden
wir sprechen. Wir sind in der Koalition kurz davor, eine
gemeinsame Sprachregelung zu finden.
({11})
Ich halte das im Hinblick auf Kalkulierbarkeit und Verlässlichkeit für notwendig.
Wir müssen alles tun, damit es zu einem nachhaltigen,
dauerhaften Aufschwung und zu mehr Beschäftigung in
Deutschland kommt und unsere Wettbewerbsfähigkeit in
Europa gestärkt wird. Dann können wir im Sinne der
Lissabonstrategie dazu beitragen, dass Europa wieder
zur Lokomotive der Weltwirtschaft wird. Dazu gehört
der Motor Deutschland. Darum kümmern wir uns.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Oskar Lafontaine,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsminister hat uns aufgefordert, Deutschland nicht schlecht zu reden, und er hat,
wie es seine Pflicht ist, auch Silberstreifen am Horizont
ausgemacht und festgestellt, dass die Konjunktur jetzt
doch in Gang gekommen ist.
({0})
Zunächst einmal, Herr Bundeswirtschaftsminister:
Deutschland ist schön und es kann auch niemand bestreiten, dass es hier oder dort Daten gibt, die man so interpretieren kann, wie Sie sie interpretiert haben. Aber
schon bei der Aussage, Deutschland sei schön, möchte
ich darauf hinweisen, dass der Begriff Deutschland zu
allgemein gefasst ist. Es gibt viele Deutsche. Darunter
gibt es Deutsche, denen es gut geht, und es gibt Deutsche, denen es weniger gut geht. Es gibt Deutsche, die
arbeitslos sind, und es gibt Deutsche, die unterhalb des
Existenzminimums leben. Auch über die müssen wir reden. Das ist kein Schlechtreden Deutschlands, sondern
schlicht und einfach ein Sich-Auseinander-Setzen mit
der Realität, eine Aufgabe, die wir in diesem Hause nicht
aus den Augen verlieren dürfen.
({1})
Nun hat der Bundesfinanzminister in der ihm eigenen
Klarheit seine Argumente vorgetragen. Das ist erfrischend. Deshalb kann man sehr gut darauf eingehen. Er
hat zwei Ziele für die Regierung angegeben, nämlich die
Wachstumskräfte zu stärken und den Haushalt zu konsolidieren. Wer wollte gegen diese zwei Ziele etwas haben? Die Frage ist aber, wie diese beiden Ziele zueinander in Bezug gesetzt werden; das ist die entscheidende
Frage der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wenn man die
Wachstumskräfte tatsächlich enorm stärken kann, dann
hat man in dem Maße der Stärkung Mehreinnahmen und
Minderausgaben. So zeigt sich überall in den Industriestaaten, dass auf diesem Weg die Haushaltskonsolidierung tatsächlich gelingt.
Wenn der Akzent zu stark auf der Haushaltskonsolidierung liegt, dann gelingt es eben nicht, die Wachstumskräfte zu stärken, und es gelingt auch nicht, den Haushalt
zu konsolidieren. Man muss doch fairerweise zugeben,
dass Ihr Vorgänger im Amt enorme Anstrengungen unternommen hat, den Haushalt zu konsolidieren. Er hat
aber zwei Fehler gemacht: Es gelang ihm nicht ausreichend, die Wachstumskräfte zu stärken, und er hat darüber hinaus die Einnahmen deutlich geschwächt. So
landete er bei einer immer höheren Verschuldung. Die
Frage ist, ob die jetzige Handlungsweise der Regierung
sinnvoller und in sich stimmiger ist.
Zunächst einmal zur Frage der Haushaltskonsolidierung. Es wird in diesem Zusammenhang immer wieder
von der Nettoneuverschuldung gesprochen. Man muss
darauf hinweisen, dass diese zunächst einmal nichts über
die Frage aussagt, die ich aufgeworfen habe. Die einzige
Aussage, die man heranziehen kann, betrifft die Ausgabenseite. Da stellen wir fest, dass Sie angeben, in diesem Jahr genauso viel ausgeben zu wollen wie im letzten
Jahr. Wenn Sie die Preiseffekte abziehen, dann haben Sie
eine leicht restriktive Haushaltspolitik. Insofern kommen auch die Beobachter der Wirtschaft zu dem Ergebnis, dass die Haushaltspolitik in diesem Jahr keinen Beitrag zu Wachstum und Beschäftigung leistet. Damit
muss man sich rational auseinander setzen. Solange man
die Ausgaben nicht steigert, kommt kein positiver Impuls - so ist nun einmal die Logik - von der Haushaltsseite zur Stärkung von Wachstum und Beschäftigung.
({2})
Nun haben Sie dankenswerterweise - das möchte ich
ausdrücklich anerkennen, weil das gewissermaßen eine
Zäsur hier im Hause darstellt - gesagt, dass Sie auf der
Einnahmeseite ein Niveauproblem haben. Ich bin dankbar, dass seit Monaten jetzt zum ersten Mal hier im Plenum die Steuer- und Abgabenquote in Deutschland
realistisch dargestellt wird. Wir haben nun einmal im
OECD-Vergleich mit 34 Prozent eine einmalig niedrige
Steuer- und Abgabenquote. Wir liegen um 6 Prozentpunkte unter dem europäischen Durchschnitt. Ich
möchte Ihre Unterhaltung mit der Kanzlerin nicht stören,
will aber auf einen wichtigen Punkt zu sprechen kommen. Sie, Frau Bundeskanzlerin, müssen sich entscheiden, welche Steuer- und Abgabenquote Sie anstreben;
sonst ist alles, was hier vorgetragen wird, leeres Gesums.
Man muss das in aller Klarheit sagen.
({3})
Die Frage, die Sie beantworten müssen, ist folgende:
Wollen Sie auf das europäische Niveau? Es wäre ja vorstellbar, dass jemand in Deutschland den Mut hat, das
europäische Niveau der Steuer- und Abgabenquote zu
erreichen. Oder wollen Sie das nicht? Wollen Sie weiterhin 6 Prozentpunkte unter dem europäischen Niveau
bleiben? Das heißt: Wollen Sie weiterhin 130 Milliarden
Euro Mindereinnahmen im Vergleich zu den europäischen Nachbarn haben? Das ist für die Konsolidierung
und für die Haushaltspolitik nun wirklich keine irrelevante Frage.
In diesem Zusammenhang haben Sie beispielsweise
auch auf die Überschüsse Finnlands und Schwedens hingewiesen. Herr Bundesfinanzminister, die Angaben sind
ja richtig; ich will Ihnen aber einen Hinweis geben:
Hätte Deutschland die Steuer- und Abgabenquote dieser
Länder, dann würden Sie im Geld schwimmen. Sie brauchen das nur umzurechnen.
({4})
Wenn man schon diese Beispiele anführt, dann muss
man auch die Zahlen nennen und die daraus resultierenden Konsequenzen ziehen. Sie hätten dann keine Probleme, Forschung, Bildung, öffentliche Investitionen
usw. zu finanzieren. Diese Länder stellen nun einmal
eine Widerlegung des neoliberalen Glaubens dar, dass
man bei einer möglichst niedrigen Steuer- und Abgabenquote viel Wachstum und Beschäftigung hat, tolle Bildungseinrichtungen vorhalten kann, Forschungsausgaben finanzieren kann usw. Was in diesen Ländern
geschehen ist, steht im Gegensatz zu der lange Jahre
herrschenden Ideologie und ist ein Beweis dafür, dass
eine hohe Steuer- und Abgabenquote sehr wohl mit einem hohen Beschäftigtenstand, einem dichten sozialen
Netz und einem hervorragenden Bildungswesen einhergeht. Wir sollten in Deutschland genau die Schritte, die
dort gegangen worden sind, anstreben.
({5})
Sie haben wieder auf die steuerliche Wettbewerbsfähigkeit hingewiesen. Auch der Kollege von der FDP hat
darauf hingewiesen, dass dies ein Problem sei. Ich
möchte deutlich sagen, dass dies in Deutschland überhaupt kein Problem ist. Herr Kollege von der FDP, Sie
sagen, wir seien international nicht wettbewerbsfähig.
Das ist, da wir Exportweltmeister sind, einfach nicht
mehr nachvollziehbar.
({6})
Aber wenn Sie es einfach steuerlich gemeint haben,
dann ist das schlicht falsch.
({7})
Sie müssen sich von den nominalen Steuersätzen lösen
- aus propagandistischen Gründen werden sie ununterbrochen angeführt - und sich der Realität stellen.
({8})
Hans Mundorf, der Chefredakteur des „Handelsblatts“,
hat schon vor der Steuerreform 2000 im „Handelsblatt“
geschrieben, dass die angeblich so hohe Belastung der
deutschen Unternehmen mit Steuern ein reiner Phantomschmerz sei. Nach all dem, was in den letzten Jahren geschehen ist, ist das immer noch ein reiner Phantomschmerz.
Wenn Sie angesichts der exorbitanten Gewinne, die
die Unternehmen mittlerweile ausweisen, immer noch
meinen, die Lösung der Probleme bestehe darin, die
Steuerlast der Unternehmen zu senken, dann liegen Sie
völlig falsch. Ich möchte das hier in aller Klarheit sagen.
({9})
Richtig liegen Sie natürlich, wenn Sie auf die Probleme der kleinen und mittleren Unternehmen hinweisen. Die 2,9 Millionen Unternehmen, die weniger als
zehn Beschäftigte haben, profitieren von den ganzen
Steuergesetzen der letzten Jahre, von der Freistellung
von Veräußerungsgewinnen, von der Änderung der Körperschaftsteuersätze usw. usw., nicht. Herr Kollege
Steinbrück, Sie haben hier die Einkommensteuer angesprochen. Dem ist zu entgegnen, dass 73 Prozent dieser
Unternehmen den Spitzensteuersatz niemals erreichen.
Insofern war dies eine Fehlentscheidung.
Aus unserer Sicht ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass die Mehrheit des Volkes dasselbe Interesse wie
die kleinen und mittleren Unternehmen hat. Dieses Interesse lässt sich ganz einfach formulieren: Die 2,9 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen mit weniger als
zehn Beschäftigten sind in erster Linie darauf angewiesen, dass Löhne und Renten in Deutschland endlich wieder steigen; sonst gibt es keine Erholung der Binnennachfrage. Alles andere ist schlicht kalter Kaffee.
({10})
Herr Bundesfinanzminister, Sie haben behauptet
- auch im Dialog mit Ihren Kollegen auf europäischer
Ebene -, unsere Lohnstückkosten hätten sich günstig
entwickelt. Dies ist an dieser Stelle noch einmal zu hinterfragen. Deutschland betreibt mittlerweile ein solches
Lohndumping, dass die Europäische Währungsunion
gefährdet ist. Ich weiß, dass es im Moment noch wenig
Sinn hat, das hier anzusprechen; darum spreche ich es
nur für das Protokoll an. Mit einem solchen Lohndumping ist die Europäische Währungsunion auf Dauer nicht
zu halten. Wir haben mittlerweile Wettbewerbsvorteile
von bis zu 20 Prozent gegenüber Portugal. Gegenüber
Spanien und Italien ist unser Wettbewerbsvorteil etwas
geringer. Wenn wir dieses Lohndumping fortsetzen,
dann gefährden wir die Europäische Währungsunion und
damit die europäische Einigung.
({11})
Herr Kollege Steinbrück, Sie haben die öffentlichen
Investitionen angesprochen. Geboten ist hier einfach der
Blick auf das europäische Durchschnittsniveau. Das
deutsche Niveau fällt immer weiter zurück. Wenn wir
nur das europäische Durchschnittsniveau erreichen wollten - das hat natürlich etwas mit der Einnahmeseite zu
tun -, dann brauchten wir pro Jahr zusätzliche öffentliche Ausgaben in Höhe von 25 Milliarden Euro. Ohne
ein solches Verstetigen der öffentlichen Investitionen
kommt es bei uns auch nicht zu einem Wachstum und einer Beschäftigung wie in unseren Nachbarstaaten. Dies
ist ein weiterer Hinweis von unserer Seite zu Ihren Ausführungen.
({12})
Da die Zeit knapp wird, möchte ich noch etwas zur
Vereinbarkeit von Familie und Beruf sagen. Alles,
was Sie da tun, ist zu unterstützen. Aber es gibt eben
viele Familien, die keine Steuern zahlen. Wenn Sie bei
der steuerlichen Förderung ansetzen, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern, dann klammern Sie gut 20 Prozent der Bevölkerung aus. Das ist
nicht gerechtfertigt.
({13})
Auch die Menschen, die ein geringes Einkommen haben,
müssen Familie und Beruf vereinbaren können. Insofern
setzen Sie hier wiederum an der völlig falschen Stelle
an.
Nachträglich unterstützen möchte ich Ihre Aussagen
zu Kontoabfragen. Es ist gut, dass ein Bundesfinanzminister dies hier einmal in aller Klarheit sagt. Das so
genannte Bankgeheimnis ist nichts anderes als ein
Scheinrecht, das denjenigen, die davon profitieren und
die sich darauf immer wieder berufen, Steuerhinterziehung ermöglicht.
({14})
Wenn Sie darauf hinweisen, meine Damen und Herren,
dass damit zu viel Bürokratie verbunden ist, dann
möchte ich Ihnen sagen: Vergleichen Sie einmal die Bürokratie an dieser Stelle, an der es darum geht, höhere
Vermögen und Einkommen zu besteuern, mit der Bürokratie gegenüber Hartz-IV-Empfängern!
({15})
Wenn Sie das tun, dann werden Sie sehr schnell einräumen müssen, dass hier einiges im Ungleichgewicht ist.
Zusammenfassung: Ich glaube, dass Sie die entscheidende Frage nicht beantwortet haben, nämlich: Mit welchem Steuer- und Abgabensystem wollen Sie auf Dauer
öffentliche Investitionen sicherstellen, bei Bildung und
Forschung sowie dann auch notwendigen antizyklischen
Maßnahmen mit anderen Industriestaaten konkurrieren?
Was Sie bisher beschlossen haben, ist überhaupt keine
Antwort darauf. Die Mehrwertsteuererhöhung - ich
muss es am Schluss noch einmal sagen - ist nicht nur ein
Wahlbetrug, sondern sie ist auch konjunkturell ein
Schlag ins Gesicht. Die jetzt sichtbaren Wachstumskräfte reichen nicht aus, den Einbruch zu kompensieren,
der im nächsten Jahr zu erwarten ist.
({16})
Das Wort erhält nun die Kollegin Christine Scheel,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Ich glaube nicht, dass es für die Konjunktur
und für die Zukunft dieses Landes hilfreich ist, wenn
man heute ein Gute-Laune-Programm für Teile der Wirtschaft verkündet, kurz darauf den roten Teppich, der gerade ausgerollt wurde, wieder einrollt und die Bürger
und Bürgerinnen dieses Landes weitaus mehr belastet,
als man sie vorher zu entlasten geglaubt hat.
({0})
Wir haben hier die Situation, dass auf der einen Seite
ein paar kleine Änderungen gemacht werden, die teilweise okay sind, über die man teilweise aber noch reden
muss, dass aber auf der anderen Seite eine Mehrwertsteuererhöhung kommt, der Sparerfreibetrag halbiert
wird, obwohl man den Leuten sagt: „Sorgt mehr fürs
Alter vor, spart mehr für das Alter!“, und die Versicherungsteuer erhöht wird, obwohl bestimmte Versicherungsbereiche für die Altersvorsorge genutzt werden.
Insgesamt sammelt man in einer Größenordnung von
rund 25 Milliarden Euro pro Jahr ein. In diesem Jahr gibt
man den Leuten bzw. der Wirtschaft 2,5 Milliarden Euro
zurück. Das ist die Relation, um die es geht. Ich glaube
nicht, dass mit dieser kurzsichtigen Politik das Vertrauen
von Bürgern und Unternehmen insgesamt in den Standort Deutschland mittel- und langfristig gestärkt wird.
({1})
Alle reden darüber, dass strukturelle Reformen für
dieses Land zwingend notwendig sind. Wir sehen aber,
dass, abgesehen von dem bisherigen Klein-Klein, die
große Koalition immer noch nicht in der Lage ist, sich
auf Strukturreformen zu einigen. Peer Steinbrück nimmt
2006 ein verschärftes EU-Defizitverfahren in Kauf,
rückt Deutschland damit in eine gefährliche Nähe zu
Strafzahlungen in der Größenordnung von rund
10 Milliarden Euro an die EU
({2})
und setzt alles auf die Steuererhöhungskarte. Sie müssen
einmal Folgendes sehen: Wenn Deutschland 2007 das
Maastrichtkriterium eventuell wieder einhält, dann nur
deswegen, weil das Aufkommen der auf 19 Prozent erhöhten Mehrwertsteuer vorwiegend in den Haushalt
fließt. Die gesamte Finanzplanung hängt aber völlig in
der Luft.
Wir sehen, dass es in der großen Koalition keine Einigung gibt, dass das geringere Defizit allein das Ergebnis
der Steuererhöhungen ist und dass die strukturellen Probleme, wie gesagt, unverändert bestehen bleiben. Wenn
die Konjunktur ein Stück nachlässt, schnellt das Defizit
im Prinzip sofort wieder nach oben. Das ist keine gute
Politik,
({3})
bei der man mit Verlässlichkeit für die Zukunft planen
kann.
({4})
Eindrucksvoll ist auch, wie die große Koalition ihre
mangelnde Einigungsfähigkeit beispielsweise bei der
Gesundheitsreform derzeit inszeniert. Es gibt einen ideologischen Grabenkampf zwischen SPD und Union. Da
ist, wie man lesen kann, jetzt Stillstand eingetreten. Ulla
Schmidt will Beitragsfinanzierung. Stimmen aus der
Union fordern Steuerfinanzierung. Fazit dieser festgefahrenen Debatte: Wir machen überhaupt nichts. - Derjenige, der gegenüber einer Zeitung gesagt hat, dass man
sich jetzt nur noch auf die Ausgabenseite konzentrieren
will, hat seinen Namen nicht genannt. Ich kann auch verstehen, dass der zitierte Spitzenpolitiker auf eine Namensnennung verzichtet hat.
({5})
Bei der Unternehmensteuerreform sollen, wie Peer
Steinbrück sagt, Steuerausfälle ausgeschlossen werden.
Nach dem von der Stiftung Marktwirtschaft vorgelegten
Modell ist mit Steuerausfällen in Höhe von 10 Milliarden Euro zu rechnen, nach dem vom Sachverständigenrat der Bundesregierung vorgelegten Modell ist mit
Steuerausfällen in Höhe von 22 Milliarden Euro, und
zwar pro Jahr, zu rechnen. Letzterer kommt dann auf die
Idee, dass man die 22 Milliarden Euro Steuerausfälle abfangen kann, indem man die Mehrwertsteuer auf 21 Prozent erhöht. Dazu kann ich nur sagen: Klasse Idee! Das
wäre ein Totschläger für die Inlandsnachfrage. Das wissen auch Sie. So bin ich ganz froh, dass Sie sich nicht
darauf einlassen, obwohl Herr Meister von der CDU ja
gesagt hat, man müsse das alles völlig vorurteilsfrei prüfen. Das Fazit lautet auch hier: Es ist ein Konflikt vorprogrammiert. Deswegen wird die Unternehmensteuerreform wohl nicht in der Form kommen, wie sie sich
manch einer vorstellt; denn es ist ja bislang überhaupt
keine Einigung absehbar.
Was Bürger und Bürgerinnen und Wirtschaft wollen,
Frau Bundeskanzlerin, sind Steuervereinfachung und
Bürokratieabbau.
({6})
Statt einer Vereinfachung des Steuerrechts haben wir
heute jedoch eine Vielzahl von neuen Regelungen präsentiert bekommen, die das System noch komplizierter
machen, seien es nun die Regelungen zu Kinderbetreuungskosten, seien es andere Maßnahmen.
({7})
In der Konsequenz bedeutet Steuerpolitik der großen
Koalition: komplizierter, verworrener, vertrackter.
({8})
Die Bürger haben nicht, wie es Herr Merz von der Union
immer gefordert hat - er ist ja immer noch im Rennen
und hat, wie man hören konnte, jetzt einen Orden erhalten -, eine Steuerreform bekommen, bei der ein Bierdeckel ausreicht, sondern das Steuerrecht gleicht nun eher
einem riesigen Bierzelt mit einem eingebauten Labyrinth. Das ist die Konsequenz der von Ihnen betriebenen
Politik.
({9})
Der Bürokratieabbau - das war die zweite Maßnahme, die sich die Bürgerinnen und Bürger dringend
für dieses Land wünschen und die nötig ist, damit mehr
Investitionen kommen - wurde zunächst von der Kanzlerin zur Chefsache erklärt,
({10})
wird jetzt aber von ihr eigenhändig von der Tagesordnung des Kabinetts gestrichen. Daran sieht man, dass
Ankündigungen anscheinend bloße Ankündigungen
bleiben und dass sich diese Koalition, wenn es konkret
wird, nicht einigen kann. Das heißt, es gibt keine konsistente Strategie, sondern es regiert das Prinzip Hoffnung.
Peer Steinbrück hat ja jüngst vor der IHK in Frankfurt
festgestellt, dass wir im Haushalt ein Strukturproblem
haben, indem wir zu viel Vergangenheit und zu wenig
Zukunft finanzieren. Damit haben Sie, Herr Steinbrück,
wirklich Recht. Nur lösen Sie genau dieses Problem mit
Ihren Vorschlägen nicht. Wenn Sie sich hier hinstellen
und fordern, die Ausgaben für Bildung und Forschung
müssten 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erreichen,
aber zugleich in der Kabinettssitzung der Ansatz für Bildung und Forschung zurückgefahren wird, frage ich
mich, welche Perspektive man verfolgt.
({11})
Die Wachstumsstrategie des Wirtschaftsministers Michael Glos erschöpft sich im Hoffen auf Besserung. Mittlerweile beklagen sich bereits Wirtschaftsverbände der
Union. Im „Handelsblatt“ vom 14. Februar fordern sie:
Wir brauchen in diesem Amt eine Persönlichkeit,
die als marktwirtschaftliches Gewissen der Regierung ernst genommen wird.
Weiter heißt es:
Glos fehle die erforderliche klare ordnungspolitische Orientierung ebenso wie das nötige Fachwissen.
Dazu kann ich nur sagen: Hört! Hört! Wenn aus den eigenen Reihen eine solche Kritik geübt wird, dann brauchen wir sie gar nicht mehr zu formulieren. Sie erledigen
das ja anscheinend selbst.
({12})
Als Reaktion auf die Probleme am Arbeitsmarkt
verteuert die große Koalition das Erfolgsmodell Minijob. Wir haben ja mittlerweile gelernt, dass es sich dabei
um etwas Positives handelt, auch wenn das Linksbündnis das immer noch nicht kapiert hat, aber egal. Sie verteuern dieses Modell, indem Sie die Abgaben von 25 auf
30 Prozent anheben, und gefährden damit viele kleine
Jobs.
({13})
Auf der anderen Seite diskutieren Sie über ein Kombilohnmodell, das Milliarden kostet. Ich frage mich, um
welche Strategie es sich handelt, wenn man zuerst Jobs
im unteren Lohnbereich verteuert und dann Kombilohnmodelle anbietet, die vielfältige Mitnahmeeffekte auslösen. Da haben die Grünen wahrlich einen besseren Vorschlag eingebracht.
({14})
Meine Damen und Herren, wir brauchen gezielte Politik für Zukunftsbereiche, in denen Arbeitsplätze entstehen. Wir haben als Grüne in den letzten Jahren im Umweltsektor viel für die regenerativen Energien getan,
einen boomenden Bereich, in dem Deutschland weltweit
führend ist. Wir brauchen eine Wirtschafts- und Finanzpolitik, die unsere Stärken konsequent weiterentwickelt.
Wir brauchen vor allen Dingen eine verlässliche Perspektive. Diese gibt Schwarz-Rot derzeit beileibe nicht.
Danke schön.
({15})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ortwin Runde,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Thiele, Sie haben über den Kernbereich der FDP-Politik
geredet. Eigentlich habe ich bisher vermutet, es sei nur
ein Verdacht, dass der Schutz vor Kontenabfragen und
das Schützen derjenigen, die ein bisschen Steuern hinterziehen, zum Kernbereich Ihrer Politik gehören. Dass Sie
das in Ihrer Rede aber so direkt als einen der ersten
Punkte ansprechen, hat mich schon ein wenig verwundert.
({0})
Diese Art von Offenheit und Ehrlichkeit hat man wirklich selten.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist Teil eines umfassenden Konzeptes. Neben dem Gesetzentwurf gibt es die
Aussage in der großen Koalition, für Forschung und Entwicklung 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auszugeben. Das ist eine Zielsetzung, die, wie ich sehe, von fast
allen Fraktionen des Hauses geteilt wird.
({1})
Langfristig hat das eine sehr positive Wirkung.
Ein anderer Teil des Konzeptes, der hier nicht enthalten ist, weil wir hier nur über 21 Milliarden Euro reden,
ist die energetische Gebäudesanierung. Auch das ist ein
Punkt, der, wie ich glaube, bei nüchterner Betrachtung
sehr positiv bewertet wird.
({2})
Bei dem Gesamtkonzept wird etwas sichtbar, was
auch für die verschiedenen Bestandteile des vorliegenden Gesetzentwurfes gilt, dass nämlich nicht allein die
Haushaltsausgaben und die Steuerausfälle eine Rolle
spielen, sondern dass es Multiplikatoreffekte gibt, die
bei der energetischen Gebäudesanierung, der AfA, aber
auch bei anderen Teilen wirksam werden. Das heißt, die
37 Milliarden Euro, die über vier Jahre ausgegeben werden sollen, vermehrfachen sich entsprechend in der Wirkung.
Frau Scheel, Sie haben gesagt, das sei ein „GuteLaune-Programm“. Da muss ich sagen: Ich wäre in früheren Zeiten froh gewesen, wenn wir im Bereich Wirtschaft die pessimistische Stimmung in Richtung guter
Laune hätten drehen können.
({3})
Da waren gewisse „gesäßgeographische“ Veränderungen
schon sehr hilfreich, dass das jetzt in großem Umfang
gelungen ist.
Der alte Vorwurf, Herr Thiele, es handele sich lediglich um ein Strohfeuer und nicht um ein wirksames Programm, ist schon durch die Veränderung bei den Prognosen widerlegt. Man muss sich einmal anschauen, wie
die Prognosen vor einigen Monaten aussahen und wie
sie sich verändert haben. Zunächst wurde ein Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent prognostiziert, dann
waren es 1,8 Prozent; inzwischen spricht der Deutsche
Industrie- und Handelskammertag von 2 Prozent. Daran
wird deutlich, dass dieses Programm konjunkturpolitische Wirkung entfaltet, dass es einen erheblichen Impuls
für die wirtschaftliche Entwicklung gibt und damit eine
Chance nicht nur für mehr Wachstum, sondern auch für
mehr Beschäftigung. Das ist nicht unser Urteil, sondern
das können Sie überall in der Presse und bei den Ökonomen nachlesen.
Herr Thiele hat wie üblich gesagt, im Haushalt sei im
Bereich der Ausgaben nicht hinreichend eingegriffen
worden.
({4})
Schauen wir uns das einmal an. Die Ausgabenseite des
Haushalts war in den letzten Jahren nicht das Problem.
Die Ausgabenzuwächse waren sehr gering. Was die Herstellung der Handlungsfähigkeit des Staates behindert,
ist ein Einnahmeproblem. Da sind wir wieder bei der
Kontenabfrage. Das entspricht Ihrer Mentalität, auch im
Zusammenhang mit den Steuereinnahmen, dem Abbau
von Steuersubventionen und Ähnlichem mehr. Es besteht jedoch kein Problem auf der Ausgabenseite.
Sie müssten auch sagen, in welchen Bereichen Sie
Ausgabenkürzungen vornehmen wollen, um das für die
Finanzierung Ihrer Programme benötigte Geld einzusparen.
({5})
Wir kennen doch alle die großen Ausgabenblöcke. Man
kommt sehr schnell auf Bereiche wie aktive Arbeitsmarktpolitik und soziale Sicherungssysteme von Rente
bis zur Gesundheit. An diese Bereiche müsste man herangehen. Mathematisch geht es gar nicht anders.
Wir stehen natürlich vor einer großen Herausforderung, was den gesamten Bereich Steuerpolitik und insbesondere den Bereich Unternehmensteuerpolitik angeht.
Wir werden in den nächsten eineinviertel Jahren sehr intensive Diskussionen darüber führen müssen. Dabei
wird es um folgende Fragen gehen: Welche Art der Unternehmensteuerreform ist zielführend? Kann es immer
nur um Steuersatzdumping gehen oder muss es nicht vor
dem Hintergrund europäischer Aspekte auch um andere
Dinge gehen?
Wir müssen uns auch mit der Frage beschäftigen, wie
wir Wettbewerbsfähigkeit auf der europäischen
Ebene schaffen können, ohne die Finanzierungs- und
Handlungsgrundlagen aller europäischen Länder zu zerstören.
({6})
Es ist ein Unterschied, ob steuerpolitische Maßnahmen
in Ländern wie Estland oder Lettland oder in Ländern
wie der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt werden. Die Übertragung der Steuerpolitik kleiner Länder
als Muster auf die Volkswirtschaft eines Landes mit
83 Millionen Einwohnern ist methodisch nicht sehr
günstig. Wir werden uns damit beschäftigen müssen, ob
wir den Wettbewerb bei den Steuersätzen, den wir in den
letzten anderthalb Jahrzehnten in Europa zu verzeichnen
hatten, nicht durch entsprechende Harmonisierungen auf
der europäischen Ebene verhindern können. Dieses wird
eine der ganz wesentlichen Herausforderungen sein.
In den vorliegenden Steuerreformkonzepten des
Sachverständigenrates und der Stiftung Marktwirtschaft
werden, gleiche Bedingungen vorausgesetzt, Ausfälle in
Höhe von 22 Milliarden Euro vorhergesagt. Können wir
uns in der gegenwärtigen und in der absehbaren Situation Steuerausfälle in der Größenordnung von 22 Milliarden Euro zugunsten von Unternehmen leisten? Ist
das mit der Konsolidierung der Haushalte und mit der
Einhaltung der Maastricht-Kriterien zu vereinbaren? Das
sind ganz spannende Fragen, die wir zu beantworten haben.
Bezüglich der Gewerbesteuer müssen wir Folgendes
sehen: Was bedeutet die Umschichtung von 32,5 Milliarden Euro Gewerbesteueraufkommen für die Investitionstätigkeit und für die Investitionsbereitschaft der Gemeinden?
({7})
Denn durch die schon anderthalb Jahre währende Diskussion über die Abschaffung der Gewerbesteuer, die in
Ihrem Konzept enthalten ist, wurden die Gemeinden verunsichert. Ich kann nur sagen, dass wir die Finger davon
lassen sollten.
Der frühere Vorsitzende des Sachverständigenrates,
Herr Wiegard, hat in kluger Voraussicht gesagt, die Wissenschaftler seien 30 Jahre gegen die Gewerbesteuer angerannt und sie könnten dieses Anrennen auch weiterhin
aushalten. Wir sollten die Gewerbesteuer beibehalten,
weil sie für die Handlungsfähigkeit dieser Körperschaftsebene dringend gebraucht wird und die Investitionen für
das Wachstum von entscheidender Bedeutung sind.
({8})
Natürlich ist es so, dass wir bezogen auf die gegenwärtige Situation eine Stärkung der Binnennachfrage
brauchen. Da sind aber nicht nur der Staat, sondern auch
die Unternehmen gefragt, die heute große Gewinne machen. Dass diese Unternehmen die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer am Gewinn beteiligen, liegt im volkswirtschaftlichen Interesse, langfristig aber auch im Interesse dieser Unternehmen. Insofern sind die früheren
Aussagen von Herrn Glos, die zwischenzeitlich aufgrund seines neuen Amtes ein wenig relativiert wurden,
immer noch richtig. In diesem Punkt unterstützen wir
ihn weiterhin.
Schönen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
drei vorliegenden Gesetzentwürfe sind bezeichnend für
die Finanzpolitik der Bundesregierung. Mit dem einen
bekommen die Bürger ein wenig zurück; mit den beiden
anderen wird kräftig einkassiert.
({0})
Nun ist es bestimmt - da gibt es überhaupt keinen
Zweifel - eine gute Sache, gegen Steuermissbrauch
vorzugehen. Aber, Herr Minister Steinbrück, dann muss
man das auch konsequent machen. Ein schon hundertmal geflickter Sack wird nicht besser, wenn man zwei
weitere Flicken aufnäht. Während Sie ein Loch flicken,
reißen in unserem Steuersystem zwei neue auf.
Wenn man sich die Begründung zu Ihren Gesetzentwürfen durchliest, dann hat man den Eindruck: Da ist ein
beleidigter Gesetzgeber, der sich echauffiert, weil die
Bürgerinnen und Bürger in den Gesetzen Schlupflöcher
finden und nutzen. Dabei wird ausgeklammert, dass der
Gesetzgeber selbst diese Schlupflöcher geschaffen hat.
({1})
Das Problem sind nämlich nicht die Bürgerinnen und
Bürger mit ihren wohlverstandenen Sparbemühungen;
das Problem sind handwerklich schlecht gemachte Gesetze. In der Begründung zu Ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Verringerung steuerlicher Missbräuche und Umgehungen heißt es wörtlich:
Einzelne Steuerzahler versuchen, sich der Steuerzahlung … durch legale, aber unerwünschte Umgehungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zu entledigen.
„Legal, aber unerwünscht“, das ist die zentrale Aussage.
Der Gesetzgeber macht schlechte Arbeit und beschwert
sich dann über legale, aber unerwünschte Steuersparmöglichkeiten.
({2})
Das ist ein offensichtlicher Offenbarungseid der Politik. Sollen denn Steuerzahler sich nicht mehr daran halten, was in Deutschland legal ist, sondern daran, was
Herr Steinbrück wünscht? Das ist doch kein vernünftiges
Steuersystem und kein verlässliches Steuerrecht.
({3})
Wenn Sie in Zukunft vernünftige Gesetze vorlegen,
die ein Konzept darstellen und mit denen Steuerhinterziehung und Steuerumgehung ausgeschlossen werden
sollen, dann kämpft die FDP an Ihrer Seite; das ist gar
keine Frage. Aber die Einführung der Kategorie „unerwünscht“ oder „erwünscht“ in Gesetze, so wie es sich
der Finanzminister vorstellt, lehnen wir ab. So kann man
sich nicht aus der Verantwortung stehlen, endlich ein
klar verständliches Steuerrecht aus einem Guss auf den
Tisch zu legen.
({4})
Nun sollte man von einer großen Koalition eigentlich
große Schritte erwarten. Aber wir bekommen von Ihnen
nur Flickschusterei geboten. Ihnen fällt nichts anderes
ein, als einen zerrissenen Sack immer wieder mit einem
neuen Flicken zu reparieren. Zu einem Steuersystem, das
endlich nicht mehr mit politischen Absichten und sich
widersprechenden Gerechtigkeitsansprüchen überfrachtet ist, sind Sie schlichtweg nicht imstande. Ihre Diagnose ist richtig: Die Menschen nutzen jeden Spielraum,
um die Zahlung von Steuern zu vermeiden. Nur, bei der
Therapie liegen Sie komplett falsch. Es sind nicht die
Bürgerinnen und Bürger, Herr Steinbrück, die an den
Pranger gehören.
Zu Ihrem Umgang mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten, den Sie vorhin diffamiert haben, indem Sie
so locker sagten, er mache seine Arbeit nicht richtig und
fahre eine Kampagne gegen Sie, muss ich sagen: Ich bin
sehr froh, dass der Datenschutzbeauftragte Ihnen und Ihren Finanzbehörden im Interesse der Bürgerinnen und
Bürger dieses Landes auf die Finger schaut.
({5})
Denjenigen, die von Ihnen fordern, dass beim Vollzug
der Kontenabfragen die Grundsätze unseres Grundgesetzes eingehalten werden, zu unterstellen, sie unterstützten
Steuerhinterzieher, und darüber freundlich zu lächeln, ist
ein Rechtsstaatsverständnis, über das man sich nur wundern kann.
({6})
Man kann die Steuerumgehung durch ein einfaches
und gerechtes Steuersystem bekämpfen, ein Steuersystem, wie es die FDP vorgelegt hat und wie wir es seit
langem fordern. Sie können in unseren Gesetzentwürfen
nachlesen, wie man so etwas macht. Dort finden Sie
praktikable Lösungen, zu deren Umsetzung Ihnen aber
die Kraft fehlt, weil Sie sich nicht darauf verständigen
können.
Die große Koalition der kleinen Schritte ist eine Koalition des Wankelmutes; das haben Sie mit den heute
vorliegenden Gesetzentwürfen wieder bewiesen. Sie
können sich nicht zu klaren Signalen durchringen. Deshalb bieten Sie uns ein finanz- und wirtschaftspolitisches
Hin und Her. Da soll die Wirtschaft mit einem Sofortprogramm entlastet und angekurbelt werden und dann
kommt die Mehrwertsteuererhöhung und macht all das
wieder kaputt. Mit einem Schritt vor und zwei Schritten
zurück kommen wir nicht weiter. Auch wenn Sie an der
einen Stelle ein bisschen entlasten, stehen bei Ihnen unterm Strich - das wissen Sie ganz genau - massive Belastungen im Vordergrund.
({7})
Die größte Einigkeit, die wir bei dieser Koalition festgestellt haben - das hätten die Wählerinnen und Wähler
von Ihnen am wenigsten erwartet -, ist die Einigkeit auf
eine Mehrwertsteuererhöhung um drei Prozentpunkte.
Obwohl die Steuereinnahmen steigen und ein Licht am
Horizont erkennbar ist, nutzen Sie diese Situation nicht,
um die von Ihnen geplante, völlig verfehlte Mehrwertsteuererhöhung zu überdenken. Sie passen sich der Entwicklung überhaupt nicht an und lassen der Wirtschaft
keine Entwicklungsspielräume, sondern halten starr an
diesem Steuererhöhungsprogramm fest, obwohl wir
alle wissen, dass es für die Binnennachfrage schädlich
ist und dass es sich negativ auf die Wirtschaft und natürlich auch auf den Arbeitsmarkt auswirken wird.
({8})
Einem Licht am Horizont wird von Ihnen damit begegnet,
Herr Steinbrück, dass Sie ihm durch Ihre Mehrwertsteuererhöhung den Strom abdrehen. Das ist kein Programm
für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland.
Die Kunst besteht heute nicht darin, den Menschen
das Geld, das sie erwirtschaftet haben, zu nehmen und es
umzuverteilen. Die Kunst und die Aufgabe, vor der diese
Regierung steht, besteht darin, den Bürgerinnen und
Bürgern einen angemessenen Teil zu belassen, damit sie
die Vorsorge treffen können, zu der der Staat nicht mehr
in der Lage ist, und damit die Wirtschaft wachsen kann
und neue Arbeitsplätze in unserem Land entstehen. Ihre
Vorschläge führen in dieser Hinsicht keinen einzigen
Schritt weiter.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Michael Meister,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Scheel, der Regierungswechsel macht
sich in Deutschland positiv bemerkbar. Die Verwirrung
ist im Herbst gewichen, Klarheit und Perspektive haben
Einzug gehalten.
({0})
Ich glaube, das ist ein Verdienst dieser Koalition.
({1})
Zu Recht ist heute früh die positive Stimmung in der
Wirtschaft gelobt worden; auf die Konjunktur und das
Ergebnis der Stimmungsumfragen ist hingewiesen worden. Ich glaube, wir können feststellen, dass das viel damit zu tun, dass der Wechsel von Verwirrung zu Klarheit
und Verlässlichkeit bei den Menschen im Land, bei denen, die Entscheidungen treffen, angekommen ist.
({2})
Der Stimmungswechsel in Deutschland hat etwas
mit den objektiven Faktoren zu tun, zum Beispiel mit
dem guten Export. Der Stimmungswechsel hat aber auch
etwas damit zu tun, dass die neue Regierung starkes Vertrauen in der Bevölkerung genießt. Das zeigt sich nicht
nur daran, dass der Export gut läuft, sondern auch daran,
dass die Inlandsnachfrage mittlerweile anzieht, dass die
Investitionszurückhaltung überwunden scheint und dass
die Menschen wieder Vertrauen in eine bessere Zukunft
haben. Die Basis dafür sind der Koalitionsvertrag und
diese neue Bundesregierung.
({3})
Wir diskutieren heute in erster Lesung den Entwurf
eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung. Dies ist Teil unseres
Impulsprogrammes, mit dem wir zwei Ziele verfolgen:
Erstens müssen wir versuchen, den einsetzenden Aufschwung zu verstärken, indem wir ihn an Breite gewinnen lassen und ihn dauerhaft selbsttragend machen.
Zweitens geht es darum, die Wachstumsbasis unserer
deutschen Volkswirtschaft nachhaltig zu stärken und
dauerhaft zu festigen. 1 Prozent Potenzialwachstum ist
auf Dauer zu wenig. Wir brauchen langfristig stärkere
Wachstumskräfte für unsere Wirtschaft. Auch dazu werden wir einen Beitrag leisten.
({4})
Ich möchte dem einen oder anderen Redner in dieser
Debatte sagen: Es bringt nichts, das Gesamtkonzept dieser Regierung auseinander zu dividieren. Wir reden über
das Sparen - in der Haushaltswoche werden wir klare
Worte zur Haushaltskonsolidierung sagen -, wir reden
über das Investieren - das werden wir heute gemeinsam
tun - und wir reden über langfristige Reformen, die in
Vorbereitung sind und die wir zu gegebener Zeit, wie
vereinbart, diskutieren werden. Hören Sie endlich auf,
diese drei Elemente auseinander zu nehmen. Wir haben
ein Gesamtprogramm und dabei sollte es auch bleiben.
({5})
Ich will ausdrücklich festhalten, dass dieses Impulsprogramm kein Konjunkturprogramm ist. Es geht
zwar auch um die Stimulierung der Binnennachfrage.
Aber dies allein wäre aufgrund unserer weltwirtschaftlichen Vernetzung viel zu wenig. Deshalb müssen wir uns
auch mit der Frage beschäftigen: Wo können in unserem
Land zusätzliche Arbeitsplätze entstehen? Mit diesem
Programm haben wir versucht, eine Antwort darauf zu
geben.
Ich will Ihnen einige Beispiele nennen. Wir haben in
Deutschland die klassisch-mittelständischen Unternehmen. Wir glauben, dass hier sehr viel Potenzial vorhanden und mobilisierbar ist. Wir müssen den Unternehmen
bei der Stärkung des Eigenkapitals und der Verbesserung
der Liquidität helfen. Wir können diese Unternehmen
aber nicht bis zum 1. Januar 2008, also dem Zeitpunkt,
bis zu dem wir die große Unternehmensteuerreform
handwerklich sauber hinbekommen wollen, vertrösten,
sondern müssen ihnen für diesen Zeitraum ein Angebot
machen. Dabei werden wir die Umsatzgrenze bei der IstBesteuerung in den neuen Ländern so beibehalten, wie
sie heute existiert, und die Umsatzgrenze für die Ist-Besteuerung in den alten Ländern verdoppeln. Damit stärken wir das Eigenkapital und verbessern die Liquidität
gerade kleiner und mittelständischer Unternehmen.
({6})
Jetzt kann man sagen, dass wir die Abschreibungsbedingungen im Jahr 2000 verschlechtert haben, sie nun
aber wieder verbessern wollen. Wir bieten eine klare und
konsistente Unternehmensteuerreform zum 1. Januar
2008 an.
({7})
- Frau Scheel, auch an dieser Stelle gilt: Diese Unternehmensteuerreform ist ein Angebot und sie wird rechtzeitig hier im Haus verabschiedet werden.
({8})
Sie wird eine klare Perspektive bieten. Wir können den
Unternehmen aber nicht sagen: Bis zu dem Zeitpunkt tun
wir nichts und lassen die Probleme anwachsen. Deshalb
bauen wir für diese zwei Jahre eine Brücke, indem wir
die Abschreibungsbedingungen verbessern. Deshalb beschließen wir das jetzt.
({9})
Der zweite Bereich, von dem wir glauben, dass dort
Arbeitsplätze entstehen können, ist der Privathaushalt.
Wir sind der Meinung, dass in Privathaushalten viele
neue Beschäftigungsmöglichkeiten entwickelt werden
können. Wir denken dabei an Kinderbetreuung sowie die
Betreuung Pflegebedürftiger. Deswegen tun wir mit diesem Gesetz etwas zur Verbesserung der Situation in diesen Bereichen. Wir kümmern uns darum, die steuerliche
Absetzbarkeit der Kosten für haushaltsnahe Dienstleistungen zu vereinfachen. Außerdem schaffen wir mit den
verbesserten steuerlichen Absetzungsmöglichkeiten für
Handwerkerleistungen Anreize, Handwerker in Privathaushalten legal auf Rechnung arbeiten zu lassen. Dadurch werden diejenigen - das ist heute schon mehrfach
gesagt worden -, die ohne Rechnung arbeiten, aus dem
grauen oder schwarzen Bereich herausgedrängt und Arbeit wird legalisiert.
({10})
Wir müssen doch einmal zur Kenntnis nehmen, dass
wir in Deutschland ein Schwarzarbeitsvolumen haben,
das fast so hoch ist wie das Volumen der Arbeit, die von
den derzeitigen Arbeitslosen geleistet werden könnte.
Dann muss man sich doch die Frage stellen, ob wir diese
illegale Beschäftigung nicht in die Legalität überführen
können und so auch Steuer- und Abgabenzahlungen für
die Volkswirtschaft sowie vernünftige Beschäftigungsbedingungen für die betroffenen Menschen bekommen.
({11})
Ein weiterer Bereich betrifft das Thema, wie wir es
schaffen, die Wachstumspotenziale unserer Wirtschaft
nachhaltig zu verbessern. Es ist wichtig, dass wir uns im
Sinne des Lissabonprozesses darüber klar werden, dass
wir hochwertige Dienstleistungen und Produkte brauchen. Das Zeichen für Spitzenqualität im Bereich
Dienstleistungen und Produkte „Made in Germany“
muss auch in Zukunft eine Chance auf dem Weltmarkt
haben. Wir müssen daher verstärkt in Technologieentwicklung und Forschung investieren.
({12})
Das kann die Politik aber nicht alleine. Wir können jedoch die Wirtschaft nicht einladen, sich stärker zu beteiligen, wenn die Politik nicht ihren Beitrag leistet. Deshalb verpflichten wir uns auf das Lissabonziel und
erhöhen dauerhaft den Anteil für Forschungs- und Entwicklungsausgaben auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
({13})
Die nachhaltige Stärkung unserer Wachstumsbasis,
unserer Volkswirtschaft, hat auch etwas mit Mobilität
zu tun. Es geht hierbei zunächst einmal nicht um die
Menge an Geld, das wir bereitstellen, sondern für diejenigen, die an der Ausführung beteiligt sind, geht es zunächst einmal darum, dass wir Planungssicherheit schaffen und für Stetigkeit sorgen. Deswegen machen wir
eine Vorgabe zur Festlegung der Ausgabevolumina für
Infrastruktur in Deutschland für die nächsten vier Jahre.
Damit sind an dieser Stelle Stetigkeit und Planungssicherheit gegeben.
Darüber hinaus werden wir das Volumen deutlich
steigern und mehr Geld zur Verbesserung der Infrastruktur bereitstellen. Wir müssen uns darüber klar sein, dass
Mobilität und damit auch Infrastruktur die Basis für
wirtschaftliches Wachstum ist. Das gehört zusammen.
Ich glaube, dass langfristig mehr Mobilität zu mehr
Wachstum führt, und diese Regierung ermöglicht mehr
Mobilität und damit auch mehr Wachstum.
({14})
Es gibt noch einen weiteren Bereich, in dem wir versuchen, ein Zukunftsfeld zusammenzuführen: Klimaschutz sowie Arbeit in Bau und Handwerk. Wie können
wir hier die Konjunktur in Gang bekommen und dadurch
Arbeitsplätze schaffen? Wenn wir das Klimaschutzziel
erreichen wollen, ist der finanziell günstigste Weg, in
Gebäude zu investieren. Es gibt aus finanzieller Sicht
keinen günstigeren Weg, um dieses Ziel zu erreichen.
Deshalb hat diese Koalition gesagt: Wir nutzen den
günstigsten Weg und legen die drei Ziele, die ich genannt habe, an dieser Stelle zusammen. Das ist zwar
nicht Inhalt dieses Gesetzes, aber es gehört zum Impulsprogramm.
({15})
Dieses Impulsprogramm - eingebettet in unsere Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung und in unsere
langfristigen strukturellen Reformziele - ist gut angelegtes Geld. Wir sollten nicht ständig darüber klagen, dass
wir das Programm auflegen. Die Argumente für das Programm habe ich gerade vorgetragen.
Zu den langfristigen Reformzielen: Ja, wir werden
zum 1. Januar 2008 eine Unternehmensteuerreform verabschieden. Wir werden in diese Unternehmensteuerreform auch die Punkte, die heute Morgen angesprochen
wurden, einbeziehen, also die Besteuerung der Kapitalerträge und der Veräußerungsgewinne. An dieser Stelle
wird deutlich, was diese Koalition auszeichnet, nämlich
dass wir in Zusammenhängen denken und nicht in Einzelheiten und dass wir versuchen, die Probleme, die
strukturell zusammengehören, gemeinschaftlich zu lösen.
({16})
Wir brauchen international wettbewerbsfähig Steuersätze. Ich möchte folgende Frage aufgreifen: Was
nützt uns die Debatte über die Steuer- und Abgabequote?
Die Steuer- und Abgabequote interessiert doch keinen
Unternehmer in diesem Land, wenn er eine Investition
tätigt oder einen neuen Arbeitsplatz schafft. Den Unternehmer in unserem Land interessiert der Durchschnittssteuersatz für sein Unternehmen. Wenn er investieren
will, interessiert ihn die Grenzbelastung. Deshalb müssen wir darüber nachdenken, welches Signal wir bei der
Grenzbelastung setzen. Über diese Frage denkt die Koalition nach. Wir sagen: Hier muss das Signal besser gestellt werden. Wir brauchen eine niedrigere Grenzbelastung. Aber wir müssen klar und deutlich dazu sagen: Wir
haben nichts zu spendieren. Das heißt, wir müssen die
Entwicklung nachzeichnen, die in anderen europäischen
Ländern schon stattgefunden hat: breite Bemessungsgrundlage und dafür niedrige nominale Steuersätze als
attraktives Angebot an diejenigen, die in Deutschland etwas unternehmen wollen.
({17})
Wir machen nicht nur ein Angebot für Kapitalgesellschaften, sondern ein Angebot für alle Unternehmen in
diesem Land: eine umfassende Unternehmensteuerreform, durch die es zu keiner unterschiedlichen Behandlung der Familien- und der Kapitalunternehmen kommt.
Das, was wir beim Jobgipfel angedacht haben, war ein
Notbehelf. Der würde an dieser Stelle zu kurz springen.
Deshalb bin ich dafür, dass wir mutiger sind und diese
umfassende Reform für alle Rechtsformen von Unternehmen zustande bringen.
({18})
Herr Kollege Wissing hat gerade beklagt, dass ihm
die Zuversicht dafür fehlt, dass diese Koalition im steuerlichen Bereich zu umfassenden Reformen in der Lage
sei. Ich gebe ihm die Empfehlung, den Koalitionsvertrag
- ich schicke Ihnen gern ein Exemplar - zu lesen.
({19})
Darin steht, dass wir uns über die Unternehmensteuerreform, aber auch darüber hinaus über entsprechenden Reformschritte, zum Beispiel bei der Grundsteuer, verständigt haben. Diese werden wir auch umsetzen. Haben Sie
etwas Zuversicht und glauben Sie an den Willen dieser
Koalition, Herr Kollege Wissing.
({20})
Diese Reform braucht allerdings Zeit. Denn wir wollen keinen Schnellschuss aus der Hüfte, den wir dann
wenige Monate später nachbessern; darauf hat der Herr
Finanzminister heute Morgen hingewiesen. Damit würden wir keine Verlässlichkeit und kein Vertrauen schaffen. Deshalb haben wir gesagt, dass wir diesen komplexen Vorgang in Ruhe und mit aller Sachlichkeit beraten
und rechtzeitig vor Inkrafttreten am 1. Januar 2008 über
dieses Reformwerk entscheiden. Damit schaffen wir
Vertrauen und Verlässlichkeit.
Ich möchte ausdrücklich denjenigen danken, die uns
geistig zugearbeitet haben, und zwar sowohl dem Sachverständigenrat wie auch der Stiftung Marktwirtschaft.
Ich denke, dadurch haben wir eine hervorragende Plattform für die Arbeit, die jetzt vor uns als Gesetzgeber
liegt.
({21})
Ich bin ausdrücklich der Meinung, dass wir in diesem
Zusammenhang das Problem der kommunalen Finanzreform lösen müssen. Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, die Gewerbesteuer zu einer kommunalen wirtschaftskraftbezogenen Unternehmensteuer
fortzuentwickeln. Diesen Ansatz haben wir jetzt einvernehmlich von beiden Facharbeitsgruppen, sowohl dem
Sachverständigenrat wie auch der Stiftung Marktwirtschaft, vorgelegt bekommen. Die Unterschiede an dieser
Stelle sind marginal. Deshalb bin ich guten Mutes, dass
wir gemeinsam mit den Kommunen eine für die Zukunft
stetige und verlässlich kommunale Finanzreform zustande bekommen. Das hilft den Kommunen, das hilft
dem Standort, das hilft den Arbeitnehmern und den Unternehmen.
({22})
Wir werden im Rahmen des Bürokratieabbaus die
Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren vorantreiben. Diese Koalition hat als erste nicht
nur die Klage geführt, dass Bürokratielasten wachsen,
sondern wir haben auch klare Vereinbarungen getroffen,
wie wir diese Lasten überwinden wollen.
Ich wundere mich darüber, dass all diejenigen, die immer über zu viel Bürokratie geklagt haben, jetzt, da wir
dieses Problem angehen, Klage darüber führen, all unsere Maßnahmen seien nichts Rechtes. Lassen Sie uns
die Schritte, die wir vereinbart haben, doch erst einmal
implementieren! Dann werden wir sehen, wie weit wir
an dieser Stelle kommen. Sie sollten nicht nur in Sonntagsreden ständig Klage über die Bürokratie führen, sondern auch bereit sein, dieses Problem wirklich anzupacken. Daher sollten Sie den neuen Ansatz der Koalition
unterstützen.
({23})
Meine Damen und Herren, auch beim Thema Senkung der Lohnnebenkosten bitte ich um etwas mehr
Ehrlichkeit. Wir haben festgelegt, dass der Beitrag zur
Arbeitslosenversicherung zum 1. Januar 2007 um 2 Prozentpunkte gesenkt wird. Der Ehrlichkeit halber haben
wir auch gesagt, wie wir das finanzieren wollen: zum
Teil durch Einnahmen aus Effizienzgewinnen der Bundesagentur für Arbeit, zum Teil aber auch durch Einnahmen aus der Mehrwertsteuererhöhung.
Man kann nicht nur die Senkung der Lohnnebenkosten befürworten, wenn es aber um die Mehrwertsteuererhöhung geht, still aus dem Raum gehen, weil man hier
nur sehr ungern dabei ist. Ich bin der Meinung, man
muss beide Aspekte gemeinsam betrachten. Auch in der
Haushaltswoche, wo wir über die Haushaltskonsolidierung diskutieren werden, wird man nicht einfach sagen
können: „Wir wollen das strukturelle Defizit des Bundeshaushalts in Höhe von 60 Milliarden Euro beseitigen“, aber durch die Hintertür rausgehen, wenn all die
anderen Maßnahmen zur Debatte stehen. Das, was zusammengehört, muss auch in seiner Gesamtheit betrachtet werden. Es geht nicht, dass immer nur punktuell
Klage geführt wird.
({24})
Ich will ausdrücklich unterstreichen - das ist bereits
heute Vormittag gesagt worden -, dass die Wachstumskräfte in unserem Lande durch die Konsolidierung des
Bundeshaushalts nachhaltig stabilisiert werden. Hier gilt
der Satz des vorherigen Bundesfinanzministers: Die
Schulden von heute sind die Steuern und Abgaben von
morgen. - Durch die Reduzierung der Staatsschulden
leisten wir also einen positiven Beitrag zur zukünftigen
Entwicklung bei Steuern und Abgaben. Ich glaube, wenn
wir die Haushaltskonsolidierung vorantreiben, entsteht
dadurch auch ein Impuls für nachhaltiges Wachstum in
unserem Land.
({25})
Zum Abschluss meiner Rede möchte ich auf den
zweiten Gesetzentwurf eingehen, der nicht von den Koalitionsfraktionen, sondern heute Morgen von der Bundesregierung eingebracht wurde. In ihm geht es um die
Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen. Zu
diesem Gesetzentwurf will ich Folgendes sagen: Es ist ja
nett, zu sagen, dass der Gesetzgeber die eine oder andere
Möglichkeit geschaffen hat, die von den Steuerpflichtigen auch wahrgenommen wird; soweit ist alles in Ordnung. Wenn wir aber der Meinung sind, dass diese Möglichkeiten in Zukunft nicht mehr wahrgenommen
werden sollten, dann hilft auch hier nicht die Klage.
Dann müssen wir diese Möglichkeiten schlicht und ergreifend abschaffen, wie es zum Teil im vorliegenden
Gesetzentwurf steht.
({26})
Dabei handelt es sich nicht um eine vollständige
Übersicht, sondern nur um einen kleinen Ausschnitt dessen, was wir in Angriff nehmen. In den anstehenden Beratungen sind wir natürlich offen, an der einen oder anderen Stelle über Änderungen zu sprechen. Wir werden
Sachverständige anhören, mit der Opposition diskutieren
und versuchen, die betreffenden Regelungen geländegängig zu machen und sie so wenig bürokratieanfällig
wie möglich zu gestalten, damit wir letzten Endes zu einem Ergebnis kommen, das in unsere Gesamtkonzeption
passt.
Hierzu lade ich Sie herzlich ein und freue mich auf
die Diskussionen.
Vielen Dank.
({27})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Axel
Troost, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Koalitionsvertrag ist den Bürgerinnen und Bürgern in
der Tat versprochen worden: „Mit gezielten Maßnahmen
wollen wir die Konjunktur in Fahrt bringen.“ Auch haben Sie sich vorgenommen, verstärkt gegen Steuermissbrauch vorzugehen. Dass an dieser Debatte gleich zwei
Minister teilnehmen, die versuchen, die heute vorliegenden Gesetzentwürfe unter diesem Motto vorzustellen, ist
ja schon eine ganze Menge. Aber aus Sicht der Linken
muss ich sagen: Die Bürgerinnen und Bürger werden
von den beiden Gesetzentwürfen, die Sie vorgelegt haben, zutiefst enttäuscht sein.
({0})
Der Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Eindämmung
missbräuchlicher Steuergestaltungen“ hört sich klasse
an.
({1})
Einen kleinen Augenblick, Herr Kollege. - Darf ich
darum bitten, dass Gespräche nicht im Plenarsaal, sondern höchstens am Rande des Plenarsaals geführt werden?
({0})
Bitte schön, Herr Kollege.
Danke. - Aber wenn man sich die Gesetzentwürfe im
Einzelnen ansieht, stellt man fest, dass es ausschließlich
um steuertechnisches Klein-Klein geht. In der Summe
sollen durch die vorgeschlagenen Maßnahmen Mehreinnahmen in Höhe von 820 Milliarden Euro erzielt werden.
({0})
Vor dem Hintergrund, dass die Einnahmeausfälle durch
Steuerhinterziehung jährlich eine geschätzte Größenordnung von über 75 Milliarden Euro erreichen, sind diese
Maßnahmen wirklich kein mutiger, sondern ein sehr
kleinmütiger Schritt.
({1})
Und von den insgesamt erwarteten 820 Milliarden Euro
entfallen alleine auf eine Maßnahme - die Steuerstundung - 500 Milliarden Euro. - Entschuldigung, liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich habe eben von Milliarden
gesprochen. Es muss natürlich heißen: Millionen. - Gestern im Finanzausschuss konnte mir niemand schlüssig
erklären, wie diese Steuerstundung dauerhaft zu jährlichen Steuermehreinnahmen von 500 Millionen Euro
führen soll. Insofern steht auch das, was hier vorgelegt
worden ist, auf ganz wackeligen Beinen. Trotzdem sind
einzelne Maßnahmen sicherlich sinnvoll; wir werden sie
diskutieren und gegebenenfalls unterstützen. Aber alles
in allem bleibt der Entwurf hinter unseren Erwartungen
weit zurück.
Nicht anders beim Thema Konjunktur. Heute liegt der
steuerpolitische Teil des Sofortprogramms für höheres
Wachstum und mehr Beschäftigung vor. Nur damit sollten wir uns auch beschäftigen. Es ist ja schön, dass es
später noch einen investiven Teil geben wird; aber darüber diskutieren wir schließlich in einer anderen Debatte. Wenn man sich den steuerpolitischen Teil anschaut, stellt man fest, dass die eingesetzten Instrumente
wieder ausgesprochen fragwürdig sind. Aus unserer
Sicht werden sie lediglich Mitnahmeeffekte bewirken.
Insbesondere - auf diesen Teil entfallen 60 bis 75 Prozent des Gesamtvolumens - haben wir wieder eine
Erleichterung von Abschreibungen, die letztlich dazu
führen wird, dass die Kosten der Unternehmen für Investitionen gesenkt werden und die Gewinnmargen der Unternehmen steigen. Das Problem der deutschen Wirtschaft ist aus unserer Sicht aber gerade nicht, dass die
Gewinnmargen zu klein wären und deswegen nicht investiert würde; das Problem ist und bleibt, dass die erwarteten Absatzchancen auf dem Binnenmarkt zu gering
sind und deswegen die Investitionen ausbleiben.
({2})
Wenn Sie sich also loben, dass die Investitionen wieder angesprungen seien, muss man sagen: Sie sind trotz
Ihrer Politik, nicht wegen Ihrer Politik angesprungen.
({3})
Den gesamten Haushalt 2006 zugrunde gelegt, auch die
Kürzungen bei den Arbeitslosen, im öffentlichen Dienst
und in anderen Bereichen, wird es kein expansiver Haushalt, sondern ein restriktiver Haushalt. Das bestätigt
das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung. Das heißt, es wird keinen Konjunkturimpuls
geben, sondern wir erwarten eher weitere Einschränkungen. Zu dem gleichen Ergebnis kommt auch die „Financial Times Deutschland“; sie hat ebenfalls festgestellt,
dass Ihre Maßnahmen unter dem Strich nicht zu einer
Expansion, sondern zu einer Schrumpfung führen werden.
Zusammenfassend aus meiner Sicht: Was Sie hier
heute vorgelegt haben, folgt erneut der Philosophie: Die
Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen
und die Arbeitsplätze von übermorgen. Das aber ist ein
Märchen aus der Sammlung „Tausendundein Arbeitsloser“; daran glauben wir schon lange nicht mehr.
Danke schön.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Ulrich
Krüger für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als jemand, der über
die Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltung
sprechen möchte, wäre ich natürlich sehr froh, wenn dieser Gesetzentwurf dem Haushalt unserer Republik
820 Milliarden Euro bringen würde, nur, dieser Versprecher ist ja bereits korrigiert worden: Es sind 820 Millionen Euro.
Gleichwohl ist dieser Gesetzentwurf notwendig und
richtig. Unser Land, Deutschland, steht vor großen Herausforderungen: Hohe Arbeitslosigkeit und noch zu
schwache Binnenkonjunktur bestimmen trotz positiver
Signale die Finanzlage von Bund, Ländern und Kommunen. Die Verschuldung aller öffentlichen Haushalte
beträgt 1,4 Billionen Euro und jeder sechste Euro der
Bundesausgaben wird für Zinszahlungen aufgewandt.
Die Menschen erwarten jedoch - das ist heute Morgen
schon angeklungen - einen handlungsfähigen Staat, sie
erwarten, dass unser Gemeinwesen die Infrastruktur finanziert, Sozialleistungen bereitstellt und innere und äußere Sicherheit gewährleistet. Deshalb ist es an der Zeit,
Impulse für Wachstum und Beschäftigung zu geben,
aber auch einen kritischen Blick auf Ungereimtheiten im
Steuerrecht zu werfen. Der Ehrliche darf nicht der
Dumme sein.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, mit dem jetzt
vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir die erfolgreiche
Praxis der Schließung von Steuerschlupflöchern fort.
Ein starker Staat kann nur dann Schutz bieten, wenn er
die Auswüchse, die in der Praxis entstanden sind, beseitigt. In einem modernen und leistungsfähigen Staat ist es
daher Pflicht, dafür zu sorgen, dass jeder nach seiner Fähigkeit und nach seiner Stärke zum Wohle des Ganzen
beiträgt. Unsere Aufgabe als Gesetzgeber ist es, eine
faire Verteilung der Chancen und Möglichkeiten zu gewährleisten. Mit dem Gesetz zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen, das ich soeben angesprochen habe, ist ein guter Entwurf gelungen, um mehr
Steuergerechtigkeit im Sinne des Zusammenhalts und
der Solidarität der Menschen in unserem Staat zu verwirklichen.
Zurzeit gibt es in Deutschland ein lukratives Steuermodell, durch welches in unseren Ländern Steuerausfälle in Höhe von Hunderten Millionen Euro jährlich
entstehen. Bei diesem Modell beteiligen sich Kapitalanleger unter Ausnutzung der Gewinnermittlungsvorschriften gemäß § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes an einer so genannten gewerblich geprägten
Gesellschaft, die zum Beispiel im Wertpapierhandel tätig
ist. Dies hat zur Folge, dass das investierte Kapital als
Betriebsausgabe deklariert und als Verlust mit anderen
positiven Einkünften verrechnet werden kann, obwohl es
in Form der Wertpapiere noch vorhanden ist. Gleiches
gilt für Steuerpflichtige, die im gewerblichen Grundstückshandel tätig werden wollen und Grundstücke erwerben, deren Wert sie voll als Betriebsausgabe absetzen
können. Das ist ungerecht. Diese Lücke wollen wir
schließen.
({1})
Wir planen daher, die Berücksichtigung der Anschaffungs- und Herstellungskosten erst zum Zeitpunkt der
Veräußerung bzw. Entnahme zu gestatten und damit die
bislang gegebenen Steuerstundungseffekte abzuschaffen.
In diesem Zusammenhang nehmen wir auch die Äußerung des Bundesrates - zuletzt in seiner Sitzung am
10. Februar dieses Jahres - sehr ernst. Um nämlich der
Ausnutzung weiterer Steuerstundungseffekte vorzubeugen, ist in der Tat zu überlegen, ob auch der Ankauf von
Wirtschaftsgütern, die in dem Katalog der Bundesregierung bislang nicht genannt worden sind, unter eine Neuregelung fällt. In Betracht kämen Edelmetalle, Gold und
auch Rohstoffe, die in großen Mengen auf dem Markt
zur Verfügung stehen und kurzfristig weiterverkauft
werden können. Wir werden auch die Anregung prüfen,
bei dem Betriebsausgabenabzug nicht auf den Veräußerungszeitpunkt, sondern auf den Zeitpunkt des Zuflusses
des Veräußerungserlöses abzustellen.
Darüber hinaus wollen wir dafür sorgen, dass die handelsrechtliche Praxis zur Bildung von Bewertungseinheiten für die steuerliche Gewinnermittlung bei so genannten Grund- und Sicherungsgeschäften weiterhin das
Maß aller Dinge ist. Damit wirken wir einer weiteren
Differenzierung von Handels- und Steuerrecht entgegen.
Das ist eine gute Nachricht für Unternehmen, wird doch
dadurch der Verwaltungsaufwand, den eine steuerliche
Einzelbewertung von Grund- und Sicherungsgeschäften
nach sich ziehen würde, in erheblichem Umfang vereinfacht. Eine schlechte Nachricht ist das allerdings für die
Unternehmen, die daran gedacht haben, mit dieser Möglichkeit zu spielen.
Außerdem kommen wir in diesem Gesetz auch an der
Regelung der Besteuerung der privaten Nutzung von
Kraftfahrzeugen unter Anwendung der 1-Prozent-Regelung nicht vorbei. Das Problem ist, dass es durch die
Ausweitung der Zulässigkeit der Bildung von gewillkürtem Betriebsvermögen bei Kraftfahrzeugen mit geringer
betrieblicher Nutzung Fälle gibt, in denen der Wert der
privaten Nutzung pro Monat mit 1 Prozent des Listenpreises zu ungerechtfertigten Vorteilen des Steuerpflichtigen führt, weil der Gesetzgeber bei der Schaffung dieser Möglichkeit von einer hohen betrieblichen Nutzung
ausgegangen war. Diese Steuerlücke ist ungerecht. Auch
sie werden wir schließen.
({2})
Daher werden wir bei dem infrage stehenden Personenkreis die Möglichkeit der 1-Prozent-Regelung auf
Fahrzeuge des so genannten notwendigen Betriebsvermögens zu beschränken haben, also auf die Fälle, bei denen eine betriebliche Nutzung von mehr als 50 Prozent
festzustellen ist. Eine Regelung des so genannten Dienstwagenproblems, das heißt der privaten Nutzung von
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einschließlich
Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern von Kapitalgesellschaften, ist mit dieser Lösung allerdings nicht
- noch nicht - verbunden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Europäische
Gerichtshof hat fast auf den Tag genau vor einem Jahr
entschieden, die gängige Praxis der Umsatzbesteuerung von zugelassenen öffentlichen Spielbanken im
Gegensatz zu umsatzsteuerpflichtigen gewerblichen
Glücksspielanbietern zu untersagen, und darauf verwiesen, eine derartige Ungleichbehandlung sei mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar. Mit dem vorliegenden
Entwurf tragen wir diesem Monitum der Rechtsprechung Rechnung und schließen eine entstandene Besteuerungslücke.
Last, but not least wird - das als Kleinigkeit am
Rande - mit dem Gesetzentwurf auch die entgeltliche
Weitergabe von Tankbelegen als Steuerordnungswidrigkeit geahndet. Es ist schon wirklich interessant, mit
welcher Fantasie im Zeitalter des Internets versucht
wird, auf der einen Seite durch Verkauf der Belege Kapital zu erwirtschaften, welches in der Regel nicht versteuert wird, und auf der anderen Seite illegal Belege zu erwerben, um das zu versteuernde Einkommen künstlich
zu senken. Ich kann dazu nur sagen und Ihnen versichern: Mit der gleichen Fantasie, wie sie bei solchem
Missbrauch zutage tritt, werden wir dieser Gestaltung
entgegentreten und alles tun, um ein faires Steuerrecht
zu schaffen, damit - da wiederhole ich mich gerne - der
Ehrliche nicht der Dumme bleibt.
Ich danke Ihnen.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bevor ich mich auf die Gesetzentwürfe beziehe,
möchte ich zu der Debatte eines sagen: Man kann Ihnen
von hier aus prophezeien, dass Ihnen bei der Unternehmensteuerreform nicht der große Wurf gelingen wird.
Allein die Aussagen, die wir hier zur Gewerbesteuer gehört haben, sind derart unterschiedlich, dass ich wirklich
gespannt bin, wie Sie die Unternehmensteuerreform und
die Reform der kommunalen Finanzen auf den Weg
bringen wollen. Wir werden darüber noch diskutieren.
Aber man muss kein Prophet sein, um schon heute zu sagen, dass dies kein großer Wurf werden wird.
({0})
Die große Koalition hat nach heftigen Gefechten im
zweiten Anlauf die steuerliche Förderung von Wachstum
und Beschäftigung auf den Weg gebracht. So wie das gelaufen ist, hat das doch viel über den Zustand der Koalition ausgesagt. Nun liegt ein Sammelsurium von Einzelmaßnahmen vor. Es handelt sich im Wesentlichen um
die Ausweitung dessen, was wir bereits in der letzten Legislaturperiode umgesetzt haben. Aber es gibt große Unterschiede: Anstatt einfacher, machen Sie es komplizierter. Anstatt transparenter, machen Sie es intransparenter.
Anstatt gerechter, machen Sie es ungerechter.
({1})
Dem gemeinsamen Ziel, das Steuerrecht zu vereinfachen, kommen Sie mit diesem Gesetzespaket nicht näher. Ich möchte das am Beispiel der Ausweitung der
Steuerermäßigung bei haushaltsnahen Dienstleistungen deutlich machen. Im Grundsatz gilt: je einfacher,
desto wirksamer. Aber diesem Anspruch werden Sie
nicht gerecht. Vielmehr schaffen Sie Abgrenzungsprobleme und Mitnahmeeffekte. Interpretationsspielräume
tun sich auf. Nach welchem Kriterium grenzen Sie
Handwerkerleistungen ab? Was ist absetzbar, was ist
nicht absetzbar? Was sind nach Ihrer Definition handwerkliche Tätigkeiten? Gilt der Eintrag in die Handwerksrolle? Fragen über Fragen, die Sie in diesem Gesetzentwurf nicht beantwortet haben. Ich gehe davon
aus, dass Sie hier noch nachbessern werden. Bei diesem
Gesetz springen Sie wieder zu kurz. Ich hoffe, dass es
Ihnen gelingt, Veränderungen vorzunehmen, um diese
Abgrenzungsproblematik zu vermeiden.
({2})
Sie versprechen sich von dieser Maßnahme - das ist
das Entscheidende - eine Verringerung der Schwarzarbeit und wollen mit diesem Gesetzentwurf der Schwarzarbeit etwas entgegensetzen. Aber mit der Mehrwertsteuererhöhung ab 2007 konterkarieren Sie dieses Ziel in
zweierlei Hinsicht: Erstens. Die Handwerksarbeit wird
noch teurer und der Weg in die Schwarzarbeit wieder attraktiver. Zweitens. Wenn Sie schon den zweifelhaften
Weg wählen und die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöhen, dann nutzen Sie diese Einnahmen wenigstens für die Senkung der Lohnnebenkosten, und
zwar die kompletten Einnahmen. Damit erreichen Sie
nämlich, dass Arbeit billiger wird, womit Sie dem Ziel,
die Schwarzarbeit einzudämmen, tatsächlich näher kommen. Das wären die richtigen, größeren Schritte.
({3})
Ich habe vorhin gesagt, dass die Neuregelung bei den
Handwerkerleistungen kompliziert ist. Dies ist aber
nichts im Vergleich zu dem, was Sie uns hinsichtlich der
Absetzbarkeit der Kosten für die Kinderbetreuung
vorschlagen. Nach Ihrem Vorschlag können zukünftig
Familien, in denen beide Elternteile berufstätig sind,
rückwirkend vom 1. Januar dieses Jahres an die Kosten
für die Betreuung ihrer Kinder bis 14 Jahren vom ersten
Euro an steuerlich absetzen, aber nur zwei Drittel der
Kosten bis maximal 4 000 Euro. Wenn nur ein Elternteil
berufstätig ist, dann gilt diese steuerliche Begrenzung
für Kinder zwischen drei und sechs Jahren. So etwas
Kompliziertes habe ich noch nicht erlebt. Vor allem geht
es völlig an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei.
({4})
Nehmen wir einmal folgenden Fall: Ein junges Paar
mit abgeschlossener Ausbildung, aber leider Vertreter
der „Generation Praktikum“ - das ist heute ziemlich üblich: berufs-, aber nicht erwerbstätig -, hat zwei Kinder,
die zwei und fünf Jahre alt sind. Nach der Hälfte ihres
Praktikums wird die Mutter vom Betrieb übernommen,
der aber leider ein halbes Jahr später in Konkurs geht,
sodass sie ihre Stelle verliert.
Sind Sie in der Lage, mir zu erklären, welche Ausgaben in diesem durchaus realistischen Fall absetzbar sind?
Die Kitagebühren für die Kleine? Die Kindergartenbeiträge für den Älteren? Für den ganzen Zeitraum, also
auch für die Praktikumszeit?
Was Sie da auflegen, ist ein Steuerberaterbeschäftigungsprogramm; es ist kompliziert und geht an der Lebenswirklichkeit vorbei. Man kann nicht einmal von
kleinen Schritten reden. Es wird geholpert und gestolpert
und damit werden Sie auf die Nase fallen.
({5})
Ich begrüße es, dass der Finanzminister vorhin über
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geredet hat.
Für uns Grüne ist es völlig klar, dass der Ausbau der
frühkindlichen Betreuung ein entscheidender Punkt ist.
Es ist volkswirtschaftlicher Unsinn, wenn wir es uns
leisten, dass gut ausgebildete junge Frauen - sie haben
häufig die besseren Abschlüsse - zu Hause bleiben müssen, wenn sie Kinder bekommen, weil sie keinen Betreuungsplatz finden. Dass diese Frauen dem Arbeitsmarkt
nicht zur Verfügung stehen, ist blanker volkswirtschaftlicher Unsinn. Deswegen ist der Ausbau der frühkindlichen Betreuung eines der wichtigsten Ziele unserer Gesellschaft. In diesem Punkt müssen Sie etwas auf den
Weg bringen. Dabei können Sie mit unserer Unterstützung rechnen.
Was Sie aber jetzt zur steuerlichen Absetzbarkeit von
Kinderbetreuungskosten auf den Weg gebracht haben, ist
zu kompliziert. Wir werden eigene Vorschläge einbringen und hoffen, dass Sie uns darin folgen werden.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort erhält nun die Kollegin Antje Tillmann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Einen Teil der heutigen Debatte könnte man unter
das Motto „Wer das Ziel nicht kennt, darf sich nicht beklagen, dass er den Weg nicht findet“ stellen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Sie
haben heute sehr viele Themen angesprochen, von der
Haushaltskonsolidierung über eine Umsatzsteuererhöhung und die Steuersätze bis hin zur Unternehmensteuerreform. Sie haben aber sehr wenig über den vorliegenden Gesetzentwurf gesprochen.
({1})
Seien Sie sicher: Alle Themen, die Sie zu Recht ansprechen, werden in den nächsten Wochen hier diskutiert
werden, zum Beispiel die Haushaltskonsolidierung im
Rahmen der Haushaltsberatungen. Die Unternehmensteuerreform wird zum 1. Januar 2008 kommen. Ich bin
optimistisch, dass wir das erreichen werden. Ich kann
Sie nur auffordern, dieses Vorhaben mitzutragen.
({2})
Aber worum geht es heute? Was ist das Ziel des von
uns eingebrachten Gesetzentwurfs? Es geht um die Stärkung der Wachstumskräfte durch die Wiederbelebung
der Investitionstätigkeit, die Gewährung von Liquiditätsvorteilen der Unternehmen im Wege des Steuerrechts,
die steuerliche Förderung der privaten Haushalte, um
neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen, sowie
um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch die
Verbesserung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten.
Dass Sie auf diese Ziele nicht eingegangen sind,
macht mir Mut. Ich erwarte freudig Ihre Zustimmung zu
dem Antrag; denn keiner von Ihnen hat sich gegen die
degressive AfA ausgesprochen. Keiner von Ihnen hat
festgestellt, dass er die steuerliche Absetzbarkeit der
Kinderbetreuungskosten nicht will.
({3})
Jedem Ihrer Beiträge kann man eigentlich nur den Satz
folgen lassen: „Wir stimmen diesem Gesetzentwurf zu“.
({4})
Es würde mich freuen - ich bin sehr gespannt -, wenn
Sie das im Laufe der Debatte auch tatsächlich tun.
Lassen Sie mich nun auf die einzelnen Ziele zu sprechen kommen. Das erste Ziel ist die Berücksichtigung
erwerbsbedingter Kinderbetreuungskosten. Es mag
zwar sein, dass dabei ein gewisser Sinn für Steuersystematik erforderlich ist, aber die Tatsache, dass wir erstmalig Kinderbetreuungskosten als Werbungskosten und
Betriebsausgaben anerkennen wollen, muss als Erfolg
gewertet werden.
({5})
Zum ersten Mal gibt der Gesetzgeber zu, dass Kinderbetreuungskosten keine außergewöhnlichen Belastungen, sondern eine Voraussetzung dafür sind, um eine
Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Man kann zwar bemängeln, dass die Kinderbetreuungskosten nicht in voller
Höhe und nur bis maximal 4 000 Euro absetzbar sind.
Aber wir werden sehen, was noch möglich ist. Ich bin
optimistisch, dass dieser erste Schritt dazu beitragen
wird, dass die Kinderbetreuungskosten in Zukunft weiter
absetzbar werden.
({6})
Das zweite Ziel betrifft die Berücksichtigung nicht
erwerbsbedingter Kinderbetreuungskosten. Dieser
Teil der Abzugsfähigkeit der Kinderbetreuungskosten
passt nicht ganz in das Konzept; ich gebe das offen zu.
Aber ich bin froh, dass wir heute in erster Lesung über
den vorliegenden Kompromissvorschlag und nicht über
den Gesetzentwurf in der Fassung von Genshagen diskutieren, obwohl in wirtschaftspolitischer Hinsicht das,
was dort beschlossen wurde, mit Sicherheit der richtige
Weg gewesen wäre. Wenn wir aber das Wahlrecht der
Familien wirklich ernst nehmen, wenn wir wollen, dass
die Eltern entscheiden, wie sie ihre Kinder betreuen lassen, dann müssen wir auch akzeptieren - das tue ich aus
voller Überzeugung -, dass sich manche Eltern dazu entscheiden, ihre Kinder selber zu betreuen, und dafür
- ganz oder teilweise - auf ein Gehalt verzichten, sich
also selber beschränken. Wenn wir das akzeptieren und
fördern wollen, dann müssen wir es ermöglichen, dass
die Kosten der Kinderbetreuung, die durch Eigenorganisation der Eltern geleistet wird, ähnlich steuerlich abzugsfähig sind wie die Kosten der erwerbsbedingten
Kinderbetreuung. Deswegen ist der Kompromiss richtig.
({7})
Mit diesem Gesetz nehmen wir in der Summe
1,26 Milliarden Euro in die Hand, um private Haushalte
und Familien zu fördern. Wir können daher unmöglich
einen Gesetzentwurf verabschieden, über den 70 Prozent
der Familien sagen könnten: Dieses Gesetz ist für mich
ungerecht. - Deswegen, glaube ich, ist der vorliegende
Gesetzentwurf trotz seiner Kompliziertheit richtig.
({8})
Im Zusammenhang mit dem ursprünglichen Gesetzentwurf ist uns vorgehalten worden, er sei wegen des Eigenanteils bei den Kinderbetreuungskosten in Höhe von
1 000 Euro sozial ungerecht und benachteilige Geringverdienerhaushalte. Eines sollte uns klar sein: Wir sprechen heute über ein Steuergesetz. Solchen Gesetzen ist
immanent, dass sich mit ihnen soziale Probleme bei Geringstverdienern nicht lösen lassen, weil nur derjenige
Steuern spart, der zuvor Steuern gezahlt hat. Das ist im
Steuerrecht so. Wenn man Geringstverdiener und ihre
Familien begünstigen will, dann muss man das im Sozialgesetzbuch und nicht im Steuerrecht regeln. Es steht
Ihnen, liebe Kollegin von der Linken, frei, einen eigenen
Gesetzentwurf mit entsprechender Zielsetzung auf den
Weg zu bringen. Wir werden mit Ihnen darüber hier mit
großer Freude diskutieren.
({9})
Heute sprechen wir aber über Steuergesetze. Das
dritte Ziel ist: Wir sehen im Bereich der steuerlichen Abzugsbeträge Vergünstigungen für Privathaushalte vor.
Wir haben erstmalig die private Pflege in den Begünstigungskatalog aufgenommen. Zudem begünstigen wir
steuerlich sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse oder Minijobs, die im Haushalt geschaffen
werden. Lassen Sie mich zu der Neiddebatte noch eines
sagen: Ich persönlich kann nichts Schlimmes daran
finden, wenn sich ein gut verdienendes Ehepaar eine
Kinderbetreuung leistet, damit einer Arbeitnehmerin ermöglicht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und
gleichzeitig Zeit dafür hat, sich selber um die Kinder zu
kümmern. Wir reden über sozial problematische Familien ständig unter dem Aspekt, dass diese kein Geld haben. Aber seien wir doch ehrlich - wir müssen nur auf
uns selber schauen -, soziale Probleme haben durchaus
auch gut verdienende Familien. Wenn eine Mutter, die
40 bis 60 Stunden arbeitet, eine Haushälterin hat, damit
sie abends eine Stunde mit ihrem Kind spielen kann,
dann, finde ich, ist das familienpolitisch richtig und wir
sollten das unterstützen.
({10})
Ein Vorwurf ist zutreffend - das sage ich ganz
offen -: Dem Ziel, ein einfacheres Steuerrecht zu
schaffen, sind wir mit diesem Gesetz nicht näher gekommen.
({11})
Liebe Kollegin Andreae und Frau Kollegin Scheel, ich
habe schon gestern im Finanzausschuss gesagt, dass ich
nicht ganz sicher bin, ob Ihre Aussage stimmt, dass die
Bürger ein einfaches, durchsichtiges Steuerrecht haben
wollen. Die Debatte über die Kinderbetreuungskosten
hat sehr deutlich gezeigt, dass der Hang zur Einzelfallgerechtigkeit in Deutschland überdurchschnittlich groß ist.
({12})
Deshalb mache ich mir große Sorgen - das gebe ich
gerne zu - hinsichtlich der geplanten Unternehmensteuerreform, die am 1. Januar 2008 in Kraft treten soll. Wir
haben gemeinsam noch einiges bei den Bürgerinnen und
Bürgern zu leisten. Mein Lieblingsmodell - sehr hohe
Freibeträge, bei denen auch die Kinderbetreuungskosten
berücksichtigt werden, bei gleichzeitiger Senkung der
Steuersätze - zeigt zwar, dass wir Familien begünstigen.
Aber wir sind damit noch nicht am Ziel. Wir haben noch
gemeinsam Aufgaben zu erledigen. Ich würde mich
freuen, wenn Sie unser Konzept einer Unternehmensteuerreform unterstützten.
({13})
Das vierte Ziel unseres Konzepts zur Förderung von
Wachstum und Beschäftigung ist die Verbesserung der
Liquidität kleiner Unternehmen. Auch diesem Ziel
wird der Gesetzentwurf gerecht. Durch die Anhebung
der Bemessungsgrundlage bei der Mindest-Istbesteuerung verbessern wir die Liquidität der Unternehmen, insbesondere der kleinen und mittelständischen, weil sie die
Umsatzsteuer erst dann abführen müssen, wenn ihre
Rechnungen bezahlt worden sind. Das ist in den neuen
Bundesländern schon seit einiger Zeit so. Das hat den
dort tätigen Unternehmen geholfen. Ich finde, es ist richtig, dass dieser Grundsatz nun auf die alten Bundesländer übertragen wird; denn auch die Kleinunternehmer in
den alten Bundesländern können selbstverständlich Liquiditätsprobleme haben.
Dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken,
eine Unternehmerfeindlichkeit an den Tag legen, die
kaum noch zu übertreffen ist, ist nichts Neues. Aber dass
Sie behaupten, dass der kleine Handwerksbetrieb so exorbitante Gewinne hat, dass er auf die degressive Abschreibung verzichten kann, finde ich schon ein bisschen
absurd. Ich hoffe, dass Sie das im Rahmen der Debatte
überdenken; denn diese Forderung ist gerade von kleinen und mittelständischen Unternehmen erhoben worden. Wir kommen dem entgegen. Wir erhöhen die Liquidität durch Abschreibungsvereinfachung.
({14})
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass wir
heute die Debatte beginnen, also noch die Möglichkeit
haben, das eine oder andere Knirschen im Gesetz über
die Anhörung in den Griff zu bekommen.
({15})
Wir haben über dreißig Sachverständige eingeladen, mit
uns über dieses Gesetz zu diskutieren. Wir werden die
Vorschläge der Sachverständigen ernst nehmen. Liebe
Kollegen der FDP, wir tun das deswegen, weil wir das
Steuergesetz nicht alle naselang ändern wollen. Wir wollen es besser machen als manche Regelungen, die auch
unter Ihrer Mitwirkung ins Steuergesetz gekommen sind.
({16})
- Ich war noch nicht dabei, aber das können wir später
diskutieren.
({17})
Wir wollen, dass dieses Gesetz stimmig ist. Wir werden
das zusammen mit den Sachverständigen erreichen. Ich
glaube, wir werden dann auch das Ziel Wachstum und
Beschäftigung erreichen.
Danke schön.
({18})
Ich erteile das Wort Kollegin Lydia Westrich, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich darf noch einmal zum schönsten Teil dieser
zwei Gesetzentwürfe sprechen, zur Verbesserung der
steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten.
Wir als Koalitionsfraktionen haben zwar eine lange Diskussion gehabt, insgesamt aber einen guten Gesetzentwurf vorgelegt.
({0})
Auch Sie von der Opposition, Christine Scheel und
Kerstin Andreae, hätten das schon gerne früher verwirklicht. Ich bin richtig froh, dass wir es jetzt in der großen
Koalition verwirklichen konnten. Das ist ein guter
Schritt für die Familien.
({1})
Sie von der FDP und den Grünen mögen über diese
komplizierte Lösung herziehen;
({2})
aber wir haben es mit diesen Regelungen wirklich geschafft, allen steuerpflichtigen Familien, die Aufwendungen für Kinderbetreuung haben, künftig deutlich
mehr Geld in die Hand zu geben.
Die Vielfalt der Lebensplanungen macht einen Reiz
in unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft aus.
Uns als Staat obliegt es, den Müttern und Vätern bei ihren Lebensplanungen zu helfen und nicht zu dirigieren.
Wir helfen ihnen auf verschiedenste Weise. Ich erinnere
an die Erhöhung des Kindergeldes, die Steuersenkungen
und das Ganztagsschulprogramm. Das ist nicht ganz
ohne. Überall in unseren Wahlkreisen weihen wir neue
Ganztagsschulen ein. Oft steht „Land sowieso“ darauf,
aber es steckt unser Geld darin und es steckt unsere Idee
dahinter.
({3})
- Dahinter steckt natürlich immer der Steuerzahler. Wir haben das TAG gemacht, wir haben den Anstoß für
eine familienfreundliche Politik in der Arbeitswelt gegeben und wir haben die lokalen Bündnisse. Das ergibt ein
gutes Fundament, auf das wir heute einen weiteren Stein
setzen, worauf ich stolz bin.
Es gibt eine Steuersenkung in Höhe von 460 Millionen Euro, die vor allem Müttern und Vätern zugute kommen wird, die Familie und Beruf unter einen Hut bringen. Frau Tillmann hat schon gesagt, dass wir mit der
Veränderung von der außergewöhnlichen Belastung zu
den Werbungskosten einen Zeitensprung erreicht haben. Wir alle haben in unseren Parteiprogrammen immer
gesagt, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie
an erster Stelle stehen soll.
({4})
In diesem Gesetz haben wir erstmalig festgeschrieben,
dass Kinderbetreuungskosten erwerbsbedingt sein können. Sie sind bei erwerbstätigen Eltern und Alleinerziehenden Betriebsausgaben und Werbungskosten. Ich
bin sehr froh, dass das im Gesetz festgeschrieben ist.
Vielleicht erinnern Sie sich noch, Frau Scheel: Vor zehn
Jahren haben Wissenschaftler das bei Finanzminister
Theo Waigel vorgebracht. Dieser hat das in den Papierkorb gesteckt. Wir haben das jetzt verwirklichen können.
({5})
Es ist unser Wunsch und unser Wollen, das wir in die
Praxis umsetzen.
Pro Kind sind zwei Drittel der Betreuungskosten bis
maximal 4 000 Euro als Werbungskosten oder Betriebsausgaben steuerlich absetzbar. Das bedeutet, dass
zwei Drittel der Kosten für einen Kindergarten oder eine
Tagesmutter abgesetzt werden können. Mir ist wichtig,
darauf hinzuweisen, dass auch geringe Kinderbetreuungskosten abgesetzt werden können. Ich will an dieser
Stelle unserer stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden
Nicolette Kressl ganz herzlich danken: Sie hat die Drittelungsregelung angeregt und so dafür gesorgt, dass auch
Eltern mit geringeren Betreuungskosten in den Genuss
von Steuersenkungen kommen können.
({6})
Das war nicht selbstverständlich; dazu war ein langer
Kampf notwendig. Ich will hinzufügen, dass dies - das
müssen auch Sie zugeben - der verwaltungstechnisch
einfachste Teil der neuen Regelung ist. Zwei Drittel der
Betreuungskosten für Kinder bis 14 Jahren sind bis maximal 4 000 Euro steuerlich absetzbar. Wie viel das im
Einzelfall ist, kann wohl jeder ohne einen Steuerberater
ausrechnen.
Der Rest ist tatsächlich etwas komplizierter. Paare,
bei denen nur ein Elternteil erwerbstätig ist, können
für Kinder im Kindergartenalter ebenfalls Kinderbetreuungskosten steuerlich geltend machen, nicht als Werbungskosten, sondern als Sonderausgaben, aber unter
den gleichen Bedingungen. Wir haben hier oft genug
darüber geredet - erst letzte Woche wieder -, wie wichtig die Betreuung von Kindern im Alter von drei bis
sechs Jahren ist. Wir begrüßen es, dass möglichst alle
Kinder in den Genuss des Angebots der Kindertagesstätten kommen. Deswegen sollen alle Familien von der
steuerlichen Absetzbarkeit profitieren dürfen.
({7})
Familien mit einem erwerbstätigen Elternteil, deren Kinder jünger als drei oder älter als sechs Jahre sind, können
ihre Kinderbetreuungskosten wie bisher als Aufwendungen für haushaltsnahe Dienstleistungen nach § 35 a EStG
geltend machen.
Frau Andreae hat schon Recht: Das ist kompliziert.
Aber das war schon vorher so. Es ist also kein neuer Tatbestand, der in das Gesetz eingefügt wird.
({8})
Auch das muss man noch einmal ganz deutlich sagen.
Wir selbst haben gemeinsam für diese Kompliziertheit
gesorgt. Wir wollen die Lebensplanungen von Familien
unterstützen und wir wollen Familien nicht dirigieren.
Wir haben mit diesem Gesetz Steuersenkungen in
Höhe von insgesamt 460 Millionen Euro für Familien
auf den Weg gebracht. Wir werden im Bereich Betreuung - davon bin ich überzeugt - eine Menge neue Beschäftigungsverhältnisse ermöglichen. Wir leisten endlich einen guten Beitrag zur besseren Vereinbarkeit von
Familie und Beruf. Mit diesem Gesetz werden die Koalitionsfraktionen einen weiteren Stein auf das gute Fundament, das sie zusammen gelegt haben, setzen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch daran, dass wir ein
Elterngeld einführen möchten. Wir werden es schaffen,
dafür zu sorgen, dass der Besuch von Kindergärten kostenfrei ist. Außerdem werden wir dafür sorgen, dass die
steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten
noch einfacher ist.
Wir werden zusammen den Weg in ein kinderfreundliches Land fortsetzen. Ich denke, dass alle Fraktionen daran interessiert sind, dabei mitzuarbeiten. Ich
würde mich sehr freuen, wenn uns das im Endeffekt gelänge.
Vielen Dank.
({9})
Ich erteile nun das Wort Kollegen Rainer Wend, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach gut zwei Stunden dieser Diskussion, die sich
nicht nur um die vorliegenden Gesetzentwürfe, sondern
allgemein um finanzpolitische, steuerpolitische und wirtschaftspolitische Fragen gedreht hat, können wir schon
feststellen, dass wir uns über die zwei großen Ziele, nämlich Wachstum anzuregen und den Haushalt zu konsolidieren, weitgehend einig sind.
({0})
Wenn es aber um die Instrumente zur Erreichung dieser Ziele ging, dann sind aus meiner Sicht nicht nur Meinungen aufeinander gestoßen; vielmehr haben wir zum
wiederholten Male zwei in sich geschlossene Ideologien
kennen gelernt, denen wir nach meiner Überzeugung
nicht folgen dürfen.
Da ist zunächst die Position der FDP, die durch den
Kollegen Thiele vertreten wurde. Er sagt uns, wir müssten die Steuern nur genug senken, wir müssten die Sozialleistungen des Staates nur genug kürzen, dann springe
sozusagen automatisch die Konjunktur an und belebe
sich die Wirtschaft.
({1})
Ich sage Ihnen: Dieses neoliberale Konzept schafft nicht
nur den Sozialstaat ab; es macht den Staat auch handlungs- und investitionsunfähig.
({2})
Wer den Staat handlungsunfähig macht, führt uns in eine
Rezession, aus der man nur schwer wieder herauskommt. Diese Politik kann die große Koalition nicht unterstützen.
({3})
Das zweite ideologische Weltbild wurde von der
Linkspartei durch den Kollegen Lafontaine vorgestellt
und ist sozusagen das umgekehrte Extrem: Man müsse
die Steuern nur genug erhöhen, dann würden wir, so
sagte er wörtlich, in Geld schwimmen und weiter keine
Probleme mehr haben, Bildung und Investitionen zu finanzieren. - Wer dieses umgekehrte ideologische Weltbild pflegt, verkennt die Gesetze der globalisierten Wirtschaft, schwächt uns im Wettbewerb mit anderen
Volkswirtschaften und das Ende vom Lied ist die Vernichtung von Wachstum und Beschäftigung. Deswegen
kann die große Koalition auch diesem Kurs nicht folgen.
({4})
Was wir an dieser Stelle versuchen, entspricht keinem
geschlossenen Weltbild. Ich räume ein: Über jeden
einzelnen unserer Punkte kann man kontrovers diskutieren. - Wir haben aber den Versuch unternommen, Ihnen
für dieses und das nächste Jahr insgesamt etwas vorzulegen, von dem wir glauben, dass es die Bedingungen am
Standort Deutschland verbessert:
In diesem Jahr steht die Verbesserung der Abschreibungsmöglichkeiten an. Eben wurde auf Folgendes hingewiesen: Die Istbesteuerung wird in Zukunft großzügiger ermöglicht. Der Privathaushalt als Arbeitgeber wird
gefördert. Die Finanzierungsbedingungen für kleinere
und mittlere Unternehmen werden verbessert. Ein Gebäudesanierungsprogramm wird aufgelegt. Mehr öffentlich-private Partnerschaften werden begründet. Das ist
eine Politik, die versucht, wirtschaftliche Belebung zu
erzeugen.
Im nächsten Jahr steht die Konsolidierung der
Haushalte an. Wir wissen, dass die Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht unproblematisch ist, senken aber gleichzeitig die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um
2 Prozentpunkte und damit die Lohnnebenkosten dauerhaft unter 40 Prozent.
Im Jahr 2008 steht die große Unternehmensteuerreform an. Ich kann alle die verstehen, Frau Kollegin
Andreae, die Zweifel daran haben, ob man das vernünftig
hinbekommt. Das wird auch kein einfacher Schritt sein.
Ich will es nur an einem Beispiel darlegen. Wir reden immer davon, dass wir die kleinen und mittleren Unternehmen, die eigentümergeführten Unternehmen unterstützen
wollen. Jawohl! Wenn wir aber den von manchen Sachverständigen für Körperschaften und Einzelunternehmen
vorgeschlagenen einheitlichen Steuersatz von 30 Prozent
einführten, belasteten wir in erheblichem Umfang kleinere und mittlere Unternehmen zusätzlich,
({5})
weil sie nämlich jetzt weniger als 30 Prozent Steuern
zahlen. Probleme sind also ohne Zweifel da. Deswegen
muss man sich Zeit lassen, um zu versuchen, diese Probleme vernünftig zu lösen. Die Zeit haben wir, wenn wir
eine Neuregelung zum 1. Januar 2008 auf den Weg bringen.
Also: keine ideologischen Weltbilder bei der großen
Koalition, Schritt für Schritt vorwärts gehen, eine klare
Perspektive, ein Gesamtkonzept. Wenn ich mir vor Augen führe, wie die Wirtschaft darauf reagiert, dann können wir, glaube ich, optimistisch sein. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag sagte wörtlich:
Für 2006 sind die Vorzeichen so günstig wie seit
fünf Jahren nicht mehr.
Lassen Sie uns das doch nutzen, indem wir weiter hart
arbeiten und keine ideologischen Weltbilder verkaufen!
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/643 zur federführenden Beratung an den
Finanzausschuss und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie,
Vizepräsident Wolfgang Thierse
den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, den Ausschuss für Arbeit und Soziales,
den Ausschuss für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für Gesundheit, den Ausschuss für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sowie den Haushaltsausschuss zu überweisen. Die Vorlagen auf den
Drucksachen 16/634 und 16/520 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 auf:
Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung
Aktuelle Situation zur Vogelgrippe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz, Horst Seehofer.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Am 14. Februar, kurz nach 19 Uhr, wurde die
Bundesregierung unterrichtet, dass nach einer Laboruntersuchung von zwei Schwänen das Vogelgrippevirus
H5N1 auch in Deutschland angekommen ist. Auch wenn
der Kontrollbefund durch das EU-Referenzlabor noch
nicht vorliegt, gehen wir davon aus, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dieses bei Tieren
hoch aggressive Virus H5N1 hierzulande vorhanden ist.
Wir haben es mit einer gefährlichen Tierseuche zu
tun, die, wie die weltweite Erfahrung zeigt, auch potenzielle Gefahren für Menschen birgt. Bei dieser sehr ernsten Lage gibt es nur eine Antwort, meine Damen und
Herren, nämlich rigoros und konsequent gegen diese
Tierseuche vorzugehen und dabei der Sicherheit für
Menschen oberste Priorität einzuräumen.
({0})
Der Schutz der Menschen steht an erster Stelle. Deshalb müssen wir die Menschen immer und immer wieder
aufklären, wie sie sich selbst vor dieser Krankheit schützen können. Weltweit gibt es keinen Beleg für die Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch, aber sehr wohl für
die von Geflügel auf Menschen. Eine solche Übertragung können die Menschen vermeiden, indem sie keinen
engen und intensiven Kontakt zu Geflügel halten. Deshalb auch heute wieder die Empfehlung an die Menschen, sich von Geflügelhaltungen fernzuhalten, an die
Geflügelhalter die Empfehlung, die ja auch rechtlich niedergelegt ist, konsequent und ausnahmslos sowie mit
größter Sorgfalt alle Hygienemaßnahmen wie zum Beispiel das Tragen von Schutzkleidung zu beachten und
betriebsfremde Personen von den Geflügelställen fernzuhalten, und an alle die Empfehlung, keine Privatentsorgung von totem Geflügel und bei erkennbaren Krankheiten keine Privattherapie vorzunehmen, sondern sofort
die Behörden zu unterrichten, damit sie sich um diese
Fälle kümmern können. Das ist der beste Schutz, den die
Menschen selbst gegen dieses Virus ergreifen können.
Ich appelliere auch von dieser Stelle an die Eltern, ihre
Kinder über die Gefahren aufzuklären, damit Kinder totes Geflügel nicht anfassen. Vielmehr sollten diese ihre
Eltern und diese dann die Behörden informieren. Das ist
ein ganz wichtiger Punkt.
({1})
Wir haben auch Geflügelmärkte und Geflügelausstellungen in Deutschland verboten. Sie stellen nämlich
potenzielle Drehkreuze für die Weitergabe des Virus dar.
Ich kann hier sagen, meine Damen und Herren, dass wir
Geflügelausstellungen und -märkte ohne Ausnahme verboten haben. Das ist wichtig, denn in der Vergangenheit
waren Ausnahmen möglich. Jetzt gibt es ausnahmslos
keine Geflügelausstellungen und -märkte mehr in
Deutschland.
({2})
Der erste und wichtigste Punkt ist der Schutz der
Menschen vor diesem Virus. Ich bin, meine Damen und
Herren, kein Anhänger von Panikmache. Deshalb sage
ich auch deutlich, es gibt keinen Beleg für eine Übertragbarkeit von Mensch auf Mensch, aber es gibt weltweit viele Belege für die Übertragbarkeit von Tier auf
Mensch. Deshalb kommt es auch auf das verantwortungsvolle Verhalten der Menschen selbst an. Ich bitte
alle Menschen, sich an diese Hinweise zu halten, und
insbesondere die Geflügelhalter, die Hygienebestimmungen konsequent einzuhalten.
Die zweite wichtige Aufgabe ist, alles Erdenkliche zu
tun, damit dieses Virus, das im Moment in der Wildvogelpopulation vorhanden ist, nicht in die Nutztierhaltung eingetragen wird. Das hängt wiederum mit dem
Schutz der Menschen zusammen; denn ein Eindringen
des Virus in die Nutztierhaltung erhöht auch die Gefahr
für die Menschen, jenseits der ökonomischen Auswirkungen auf die Geflügelhaltung.
Deshalb gilt unser zweites Augenmerk, übrigens seit
vielen Monaten, der Frage: Wie können wir verhindern,
dass das Virus von Wildvögeln auf Nutztiere übertragen
wird? Da ist weltweit im Moment die Stallpflicht für
Geflügel die wirksamste Maßnahme. Die Stallpflicht ist
auf Rügen, wo die Wildvogelfunde waren, mit sofortiger
Wirkung angeordnet worden. Das ist EU-Recht und seit
langem vorbereitet. Es gibt eine Sperrzone und eine Beobachtungszone; die Sperrzone beträgt 3 Kilometer, die
Beobachtungszone 10 Kilometer. Die Landesregierung
von Mecklenburg-Vorpommern hat - wir werden es hören - die Sperrzone sogar ausgedehnt. In der Sperrzone
gilt das Aufstallungsgebot sofort. Bundesweit ist es
heute veröffentlicht worden und wird morgen - die
Anordnung ist mit Strafe bewehrt - in Kraft treten. Aber
dort, wo das Geflügel aufgefunden wurde und der starke
Verdacht auf die Virusinfektion aufgetreten ist, gilt das
Aufstallungsgebot sofort.
In den Sperr- und Beobachtungszonen sind die Behörden unterwegs, um klinische Befunde bei der Nutztierhaltung zu erheben. Denn jetzt ist es auch sehr wichtig,
dass wir in dem Fall, dass die Weitergabe des Virus verdeckt erfolgt ist, sehr schnell entdecken, ob und wo die
Nutztierhaltung betroffen ist. Deshalb besteht EU-weit
die Regelung, dass in den Sperrzonen nicht nur für eine
bestimmte Zeit ein Verbringungsverbot gilt, sondern
dass auch sehr konsequent eine Identifizierung betrieben
wird, bis hin zu den Kleinsttierhaltern, und eine Desinfektion der Ein- und Ausgänge der Ställe in der Sperrzone erfolgt. Für gleichermaßen wichtig halte ich, dass
die Veterinäre klinische Befunde erheben, damit in dem
Fall, dass sich der Virus ausgebreitet hat, sehr früh ein
Virusherd in der Nutztierhaltung erkannt wird.
Nach dem Schutz für die Menschen ist also die zweitwichtigste Maßnahme, zu verhindern, dass das Virus von
den Wildvögeln auf die Nutztiere übertragen wird, im
Interesse der Geflügelhalter, der Tiere, aber auch der
Menschen, für die das die potenziellen Gefahren erhöhen würde.
Der dritte Punkt ist die Beobachtung und Beprobung der Wildvögel. Epidemiologisch und seuchenpolitisch ist es ganz wichtig, sich sehr viel Klarheit über
das Geschehen zu verschaffen. Deshalb sind wir in dem
Fall von Mecklenburg-Vorpommern dazu übergegangen,
die Laboruntersuchungen von toten Vögeln unmittelbar
in unserem bundesdeutschen Referenzlabor in Riems,
dem Bundesinstitut für Tiergesundheit, durchzuführen.
Bisher war es so, dass das über die Landesuntersuchungsämter lief und erst, wenn der erste Screeningtest
zu Ergebnissen geführt hat, die Weitergabe an das Referenzlabor in Riems erfolgt ist. Wir haben gestern mit
dem Personal von Riems 40 tote Schwäne und andere
Vögel in dieses Institut befördert. Dort ist man zur
Stunde dabei, die Untersuchungen durchzuführen. Das
verschafft uns schneller Gewissheit. Es soll auch zeigen,
dass die Bundesregierung es mit ihren Hilfsangeboten
gegenüber den betroffenen Ländern ernst meint. Wir
werden heute im Laufe des Tages zu den 40 Proben erste
Erkenntnisse bekommen.
Ich sage hier ganz offen: Nach all den Geschehnissen
und der Dynamik bei der Ausbreitung dieses Virus weltweit rechnen wir mit weiteren Fällen in der Bundesrepublik Deutschland. Wir erleben jetzt offensichtlich eine
Ausbreitung in die nordischen Länder. Sehr dynamisch
ist die Ausbreitung nach Süden, nach Österreich, Slowenien, Italien, Griechenland. Ich persönlich gehe nach
Rücksprache mit unseren Experten und mit Wissenschaftlern davon aus, dass wir auch in der Bundesrepublik Deutschland mit weiteren Fällen zu rechnen haben.
Die Beobachtung und die Beprobung der Wildvögel sind
für die Tierseuchenbekämpfung ungeheuer wichtig, um
sich möglichst frühzeitig ein klares Bild von dem Geschehen zu verschaffen.
({3})
Hinsichtlich des Schutzes der Menschen möchte ich
noch Folgendes sagen: Auch wir haben jetzt eine Hotline geschaltet - für die Bundesländer wurde eine Hotline von Mecklenburg-Vorpommern eingerichtet -, weil
es sehr viele konkrete Fragen aus der Bevölkerung, beispielsweise von Hunde- und Katzenhaltern, gibt. Es gibt
Fragen, wie man bezogen auf die Ernährung mit Geflügel umgeht. Ich möchte an dieser Stelle öffentlich mitteilen, dass die Bevölkerung durch Anrufen dieser vom
Bundesverbraucherschutzministerium geschalteten Hotline die Gelegenheit hat, mit Spezialisten über Detailfragen, die für das praktische Leben von Bedeutung sind,
zu sprechen und entsprechende Informationen einzuholen. Denn auch die Information gehört zu einer erfolgreichen Bekämpfung. Nur mit ausreichenden Informationen kann man eines solchen Geschehens Herr werden.
({4})
Der vierte Punkt. Wir haben es mit einer weltweiten
Entwicklung zu tun. Vor wenigen Wochen erfolgte die
Ausbreitung nach Afrika. Ich möchte darauf hinweisen,
dass eine solche weltweite Entwicklung nur durch eine
intensive internationale Zusammenarbeit zu beherrschen ist. Wir arbeiten mit der Weltgesundheitsorganisation und natürlich auch mit der Europäischen Union zusammen. Gestern und heute kamen alle Spezialisten aus
Europa zusammen. Nächsten Montag wird sich der
Agrarrat in Brüssel treffen, um sich mit dem aktuellen
Geschehen in Europa zu beschäftigen.
Auch wenn im Moment das Schwänesterben in der
öffentlichen Diskussion im Vordergrund steht, so möchte
ich dennoch heute darauf hinweisen, dass es drei Gefährdungsstränge gibt, die wir gleichermaßen im Blick behalten müssen. Wir dürfen nämlich nicht glauben, dass
die anderen Gefährdungsstränge in den Hintergrund treten, nur weil wir es jetzt mit einem Schwänesterben zu
tun haben.
Ich weise darauf hin, dass nach allen Risikoanalysen
der Spezialisten die Rückkehr der Zugvögel - nach allgemeiner Erfahrung findet sie Anfang März bis Ende
April statt; aber je nach Witterungsbedingungen kann sie
auch früher stattfinden - nach wie vor ein hohes Risiko
darstellt. Angesichts der neuen Virusfunde sind alle
Rückkehrrouten der Zugvögel für uns außerordentlich
bedeutsam geworden: die Rückkehrroute aus Richtung
Südosteuropa wegen der Fälle in der Türkei, die Rückkehrroute aus Richtung Südwest wegen der Fälle in
Afrika und Spanien und die Zentralroute über Italien wegen der Fälle in diesem Land.
Aufgrund der Rückkehr der Zugvögel ist die Aufstallungspflicht unausweichlich. Indem wir sie jetzt in Kraft
gesetzt haben, haben wir mehr Sicherheit geschaffen. In
den nächsten Wochen müssen wir nicht pausenlos die
Witterungsbedingungen und das Rückkehrverhalten der
Zugvögel beobachten.
Ein sehr hohes Risiko stellt auch der Waren- und
Reiseverkehr aus Befallgebieten dar. Nach wie vor ist
die Quote der Beschlagnahmungen von Geflügel und
von Geflügelprodukten hoch. Deshalb wird die Bundesregierung - das haben wir schon vor einigen Wochen in
die Europäische Union mit großer Unterstützung vieler
Mitgliedstaaten eingebracht - die Kommission am Montag drängen, endlich eine Entscheidung hinsichtlich der
Kontrollen an den Außengrenzen der Europäischen
Union zu treffen. Wenn im Inland bei Kontrollen auf
Straßen und Flughäfen illegal eingeführtes Geflügel und
illegal eingeführte Geflügelprodukte beschlagnahmt
werden müssen, dann deutet das darauf hin, dass die
Kontrollen an den Außengrenzen der Europäischen
Union nicht dicht genug organisiert sind.
({5})
Die entsprechenden Bemühungen müssen verstärkt werden.
Die deutsche Regierung hat ebenfalls den Vorschlag
gemacht - auch da hoffe ich, dass wir nächste Woche zu
einer Entscheidung kommen -, eine Deklarationspflicht beim Waren- und Reiseverkehr, wie wir sie von
anderen Kontinenten kennen, einzuführen. Menschen,
die einreisen wollen, sollen eine Selbstdeklaration abgeben, dass sie verbotenes Geflügel und verbotene Geflügelprodukte nicht mitführen.
Ich glaube, auch dieses Vorgehen ist dazu geeignet,
die Menschen stärker aufzuklären; denn es ist natürlich
mit Informationen verbunden. Gerade die Information
und die Aufklärung sind ein ständiger Prozess. Wir dürfen nie glauben, dass wir damit fertig sind. Wir müssen
die Informationen immer wieder auffrischen und erneuern. Dazu brauchen wir die Unterstützung der Medien,
der Fluglinien und der Reisebüros, damit die Menschen
wissen, was gilt und woran sie sich zu halten haben.
Ich verweise auf die Problematik der Verstärkung
der Forschung. Auch diese muss europaweit vorangetrieben werden.
Zur Tierimpfung möchte ich sagen: Wir haben es im
Moment mit einer Tierseuche zu tun, die in der Wildvogelpopulation vorkommt. Wir haben darüber gestern
im nationalen Krisenrat sehr intensiv diskutiert. Bei den
für Tiere verfügbaren Impfstoffen besteht im Moment
das Problem, dass die Krankheit, wenn Tiere geimpft
werden, verdeckt wird. Auch nach einer Impfung ist es
möglich, dass ein Tier das Virus trägt und weitergeben
kann, aber selbst nicht erkrankt. Deshalb haben diejenigen Länder, vor allem die Chinesen, die die Impfung betrieben haben, das Seuchengeschehen eher vergrößert;
denn sie haben die Krankheit, die weitergetragen werden
kann, verdeckt. Deshalb besteht hier ganz entschiedener
Forschungsbedarf.
Ich möchte Ihnen sagen, dass wir nachdrücklich darauf dringen - wir tun dies auch bei uns im Bundesinstitut -, die Forschung voranzutreiben, um vielleicht in absehbarer Zeit einen Markerimpfstoff zur Verfügung zu
haben. Dieser hätte dann den Vorteil, dass durch eine serologische bzw. eine Blutuntersuchung festgestellt werden kann, ob ein Tier, das geimpft worden ist, das Virus
in sich trägt. Die Wissenschaftler sagen mir, dass sie
nach heutigem Stand wohl noch zwei Jahre brauchen,
um über seriöse Grundlagen für einen Impfstoff zu verfügen. Wir werden die Anstrengungen enorm verstärken,
damit es zu einem früheren Zeitpunkt einen Markerimpfstoff gibt, der das Problem der heutigen Impfung aufhebt, nämlich dass ein Tier das Virus trägt und es weitergeben kann, aber nicht daran erkrankt. Das ist das heute
bei der Impfung bestehende Problem.
Wir werden darüber am Montag auch im Agrarrat
weiterreden. Denn es ist ähnlich wie bei anderen großen
Entwicklungen und Seuchen: Je mehr sich international
um dieses Thema kümmern, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir weiterkommen. Ich möchte ausdrücklich sagen, dass unsere Wissenschaftler und unser
Bundesinstitut in Deutschland sich intensiv darum kümmern, die bei den Tieren bestehende Impfproblematik zu
einem guten Ergebnis zu führen.
Wir brauchen das auch deshalb, weil wir bei aller rigorosen und konsequenten Vorgehensweise nicht davon
ausgehen können, dass wir dieses Geschehen in wenigen
Wochen überwunden haben werden. Wenn wir im Frühjahr und im Herbst nicht immer wieder über die Stallpflicht, über entsprechende Fristen und zeitliche Korridore diskutieren wollen, müssen wir eine Strategie
entwickeln, welche Alternative es zu der Pflicht, Tiere
im Stall zu halten, gibt.
Deshalb ist die Forschung bezüglich der Fortentwicklung der Impfmöglichkeit sehr wichtig. Es sollte sich dabei aber um eine seriöse, belastbare Impfung handeln
und nicht um eine Impfung, die nur die Gefühle beruhigt, uns aber in der Praxis nicht nach vorne bringt.
({6})
Ich fasse zusammen:
Erstens. Der Schutz der Menschen steht an erster
Stelle. Die Menschen selbst können durch verantwortliches Verhalten eine ganze Menge dazu beitragen. Das
Fernhalten von Geflügel und das Vermeiden von engerem und intensivem Kontakt mit erkrankten Tieren sind
der beste Schutz für die Menschen. Zur Beantwortung
der vielen Einzelfragen sind auf Bundes- und Länderebene Hotlines eingerichtet worden.
Zweitens. Die Übertragung des Virus von Wildvögel
auf Nutzgeflügel muss durch die Aufstallung und die
Einrichtung von Sperrzonen an Fundorten vermieden
werden. Betriebe, die Nutztiere halten, werden stärker
reglementiert.
Schließlich ist die internationale Zusammenarbeit
wichtig, die alle Gefährdungsstränge zum Inhalt haben
muss. Dabei geht es um Kontrollen des Waren- und Reiseverkehrs, die Zugvögelproblematik, die durch die Ausbreitung der Krankheit nach Afrika größer geworden ist,
die Eigendeklaration und die intensive Forschung bezüglich der Tierimpfung.
Aufgrund der aufgefundenen Schwäne stellt sich natürlich die Frage nach den Ursachen für die Gescheh1350
nisse in Italien, in Griechenland und jetzt auch im Norden unseres Landes, auf Rügen. Ich wiederhole hier, was
ein Wissenschaftler im Krisenstab gestern darauf
schlicht und einfach gesagt hat: Wir wissen es nicht.
({7})
Ich empfehle allen, die sich mit diesem Thema intensiver beschäftigen, keine Anekdoten oder Vermutungen zu
verbreiten, sondern sich auf seriöser wissenschaftlicher
Basis zu bewegen. Vor wenigen Tagen wurde in der Öffentlichkeit noch die Behauptung vertreten, Ursache sei
die Nord-Süd-Wanderung der Tiere wegen des kalten
Winters. Das kann nicht ernsthaft aufrechterhalten werden. Jetzt lautet die Argumentation, es habe eine OstWest-Wanderung gegeben. Es gibt auch die Spekulation,
das Virus sei schon länger im Lande, allerdings verdeckt.
Ich empfehle, wie wir es als Bundesregierung überhaupt
halten, uns nach den Expertenmeinungen zu richten,
weil nur so adäquate Maßnahmen möglich sind.
({8})
Wir haben gestern den nationalen Krisenstab einberufen. Er besteht nach einer Vereinbarung zwischen
Bund und Ländern seit vielen Jahren. Ihm gehören Vertreter aller Bundesländer an - sie waren auch alle anwesend -, aber auch Vertreter der Geflügelwirtschaft. Ich
darf dem Parlament mitteilen, dass die rechtlichen Vorsorge- und Schutzmaßnahmen, die im Kern seit August
des letzten Jahres in der Bundesrepublik Deutschland
und in Europa gelten - eine Vielzahl der von mir geschilderten Maßnahmen sind europaweit festgelegt und werden in allen Ländern Europas gleichermaßen gehandhabt - und für deren nationale Umsetzung die Bundesregierung verantwortlich ist, begrüßt worden sind. Es
gab keinen einzigen Vorschlag für eine Ergänzung oder
eine Verstärkung dieser Maßnahmen; auch das ist wichtig. Es gab eine sehr lange sachliche Diskussion ohne
jede Parteipolitik. Ich wiederhole hier, was ich gestern
gesagt habe: Wir haben als Bundesregierung die Aufgabe der Koordinierung und der Unterstützung und ich
biete jedem Betroffenen größtmögliche Hilfe an.
Es gibt übrigens auch eine Vereinbarung zwischen
den Bundesländern, nach der in dem Fall, dass ein Bundesland aufgrund seiner Kapazitäten überfordert sein
sollte, jederzeit andere Bundesländer unterstützend eingreifen. Diese Notwendigkeit ist im Krisenstab bis gestern Abend in diesem aktuellen Fall nicht benannt geworden. Ich biete hier aber noch einmal ausdrücklich
unsere Hilfe an. Wir sind als Bundesregierung zu jeder
in unseren Kräften liegenden Unterstützung bereit, beispielsweise beim Personal oder bei der Logistik. Wir
nehmen unsere Aufgabe der Koordination sehr ernst. Ich
werde morgen mit dem Kollegen Backhaus aus Mecklenburg-Vorpommern das betroffene Gebiet und die Krisenstäbe im Kreis und im Land Mecklenburg-Vorpommern besuchen, um dieses Angebot zur Hilfe und zur
Koordinierung zu untermauern.
Meine Damen und Herren, wir haben es mit einer gefährlichen Tierseuche zu tun und, wie die weltweite Entwicklung zeigt, auch mit potenziellen Gefahren für die
Menschen, was die Übertragbarkeit vom Tier auf den
Menschen betrifft. Deshalb wiederhole ich, was ich eingangs gesagt habe: Wir gehen rigoros und konsequent
nach der obersten Regel „Im Zweifel für die Sicherheit“
vor. Ich habe Verständnis für die wirtschaftlich betroffenen Geflügelhalter, die sich gestern im nationalen Krisenstab im Übrigen außerordentlich verantwortungsbewusst geäußert haben. Dafür möchte ich mich noch
einmal bedanken.
({9})
Sie haben die Maßnahmen ausdrücklich für notwendig
erklärt und auch begrüßt. Das ist angesichts ihrer ökonomischen Betroffenheit keine Selbstverständlichkeit und
zeigt, dass dort ein hohes Maß an Verantwortung vorhanden ist.
Ich habe angesichts der ökonomischen Auswirkungen
dieser Maßnahmen gerade für die Großgeflügelhalter
Verständnis. Aber ich wiederhole, was ich gestern am
Schluss der Krisenstabssitzung gesagt habe: Wir müssen
über diese ökonomischen Betroffenheiten diskutieren.
Aufgrund der aktuellen Geschehnisse muss aber die
Sicherheit der Menschen und des Nutzgeflügels an erster Stelle stehen. Sicherheit geht im Moment vor Ökonomie. Hier bitte ich um Ihre Unterstützung.
Vielen Dank.
({10})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Frau Bundeskanzlerin! Sehr geehrter Herr Minister Backhaus! Wir
freuen uns über die Regierungserklärung - nicht über
den Anlass, sondern über die Art und Weise, mit der wir
uns mit diesem Thema befassen. Wir unterstützen alle
klugen und sinnvollen Maßnahmen, die Herr Seehofer
zum Teil angesprochen hat. Ich sage „zum Teil“, weil ich
noch einige Ergänzungen vornehmen möchte.
Wir haben diese sehr konsequente Linie im Ausschuss erarbeitet, bis hin zum Kampf um inhaltliche
Darstellungen, während andere sich mit diesem Thema
schon gar nicht mehr beschäftigen wollten, wie in der
gestrigen Ausschusssitzung. Wir erheben in dieser Frage
einen sehr hohen fachlichen und sehr hohen fachwissenschaftlichen Anspruch. Wir wollen dazu beitragen, dass
die Menschen wissen, wie wir sie schützen und wie sie
sich selbst zu schützen haben.
Wir stellen aber auch fest, dass das, was wir zu transportieren versuchen, in der konkreten Situation zerschlagen wird. Es ist absolut unerklärlich, dass die Schwäne
noch immer vor der Insel Rügen liegen. Es ist absolut
unerklärlich, dass Menschen - insbesondere Kamerateams und Touristen - ungehindert durch Absperrungen
bis zu den Tierkörpern vordringen konnten. Es ist absoHans-Michael Goldmann
lut unerklärlich, dass sich die Diagnosedauer über
mehrere Tage hinzog, sodass auch Professor Kurth vom
Robert-Koch-Institut sagt: Ich habe mich gewundert,
dass dies so lange dauert. Das ist natürlich nicht ideal.
Herr Minister Seehofer, Sie mahnen zu Recht die Eltern und erteilen ihnen den Auftrag, ihren Kindern das
Notwendige zu sagen. Die Eltern werden damit aber
Schwierigkeiten haben, wenn sie gleichzeitig feststellen
müssen, dass wir mit dem Verbot des Zugangs zu den toten Schwänen so lax umgehen, wie sich das hier dargestellt hat.
({0})
Ich weiß, das Ganze ist in der Sache schwierig. Es ist
aber absolut unerträglich, dass die Botschaft der
Bundesregierung zerrissen ist. Herr Seehofer sagt: Die
Vogelgrippe ist eine gefährliche Tierseuche mit potenziellen Gefahren für den Menschen. Das ist richtig. Frau
Schmidt jedoch sagt: Es gibt keine Gefährdung. Es
bleibt eine reine Tierseuche. Diese Position ist falsch.
({1})
- Genau das haben Sie gesagt.
Vogelgrippe hat durch Anpassung auch schon zu Todesfällen bei Menschen geführt. Natürlich sind wir von
der Mutation des Virus und damit der Übertragbarkeit
von Mensch zu Mensch Gott sei Dank noch ein Stück
entfernt. Pandemieprobleme haben wir noch nicht. Aber
vor dem Hintergrund der Gesamtentwicklung - ich weiß
nicht, ob Sie die Gelegenheit hatten, heute Nacht eine
hoch informative Fernsehsendung zu diesem Thema zu
verfolgen - ist die Frage an die Bundesregierung zu richten: Was gilt denn nun? Was ist Ihr Handlungsstrang?
Denken Sie, es ist eine reine Tierseuche wie Schweinepest oder Maul- und Klauenseuche? Oder ist es vielleicht
doch eine Seuche, bei der man im Grunde genommen
davon ausgehen kann, dass sie auf den Menschen übertragbar ist und übertragen wird und damit die Gefahr der
Pandemie mit dieser Geflügelseuche ganz unmittelbar
verbunden ist?
Herr Minister, wir brauchen in diesem Bereich absolut passgenaue Informationen. Wir brauchen keine
Aktionen, sondern klare Informationen an die Nutztierhalter, an die Hobbytierhalter, an die Reisenden. Es gibt
einen Fall, in dem diese Krankheit auf einen Menschen
nicht nach Berührung mit Tieren, sondern durch Geflügelkot übertragen worden ist. Wir müssen das in unseren
Überlegungen berücksichtigen. In diesem Bereich sind
Ihre Antworten zum Teil doch sehr dürftig.
Es ist richtig, dass wir mehr forschen müssen. Ich bin
darüber betroffen, dass die vorliegenden Forschungsergebnisse und Informationen aus Ländern wie Belgien,
den USA, Großbritannien und den Niederlanden kommen und dass wir anscheinend nicht genügend für die
Forschung getan haben. Wir müssen uns in diesem Bereich verbessern.
({2})
Ich denke, dass es ganz wichtig ist, dass wir alle den
Wunsch haben, ideologische Grabenkämpfe zu beenden.
Liebe Frau Kollegin Höhn, Sie haben heute gesagt, ({3})
- ja, das habe ich gemacht, da können Sie ganz sicher
sein - sofortige Stallpflicht in Mecklenburg-Vorpommern sei Aktionismus. Das enttäuscht mich zutiefst - so
werden Sie wörtlich zitiert. Ich habe alle Meldungen dabei.
({4})
So habe ich Sie heute Morgen auch eindeutig im Frühstücksfernsehen gehört. Es ist unerklärlich, dass Sie eine
solche Position einnehmen.
({5})
Sie wissen das. Sie können mich gleich in Ihrer Rede
korrigieren. Hören Sie endlich damit auf, eine bestimmte
Klientel, die auf Freilandhaltung setzt und möglicherweise Ihre Wähler sind, zu bedienen.
({6})
Sorgen Sie vielmehr dafür, dass die Viruskette unterbrochen wird. Sie wird durch Aufstallung unterbrochen.
Das sagt Ihnen jeder, der sich mit dieser Sache beschäftigt.
({7})
Kollege Goldmann, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich komme zum Schluss. - Wir dürfen vor dem Ausmaß der Bedrohung nicht die Augen verschließen. Wir
dürfen nicht bei der Stallpflicht stehen bleiben. Wir werden alle klugen und fachlich begründeten Aktionen,
Maßnahmen der Information und der fachlichen Verbesserung aktiv begleiten. Im Vordergrund müssen die Menschen stehen. Es ist zudem ein Problem mit außerordentlich großen wirtschaftlichen Auswirkungen.
Herzlich Dank.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich der
Abgeordneten Ulla Schmidt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Aussagen des Kollegen Goldmann können hier nicht unwidersprochen bleiben.
({0})
Ulla Schmidt ({1})
Jenseits der Tatsache, dass ich mir wünschen würde,
dass sich Abgeordnete, wenn sie hier im Deutschen Bundestag Behauptungen darüber aufstellen, was andere gesagt haben, umfassend informieren, möchte ich betonen,
dass es in der Bundesregierung keine Differenzen über
die Frage gibt, wie gefährlich das Virus ist und wie gefährdet die Menschen in Deutschland sind. Genau wie
der Kollege Seehofer habe auch ich immer wieder deutlich gemacht, dass allein der Tatbestand, dass das hoch
pathogene Virus H5N1 bei Wildschwänen auf der Insel
Rügen gefunden wurde, keine Veränderung der Gefährdungssituation der Menschen in Deutschland bedeutet.
Wir sind nach wie vor in Phase 3, die die Weltgesundheitsorganisation definiert hat, also einer Phase, in der
keine Gefährdung für Menschen besteht, es sei denn,
dass ein enger Kontakt zwischen infiziertem Geflügel
und Menschen stattfindet.
({2})
Deswegen, Herr Kollege Goldmann, bitte ich Sie, zur
Kenntnis zu nehmen, dass die Aussagen des Kollegen
Seehofer von mir hundertprozentig unterstützt werden
- wir sind uns in dieser Frage einig - und dass wir beide
die Maßnahmen, zum einen die Aufstallungspflicht und
zum anderen die Warnhinweise, eingeleitet haben, durch
die versucht wird, den direkten Kontakt von Menschen
mit infiziertem Geflügel zu verhindern. In der Einschätzung der Gefährdungssituation sind wir einer Meinung.
Ich behaupte nach wie vor: Es gibt keine wissenschaftlichen Hinweise darauf, dass das Virus effizient von
Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Aber es
gibt kein Nullrisiko.
Deshalb wiederhole ich hier den Hinweis. Wir fordern alle Menschen auf: Wenn ihr tote und kranke Vögel, Geflügel oder Wildschwäne findet, haltet euch bitte
von diesen fern und ruft die entsprechenden Behörden
an. Wenn es keinen direkten Kontakt gibt, besteht im
Moment keine Infektionsgefahr.
Danke schön.
({3})
Kollege Goldmann, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
Sehr verehrte Frau Ministerin, ich habe Tiermedizin
studiert und passe, wenn es um solche Begriffe geht,
sehr genau auf. Sie haben eben wieder etwas vermischt
- ich weiß nicht, ob Sie das mit Absicht tun; man könnte
auch etwas anderes annehmen -:
({0})
Ich habe überhaupt nicht davon geredet, dass der vorhandene Virustyp H5N1 von Mensch zu Mensch übertragbar ist.
({1})
Wir sollten einmal rekapitulieren, wie die Situation ist
- Sie kennen sie ja -:
Erstens. H5N1 nennt man einen mutierten Virustyp,
der eine Pandemie auslösen kann. Klar ist: Je mehr Viren
vom Typ H5N1 in der Welt herumschwirren, desto größer ist die Gefahr, dass es zu einer Pandemie kommt.
({2})
Zweitens. Sie behaupten, es handele sich bei diesem
Virustyp um eine Tierseuche. Als Tierarzt kann ich Ihnen sagen: Die Schweinepest ist eine Tierseuche, weil
sie - Gott sei Dank! - nicht auf den Menschen übertragbar ist. Sie ist, wie der Name Schweinepest sagt, eine
Pest der Schweine. Bei der Geflügelpest ist die Situation
eine andere: Das Geflügelpestvirus H5N1 kann sich an
den Organismus des Menschen anpassen. Aufgrund seiner Aggressivität, die ja bekannt ist, kann dieses Virus
zum Tod von Menschen führen, wie es in der Türkei und
in anderen Ländern bereits der Fall war.
Jetzt komme ich zum springenden Punkt: Sie haben
gesagt, die Situation habe sich nicht verändert. Ich dagegen sage: Doch, die Situation hat sich verändert. Denn
nun ist der Kontakt mit infizierten Tieren, zu dem es in
Deutschland bisher nicht kommen konnte, auch hierzulande möglich, zum Beispiel auf der Insel Rügen und
eventuell auch an anderen Orten, wie es Herr Seehofer
vorhin beschrieben hat.
Vor diesem Hintergrund ist Ihre Einschätzung, dass
wir noch die Möglichkeit haben, die Entstehung einer
Pandemie zu vermeiden, richtig. Aber ich kann Ihnen
nur empfehlen, sich auch mit den Aussagen, die Vertreter der WHO heute getroffen haben, zu beschäftigen.
Dann werden Sie nämlich feststellen, dass höchster
Alarm geboten ist. Deswegen ist Ihre Aussage, die Leute
sollten zwar vorsichtig sein, sich aber nicht massiv betroffen fühlen, weil es sich ja nur um eine Tierseuche
handele, aus meiner Sicht fachlich falsch. Sie trägt nicht
zur Beruhigung, sondern eher zur Verunsicherung der
Menschen bei.
({3})
Frau Schmidt, Sie sollten Ihre Aussage korrigieren und
genau das sagen, was auch Herr Seehofer ausgeführt hat
- denn seine Aussage ist fachlich richtig -: Es handelt
sich um eine Tierseuche mit der Potenz der Übertragbarkeit auf den Menschen.
({4})
Ich erteile noch einmal Bundesminister Horst
Seehofer zu einem kurzen Nachtrag das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
im Anschluss an meine Rede eine Mitteilung vom
Friedrich-Loeffler-Institut erhalten, die ich Ihnen nicht
vorenthalten möchte - damit Sie nicht glauben, ich hätte
in meiner Rede etwas unterschlagen -: Das FriedrichLoeffler-Institut hat jetzt endgültig bestätigt, dass die
zwei untersuchten Schwäne tatsächlich mit dem hoch
pathogenen H5N1-Virus infiziert waren und dass es sich
bei diesem Virus um einen Subtypen handelt, den man
erstmals im letzten Jahr bei Wildvögeln in China registriert hat.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Volker
Blumentritt, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Goldmann, zur Aufklärung und Beruhigung der
Bevölkerung haben Sie nicht gerade beigetragen.
({0})
Zunächst möchte ich mich ganz herzlich für die von
der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen bedanken,
die in der Öffentlichkeit auf eine sehr positive Resonanz
gestoßen sind. Die Wiedereinführung der Stallpflicht im
gesamten Bundesgebiet vorzuziehen, ist sicherlich eine
geeignete Maßnahme, um die Situation in den Griff zu
bekommen.
Weit schwieriger erscheint es im Augenblick, die Bevölkerung im Rahmen einer angemessenen Informationspolitik umfassend und ehrlich zu informieren. Hier
bewegen wir uns in einem Bereich, der nicht allein durch
Maßnahmen der Bundesregierung zu beherrschen ist.
Daher richte ich an dieser Stelle den klaren Appell an
alle Medien, in ihrer Berichterstattung verantwortungsbewusst zu verfahren; ich bitte darum, diesem Appell zu
entsprechen.
({1})
Für die Bevölkerung besteht derzeit absolut keine Gefahr - dies bestätigt insbesondere das Robert-Koch-Institut - und dies bleibt so, wenn wir das Hausgeflügel
schützen. Diese und keine andere Botschaft gilt es zu
vermitteln. Doch die Menschen haben im Augenblick
Angst vor einer Ansteckungsgefahr. Durch gezielte Aufklärung sowie umfassende Information sollten wir die
Bevölkerung davon überzeugen, dass keine Ansteckungsgefahr besteht und dass der Verzehr von Geflügelfleisch nicht gesundheitsgefährdend ist. Aufklärung
ist gefragt, nicht irreführende Information. Wir brauchen
klare Anweisungen wie zum Beispiel:
Die Vogelgrippe ist eine Tierseuche!
Berühren Sie keine verendeten Tiere!
Verständigen Sie die Behörden, wenn Sie verendete
Tiere finden!
Importieren Sie kein Geflügel und keine Geflügelprodukte, wie zum Beispiel Federn, aus betroffenen
Ländern!
Vermeiden Sie vorübergehend den direkten Kontakt
durch Anfassen von Geflügel!
Mit solchen sachlich fundierten Informationen kann die
Bevölkerung etwas anfangen; sie gehören meines Erachtens jeden Tag in die Presse.
Öffentliches Spekulieren über die Möglichkeit von
Pandemien und ihre Folgen vermag vielleicht notorischen Pessimisten und Freunden schwarzer Zukunftsszenarien Genugtuung bereiten, dient jedoch nicht der Sache: einer angemessenen, verständlichen Aufklärung
unserer Bevölkerung.
({2})
Meine persönliche Bitte an die Presse lautet: Ehrlich und
sachlich fundierten Journalismus betreiben, Verzicht auf
jeglichen Schlagzeilenaktionismus, der die Ängste der
Menschen schürt.
Die Einrichtung eines Bürgertelefons am RobertKoch-Institut für eine umfassende Aufklärung oder Internetseiten über Schutzmaßnahmen geben denjenigen,
die mehr Informationen brauchen oder wollen - ob Insider oder andere -, die Möglichkeit, mehr zu erfahren zu welcher Stunde auch immer. Nicht nur für die privaten Verbraucher, sondern auch für die Geflügelindustrie
spielt Aufklärung eine besondere Rolle. Dabei geht es
auch um den Erhalt von Arbeitsplätzen.
Während wir uns in den Diskussionen um Gammelfleisch und verdorbenes Wildfleisch vorwiegend auf nationalem Terrain bewegten, handelt es sich bei der Vogelgrippe um ein Problem mit Ursachen und Ausmaßen,
die uns global denken und handeln lassen müssen. Eines
sollte allen Beteiligten klar sein: Eine perfekte Koordination und Handlungskompetenz im direkten Umfeld
oder sogar EU-weit kann den Problemen vor Ort entgegenwirken und die Bevölkerung vorübergehend schützen. Schon jetzt wird allerdings nur allzu deutlich, dass
weltweit bereits sehr viele betroffen sind und dass ihnen
geholfen werden muss. Dies ist insbesondere wichtig,
um uns perspektivisch selber helfen zu können.
Ursachenbekämpfung ist gefragt. Denn eines ist sicher: Der nächste Vogelzug kommt bestimmt. Wenn wir
zukünftig nicht zweimal im Jahr in bangem Warten verharren wollen, um hoffentlich jedes Mal erleichtert seufzend aus der Sache herauszukommen, müssen wir über
den eigenen Tellerrand hinausblicken und handeln - vor
Ort, zum Beispiel in Südostasien. Es hilft wenig, angesichts der Missstände dort zu sagen: Schaut auf uns in
Deutschland, so müsst ihr es machen! - Wir müssen uns
darüber im Klaren sein, dass unsere gesundheitlichen
Standards, unsere veterinärmedizinischen Anforderungen und Kenntnisse, zum Beispiel das Aufstallen, nichts
mit den Realitäten in den betroffenen Ländern zu tun haben und kaum übertragbar sind. Unser Know-how ist gefragt. Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen, darauf hinzuwirken, dass unsere Standards im Umgang mit dieser
Seuche weltweit üblich werden. Daraus ergibt sich für
mich als eine der wichtigsten Herausforderungen: Wir
müssen Strategien erarbeiten, um eine Ursachenbekämpfung vor Ort zu ermöglichen und voranzutreiben. Nur
durch weltweit einheitliche Standards wird es uns in Zukunft gelingen, derartige Epidemien von Pandemien zu
minimieren, vielleicht sogar vollkommen zu bannen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({3})
Kollege Blumentritt, das war Ihre erste Rede. Herzlichen Glückwunsch und alles Gute für Sie!
({0})
Ich erteile das Wort Kollegin Kirsten Tackmann,
Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Gäste! Um es vorwegzuschicken: Auch wir wollen keine
Panikmache, im Gegenteil; denn Angst ist immer ein
schlechter Ratgeber. Bezüglich der aktuellen Infektionsgefahr für den Menschen muss in der öffentlichen
Debatte aber daran gedacht werden: Bei 7 000 bis
13 000 Todesfällen jährlich infolge humaner Influenzaviren allein bei Menschen in der Bundesrepublik relativieren sich die bislang 79 Todesopfer durch H5N1 weltweit. Sie sind aber Anlass genug - auch hinsichtlich der
Pandemiegefahr -, den humanmedizinischen Aspekt in
dieser Diskussion niemals aus den Augen zu verlieren.
({0})
Die Debatte hat das gerade gezeigt, Herr Goldmann. Ich
stehe hier an Ihrer Seite.
Die aktuell größere Gefahr besteht allerdings für das
160 Millionen Tiere starke deutsche Geflügelvolk. Dem
Geflügelpestausbruch in Italien sollen immerhin 30 Millionen Hühner zum Opfer gefallen sein. Die wirtschaftlichen Verluste zum Beispiel in Asien wurden im vergangenen Jahr auf mehr als 10 Milliarden Euro geschätzt.
Es stehen damit auch wirtschaftliche Existenzen auf dem
Spiel. Wir haben also zumindest potenziell ein sehr ernstes Problem.
Nach den beiden Anhörungen im Ausschuss bin ich
mir aber aus verschiedenen Gründen, von denen ich hier
nur einige nennen kann, eher unsicher, ob wir dieser bedrohlichen Situation entsprechend aufgestellt sind. Vor
allem die zentralen Defizite hinsichtlich der epidemiologischen Grundlagen der aviären Influenza sind beunruhigend; denn dieses Wissen ist der Schlüssel für effektive
und angemessene Handlungskonzepte.
Neben ganz grundsätzlichen Fragen stellen sich auch
sehr konkrete Fragen, die alle unbeantwortet sind: Welche Konsequenzen hat die Situation in Norditalien, wo
aufgrund der Impfung nicht zwischen infizierten und geimpften Tieren unterschieden werden kann? Wie ist das
Virus zu uns gelangt? Wie lange hält es sich bereits hier
auf? Tote Schwäne gab es schließlich jedes Jahr. Welche
Verbreitungswege hat es genommen oder wird es noch
nehmen?
Warum sind jetzt ausgerechnet Höckerschwäne eine
Indikatorspezies?
({1})
Sind sie infektionsgefährdeter? Sterben sie besonders
schnell? Sind sie besonders oft untersucht worden? Geht
von ihnen eine unmittelbare Gefahr für die Geflügelhaltung aus? Zumindest die letzte Frage könnte man grundsätzlich mit Ja beantworten; denn es gab Ausbrüche in
Gebieten, in denen auch Schwäne infiziert waren. Was
bedeutet das aber für die hiesigen Verhältnisse? Welche
anderen Vogelarten sind involviert? Wie verhält sich das
Virus in Wildvögeln? Wie groß ist die Gefahr, die durch
Wildvögel für die Menschen entsteht?
Durch diese Fragen werden die Defizite belegt.
({2})
Dabei war - das müssen Sie zugeben, wenn Sie ehrlich
zu uns sind - die Wahrscheinlichkeit einer Einschleppung eher hoch. Ich habe darum auch von dieser Stelle
aus mehrmals darauf hingewiesen; denn die wichtigsten
Einschleppungsrisiken, die illegale Zufuhr von Risikomaterial und der Vogelzug, sind nicht beherrschbar. Es
wären also Anlass und Zeit genug gewesen, sich einigen
Fragen sehr ernsthaft zu widmen.
Zugegeben, es ist ein gewaltiger Fortschritt, dass
Bundes- und Landesregierung die Risikobewertung der
Experten im Friedrich-Loeffler-Institut, vor allem im
Institut für Epidemiologie in Wusterhausen, jetzt ernster nehmen. Selbst Epidemiologen können aber nicht alles gleichzeitig tun: wissenschaftlich arbeiten, die relevanten Daten sammeln, pflegen und evaluieren, in der
Türkei, in Rumänien und in Nigeria die Bekämpfung unterstützen, in Brüssel, Bonn und Berlin Rede und Antwort stehen und tagesaktuelle Risikobewertungen
schreiben.
({3})
Wenn jetzt die Wusterhausener epidemiologische
Einsatzgruppe zu Seuchenausbrüchen gerufen wird,
dann ziehen wir an der viel zu kurzen Decke wieder nur
hin und her und uns wird gleichwohl kalt bleiben. Selbst
mit dem Mut zur Lücke und dankenswert hohem Engagement der Kolleginnen und Kollegen sind unter solchen
Bedingungen nicht mehr alle fachlichen Anforderungen
zu erfüllen. Die Forschung bleibt fast gänzlich auf der
Strecke. Fehlende Ressourcen durch nicht wieder besetzte oder nicht zugewiesene Personalstellen spitzen die
Situation weiter zu.
Die Frage nach der dringenden Notwendigkeit eines
personell und finanziell angemessen ausgestatteten epidemiologischen Zentrums, wie es in Wusterhausen in
Grundzügen besteht, ist in anderen Ländern Europas und
der Welt längst positiv beantwortet. In Deutschland dagegen wird die Wissenschaftsdisziplin Epidemiologie
oft auf Prozentrechnung und mehr oder weniger bunte
Karten reduziert. Das ist bei der zunehmenden wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bedeutung von Tierseuchen in Zeiten von MKS, Schweinepest, SARS und
Tollwut und auch aufgrund der gewachsenen Personenund Warenströme in der globalen Welt blamabel für ein
Land der Dichter und Denker.
({4})
Dass eine epidemiologische Einrichtung an einen
Standort gehört, der für ihre spezifischen Aufgaben geeignet ist, sollte eigentlich unstrittig sein. Die Wusterhausener kämpfen jetzt seit zehn Jahren um ihren Standort und sie werden das auch weiter tun. Die jetzigen
Zeiten zeigen, dass sie Recht damit haben.
Beim Thema Epidemiologie war die ehemalige DDR
ihrer Zeit übrigens offensichtlich weit voraus. Das ist
eine vergebene historische Chance.
({5})
Auch durch diese Defizite ist im Moment nur eines sicher: H5N1 ist in Deutschland angekommen. Spätestens
jetzt stellt sich die sehr drängende Frage: Sind wir auf einen daraus möglicherweise folgenden Tierseuchenausbruch vorbereitet? Die Bundesregierung verweist auf
standardisierte Bekämpfungsverfahren, deren Effektivität und Realisierbarkeit nicht bewiesen sind. Das sind
jedenfalls keine Bekämpfungskonzepte, wie sie gebraucht werden: wissenschaftlich erarbeitet und evaluiert, mit Kosten-Nutzen-Rechnung, mit Ermittlung der
notwendigen und, was sehr wichtig ist, tatsächlich verfügbaren finanziellen, materiellen und personellen Ressourcen und mit sachlicher Prüfung von Präventionsoptionen, zum Beispiel Impfstrategien.
Antworten der Bundesregierung auf meine schriftlichen Anfragen verweisen auf weitere Unwägbarkeiten.
Krisenübungen haben Defizite aufgezeigt. Das für solche Krisen so dringend gebrauchte mobile Bekämpfungszentrum scheint immer wieder in die Mühlen des
Föderalismus und anderer sachfremder Erwägungen zu
geraten.
({6})
Gleiches gilt für die bundesweite Koordination des so
dringend benötigten Tierseuchenbekämpfungshandbuchs. Mit dem Wissen, dass sich Tierseuchen selten an
administrative Grenzen halten, kann ich an dieser Stelle
nur dazu aufrufen, weniger Föderalismus zu wagen.
({7})
Das Wissensdefizit bei Wildtieren als Erregerreservoir fällt uns auch bei anderen Infektionen immer wieder
vor die Füße. Dass ausgerechnet jetzt den oft ehrenamtlich arbeitenden ornithologischen Experten mit ihren
Strukturen das finanzielle Siechtum droht, ist eine dramatische Verkennung der Tatsachen. Vielmehr sind ein
Ausbau und eine enge Verknüpfung von wildtierbiologischen und epidemiologischen Ressourcen zu fordern.
Das ist am Ende auch billiger, wenn man die wirtschaftlichen Schäden durch Tierseuchen in die Bilanz aufnimmt.
Mein Fazit ist: Wir wissen vieles nicht. Aber eines
steht fest: Die Zeit des Beobachtens ist vorbei. Jetzt
muss agiert werden. Ich hoffe, wir sind darauf einigermaßen vorbereitet.
Danke.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegin Ursula Heinen, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor
fast genau einem Monat haben wir hier schon einmal
über das Thema Vogelgrippe gesprochen, und zwar im
Rahmen einer Aktuellen Stunde. Damals ging es um die
verstärkte Ausbreitung der Vogelgrippe in der Türkei.
Aber die Debatte damals war ganz anders als die heutige
Debatte. Die damalige Debatte war nämlich dadurch gekennzeichnet, dass sich alle Redner, auch die von der
Opposition, bemüht haben, besonnen zu sein, vernünftig
zu argumentieren und aus diesem wichtigen Thema kein
innenpolitisches Kampfthema werden zu lassen, wie
sich das heute darstellt. Ich bin sehr enttäuscht, dass so
gehandelt wird.
({0})
Kollege Goldmann, ein Wort zur Ergänzung. Die
Weltgesundheitsorganisation hat - das geht aus den
Tickermeldungen hervor - Deutschland gerade bestätigt,
dass wir gemeinsam mit Frankreich und den USA bei
den Notfallmaßnahmen, die wir auf den Weg bringen,
führend sind. Das sind doch Tatsachen. Das, was in
Deutschland gemacht wird, wurde geprüft. Man kann
doch nicht einfach sagen, dass das nicht stimmt. Dasselbe gilt für Sie, Frau Tackmann. Das Tierseuchenbekämpfungszentrum ist längst auf den Weg gebracht worden.
({1})
- Das kommt jetzt. Ich finde es einfach eine Frechheit,
wenn Sie hier Sachen behaupten, die nicht stimmen.
Heute Morgen habe ich in den Meldungen der Agenturen gelesen, dass Frau Höhn erklärt hat, die Tötung
von Millionen von Tieren sei möglich. Ich finde es zum
jetzigen Zeitpunkt unverantwortlich, so zu argumentieren.
({2})
Frau Höhn, als Sie Agrarministerin in Nordrhein-Westfalen gewesen sind, haben Sie versucht, mit Augenmaß
zu handeln, als es im Jahr 2003 um den Ausbruch der
Geflügelpest in Nordrhein-Westfalen und Holland gegangen ist.
({3})
Dass Sie dieses Verhalten über Bord werfen, nur um eine
schnelle Schlagzeile zu bekommen, finde ich persönlich
enttäuschend.
({4})
Vorhin wurde von dem Kollegen der FDP gesagt, er
sehe keinen Handlungsrahmen. Vielleicht waren Sie
20 Minuten woanders als ich. Ich habe das, was der Minister an Maßnahmen vorgestellt hat und was nach seiner Meinung alles gemacht werden soll, sehr gut verstanden.
({5})
Ich kann nur sagen: Das Handeln der Bundesregierung
ist zurzeit besonnen und effektiv. Die Aufstallung ist für
den morgigen Tag angeordnet. In Mecklenburg-Vorpommern hat der Landwirtschaftsminister die Aufstallung
bereits ab dem gestrigen Mittwoch verpflichtend gemacht. Damit wurde entsprechend dem Risiko gehandelt
und reagiert. Dass die Bundesregierung diese Maßnahmen ergriffen hat und Vorbereitungen zum weiteren
Handeln trifft, ist bekannt. Dies gilt verstärkt, seit in Österreich zu Beginn der Woche die ersten Fälle aufgetreten sind.
Alles in allem sind die in Europa aufgetretenen Fälle
zwar beunruhigend, aber es besteht kein Grund zur Panik. Unser wichtigstes Ziel ist es, die Menschen vor einer Ansteckung zu schützen. Aber wir wissen auch - die
Gesundheitsministerin hat es eben in ihrer Kurzintervention noch einmal deutlich gemacht -: Es erfolgt, wenn
überhaupt, nur eine Übertragung vom Tier auf den
Menschen. Wir haben keinerlei Hinweise auf Übertragungen von Mensch zu Mensch. Auch das hat die Weltgesundheitsorganisation erst kürzlich noch einmal deutlich gemacht.
({6})
Dass sich die Geflügelpest in Asien beispielsweise
derartig ausgebreitet hat, hängt auch mit den dortigen
Lebensbedingungen zusammen. Wo Menschen mit Geflügel unter einem Dach leben, vergrößert sich nämlich
die Ansteckungsgefahr erheblich. Das war in der Türkei
der Fall, wo Kinder gestorben sind, weil sie mit toten
Hühnern gespielt haben. Wir erinnern uns noch alle an
diese Bilder. Wir sollten insofern mit Panikmache vorsichtig sein.
({7})
Das Friedrich-Loeffler-Institut ist ein renommiertes
Institut, das uns bisher sehr fachkundig unterrichtet hat.
Es hat in allen Bewertungen und Berichten, die wir vor
einem Monat und auch in diesem Monat bekommen haben, die höchsten Risiken für uns deutlich gemacht. Das
Wildvogelrisiko ist nur mäßig hoch. Auch durch legale
Importe kann an sich wenig passieren.
Unser Hauptproblem ist nach wie vor der illegale
Import von Geflügel. Es hat bereits entsprechende Vorfälle gegeben. Im Januar hat ein Reisender fünf Gänse
aus der Türkei mitgebracht. In dem Bericht des
Friedrich-Loeffler-Instituts wird ein Reisender aus
Bangkok angeführt, der zwei Bergadler mitgebracht hat,
von denen einer mit dem Virus infiziert war. In solchen
Fällen müssen wir handeln. Insofern ist es besonders
wichtig, dass wir nächste Woche im Agrarministerrat der
Europäischen Union um die Verschärfung der Einfuhrkontrollen und vor allem für die Deklarationspflicht
kämpfen, die es bisher noch nicht gibt.
Ich bedaure es, dass Ihre Kollegen auf EU-Ebene derzeit noch etwas zögern, den Vorschlägen der Bundesregierung in diesem Zusammenhang zu folgen und sie
umzusetzen. Aber ich hoffe, dass die in Europa aufgetretenen Fälle dazu beitragen, das Bewusstsein auch der anderen europäischen Minister zugunsten einer verbesserten Handlungsfähigkeit zu schärfen, auch wenn es
darum geht, das Schengenabkommen teilweise außer
Kraft zu setzen, um die Kontrollmöglichkeiten weiter zu
verbessern.
({8})
Wenn wir all diese Maßnahmen - vor allen Dingen
hinsichtlich der illegalen Importe - sukzessive befolgen,
dann wird die Vogelgrippe das bleiben, was sie ist, Kollege Goldmann, nämlich eine Tierseuche.
({9})
Ich bin der Meinung, dass wir als Abgeordnete dieses
Parlaments mit diesem Thema verantwortungsvoll umgehen sollten.
Danke schön.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegin Bärbel Höhn, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Informationen haben sich in den vergangenen Tagen
überschlagen. Das machen zum Beispiel die Zeitungsüberschriften vom Mittwoch deutlich. Die Zeitungen,
die früher in Druck gingen, brachten noch Titelzeilen
wie „Vogelgrippe jetzt in Österreich“. Die Zeitungen, die
etwas länger auf Informationen warten konnten, haben
schon am Mittwochmorgen mit „Vogelgrippe jetzt in
Deutschland“ getitelt. Die Nachrichten haben sich, wie
gesagt, überschlagen. Aber gerade bei Tierseuchen kann
etwas, das man lange hat kommen sehen, schnell eintreten.
Ich halte es für notwendig, zunächst einmal festzuhalten, welche großen und wichtigen Gemeinsamkeiten bestehen. Eine wichtige Gemeinsamkeit ist aus meiner
Sicht - darin stimme ich dem Bundesminister ganz und
gar zu - die Auffassung, dass bei allen Maßnahmen, die
wir durchführen, der Schutz der Menschen oberste Priorität haben muss.
({0})
Wichtig ist außerdem, dass wir die Bevölkerung umfassend und ausreichend informieren, um so das notwendige Vertrauen in die zu ergreifenden Maßnahmen zu
schaffen. Damit meine ich richtige Informationen, lieber
Herr Blumentritt. Ihre Ausführungen, die etwas ungenau
waren,
({1})
möchte ich gerne korrigieren. Sie werden schnell merken, dass die Menschen Ihnen nicht glauben.
Tatsächlich ist es so: Wenn man engen Kontakt zu erkrankten Tieren hat, kann man sehr wohl erkranken und
sogar sterben. Mittlerweile sind weltweit circa
90 Menschen an der Vogelgrippe gestorben. Das sollten
wir sicherlich nicht zum Anlass nehmen, Panik zu machen und für Hysterie zu sorgen. Aber wir dürfen das
den Menschen nicht verheimlichen. Die für die Bevölkerung wichtige Information lautet: Normale Verbraucherinnen und Verbraucher, die totes Geflügel oder fremdes
Federvieh nicht anfassen, müssen sich keine Sorgen machen. Für sie besteht keine Gefahr. So ist es exakt und
differenziert darzulegen.
Viele Punkte sind in dieser Debatte bislang - gerade
von den Regierungsfraktionen - nicht angesprochen
worden. Liebe Frau Heinen, es geht nicht nur darum,
darzulegen, was gemacht wurde, und darauf zu verweisen, was auf EU-Ebene noch zu tun ist. Vielmehr geht es
darum, darüber nachzudenken, was in Deutschland passiert ist, nachdem das Virus bei uns entdeckt worden ist.
Ich muss sagen: Die Premiere ist absolut fehlgeschlagen.
Das, was wir in Mecklenburg-Vorpommern gesehen haben, war in vielen Punkten fehlerhaft.
({2})
Es geht nicht nur darum, Notfallpläne aufzustellen,
sondern auch darum, Notfallpläne umzusetzen. Die Umsetzung hat nicht funktioniert. Die Menschen, die im
Fernsehen sehen, dass tote Schwäne - obwohl bekannt
ist, dass sie mit dem Vogelgrippevirus infiziert sind - einen ganzen Tag herumliegen und nicht abtransportiert
werden, glauben nicht daran, dass der Notfallplan richtig
umgesetzt worden ist.
({3})
Dazu, dass im Ernstfall nicht richtig gehandelt wurde,
haben Sie nichts gesagt.
Es ist gut, dass Herr Backhaus auf der Bundesratsbank, und zwar hinter mir, Platz genommen hat; denn
ich habe ein paar Fragen an ihn, die er oder gegebenenfalls die Bundesregierung beantworten soll.
({4})
Wir haben am vergangenen Dienstagabend erfahren,
dass die Schwäne infiziert sind. Das ist durch einen
Schnelltest festgestellt worden. Nun habe ich aber erfahren, dass die Tiere schon in der vorangegangenen
Woche gefunden worden sind, und zwar - hierzu gibt es
unterschiedliche Daten - entweder am 10. Februar oder
am 8. Februar. Es hat also vier bis sechs Tage gedauert,
die Ergebnisse des Schnelltests auszuwerten. Das ist
doch kein Schnelltest mehr. Da ist doch etwas schief gegangen.
({5})
Hier haben die Behörden vor Ort, in Mecklenburg-Vorpommern, offensichtlich versagt. Ich möchte von Herrn
Backhaus genau wissen, warum der Schnelltest vier bis
sechs Tage gedauert hat, wann der erste tote Schwan gefunden wurde, wann die Untersuchung durchgeführt
worden ist und wann die Öffentlichkeit informiert
wurde. Auch das gehört zu einem wirksamen Krisenmanagement.
({6})
Wir müssen aufpassen, was als Nächstes passiert. Wir
müssen jetzt verhindern, dass das Virus in die Geflügelställe gelangt. Wenn das geschieht, Frau Heinen - es
stimmt, dass ich entsprechende Erfahrungen habe; vor
drei Jahren hatten wir die Geflügelpest in den Niederlanden und in Nordrhein-Westfalen -, müssen leider Millionen Tiere getötet werden. Darauf müssen wir uns vorbereiten. Umso wichtiger ist es deshalb, Frau Heinen, dass
wir eine mobile Einsatzstation bekommen, die dann in
die Krisenzentren fährt, um die notwendigen Maßnahmen zu veranlassen. Eine solche Einsatzstation gibt es
bislang - im Gegensatz zu dem, was Sie hier behauptet
haben, Frau Heinen - leider nicht.
({7})
Es geht nicht nur darum, theoretische Notfallpläne
aufzustellen. Vielmehr müssen die Notfallpläne dann,
wenn sie zum Tragen kommen sollen, auch funktionieren. Wir müssen schauen, welches die besten Maßnahmen sind. Der Minister hat eben gesagt, die beste und
wirksamste Maßnahme ist die Stallpflicht. Die Stallpflicht ist unbestritten wichtig und notwendig; darüber
gibt es keine Diskussion. Aber noch wichtiger ist, dass
wir die Ställe gerade in den Krisengebieten von Mecklenburg-Vorpommern schützen und desinfizieren lassen;
denn gerade hier ist die Gefahr der Übertragung des
Virus auf den Menschen viel gravierender. Es kann nämlich vorkommen, dass Menschen, die in die Gebiete gehen, in denen infizierte tote Tiere liegen, in einen Kothaufen treten, diesen unter ihren Stiefeln in einen
Geflügelstall tragen und so für die Weiterverbreitung des
Virus sorgen. Deshalb ist es umso notwendiger, dass wir
jetzt zu einer Desinfektion der Ställe kommen, damit das
Virus nicht in die Ställe gelangt. Auch das ist ein wichtiger Punkt.
({8})
Ich möchte am Ende noch eines zu den Ausführungen
von Herrn Seehofer sagen. Er hat zum Schluss gesagt
- ich hoffe, das war eine freudsche Fehlleistung -: Sicherheit geht im Moment vor Ökonomie.
({9})
Aus meiner Sicht geht Sicherheit immer vor Ökonomie.
Das sollte immer der Fall sein. Auch in diesem Punkt.
({10})
Bei allen Gemeinsamkeiten, die wir haben und die
wir immer vertreten werden: Achten Sie im Zusammenhang mit der Föderalismusdiskussion darauf, dass mehr
Kompetenzen an den Bund gehen. Wir sehen momentan, dass die Länder überlastet sind. Herr Seehofer, Sie
haben gestern gesagt, beim Krisenstab sei keine Hilfe
angefordert worden. Heute gibt es eine Meldung der dpa,
dass der Rügener Amtsleiter Karl-Heinz Walter sagt, er
sei vollkommen überfordert, er könne die toten Schwäne
überhaupt nicht einsammeln und er bitte um Hilfe. Es
kann nicht sein, dass der Minister gestern im gemeinsamen Krisenstab sitzt und nichts sagt und heute der Amtsleiter um Hilfe bittet. Die Zusammenarbeit zwischen
Bund und Ländern muss verbessert werden. Der Bund
muss mehr Kompetenzen bekommen, damit wir auf eine
Tierseuche richtig reagieren können.
Danke schön.
({11})
Ich erteile das Wort dem Minister für Ernährung,
Landwirtschaft, Forsten und Fischerei des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Till Backhaus.
Dr. Till Backhaus, Minister ({0}):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Die Vogelgrippe hat
Deutschland erreicht. Das macht uns sehr betroffen. Als
zuständiger Minister für Ernährung, Landwirtschaft,
Forsten und Fischerei des Landes Mecklenburg-Vorpommern und als Verantwortlicher für den Verbraucherschutz nehme ich diese Lage sehr ernst.
Frau Höhn, ich möchte zunächst Ihre Frage und Ihre
Äußerungen aufgreifen. Wir wissen jetzt definitiv, dass
es sich um das Virus H5N1 handelt, das hochpathogen
ist. Diese Bestätigung haben wir heute Vormittag endlich
bekommen.
Die Behörden in Mecklenburg-Vorpommern haben
seit August 2005 - Frau Höhn, damals waren Sie selbst
noch in Ihrem Bundesland verantwortlich - Alarmpläne
und klare Anweisungen erarbeitet. Ich will ausdrücklich
betonen: Es gibt in Mecklenburg-Vorpommern einen
ganz klar strukturierten Plan. Die Verantwortung vor Ort
trägt zunächst der Landkreis, solange es sich um einen
lokal klar definierten Raum handelt. Das heißt, die Landrätin des Landkreises Rügen hat die volle Verantwortung
für die Umsetzung der Maßnahmen. Wir als Landesregierung haben dem Landkreis Rügen die volle Unterstützung und Hilfe angeboten. Sollte es zu weiteren
Vorfällen kommen - das habe ich gestern in der Verbraucherschutzkonferenz deutlich gemacht -, werden wir als
Landesregierung ganz stringent weitere Maßnahmen
einleiten.
({1})
- Darauf komme ich gleich, Herr Westerwelle.
Wir haben im Vorgriff auf die Bundesverordnung und
in Absprache mit Ihnen, Herr Bundesminister, sowie im
Vorgriff auf die Verordnung der Europäischen Union
eine Verordnung innerhalb des Landes erlassen. Daraus
geht ganz klar hervor, dass wir erstens die Stallpflicht in
ganz Mecklenburg-Vorpommern durchsetzen, zweitens
den Handel mit Geflügel in mobilen Einrichtungen untersagen und drittens insbesondere den Tierverkehr einschränken.
Ich will auch betonen, dass wir in diesem Krisengebiet - das ist richtigerweise hier angedeutet worden - einen Schutzradius von 3 Kilometern gezogen und einen
Beobachtungsraum von 10 Kilometer Breite eingerichtet
haben. In diesem Gebiet sind folgende Dinge angeordnet
worden: Jegliches Verbringen von Geflügel und frischem Geflügelfleisch ist untersagt. Die Einschränkung
des Personen- und Fahrzeugverkehrs ist umgesetzt und
- Frau Höhn, das sage ich Ihnen ausdrücklich; Sie hätten
eigentlich die Unterlagen haben müssen - wir haben insbesondere Desinfektionsmaßnahmen vor den Ställen und
an den Ausgängen angeordnet.
Herr Minister, gestatten Sie zwei Zwischenfragen,
eine der Kollegin Iris Hoffmann und eine des Kollegen
Guido Westerwelle?
Dr. Till Backhaus, Minister ({0}):
Ja, gerne.
Herr Minister, nachdem die Kollegin Höhn ausgeführt hat, dass der Notfallplan in Mecklenburg-Vorpommern fehlerhaft umgesetzt wurde - ich möchte sie mit
meiner Frage nicht enttäuschen -: Können Sie hier erläuIris Hoffmann ({0})
tern, welche konkreten Maßnahmen in MecklenburgVorpommern erlassen worden sind und welche Sie noch
zu ergreifen gedenken?
({1})
- Ja, aber ich möchte es ganz konkret wissen. Ich habe
sehr wohl zugehört. Vielleicht ist es auch für Sie wichtig,
das noch einmal zu hören.
({2})
Dr. Till Backhaus, Minister ({3}):
Ich will die Maßnahmen, die ich gerade angedeutet
habe, unterstreichen. Was den Wildgeflügelbereich angeht, werden wir bis zum Wochenende insgesamt
7 000 Tiere in Mecklenburg-Vorpommern untersucht haben. An dieser Stelle möchte ich wirklich um ein bisschen mehr Sachlichkeit bitten. Wir haben ein Problem.
Das ist erkannt worden. Maßnahmen sind eingeleitet
worden. Die Umsetzung wird jetzt mit aller Kraft betrieben.
An dieser Stelle sage ich noch einmal sehr klar: Wir
haben in Mecklenburg-Vorpommern zwei Höckerschwäne und einen Habicht mit dem Erreger H5N1 aufgefunden. Ich wiederhole: Bei 7 000 Tieren wurden Proben entnommen; drei davon wurden positiv getestet.
Man muss der Bevölkerung sagen: Jawohl, wir haben
hier ein Problem, aber wir werden alles dafür tun, Gefahren und Probleme für die Bevölkerung abzuwenden; außerdem werden wir alles dafür tun, dass in Mecklenburg-Vorpommern und anderswo das Übergreifen der
Vogelgrippe auf Haustierbestände verhindert wird.
Ich wiederhole an dieser Stelle auch, Frau Höhn: Wir
haben ebenfalls angewiesen, dass verschärft Laboruntersuchungen von Hausgeflügelbeständen vorgenommen
werden, um wirklich einen epidemiologischen Weg aufzuzeigen. Was hier dazu gesagt worden ist, ist richtig.
Herr Bundesminister, ich bitte darum, dass wir die Behandlung dieser Fragestellung mit aller Kraft gemeinsam
betreiben.
Wir beproben und analysieren alle - ich betone: alle;
ich verweise auf die Zusammenarbeit mit dem Bund tot aufgefundenen Wildvögel.
Herr Minister, ich möchte Sie daran erinnern, dass
auch Herr Westerwelle eine Zwischenfrage stellen
möchte. Außerdem hat sich die Kollegin Höfken zu einer Zwischenfrage gemeldet.
Dr. Till Backhaus, Minister ({0}):
Von mir aus beantworte ich diese Fragen gerne, wenn
das nicht von meiner Redezeit abgeht, Herr Präsident.
Herr Minister, nein, es geht nicht von Ihrer Redezeit
ab.
Vorab möchte ich sagen: Ich habe nicht die tiermedizinischen Kenntnisse von Frau Kollegin Tackmann oder
von Herrn Goldmann. Das geht wahrscheinlich fast allen
anderen in diesem Raume so.
Wenn ich den Verlauf dieser Debatte, Ihre Ausführungen und die Ausführungen von Herrn Minister Seehofer
richtig verstanden habe, dann handelt es sich um ein
Virus, das bei Kontakt mit dem verendeten Federvieh
auf den Menschen übertragen werden kann. Das heißt, es
besteht eine Gefährdung für den Menschen. Wie ist es zu
erklären - ich habe es selber gestern Abend vor einer
Veranstaltung bei RTL und im Zweiten Deutschen Fernsehen in den Hauptnachrichtensendungen gesehen -,
dass in Ihrem unmittelbaren Regierungsbereich Kameras
vor verendeten Schwänen aufgebaut wurden, die dort
nicht stunden-, sondern tagelang lagen? Diese Bilder
waren als Hintergrundmaterial für die Fernsehanstalten
tauglich.
Wenn das so ist, ist es meines Erachtens nahe liegend,
dass Kinder oder andere, die weniger aufgeklärt oder informiert sind, möglicherweise Kontakt zu diesen verendeten Vögeln hatten. Ist es in dieser Lage zu verantworten, dass diese verendeten Vögel als Kulisse für
Fernsehanstalten dienen konnten, weil niemand von Ihrer Regierung beauftragt wurde, diese Tiere wegzuräumen?
({0})
Dr. Till Backhaus, Minister ({1}):
Herr Westerwelle, es tut mir Leid, sagen zu müssen:
Was Sie hier zum Ausdruck bringen, ist eine Zumutung,
({2})
auch für Behörden, die versuchen, ordnungsgemäß ihre
Arbeit zu machen.
Ich will Ihnen Folgendes erklären - das werden auch
Sie verstehen -: Auf der Insel Rügen ist es in den letzten
Jahren, insbesondere in kalten Wintern, zu verstärktem
Aufenthalt von Geflügel gekommen. Ich nenne Ihnen
die Zahl - ich hoffe, man kann sich das bildlich vorstellen -: Am Tag sind es bis zu 100 000 Stück Geflügel der
verschiedenen Arten und Gattungen. Bis zu 100 000!
({3})
- Augenblick mal! - In schweren Wintern - einen solchen haben wir gerade - ist es normal - so bitter das ist
und so weh mir das auch in der Seele tut, weil ich Tierschützer bin -, dass bis zu 300 Tiere
({4})
aufgrund von Erfrieren oder Futtermangel verenden.
Minister Dr. Till Backhaus ({5})
Bei der Bergung der toten Tiere, insbesondere der
Schwäne, ist es - das ist richtig - zu Problemen gekommen. Warum? Wenn Tiere eingefroren sind, ist es außerordentlich kompliziert - das können Sie sich vorstellen -,
diese herauszubekommen. Dazu kommt, dass jetzt Tauwetter herrscht und Menschen nicht auf das Eis gehen
dürfen, um die Tiere zu bergen. Ich habe angewiesen,
dass Katastrophenschutz und Polizei, insbesondere Wasserschutzpolizei, alles unternehmen, um die Tiere jetzt zu
bergen und unverzüglich zur Beprobung zu bringen.
Ich bitte auch die Medien an dieser Stelle um ein bisschen Verständnis. Ich kann sie ja verstehen. Mir ist es
auch nicht anders gegangen. Wenn man diese Bilder
sieht, bekommt man das Gefühl, als ob dort nicht gehandelt wird. Ich sage Ihnen aber: Mir ist mitgeteilt worden,
dass der Landkreis - wir haben im Übrigen Verstärkung
dorthin gegeben - bis gestern Abend in der Lage war,
alle toten Tiere zu bergen. Ich werde das jetzt nochmals
überprüfen und wir werden weitere Maßnahmen einleiten.
({6})
Letzte Zwischenfrage, Kollegin Höfken.
Herr Minister Backhaus, einige Fragen.
Erstens. Sie haben die Frage der Kollegin Höhn, warum zwischen dem Auffinden der Tiere und der Bekanntgabe des Ergebnisses so viel Zeit vergangen ist,
nicht beantwortet.
Das Zweite. Wir haben gestern im Ausschuss über
das Wildvogelmonitoring gesprochen. Da wurde gesagt,
es sei in Risikogebieten untersucht worden, gerade von
Mecklenburg-Vorpommern. Haben Sie denn Risikogebiete, in denen eine solche Untersuchung stattfindet, definiert und ausgewiesen?
Das Dritte. Die Schutzzone und das Beobachtungsgebiet umfassen eine Fläche mit einem Radius von 10 Kilometern. Nun gibt es dort in 13 Kilometer Entfernung
große Geflügelbetriebe. Sind die jetzt in alle Schutzmaßnahmen einbezogen oder sind die, weil sie gerade außerhalb der Schutzzone und des Beobachtungsgebietes liegen, davon nicht erfasst?
Das Letzte. Werden Sie sich auch im Bundesrat demnächst als Tierschützer betätigen, wenn es dort um das
Verbot der Käfighaltung geht?
({0})
Danke schön.
Dr. Till Backhaus, Minister ({1}):
Sehr geehrter Herr Präsident, ich möchte natürlich auf
die Fragen konkret antworten.
Zu unserem Verfahren der Überwachung des Wildgeflügels und des Geflügels insgesamt ist Folgendes
festzustellen: Im Zusammenhang mit einem Seuchengeschehen - es handelt sich hier um eine meldepflichtige
Krankheit; das wissen Sie - hat jeder Tierhalter, ob klein
oder groß, dann, wenn in den Beständen Symptome auftreten, die darauf hindeuten könnten, dass es sich um Geflügelpest oder -grippe handelt, unverzüglich - so ist es
jedenfalls bei uns im Land - den Veterinär und den
Landkreis zu informieren.
Was das Auffinden der toten Schwäne anbetrifft, will
ich konkret wie folgt antworten: Die Tiere sind am
8. Februar aufgefunden worden - das ist richtig - und in
dem Verfahren in das Landesamt verbracht worden.
Dann haben die Untersuchungen stattgefunden und es ist
dann sofort gehandelt worden.
({2})
- Frau Höhn, ich komme gleich noch auf Ihr Problem
mit dem mobilen Bekämpfungszentrum zu sprechen.
Dann werde ich dem Deutschen Bundestag und der deutschen Öffentlichkeit auch einmal sagen, was da los gewesen ist
({3})
und welche Verantwortung Sie im diesem Bereich getragen haben, nämlich überhaupt keine.
({4})
Frau Höfken, ich kenne Sie viele Jahre. Deswegen
sage ich Ihnen: Wir überprüfen die Abläufe sehr genau.
Wir haben 7 000 Proben genommen. Was das Wildvogelmonitoring anbetrifft, so haben wir das selbstverständlich mit Ornithologen festgelegt, in MecklenburgVorpommern übrigens auch transparent. Ich bin gespannt, was uns andere Bundesländer dazu präsentieren
werden. Wir haben die Gebiete ganz klar festgelegt. Das
ist mit Wissenschaft und Forschung, mit dem Forschungsinstitut und insbesondere mit dem Bundesministerium abgestimmt worden.
Dass wir in Mecklenburg-Vorpommern als gewässerreichstes Bundesland - auch deswegen ist es für mich
das schönste Bundesland - eine besondere Gefahrensituation haben, hat mich im Übrigen zu der Entscheidung
gebracht, dass wir als erstes Bundesland festlegen, in
welcher Form Wildmonitoring zu betreiben und umzusetzen ist. Darauf ist auch von Ihrer Partei mit Häme und
überzogenen Forderungen reagiert worden. So wurde
gefragt, was denn dieser Quatsch solle.
({5})
Ebenso bin ich - auch von Kollegen von Ihnen - dafür
beschimpft worden, dass wir schon im September ein
Aufstallungsgebot erlassen haben.
({6})
Diese Kritik war unverantwortlich.
Minister Dr. Till Backhaus ({7})
Ich bin kein Prophet, aber ich sage Ihnen, Frau Höhn,
dass ich mittlerweile davon überzeugt bin, dass angesichts der Tatsache, dass das Virus aus Richtung China
kommt, der Eintrag früher stattgefunden hat. Das muss
natürlich noch wissenschaftlich abgeklärt werden. Somit
tragen auch Frau Künast und Sie konkret dafür Verantwortung, das nicht rechtzeitig erkannt zu haben.
({8})
Damit komme ich auf die Argumentation von Ihnen
und Ihrem ehemaligen Kollegen in Schleswig-Holstein
zu sprechen, die mir in der Seele wehgetan hat; denn es
ist für jeden Geflügelbetrieb und jeden Landwirt in
Deutschland schlimm, wenn er jetzt die Tiere einstallen
muss und dadurch wirtschaftliche Probleme bekommt.
Wir haben in Deutschland 123 Millionen Stück Geflügelvieh. Allein mit dem Tiermaterial wird ein Umsatz
von etwa 1,2 Milliarden Euro erzielt. Es muss doch jedem klar sein, dass daran Existenzen von Familien hängen. Deswegen bitte ich wirklich darum, diese Problematik hier nicht zum Anlass zu polemischen und
populistischen Äußerungen zu nehmen. Das tut der Sache nicht gut.
({9})
Nun auch noch einmal zu den beiden anderen Beispielen. Zunächst zur unseligen Käfighaltung: Wenn es
nach mir bzw. dem Willen meiner Landesregierung gegangen wäre, hätten wir längst ein TÜV-geprüftes Haltungsverfahren. Da waren Sie, Frau Höhn - Sie können
jetzt ja die Wahrheit sagen -, mit uns auf einer Wellenlänge. Sie haben sich bloß gegenüber Frau Künast nicht
durchsetzen können.
({10})
Das war doch das ganze Problem.
({11})
Wenn wir das geregelt hätten, hätten wir uns den jetzigen Zustand erspart, in dem die deutsche Geflügelwirtschaft auf der Stelle tritt und keinen Millimeter weiterkommt.
({12})
Nun zu dem zweiten Beispiel, dem mobilen Bekämpfungszentrum: Es ist richtig, dass die Länder und
der Bund 2005 entschieden haben, ein mobiles Bekämpfungszentrum einzurichten. Ich sage hier an dieser Stelle
- auch das gehört zur Wahrheit -, dass damals Ihr Haus
und die nordrhein-westfälische Landesregierung erhebliche Probleme bei der Finanzierung gemacht haben.
({13})
- Das ganze Problem fällt auf Sie zurück, Frau Höhn. Wir hatten nämlich bis Anfang Januar keine Zustimmung Bayerns und Nordrhein-Westfalens zur Einrichtung dieses mobilen Bekämpfungszentrums. Darunter
leiden wir heute. Ich bin dem Bundesminister sehr dankbar, dass wir gemeinsam - ich glaube nämlich, dass ich
nicht ganz unbeteiligt war - die Länder Nordrhein-Westfalen und Bayern gezwungen haben, mitzumachen.
({14})
Das Problem, meine Damen und Herren Abgeordnete,
ist, dass wir nun in Zeitverzug geraten sind. Die Verantwortung dafür tragen Sie, Frau Höhn, voll mit.
({15})
Hören Sie auch auf, in der Öffentlichkeit solch einen
Blödsinn zu erzählen wie den, dass wir Seuchenmatten
aufstellen sollten. Das steht doch in unserem Erlass. Ich
bin immer davon ausgegangen, dass wir gemeinsam vernünftig miteinander reden können. Sie kennen meine Telefonnummer. Ich hätte wirklich erwartet, dass Sie mich
wenigstens einmal angerufen hätten. Noch nicht einmal
dazu waren Sie in der Lage.
({16})
Abschließend möchte ich, um meine Redezeit nicht
völlig zu überziehen, noch einmal einige wenige Punkte
aus der Sicht meines Bundeslandes sagen. Wir haben
klare Handlungsanweisungen erarbeitet und veröffentlicht, um eine Infektionsgefahr für die Bevölkerung
und für die Tierbestände in Mecklenburg-Vorpommern
möglichst auszuschließen. Ich habe Ihnen darzustellen
versucht: Wir haben uns über das Bundesrecht bzw. über
das EU-Recht abgestimmt, um im Interesse der Menschen und im Interesse der Tiere zu handeln. Wir handeln mit ganz klaren Maßgaben.
({17})
Zweitens. Wir haben ganz klare Vorkehrungen getroffen, um ein Überspringen des Virus von Wildgeflügel
auf Hausgeflügel zu vermeiden. Ich hoffe, dass uns das
gelingt. Ich bin kein Prophet; aber wir wissen, was in
Dänemark los ist und dass es erste Anzeichen des Virus
in Schleswig-Holstein gibt. Wir werden also leider - das
betone ich - keine Sonderrolle einnehmen. Dass Rügen,
die schönste deutsche Insel, die es gibt,
({18})
betroffen ist, schmerzt nicht nur die Bundeskanzlerin,
sondern, wie ich glaube, sehr viele Menschen in
Deutschland, in Europa und auf der Welt. Denn die Geschehnisse sind natürlich auch für das Gesundheitsland
Mecklenburg-Vorpommern und den Tourismusstandort
wirklich schrecklich. Das sage ich ganz klar. Deswegen
müssen wir weg von der Polemik hin zur Aufklärung,
zur Information. Lassen Sie uns gemeinsam - Frau
Höhn, da lade ich Sie ein - deeskalieren und uns austauschen!
Minister Dr. Till Backhaus ({19})
Ich glaube, Folgendes darf ich noch sagen, Herr Bundesminister. Wir haben jetzt zwei Verbraucherschutzkonferenzen durchgeführt. Gestern habe ich ausdrücklich gesagt - Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
haben zum Teil dabeigesessen -: Wenn es kluge weitere
Hinweise gibt, welche Maßnahmen wir ergreifen sollen,
dann möge man mir das bitte sagen. - Ich habe zur
Kenntnis genommen, dass nichts Neues auf den Tisch
gelegt worden ist, sondern dass die Informationen über
den Sachstand und auch die Maßnahmen, die wir eingeleitet haben, nicht nur von meinen Kolleginnen und Kollegen und vom Bundesminister akzeptiert, sondern auch
von Brüssel als positives Beispiel dargestellt worden
sind. Deshalb agieren wir in diesem Sinne. Ich glaube,
das ist richtig so.
Ich will nicht ausweichen. Ich sehe ein paar Punkte,
bei denen wir Geschlossenheit in Deutschland benötigen, über alle Parteigrenzen hinweg. Ich habe Ihnen die
Maßnahmen erläutert. Handlungsbedarf sehe ich erstens
in Bezug auf ein einheitliches Vorgehen in Deutschland.
Das wird jetzt endlich durchgesetzt. Endlich haben wir
eine einheitliche Verordnung und alle haben sich daran
zu halten. Das haben Sie in der Vergangenheit nicht fertig gebracht.
({20})
- Ich bin in dieser Frage ein Vorreiter; das wissen Sie
ganz genau. Wir in Mecklenburg-Vorpommern sind Vorreiter, was die Frage der prophylaktischen Maßnahmen
anbetrifft.
({21})
Zweitens muss mit Hochdruck an dem mobilen Bekämpfungszentrum gearbeitet werden. Ich glaube, Herr
Bundesminister, hier müssen wir noch Kohle nachlegen,
wenn ich das so sagen darf, damit wir vorankommen.
Herr Minister, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Dr. Till Backhaus, Minister ({0}):
Ich bin gleich fertig, Herr Präsident.
Drittens müssen wir mit aller Kraft - das ist hier
schon gesagt worden - an dem wissenschaftlich begründeten Markerimpfstoff arbeiten. Ich würde mir wünschen, dass das weltweit stärker unterstützt wird.
Viertens sage ich mit aller Klarheit und Deutlichkeit:
Wir brauchen alternative Haltungsformen, weil bei der
Freihaltung und auch bei anderen Haltungsformen Risiken bestehen.
Der letzte Punkt: Wir brauchen wissenschaftlich begründete, aussagefähige epidemiologische Untersuchungen.
({1})
Alles andere ist Stochern im Nebel.
({2})
Meine letzte Botschaft richtet sich an die Bevölkerung in Deutschland insgesamt: Hände weg von toten
und kranken Tieren!
Herzlichen Dank.
({3})
Es liegen jetzt zwei Wortmeldungen zu Kurzinterventionen vor. Ich erteile zunächst dem Kollegen Karl
Addicks, FDP-Fraktion, das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich sehe mich, Herr
Minister, zu dieser Kurzintervention genötigt, da Sie mir
leider gerade eine Zwischenfrage verweigert haben.
Herr Minister Backhaus, nachdem Sie versucht haben, einen Teil der Verantwortung auf Ihre Landrätin abzuschieben, möchte ich von Ihnen schon gerne ganz genau wissen: Wann hat Ihre Landrätin erfahren, dass tote
Vögel herumliegen, wann haben Sie davon erfahren und
wann kam es zu den ersten Maßnahmen? Es gibt Präventivmaßnahmen wie beispielsweise die Aufstallung. Es
gibt aber auch Notfallpläne. Ich möchte schon gerne
wissen, ob die dazu gehörenden Alarmpläne entsprechend eingehalten wurden.
({0})
Herr Minister, Sie haben Gelegenheit zur sofortigen
Reaktion.
Dr. Till Backhaus, Minister ({0}):
Ich will noch einmal betonen: Das Verfahren nach
dem Auffinden toter Tiere ist in Mecklenburg-Vorpommern wie in anderen Bundesländern durch die Alarmpläne ganz klar geregelt. Die aufgefundenen Tiere werden dem Veterinäramt gemeldet.
({1})
In diesem Fall ist das am 8. Februar geschehen. Danach
sind alle weiteren Maßnahmen eingeleitet worden. Ich
bin am Dienstagabend um 20.15 Uhr darüber informiert
worden, dass das Ergebnis der zweiten Analyse von
Riems positiv war.
({2})
Ich erteile jetzt der Kollegin Bärbel Höhn das Wort zu
einer Kurzintervention.
Herr Minister Backhaus, ich möchte zwei Punkte ansprechen.
Der erste Punkt. Ich will auf das mobile Bekämpfungszentrum zurückkommen. Sie wissen, dass sich
Nordrhein-Westfalen damals bei der Geflügelpest sehr
genau in den Niederlanden umgesehen hat. Wir haben
uns sehr genau angeschaut, was wir von den Niederländern lernen können. Sie wissen ebenfalls, dass Nordrhein-Westfalen den Antrag, ein solches mobiles Bekämpfungszentrum auch in Deutschland einzurichten, in
die Agrarministerkonferenz eingebracht hat.
({0})
Das alles wissen Sie! Erzählen Sie also nicht solche
Märchen!
Der zweite Punkt. Wir wissen, dass die toten Schwäne
am 8. Februar aufgefunden worden sind. Sie wissen genauso gut wie ich, dass man für einen Schnelltest weniger als einen Tag braucht. Ich frage Sie, ob Sie den
Schnelltest erst deshalb am Montag gemacht haben, weil
Sie die Kosten für eine Prüfung schon am Wochenende
sparen wollten. Ich frage Sie weiter: Warum haben Sie
für den Schnelltest, für den man weniger als einen Tag
braucht, sechs Tage benötigt? Was war der Grund?
({1})
Herr Minister, Sie haben Gelegenheit zur Antwort.
({0})
Dr. Till Backhaus, Minister ({1}):
Zur ersten Frage. Es ist richtig - etwas anderes ist von
mir auch nicht gesagt worden -, dass das mobile Bekämpfungszentrum ein Thema in der Agrarministerkonferenz war. Ich habe im Übrigen diese Anschaffung unterstützt. Das Problem war aber der Zeitpunkt, zu dem
Nordrhein-Westfalen die Bund-Länder-Vereinbarung
unterschrieben hat.
({2})
Diese Vereinbarung hätten Sie in Ihrer Amtszeit umsetzen können. Das haben Sie aber nicht getan. Reden Sie
also nicht um den heißen Brei herum!
({3})
Zur zweiten Frage. Wir haben am 8. die Information
bekommen. Die toten Tiere sind in das Landesamt gebracht worden. Sie müssen einmal versuchen, sich in unsere Lage zu versetzen. Wir haben zurzeit eine hohe
Kontrolldichte. Diese Kontrollen reichen - ich will das
an dieser Stelle einmal sagen - vom Wellensittich über
den Spatz bis hin zu Schwänen, Gänsen und Enten. Dass
sich diese Belastung auf die Abfolge der Untersuchungen auswirkt, ist doch ganz klar. Das wäre in jedem anderen Landesinstitut genauso. Nachdem es diesen Hinweis gegeben hat, ist die entsprechende Probe sofort auf
den Riems geliefert worden.
Ich betone noch einmal: Es gab bis dato 3 220 Tiere,
die zur Beprobung angeliefert wurden.
({4})
Davon fiel nicht eine Untersuchung positiv aus. Danach
wurden die Untersuchungen in der üblichen Reihenfolge
schrittweise durchgeführt.
({5})
Ich erteile nunmehr das Wort dem Kollegen Edmund
Geisen, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Sehr
geehrte Herren! Die Vogelgrippe kam, wie wir wissen,
nicht aus heiterem Himmel. Nein, wir wussten seit langem, dass sie kommt; jedenfalls mussten wir seit langem
damit rechnen. Weil dem so ist, wird dieses Problem
auch nicht in wenigen Tagen oder Monaten zu lösen
sein, vielleicht nicht einmal in Jahren. Dies müssen wir
den Menschen sagen. Wir müssen die Bevölkerung umfassend informieren.
({0})
Panikmache ist nicht meine Sache; aber es kann nicht
sein, Herr Minister Backhaus, dass Sie das Problem so
tief hängen, wie Sie das getan haben, und die Verantwortung auf die Landkreise übertragen.
({1})
Es kann auch nicht sein, dass etwas als eine reine Tierseuche bezeichnet wird,
({2})
was Menschen zum Sterben bringt.
({3})
Ich will ganz persönlich erklären, dass ich nie für Panikmache war. Denn ich habe mir in Zeiten der BSEKrise nie den Genuss von Rindfleisch nehmen lassen.
Auch in Zeiten der Vogelgrippe werde ich mir nicht den
Genuss von Geflügelfleisch nehmen lassen. Das muss
auch nicht sein. Auch das darf ruhig gesagt werden.
({4})
Die Bundesregierung sollte zusammen mit der Wissenschaft kurzfristige und langfristige Strategien entwickeln. An dieser Stelle möchte ich das jüngste Papier
des Friedrich-Loeffler-Instituts zur Bewertung des
Risikos der Vogelgrippe vom 14. Februar 2006 besonders lobend erwähnen. Mir ist keine bessere Bewertung
bekannt. Die dort gemachten Vorschläge sind durchweg
zu unterstützen.
({5})
Hierin wird besonders deutlich, dass die Einschleppung
der Krankheit durch legalen - ich füge hinzu: kontrollierten - Handel vernachlässigbar ist, während das illegale Inverkehrbringen von Geflügelprodukten als hohes
Risiko eingestuft wird. Ich meine, daraus darf abgeleitet
werden, dass ordnungsgemäße und kontrollierte Geflügelhaltungen überall - auch in Deutschland - geringere
Risiken in sich bergen als oberflächliche, nicht organisierte und nicht kontrollierte Verfahren.
({6})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für die FDPFraktion fordere ich die Bundesregierung auf:
Erstens. Entscheiden Sie kurzfristig unter Berücksichtigung der vorgeschlagenen Handlungsoptionen des FLI!
Dabei müssen die Quarantäne der Wirtschaftsbetriebe,
deren Qualitätssicherung und die Erhaltung der Märkte
und Handelsströme im Vordergrund stehen.
Zweitens. Beginnen Sie sofort internationale Handelsgespräche, um die bestehenden Wirtschaftsbeziehungen gerade auch für die Geflügelwirtschaft langfristig zu sichern! Funktionierende Märkte dürfen nicht
willkürlichen und kurzfristigen Vorteilsnahmen zum Opfer fallen, die vordergründig mit dem Ausbruch der Vogelgrippe begründet werden könnten.
({7})
Wir von der FDP-Fraktion sind der Meinung: Die
Bundesregierung sollte ihre Strategien in Sachen Vogelgrippe an folgenden Schwerpunkten orientieren: erstens
an der Gesunderhaltung von Mensch und Tier, zweitens an der Existenzerhaltung unserer Geflügelwirtschaftsbetriebe sowie drittens an der langfristigen Erhaltung diesbezüglicher nationaler und internationaler
Wirtschaftsbeziehungen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Herr Kollege Geisen, dies war Ihre erste Rede im
Bundestag. Herzliche Gratulation und alles Gute für Ihre
politische Arbeit!
({0})
Nun erteile ich Kollegin Julia Klöckner, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Musste sich unser Bundeslandwirtschaftsminister Horst Seehofer noch am Dienstag dieser Woche
gegen Vorwürfe wehren, die vorgezogene Stallpflicht sei
bloßer Aktionismus, stellte ein Fernsehsender schon am
gestrigen Mittwoch in einer Telefonumfrage die Frage:
„Tut die Bundesregierung zu wenig für die Vogelgrippe?“
({0})
- Sie haben Recht: gegen die Vogelgrippe. - Weder der
Vorwurf vom Dienstag noch die Frage vom Mittwoch ist
ernst zu nehmen; beides ist unseriös.
({1})
Leichtsinn ist hier genauso falsch wie übertriebene
Furcht. Aber: Es war meiner Meinung nach auch keine
Panikmache. Die Kommunikationsstrategie der Bundesregierung, die Bevölkerung zu warnen und sie auf die
nahende Seuche vorzubereiten, war richtig. Wenn wir
ehrlich sind, hätte es doch einem Wunder geglichen,
wenn Deutschland von der Vogelgrippe verschont geblieben wäre.
({2})
Die entscheidende Aufgabe, vor der wir in den nächsten
Wochen und Monaten stehen, wird sein, die Übertragung der Geflügelpest von den Wildvögeln auf das
Hausgeflügel zu verhindern.
Ich war schon etwas erstaunt, Frau Höhn, von Ihnen
zu hören, dass Sie die Schnelltests lieber gegen einen
Schnellschuss eintauschen. Uns ist es wichtig, wissenschaftlich belegbares Datenmaterial zu haben, statt wilde
Panikmache zu betreiben, nur um Aktionismus zu zeigen.
({3})
Bisher handelt es sich noch um eine Tierseuche; deshalb war das, was Minister Seehofer und Ulla Heinen
gesagt haben, richtig. Es geht hier nicht um eine Pandemie. Es ist noch nicht so weit - und wir hoffen, dass es
auch nicht so weit kommt -, dass das Virus von Mensch
zu Mensch übertragen wird. Eine moderne und effektive
Tierseuchenbekämpfung muss aber auch Teil eines
vorsorgenden gesundheitlichen Verbraucherschutzes sein. Nichts anderes, Herr Kollege Goldmann, hat
der Herr Bundesminister eben gesagt. Es ist mir klar,
dass die Opposition immer versucht, andere Aspekte herauszuarbeiten, weil ihr keine anderen Möglichkeiten
bleiben. In dieser Frage aber sollte man seriös bleiben.
Es ist auch im Sinne einer Deeskalation, wenn man sensibel mit der Bevölkerung umgeht, die sich Sorgen
macht und natürlich oft nur Schlagzeilen in den Zeitungen mitbekommt. Ein anderes Verhalten kann nicht im
Interesse verantwortlicher Politiker sein.
({4})
Es muss alles getan werden, um das Vordringen der
Geflügelpest zu verhindern.
({5})
- Herr Westerwelle, Sie lassen sich gerade über die Farben meines Outfits aus.
({6})
Die Farbgestaltung Ihrer Kleidung überlasse ich Ihnen.
Die Farbgestaltung meiner Kleidung können Sie mir
überlassen. Schwarz-Rot würde Ihnen aber auch ganz
gut stehen.
({7})
Wichtig ist für uns, dass wir aus gesundheitlichen und
aus ökonomischen Beweggründen, aber auch aus Gründen des Tierschutzes darauf achten, dass jetzt alle Vorsorgemaßnahmen getroffen werden.
Frau Höhn, ich möchte noch kurz auf das mobile Krisenzentrum eingehen. In der vorletzten Bund-LänderSitzung wurde beschlossen, dass nun endlich alle Länder
im Boot sind. Was aber soll das Bundesministerium machen, wenn zwei Bundesländer noch nicht unterschrieben hatten? Sie kennen doch die Vorgehensweise. Das ist
das Ergebnis des Föderalismus und der Demokratie. Ich
hätte gerne gehört, was Sie damals als Landesministerin
gesagt hätten, wenn das Bundesministerium zu Felde gezogen wäre und zwei Länder nicht unterschrieben hätten. Ich denke, wir sollten keinen Profit daraus schlagen,
sondern uns erst einmal für den guten Abschluss bedanken, der erreicht werden konnte.
({8})
- Das hat unser Minister Seehofer in der Kürze der Zeit
erreicht.
Keiner von uns blendet die Vorfälle in Asien aus, bei
denen 91 Menschen gestorben sind. Nun ist aber Besonnenheit statt Panikmache gefragt. Genau das haben uns
gestern auch die Experten in der Anhörung des Ausschusses bestätigt.
Besonnenheit bedeutet aber auch Vorsicht. Dieser Gesichtspunkt kam mir heute etwas zu kurz, auch von der
FDP. Unsere Bevölkerung muss hier mitgenommen werden. Die Verbraucher müssen informiert werden und wir
müssen gegen solche Schlagzeilen kämpfen. Vor allem
muss eines geschehen: Die Kinder in Kindergärten und
Grundschulen müssen gewarnt werden. Ihnen muss erklärt werden, warum sie kein totes Geflügel anfassen,
geschweige denn Vögel an Gewässern füttern sollen;
denn das zieht Zugvögel an.
({9})
Ich sage es noch einmal: Bisher besteht für den Verbraucher keine akute Gefahr. Ich möchte auch unterstreichen, dass der Verzehr von Geflügel und Eiern unbedenklich ist. Im Übrigen wird das Virus bei einer
normalen Verarbeitung in der Küche bei 70° Celsius abgetötet. Also: Angst vor Hühnerfleisch auf dem Esstisch
ist unbegründet.
Uns sollte vor allem nicht das passieren, was in Italien
durch überzogene Panikmache passiert ist, dass nämlich
der Geflügelverbrauch um 40 Prozent zurückgegangen
ist und dadurch rund 30 000 Menschen ihren Arbeitsplatz verloren haben - wie man erfahren konnte.
Minister Backhaus hat zu Recht hervorgehoben, dass
hier verschiedene Betroffene beteiligt sind. Die verantwortungsvoll handelnden Geflügelhalter dürfen nicht in
einen Topf geworfen werden mit denen, die sich nicht an
eine Aufstallungspflicht halten und das ignorieren, was
vom Bund und von den Ländern beschlossen worden ist.
Hier geht es um Existenzen in Deutschland, die wir unterstützen wollen, damit wir kein Geflügelfleisch aus
dem Ausland importieren müssen, bei dem wir nicht die
gleiche Gewähr wie bei Fleisch aus Deutschland haben.
({10})
Es gibt keine Alternative zu unseren umfassenden
Vorsorgemaßnahmen. Deshalb möchte ich abschließend
einen Blick auf die Länder werfen. Wir müssen vom
Worst-Case-Szenario ausgehen. Die Länder dürfen jedoch die Kreisveterinäre nicht allein und im Regen stehen lassen. Auch das ist wichtig. Herr Backhaus, ich war
etwas irritiert, dass man die verendeten Wildvögel noch
relativ lange und so zahlreich auf Rügen herumliegen
ließ. Sie haben das hier erläutert und ich fand es sehr gut,
dass Sie auf die Vorwürfe sehr dezidiert eingegangen
sind. Ich finde es auch sehr gut, dass Sie sofort die Stallpflicht angeordnet haben.
({11})
Aber eines möchte ich zum Schluss noch zum Thema
Impfen sagen - Frau Höhn, damit komme ich schon
wieder zu Ihnen -: Heute Morgen im „Morgenmagazin“
sind Sie noch auf das Thema Impfen eingegangen, in Ihrer Rede hier jedoch nicht. Ich denke, das ist der Einsicht
geschuldet,
({12})
welche Nachteile für den Verbraucher im gesundheitlichen Verbraucherschutz damit verbunden sind. Auch
Herr Seehofer hat das unterstrichen.
({13})
Frau Kollegin Klöckner, Sie haben Ihre Redezeit weit
überzogen.
Für uns gilt: Im Zweifel für die Sicherheit, im Zweifel
für die Menschen, und dann mit dem Tierschutz zusammen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm
Priesmeier von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Deeskalation ist weiß Gott angesagt! Heute Morgen
waren die Opposition auf der einen Seite sowie der verehrte Herr Minister aus Mecklenburg-Vorpommern auf
der anderen Seite gut gerüstet. Nach meiner Einschätzung war klarer Punktsieger der Herr zu meiner - von
hier aus gesehen - Linken.
({0})
Es geht nicht darum, die Debatte zu emotionalisieren.
Die Fragen haben aber deutlich gemacht, dass man das
hier zumindest zum Teil versucht hat. Wir müssen bei
der Diskussion dieses Themas in diesem Hause vorsichtig sein, dass wir uns nicht auf das gleiche Niveau begeben, das in der Boulevardpresse herrscht. Heute Morgen
stand in der „Berliner Zeitung“: Der gefiederte Tod ist
gelandet. Andere Schlagzeilen lauteten: „Kein Tiramisu
mehr essen“ - das ist ja noch recht friedlich - oder „Wie
schütze ich meinen Wellensittich?“ Auf dieses Niveau
sollten wir in der Debatte nicht sinken. Dazu ist die Lage
viel zu ernst.
({1})
Wir müssen klar erkennen, dass wir unsere Natur
nicht mit Trassierbändern abteilen und portionieren können. Aus diesem Grunde ist immer zu hinterfragen, ob
die Schutzmaßnahmen ausgereicht haben. Aus entsprechenden Stabsrahmenübungen, die man auf der Ebene
zwischen den Ländern veranstaltet hat, zieht man natürlich auch Erkenntnisse. Wesentlicher Zweck solcher
Übungen ist, dass man Schwachstellen aufdeckt und die
Beseitigung hinterher konsequent angeht.
Die Debatte um ein mobiles Bekämpfungszentrum
hält schon seit den ersten Erfahrungen mit der Geflügelpest im Jahre 2003 an.
({2})
In den Fachpublikationen konnte man lesen, wie so etwas auszugestalten ist. Es geht um einen ganz kleinen finanziellen Rahmen, nämlich um 3 Millionen Euro für
die Beschaffung. In unserem real existierenden Föderalismus braucht man eine fast drei Jahre dauernde Debatte
um 3 Millionen Euro! Man kann leicht die Anteile der
einzelnen Bundesländer ausrechnen. Schlussendlich entscheidet man dann im Januar 2006, dieses zu beschaffen.
Auf meine konkrete Nachfrage von heute Morgen, wann
es verfügbar ist, bekam ich die Auskunft aus Niedersachsen, welches bei der Beschaffung federführend ist:
frühestens im Herbst. Angesichts dieser Situation frage
ich mich doch, wie das aussieht, wenn man Kompetenzen auf die Bundesebene verlagert und diesen Bereich
ganz klar strukturiert und regelt.
({3})
Ich kann nachvollziehen, dass man sich hier bewegen
muss, gerade weil es darum geht, unsere gesamte von
diesem Bereich abhängige Wirtschaft vor Schäden zu
schützen, letztendlich auch die Besitzer von kleinen Geflügelzuchten. Denn auch diese müssen einmal erwähnt
werden. Es betrifft nicht nur die Großbetriebe, also die
90 000 Betriebe, die statistisch erfasst sind und mehr als
3 000 Stück Geflügel halten. Das macht 123 Millionen
Stück Geflügel aus, davon leben ungefähr 4,4 Millionen
in Freilandhaltung. Es betrifft vielmehr auch die
280 000 Geflügelzüchter, Kleintierzüchter und Hobbytierhalter, die zum Teil nicht erfasst sind und für die es
im Augenblick zunächst einmal außer der Aufstallungspflicht keinen Hinweis gibt, wie sie ihre Tiere tierschutzgerecht halten können. Darüber sollten wir uns Gedanken machen und diesen Personenkreis wahrnehmen.
Wir sollten auch bedenken, dass der Tierschutz neben der Ökonomie bei allen strategischen Überlegungen
mit Sicherheit die wichtigste Rolle spielt. Denn wir müssen in diesem Bereich gerüstet sein. Das heißt, wir müssen auf den Tag X vorbereitet sein, sodass wir, wenn es
zu Tötungen kommen sollte, diese tierschutzgerecht
durchführen, und die Kapazitäten haben, das anfallende
Material entsprechend den Tierseuchenvorgaben und
dem Rahmenplan zu beseitigen. Darum geht es. In solchen Situationen dürfen wir nicht hilflos dastehen, wie
wir es bei der MKS in England erlebt haben. Das wollen
wir alle nicht. Das verunsichert die Verbraucher noch
viel mehr. Ich glaube, unser nationaler Rahmenplan stellt
eine ausreichende Sicherheit dar.
({4})
Allen voran marschiert in diesem Zusammenhang das
Land Mecklenburg-Vorpommern. Das muss man ganz
klar sagen. Mecklenburg-Vorpommern ist bei den Haltungsformen führend. 50 Prozent aller Hühner und Legehennen in Mecklenburg-Vorpommern leben in Freilandoder Bodenhaltung.
({5})
Hier sollte man keine Kritik aufkommen lassen oder es
hinterfragen.
Ich sehe die Gefahr, dass dieser Bereich im Augenblick zunehmend hinterfragt wird. Denn wo ist die
Perspektive für die Hennenhaltung im Freiland? Nicht
nur Legehennen laufen im Freiland, sondern natürlich
auch Gänse und Enten in der Aufzucht. Wo sind die
Perspektiven? Ich muss die Position, die ich früher vertreten habe, ein wenig revidieren. Haben wir hier denn
eine konkrete Perspektive unter ökonomisch tragbaren
Bedingungen? Das wird im Augenblick sehr hinterfragt.
Wenn man ein dauerhaftes Aufstallungsgebot erlässt,
auch nur in bestimmten Regionen, muss man sich schon
die Frage stellen, wie man den betroffenen Betrieben zur
Seite stehen kann. Im Augenblick sind wir glücklicherweise nicht in einer solchen Situation. Aber erinnern wir
uns daran, dass im Jahre 2003 in den Niederlanden ein
schwach pathogenes Virus die Seuche ausgelöst hat. Das
ist eine Modellstudie für das, was uns unter Umständen
erwartet.
({6})
Wir müssen das auf jeden Fall und unter allen Umständen verhindern.
Es geht darum, das Problembewusstsein in der Bevölkerung zu schärfen, aber dabei nicht zu übertreiben. Es
geht nicht darum, keinen Kuchen oder kein Frühstücksei
mehr zu essen oder es erst zehn Minuten lang zu kochen,
wie es in der Presse dargestellt wird. Das verursacht
tiefste Verunsicherung. Wir sollten uns davor hüten, den
schmalen Grat zwischen Überdramatisierung und sachlicher Information zu verlassen. Denn dann fällt das auf
uns zurück und wir werden in aller Breite ökonomische
Probleme bekommen.
Ich gehe einmal davon aus, dass das Risiko in der jetzigen Lage - zumindest solange es keinen Ausbruch der
Geflügelgrippe in einem Hühner- oder Geflügelbestand
gibt - nicht anders eingeschätzt werden muss - auch
nicht das Risiko für die Menschen, die in unserem Land
leben. Es handelt sich konkret um eine Zoonose; die
Krankheit ist also potenziell auf den Menschen übertragbar. Unter den gegenwärtigen Voraussetzungen gibt es
dafür ganz bestimmte Bedingungen. Man muss eine größere Menge des Virus aufnehmen. Das wird auch Kollege Goldmann nicht bestreiten. Er spielt ja auch nicht
im Sandkasten im Hühnerkot. Potenziell gefährlich ist
es, das Virus zum Beispiel oral aufzunehmen oder es in
einem Stall, in dem es infizierte Tiere gibt, massiv einzuatmen. Dann besteht ein großes Risiko. Das Risiko hängt
aber auch davon ab, ob man mit geringen Virusmengen
oder mit großen Virusmengen in Kontakt kommt.
({7})
Aus diesem Grunde sollte man hier deutlich unterscheiden, statt Szenarien zu konstruieren, die de facto nicht
eintreten können. Das ist wichtig.
({8})
- Allerdings, Herr Kollege Goldmann, sollte man nicht
versuchen, die gegenwärtige Situation zu instrumentalisieren.
({9})
Wer auf die andere Seite dieses Hauses blickt, sieht
den Grund dafür, dass es heute Morgen dazu gekommen
ist: Frau Kollegin Tackmann, ich schätze Sie als Epidemiologin, aber nicht als Ideologin.
({10})
Denn die Positionen, die Sie vertreten haben, haben zu
einem großen Teil mit Ihrem Eigeninteresse zu tun. Das
Institut für Epidemiologie liegt schließlich in Ihrem
Wahlkreis. Ihre Forderung ist zwar opportun; aber sie
passte nicht in die Debatte, die wir heute Morgen geführt
haben. Diese Diskussion müssen Sie an anderer Stelle
führen.
Herr Kollege Priesmeier.
Auch geht es darum, die Grundvoraussetzung anzuerkennen: dass wir in nächster Zeit, gerade was FLI angeht, 25 Millionen Euro investieren werden.
({0})
Auch dieser Bereich gehört dazu.
Herr Kollege Priesmeier, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Das muss ich zwangsläufig tun; denn sonst würde mir
das Mikrofon abgestellt.
Abschließend appelliere ich an die Bevölkerung, dieser Problematik mit Zurückhaltung und der gebotenen
Vorsicht zu begegnen, aber auf gar keinen Fall Konsumverzicht zu üben.
({0})
Denn das würde unserer Wirtschaft und den Betroffenen
noch viel mehr schaden.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Franz-Josef
Holzenkamp von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist eingetreten, was wir seit Wochen, zumindest aber seit
einigen Tagen befürchtet haben: Betroffenheit und Unsicherheit bei einem Großteil unserer Bevölkerung.
({0})
Wenn wir auf die Entstehung des Problems in Südostasien zurückblicken, dann müssen wir feststellen, dass
vor allen Dingen zwei Fehler begangen wurden: Erstens
haben die dortigen Behörden zu langsam reagiert, zweitens haben sie die Bevölkerung über die Folgen des Virus im Unklaren gelassen. Aus diesen Fehlern müssen
wir für unser weiteres Vorgehen lernen und die entsprechenden Konsequenzen ziehen. An oberster Stelle steht
die koordinierte Aufklärung unserer Bevölkerung und
der Tierhalter,
({1})
aber, Frau Höhn, bitte schön kein Theater.
({2})
Um zur Aufklärung beizutragen, müssen wir sagen:
Ja, auch Menschen können sich, wenn sie Kontakt mit
infizierten Tieren haben, mit diesem Virus anstecken.
Wir müssen sagen, dass diese Gefahr besteht. Aber
- dieses „Aber“ gilt es der Bevölkerung zu verdeutlichen - die Vogelgrippe ist eine Tierseuche, die bisher
ausschließlich in der Wildvogelpopulation
({3})
- vielen Dank für Ihren Hinweis, Frau Tackmann - aufgetreten ist. Die Gefahr der Ansteckung ist und bleibt für
Menschen gering. Deshalb kann ich nur davor warnen,
zu polemisieren, eine Krise herbeizureden oder eine
Krise für Klientelpolitik zu missbrauchen.
({4})
Hans-Michael Goldmann, in einem Punkt sind wir
wirklich eng beieinander: Wir brauchen keine ideologischen Grabenkämpfe. Aber wir sollten auch nicht dramatisieren, wie du es getan hast. Darauf hatten wir uns
in der gestrigen Ausschusssitzung eigentlich geeinigt.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Hysterie wäre, so
ernst sich die Lage auch darstellt, übertrieben. Dadurch
würden wir keine Aufklärung betreiben, sondern vielmehr zur Verunsicherung beitragen. Das sage ich ganz
bewusst auch in Richtung der Medien, an deren Verantwortung ich an dieser Stelle ausdrücklich appelliere. Im
Übrigen muss ich sagen: Ich finde, dass sie in den letzten
Tagen sehr sachlich und sehr ordentlich über dieses
Thema berichtet haben. Unsere Bevölkerung ist nun auf
eine solche nüchterne Tatsachenberichterstattung angewiesen. Wir alle müssen uns um Sachlichkeit in der Analyse und vor allen Dingen um Sachlichkeit in unserem
Handeln bemühen, um zu verhindern, dass Panik entsteht.
({6})
Dass dies gewährleistet ist, davon zeugen sowohl die
Aktivitäten, die die Bundesregierung im Vorfeld des
jetzt aufgetretenen Falls der Vogelgrippe bei Wildgeflügel auf Rügen ergriffen hat, als auch die daraufhin eingeleiteten Maßnahmen. Dafür möchte ich mich ausdrücklich bei Herrn Seehofer bedanken. Ein solches Vorgehen
wurde in den vergangenen Jahren nicht immer an den
Tag gelegt. Nun wird besonnen agiert
({7})
und ehrlich und deutlich aufgeklärt. All das geschieht
auf sachliche und sehr professionelle Weise. Herr Minister, auch hierfür ein herzliches Dankeschön!
({8})
Meine Damen und Herren, Sachlichkeit in der Kommunikation bedeutet auch, den Verbrauchern deutlich zu
sagen: Bisher ist von der Vogelgrippe in Deutschland
ausschließlich Wildgeflügel befallen. Die Nutztierbestände auf unseren Höfen und in den Betrieben sind von
der Virusinfektion nicht betroffen. Wir haben jetzt dafür
Sorge zu tragen - der Minister hat das vorhin deutlich
gemacht -, dass dieses auch so bleibt. Denn Nutztierschutz ist Verbraucherschutz; das muss uns allen klar
sein.
({9})
Deshalb begrüße ich die Maßnahmen, die die Bundesregierung auf den Weg gebracht hat, vor allen Dingen
die Aufstallungspflicht. Ein Blick nach Asien und in die
Türkei zeigt, dass dort gerade Tiere befallen wurden, die
draußen, außerhalb von Ställen, gehalten wurden.
Auch wenn der eine oder andere es nicht gerne hören
mag, möchte ich eines noch einmal deutlich sagen: Gerade die moderne Geflügelhaltung in Deutschland
stellt für unseren Verbraucher einen besonderen Schutz
dar.
({10})
Das Fleisch unserer Nutztiere ist sicher. Daher warne ich
vor überzogener Panikmache: Wir sind dem Virus nicht
schutzlos ausgeliefert. Wie Frau Höhn, in deren Bundesland 2003 die Vogelgrippe aufgetreten ist, schon mitgeteilt hat, konnte damals mit der Aufstallungspflicht verhindert werden, dass bei uns in Deutschland passiert,
was in den Niederlanden passiert ist.
({11})
Deswegen appelliere ich an alle Geflügelhalter, diese
Aufstallungspflicht strikt zu befolgen. Ich weiß, dass das
für viele Betriebe schwierig ist; aber es gibt dazu keine
Alternativen.
Neben den gesundheitlichen Folgen für unsere Bevölkerung, auf die meine Vorredner intensiv eingegangen
sind, möchte ich Ihnen am Beispiel meiner Heimat Niedersachsen vor Augen führen,
({12})
vor welch enormen wirtschaftlichen Herausforderungen
wir stehen, wenn wir es nicht schaffen, das Virus von unseren Nutztieren fern zu halten. Wie Sie sicherlich wissen, gibt es in Niedersachen sehr viele Geflügelhalter 15 000 Nutztierhalter; wenn man Kleintier- und Hobbytierhalter hinzuzählt, kommt man auf 20 000 -; wir
haben 75 Millionen Stück Geflügel mit einem Gesamtproduktionswert von über 800 Millionen Euro. 2003
verursachte die Vogelgrippe in den Niederlanden bei einem Bestand von 90 Millionen Tieren einen Schaden
von über 500 Millionen Euro. Sie können sich ausrechnen, welch ein wirtschaftliches Desaster ein Vogelgrippebefall unserer Nutztiere in Deutschland anrichten
würde: Dann wären auch bei uns Tausende Arbeitsplätze
betroffen; an denen wiederum hingen Tausende Familienschicksale. Wie vorhin ausgeführt worden ist: In Italien sind bereits 30 000 Arbeitsplätze durch die Vogelgrippe verloren gegangen.
Der Verbraucherschutz steht natürlich an erster Stelle.
Aber es ist auch wichtig, Herr Minister Seehofer, dass
im Agrarrat am Montag auch die Sicherung der Drittlandexporte angesprochen wird. Die Kommission muss
sich bemühen, dass nicht vollkommen unbegründet
Märkte wegbrechen.
({13})
Abschließend noch einmal: Wir haben zurzeit keinen
Befall unserer Nutztiere. Die Bevölkerung kann unbedenklich deutsches Geflügelfleisch genießen. Neben der
Aufklärung der Verbraucher, die selbstverständlich an
erster Stelle stehen muss, müssen wir aber auch alles in
unserer Macht Stehende tun, um das Virus von unseren
Tieren fern zu halten. Das ist aktiver Verbraucherschutz.
Lassen Sie uns bei diesem wesentlichen Thema über die
Parteigrenzen hinweg deeskalierend wirken und nicht
polemisieren! Das wäre mein Appell an Sie alle.
Danke schön.
({14})
Herr Kollege Holzenkamp, ich gratuliere Ihnen im
Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 k sowie
Zusatzpunkte 7 a bis 7 d auf - es handelt sich um
Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne
Debatte -:
22 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes
- Drucksache 16/644 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes
zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes
- Drucksache 16/635 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes
- Drucksache 16/645 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({3})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von
Vorschriften des Personenbeförderungsrechts
- Drucksache 16/517 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
e) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun-
desrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 2005
- Einzelplan 20 -
- Drucksache 16/500 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Reinhard Loske, Sylvia Kotting-Uhl,
Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für ein effektives, europataugliches und wirtschaftsfreundliches Umweltrecht
- Drucksache 16/654 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vierunddreißigster Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ für den Zeitraum 2005
bis 2008
- Drucksache 15/5141 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
h) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({7}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: Leichter-als-Luft-Technologie - Innovations- und Anwendungspotenziale
- Drucksache 15/5507 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
i) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Fortschritte zur Entwicklung der verschiedenen
Felder des Geoinformationswesens im nationalen, europäischen und internationalen Kontext
- Drucksache 15/5834 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
j) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Bildung für
eine nachhaltige Entwicklung für den Zeitraum 2002 bis 2005
- Drucksache 15/6012 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
k) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({11}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: Internet und Demokratie - Abschlussbericht zum TA-Projekt „Analyse netzbasierter
Kommunikation unter kulturellen Aspekten“
- Drucksache 15/6015 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({12})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 7 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Ilse
Aigner, Michael Kretschmer, Katherina Reiche
({13}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten René
Röspel, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Informatives Berichtswesen als Grundlage einer guten Forschungs- und Technologiepolitik
- Drucksache 16/646 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verwendung der Regionalisierungsmittel offen
legen
- Drucksache 16/652 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({15})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Wieland, Volker Beck ({16}), Jerzy
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Resozialisierungsziele des Strafvollzugs be-
wahren - Sicherheit nicht gefährden
- Drucksache 16/653 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Michael Kauch, Angelika
Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Zukunftsfähige Rahmenbedingungen für ein
wirksames Umweltrecht im föderalen
Deutschland schaffen
- Drucksache 16/674 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({17})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnungspunkt 22 a. Es ist vorgesehen, die Vorlage auf Drucksache 16/644 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz und zur Mitberatung an den Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sowie an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu überweisen.
Die Vorlage auf Drucksache 16/645 - Tagesordnungspunkt 22 c - soll zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss, den Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie den Haushaltsausschuss überwiesen werden.
Die Vorlage auf Drucksache 16/654 - Tagesordnungspunkt 22 f - soll zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Innenausschuss,
den Rechtsausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie, den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, den Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union sowie den
Haushaltsausschuss überwiesen werden.
Die übrigen Vorlagen sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 23 a
bis i. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 23 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Reform hufbeschlagrechtlicher Regelungen und zur Änderung tierschutzrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 16/29 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({18})
- Drucksache 16/669 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Jahr
Hans-Michael Goldmann
Bärbel Höhn
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/669, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge vor, über die wir
zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/701? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/702? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Zustimmung von
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes über die Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums der Justiz
- Drucksache 16/47 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({19})
- Drucksache 16/678 Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Joachim Stünker
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Neskovic
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/678, den Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 c:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Nr. 172 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 25. Juni 1991 über die Arbeitsbedingungen in Hotels, Gaststätten und ähnlichen
Betrieben
- Drucksache 16/342 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({20})
- Drucksache 16/626 Berichterstattung:
Abgeordneter Dirk Niebel
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt auf
Drucksache 16/626, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({21}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Kommission an das Europäische
Parlament und den Rat über die Anwendung
der Richtlinie 95/50/EG des Rates über einheitliche Verfahren für die Kontrolle von Gefahrguttransporten auf der Straße
KOM ({22}) 430 endg.; Ratsdok. 12360/05
- Drucksachen 16/150 Nr. 2.191, 16/537 Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothee Menzner
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({23}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung über Stoffe, die die Ozonschicht
schädigen ({24})
- Drucksachen 16/411, 16/480 Nr. 2.3, 16/619 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Frank Schwabe
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf
Drucksache 16/411 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke, der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Fraktion der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkte 23 f bis 23 i. Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 23 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 10 zu Petitionen
- Drucksache 16/558 Über die Beschlussempfehlung 1 und 2 in der
Sammelübersicht 10 stimmen wir getrennt ab. Wir stimmen daher zunächst über die Beschlussempfehlung 1 des
Petitionsausschusses in Sammelübersicht 10 ab. Wer
stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung 1 ist einstimmig angenommen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung 2? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung 2 ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Damit ist
die Beschlussempfehlung und somit die Sammelübersicht 10 insgesamt angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 11 zu Petitionen
- Drucksache 16/559 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 11 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 12 zu Petitionen
- Drucksache 16/560 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 12 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen von der Fraktion Die Linke und der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 13 zu Petitionen
- Drucksache 16/561 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 13 ist mit den Stimmen aller
Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke
angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:
Übernahme ehemaliger Regierungsmitglieder
in Vorstände und Aufsichtsräte deutscher
Energiekonzerne
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Reinhard Loske,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt in unserer Volkswirtschaft kaum eine Branche, die
derartig monopolistisch strukturiert oder - so könnte
man auch sagen - derartig vermachtet ist wie die Energiebranche. Vier Konzerne kontrollieren im Strombereich 80 Prozent der Produktion und 100 Prozent der
Netze, Jahresumsatz: 80 Milliarden Euro. Allein Eon
und RWE kontrollieren zwei Drittel der Stromerzeugung.
Auf dem Gasmarkt sieht es im Grunde genommen
noch schlimmer aus: Ein Unternehmen kontrolliert zwei
Drittel des deutschen Erdgasmarktes. Es ist zufällig auch
der größte Stromkonzern: Eon Ruhrgas.
Im Braunkohlesektor haben wir es mit drei Unternehmen - im Wesentlichen ist es ein großer Spieler, nämlich
die RWE-Tochter Rheinbraun - zu tun. Bei der Steinkohle haben wir es mit einem Unternehmen zu tun - der
Deutschen Steinkohle AG, die ihrerseits eine Tochter der
Ruhrkohle AG ist, deren Hauptanteilseigner Eon und
RWE sind.
Insofern sind im Bereich der Energieanbieter extrem
monopolistische und vermachtete Strukturen und ein
eklatanter Mangel an Wettbewerb zu verzeichnen. Selbst
wenn die Wettbewerbsbehörde bzw. das Kartellamt über
entsprechende Instrumente verfügen und diese auch sehr
gut nutzen, fällt es sehr schwer, Transparenz zu schaffen.
Ich glaube, in dieser Situation ist es die Aufgabe der
Politik, für fairen Wettbewerb zu streiten und das Einstreichen von Monopolrenditen dieser marktbeherrschenden Konzerne zu bekämpfen.
({0})
Wir brauchen mehr Ordnungspolitik und Wettbewerbspolitik im Interesse der Verbraucher und weniger Industriepolitik, die sich als verlängerter Arm der Stromkonzerne begreift. Es gibt kaum einen Bereich, in dem
politische Entscheidungen so unmittelbar durchschlagen.
({1})
- Ich komme sofort dazu. Das ist jetzt ein kleines Prélude. Hören Sie zu, Herr Kampeter! Vielleicht können
Sie noch etwas lernen.
({2})
Politisches Handeln schlägt unmittelbar durch. Das
Energiewirtschaftsgesetz setzt den Ordnungsrahmen.
Der Emissionshandel hat Einfluss auf den CO2-Ausstoß.
Kraft-Wärme-Kopplung und erneuerbare Energien werden in eigenen Gesetzen geregelt.
Gerade weil das der Fall ist, sollte die Verquickung
von Politik und Energiewirtschaft in äußerst engen
Grenzen gehalten werden, und zwar sowohl im Interesse
der Verbraucher, die keine Lobbypolitik wollen, die sie
teuer zu stehen kommt, als auch im Interesse der Politik
selbst. Denn wenn beim Bürger der Eindruck entsteht,
Energiepolitik sei vor allem Gefälligkeitspolitik für die
großen Konzerne,
({3})
dann ist das verheerend für das Ansehen der Politik insgesamt.
({4})
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Es geht nicht
darum, eine Art chinesische Mauer zwischen der Welt
der Wirtschaft und der Welt der Politik hochzuziehen. Es
geht auch nicht darum, die Berufsfreiheit von Abgeordneten und ehemaligen Ministern einzuschränken. Im Gegenteil: Ich glaube, dass der Wechsel zwischen Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Publizistik sogar eher
gefördert werden sollte.
Unzulässig ist aber der unmittelbare Wechsel aus Regierungsämtern in Vorstände und Aufsichtsräte von
Energiekonzernen, mit deren Regulierung man früher
selbst zu tun hatte. Das geht nicht.
({5})
Das hat mehr als einen Beigeschmack. Wir erinnern uns
an den Fall Werner Müller, der aus dem Ministeramt zur
Ruhrkohle AG - das ist, wie gesagt, eine Tochter von
Eon und RWE - gewechselt ist,
({6})
nachdem er sich vorher jahrelang gegen Wettbewerb auf
den Energiemärkten, das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz
und das Erneuerbare-Energien-Gesetz profiliert hat.
Des Weiteren gab es den Fall Alfred Tacke, der nach
der Genehmigung der Fusion von Eon und Ruhrgas, die
bekanntlich gegen das Votum des Kartellamtes zustande
kam, zu STEAG, einer Ruhrkohle-Tochter - deren
Hauptanteilseigner, wie gesagt, Eon und RWE sind -,
gegangen ist.
Der ehemalige Bundeskanzler Schröder wechselt jetzt
in den Aufsichtsrat der Betreibergesellschaft der neuen
Ostseepipeline, deren Hauptanteilseigner Gasprom und
Eon sind. Außerdem berät er jetzt die Ruhrkohle AG
- angeblich unentgeltlich - dabei, wie bei der Übernahme der Ewigkeitskosten der Bund am stärksten herangezogen werden kann.
Wolfgang Clement wiederum wechselt in den Aufsichtsrat von RWE Power, nachdem er in seiner Zeit als
Minister zunächst ein sehr schwaches Energiewirtschaftsgesetz zur Regelung des Wettbewerbes vorgelegt
hat und vor allem durch Angriffe auf das EEG und den
Emissionshandel aufgefallen ist.
Ich glaube, das alles zusammengenommen ist keine
gute Visitenkarte für die Politik und es verschärft deren
Glaubwürdigkeitskrise, und zwar unabhängig von Parteigrenzen. Das möchte ich betonen.
({7})
Wir brauchen klare und kodifizierte Regeln. Notwendig ist eine Karenzzeit, wie es sie auf europäischer
Ebene längst gibt, sodass ein unmittelbarer Wechsel aus
dem Bereich, in dem man vorher im Rahmen politischer
Ämter regulierend tätig gewesen ist, in die Unternehmen
nicht mehr möglich ist. Das ließe sich im Rahmen eines
Ehrenkodexes erreichen. Ich glaube, das ist zwingend.
Wenn das nicht gelingen sollte, dann bedarf es eines Gesetzes.
Es reicht nicht aus, in jedem Fall eines unmittelbaren
Wechsels aufs Neue zu lamentieren. Ich möchte Sie bitten, das nicht als Polemik zu verstehen. Es schadet dem
Ansehen der Politik enorm, wenn der Eindruck entsteht,
dass Grenzen nicht eingehalten werden und Insiderwissen mitgenommen wird, was letzten Endes zulasten der
Verbraucher geht. Wir brauchen vor allen Dingen freie
und unabhängige Abgeordnete, die das thematisieren.
Ich bitte Sie, darüber nicht nur entlang der parteipolitischen Grenzen zu diskutieren, sondern das Strukturproblem ernst zu nehmen. Dieser extrem vermachtete Sektor unserer Volkswirtschaft braucht klare Scheidelinien
gegenüber der Politik. Sonst bekommen wir ein riesengroßes Glaubwürdigkeitsproblem.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat der Kollege Andreas Schmidt von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Thema der heutigen Aktuellen Stunde ist wichtig, aber
auch schwierig.
({0})
Es ist ganz sicher kein energiepolitisches Thema. Ich
will versuchen, es sehr grundsätzlich und ohne Polemik
zu behandeln; denn ich glaube, dass es in der Öffentlichkeit eine gewisse Sensibilität bezüglich dieses Themas
gibt. Deswegen haben wir eine große Verantwortung,
wenn wir über dieses Thema sprechen.
({1})
Bei diesem Thema geht es um die Akzeptanz, ja sogar
um die Reputation von Parlamentariern sowie von aktiven und ehemaligen Ministern, aber auch um die Reputation der parlamentarischen Demokratie als Institution
insgesamt. Herr Loske, grundsätzlich haben Sie Recht:
Das Fehlverhalten eines Einzelnen schadet nicht nur
dem Betreffenden selber, einer politischen Partei oder einer Fraktion, sondern der parlamentarischen Demokratie
als Institution. Bei diesem Thema geht es aber auch um
die Frage nach der zukünftigen Qualifikation der Parlamentarier, darum, wie viel Berufs- und Lebenserfahrung
wir in Parlamenten organisieren können. Welcher Politikertypus soll das Bild des Parlaments in Zukunft prägen:
der Berufspolitiker, der direkt von der Universität ins
Parlament einzieht, lebenslang Parlamentsmitglied ist
und dann in Pension geht, oder derjenige, der mit Berufserfahrung ins Parlament einzieht und vielleicht wieder in seinen Beruf zurückgeht? Ich plädiere dafür, dieses Thema sehr differenziert zu betrachten.
Ich möchte drei Eckpunkte nennen.
Der erste Eckpunkt ist: Berufliche und parlamentarische Tätigkeit schließen sich nicht aus; das haben Sie
schon gesagt. Ich stimme Ihnen zu und halte es für wichtig, dass das in dieser Debatte gesagt wird. Beispielsweise kann eine nebenberufliche Tätigkeit eines Freiberuflers seine Unabhängigkeit als Parlamentarier während
der Mandatsausübung sichern, weil sie die Voraussetzung dafür ist, später wieder in den Beruf zurückzukehren.
({2})
Des Weiteren gilt auch für ehemalige Minister - das
haben Sie schon erwähnt - Art. 12 des Grundgesetzes;
das will ich unterstreichen. Es ist selbstverständlich
möglich, dass ein Minister nach seiner Tätigkeit in der
Politik zu einem Unternehmen geht. Warum auch nicht?
Politische Erfahrungen können für ein Wirtschaftsunternehmen von großer Bedeutung sein. Grundsätzlich gilt
schließlich - darin werden wir uns sicherlich einig sein -:
Unternehmen, auch Energieunternehmen, sind keine kriminellen Vereinigungen. Unternehmen sind Voraussetzung für Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze.
Der zweite Eckpunkt ist: Ich bin in diesem Zusammenhang grundsätzlich gegen die Normierung eines gesetzlichen Verbotes. Das wird nicht funktionieren. Wir
haben mit § 331 des Strafgesetzbuches - Verbot der Vorteilsannahme - bereits ein gesetzliches Verbot. Dieser
Strafrechtsparagraph gilt zweifellos auch für aktive und
ehemalige Minister. Aber ich sehe weder eine Notwendigkeit für eine gesetzliche Regelung noch eine rechtsstaatliche Chance für ein gesetzliches Berufsverbot.
Der dritte Punkt ist - er ist genauso bedeutsam -:
Nicht alles, was legal ist, ist auch legitim.
({3})
Andreas Schmidt ({4})
Nicht alles, was nicht verboten ist, ist auch erlaubt. Wir
erwarten von aktiven und ehemaligen Ministern und Parlamentariern Selbstbeschränkung, Sensibilität
({5})
- richtig, auch Anstand - und die Bewahrung der eigenen Reputation. Natürlich ist immer eine Einzelfalleinschätzung notwendig. Man muss auf jeden Fall die
Trennschärfe bewahren.
Wir sollten versuchen, die Trennlinie zu definieren.
Das ist in der Tat schwierig. Ich will versuchen, eine Definition vorzunehmen - sie ist vielleicht noch sehr oberflächlich und diskussionswürdig -: Wenn Gefahr besteht, dass der Anschein entsteht, dass die berufliche
Übernahme in einem nachträglichen Zusammenhang mit
früheren politischen Entscheidungen steht, ist die Selbstbeschränkung eines ehemaligen Ministers geboten. Das
ist die zu definierende Trennlinie. Wenn wir das in dieser
Differenziertheit tun, dann können wir auch über einen
Verhaltenskodex reden. Ich bin nur dagegen, dass wir
diese Debatte parteitaktisch instrumentalisieren. Es geht
nicht um einen kurzfristigen parteitaktischen Vorteil,
sondern um das Ansehen des Parlaments als Institution.
Deswegen sind wir aufgefordert, die Debatte zu führen,
aber in aller Sachlichkeit, ohne Polemik und mit der gebotenen Verantwortung.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Koppelin von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
hatte mir eigentlich für diese Aktuelle Stunde eine Rede
überlegt.
({0})
Aber nachdem Sie, Kollege Loske, hier gesprochen haben, lasse ich meine Rede da, wo sie ist, und sage: Herzlich willkommen in der Opposition! Mir kam Ihre Rede
sehr bekannt vor. Damals, in der Aktuellen Stunde am
10. April 2003, waren das allerdings die Argumente der
FDP-Fraktion. Rainer Brüderle und Frau Kopp haben
damals gesprochen. Die Argumente wurden von den
Grünen vehement abgelehnt. Ihre Kollegin Hustedt hat
damals zu diesem Thema gesprochen. Es war teilweise
wirklich sehr peinlich. Sie hat gesagt, die Aktuelle
Stunde sei völlig überflüssig. Ich finde es schön, dass Sie
heute zu den gleichen Erkenntnissen kommen wie wir.
Damals hat die Kollegin Kopp gesagt: Liebe Frau
Hustedt, Sie haben es versäumt, sich klar zu der Frage zu
äußern, wie die Grünen dazu stehen, dass Herr Müller
zur RAG wechselt.
({1})
Heute, nach drei Jahren, haben Sie die Frage beantwortet. Ganz herzlichen Dank! Das hat allerdings etwas
lange gedauert.
({2})
Ich finde, das, was der Kollege Schmidt hier gesagt
hat, ist sehr nachdenkenswert. Ich will das aufgreifen.
Ich sage das deshalb, weil wir als FDP-Bundestagsfraktion in dieser Woche einen Antrag eingebracht haben, in
dem die Bundesregierung aufgefordert wird, einen Ehrenkodex zu entwerfen, und zwar analog zu der entsprechenden Gesetzgebung für die Bundesbeamten. Allerdings stellen wir uns nicht eine Frist von fünf Jahren vor,
sondern eine von zwei Jahren. Wir richten diese Aufforderung bewusst an die Bundesregierung, weil die Fälle
überwiegend die Bundesregierung betreffen. Müller,
Tacke, Koch-Weser und Schröder sind bekannte Beispiele.
Nun weiß ich allerdings auch, Kollege Schmidt, dass
ein solcher Ehrenkodex nicht unbedingt greifen wird.
Trotzdem sollten wir es machen. Was wollen Sie machen, wenn Sie vielleicht neuer Bundeswirtschaftsminister sind, die Tür aufgeht und nicht nur der ehemalige
Wirtschaftsminister Müller hineinkommt, sondern auch
der gerade aus dem Amt geschiedene und von zwei Sicherheitsbeamten begleitete
Die berate ich nur.
({0})
Er erhält übrigens kein Geld dafür. Darüber ist das also
auch nicht zu greifen. Ich darf eine Agenturmeldung zitieren, wonach eine Mitarbeiterin von Gerhard Schröder
gesagt hat, Schröder und RAG-Chef Werner Müller
seien alte Weggefährten. Das heißt natürlich, dass er
seine Erfahrungen als Altkanzler einbringt. Ich hätte fast
mit Heinz Rühmann gesagt: „Ein Freund, ein guter
Freund, das ist das Schönste, was es gibt auf der Welt“.
({1})
Das ist doch peinlich.
({2})
Da muss man doch auch als Sozialdemokrat dem ehemaligen Parteivorsitzenden und Bundeskanzler sagen - ({3})
- Ich weiß nicht, warum Sie krakeelen. Sie sind zwar bekannt fürs Krakeelen, aber ich finde, Sie sollten selber
einmal überlegen, ob sich ein ehemaliger Bundeskanzler, der immer noch auf der Gehaltsliste der Bundesrepublik Deutschland steht, einen solchen Stil leisten kann.
Ich glaube nicht. Er schadet uns allen.
({4})
Insofern ist das richtig, was in einer anderen Aktuellen Stunde von der Union gesagt wurde. Solche Leute
gehören erst einmal - das ist ein wörtliches Zitat - auf
die Wartebank. Diese Meinung teilen wir. Ich sehe, dass
die Union jetzt etwas anbietet, was sie aber nicht gesetzlich regeln will. Die Grünen kommen nun auf unsere
Seite. Da haben wir schon fast die Mehrheit. Lassen Sie
uns doch einen Ehrenkodex entwerfen! Denn, Kollege
Schmidt, es ist genau richtig, was Sie sagen. Es trifft
zwar in erster Linie Minister - es kann auch in den Ländern passieren -, aber das ganze Parlament und das
ganze politische Geschehen sind von diesen Dingen betroffen. Insofern sollten wir aus dem Parlament heraus
Druck auf die jeweilige Regierung ausüben, egal wie
diese zusammengesetzt ist. Ich sage in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch in Richtung der Grünen: Jeder hat da sein Päckchen zu tragen, auch meine Partei,
die FDP.
({5})
- Natürlich, aber Sie können uns doch nicht für jeden
haftbar machen.
Machen wir doch endlich einmal Druck! Ich habe
keine Lust mehr, seit drei Jahren dieses Thema zu diskutieren. Ich könnte auch zitieren, was die Bundesregierung zum Fall Koch-Weser gesagt hat. Das ist noch nicht
lange her. Wenn Sie in diesen Genuss kommen wollen ich habe das Zitat hier. Damals hat die Bundesregierung
gesagt, es seien nie Gespräche geführt worden.
Ende 2004 ist in einer Fragestunde gefragt worden, was
mit Herrn Koch-Weser sei. Die Antwort für die damalige
Bundesregierung gab Staatssekretär Diller:
Staatssekretär Koch-Weser hat zu keinem Zeitpunkt
Anstellungsgespräche mit der Deutschen Bank AG
geführt, richtig ist, dass es in den vergangenen Jahren gelegentlich Anfragen aus der privaten Wirtschaft gegeben hat. Herr Koch-Weser ist der Bundesregierung fest verbunden. Es bestanden und
bestehen keine Wechselabsichten.
({6})
- Bei solchen Antworten fällt man vom Stuhl. Das kann
ich gut verstehen. Das ging uns damals auch so.
({7})
Die alte Bundesregierung hat das Parlament teilweise
hinters Licht geführt.
Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken! Fordern wir
die Bundesregierung dazu auf, einen Ehrenkodex zu
schaffen! Wir von der FDP sind es einfach leid, dass sich
das Parlament damit beschäftigen muss, was ehemalige
Bundeskanzler, Minister und Staatssekretäre machen.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Lange von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, mir ging es so ähnlich wie fast allen hier
im Saal, als ich den Titel dieser Aktuellen Stunde las.
Ausgerechnet die Grünen haben es aufs Tapet gebracht.
Ich dachte: Eingeklemmt in der Opposition zwischen
PDS und FDP, erinnern sie sich an ihre Tradition als Protestpartei. Ich will ausdrücklich sagen: Herr Schmidt, ich
bin Ihnen dankbar, dass Sie dieses Thema auf das reduziert haben, was es ist: Es ist in der Tat kein energiepolitisches.
Herr Kollege Loske, dennoch muss ich Sie schon an
ein paar energiepolitische Aspekte erinnern. Im Jahr
1998, als der Bundeskanzler sein Kabinett berief, habe
ich vonseiten der Grünen keinen Protest gehört, obwohl
Herr Minister Müller schon damals in der Energiebranche tätig war, und zwar in einem Vorstand, also an führender Stelle.
({0})
Noch einmal: Ich habe keinen Protest gehört. Wo war er
denn?
({1})
- In der Tat: „Warum auch?“.
Stattdessen haben Sie Herrn Minister Müller eine Parlamentarische Staatssekretärin zur Seite gestellt, die ihm
eifrig zugearbeitet hat.
({2})
Es drängt sich schon der Eindruck auf: Kaum in der Regierung, bedienen Sie sich; kaum in der Opposition, wollen Sie sich davon distanzieren. Diesen Vorwurf muss
ich Ihnen schon machen.
({3})
Sie müssen sich der Politik, die sowohl Herr Müller
als auch Ihre Staatssekretärin gemacht haben, nicht schämen, ganz im Gegenteil. Sie versuchen, einen halbseidenen Faden zu spinnen,
({4})
wodurch der Eindruck erweckt wird, als wäre von langer
Hand die Abfolge „berufliche Tätigkeit in der Energiebranche, Ministeramt, danach wieder berufliche Tätigkeit in der Energiebranche“ vorbereitet. Davon kann
doch überhaupt keine Rede sein.
Christian Lange ({5})
Das gilt insbesondere für Fragen, die uns alle beschäftigt haben, etwa die Ministererlaubnis. Erinnern wir uns
doch: Eine Ministererlaubnis ist in Deutschland ein
Rechtsakt. Eine Ministererlaubnis wurde auch unter
Rot-Grün gerichtlich überprüft und bestätigt. Hier zu sagen, es werde Gefälligkeitspolitik betrieben, nach dem
Motto „Erst regieren, dann kassieren“, fördert den Politikverdruss in Deutschland. Was Sie behaupten, können
Sie noch nicht einmal beweisen, weil es falsch ist. Deshalb bitte ich Sie, damit aufzuhören.
({6})
Sie schaden allen, die politisch tätig sind. Diesbezüglich
haben Sie, Herr Dr. Loske, mit Ihren Bemerkungen
Recht.
Wer im Glashaus sitzt, der sollte nicht mit Steinen
werfen. Ich muss an dieser Stelle einfach an Folgendes
erinnern: Sie hatten einmal eine Sprecherin namens
Gunda Röstel. Jetzt ist sie Managerin der Gelsenkirchener Gelsenwasser AG; das ist Deutschlands größer privater Wasserkonzern.
({7})
Pikant an dieser Sache ist für die Grünen, dass Gunda
Röstel den Atomausstieg mit ausgehandelt hat und dann
ausgerechnet bei einer Tochterfirma des Energiekonzerns Eon - das ist Deutschlands größter Atomkraftwerkbetreiber - anheuerte. Sie wollen einen halbseidenen Faden spinnen, auch wenn Sie zu Recht angemahnt
haben, dass es eine Scheidelinie bezüglich dessen, was
man nach dem Ausstieg aus der Politik tut, geben muss.
Sie sollten deshalb ganz vorsichtig sein.
Ich habe von Ihnen erwartet - ich will an das anknüpfen, was Herr Schmidt gesagt hat -, dass Sie ein paar
Gedanken zum Thema Kodex äußern. Wir haben im Parlament angefangen, darüber zu sprechen. Ich bin sehr
glücklich darüber, dass wir in der Frage der Transparenz
einen Weg für uns Parlamentarier gegangen sind, der
richtig ist. Leider gibt es auch in unserem Haus einige,
die dagegen klagen. Ich denke an einige aus der FDPFraktion; vielleicht gibt es noch ein paar andere mehr.
Ich wiederhole: Das ist der richtige Weg für uns aktive
Parlamentarier. Es gibt eine Regelung für amtierende
Minister: Sie dürfen überhaupt keiner Nebentätigkeit
nachgehen.
Wir müssen uns differenzierte Gedanken darüber machen - da bin ich ganz bei Ihnen -, wie es sich mit ehemaligen Regierungsmitgliedern verhält. Was machen wir
zum Beispiel mit einem Herrn Müller, der in einer bestimmten Branche tätig gewesen war, dann für nur vier
Jahre einen Ausflug in die Politik gewagt hat und danach
wieder in seinen alten Beruf zurückkehren will, wenn
auch zu einer anderen Firma? Was machen wir mit solchen Personen? Wollen wir ein Berufsverbot aussprechen? Ist das die Antwort, die wir geben? Was machen
wir mit denjenigen, die als Rechtsanwälte, Unternehmensberater oder Publizisten tätig sind, Herr Loske?
Welchen Weg gehen wir? Das ist in der Tat interessant.
Ich bin gern bereit, mit Ihnen in die Diskussion einzusteigen, weil auch ich glaube, dass wir einen Kodex
brauchen. Wenn wir die Diskussion so führen, wenn wir
zu Berufsverboten Nein sagen, wenn wir die Kirche im
Dorf lassen und zugleich an das denken, was moralisch
vertretbar ist, dann, glaube ich, werden wir für die
nächste Zukunft auch für ehemalige Minister einen guten Weg finden. In diesem Sinne wünsche ich mir eine
Diskussion mit der Opposition wie auch mit den beiden
Regierungsfraktionen.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste auf den Rängen!
Es gibt eine Massenflucht von ehemaligen Politikern in
die Wirtschaft. Exwirtschaftsminister Müller wechselte
zur RAG AG, Exkanzler Schröder zum Konsortium der
Nordeuropäischen Gaspipeline und Exstaatssekretär
Caio Koch-Weser will zur Deutschen Bank. Dafür gibt
es nur zwei mögliche Erklärungen: Erstens. Einige Politiker glauben nicht mehr daran, dass man mit der SPD
noch einen Blumentopf gewinnen kann. Zweitens. Die
ehemaligen Politiker haben augenscheinlich politische
Vorleistungen gegenüber Unternehmen erbracht, die
jetzt mit Vorstands- und Aufsichtsratsposten versilbert
werden.
({0})
Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass ehemalige
Politiker in die Wirtschaft gehen. Ich habe aber sehr
wohl etwas dagegen, dass Mitglieder der Bundesregierung Entscheidungen zugunsten von Unternehmen treffen - Stichwort: Ministererlaubnis -, um sich ihre zukünftigen Jobs in der Wirtschaft zu sichern. Das ist eine
Form von Korruption, die in Deutschland leider legal ist.
({1})
Wir müssen das im Bundestag gesetzlich ändern.
Offensichtlich betrachten einige Politiker die Zeit in
der Bundesregierung nur als so etwas wie das Qualifying
für die Poleposition,
({2})
um sich dann beim Rennen einen Spitzenplatz in der
Wirtschaft zu sichern - nach dem Motto „Erst die Macht,
dann das Geld“ oder, wie Kollege Lange sagte: Erst regieren, dann kassieren. Das zeugt, finde ich, von einer
gewissen Verachtung gegenüber den Wählerinnen und
Wählern. Man hat fast den Eindruck, dass die Herren
ihren Eid auf das Grundgesetz bei ihrer Entlassung an
der Garderobe des Bundespräsidenten abgegeben hätten.
Niemand glaubt doch ernsthaft, dass Herr Clement
aufgrund seiner wirtschaftlichen Kompetenz in den Aufsichtsrat von RWE Power berufen wurde.
({3})
Herr Clement wurde als Wirtschafts- und Arbeitsminister nicht nur von den Wählerinnen und Wählern, sondern
auch von seiner eigenen Partei wegen Unfähigkeit in die
Wüste geschickt - und das zu Recht.
({4})
Alles, was Herr Clement als Minister angefangen hat, ist
unfertig, unausgereift und aus dem Ruder gelaufen. Er
hat die wirtschaftlichen Probleme nicht gelöst, sondern
uns unzählige Probleme hinterlassen. Er trägt die Verantwortung für die unsäglichen Hartz-Gesetze.
({5})
Wir haben in der vergangenen Woche darüber diskutiert
und festgestellt, dass nichts Positives eingetreten ist.
({6})
Ich glaube nicht, dass RWE einen solchen Mann wirklich zur Lösung der eigenen Probleme braucht. Nein, die
Erklärung kann nur sein, dass der Posten als Dankeschön
für frühere Entscheidungen des Ministers vergeben
wurde.
Wenn wir als Politiker nicht an Glaubwürdigkeit verlieren wollen, müssen wir - das ist schon angesprochen
worden - gesetzliche Regelungen schaffen, die eine
nachgelagerte Bestechung - ich sage ausdrücklich: nachgelagert - ausschließen.
({7})
- Das ist sehr gut verständlich. Auch Sie verstehen das
sehr gut. Sie haben sich mit solchen Fragen schon auseinander setzen müssen.
({8})
Bekanntlich gibt es in anderen Ländern wie Schweden,
aber auch in den USA ganz klare gesetzliche Regelungen, die eine große Transparenz garantieren. Warum
sollten wir in Deutschland nicht auch solche Regelungen
schaffen können? Das würde uns, glaube ich, sehr gut
tun.
({9})
Wir können aber auch ganz klein bei uns anfangen.
Der Kollege Koppelin hat es schon angesprochen. Auch
wir Abgeordneten sollten unsere Einkünfte so offen legen, dass jeder genau weiß, woher und von wem wir unser Geld bekommen.
({10})
Kollege Koppelin, wir alle werden Sie sicherlich unterstützen, dass Sie auch in Ihrer Fraktion dafür eine große
Mehrheit oder gar 100 Prozent Zustimmung bekommen.
({11})
Aber Sie haben ja schon gesagt: Man kann nicht jeden
für alles haftbar machen.
({12})
- Oskar Lafontaine ist da, glaube ich, sehr offen.
({13})
Er wird Ihnen alles vortragen. Wir in der Fraktion haben
viele technische Möglichkeiten, das im Internet zu veröffentlichen. Er wird das bestimmt gern tun, Herr
Koppelin, und Ihnen damit eine besondere Freude machen.
Ich möchte einen Vorschlag der deutschen Sektion
von Transparency International aufgreifen. Danach soll
die Karenzzeitregelung, die für Beamte gilt, auch für
Parlamentarische Staatssekretäre, Minister und natürlich
Kanzler gelten. Das Bundesbeamtengesetz legt für solche Fälle eine Karenzzeit von fünf Jahren fest. Eine solche Frist - man könnte sie auch Schamfrist nennen sollten auch Herr Schröder und Herr Clement einhalten.
Ihre beachtlichen Ruhestandsbezüge werden eine Verarmung dieser Herren in dieser Zeit weiß Gott verhindern.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt der Kollege Steffen Kampeter von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Austausch zwischen Parlament, Regierung, Wissenschaft
und Wirtschaft ist notwendig. Er wird aber in Deutschland nach meiner Einschätzung viel zu wenig gepflegt
und sollte daher eher gefördert denn diskreditiert werden. Wir alle können von den unterschiedlichen Lebenssphären der Kolleginnen und Kollegen, die nicht aus
dem rein politischen Geschäft in den Bundestag gewählt
werden oder in die Regierung eintreten, lernen. Wir sollten uns auch immer wieder deutlich vor Augen führen,
dass Politik ein endliches Geschäft ist und Macht auf
Zeit gibt. Somit sollten wir nach und vor der Parlamentszeit uneingeschränkt beruflichen Tätigkeiten nachgehen
können.
Ich habe mich allerdings schon etwas gewundert, dass
die Sachverhalte, zu denen ich im Einzelfall noch kurz
Stellung nehmen werde, von den Grünen erst entdeckt
worden sind, nachdem sie die Stander ihrer Dienstwagen
nach dem Regierungswechsel abgegeben haben.
({0})
Deswegen nehme ich all das, was von dieser Seite
kommt, nicht sonderlich ernst.
Ich will nun drei Gruppen voneinander unterscheiden:
die Abgeordneten, das politische Leitungspersonal und
die Spitzenbeamten.
Wir Damen und Herren Abgeordneten des Deutschen
Bundestages leisten ein Maximum an Transparenz über
unsere privaten und finanziellen Verhältnisse. Wir haben
uns gerade Verhaltensregeln gegeben, die, wie manche
glauben, den Wechsel zwischen Wirtschaft und Politik
eher erschweren und die wir uns deshalb noch einmal
kritisch anschauen sollten. Der frei gewählte Abgeordnete ist also schon nahezu gläsern, seine Einkünfte sind
uneingeschränkt transparent.
({1})
Im Übrigen ist jeder Abgeordnete - auch dazu möchte
ich klar Stellung beziehen - Lobbyist, nämlich Lobbyist
seiner Region. Ich lasse mich nur ungern darin überbieten, für das Gemeinwohl der Heimatregion, die ich hier
als Abgeordneter vertrete, das Optimum herauszuholen.
Das ist, meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere
verdammte Aufgabe. Daran ist auch nichts Anstößiges.
({2})
Die zweite Gruppierung stellt das politische Leitungspersonal dar, insbesondere die Minister und Parlamentarischen Staatssekretäre. Diese sind im Gegensatz zu
dem, was die Kollegin Lötzsch hier vorgetragen hat,
keine Beamten, sondern auch sie haben ein Mandat auf
Zeit, das vom Deutschen Bundestag legitimiert wurde.
Auch hier gilt: Austausch und Wechsel müssen positiv
bewertet werden. Ich finde, es gab viel zu wenige Wirtschaftsführer und leitende Geschäftsführer aus Wirtschaftsunternehmen in politischen Leitungsfunktionen.
Vom Grundsatz her halte ich es auch nicht für schädlich,
dass jemand, der ein Ministerium geführt hat, in der
deutschen Wirtschaft beweist, dass er Führungsverantwortung wahrnehmen kann. Ich möchte an dieser Stelle
ausdrücklich an die großartige Sanierungsleistung, die
Lothar Späth bei Jenoptik erbracht hat, erinnern.
({3})
Dass dieser Austausch zwischen Politik, Wissenschaft
und Wirtschaft bestimmten Regeln unterworfen werden
sollte und es bestimmte Vorgänge gibt, die ich bei anderen Konstellationen durchaus kritischer bewerten würde,
als es die Zeit heute zulässt,
({4})
zeigt sich ja daran, dass sich alle Redner der Koalitionsfraktionen offen und gesprächsbereit für den Vorschlag
gezeigt haben, über Verhaltensregeln wie einen Ehrenkodex zu reden. Zugleich waren sie sich aber auch darin
einig, keine zusätzlichen gesetzlichen Regelungen zu
schaffen. Nicht alles nämlich, was legal ist, ist auch legitim; und nicht alles, was legitim ist, ist auch anständig.
In diesem Sinne müssen Regeln gefunden werden, die
ausschließen, dass ein Wechsel zwischen Politik und
Wirtschaft korrumpierende Strukturen schafft, wie hier
behauptet worden ist. Das kann nicht unser Interesse
sein und das ist auch nicht unser Interesse. Die Union
wird sich aktiv an diesem Diskussionsprozess beteiligen.
Ich will auch darauf hinweisen, dass ich ein ungutes
Gefühl habe, was die Effektivität parlamentarischer
Kontrolle durch informelle Strukturen angeht. Hier muss
auch Transparenz herrschen. Deshalb sollten wir sehr
sorgfältig über solche sinnvollen Kodizes nachdenken.
Wenn klare Regeln da sind, gibt es auch ausgesprochen
wenig Missverständnisse. Man muss auch prüfen, ob die
Dienst- und Amtsausstattung nach der Dienstzeit lediglich für entsprechende Zwecke genutzt wird. Das gilt für
ehemalige Bundeskanzler ebenso wie für andere.
Ich komme dann zu der dritten Gruppe, nämlich den
Behördenleitungen. Hier gibt es einige Vorgänge im Zusammenhang mit Staatssekretären, deren Wechsel in
Energie-, Versorgungs-, Transport- und Finanzwirtschaft
zum gegenwärtigen Zeitpunkt - wie es bei einem Regierungswechsel, glaube ich, ganz natürlich ist - etwas intensiver ist. Hier ist § 69 a Bundesbeamtengesetz einschlägig, der eine Überprüfung dieses Wechsels
vorsieht. Zu überlegen wäre, ob man die Überprüfung
nicht im eigenen Haus, sondern durch Innen- und Justizministerium oder andere Administrationen durchführt,
um Amtsbrüderschaften auszuschließen. Aber im Kern
gibt es in diesem Gesetz klare Regeln. Man muss
schauen, dass sie effektiv angewandt werden.
Dann gibt es noch die Vorteilsannahme nach § 331
StGB. Frau Kollegin Lötzsch, es ist unanständig, wenn
Sie hier einen Vorgang konstruieren, der nach dem geltenden Strafrecht einschlägig bewehrt ist, und den Eindruck erwecken, es gäbe hier eine Rechts- und Regelungslücke. Wenn Sie der Auffassung sind, dass ein
solcher Vorgang zu bestrafen ist, steht es Ihnen frei, die
dafür vorgesehenen strafrechtlichen Wege zu gehen.
Aber denunzieren Sie hier bitte nicht, ohne Ross und
Reiter zu nennen!
({5})
Diese dritte Gruppe ist deswegen von den Parlamentariern sowie den Ministern und Parlamentarischen
Staatssekretären zu unterscheiden, weil sie im Gegensatz
zu den ersten beiden Gruppen eine sehr umfassende, lebenslange Versorgungsleistung erhält und nicht zwangsläufig zur Ausübung einer beruflichen Tätigkeit gezwungen ist. Von daher finde ich es nur recht und billig, dass
wir als Parlament bei dieser Gruppe besonders kritisch
hinschauen; denn sie wird von den Steuerzahlerinnen
und Steuerzahlern lebenslang alimentiert.
In diesem Sinne kann das der Anfang einer weitergehenden, tiefer schürfenden Debatte sein. Aber wir müssen uns klar sein: Für vordergründige populistische Anwürfe, wie von PDS und Bündnis 90/Die Grünen hier
vorgetragen, bietet das zum gegenwärtigen Zeitpunkt
keinen Anlass.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Berninger
von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am vergangenen Freitag erschien im „Economist“ ein ziemlich
umfangreicher Bericht über die aktuelle Situation in
Deutschland. Darin sind mehrere Probleme beschrieben
worden. Ein Problem, das wir in Deutschland haben, ist,
dass der Arbeitsmarkt nicht genügend Durchlässigkeit
für diejenigen bietet, die draußen stehen. Als zweites
Problem wird das Schulsystem beschrieben, das insbesondere den sozial Schwachen nicht die gleichen Chancen einräumt wie anderen.
Als drittes Problem haben die Journalisten des „Economist“ die Cliquenwirtschaft angeführt. Das sollte uns
zu denken geben; denn ich glaube, dass das nicht nur ein
Problem des kölschen Klüngels ist, sondern ein generelles Problem, das diesem Land erheblich schadet. Wenn
es in bestimmten Branchen eine Nähe zwischen dem
Staat auf der einen Seite und den Unternehmen auf der
anderen Seite gibt, dann sind Wechsel von Politikerinnen
und Politikern in diese Branchen grundsätzlich sensibel.
Wenn diese Politikerinnen und Politiker darüber hinaus
wesentliche Entscheidungen mit getroffen haben, die für
diese Branchen Auswirkungen haben, dann sind solche
Wechsel in höchstem Maße bedenklich.
({0})
Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen. Um die Kollegen der Sozialdemokratie etwas zu entlasten und dem
Kollegen Kampeter für seinen Beitrag einen zurückzugeben: Dass der Kollege Wiesheu Wirtschafts- und Verkehrsminister war und einen Koalitionsvertrag mit ausgehandelt hat, der sehr sensible Fragen bezüglich der
Zukunft der Bahn AG regelt, und unmittelbar danach in
den Bahnvorstand gewechselt ist, gehört genauso in die
lange Liste wie eine ganze Reihe anderer Punkte.
({1})
Ich glaube, dass wir uns als Parlament über bestimmte
Grundsätze verständigen sollten, die das künftig nicht
mehr erlauben.
Ich habe mich an der Stelle, lieber Kollege Christian
Lange, sehr über die klare Ansage gefreut, dass auch die
SPD-Fraktion hier Verhaltensregeln für ehemalige Minister, Bundeskanzler und Bundeskanzlerinnen - da haben wir noch die Hoffnung, dass das einmal wieder ein
Ende nimmt - festlegen will und dass auch das Kabinett
sich künftig solche klaren Regeln gibt.
({2})
Der Kollege Schmidt hat in Moll genau das für die
CDU/CSU-Fraktion erklärt. Damit hat die Aktuelle
Stunde, beantragt von meiner Fraktion, einen wesentlichen Sinn erfüllt, nämlich dass diese Zustände in
Deutschland ein Ende haben und der Cliquenwirtschaft
der Nährboden entzogen wird. Daran sollten wir weiter
arbeiten.
({3})
Warum ist es so problematisch, wenn ein Bundeskanzler aus Freundschaft einen Unternehmenschef dabei
beraten will, wie er ein möglichst günstiges Ergebnis für
sein Unternehmen erzielt? Es wird in dem Moment problematisch, wenn ein für die Ruhrkohle AG möglichst
günstiges Ergebnis zulasten des Landes Nordrhein-Westfalen und zulasten des Bundes ausgehandelt wird. Genau
darum geht doch zurzeit die Auseinandersetzung: Wie
viel Geld überweist die Ruhrkohle dafür, dass die Ewigkeitskosten des Bergbaus künftig nicht mehr von dem
Unternehmen und dessen Aktionären getragen werden,
sondern vom Bund, also von uns, den Steuerzahlern.
Ich erwarte von einem ehemaligen Regierungschef,
der noch nicht einmal 100 Tage aus dem Amt ist, dass er
- Freundschaft hin, Freundschaft her - an der Stelle
nicht einem Unternehmen dabei hilft, ein möglichst
günstiges Ergebnis zu erzielen. Das ist im Kern das Problem. Ich finde dieses Verhalten empörend, unabhängig
von der Partei, der der ehemalige Regierungschef angehört.
({4})
Ich bin ebenfalls der Meinung, dass Herr Tacke ein
veritabler Experte im Bereich der Energiewirtschaft ist.
Er hätte natürlich in alle möglichen Positionen wechseln
können. Dass er aber ausgerechnet in ein Unternehmen
wechselt, von dem auch wieder Eon aufgrund einer Ministerentscheidung, die Herr Tacke zu verantworten hat,
massiv profitiert hat, ist ein Zeichen von mangelnder
Sensibilität.
Uns Grünen ist vorgeworfen worden, dass wir das
nicht laut gesagt haben, als wir mit der SPD koaliert haben. Dass der Vorwurf von der FDP kommt, ist relativ
verständlich.
({5})
Aber dass die CDU/CSU den gleichen Vorwurf erhebt,
ist verwunderlich. Heute erleben wir doch, wie schwierig die Situation für Sie ist. Eigentlich möchten Sie mehr
über die Person Koch-Weser sagen und eigentlich würden Sie sich gerne mehr über den Bundeskanzler empören. Auch die Sache mit Müller - Sie haben sich in der
letzten Legislaturperiode sehr darüber empört - stinkt
Ihnen noch genauso wie vor der Bundestagswahl. Das
bringt uns aber nicht weiter.
Ich meine, es gibt Grenzen. Die Häufung von solchen
Wechseln - zuletzt der Wechsel von Herrn Clement in
den Aufsichtsrat eines RWE-Unternehmens - sollte endlich einmal vom Deutschen Bundestag mit einem klaren
Stoppsignal beantwortet werden.
Herr Lange hat heute einen mutigen Anfang gemacht.
Nach seinem Vorschlag müssen sich alle ehemaligen
Mitglieder des Kabinetts, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, überlegen, ob sie sich gegen diese Linie der
SPD-Bundestagsfraktion stellen. Insofern begrüße ich
diesen Vorschlag ausdrücklich.
Es gibt ein Unternehmen, bei dem eine ähnliche Diskussion in naher Zukunft droht, nämlich die Bahn.
({6})
Nicht nur Herr Wiesheu, sondern gerüchteweise auch
andere sind jetzt dabei, sich als Berater bei der Bahn zu
verdingen. Es funktioniert nicht, dass wir auf der einen
Seite über den Börsengang der Bahn im Sinne der Menschen, die die Bahn künftig benutzen wollen, und im
Sinne des Bundes, der Besitzer der Bahn ist - er will
beim Börsengang einen entsprechenden Ertrag erzielen -,
entscheiden, wenn auf der anderen Seite ehemalige Entscheidungsträger als Berater im Hochhaus von Herrn
Mehdorn sitzen. Das ist ein Weg, der die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler Geld kostet und diesem Land Lebensqualität nimmt. Gegen diese Cliquenwirtschaft sollten wir alle gemeinsam zu Felde ziehen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Garrelt Duin von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte zunächst einmal an diejenigen, die
für diese Aktuelle Stunde gesorgt haben, ein paar Worte
richten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, was Sie hier veranstalten - Ihre beiden Redebeiträge haben das deutlich gemacht -, ist der Versuch, sich
weißer als weiß zu waschen. Es ist in meinen Augen
Heuchelei. Sie wollen den Versuch starten, sich als besondere Gutmenschen herauszukehren und sich einen
weißen Fuß zu machen.
({0})
Aber wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen.
In den letzten Tagen konnte ich entsprechende Aussagen von Herrn Kuhn lesen. Er sagt beispielsweise, dass
sich die SPD der Energiekonzerne als Versorgungsinstitut bediene. Er macht damit den Versuch, ähnlich wie die
PDS
({1})
- ich meine damit alles, was dazu gehört -,
({2})
eine Linie zwischen der hier zu diskutierenden Frage
und dem Thema Hartz IV zu ziehen. Das ist gerade in
der Rede der Kollegin von der PDS gemacht worden.
Aber auch Herr Kuhn hat dies in den vergangenen Tagen
getan. Auf der einen Seite werden Beschlüsse im Rahmen der Agenda 2010 und von Hartz IV genannt und auf
der anderen Seite wird eine Verbindung zu den Einkommen von Aufsichtsräten hergestellt.
({3})
Das ist unterhalb eines erträglichen Niveaus, zumal Sie
an den entsprechenden Beschlüssen beteiligt waren.
Man muss sich wirklich die Augen reiben.
({4})
Was kritisieren Sie eigentlich?
({5})
- Das haben Sie eben nicht klar gemacht. - Sind es die
Entscheidungen, die es in den letzten beiden Legislaturperioden zu energiepolitischen Fragen gegeben hat und
die natürlich die in Rede stehenden Unternehmen berührt haben? Wenn das so ist, dann möchte ich Sie ausdrücklich daran erinnern, dass es nicht nur eine, sondern
zwei Parteien gewesen sind, die die energiepolitischen
Entscheidungen der letzten sieben Jahre getroffen haben,
und dass Sie bei allen Entscheidungen dabei gewesen
sind und sie in Ihrem Beisein stattgefunden haben.
({6})
Sie tun jetzt aber so, als ob Sie damit gar nichts mehr zu
tun hätten.
({7})
Entweder Sie stehen zu Ihrer inhaltlichen Mitverantwortung in diesen Entscheidungen
({8})
oder es wird deutlich, dass Ihnen die Beteiligung an der
Macht damals wichtiger war als die Befolgung Ihrer
hehren Grundsätze, mit denen Sie uns heute konfrontieren.
({9})
Sie wollen angeblich eine moderne Wirtschaftspolitik
machen, wie ich gelesen habe. Im Rahmen Ihrer Klausurtagung haben Sie versucht, dies deutlich zu machen.
Auch die PDS spricht immer wieder davon. Aber ich
habe den Eindruck, dass Sie manchmal in einem Weltbild zu Hause sind, das den Karikaturen der 50er- und
60er-Jahre entspricht, in denen der Unternehmer noch
der fette Bonze mit der Melone auf dem Kopf gewesen
ist.
({10})
Da waren Sie wirklich schon sehr viel weiter.
Oder ist für Sie nicht die wirtschaftliche Tätigkeit an
sich, sondern die Branche das Entscheidende? Wollen
Sie jetzt festschreiben, was politisch korrekt ist und was
nicht? Verleger zu werden, ist dann in Ordnung, weil
man sich da zu den aktuellen Fragen der Weltpolitik äußern kann. Aber Mitglied im Aufsichtsrat von RWE zu
werden, ist nicht in Ordnung. Wie stellen Sie sich das
vor? Wonach wollen Sie das entscheiden?
({11})
Sie eignen sich nicht zu besonderen Saubermännern
oder Sauberfrauen; das hat mein Kollege vorhin schon
gesagt. Den Fall „Gunda Röstel“ will ich nicht vertiefen
und auch über Herrn Volmer will ich nicht sprechen.
Von der Politik in die Wirtschaft und umgekehrt zu
wechseln, ist nichts Ehrenrühriges. Das können Sie auch
durch diese Debatten nicht zu etwas Ehrenrührigem machen. Wenn wir uns diese Wechsel ständig gegenseitig
vorhalten, wird uns allen das insgesamt mehr schaden,
als dies vielleicht Einzelnen von Ihnen klar ist. Wir brauchen eine Debatte darüber - Herr Lange hat dies schon
angesprochen -, wie wir einen möglichen Kodex ausformulieren, sodass er uns wirklich nach vorn bringt.
Ich war in den letzten fünf Jahren Abgeordneter des
Europäischen Parlaments. Auf der europäischen Ebene
gibt es eine Reihe von Erfahrungen mit einem solchen
Kodex. Im Übrigen wird auf keiner anderen Ebene, zum
Beispiel schon beim Amtsantritt der Herren und Damen
Kommissare, so darauf geachtet, welche Aktivitäten in
der Wirtschaft die Betreffenden vorweisen. Das bei den
Aktiven - damit meine ich nicht nur die Minister, sondern auch die Abgeordneten - zu betrachten, ist eine Debatte, die sich zu führen lohnt und die wir an der einen
oder anderen Stelle sicherlich noch vertiefen werden.
Die Frage eines Kodexes werden wir ernsthaft miteinander zu besprechen haben. Lassen Sie uns aber aufhören, anhand von Einzelfällen Aktuelle Stunden zu beantragen und so zu tun, als ob man eine weißere Weste
habe als andere. Das ist nicht der Fall.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Geis von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Abgeordnete werden gewählt und Minister bzw.
Staatssekretäre werden in ihr Amt bestellt und berufen,
damit sie dem Gemeinwohl uneigennützig dienen. Dazu
gehört, dass sie darauf achten, dass, wenn sie aus dem
Amt ausscheiden, die Interessen ihres früheren Amtes
nicht beschädigt werden. Wenn ein Minister bzw. ein
Staatssekretär in eine lukrative Stellung in der Wirtschaft
wechselt, dann ist dies nicht zu beanstanden. Das ist
Konsens der hier Anwesenden. Das ist in den USA üblich. Es hat vielleicht auch einen Nutzen, wenn es einen
stärkeren Wechsel zwischen Wirtschaft und Politik sowie Politik und Wirtschaft gibt - und wenn es nur der
wäre, dass die Wirtschaftskapitäne nicht so arrogant über
die Unfähigkeit der Politik reden würden, wie sie das
manchmal tun,
({0})
wenn sie selber am eigenen Leib erfahren würden, wie
das so im politischen Geschäft ist.
Wenn aber ein Staatssekretär bzw. ein Minister in einen wirtschaftlichen Bereich wechselt, für den er in seinem Ressort zuvor unmittelbar Verantwortung getragen
hat - das ist das Problem -, dann bekommt die Sache einen anderen Akzent.
({1})
Dann kann es so weit kommen, dass der Wechsel zu verneinen wäre, zumindest wenn nicht eine bestimmte Karenzzeit eingehalten wird. Noch viel schlimmer aber ist
der Fall - den müssen wir uns auch vornehmen -, wenn
ein Minister oder ein Staatssekretär in einen Wirtschaftszweig wechselt, für den er nicht nur Verantwortung getragen hat, sondern zu dessen Gunsten er Entscheidungen getroffen hat, die an sich durchaus rechtmäßig und
nicht zu beanstanden gewesen sind. Wenn dieser Übergang dann ohne die Einhaltung einer vernünftigen Karenzzeit geschieht, bekommt er den Geruch der Unlauterkeit. Das muss man hier beachten.
({2})
Ich meine, dass es wichtig ist - da müssen wir ehrlich
miteinander sein -, eine Grenzziehung zwischen wirtschaftlicher und politischer Betätigung vorzusehen und
auch eine Regelung dessen, was zu geschehen hat, wenn
jemand aus seinem Amt ausscheidet. Das muss diskutiert werden. Dies ist in der Rede von Herrn Schmidt,
aber auch in den Beiträgen aller Redner in dieser Debatte
deutlich geworden.
Wir sind uns alle darin einig, dass Art. 12 Grundgesetz im Auge zu behalten ist. Einem Minister oder einem
Staatssekretär kann nicht verboten werden, nach dem
Ausscheiden aus seinem Amt eine berufliche Tätigkeit
aufzunehmen. Es gibt aber gesetzliche Regelungen über
das Verhalten nach dem Ausscheiden aus einem Amt. In
§ 6 Ministergesetz ist vorgesehen, dass ein Minister, der
aus seinem Amt ausgeschieden ist, für eine bestimmte
Zeit zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Darüber hinaus gibt es natürlich auch Regeln des Anstandes. Es
geht nicht an, dass ein im Amt befindlicher Staatssekretär oder Minister nur noch darüber nachdenkt, wer ihn
nach dem Amt aufnehmen könnte. Ein solcher Staatssekretär oder Minister kann nicht mehr nur dem Gemeinwohl dienen.
({3})
Nun stellt sich die Frage, wie wir damit umgehen.
Herr Schmidt hat vorgeschlagen - dieser Vorschlag ist
allgemein aufgenommen worden -, so etwas wie einen
Ehrenkodex einzuführen. Ich halte das für sehr richtig.
Wir können uns nicht auf ungeschriebene Regeln verlassen, sondern müssen uns, nachdem es in letzter Zeit immer häufiger zu solchen Vorfällen gekommen ist, über
solche Regelungen Gedanken machen. Dabei würde ich
nicht ganz ausschließen, auch über eine gesetzliche Regelung nachzudenken. Ich meine keine strafrechtliche
Regelung, aber beispielsweise eine Ergänzung des
Ministergesetzes, wie es in der Wissenschaft bereits diskutiert wird. Danach hat ein ausscheidender Minister
bzw. ein ausscheidender Staatssekretär eine gewisse Karenzzeit einzuhalten, wenn zu befürchten ist, dass er in
seiner neuen Betätigung die Interessen seines alten Amtes beschädigt. Diese Regelung ist vorhin schon aufgezeigt worden; sie gilt für Beamte, Richter und Generäle.
Die Regelung müsste nicht denselben zeitlichen Umfang
beinhalten. Aber ich denke, dass über eine gesetzlich geregelte Karenzzeit nachgedacht werden müsste.
Die Demokratie, die auf die Zustimmung der Bevölkerung angewiesen ist, sollte keinen Schaden nehmen.
Deswegen müssen die Spitzenrepräsentanten der Demokratie immer darauf achten, dass ihr Verhalten nach dem
Ausscheiden aus dem Amt akzeptabel ist und dass sie
dem Amt, das sie ausgeübt haben, Ehre machen.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaas Hübner von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Diskussion ist heute unter einem sehr polemischen Titel von den Grünen aufgesetzt worden. Es ging
Ihnen offensichtlich - zumindest bei der Titelfindung nicht darum, generell darüber zu reden, welche Kodizes
vielleicht für ehemalige Regierungsmitglieder angebracht wären, sondern Sie haben einen konkreten Fall
- Wolfgang Clement - zum Anlass genommen und versucht, Herrn Clement zu diskreditieren.
({0})
Wolfgang Clement zu unterstellen, dass er seine Entscheidungen als Wirtschaftsminister in Bezug auf eine
spätere Aufsichtsratstätigkeit bei RWE getroffen hat,
oder das auch nur zu suggerieren, ist unglaublich und
entbehrt jeder Grundlage.
({1})
Sie müssen sehen, dass viele Gesetzeswerke, die gerade für die Energiewirtschaft wichtig gewesen sind, unter der Federführung des damaligen Umweltministers
Jürgen Trittin verabschiedet worden sind. Auch wenn
manche Entscheidung in der alten Regierungskoalition
strittig war: Es ist mir nicht bekannt, dass Jürgen Trittin
wütend das Kabinett verlassen hätte, um dadurch seinem
Protest Ausdruck zu verleihen. Viele Gesetzesvorhaben
kommen aus Ihrem Hause.
({2})
Jetzt Wolfgang Clement dafür in Haftung nehmen zu
wollen, halte ich für ein starkes Stück.
Außerdem dürfen Sie eines nicht vergessen: Bei RWE
ist Wolfgang Clement zum so genannten neutralen Mitglied im Aufsichtsrat gewählt worden.
({3})
Das entspricht dem Montan-Mitbestimmungsgesetz.
Dort ist vorgesehen, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer
im Aufsichtsrat paritätisch vertreten sind. Um aber eine
Entscheidungsfähigkeit in diesem Gremium jederzeit sicherzustellen, hat man sich als Gesetzgeber darauf festgelegt, einen neutralen Mann zu bestimmen. Wolfgang
Clement ist von Arbeitgebern und Arbeitnehmern einstimmig in diesen Aufsichtsrat gewählt worden. Das
spricht nicht gegen Wolfgang Clement, sondern das
spricht für die Person Wolfgang Clements.
({4})
Einen ähnlichen Fall sehe ich bei Werner Müller.
Werner Müller kam aus einem ähnlich gearteten Großunternehmen der Privatwirtschaft, ehe er in das Kabinett
eingetreten ist. Er war nur vier Jahre Mitglied des Kabinetts. Ich glaube, wir würden uns keinen Gefallen tun,
wenn wir solchen Kabinettsmitgliedern, die aus der
Wirtschaft kommen, den Weg zurück zu ihrem ursprünglichen Beruf verbauen würden.
Wenn wir schon eine Diskussion über Kodizes führen
wollen, dann lassen Sie uns darüber reden, unter welchen Rahmenbedingungen wir diese führen wollen. Ich
bin für eine ergebnisoffene Diskussion an dieser Stelle.
Sie muss aber unter bestimmten Prämissen geführt werden. Es muss klar sein, dass Gesellschaft und Politik und
auch Politik und Gesellschaft immer verwoben sein werden und auch verwoben bleiben sollen. Es muss klar
sein, dass auch ein eventuell mehrfacher Wechsel zwischen gesellschaftlichen Funktionen und politischen
Funktionen gleich welcher Art nicht nur machbar, sondern in unseren Augen sogar wünschenswert ist.
({5})
Das ist die eine Prämisse.
Die zweite Prämisse ist: Wir müssen darauf achten,
dass wir nicht de facto bestimmte Berufsgruppen von der
Übernahme von Regierungsämtern ausschließen.
({6})
Wenn wir jemandem, der zum Beispiel Wirtschaftsminister geworden ist, verbieten würden - und sei es
auch nur für wenige Jahre -, später in einem Bereich tätig zu werden, mit dem er sich als Wirtschaftsminister
beschäftigt hat, entspräche das de facto einem Berufsverbot für fast alle Bereiche, weil ein Wirtschaftsminister natürlich Einfluss auf fast alle gesellschaftliche Bereiche hat. Das kann nicht in unserem Sinne sein. So
wird es auch schwierig sein, Menschen aus der Wirtschaft, aus der Gesellschaft für das Parlament zu gewinnen. Ich denke, auch das muss eine Grundprämisse sein.
({7})
- Kollege Koppelin, weil Sie einen Zwischenruf gemacht haben: Sie erzählten, wenn der Kollege Schmidt
Wirtschaftsminister werden würde, träten der ehemalige
Kanzler Schröder oder der ehemalige Wirtschaftsminister Müller bei ihm auf.
({8})
Ich persönlich glaube - das gilt auch für den Kollegen
Schmidt -, dass sich kein Minister davon übermäßig beeindrucken lässt, sondern sich seiner Position als amtierender Minister bewusst ist. Ich weiß nicht, wie es zu Ihren Zeiten gewesen ist. Wir haben ein anderes
Selbstverständnis von unseren Ministerinnen und Ministern.
({9})
- Das ist so.
Wir müssen trotzdem Missbräuchen vorbeugen. Das
ist keine Frage. Ich glaube, dass solche Dinge immer nur
im Einzelfall zu klären sind. Der Kollege Schmidt hat
darauf hingewiesen. Es ist relativ schwierig, einen sehr
engen allgemeinen Rahmen für einen Ehrenkodex zu
stecken. Es muss ein weiter Rahmen sein, weil die Biografien sehr unterschiedlich sind.
Ich bin offen für eine ergebnisoffene Diskussion.
Meine Fraktion ist es auch. Es kann aber auch sein
- auch das heißt Ergebnisoffenheit -, dass wir nachher
zu dem Schluss kommen, dass ein Kodex - gleich welcher Art - eine derartige Beschränkung bedeuten würde,
dass man bestimmte Berufsgruppen von Regierungsämtern ausschließt. Das kann nicht das Ziel sein. Da
müsste man andere Mittel suchen und vielleicht über einen Ombudsmann oder Ombudsrat nachdenken. Ich
denke, diese Diskussion sollten wir führen.
Meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Sie
mutig gewesen wären, hätten Sie hier einen entsprechenden Entschließungsantrag eingebracht
({10})
und nicht diese polemische Debatte begonnen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin erst seit dem Jahre 2002 im Bundestag, aber
zu diesem Thema habe ich offensichtlich bereits alle Gefechtslagen erleben dürfen. Ich habe in unterschiedlicher
Zusammensetzung und Abfolge schon alles gehört und
mich auch an solchen Debatten beteiligen dürfen. In der
Tat: Dieses Thema eignet sich hervorragend für Populismus. Aber ich warne davor, den Populismus bei diesem
Thema auszuleben, weil wir am Schluss alle nur Verlierer sein werden.
Herr Loske, ich will Folgendes ansprechen: In der
Debatte am 10. April 2003 - Kollege Koppelin hat sie
bereits erwähnt; auch ich habe diese Passage des Protokolls herausgesucht, da ich mitdebattiert hatte -, in der
es um den Wirtschaftsminister Müller ging, hat die von
mir persönlich sehr geschätzte Kollegin Hustedt gesagt,
diese Debatte sei hochgradig scheinheilig. Weiter sagte
sie: „Einen Anlass für eine Aktuelle Stunde bietet das
Ganze in keinem Fall.“
Auch, Herr Berninger, auf die Anfrage der FDP 2004,
als es um Herrn Tacke und um andere Fragen ging, hat
die Regierung - damals waren auch Sie mit von der Partie - geantwortet, dass dienstliche Interessen keinesfalls
beeinträchtigt werden. Es gibt im Übrigen schon heute
Regelungen - es ist angeklungen, Regeln zu fordern gerade für Beamte, Ruhestandsbeamte bzw. frühere Beamte, dass sie nach bestimmten Bedingungen Beschäftigungen außerhalb des öffentlichen Dienstes nach drei
bzw. fünf Jahren anzeigen müssen, wenn diese im Zusammenhang mit der früheren dienstlichen Tätigkeit stehen. Beim Verdacht der Vorteilsannahme kann diese
neue Tätigkeit bis zu fünf Jahre untersagt werden. Gerade dieses wurde von Ihnen im Jahr 2004 für Herrn
Tacke nicht getan. Herr Berninger, heute haben Sie das
etwas anders dargestellt.
Auch der Ehrenkodex, Herr Loske, wurde damals - in
diesem Zusammenhang muss man schon sagen: Ehre,
wem Ehre gebührt! - von der FDP gefordert und dann
von Ihnen in der Debatte und schriftlich auf Anfrage von
der Regierung abgelehnt. Ich habe das hier vorliegen.
({0})
- Ja. - Ich will hier nicht als Scharfmacher weder in die
eine noch in die andere Richtung auftreten. Ich will
wirklich nur davor warnen, dieses Thema zum Populismus zu nutzen, weil wir dann alle Verlierer werden würden.
({1})
Wir denken an neue gesetzliche Regelungen. Ich weiß
nicht, ob das der richtige Weg ist. Jeder - auch das ist
heute angeklungen - ist für seinen Ruf verantwortlich.
Es ist eine Frage der Sensibilität, ob und wann ich politisches oder sonstiges Insiderwissen in bare Münze umwandele. Das Beispiel des Altbundeskanzlers ist sicher
kein rühmliches. Wenn ich sechs Tage vor der Wahl
noch einen Vertrag mit weitreichenden Auswirkungen
nicht nur für das Land, sondern auch für eine bestimmte
Branche unterzeichne und dann kaum 60 Tage nach Unterzeichnung dieses Vertrages in den Aufsichtsrat des betroffenen Unternehmens gehe, dann ist das für mich eindeutig zu kurz für eine Cooling-off-Phase, wie es im
angelsächsischen Bereich heißt, oder eine Karenzzeit,
wie sie heute angesprochen wurde, oder auch für eine
politische Schamfrist.
Aber das muss jeder Einzelne selber wissen. Wir können solche Dinge nicht abschließend gesetzlich regeln.
Das zeigt sich in einem anderen Fall, in dem wir selber
betroffen sind und in guter Absicht gehandelt haben.
Aber gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Wenn wir
nämlich wirklich der Meinung sind - das ist zumindest
meine Meinung -, dass Politik kein Beruf ist, sondern
eine Berufung auf Zeit, dann bedeutet dies, dass man vor
seiner politischen Tätigkeit seine Berufsbefähigung außerhalb der Politik erhalten soll und muss, um dann das
von Herrn Kollegen Loske eingeforderte freie und unabhängige Abgeordnetendasein zu führen.
Wir werden auch hinsichtlich der Umsetzung der Verhaltensregeln, die wir uns selber gegeben haben - jetzt
können wir sehen, mit welchen Abgrenzungsschwierigkeiten diese verbunden sind -, aufpassen müssen, dass
wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.
({2})
Insofern denke ich, wir sollten diese Art von Debatten
in Zukunft nicht in schöner Regelmäßigkeit wiederholen, sondern uns überlegen, wie wir den schmalen Grat,
auf dem wir uns zweifelsohne bewegen, auf kluge Art
und Weise begehen. Wie in dem genannten Dreiklang
angedeutet, sollten wir Regierungsmitglieder, also unsere politische Spitze, sicherlich anders behandeln als
die Mitglieder des Parlaments und Beamte. Nun müssen
wir uns überlegen, wie wir mit dieser Dreiteilung umgehen.
Ich halte es für überflüssig, auf den Gebieten, die bereits geregelt sind, neue Regelungen zu schaffen. Auch
die Einführung eines die Regierung selbst verpflichtenden Ehrenkodexes - oder wie immer man das Kind nennen will - wäre sinnvoll. Wenn man Politik als Berufung
auf Zeit versteht, werden wir uns mit Sicherheit schneller als uns lieb ist wieder mit der Frage befassen müssen,
was wir Abgeordnete unter unserem freien und unabhängigen Mandat verstehen und wie wir mit ihm umgehen.
Deshalb mahne ich in diesem Zusammenhang zu Besonnenheit und rate insbesondere bei diesem Thema von Populismus ab, sowohl heute als auch in Zukunft.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Tabillion von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zu Beginn meiner Ausführungen und am Ende
dieser Aktuellen Stunde möchte ich auf unser oberstes
Ziel hinweisen, dem wir uns in dieser Legislaturperiode
verpflichtet haben: Unsere Kernaufgabe ist es, Deutschland wirtschaftlich wieder nach vorne zu bringen. Unser
Land gehört an die Spitze, nicht nur, wenn es um seine
Außenwirtschaft geht, sondern auch, was sein Innenverhältnis betrifft. Diesem Ziel sollten wir alles andere unterordnen.
Unsere Devise lautet: Handlungsfähigkeit und Mut.
Die Leute haben bemerkt, dass die große Koalition diese
Devise praktiziert. Das finden sie gut. Weniger gut finden sie allerdings, wenn immer wieder Sand ins Getriebe
gestreut wird. Leider muss ich sagen: Ich glaube, das ist
die eigentliche Motivation, aus der das Bündnis 90/Die
Grünen schon zum zweiten Mal in diesem Jahr eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt hat.
({0})
Über manche Kriterien muss man in der Tat reden. Aber
ich unterstelle Ihnen, dass dies nicht der Anlass für Sie
war, diese Aktuelle Stunde zu beantragen. Ihr Denken ist
rückwärts gewandt. Sie sollten lieber positive Vorschläge machen, wie wir die Wirtschaft in Deutschland
stärken können. Das werden die Leute dann auch gut finden.
({1})
Da es darum geht, für den wirtschaftlichen Aufschwung unseres Landes zu sorgen, sollten wir auf niemanden verzichten, der bereit ist, zu helfen. Erst recht
sollten wir auf niemanden verzichten, der einmal eine
wichtige Funktion in der Politik hatte. Wir sollten jedem,
der sich einbringen will und der etwas zu bieten hat, ermöglichen, sich zu engagieren, ob es sich nun um einen
ehemaligen Politiker handelt oder nicht. Mir ist es lieber,
wenn ein ehemaliger Minister etwas Sinnvolles für unsere Gesellschaft oder die Unternehmen in Deutschland
tut, als wenn er zuhause seine Staatspension verfrühstückt. Aktives Verhalten ist mir viel lieber als Passivität.
({2})
Deshalb will ich eine ganz klare Sprache sprechen:
Das Engagement von Wolfgang Clement finde ich in
Ordnung. Bereits zu Beginn der 90er-Jahre war er Mitglied des Aufsichtsrats von RWE Power. Dieses Unternehmen ist für unser Land wichtig.
({3})
Es verfügt über hohe technologische Kompetenz und beschäftigt 18 000 Arbeitnehmer. Das darf man nicht vernachlässigen, es sei denn, man verfolgt eine Deindustrialisierungsstrategie, wie sie zu Beginn dieser Debatte
angeklungen ist. Wenn dem so wäre, fände ich das
schlimm.
({4})
Wenn Herr Clement als neutraler Mann einen Beitrag
dazu leisten kann, dass dieses Unternehmen im Interesse
seiner 18 000 Beschäftigten und im Interesse unseres gesamten Landes Erfolg hat, dann ist dies unser gemeinsamer Erfolg. So muss man das sehen. Wenn es bei RWE
Power gut läuft, ist das nicht nur ein Erfolg für einige
wenige Aktionäre, sondern ein Erfolg für unsere gesamte Wirtschaft. Ich unterstelle Herrn Clement, dass er
genau das will.
Eines möchte ich noch betonen: Wenn in diesem Unternehmen Leute aus der Region tätig sind, ist das mit
Sicherheit besser, als wenn jemand von irgendwoher angeflogen kommt und dann im Aufsichtsrat über das
Schicksal von Beschäftigten entscheidet, mit denen er
im Grunde gar nichts zu tun hat. Also: In den Unternehmen sollten Leute tätig sein, denen die Region auch etwas bedeutet. Genau das ist hier der Fall.
({5})
Wirtschaftliche Erfolgsmodelle - darauf hat der Kollege Kampeter hingewiesen - bauen oft auf Partnerschaft auf. Man kann nicht wirtschaftlichen Erfolg wollen und dann solche Stellungskriege führen. Wir müssen
an einem Strang ziehen - ob Arbeitnehmer, Gewerkschaften, Wirtschaft oder Politik -, anstatt einander zu
bekämpfen bzw. auszugrenzen, indem man das Engagement der einen gutheißt, das der anderen hingegen nicht.
Insofern glaube ich, dass wir dem, was Bündnis 90/Die
Grünen vorschlagen, nicht folgen sollten. Im Gegenteil,
wir sollten froh sein, wenn es einen guten Austausch
zwischen der Politik und der Wirtschaft gibt; wir sollten
diesen sogar fördern.
Es liegen, das ist hier angedeutet worden, gute Vorschläge auf dem Tisch, zum Beispiel um einen Kodex
aufzustellen, wie sich Politiker, die als solche ausscheiden, verhalten sollen. Das ist alles in Ordnung; darüber
kann man reden. Aber ich bin der Auffassung, man sollte
nicht mit typisch deutscher Gründlichkeit Hürden aufbauen, die uns bei unserem Oberziel - die Wirtschaft
voranzubringen - im Wege stehen.
Wenn ich Vorschläge von der FDP höre, Leute, die
politische Funktionen innehatten, für fünf Jahre sozusagen aufs Trockendock zu setzen, dann muss ich sagen:
Das finde ich lächerlich, das muss man verhindern; denn
das schadet der Gesamtheit. Wir müssen also ergebnisorientiert darüber reden. Aber wir müssen auch den Mut
aufbringen, nicht jedem populistischen Unsinn das Wort
zu reden. Ich hoffe und glaube, diese große Koalition hat
dazu die Kraft.
Herzlichen Dank.
({6})
Herr Kollege Tabillion, im Namen des Hauses gratuliere ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag herzlich.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Reinhard Loske, Hans-Josef Fell, Sylvia
Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine sichere Energieversorgung im
21. Jahrhundert - Energieeinsparung und erneuerbare Energien statt Öl, Atom und Kohle
- Drucksache 16/579 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJosef Fell, Cornelia Behm, Dr. Reinhard Loske,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Biokraftstoffe intelligent fördern - Steuerbegünstigung erhalten
- Drucksache 16/583 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Hans-Josef Fell, Bündnis 90/
Die Grünen. Bitte schön, Herr Fell.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Gaskrise am Anfang dieses Jahres hat viele
wachgerüttelt. Sie hat die politischen Abhängigkeiten in
unserer Energieversorgung aufgezeigt und sie hat die
Ressourcenfrage in den Mittelpunkt gestellt. Diese Krise
ist noch nicht beendet: Wer heute nach Italien schaut,
sieht, dass dort eine Erdgasverknappung vorherrscht;
auch die Tatsache, dass die Produktion in Großbritannien rückläufig ist, zeigt, dass der Energieträger Erdgas
knapp ist. Die Ölpreise sind unverändert hoch, auf einem
Stand, den wir noch vor wenigen Jahren als das Ende der
Wirtschaft bezeichnet hätten. Dass dies die Volkswirtschaft belastet, ist unbestritten. Auch beim Öl steht die
Verknappung im Mittelpunkt. Das Erdölgeologen-Netzwerk „The Association for the Study of Peak Oil and
Gas“ warnt die Welt seit Jahren vor dem Ausschöpfen
des Fördermaximums. Wahrscheinlich stehen wir unmittelbar davor. Doch viel zu wenige in der Wirtschaft und
in der Politik nehmen dies wahr.
Was sind die Antworten der Politik? Schauen wir uns
die SPD an. Dort heißt es oft: Verstärkt auf Kohle setzen. Ich will jetzt nicht die Debatte von vorhin wiederholen,
aber zumindest deutlich sagen: Kohle ist die schmutzigste Energieform, sie ist klimaschädlich und zerstört
die Heimat; denken Sie nur an die Braunkohle und sehen
Sie sich an, wie viele Dörfer verschwunden sind. Dies
kann keine Antwort sein.
({0})
Wenn wir zur Union schauen, so erkennen wir die
Forderungen: Laufzeitverlängerung für Atomenergie
und Ministerpräsident Koch in Hessen tritt sogar für den
Neubau von Atomkraftwerken ein. Auch das sind keine
Antworten. Die Atomenergie deckt heute nur einen geringen Teil des Energiebedarfs in Deutschland, nämlich
weniger als 6 Prozent.
({1})
Der Anteil der erneuerbaren Energien ist heute schon
größer und er wächst weiter.
({2})
- Gemessen am Energieverbrauch ist das sehr wohl richtig.
Die Ausbauwünsche der Branche sind so groß, dass
erneuerbare Energien die Atomenergie mit Leichtigkeit
ersetzen könnten. Jeder Wunsch, die Laufzeit der Atomkraftwerke zu verlängern, bedeutet keine Brücke ins Solarzeitalter, wie manche sagen, sondern eine Mauer zwischen dem Jetzt und dem Solarzeitalter. Dies müssen wir
deutlich zur Kenntnis nehmen. Das behindert den Ausbau erneuerbarer Energien und Einsparungen.
({3})
Schlimmer noch: Die Atomenergie hat auch noch andere Probleme. Ich habe Herrn Bosbach heute Vormittag
im Deutschlandfunk gehört. Er hat eine erhöhte Sicherheitsgefahr in Deutschland festgestellt und vorgeschlagen, die Bundeswehr zum Schutze der gefährdeten
Atomkraftwerke einzusetzen. Ich fordere Sie auf, aufgrund der erhöhten terroristischen Bedrohung endlich
ein Sicherheitskonzept für den Schutz der Atomkraftwerke vorzulegen, statt eine Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke zu fordern, durch die dieses
Problem noch verschärft wird.
({4})
Wir sollten aber nicht nur auf die innere Sicherheit
schauen, auch die äußere Sicherheit ist höchst gefährdet.
Wir alle schauen mit Entsetzen in den Iran, der als einzige Begründung dafür, Atomkraftwerke in Betrieb nehmen zu wollen, anführt, er habe zu wenig Energie. Das
sagt ausgerechnet der Iran, der reich an Sonnenschein,
Wind und auch fossilen Kraftstoffen und Rohstoffen ist.
Nein, ein Aufbau der Plutoniumwirtschaft im Iran - seit
heute gibt es übrigens neue Töne aus der Türkei und der
Ukraine in die gleiche Richtung - bedeutet einen Aufbau
der Atombomben in dieser Welt und nicht einen Aufbau
der Atomkraftwerke. Wer Atomkraftwerke will, der wird
Atombomben ernten. Dies müssen wir ernst nehmen.
Ich wundere mich, warum Kanzlerin Merkel im Iran
nicht die deutsche Exportwirtschaft und unseren Exportschlager erneuerbare Energien, sondern stattdessen die
Atomkraftwerke anpreist. Wahrscheinlich ist ihr Innovationsberater von Pierer - wir kennen seine Abhängigkeit
vom Siemenskonzern, dem einzigen Atomkonzern in
Deutschland - der Hintergrund für dieses Verhalten. Das
ist ein ungeheuerlicher Verdacht und ich möchte, dass er
ausgeräumt wird.
Die Lösung ist doch klar! Wir haben ein riesiges
Potenzial an Einspartechnologien und an erneuerbaren
Energien: Sonne, Wind, Wasser, Biomasse, Erdwärme
und auch Meeresenergie. Der Ausbau all dessen kann in
hoher Geschwindigkeit vorangebracht werden. Die von
Rot-Grün auf den Weg gebrachte erfolgreiche Ausbaupolitik für erneuerbaren Energien ist grandios.
Gerade heute konnten wir feststellen, dass wir die Arbeitsplatzpotenziale bisher unterschätzt haben. Bisher
dachten wir, 2004 seien 130 000 Arbeitsplätze dadurch
gesichert gewesen. Nein, das Umweltministerium hat
diese Zahl für uns neu berechnet: Es sind bereits
160 000 Arbeitsplätze in dieser Branche. 8,7 Milliarden
Euro werden in diesem Jahr neu in die Branche der erneuerbaren Energien investiert. Das ist ein starker Wirtschaftszweig, was wir ja auch wollen.
Wie sieht es in der großen Koalition aus? Wenn man
gut darüber reden will, dann kann man sagen, dass dort
Stillstand herrscht, wenn man es aber realistisch betrachtet, dann muss man von Rückschritt sprechen. Einsam
und verlassen kämpft Umweltminister Gabriel im Kabinett für erneuerbare Energien. Ich höre von keinem anderen Minister eine starke Unterstützung.
({5})
Stattdessen fordert unser Finanzminister die Abschaffung der Steuerbefreiung für Biokraftstoffe. - Herr Präsident, ich hatte fünf Minuten Zeit.
Ja, Sie haben auch fünf Minuten bekommen. Sie reden jetzt seit sechs Minuten.
Vorhin standen vier Minuten dort.
Nein, nein.
({0})
Entschuldigen Sie, Herr Kollege Fell. Die Uhr war bei
fünf Minuten gestartet.
Okay, ich komme zum Schluss. - Es ist klar: Durch
diese Vorschläge des Finanzministers wird es bei der
Kraft-Wärme-Kopplung auf jeden Fall zu einem großen
Problem kommen. Wir brauchen die Steuerbefreiung,
denn sie dient der Energieeinsparung und hält Mischkraftstoffe mit höherem Biokraftstoffanteil wie E-85 sowie reine Biokraftstoffe wie Pflanzenöl am Markt. Wir
sollten uns ein Beispiel an Schweden nehmen, das bis
2020 vollständig aus der Erdölnutzung aussteigen will.
Stattdessen schlägt uns der Finanzminister eine Maßnahme vor, die den Ausbau der reinen Biokraftstoffe in
Deutschland beenden würde.
Dies kann nicht unser Ziel sein. Deshalb lehnen wir es
ab. Wir wünschen uns einen stärkeren Ausbau und fordern die große Koalition auf, diesen von Rot-Grün eingeschlagenen Weg forciert fortzusetzen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Philipp Mißfelder von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Fell, Sie haben gerade in unnachahmlicher Weise
Ihre ehemalige rot-grüne Ideologie in der Energie- und
Umweltpolitik vertreten.
({0})
Ich finde das nicht richtig. Herr Gabriel muss sich keine
Sorgen machen, alleine dazustehen. Wir von der CDU/
CSU-Fraktion unterstützen ihn tatkräftig.
({1})
Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag, der weder dem richtigen Ziel einer sicheren Energieversorgung
im 21. Jahrhundert gerecht wird, noch den Klimaschutz
im globalen Maßstab berücksichtigt. Die Menschen in
unserem Land wollen keine Klientelpolitik, sondern
Realitätssinn und erreichbare Ziele.
({2})
So war es der Wählerwille, dass Bündnis 90/Die Grünen
nach sieben Jahren ideologiebeladener Umweltpolitik
seit Herbst des vergangenen Jahres auf der Oppositionsbank sitzt und im Übrigen auch die kleinste Fraktion in
diesem Hause geworden ist.
({3})
In Ihrem heutigen Antrag fordern Sie, für die deutsche Energieversorgung zukünftig auf sämtliche fossilen
Energieträger zu verzichten, um sie vollständig durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Für diese wirklich fundamentale Umstellung sehen Sie nur wenige Jahrzehnte
vor. Dabei ignorieren Sie wissentlich die natürlichen
und ökonomischen Schranken, die einer so weit gehenden Nutzung von erneuerbaren Energien gesetzt
sind. Das Bundesumweltministerium hat in einer aktuellen Studie, die Mitte Januar durch den Minister vorgestellt
wurde, darauf hingewiesen, dass der Ausbau erneuerbarer Energien bei etwa 25 Prozent des Gesamtenergievolumens erschöpft sein dürfte. Der Grund ist vor allem
der, dass das vorhandene Energiepotenzial besonders
durch Standortfaktoren, aber auch ökonomisch begrenzt
ist.
({4})
Ich nenne Ihnen in diesem Zusammenhang zwei Beispiele. Die einzige regenerative Energiequelle, mit der
sich große Strommengen erzeugen lassen könnten, sind
riesige Offshorewindparks. Diese erfordern angesichts
technischer Probleme bei Errichtung und Wartung
enorme Investitionen. Nur der Kapitalmarkt wird in der
Lage sein, diese Investitionen zu tätigen, niemals jedoch
die öffentliche Hand.
({5})
Ob diese Milliardeninvestitionen vom Kapitalmarkt aber
getätigt werden, ist völlig offen. Ich halte es angesichts
der daraus folgenden Energiepreise für absolut unrealistisch, davon auszugehen.
({6})
Gleiches gilt für die Solarenergie, deren Zukunftspotenzial bei weitem noch nicht erschöpft ist. Doch auch
bei diesem wichtigen Energieträger der Zukunft muss
klar sein, dass die Wirtschaftlichkeit einen höheren Stellenwert hat als unrentable Dauersubventionen.
({7})
Gerade die aktuelle Entwicklung in den Vereinigten
Staaten von Amerika und insbesondere in Kalifornien
zeigt, dass Solarenergie ein wichtiger Faktor werden
kann. Aber die natürlichen Gegebenheiten gerade hier in
Deutschland machen deutlich, dass diese Möglichkeiten
bei uns sehr stark eingeschränkt sind. Dennoch gebe ich
zu: Das Entwicklungspotenzial ist bei weitem nicht ausgereizt. Deswegen ist Energieforschung in diesem Bereich sicherlich wichtig.
({8})
Unsere Energiepolitik ist dem Wachstumsziel und
dem ökologischen Grundgedanken gleichermaßen verpflichtet. Allerdings müssen auch Sie zur Kenntnis nehmen, dass energiepolitische Alleingänge auf globalen
Märkten absolut sinnlos sind. Die Folgen führen zu
Wettbewerbsverzerrungen, unter denen letztendlich die
Verbraucher und die deutsche Wirtschaft zu leiden haben.
Ohne auf dieses Thema näher eingehen zu wollen, zitiere ich hier nur den für Energiefragen zuständigen
Staatssekretär im niederländischen Wirtschaftsministerium, Pieter van Geel:
Wir haben festgestellt, dass wir in den nächsten
zehn Jahren mindestens vier bis fünf neue Kraftwerke brauchen. Das können Kohle- und Kernkraftwerke sein. Am besten aber ein Mix aus beiden.
Ich möchte das hier aus koalitionspolitischen Gründen
gar nicht weiter kommentieren.
({9})
Aber festzustellen ist, dass in unserer unmittelbaren
Nachbarschaft Energiepolitik mit einem vollkommen
anderen Ansatz betrieben wird. Energiepolitik hat heute
eine europapolitische und eine globale Perspektive.
Angesichts des Klimawandels, aber auch wegen der
Abhängigkeit von importierten Energieträgern müssen
neue Formen der Energieerzeugung gefunden werden.
Wir gehen diese Aufgaben aber mit großer Nüchternheit
und ohne jegliche Ideologie an.
({10})
Denn alles, was wir auf diesem Gebiet planen, muss in
technischer und finanzieller Hinsicht realisierbar sein.
({11})
Es liegt doch - politischer Wille hin oder her - in der
Natur der Sache, dass die Stromerzeugung auch physikalischen Gesetzen folgt. Politische Theorien einer vermeintlich besseren Welt haben die Naturgesetze bisher
noch nicht aushebeln können.
({12})
Dem richtigen Ziel, dem Klimaschutz zu dienen, wird
es nicht gerecht, wenn die Akzeptanz von erneuerbaren Energien in weiten Teilen der Bevölkerung dauerhaft beschädigt wird. Damit ist niemandem geholfen,
dem Klima am allerwenigsten. Ökosteuer, Einspeisungsverordnungen, Fördergelder oder Konzessionsabgaben
klingen den Menschen tagtäglich unangenehm in den
Ohren. Darüber hinaus sind viele Steuerungsinstrumente
in diesem Zusammenhang ordnungspolitisch absolut
falsch.
({13})
Die Bundesregierung und die große Koalition haben
sich zum Ziel gesetzt, die Zukunft der Energiepolitik offensiv anzugehen. Das gilt auch - Sie mögen es kaum
glauben - für die erneuerbaren Energien. Das hat der
Bundeswirtschaftsminister, Herr Glos,
({14})
übrigens anlässlich der „Handelsblatt“-Tagung für Energiewirtschaft am 17. Januar 2006 in Berlin bereits deutlich gemacht:
Wir müssen die erneuerbaren Energien weiter fördern, aber mit geschärftem Blick für ihre Wirtschaftlichkeit.
Genau diese Auffassung vertreten wir in dem Zusammenhang.
({15})
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch darauf
hinweisen, dass die heutige Bundeskanzlerin Angela
Merkel seinerzeit als Bundesumweltministerin die
Kiotobeschlüsse maßgeblich mitgeprägt hat. In dieser
Kontinuität sehen wir uns, nicht aber in Aussagen, wie
sie sich in Ihrem Antrag finden: zum Beispiel Braunund Steinkohle seien „keine Energieträger der Zukunft“
oder Biomasse könne ein „Ersatz für die Grundlast der
abzuschaltenden Atomkraftwerke“ sein. Ich frage Sie:
Wie wollen Sie eine dicht besiedelte und hoch entwickelte Industrienation wie Deutschland in der Grundlast
mit Biomasse versorgen? Das wird nicht funktionieren.
({16})
Sie haben so etwas in Ihrem Antrag ausführlich beschrieben. Es kann jeder nachlesen, welche Meinung Sie
in diesen Punkten vertreten.
Die Koalition verfolgt einen konsequenten Kurs des
Klimaschutzes und der Energieforschung, was gerade
vor dem Hintergrund eines zunehmenden Energiehungers einer wachsenden Weltbevölkerung von existenzieller Bedeutung ist. Ein ausgewogener Energiemix ist
dabei die Voraussetzung für Versorgungssicherheit und
Wirtschaftlichkeit und damit auch für niedrige Strompreise.
({17})
Es ist bekannt, dass Deutschland als rohstoffarme Industrienation auf den Import von Energieträgern angewiesen ist. Gerade dies erfordert jedoch eine langfristige,
vorausschauende und - das möchte ich gerade angesichts des vorliegenden Antrags betonen - eine realistische Energiepolitik.
({18})
Dem hat die Koalition sowohl im Koalitionsvertrag
als auch in den Beschlüssen der ersten Wochen Rechnung getragen. Wir werden die Ausgaben für die Energieforschung schrittweise erhöhen, damit Deutschland
an der Weltspitze bleibt. Dabei kann das emissionsfreie
Kohlekraftwerk ein Modell der Zukunft sein; denn
gerade mit der heimischen Kohle stehen uns von Importen unabhängige Energieträger zur Verfügung, die zudem - wie wir bei der Braunkohle sehen - keinerlei
Subventionen bedürfen.
Wir sind aber auch auf dem Gebiet der Energieeffizienz tätig. So haben wir mit dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm ein Instrument geschaffen, das auch in
ordnungspolitischer Hinsicht sinnvoll ist.
Um es kurz und knapp zu sagen: Unserer Meinung
nach ist Ihr Antrag gänzlich falsch. Wir halten am Energiemix, den wir für richtig halten, fest.
Vielen Dank.
({19})
Herr Kollege Mißfelder, ich gratuliere auch Ihnen zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gudrun Kopp von der
FDP-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Die sichere Versorgung mit umweltfreundlich erzeugter und preisgünstiger Energie stellt für die FDPFraktion das Lebenselixier einer jeden modernen Volkswirtschaft dar. Das sei vorweg bemerkt.
Im vorliegenden Antrag wird zu Recht festgestellt,
dass Energieeinsparung und Effizienzsteigerung notwendig sind. Wir müssen durch eine Anschubfinanzierung - nicht als Dauersubvention - auch die erneuerbaren Energien fördern. All das ist richtig. Nach unserer
Überzeugung gehören aber zu einem vernünftigen Energiemix auch die fossilen Energieträger, wie Öl, Braunkohle und Importsteinkohle. Diese müssen natürlich in
effizienten Kraftwerken genutzt werden. Derzeit sind
wir in starkem Maße von Energieimporten abhängig und
wir werden das auch in Zukunft sein.
In Ihren Anträgen fehlt aber völlig der Hinweis auf
die Notwendigkeit eines breiten Energiemixes, der ausdrücklich die Nutzung der Kernenergie einschließt.
({0})
Wir werden eine sichere, klimaschutzorientierte und
preisgünstige Energieversorgung in Deutschland nicht
zustande bringen, wenn wir die Laufzeiten unserer Kernkraftwerke nicht verlängern.
Frau Kollegin Kopp, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Tauss?
Gerne.
Herr Tauss, bitte.
Liebe Kollegin, da Sie hier versuchen, die Mär von
der preiswerten Kernenergie einmal mehr in den Mittelpunkt Ihrer Betrachtungen zu stellen, möchte ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass beispielsweise in BadenWürttemberg, dem Bundesland mit dem höchsten Anteil
an Kernenergie, nicht nur die Förderung der regenerativen Energien am geringsten ist, sondern auch die Strompreise bundesweit am höchsten sind? Ist Ihnen des
Weiteren bekannt, dass wir aus unserem knappen Forschungsetat, dessen Mittel wir dringend für Zukunftsforschung brauchen, wieder 500 Millionen Euro für die Beseitigung von Altlasten aus Kernkraftwerken allein in
meiner Region herauslösen müssen? Wollen Sie unter
diesen Gesichtspunkten Ihre Behauptung ernsthaft aufrechterhalten, die Kernkraft könne einen Beitrag zu einem preiswerten Energiemix leisten?
({0})
Herr Kollege Tauss, die Kerntechnologie ist in ihrer
wissenschaftlichen Erforschung auch staatlich gefördert
worden.
({0})
Es ist ebenfalls richtig, dass Wissenschaft und Forschung gefördert werden müssen, und zwar auch - dafür
sind wir - im Bereich der erneuerbaren Energien.
({1})
- Dafür gibt es Rückstellungen bei den Unternehmen;
das wissen Sie auch.
({2})
Herr Kollege Tauss, Sie haben die hohen Energiepreise angesprochen. Ich darf Sie daran erinnern, dass es
die rot-grüne Energiepolitik in den vergangenen sieben
Jahren war, die dazu geführt hat, dass der Strompreis in
Deutschland allein zu 41 Prozent durch staatliche Steuern und Abgaben, wie die Ökosteuer, und Auflagen, wie
die Förderung der KWK und das EEG, belastet ist.
({3})
Fassen Sie sich also an die eigene Nase und versuchen
Sie nicht, einen Popanz aufzubauen! Ich bin der Überzeugung, dass zu einem breiten Energiemix auch die
Kernenergie gehört - davor sollte man die Augen nicht
verschließen - und dass es notwendig ist, hier breit aufgestellt zu bleiben.
Zurück zu den Anträgen der Fraktion der Grünen.
Herr Kollege Fell, ich möchte mit zwei energiepolitischen Irrtümern aufräumen. Sie stellen fest, die Kernenergie verliere weltweit an Bedeutung.
({4})
Das ist nicht der Fall. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis,
dass Finnland, China, die USA, Großbritannien und
Russland Kernkraftwerke bauen.
({5})
Russland will in den nächsten 20 Jahren sogar 100 Kernkraftwerke bauen. Davon sind 40 für den eigenen Markt
und 60 für den Export bestimmt. Russland schafft das
nur, weil wir Deutsche aufgrund unserer Abhängigkeit
- über 36 Prozent unserer Gaslieferungen kommen aus
Russland - diese Bauvorhaben mitfinanzieren. Für Russland ist das hervorragend. Die Russen exportieren Öl
und Gas und bauen Kernkraftwerke, während wir von
ihren Energieexporten abhängig sind und unsere sicheren Kernkraftwerke abschalten. Diese ideologisch motivierte Strategie ist mehr als nur irreal. Unsere Nachbarn,
die Niederländer, haben gerade die Laufzeit ihrer Kernkraftwerke auf 60 Jahre verlängert. Das ist die Realität.
Sie sprechen von einer Uranreichweite von 30 bis
40 Jahren. Das ist nicht richtig. Nach wissenschaftlichen
Schätzungen sind es 60 Jahre und die Ressourcen reichen sogar für 400 Jahre.
Summa summarum ist es wichtig, dass wir den Blick
für eine ideologiefreie Politik freihalten,
({6})
dass wir tun, was für den Bürger richtig ist, was sicher
ist, was umweltpolitisch vertretbar und auch preiswert
ist.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister Sigmar
Gabriel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Kopp, ich wollte zwei Dinge am Anfang klarstellen, die eben etwas durcheinander gegangen sind. Dass
die Uranreserven 400 Jahre reichen, habe ich noch
nicht einmal von den Energieversorgern gehört.
({0})
Die Zahlen schwanken, je nachdem, wie stark die Ressourcen genutzt werden, zwischen 25 und 120 Jahren.
({1})
Wenn sich die Ausbaupläne, die Sie geschildert haben,
bewahrheiten sollten, dann nähert sich die Zahl eher
25 Jahren. Man muss aufpassen, dass man intellektuell
einigermaßen redlich bleibt, auch wenn man politische
Zwecke verfolgt.
({2})
Zu den Zahlen von geplanten Atomkraftwerken, die
Sie genannt haben, muss man sagen, dass sich darunter
eine Vielzahl von Projekten befindet, die, wie im Falle
von China, seit 17 oder 25 Jahren angeblich geplant werden, bei denen aber niemand - noch nicht einmal in
China - davon ausgeht, dass sie wirklich realisiert werden. Man muss auch gegenrechnen, was die Realisierung
solcher Projekte am Ende für die vorhandenen Uranreserven bedeuten würde. Wir werden - ich bin sehr dankbar, dass die Frau Bundeskanzlerin einen Energiegipfel
einberuft ({3})
in den kommenden Monaten intensiver in die Debatte
einsteigen, damit wir etwas Klarheit bekommen. Die
OECD, deren Zahlen uns vorliegen - die OECD ist ja
keine des Atomausstiegs verdächtige internationale Organisation -, geht in ihrem Rotbuch von 65 Jahren aus.
Ich glaube nicht, dass eine zukunftsorientierte Energiepolitik auf eine Energiereserve setzen sollte, deren Vorkommen derzeit geringer sind als die von Öl und Gas.
Das scheint mir keine besonders kluge Energiepolitik zu
sein.
({4})
Wenn Sie, Frau Kopp, sagen, 41 Prozent der Stromkosten seien durch staatliche Abgaben induziert, dann ist
das zwar die Wiedergabe dessen, was die Energieversorger öffentlich erklären, aber deswegen noch lange nicht
die Wahrheit.
({5})
Sie sind doch eine Partei, die etwas von Marktwirtschaft
hält. In den 41 Prozent sind 10 Prozent enthalten, die die
Kommunen als Konzessionsabgaben bekommen. Nun
können Sie nicht sagen, dass eine Konzessionsabgabe
eine Steuer sei. Wenn jemand eine Leitung über Ihr privates Grundstück legt und damit Geld verdient, dann, so
vermute ich, kennt Ihr Altruismus Grenzen und Sie werden Ihrerseits von ihm Geld verlangen. Nichts anderes
machen die Städte und Gemeinden. Das nennt man Konzessionsabgabe. Die ist in den 41 Prozent enthalten. Das
hat mit Steuern und Abgaben wenig zu tun. Übrigens
liegt der Anteil der Kosten für die regenerativen
Energien bei 3 Prozent. Das, was allerdings stimmt, ist,
dass die Netznutzungsentgelte unserer Oligopolisten bei
35 bis 40 Prozent liegen.
({6})
- Nein, weit über 30 Prozent, zum Teil bis zu 40 Prozent.
Das ist zum Teil doppelt so hoch wie im Rest Europas. Nun sage ich Ihnen, warum ich ein Freund der
Marktwirtschaft bin: weil wir Wettbewerb brauchen,
nicht aber Oligopole.
({7})
Darin liegen die eigentlichen Probleme, die wir in den
Griff bekommen müssen, aber nicht bei der Debatte über
regenerative Energien.
Ich habe mich aber nicht gemeldet, um Ihnen zu widersprechen - das mache ich sowieso ungern -, sondern
um zu dem Antrag des Kollegen Fell einige Bemerkungen zu machen. Ich schätze Ihr Engagement für erneuerbare Energien sehr. Ich glaube auch, dass das Erneuerbare-Energien-Gesetz eine wirkliche Erfolgsstory in
Deutschland ist. Es wird nicht umsonst in 30 Staaten der
Welt kopiert. Ich wäre vorsichtig mit dem Begriff Subvention; denn sonst kommen wir schnell in die Debatte,
was wir eigentlich bei anderen Energieformen gemacht
haben, um sie marktfähig zu machen. Bei der Kernenergie, Herr Kollege Mißfelder, waren wir doch auch nicht
so zimperlich. Dagegen ist das, was wir bisher im Bereich der erneuerbaren Energien einsetzen, eher ein zurückhaltender Betrag.
({8})
Deswegen, Herr Kollege Fell, stimme ich manchem
zu, aber Sie schießen mit Ihrem Antrag ein bisschen über
das Ziel hinaus. Ich habe mich aus einem Grund gemeldet, nämlich weil ich etwas zu dem Thema Kohle sagen
wollte. An einer Stelle schreiben Sie, wir hätten wichtige
energiepolitische Entscheidungen auf die lange Bank geschoben. Da will ich nur in aller Freundschaft darauf
hinweisen: Die Bank ist jetzt 87 Tage alt. Ich verweise
auf das, was wir gemacht haben:
Wir haben die zweite Kiotoverpflichtungsperiode mit
auf den Weg gebracht.
({9})
Wir bereiten jetzt den Nationalen Allokationsplan II
vor. Bis zum 30. Juni müssen wir ihn vorlegen.
({10})
Wir haben den Ausbau der Nutzung erneuerbarer
Energien fortgesetzt.
({11})
Im Jahr 2020 wird der Anteil der erneuerbaren Energien
bei bis zu 25 Prozent liegen, wie in der von Ihnen zitierten Studie erwähnt.
Die Koalitionsfraktionen haben ein CO2-Minderungsprogramm auf dem Gebiet der Gebäudesanierung auf
den Weg gebracht. Das war übrigens das Erste, was
CDU/CSU und SPD in den Koalitionsverhandlungen
verabredet haben. Ich glaube, das ist aller Ehren wert. Es
bedurfte keines Antrags im Deutschen Bundestag - das
wussten wir vorher -, um dafür vier Jahre lang 1,4 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen.
({12})
Wir setzen eine Kraftstoffstrategie um, die nicht
mehr nur auf Nischen ausgerichtet ist. Auch ich persönlich bin sehr dafür, Herr Kollege Fell, dass diejenigen,
die in Anlagen investiert haben, Vertrauensschutz genießen müssen. Die Koalitionsfraktionen, CDU/CSU und
SPD, wollen eine industriepolitische Strategie, die vom
Öl wegführt und dennoch für eine automobile Gesellschaft steht.
({13})
Das ist etwas anderes, als dafür einzutreten, Raps anzubauen und in Mühlen zu investieren. Rapsanbau und
Windenergie waren Nischen, die auf dem Markt den
Durchbruch geschafft haben. Das ist wirklich wichtig
gewesen. Wir brauchen aber Kraftstoff der zweiten Generation; Qualitäten müssen definiert werden. Wir wollen nicht, dass der Anteil von Biokraftstoffen bei
3,5 Prozent stehen bleibt. Wir wollen, dass dieser Anteil
auf 10 Prozent, 20 Prozent oder mehr steigt. Dieses Ziel
liegt unserer Strategie zugrunde. Wir verdienen Ihre Unterstützung und keine Diskreditierung unserer Arbeit.
({14})
Was Sie fordern, haben wir in Genshagen beschlossen: die Erhöhung der Mittel im Haushalt des Umweltministeriums für Forschung und Entwicklung und die
Erhöhung der Mittel für das Markteinführungsprogramm
im Bereich der Förderung der regenerativen Wärmeenergie. All das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, haben wir
auf den Weg gebracht.
Wenn Sie sagten: „Okay, ihr habt in 87 Tagen eine
Menge auf den Weg gebracht; aber das reicht uns noch
nicht“, dann wäre ich einverstanden. Übrigens, was wir
bisher auf den Weg gebracht haben, reicht auch uns
nicht. Deswegen wollen wir mehr machen. Aber auf die
lange Bank geschoben hat diese Koalition überhaupt
nichts.
({15})
Ich gebe zu: Sie hat einige überrascht. Das wollten wir
aber. Sie sollten sich im Grunde darüber freuen.
Was ist der Kernfehler Ihres Papiers?
({16})
- Ich habe nichts dagegen. Mich muss nur jemand danach fragen, ob ich sie zulasse. Dann sage ich Ja.
Ich lasse aber nicht zu, dass eine Zwischenfrage gestellt wird, weil Ihre Redezeit bereits überschritten ist.
Sorry, dann müssen wir uns auf den letzten Punkt
konzentrieren.
Was ist der eigentliche Vorwurf an Sie? Bei einem
Anteil regenerativer Energien von 20 bis 25 Prozent und
der Unterstützung des Wachstumspfades durch höhere
Energieeffizienz und Energiesparen müssen 75 bis 80 Prozent des Energiebedarfs auf der Basis fossiler Brennstoffe gedeckt werden. Dies kann man nicht erreichen,
wenn man so vorgeht, wie Sie es hier bezüglich der
Kohle gefordert haben.
({0})
Der Kohleabbau darf nicht aufgegeben werden; vielmehr
braucht man effizientere Technologien, Stichwort „CO2Minderung“.
({1})
Deswegen kann man zu Sequestration, Clean Coal und
Clean Gas nicht Nein sagen. Die Kohle muss Bestandteil
der energiepolitischen Strategie Deutschlands sein. Dies
auszublenden und der Versuch, alles auf den Bereich
„regenerative Energien“ zu konzentrieren, schaden der
Debatte über diese Energien; denn dadurch werden
Messlatten gelegt, die wir immer wieder reißen müssen.
Es ist übrigens unrealistisch, zu glauben, ein Technologieland wie Deutschland könnte darauf verzichten,
Technologien für Kohle, Gas und Öl zu entwickeln. Das
sind nämlich Brennstoffe, die in Entwicklungs- und
Schwellenländern genutzt werden. Das werden wir ihnen wohl kaum verbieten können. Wir wollen, dass diese
Länder unsere Anlagentechnik nutzen,
({2})
damit sie das Klima nicht in gleicher Weise schädigen,
wie wir es in den letzten 100 Jahren getan haben. Das ist
eine moderne Strategie in der Energiepolitik. Sie hat
große Befürworter in dieser großen Koalition.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Hans-Kurt Hill von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine sichere Energieversorgung muss
sozial gerecht und ökologisch verträglich sein. Zurzeit
ist sie weder das eine noch das andere.
({0})
Den Antrag der Fraktion der Grünen zur Energieversorgung bezeichne ich als Rundumschlag: von allem ein
bisschen. Trotzdem begrüßen wir diesen Antrag durchaus. Ich muss Ihnen jedoch vorhalten, dass Sie in den
letzten sieben Jahren der Regierung Wesentliches verschlafen haben. Die fatale Abhängigkeit von Energieimporten steht nicht erst seit diesem „russischen Winter“ in
der Kritik. Wir halten an unserer bisherigen Forderung
fest: konsequenter Umstieg insbesondere auf heimische
erneuerbare Ressourcen und Steigerung der Energieeffizienz.
Aber Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der
CDU, „Koch-en“ lieber weiter Ihre giftige Atomsuppe.
Dabei ist bei der Atomlobby Geldgier das einzige Motiv
dafür, auf Kosten der Menschen und der Umwelt Laufzeitverlängerungen durchzusetzen.
({1})
Tatsache ist, dass ein Reaktor bei einer Laufzeitverlängerung um ein Jahr 300 Millionen Euro Reingewinn
bringt. Wir wissen natürlich nicht, was zum Beispiel
Herr Koch in der Zukunft noch vorhat. Er hat leuchtende, ja strahlende Beispiele. Aber ich sage Ihnen ganz
offen, werte Kolleginnen und Kollegen: Wer weiter
Atomkraft fordert, hat nach unserer Meinung kein Verantwortungsbewusstsein.
({2})
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
sind für den Importanstieg bei den Energieträgern
ebenso verantwortlich. So baut Herr Schröder eine neue
Gasautobahn. Es bleibt abzuwarten, ob bei Minister
Gabriel den Ankündigungen auch tatsächlich Taten folgen. Auf jeden Fall hat das Energiekartell Zeit, munter
den Status quo zu zementieren.
({3})
Der Umbau der Kraftwerksparks ist, wie Sie wissen, in vollem Gange. Die Energieversorger planen und
bauen neue Erdgaskraftwerke und im größeren Umfang
Stein- und Braunkohleblöcke. Der geplante Anteil an erneuerbaren Energien liegt bei unter 1 Prozent, und das
nur, weil der Emissionshandel nicht konsequent angewandt wird. Die CO2-Zertifkate werden beim Neubau
von Kraftwerken als Persilscheine für alte Technik verteilt. Dabei geht der Missbrauch im Emissionshandel zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Auf deren
Stromrechnung hat das Ganze nun wirklich nichts zu suchen!
({4})
Aber ich will das Erreichte gar nicht kleinreden. Das
EEG ist ein Erfolgsmodell, mit Brief und Siegel der EUKommission. Die Branche der erneuerbaren Energien ist
nicht untätig gewesen, wie Sie auch heute der Presse entnehmen können. Sie plant allein in diesem Jahr den Ausbau von 1 500 Megawatt Windleistung. Das ist die Größenordnung von zwei Atomkraftwerken. Bis 2020 will
die Branche 200 Milliarden Euro investieren und wird
damit eine halbe Million Arbeitsplätze schaffen. Da
spielt die Musik, meine Damen und meine Herren!
({5})
Energieeffizienz ist in Zukunft der wichtigste Baustein - das wird in dem Antrag ganz richtig betont -,
aber wir brauchen dazu auch wirksame Instrumente. So
müssen zum Beispiel auch Energieverbrauchskennzeichnungen von Haushaltsgeräten kontrolliert werden. Es
gibt Bundesländer, die acht Jahre nach Einführung des
Labels immer noch keine Behörden für den Vollzug benannt haben. Das ist mir unbegreiflich.
({6})
Ein schlimmes Beispiel ist das Land, aus dem ich
komme, das Saarland. Dort erwartet man, dass der Bund
den Vollzug regelt. Wenn ich dafür Noten vergeben
müsste, würde ich sagen: Föderalismusreform: Eins,
aber Ordnungsrecht: Sechs und setzen!
({7})
Ein weiteres Thema, das CO2-Gebäudesanierungsprogramm. So wie Sie das planen, meine Damen und
Herren von der Regierung, greift das ins Leere. Sie verteilen mit der Gießkanne und wollen Maßnahmen fördern, die ohnehin vorgeschrieben sind. Dabei muss
Ihnen doch klar sein, dass Entwicklungen wie die Passivhaustechnik, die 90 Prozent der Wärmeenergie einspart, dann einfach auf der Strecke bleiben. Ich möchte
Ihnen vorschlagen, die Förderung nach dem Einspareffekt zu bemessen und den Geldtopf besser auszustatten.
Herr Minister Steinbrück sollte die 1,5 Milliarden Euro
Mehreinnahmen, die er über die hohen Energiepreise erhalten hat, dafür herausrücken.
({8})
Oder will man einen Teil des Bundeshaushalts über die
Preistreiberei auf dem Energiemarkt - wiederum zulasten der Verbraucher - sanieren?
Zum Schluss werde ich noch kurz auf den Antrag zu
den Biokraftstoffen eingehen. Die Steuerbefreiung reiner Biokraftstoffe muss beibehalten werden.
({9})
Das machen die höheren Aufwendungen, zum Beispiel
bei der Herstellung, beim Vorhalten der Tankanlagen
und bei der Umrüstung der Motoren, notwendig. Außerdem ist das für die Förderung der Wirtschaft im ländlichen Raum unverzichtbar. Die Mitnahmeeffekte bei Biodiesel sind zwar aus Sicht der Hersteller begrüßenswert,
aber da müssen wir natürlich aufpassen. Dass der Biosprit auf dem Markt so erfolgreich ist, darf nicht dazu
führen, dass die Branche für das Stopfen des Haushaltslochs herhalten muss. Ich würde empfehlen, dass wir den
Biodiesel behutsam an eine Besteuerung heranführen.
Der Beimischzwang macht nur Sinn als zusätzlicher
Baustein. Voraussetzung ist hier, wie gesagt, dass die reinen Biokraftstoffe wie Pflanzenöl über verlässliche Zeiträume befreit bleiben.
Lassen Sie mich schließen mit einem Zitat von
Thomas Nordmann und Christian Schmidt aus dem
Buch „Im Prinzip Sonne“:
Die Sonne scheint, als erste und letzte Energie. Sie
verströmte ihre Kraft, bevor die Vegetation vergangener Zeiten zu Öl verfaulte, bevor der Mensch
lernte, wie sich Uran spalten lässt, und sie wird
noch da sein, wenn es all diese Energien dank Einsicht nicht mehr geben wird.
Vielen Dank.
({10})
Herr Kollege Hill, ich gratuliere Ihnen recht herzlich
zu Ihrer ersten Rede hier in diesem Hohen Hause. Ich
bin überzeugt, Sie werden das auch in Zukunft ohne demonstrative Unterstützung Ihrer Fraktion schaffen. Alles
Gute!
({0})
Das Wort hat der Kollege Hans Michelbach, CDU/
CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion hat in den vergangenen Jahren immer zum Aufbau der neuen Wirtschaftsbranche Biokraftstoffe gestanden. In meinem Bundesland werden 75 000 Tonnen produziert. Damit leistet es
seit sieben Jahren einen erheblichen Beitrag zur Veresterung. Das heißt, unser Bundesland hat im Bereich Biokraftstoffe eine großartige Leistung vollbracht. Deren
Markteinführung wurde durch Steuervergünstigungen
gefördert.
Die staatliche Förderung zur Einführung eines neuen
Produktes am Markt ist natürlich immer wieder zu hinterfragen, insbesondere dann, wenn in der Vergangenheit
unverantwortlich mit dem Bundeshaushalt umgegangen
wurde. Die Grünen, die den vorliegenden Antrag gestellt
haben, haben in der Vergangenheit jedoch im finanziellen Bereich jegliches Bemühen um Nachhaltigkeit ignoriert.
Ökonomische Fragen scheinen sie generell nicht zu
interessieren, sonst würden sie solche Anträge nicht stellen.
({0})
Wir müssen letzten Endes aber immer wieder die ökonomische Frage stellen, ob wir staatliche Ressourcen
verschwenden, wenn wir, nachdem wir für die Markteinführung eines Produktes Anreize geschaffen haben, dauerhaft Unterstützung leisten. Diese Frage ist insbesondere dann positiv zu beantworten, wenn stattdessen ein
Beitrag zur Konsolidierung des Gesamthaushaltes geleistet werden kann.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Loske?
Ich darf bitten.
Herr Kollege Michelbach, Sie sprachen gerade über
Ökonomie und damit über Wirtschaft. Die Zuständigkeit
für die Energiepolitik liegt zumindest teilweise auch
beim Wirtschaftsministerium. Bedeutet nun die Tatsache, dass bei dieser energiepolitischen Grundsatzdebatte
nur der Umweltminister anwesend ist, dass die Zuständigkeit für Energiepolitik komplett vom Wirtschaftsministerium abgezogen wurde?
({0})
Ich gehe nicht davon aus, dass das letzten Endes nicht
mehr in die Zuständigkeit des Wirtschaftsministeriums
fällt. Der Wirtschaftsminister Michael Glos weiß natürlich, dass wir anwesend sind und dass es aufgrund des
versammelten Sachverstandes der Unionsfraktion zu
keiner Fehlleistung kommen wird.
({0})
Wollen Sie noch eine klügere Frage stellen?
({1})
Herr Kollege Loske, ich denke, der Kollege
Michelbach sollte jetzt in seiner Rede fortfahren.
({0})
Herr Loske, wir werden das bilateral fortsetzen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Wirtschaft benötigt wettbewerbsfähige Energiepreise. Firmenverlagerungen
aus Kostengründen nutzen niemandem etwas, sondern
schaden unserer Volkswirtschaft. Das können und sollten
wir uns nicht mehr leisten. Ich glaube, wir sollten die
energiepolitische Ideologie der Grünen überwinden und
Wege der ökonomischen Vernunft beschreiten.
({0})
Lieber Herr Kollege Fell, es ist einfach falsch, dass
wir Biokraftstoffe vom Markt verschwinden lassen oder
die Wertschöpfung der Landwirte ins Ausland verlagern
wollen,
({1})
wie dies der Antrag der Grünen suggeriert. Richtig ist:
Wir wollen keine überzogenen Steuerpläne, sondern
Marktfähigkeit, Sicherung des Produktes und finanzielle
Solidität; denn die finanziellen Ressourcen des Staates
bilden auch für die zukünftige Wachstumsentwicklung
und gerade für die Einführung eines neuen Produktes
eine wesentliche Grundlage.
({2})
Deswegen beleuchten wir die Wettbewerbsfähigkeit, die
Umweltvorteile, das Marktgeschehen und natürlich auch
die Investitionssicherheit bei neuen Konzepten. Wir haben uns mit folgenden Herausforderungen zu befassen,
wenn wir dies sachgerecht und verantwortungsbewusst
leisten wollen:
Erstens müssen wir den EU-rechtlichen Vorgaben
zum Verbot der Überkompensation Rechnung tragen und
eine entsprechende Prüfung vornehmen.
Zweitens müssen wir die haushalterischen Konsolidierungsaufgaben wahrnehmen.
Drittens müssen wir der Marktsicherung und Marktförderung in Bezug auf Biokraftstoffe durch eine Beimischungspflicht dauerhaft Rechnung tragen. Das kann nur
durch ein marktfähiges Produkt geschehen. Sicherheit
für die Zukunft wird nur erreicht, wenn das Produkt auf
Dauer marktfähig und wettbewerbsfähig ist. Das ist ein
wichtiger Grundsatz.
Die vierte Herausforderung ist die Strukturerhaltung
bei unseren Landwirten durch eine lokale Wertschöpfung.
Fünftens müssen wir für eine längerfristige Planungssicherheit bei Investitionen in dieser Branche sorgen.
Dazu bekennen wir uns.
Im Zusammenhang mit den EU-rechtlichen Vorgaben muss überprüft werden, ob die Steuerbegünstigung
zu einer Überkompensation führt. Ich glaube, dass der in
dem Entwurf des Energiesteuergesetzes gefundene Ausgleich für die Überkompensation von 10 bzw. 15 Cent
nicht zwingend nachvollziehbar ist. Er schießt wohl etwas über das Ziel hinaus. Das müssen wir prüfen. Zum
einen werden bisher keine tatsächlichen Grundlagen für
die Zahlen genannt. Das stört mich; die Zahlen müssen
unterfüttert werden. Man kann nicht nur eine Überkompensation in den Raum stellen, sondern muss das prüfen
können. Wir sind der Gesetzgeber, der für ein solches
Steuergesetz zuständig ist. Deswegen müssen wir hier
genau hinschauen.
Zum anderen sind die Produktionsschritte bei Pflanzenöl nicht wesentlich geringer, sodass ein Abstand von
5 Cent eher willkürlich erscheint. Ich glaube, dass reine
Pflanzenöle letzten Endes nicht in die Besteuerung hineinkommen können.
({3})
Es ist auch zu überlegen, ob der Eigenverbrauch in der
Landwirtschaft freizustellen ist. Darüber muss man reden, ohne dass wir deswegen die Bürokratie ausweiten
müssten. Man muss sich Agrardieselregelungen anschauen, die im Zusammenhang mit dieser Steuerregelung möglich wären.
Möglich wäre auch die Einführung eines Mindestabstandsgebots in Bezug auf fossile Brennstoffe. Auch
darüber müssen wir nachdenken.
Problematisch an diesem Steuergesetz ist sicher, dass
der Preis für fossile Brennstoffe nicht nur innerhalb der
Handelswege schwankt, sondern auch unter den tatsäch1396
lichen Herstellungspreis von Biokraftstoffen fallen
könnte, wenn die Masse der Biokraftstoffe steigt. Das
muss man sich mit Blick auf ein Gesetz genau anschauen.
Ebenso sollte man über eine Cross-Compliance-Regelung in dem Entwurf des Energiesteuergesetzes
nachdenken
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
- und sich Gedanken machen, ob man dadurch den
Landwirten neue Chancen eröffnet.
In diesem Sinne möchte ich deutlich machen: Wir haben eine Aufgabe, die mit diesem Energiesteuergesetz
auf dem Tisch liegt. Wir wollen eine sachbezogene Steuerkonzeption, die dauerhaft Planungssicherheit für alle
Marktteilnehmer bietet. In diesem Sinne können sich
alle Marktteilnehmer auf die Union verlassen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
schreibt unter Punkt 11 ihres Antrages, die Koalition
werde beim Gebäudesanierungsprogramm einen Investitionsstau auslösen. Ich darf dazu die „Financial Times
Deutschland“ von gestern zitieren:
So beweglich kann Haushaltspolitik sein: Im Vorgriff auf das 25-Milliarden-Wachstums- und Beschäftigungspaket … hat die Bundesregierung Anfang Februar das Rennen um die Fördermittel
eröffnet. Doch damit nicht genug: Die Förderkonditionen … sind attraktiver und übersichtlicher geworden.
({0})
Zum zweiten Mal haben Sie bei der Beurteilung dieses Programms deutlich daneben gegriffen. Das erste
Mal war, als Sie während der Koalitionsverhandlungen
behauptet haben, die SPD müsse sich daran messen lassen, ob sie eine Verdopplung der Mittel für dieses Programm erreicht. Wir haben heute eine Vervierfachung
der Mittel geschafft. Erkennen Sie endlich an, dass
Tempo in diese Sache hineingekommen ist.
({1})
Wir stellen die Energieeffizienz in den Mittelpunkt;
das Gebäudesanierungsprogramm ist nicht der einzige
Punkt. Wir werden weitere Initiativen vorstellen. Eine
Initiative ist dabei das Top-Runner-Programm. Es war
übrigens schon eine SPD-Initiative zur Zeit der rot-grünen Koalition. Denn wir haben immer vermisst, dass das
Umweltministerium das Thema Energieeffizienz genauso in den Vordergrund stellt wie andere Themen. Das
wird sich nun ändern.
Man merkt ein wenig, dass Sie in der Opposition angekommen sind. In früheren Koalitionszeiten haben Sie
akzeptiert, dass Top-Runner allein schon wegen der Binnenmarktrichtlinie eine europäische Initiative sein muss.
In Ihrem neuen Antrag fordern Sie, auf nationaler Ebene
zu handeln, wissend, dass das nicht geht.
({2})
Ein weiterer Bereich sind die erneuerbaren Energien. Herr Mißfelder, 2005 betrugen die Investitionen in
Deutschland in diesem Bereich 9 Milliarden Euro. Das
ist schon eine tolle Sache. Es gibt auch hervorragende
Zahlen für die Windenergie. Wir können außerdem einen
Boom bei der Biomasse und bei der Solarenergie feststellen. Außerdem ist der Start bei der Geothermie erfolgt. Im Übrigen wären wir bei der kleinen Wasserkraft,
die auch im Antrag der Grünen erwähnt wird, weiter,
wenn der Streit innerhalb der Grünen-Fraktion während
der Zeit der rot-grünen Koalition, ob man die kleine
Wasserkraft ausbaut oder nicht, nicht immer so heftig
gewesen wäre.
Letzter Punkt: Atomdebatte. Sie machen jetzt immer
das Spielchen „Sigmar allein zu Haus“. Ich glaube, dieser Bundesminister könnte das notfalls auch alleine
stemmen.
({3})
Aber er ist nicht alleine. Das Haus ist eher schon überbevölkert. Neben den üblicherweise verdächtigen Sozialdemokraten wie Struck, Müntefering und Platzeck sind
nun Merkel und Kauder mit in dieses Haus eingezogen
und haben klar gesagt, was gilt, nämlich der Koalitionsvertrag.
({4})
Wenn ich den Antrag der Grünen lese - unter Punkt 1
wird vom „energiepolitischen Stillstand“ gesprochen -,
dann muss ich feststellen, dass Ihr Antrag nicht ernst gemeint ist. Sie suchen händeringend nach einem Thema.
Sie haben nämlich ein Problem: Die Grünen haben nicht
erwartet, dass die SPD so erfolgreich in den Koalitionsverhandlungen ist.
({5})
Ich nenne den Atomausstieg, die Fortsetzung der Förderung bei den erneuerbaren Energien, Energieeffizienz
und das Nationale Naturerbe.
Es ist richtig, dass man sich auseinander setzt. Aber
auf die Art und Weise, wie Sie es machen, helfen Sie
dem Umweltschutz nicht, sondern betreiben Parteipolitik.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel HappachKasan, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Einen Punkt möchte ich gerne aufgreifen: Wir wissen
alle noch nicht, wer sich auf diese große Koalition verlassen kann. Auch Sie wissen es nicht. Denn das, was
Sie im Bereich der Mineralölsteuerbefreiung für Biokraftstoffe angerichtet haben, ist ein unbeschreibliches
Chaos.
({0})
Innerhalb von vier Monaten gab es vier verschiedene
Steuermodelle. Das ist unschlagbar; das hat bisher noch
niemand geschafft.
Herr Minister Gabriel, ich darf Sie daran erinnern:
„Mehr Rapsöl in den Tank“, das war vor der Wahl. Was
ist nach der Wahl? - Ich fand den zweiten Teil Ihrer
Rede gar nicht schlecht.
({1})
Aber wo ist Ihr Handeln? Wir müssen feststellen, dass
Sie immer noch nicht wissen, wie Sie das Energiebesteuerungsgesetz tatsächlich gestalten wollen. Nach wie vor
gibt es keine Einigung mit dem Landwirtschaftsminister
und mit dem Finanzminister.
({2})
Niemand in dieser Republik weiß also, wie es mit den
Biokraftstoffen tatsächlich weitergehen wird.
({3})
Wir müssen feststellen, dass die Mineralölsteuerbefreiung für biogene Kraftstoffe enorm viel bewirkt
hat. Herr Kelber, Sie loben die Investitionsleistungen in
diesem Bereich, die es unter den alten Rahmenbedingungen gab. Aber was ist jetzt der Fall? Wir wissen alle,
dass Investitionen, die für dieses Jahr geplant waren, inzwischen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben
worden sind oder in England bzw. in Schweden und
nicht mehr in Deutschland geplant werden. Diese Entwicklung braucht unser Land wirklich nicht.
({4})
Wir haben aufgrund der Rahmenbedingungen eine
Erhöhung des Rapsanbaus gehabt - das ist richtig - und
wir haben eine Erhöhung der Investitionen in diesem Bereich feststellen können. Auch das ist gut gewesen. Es
gab die Entwicklung von entsprechenden Technologien.
Wir sind Marktführer in diesem Bereich. Auch das ist
gut. Es wurden Arbeitsplätze geschaffen und es gab entsprechende Steuereinnahmen. Diese Steuereinnahmen
sind so hoch wie die Einnahmen, die Minister
Steinbrück durch die Aufhebung der Mineralölsteuerbefreiung in diesem Bereich erwartet. Das ist ein Spiel in
der Sandkiste: hier ein Haufen und da ein Haufen. Das
führt zu überhaupt nichts und bringt keine klaren Strukturen und keine Sicherheit für die Betriebe, die in diesen
Bereich investiert haben.
({5})
Wir fordern für die Herstellung von Biokraftstoffen
die gleiche planerische Sicherheit, wie Sie sie beispielsweise bei der Windkraft gewähren.
({6})
Wir brauchen zumindest bis zum 1. Januar 2009 eine
Mineralölsteuerbefreiung und dann eine Nachfolgeregelung. Wir brauchen die gleiche Besteuerung für den Fall,
dass nur der Biokraftstoff getankt wird, und für den Fall,
dass er beigemischt wird. Es ist doch absurd: Wollen wir
auch die Eier unterschiedlich besteuern, je nachdem ob
sie Frühstückseier sind oder in den Kuchen gerührt werden? Das macht man doch nicht. Das kann doch nicht
richtig sein.
({7})
Wir wollen keinen Beimengungszwang, weil wir meinen, dass wir mit der bisherigen Politik der Mineralölsteuerbefreiung wesentlich besser gefahren sind, als dies
bei einem Beimischungszwang jemals der Fall sein
kann.
Ich fordere die Bundesregierung auf, planerische Sicherheit für die Betriebe der Biokraftstoffbranche zu gewährleisten. Ich fordere sie auch auf, weit mehr in diese
Technologie zu investieren. Denn wir wissen, dass wir
die Technologie des Einsatzes von Rapsmethylester weiterentwickeln müssen, wenn wir es tatsächlich schaffen
wollen, den Weg weg vom Öl erfolgreich zu beschreiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat der Kollege Reinhard Schultz, SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich will mich auf das Thema der Biokraftstoffe konzentrieren, weil meine Redezeit durch meine
Vorredner großzügig beansprucht worden ist,
({0})
wobei Herr Kelber nett zu mir war, wie ich sagen muss;
ansonsten wäre ich gar nicht mehr an die Reihe gekommen.
Ich glaube, es geht hier um eine Umstellung von einem Versuchsbetrieb auf einen Normalbetrieb. Der
Minister hat davon gesprochen, dass die nationale Kraftstoffstrategie dazu dienen soll, neben dem Zertifikathandel und der Gebäudesanierung auch im Bereich Verkehr
Reinhard Schultz ({1})
ein verlässliches CO2-Minderungsprogramm zu gestalten und zu mehr Unabhängigkeit von Mineralölimporten
zu kommen. Dieses Massenproblem, das es ja letztendlich ist, muss man mit einer massenhaft wirksamen Lösung angehen. Das bedeutet, die Menge an Biokraftstoffen in ein neues Verhältnis zum Kraftstoffverbrauch
insgesamt zu setzen. Das ist das Beimischungsgebot
bzw. die Beimischungsquote. Das ist eine verlässliche
Zahl, die den Deutschen, aber möglicherweise auch ausländischen Teilnehmern einen riesigen Markt eröffnet.
Ich verrate Ihnen kein Geheimnis, wenn ich sage,
dass der Biodieselmarkt schon jetzt zu weit mehr als
40 Prozent aus Importprodukten besteht. Die reinen
Pflanzenöle, die getankt werden, kommen zu einem großen Teil aus Ungarn, weil sie dort aus welchen Gründen
auch immer besonders günstig hergestellt werden können und - das ist nett - bei Aldi bzw. an Spezialtankstellen verkauft werden. Sie werden in den seltensten Fällen
bei uns hergestellt.
Natürlich sind wir - wie bei allen anderen Produktionen auch - daran interessiert, dass ein großer Teil der
Wertschöpfung - möglichst der größte - im Land bleibt.
Deswegen wollen wir keine Stranded Investments, sondern ein vernünftiges Verhältnis von Importen und einheimischer Produktion insbesondere im Hinblick auf
diejenigen Länder, die das neue Produkt Bioethanol ausgesprochen günstig herstellen können und auch importieren wollen, dies derzeit aber noch nicht im gewünschten Maße können, weil ein Außenschutz besteht. Herr
Fell, wir beide wissen: Dieser wird schrittweise abgebaut werden müssen. Deswegen müssen wir dem rechtzeitig mit vernünftigen Möglichkeiten begegnen.
Das Beimischungsgebot ist also die Regellösung.
Darum herum kann man natürlich für eine Übergangszeit bei neuen Produkten wie BTL-Kraftstoffen oder anderen dabei bleiben, diese Produkte mit Steuerbefreiungsinstrumenten oder anderen Instrumenten zu fördern.
({2})
Aber bei Produkten, die Marktreife haben, ist das nicht
erforderlich. Auf der einen Seite wollen wir diese besteuern; das ist auch mein Interesse als Finanzpolitiker.
Auf der anderen Seite wollen wir ein Produkt haben, das
massenhaft zum Einsatz kommt und hilft, CO2-Emissionen massiv zu senken. - Das ist das eine.
Dies steht aber, wie Sie wissen, noch gar nicht im
Energiesteuergesetz, so wie es angekündigt worden ist.
({3})
In der Übergangsphase steigen wir vorsichtig in die Besteuerung von Biokraftstoffen, insbesondere von Biodiesel, ein. Dies gilt in der ersten Phase nicht für Bioethanol, sondern nur für Biodiesel, Beimischungsprodukte
und reines Pflanzenöl.
In einem Bericht, der dem Bundestag im Vorlauf zu
diesem Gesetz zugeleitet worden ist und der entsprechend den Beihilfebestimmungen der EU erstellt worden
ist, wurde für mich sehr eindeutig nachgewiesen, dass in
diesem Bereich eine Überförderung besteht. Die Überförderung wird an den Herstellungs- und Anwendungskosten gemessen; denn wenn die Kosten zur Nachrüstung eines Motors besonders hoch sind, muss das
genauso Eingang finden wie die Herstellungskosten. In
diesem Fall ist es eindeutig; hier streite ich mich nicht
um einen halben Cent. Der Finanzminister ist mit seinen
Besteuerungsvorschlägen deutlich unter den Überförderungstatbeständen geblieben: Bei Biodiesel liegt eine
Überförderung bei 14 Cent vor; vorgeschlagen ist eine
Besteuerung von 10 Cent.
Herr Kollege, Ihnen wurde etwas Redezeit genommen. Sie müssen sich an die neue Zeit halten.
Ich bin auch fast am Schluss meiner Rede. - Bei den
Beimischungsprodukten liegt eine Überförderung bei
19 Cent vor; hier ist eine Besteuerung von 15 Cent vorgesehen. Das heißt, es wurde bewusst ein Abstand eingehalten, weil wir den Markt in dieser Situation nicht überfordern wollen und weil es sich um eine Übergangsregelung
handelt, auf dem Weg zu einem Beimischungsgebot als
Regelinstrument.
Gehen Sie mit uns diesen Weg. Das werden die Landwirte danken, das wird die Umwelt danken und nicht zuletzt auch der Fiskus. Auch im Rahmen der Mineralölsteuerdiskussion ist dies ein vernünftiger Gesichtspunkt.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/579 und 16/583 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand
der deutschen Einheit 2005
- Drucksache 15/6000 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD, ein Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP und ein Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung,
Wolfgang Tiefensee.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Einmal im Jahr wird der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit vorgelegt.
Wir diskutieren heute den Bericht, den Sie seit September 2005 kennen. Diejenigen unter Ihnen, die die
Fakten zur Kenntnis genommen haben, werden ihre
Schlüsse daraus ziehen. Dieser Bericht ist die Basis, aufgrund derer wir den Stand des Aufbaus Ost und die zukünftigen Vorhaben diskutieren können.
Aufgrund der Bewertung in diesem Bericht, aufgrund
der Trends, die sich ihm entnehmen lassen, stellen wir
fest, dass es ein Sowohl-als-auch gibt, eine äußerst
schwierige Situation, die einer genauen Betrachtung bedarf. Lassen Sie mich dies an einigen Beispielen deutlich
machen. Wir haben auf der einen Seite Zuwächse im
verarbeitenden Gewerbe, auf der anderen Seite aber
mehr als eine Stagnation in der Bauwirtschaft. Wir haben auf der einen Seite prosperierende Regionen, Innovationskerne in Jena, Dresden, um Berlin herum, in
Chemnitz und in Leipzig, aber auf der anderen Seite zu
wenig Potenzial für Forschung und Entwicklung in den
Industriebetrieben. Wir haben auf der einen Seite eine
Landwirtschaft, die sich im Weltmaßstab durchaus messen lassen kann, auf der anderen Seite aber große Probleme im ländlichen Raum. Wir haben durch eine
gezielte Förderung die Wohnungsbaugesellschaften stabilisieren können. Wir haben einen besseren Bestand an
denkmalgeschützten Gebäuden, die Innenstädte prosperieren. Auf der anderen Seite aber sind Leerstände zu
verzeichnen. Noch schwieriger wird es, wenn wir uns
den Arbeitsmarkt anschauen. Hier haben wir auf der einen Seite einen Mangel an Nachwuchsfachkräften; die
Qualifikation entspricht nicht dem, was nachgefragt
wird. Auf der anderen Seite haben wir eine hohe Arbeitslosenquote.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Aufbau
Ost ist mithin ein Sowohl-als-auch. In der Debatte gilt
es, von einer Schwarzmalerei wegzukommen.
({0})
Es gilt, sowohl das Erreichte zu respektieren und herauszustellen als auch ganz dezidiert auf die Probleme und
Herausforderungen hinzuweisen. Es nützt also nichts, im
großen Ganzen zu diskutieren. Lassen Sie uns genauer
hinschauen!
Das erste Fazit ist: Die Entwicklung des Ostens ist gekoppelt an die Entwicklung Gesamtdeutschlands und
eingebettet in die europäischen und internationalen
Trends.
({1})
Wer diese Verbindung missachtet, wer allein glaubt, dass
sich der Osten aus sich selbst heraus entwickeln kann,
der verleugnet die Tatsachen.
Die Bundesregierung hat an diesem Punkt angesetzt
und hat einiges getan - heute Morgen ist viel darüber diskutiert worden -, um mit einem Programm für Wachstum
und Beschäftigung für ganz Deutschland auch dafür
Sorge zu tragen, dass es in den neuen Bundesländern vorangeht. Ich denke, das ist aller Ehren wert und das ist der
richtige Weg. Gesamtdeutschland muss in der Wirtschaft
vorankommen.
({2})
Das Zweite. Wir müssen den zeitlichen Horizont sehen. Wir befinden uns in der Spanne von 1989 bis 2019
im zweiten Drittel. Derjenige, der die Lösung im Handumdrehen erwartet, derjenige, der der Bevölkerung suggeriert, man könne es in wenigen Monaten oder Jahren
schaffen, der weckt falsche Erwartungen, die am Ende in
Aggressionen oder in Lethargie umschlagen können.
Wir müssen also immer die Zeithorizonte beachten.
Das Dritte. Die Bundesregierung setzt auf Wachstumskerne und will sie in der Verbindung mit der sie
umgebenden Region entwickeln. Das Entscheidende
wird also sein, in der Zukunft einerseits die Mittel auf
diese Wachstumskerne zu konzentrieren und andererseits dafür zu sorgen, dass es ein Netzwerk, eine Verbindung, ein Bündnis hin zur Region gibt, damit die Lokomotiven die Hänger, die Tender in der Region mitziehen
können.
({3})
Wir gehen davon aus, dass wir beispielsweise mit der gezielten Förderung über GA diese Wachstumsmotoren
voranbringen können.
({4})
Wir reagieren damit auf einen weiteren Trend, den es zu
beachten gilt, nämlich die Demographie.
Ein Weiteres lesen wir aus dem Bericht: Wir müssen
auf die Wachstumsbranchen setzen. Hier gibt es erfreuliche Anzeichen. Wir wollen unser Konzept der
Branchenkonferenzen, der Stärkung von Netzwerken
fortführen, weil wir glauben, darin liegt die Zukunft für
das Wachstum im Osten.
({5})
Wenn es uns gelingt, diese Nuklei stärker auszubauen,
noch stärker in Forschung und Entwicklung, in die
Kopplung von Hochschulen, Universitäten und Instituten an die Wirtschaft zu investieren, dann wird der Aufschwung Ost gelingen.
Ein nächstes Thema, mit dem wir uns beschäftigen
müssen, ist die Solidität des Mittelstandes. Auch im Osten Deutschlands spielt der Mittelstand eine entscheidende Rolle. Wenn jedes Unternehmen mit zehn Beschäftigten einen weiteren Beschäftigten generiert, dann
wäre ein Großteil der Probleme gelöst. Aus diesem
Grund muss die Investitionszulage verstetigt werden.
({6})
Wenn wir auf den Arbeitsmarkt schauen, sehen wir
noch immer eine bedrückend hohe Zahl von Arbeitslosen. Meine Damen und Herren, an dieser Stelle geht es
schon ein Stück um Emotion und Leidenschaft; denn
hinter diesen großen Zahlen stehen Einzelschicksale,
stehen qualifizierte Menschen, die ihre Arbeitskraft anbieten, aber ihr Einkommen nicht mit ihrer Hände Arbeit, nicht mit ihrem Kopf verdienen können. Aus diesem Grund müssen wir auf dieses Problem fokussieren.
Wir wissen: Wenn die Bundesregierung 1 Milliarde
Euro in den Kreislauf einspeist, dann können 25 000
neue Arbeitsplätze entstehen. In dem Moment, wo wir
die Wirtschaft voranbringen, entstehen Arbeitsplätze
auch im Osten. Wir setzen auf den Mittelstand, wir setzen auf Innovationen - durch solche Programme wie
Inno-Watt - und wir setzen darauf, dass die Existenzgründungen vorangetrieben werden; hier haben wir hervorragende Erfolge. Wir brauchen aber auch eine Umgehensweise mit denjenigen, die für längere Zeit keinen
Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt finden.
({7})
Aus diesem Grund gelten unsere Anstrengung und
auch die Justierung der Instrumente nicht nur dem Kriterium: Inwieweit gelingt es, Menschen aus der Arbeitslosigkeit in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen? Sie gelten
auch dem Kriterium: Inwieweit gelingt es, Menschen
eine sinnvolle Überbrückungszeit zwischen der Abstinenz vom Arbeitsplatz und der Wiedereinstellung auf
dem ersten Arbeitsmarkt zu verschaffen?
Hier gilt es, Qualifikationen voranzutreiben, Wiedereingliederungsmaßnahmen finanziell zu unterstützen
- Sie wissen, dass wir dafür ein Milliardenprogramm
auflegen - und die Motivation zu stärken, nicht zuletzt
dadurch, dass wir die Disparitäten zwischen Ost und
West beim Arbeitslosengeld II abbauen.
({8})
Aus diesem Grund wollen wir im Osten das
Arbeitslosengeld II an das Westniveau anpassen.
({9})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ahrendt?
Gern.
Herr Minister, Sie haben eben ausgeführt, dass
1 Milliarde Euro 25 000 Arbeitsplätze schafft. Wie werden die Arbeitsplätze, die verloren gehen, zukünftig
kompensiert, wenn man sich vor Augen hält, dass den
neuen Bundesländern durch den Kompromiss beim EUHaushalt ungefähr 5 Milliarden Euro im Zeitraum von
2007 bis 2014 verloren gehen werden?
({0})
Sie geben mir die Gelegenheit, schon jetzt einen weiteren Punkt anzusprechen, den ich ohnehin noch angesprochen hätte, nämlich die Frage der finanziellen
Sicherheit des Ostens. Die Bundesregierung hat zugesagt - nicht nur in der Koalitionsvereinbarung, sondern
bei jeder sich bietenden Gelegenheit -, dass die Gelder
aus dem Solidarpakt II, das gilt sowohl für den Korb I
wie auch für den Korb II, in voller Höhe bis 2019 zur
Verfügung stehen.
({0})
Die EU-Gelder, die Sie ansprechen, also die Mittel
aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung,
die laut der Finanzvorschau ab dem Jahre 2007 verringert werden, müssen im Kontext betrachtet werden. Die
Bundesregierung hat die 51 Milliarden Euro im Korb II,
zu denen neben der GA und den europäischen Mitteln
noch andere Positionen gehören, bis zum Jahre 2019 zugesagt. Sie wird dafür Sorge tragen, dass das in vollem
Umfang und auch bei sinkenden Geldern der EU gilt.
({1})
Noch eine weitere Bemerkung: Vielleicht ist es Beleg
einer hervorragenden Entwicklung in einigen Regionen,
dass immerhin drei Regionen des Ostens aus dem Ziel-1Gebiet-Status in den Ziel-2-Gebiet-Status gelangt sind.
Obwohl man in diesen Regionen den Höchstfördersätzen
natürlich nachweint, muss man auf der anderen Seite sagen, dass das Bruttoinlandsprodukt, bereinigt durch den
statistischen Effekt, offensichtlich über die 75-ProzentGrenze gestiegen ist und damit eine positive Entwicklung in einer Reihe von Regionen im Osten zu verzeichnen ist.
({2})
Diese findet ihre Entsprechung leider auch in sinkenden
Zuwendungen der EU, die ja darauf gerichtet sind, genau
diesen Angleichungsprozess zu unterstützen.
({3})
Ein weiteres Thema, das ich aufgreifen möchte, ist,
wie wir für die finanzielle Stabilität in den ostdeutschen
Ländern sorgen. Es kommt darauf an, die Gelder des
Solidarpaktes II ergänzt durch andere Positionen zu verstetigen.
({4})
Darf ich Ihnen einige kurz anreißen? Wir wollen im
Haushalt 2006 die Mittel für das Programm „Soziale
Stadt“ erhöhen. Wir wollen die Gemeinschaftsaufgabe
auf dem im Koalitionsvertrag beschriebenen Niveau halten.
({5})
Wir wollen die Programme „Stadtumbau Ost“ fortsetzen
und werden hier zusätzliches Geld investieren. Das alles
kommt den Bürgerinnen und Bürgern im Osten direkt
zugute.
Lassen Sie mich zum Schluss ein weiteres mir wichtiges Thema ansprechen. Es wird im Osten noch stärker
vorangehen, wenn wir nicht nur Problembewusstsein
schaffen, nicht nur den Sinn für die Zeithorizonte schärfen, sondern wenn wir auch erheblich mehr für die Motivation der Menschen tun. Letztlich muss es darum gehen, die Kräfte der Bürgergesellschaft insbesondere im
Osten zu stärken. Denn der Aufbau Ost geschieht nicht
nur in Berlin und in den Landeshauptstädten, sondern
vor allem auch vor Ort.
Aus diesem Grund richte ich auch von diesem Podium aus den dringenden Appell an uns alle: Tun wir alles, um die Menschen im Osten zu motivieren, ihr
Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, und unterlassen
wir alles, was defätistisch ist, die Menschen niederdrückt
und unsere erreichten Erfolge schmälert.
({6})
Bauen wir lieber gemeinsam auf Vereine, Verbände, die
Kommunen, die Oberbürgermeister und Landräte
({7})
und auf diejenigen im Osten, die ihr Schicksal selbst in
die Hand nehmen können.
({8})
Wenn all das gelingt, wird aller Voraussicht nach auch
der Bericht zum Stand der deutschen Einheit 2006 weitere gute Tendenzen aufweisen.
Ich sage noch einmal: Wir sind weit davon entfernt, in
unseren Anstrengungen nachlassen und uns ausruhen zu
können. Wir haben viel erreicht, aber wir haben auch
noch viel zu tun. Die Herausforderungen, die sich uns allen gemeinsam stellen, warten.
Vielen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Günther,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, zu Beginn möchte ich ganz klar sagen:
Das, was Sie zum ersten Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit gesagt haben, war
ein guter Einstand.
({0})
Allerdings werden wir genau das tun, was Sie gegen
Ende Ihrer Rede erwähnt haben: Wenn Sie Ihren nächsten Bericht zum Stand der deutschen Einheit vorlegen,
werden wir abrechnen.
Der Form halber möchte ich daran erinnern, dass es
CDU/CSU und FDP, indem sie im letzten Jahr einen gemeinsamen Entschließungsantrag eingebracht haben,
überhaupt erst ermöglicht haben, dass dieser Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit auch in Zukunft
verfasst wird. Wie wichtig er ist, können wir meiner
Meinung nach heute sehen.
({1})
Um es vorwegzunehmen: Die positive Grundstimmung Ihres Berichts ist gerechtfertigt.
({2})
Es wurden wirklich sichtbare Fortschritte erzielt: bei der
Infrastruktur, dem Bauwesen, dem Städtebau und in anderen Bereichen.
({3})
Wie Sie sehen, betreibe ich keine Schwarzmalerei, was
ja schon befürchtet wurde. Ich möchte uns alle auffordern, im Rahmen unserer politischen Argumentation öfter einmal das Positive und nicht immer zunächst das
Negative zu betonen.
({4})
Es gibt nämlich zwei, drei Punkte, die man erwähnen
sollte: Wir haben immer wieder die große Gabe, die OstWest-Diskussion an einigen Punkten, an denen es meiner
Meinung nach nicht notwendig wäre, zu vertiefen. Als
Stichworte nenne ich den Solidarpakt II und den Solizuschlag. Durch solche Diskussionen werden Gräben
geschaffen, nicht aber zugeschüttet. Vielmehr sollten wir
mehr darüber informieren, welche Mittel nach Ostdeutschland fließen und wie sie eingesetzt werden. Außerdem sollten wir Rechenschaft darüber ablegen, ob sie
Joachim Günther ({5})
richtig eingesetzt werden. Als Stichwort nenne ich die
Bundesergänzungsmittel, die vorrangig für Investitionen
vorgesehen sind. Hier gibt es zwischen den verschiedenen Ländern große Unterschiede.
Aufgrund der Presselage in dieser Woche möchte ich
sagen: Es muss sich endlich bis nach Zweibrücken herumsprechen, dass der Solizuschlag auch von den Menschen im Osten Deutschlands gezahlt wird
({6})
und dass er nicht etwa zweckgebunden für den Osten
eingesetzt wird, sondern eine Einnahme des Gesamthaushaltes des Bundes ist.
({7})
Im vorliegenden Bericht wird die Arbeitslosenquote
in Ostdeutschland mit der Arbeitslosenquote in Westdeutschland verglichen: Im Osten liegt sie bei über
18 Prozent, im Westen bei 8 Prozent. Daran zeigt sich
ein echtes Manko des Berichts: Wie es um die deutsche
Einheit steht, ist nicht allein an der Differenzierung zwischen Ost und West zu erkennen; denn mittlerweile gibt
es auch in den alten Bundesländern Gebiete, in denen die
Arbeitslosenquote so hoch wie im Osten Deutschlands
ist.
({8})
Auch dieser Gedanke sollte meiner Meinung nach in die
zukünftigen Jahresberichte zum Stand der deutschen
Einheit einfließen.
Wir sollten uns in Zukunft mit der entscheidenden
Frage beschäftigen, warum die Arbeitslosenquote im
Osten flächendeckend so hoch ist. Hierfür sind aus meiner Sicht viele Mängel verantwortlich, die aus der Übertragung der gesellschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse resultieren. Sie ließen sich nicht eins zu eins, wie
wir uns das vorgestellt hatten, übertragen. Wenn sich
trotz finanzieller Unterstützung nichts bewegt, müssen
wir neue Maßnahmen ergreifen und neue Wege gehen.
Wir haben dazu in der Vergangenheit Vorschläge unterbreitet und sie in unseren jetzigen Antrag aufgenommen.
({9})
- Man muss sie wiederholen, damit sie sich einprägen:
Modellregionen, Länderöffnungsklauseln, Sonderwirtschaftszonen, Mittelstandsförderung. Ich stimme mit
dem Minister in dieser Hinsicht voll überein und bin optimistisch, dass das Ganze jetzt schnell umgesetzt wird.
Lassen Sie mich einen Satz aus der letzten Debatte zitieren:
Schon seit längerer Zeit fordern wir Sie auf, mit
dem Bürokratieabbau sowie der Verkürzung von
Planungs- und Genehmigungszeiten - das geht weit
über das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz hinaus - Ernst zu machen.
Recht hat Arnold Vaatz. Er hat ja gleich die Gelegenheit,
zu sagen, wie schnell das jetzt umgesetzt werden soll.
All das ist ja praktisch schon einmal auf den Weg gebracht worden. Wir als FDP stehen dazu und werden unsere Unterstützung dafür geben.
Wir haben auch in der Förderpolitik konkrete Wege
aufgezeigt. Es ist richtig: Wir brauchen Wachstumskerne, an die sich andere Gebiete anhängen dürfen.
Aber wir müssen auch diesen anderen Gebieten eine Perspektive bieten. Denn wo die Infrastruktur wenig ausgeprägt ist, sind die Abwanderung und die Arbeitslosenzahl hoch. Da gleicht die demographische Entwicklung
fast einer Katastrophe. Übrigens gilt das für Ost und
West fast in gleichem Maße. Nur kann man das im Osten
an einigen Stellen schon im Detail sehen, im Westen
steht diese Situation noch bevor. Dem gilt es vorzubeugen.
({10})
Ich möchte ein Beispiel aus dem Gesundheitswesen
nennen. Im Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit 2005 wird das Gesundheitswesen im Osten relativ positiv dargestellt. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Aufgrund der Altersstruktur der
Ärzte und der Abwanderung aus bevölkerungsarmen
Landstrichen wird von der Ärztekammer zum Beispiel
Folgendes festgehalten:
Behandlungsbedürftige Patienten müssen eine Entfernung von bis zu 50 km überwinden, um einen
Arzt zu erreichen … In absehbarer Zeit werden sich
weiße Flecken in der hausärztlichen Versorgung
auftun. Ganze Landstriche werden ohne Hausarzt
dastehen.
Auch solche Punkte müssen wir bei der Diskussion
beachten. Denn manche Probleme kann man nicht flächendeckend betrachten; sie betreffen nur einzelne Regionen, einzelne Gebiete. Deshalb ist es besser, in Zukunft
mehr auf regionale Unterschiedlichkeiten zu achten.
({11})
Der Bericht der Regierung ist dieses Jahr so umfangreich wie lange nicht. Sie haben Ihren Koalitionsvertrag
dort hervorragend abgebildet. Dagegen gibt es nichts zu
sagen; viele Punkte sehen wir genauso. Am stärksten
brennt uns der Wegfall von EU-Fördermitteln - ein
Drittel weniger im Zeitraum 2007 bis 2013; das sind
Millionenbeträge - auf den Nägeln. Herr Minister, ich
freue mich, dass Sie zugesichert haben, dass das ausgeglichen wird;
({12})
ich habe es so verstanden und das hat die CDU in ihrem
letzten Antrag ja auch so gefordert. Ich kann Ihnen dazu
nur viel Erfolg wünschen und hoffe, dass auf den Aufbau Ost durch die Streichung von EU-Fördermitteln am
Ende keine zusätzlichen Einbrüche zukommen.
({13})
Wir haben unseren Antrag vorgelegt. Ich bin gespannt, wie wir in der Diskussion an dem einen oder anJoachim Günther ({14})
deren Punkt noch zueinander finden können. Wir sollten
im Interesse der Menschen nach vorn schauen und uns
nicht in kleinkarierten Diskussionen verlieren.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, Professor Dr. Wolfgang Böhmer.
({0})
Dr. Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident ({1}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich wollte Ihnen in dieser Debatte einmal die
Sicht eines neuen Bundeslandes „zumuten“.
({2})
- Das bestreite ich doch gar nicht. Ich will Sie auch loben; warten Sie es ab.
({3})
Erstens. In allen Bereichen, in denen es nicht um die
wirtschaftliche Entwicklung, den Arbeitsmarkt und die
Verschuldung geht, ist die Wiedervereinigung in
Deutschland, die innere Einheit, so weit hergestellt, dass
wir aus meiner Sicht kaum noch eine gesonderte Debatte
über dieses Thema brauchen.
({4})
Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein purer Zufall
ist, dass die beiden Männer aus Sachsen, die jetzt im Irak
in Geiselhaft genommen worden sind, für Gesamtdeutschland haften sollen. Es ist aber kein Zufall, dass
wir im Osten und im Westen sowie im Süden und im
Norden unseres Landes in gleicher Weise Anteil an ihrem Schicksal nehmen, auf ihre Freilassung hoffen und
darum bitten und kämpfen.
({5})
Sobald aber von Geld und Finanzen die Rede ist,
wird der Ton in Deutschland - auch in den Medien - etwas unfreundlicher. Das erleben wir jedes Jahr. Lassen
Sie mich deswegen bitte auch etwas zu dem Maßstab sagen, mit dem in den Fortschrittsberichten gemessen, bewertet und beurteilt wird. Wenn man die Situation nur
haushaltstechnisch, nur fiskalisch und nur mit den unter
den Finanzministern vereinbarten Maßstäben misst,
dann ist alles richtig und dann gibt es nichts abzustreiten.
Wenn es aber darum geht, den Wirtschaftsstandort unter
Wettbewerbsbedingungen und zum größten Teil gegen
einen gesättigten Markt aufzubauen - wo wir doch alle
wussten, dass wir viel mehr als Konsumenten denn als
Produzenten gefragt sind -, dann muss man eben nicht
nur in Beton und Fabriken, sondern auch in Ausbildung,
Fortbildung und vor allen Dingen in Innovationen, in
Entwicklungsförderung usw. investieren.
All dies zählt haushaltstechnisch aber nicht zu den investiven Mitteln. Deswegen müssen wir uns das regelmäßig mit so freundlichen Formulierungen wie der, dass
das Geld zum Stopfen von Haushaltslöchern im Osten
verplempert werden würde, um die Ohren hauen lassen.
Diese Diskussion tun wir uns regelmäßig an, weil wir
über diese Probleme mit der falschen Messlatte und viel
zu einseitig diskutieren.
({6})
Wir haben auch noch einige andere Probleme. Ich
höre mit großer Dankbarkeit, dass in den Diskussionen
immer wieder ausgesagt wird, dass der Solidarpakt und
der Korb II wie vereinbart weiter gelten und unverändert umgesetzt werden. Das ist unbestritten. Ich bitte
aber, wenigstens darauf aufmerksam zu machen, dass
die Probleme im Detail stecken. Bei der Definition der
Begriffe, durch die gezeigt wird, was denn nun alles zum
Korb II gehört, sind Interpretationen möglich. Es waren
clevere Finanzbeamte, die das wussten.
({7})
Sie wussten, dass sich dort die eigentlichen Stellschrauben befinden, an denen man in beide denkbaren Richtungen drehen kann. Deswegen bitten wir darum - nicht erst
seit gestern -, dass wir uns darüber einigen, mit welchen
Definitionen festgelegt wird, was in diesen Korb eingerechnet werden kann und was nicht.
Wir waren schon einmal so weit. Herr Tiefensee, mit
Ihrem Amtsvorgänger, Herrn Stolpe, hatten wir uns in
der Ministerpräsidentenkonferenz schon einmal darauf
geeinigt, dass wir mit der Bundesregierung darüber in
Gespräche kommen. Das ist vom damaligen Bundesfinanzminister zurückgenommen worden - so will ich
einmal sagen -; denn diese Diskussion hätte im Grunde
genommen dazu geführt, dass der Bund auf diese Stellschrauben verzichtet hätte.
Für die eigene Planungssicherheit möchten wir, dass
wir dieses Thema einmal ausdiskutieren können; denn
wir werden - auch das steht uns bevor - in der Föderalismuskommission noch einige schwierige Grundsätze entscheiden müssen. Ich weiß, dass es viele Länder in
Deutschland gibt, die für einen Wettbewerbsföderalismus schwärmen. Wir müssen ihnen sagen: Wir haben ja
nichts dagegen, aber Wettbewerb setzt voraus, dass wenigstens am Start die gleichen Chancen bestehen.
({8})
Die sehen wir über längere Zeit noch nicht. Deswegen
ist unser Ziel bestenfalls ein kooperativer Gestaltungsföderalismus, über dessen Ausgestaltung wir uns wahrscheinlich noch öfter und sicherlich auch kontrovers unterhalten müssen.
({9})
Ministerpräsident Dr. Wolfgang Böhmer ({10})
Dass die jetzige Bundesregierung ausdrücklich eine
Deregulierungsmaßnahme vorgesehen hat, registrieren
wir mit großer Dankbarkeit. Wir haben das in SachsenAnhalt hinter uns und sind dort ganz schnell an unsere
Grenzen gestoßen. Ich sage Ihnen voraus: Alle Verbände, vor allem die Wirtschaftsverbände, die das fast
jeden Tag von Ihnen fordern, werden in Beweisnot kommen, wenn Sie von ihnen verlangen, dass sie ganz konkrete Beispiele dafür nennen, wo es langgehen soll.
({11})
Trotzdem haben wir ein echtes Deregulierungsproblem. Ich kann mich erinnern, dass mir schon in den frühen 90er-Jahren viele Verwaltungsbeamte gesagt haben,
dass sie die Wirtschaft in den alten Bundesländern in den
50er-, 60er- und frühen 70er-Jahren mit diesem Regelungsdickicht auch nicht hätten aufbauen können.
Deswegen erhoffen wir uns von der Föderalismuskommission, insbesondere bei der Umsetzung von Verwaltungsvorschriften und Bundesgesetzen etwas mehr Länderkompetenz zu erreichen.
({12})
Jeder von Ihnen weiß, dass dieses Problem noch nicht
ausdiskutiert ist, wir hier aber trotzdem zu einer Lösung
kommen müssen.
Verehrte Kollegen von der FDP, Ihre Forderung nach
Modellregionen setzt voraus, dass wir dafür die verfassungsmäßige Grundlage schaffen. Ansonsten reden wir
hier über Phantome. Die Probleme in diesem Bereich
müssen jetzt - ich hoffe, dass uns dies gelingt - durch
Länderöffnungsklauseln gelöst werden, sodass wir insbesondere für die neuen Bundesländer mehr Beweglichkeit erreichen.
Ich sage auch, wo die Grenzen sein werden. Die
ewige Forderung, mit der Gießkannenförderpolitik aufzuhören, halte ich bloß noch für Polemik in den Medien.
In keinem mir bekannten Bundesland wird dieses Prinzip verfolgt; denn das können wir uns gar nicht mehr
leisten. Alle Bundesländer - von Mecklenburg-Vorpommern bis Thüringen - haben in der Zwischenzeit ihre eigenen Schwerpunkte herauskristallisiert. Diese sind
durchaus unterschiedlich. Selbstverständlich konzentrieren wir uns bei der Förderung auf Schwerpunkte. Aber
- darin müssen wir uns einig sein - welches Land an
welcher Stelle welchen Schwerpunkt setzt, sollten die
Länder - das ist meine Bitte - selbst entscheiden.
({13})
Ich sage das deswegen, weil ich die Diskussion
kenne, die Förderkapazitäten des Bundes zusammenzufassen und gleichsam in Berlin zu entscheiden, was in
den neuen Bundesländern wo gefördert wird. So stellen
wir uns das nicht vor.
({14})
- Da will ich ganz vorsichtig sein. Ich habe schon früher
gesagt - Ihr früherer Chef weiß das -: Eine Wiederholung der Staatlichen Plankommission schwebt uns nicht
vor.
({15})
Neben diesen Problemen werden wir auch noch die Zukunftsgestaltung untereinander ausdiskutieren müssen.
Sie haben zu Recht auch die Arbeitsmarktproblematik angesprochen. Ich erlebe das, was uns allen schon
längst klar ist und was wir nur noch umsetzen müssen:
Die modernen Investitionen sind nicht nur immer kapitalintensiver, sondern in der Wirtschaft wird immer weniger Arbeit ausgekoppelt. Das heißt, die aktuellen Probleme werden sehr wahrscheinlich nicht nur in
Gesamtdeutschland, sondern auch in allen mitteleuropäischen Industrienationen akut werden.
Für mich ist erkennbar sicher, dass es zwischen dem
geschützten sozialtransferfinanzierten, nicht nachfrageorientierten Arbeitsmarkt auf der einen Seite - den es
schon immer gegeben hat - und dem freien, marktorientierten, am Wettbewerb teilnehmenden Arbeitsmarkt auf
der anderen Seite irgendeine Übergangslösung, teils in
Form von Sozialtransfers, teils tariffinanziert, geben
muss, die wirtschaftsfern zu organisieren ist, die aber
Langzeitarbeitslosen trotzdem eine Zukunftsperspektive
bietet.
Darüber diskutieren wir. Ich habe die herzliche Bitte,
dass wir diese Diskussion erst dann abschließen, wenn
wir wenigstens in einigen Ländern - die neuen Bundesländer sind dazu geradezu prädestiniert - Modellversuche unterschiedlichster Art zulassen, die wir dann gemeinsam auswerten, bevor endgültig über Modelle, wie
etwa über den Kombilohn, entschieden wird. Aber darüber werden wir noch lange debattieren müssen.
({16})
Ich bin dankbar, dass inzwischen die Verlängerung
der Dauer der Investitionszulage offensichtlich unstrittig ist. In den Koalitionspapieren haben wir, um dafür
unter uns eine Mehrheit herzustellen, allerdings nicht
nur von Verlängern und Weiterentwickeln gesprochen.
Ich könnte Ihnen auch sagen, welche Hintergründe das
hat. Schon die Verlängerung der Dauer der Zulage ist
wichtig. Wenn wir uns im Zusammenhang mit den anderen Maßnahmen, die ich jetzt, wenn es um die Mittel für
die GA geht, bewusst nicht anspreche, über eine komplexe Lösung hinsichtlich der Verlängerung der Dauer
der Investitionszulage und eine entsprechende Verteilung der GA-Finanzierung einig werden, dann halte ich
auch diese Probleme trotz der kontroversen Debatte für
lösbar.
Ich möchte noch eine weitere Bitte formulieren. Vieles wird für die neuen Bundesländer davon abhängen,
wie wir die Konditionen für die Kofinanzierung strukturieren. Es hat keinen Zweck, uns Geld zur Verfügung
zu stellen, das wir gerne einsetzen möchten, dies aber
ohne eine exorbitante Verschuldung nicht tun können.
Ministerpräsident Dr. Wolfgang Böhmer ({17})
Dadurch sind wir zum Teil in eine schwierige Situation
gekommen, für deren Lösung wir keines neuen Geldes
bedürfen. Vielmehr ist bei der Regelung zur Kofinanzierung ein größeres Verständnis füreinander notwendig.
Wir diskutieren zurzeit über die Verteilung der EUMittel. Mir ist bekannt, dass der Bund ein eigenes, aus
EFRE-Mitteln finanziertes Verkehrsprogramm auflegen
möchte. Das halte ich für ausgesprochen gut und sinnvoll und meine, dass es darüber sehr schnell zu einem
Konsens kommen wird.
Was aber das vom Bund geplante ESF-Programm mit
einem Volumen von etwa 1,3 Milliarden Euro angeht,
haben wir - das sage ich deutlich - relativ große Bedenken, weil die in diesem Programm vorgesehenen Maßnahmen unserer Meinung nach auf Landesebene geplant
und umgesetzt werden sollten. Führt der Bund ein solches Programm durch, können wir die Mittel nur im
Rahmen einer Kofinanzierung abrufen. Dadurch erhöht
sich der Aufwand für uns. Wenn wir hinsichtlich der Erleichterung der Kofinanzierung und der Verteilung der
EU-Mittel auf die einzelnen Programme und die unterschiedlichen Ebenen einen Konsens finden, halte ich
aber die Probleme im gegenseitigen Interesse für lösbar.
Ich möchte ein letztes Problem ansprechen: die demographische Entwicklung. Bei diesem Thema wird deutlich, dass der Aufbau Ost eine gesamtdeutsche Aufgabe
ist.
({18})
Die DDR ist zusammengebrochen, weil die Menschen
davongelaufen sind. Wir müssen den Aufbau Ost so
strukturieren, dass die Abwanderung der Bevölkerung
in möglichst kurzer Zeit zumindest so weit aufgehalten
wird, dass die Bevölkerungsbilanz ausgeglichen werden
kann. Noch können wir viele negative Folgen einer starken Abwanderung vermeiden.
Aus diesem Grunde ist es mir sehr wichtig, festzuhalten, dass es nicht nur im Interesse des Bundes, sondern
auch aller deutschen Bundesländer liegt, dass wir die regionalen Probleme in den neuen Bundesländern in einem
überschaubaren Zeitraum in den Griff bekommen. Dafür
wollte ich auch an dieser Stelle werben.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Lothar Bisky,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bertolt Brechts „Kinderhymne“ beginnt mit den
Zeilen:
Anmut sparet nicht noch Mühe,
Leidenschaft nicht noch Verstand,
Dass ein gutes Deutschland blühe,
Wie ein andres gutes Land.
Das scheint mir immer noch aktuell zu sein, und zwar
nicht nur für einen Teil des Landes.
({0})
Der Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit
behandelt aber leider nur den Aufbau Ost. Überdies liest
sich der Bericht wie eine unendliche Geschichte vom
„Nachbau West“. Wie sonst ist es zu erklären, dass die
ostdeutschen Verbände in dem Bericht gar nicht erwähnt
werden? Der Arbeitslosenverband, die Volkssolidarität
und das Kuratorium ostdeutscher Verbände kommen mit
ihren Erfahrungen und Vorschlägen aus 15 Jahren deutscher Einheit nicht vor.
Ich habe in Ihrer bemerkenswert sachlichen Rede,
Herr Minister,
({1})
den Hinweis auf Verbände und Vereine zur Kenntnis genommen und bin guter Hoffnung, dass diese Verbände
im nächsten Jahr berücksichtigt werden. Man muss zwar
nicht auf alles eingehen, aber erwähnen sollte man sie
schon.
Vieles im Zusammenhang mit Ostdeutschland nach
der Wende ist positiv hervorzuheben, zum Beispiel die
individuellen politischen Freiheiten, die Entwicklung
der technischen und medialen Infrastruktur und die
Weltoffenheit. Bei allem Vorwärtsschauen dürfen aber
die vorhandenen Probleme nicht verschwiegen werden.
Der Aufholprozess Ost ist - Ihre eigenen Zahlen belegen das nachdrücklich - in ein heftiges Stocken geraten. Die Schere zwischen Ost und West wird nicht weiter
geschlossen. Im Gegenteil: Sie öffnet sich wieder. Das
hat zu dem Problem der massenhaften Abwanderung der
jungen, leistungsstarken Menschen aus dem Osten geführt. Aus dem Bericht geht nicht hervor, wie Sie dieses
Problem lösen wollen. Er geht zwar auf die alte Bundesregierung zurück, aber auch von der neuen Regierung
sind noch keine substanziellen Vorschläge dazu erfolgt.
({2})
Im Gegenteil: Gestern hat der Kollege Ramsauer von
der CSU vorgeschlagen, die Mittel für regionale Wirtschaftshilfen auch im Osten zu kürzen. Das ist Ihre Politik. Wir halten sie für falsch.
({3})
Sicher, der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen enthält manch richtigen Vorschlag,
({4})
wie zum Beispiel den, einen Schwerpunkt auf Bildung
und Ausbildung zu legen. Aber warum so zaghaft? Eine
„einvernehmliche Lösung bei der Bereitstellung von zusätzlichen Ausbildungsplätzen“, wie Sie es als Bitte an
die Bundesregierung formulieren, wird ein weiteres Mal
viele junge Menschen im Regen stehen lassen. Haben
Sie doch den Mut, endlich eine Ausbildungsplatzumlage
einzuführen!
({5})
Die Zauberformel zum Stopp der Abwanderung junger Leute aus dem Osten Deutschlands haben auch wir
von der Linken nicht.
({6})
Aber wir wissen: Junge Menschen brauchen eine Perspektive und wer eine Familie gründen will, der braucht
die Gewissheit, sie ernähren zu können. Genau deshalb
brauchen wir eine aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die diesen Namen auch verdient. Die Arbeitslosigkeit ist das zentrale Problem in Deutschland, in
Hessen und in Rheinland-Pfalz genauso wie in SachsenAnhalt und in Mecklenburg-Vorpommern. Aber im Osten Deutschlands gibt es mit fast 20 Prozent mehr als
doppelt so viele Arbeitslose wie im Westen. Die Jobs,
die es gibt, sind so schlecht bezahlt, dass es zum Leben
zu wenig und zum Sterben zu viel ist.
({7})
Deshalb werden wir morgen einen Antrag auf Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns einbringen.
Die politische Verantwortung für gleichwertige Lebensverhältnisse gehört in den Mittelpunkt der bundespolitischen Aufgaben. Die Probleme der Vereinigung
Deutschlands müssen als soziale Fragen des ganzen Landes behandelt und gelöst werden, in Frankfurt am Main
wie in Frankfurt an der Oder. Deshalb habe ich absolut
kein Verständnis dafür, dass die Bundesregierung in ihrem Bericht an der Agenda 2010 festhält. Arbeitsvermittlung wird dort nicht besser, wo keine Arbeitsplätze
sind.
({8})
Die Agenda 2010 hat sich in Ostdeutschland als das erwiesen, was sie in strukturschwachen Regionen nur sein
kann: ein Entvölkerungsprogramm, eine Enteignung
derjenigen, die in Umschulungen und Arbeitsfördermaßnahmen eine rasante Deindustrialisierung erlebt haben.
Etlichen droht nun mit Hartz IV und der Rente ab 67 tatsächlich Altersarmut.
({9})
Darüber können wir nicht einfach hinweggehen, wie es
der Jahresbericht glauben machen will, und so tun, als
wäre alles gut. Nein, das ist nicht gut. Das muss verändert werden.
({10})
Zumindest haben Sie sich endlich dazu durchringen
können, den Langzeitarbeitslosen im Osten Deutschlands 14 Euro mehr beim Arbeitslosengeld II zu zahlen.
Wie aber sind Sie nur auf die absurde Idee gekommen,
im Gegenzug das Arbeitslosengeld II für die jungen
Leute zu kürzen und sie obendrein zu entmündigen und
somit junge Erwachsene zweiter und dritter Klasse zu
schaffen? Dazu sagen wir eindeutig Nein.
({11})
- Ich beglückwünsche Sie dann zum 40. Jahrestag dieses
Arguments. Dieser wird bald kommen, Herr Vaatz.
({12})
Es geht in Ostdeutschland um die Stabilisierung der
wirtschaftlichen und der sozialen Lage. Dazu hat die
Linke Vorschläge gemacht, die in unserem Entschließungsantrag nachzulesen sind. Sie treffen sich in vielen
Punkten mit dem, was die Dohnanyi-Kommission unterbreitet hat. Zu unseren Vorschlägen gehört selbstverständlich auch, die Kompetenzen und Leistungen der
Ostdeutschen endlich und umfassend zu achten und
diese Potenziale aktiv zu nutzen.
({13})
In den Debatten über die deutsche Einheit spielen die
gewaltigen Transferleistungen immer wieder eine herausragende Rolle. Sie haben in der Tat eine entscheidende Bedeutung. Ich will das ausdrücklich würdigen.
Ich wiederhole: Ich will das ausdrücklich würdigen.
({14})
Doch muss immer wieder daran erinnert werden
- Herr Kollege Günther von der FDP hat es dankenswerterweise gemacht -, dass auch im Osten Solidaritätszuschläge gezahlt werden. Man muss auch daran erinnern,
dass die Verschwendung von Transferleistungen für
sinnlose Großprojekte nur selten allein in ostdeutschen
Planungsbüros ausgetüftelt worden ist.
({15})
Meine Partei hat sich im Übrigen immer dafür eingesetzt, die Transfergelder statt für fragwürdige Großprojekte auch für den Mittelstand und für kleine Unternehmen einzusetzen, weil dann Arbeitsplätze entstehen.
Nie zuvor habe ich von Vertretern aller Parteien Beispiele aus der DDR so oft positiv erwähnt gefunden wie
im vergangenen Jahr. Sie, Herr Ministerpräsident
Böhmer, haben an die Kredite für junge Familien erinnert. Zwölf Jahre bis zum Abitur sind in einigen Bundesländern schon Realität und die Poliklinik erlebt zu Recht
eine Renaissance,
({16})
wenn sie in Ihrem Bericht auch als medizinisches Versorgungszentrum erscheint. Der Name ist nicht wichtig.
Wir sind uns mit Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, einig, dass die deutsche Einheit eine
Aufgabe Gesamtdeutschlands ist. Ihre Forderung, die
Bundesregierung möge ein Gesamtkonzept für den Aufbau Ost entwickeln, unterstützen wir. Darum haben wir
in unserem Entschließungsantrag unseren Vorschlag erneuert, einen speziellen Ausschuss für die Angelegenheiten der neuen Länder und anderer strukturschwacher
Regionen einzusetzen. Da können wir dann über alles reden. Das, was wir allerdings entschieden ablehnen, ist
Ihre Idee von den größeren Modellregionen für
Deregulierung.
({17})
Das Tarif- und Arbeitsrecht zu schleifen, wird keinen
einzigen Arbeitsplatz bringen. Das haben wir in
15 Jahren niedrigerer Löhne im Osten wohl hinreichend
gründlich erfahren dürfen.
({18})
Mich freut es, wenn Sie, wie im Bericht zu lesen ist,
mehr Ganztagsangebote in Kitas und Schulen als Plus
für die Bildung erkannt haben. Besser eine späte Einsicht als gar keine. Überhaupt sollten wir die Bildungspolitik genauso ernst wie die Wirtschaftspolitik nehmen.
Lassen Sie mich deshalb abschließend einen Redakteur
der „Süddeutschen Zeitung“ zitieren. Er schrieb im
Jahr 2005: Alle halten Bildung für wichtig, und alle haben sich daran gewöhnt, weniger dafür zu zahlen, als
notwendig und vernünftig wäre. - Ende des Zitats und
Ende meiner Redezeit.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Herr Kollege Bisky, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer
ersten Rede in diesem Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen
im Namen aller Kolleginnen und Kollegen und wünsche
Ihnen persönlich und politisch alles Gute.
({0})
Das Wort hat der Kollege Peter Hettlich, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bevor ich zu
meinen Ausführungen komme, möchte ich einige Vorbemerkungen machen. Ich bin 1990 von Köln nach Sachsen gezogen und habe die letzten 16 Jahre erlebt, wie der
Aufbau stattgefunden hat. Ich glaube, dass es wichtig ist,
die Würdigung der Leistungen der Ostdeutschen den Reden immer wieder voranzustellen.
Herr Minister, Sie haben eben von der Motivation
gesprochen, die wir in Ostdeutschland stärken müssten.
Ich habe in den letzten 16 Jahren erlebt, dass die Ostdeutschen besonders hoch motiviert waren. Schauen Sie
sich an, was die Ostdeutschen alles auf sich nehmen, um
eine Arbeit aufzunehmen, wie weit sie pendeln. Wir
müssen den Ostdeutschen nicht sagen, sie müssten stärker motiviert sein. Ich weiß, was Sie gemeint haben,
wollte aber betonen, dass sich die Westdeutschen, was
die Motivation angeht, eine Scheibe abschneiden könnten.
({0})
Weiterhin wurde in den Reden Optimismus und Pessimismus angesprochen. Dazwischen liegt für mich der
Realismus. Der verpflichtet uns aus meiner Sicht zu einem ehrlichen Umgang mit der Situation und den Menschen. Die Menschen in Ostdeutschland erwarten von
uns keine großen Hymnen, keine großen Programme
und keine Masterpläne, sondern sie erwarten eine offene
und ehrliche Analyse und ehrliche Botschaften. Und sie
erwarten von uns vor allen Dingen, dass wir einen langen Atem haben, dass wir uns ehrlich bemühen und
langfristig am Ball bleiben.
Den Politikern wird immer wieder vorgeworfen, dass
sie nur in Schritten von vier Jahren denken. Ein solches
Denken ist für den Aufbau Ost genau das Falsche. Wir
brauchen einen langen Atem. Wir sind in diesem Bereich
Marathonläufer und keine 100-Meter-Läufer.
({1})
Ich muss auch an dieser Stelle sagen - das ist eine
ehrliche Botschaft -: Die Lage in Ostdeutschland ist
schwierig. Auch wenn ich kein Pessimist, sondern ein
hoffnungsloser Optimist bin: Aus meiner Sicht ist die Situation dort schwieriger, als es von manchen heute gesagt wurde. Die weitere Entwicklung in Ostdeutschland
- ich wünsche mir, dass sie positiv verläuft - ist von Gefahren bedroht und diese Gefahren müssen wir benennen. Wir können den Menschen in Ostdeutschland nicht
immer nur „Das gibt es nicht“ sagen, sondern wir müssen auch konstruktive Vorschläge machen.
Der Anpassungsprozess zwischen Ost und West wird
aus meiner Sicht länger als 15 Jahre dauern. Ich weiß,
dass häufig der Überbringer einer Botschaft geprügelt
wird. Ich muss an dieser Stelle sagen: Meine Behauptung wird von einer ganzen Menge von Fachleuten gestützt. Auch sie sagen, dieser Anpassungsprozess wird
nicht in 15 Jahren zu schaffen sein; wir werden einen
längeren Zeitraum brauchen. Auch an diesem Punkt sage
ich: Hier braucht es Marathonläuferqualitäten und keine
Kurzatmigkeit. Wir werden diesen Prozess aus meiner
Sicht über einen sehr viel längeren Zeitraum begleiten
müssen.
Ich möchte über drei Handlungsfelder sprechen.
Manche Kollegen haben den demographischen
Wandel angesprochen. Eines sollte uns bewusst sein:
Dieser Prozess ist nicht mehr umkehrbar. Diese Entwicklung hat schon vor vielen Jahren begonnen. Professor Sedlacek von der Universität Jena hat gesagt: Die
Geburtenraten in Deutschland sinken bereits seit dem
Jahre 1890. 1937 war das letzte Jahr, in dem die Zahl der
Geburten in Deutschland die der Todesfälle ausgeglichen hat. Der demographische Wandel findet also seit
fast 70 Jahren in verschärftem Maße statt. Die Geburtenrate in der DDR lag zwischenzeitlich deutlich über dem
westdeutschen Niveau. Heute ist die Geburtenrate in
Ostdeutschland niedriger als die in Westdeutschland.
Das Problem ist: Dieser Prozess ist nicht mehr umkehrbar. Da vor 20 Jahren zu wenige Kinder geboren
wurden, fehlt es heute an Frauen, die Kinder zur Welt
bringen. Wir müssen ganz deutlich sagen: Diese Entwicklung werden wir nicht ändern. Wir müssen diesen
Prozess begleiten und gestalten; aber wir werden ihn
nicht umkehren. Wir werden ihn vielleicht verlangsamen
können.
({2})
Hinzu kommt - darauf hat auch Kollege Bisky eben
hingewiesen - die Abwanderung. Wenn wir ein bisschen
genauer hinschauen, erkennen wir, dass Abwanderung
aus Ostdeutschland nicht immer unbedingt etwas damit
zu tun hat, dass die jungen Leute dort weggehen, weil sie
keine berufliche Perspektive haben. Sie gehen zum Teil
weg, weil die Angebote in Westdeutschland besser sind.
Ich habe mit dem Arbeitsamtsleiter von Bautzen gesprochen. Er hat mir gesagt: 40 bis 50 Prozent der jungen
Leute, die weggehen, haben einen Job; aber sie gehen
weg, weil die westdeutschen Unternehmen attraktivere
Bedingungen bieten. Wir wollen keine Mauer hochziehen und keinen Zaun bauen, um diesen Menschen den
Weggang zu verwehren. Dennoch handelt es sich um ein
Problem. An dieser Stelle zeigt sich natürlich die Krux:
Mit niedrigen Löhnen in Ostdeutschland kommen wir
nicht weiter.
({3})
Das muss doch einmal deutlich gesagt werden.
Junge Leute verlassen Ostdeutschland auch wegen
der problematischen Ausbildungsperspektive. Kollege
Bisky, wir wissen auch: Der Geburtenknick von 1991
wirkt sich nächstes und übernächstes Jahr auf den Ausbildungsmarkt aus. Dann werden die Handwerksmeister
- der Kollege Rehberg hat es eben gesagt - auf den
Knien darum bitten, junge Leute für die Ausbildung zu
bekommen. Man wird sich in einen Wettkampf um diese
jungen Leute begeben. Ich frage mich, ob die ostdeutschen Unternehmen den Wettkampf mit den westdeutschen Unternehmen, die genauso junge Leute suchen
werden, auf die Dauer gewinnen können. Auch dieses
Problem sollten wir uns noch einmal bewusst machen.
Ich will an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir einen Wettbewerb um die Köpfe führen müssen. Voraussetzung für einen solchen Wettbewerb ist eine gute Ausbildung. Eine gute Ausbildung war übrigens immer ein
besonderes Qualitätsmerkmal Ostdeutschlands. Das Industrial Investment Council - eine Organisation, die sich
darum bemüht, ausländische Investoren nach Deutschland zu holen - hat das immer als einen der wesentlichen
positiven Standortfaktoren Ostdeutschlands hervorgehoben.
Wenn ich mir die Zahlen über die jungen Leute, die
keinen Hauptschulabschluss haben, anschaue, dann erkenne ich: Hier droht weiteres Ungemach. Die Finnen
wenden so viel Geld für ihre Schüler auf, weil sie der
Auffassung sind, dass sie es sich nicht erlauben können,
auch nur einen einzigen Schüler zu vernachlässigen. Ich
wünsche mir, dass wir diese Philosophie in Deutschland
insgesamt und speziell in Ostdeutschland praktizieren.
({4})
Das ist ein ganz zentrales Anliegen. Nur mit guten, fundierten Fach- und Hochschulausbildungen haben wir
eine Chance, den Standort Ostdeutschland weiter nach
vorn zu bringen.
Zur Abwanderung junger Leute aus Ostdeutschland
will ich noch etwas anderes sagen: Es fehlt die Sensibilität für weiche Standortfaktoren. Ich bin Vorsitzender
eines Jugend- und Kulturzentrums in Oschatz. Ein Angebot wie dieses Zentrum fehlt in der Region. Es ist vielleicht das einzige Angebot dieser Art in einem Umkreis
von 30 oder 40 Kilometern. Das ist selbst aus der Sicht
des CDU-Bürgermeisters einer der positiven Standortfaktoren für diese Stadt. Deswegen müssen wir den Fokus stärker auf diese weichen Standortfaktoren richten;
({5})
denn das sind letztlich harte Faktoren dafür, dass junge
Leute in Ostdeutschland bleiben. Es geht also nicht immer nur um Jobs, sondern es geht auch um solche Dinge.
Wir können den demographischen Wandel, wie gesagt, nicht mehr umkehren; wir müssen ihn begleiten.
Wir müssen uns - das haben schon einige Redner hier
gesagt - intensiv um den Strukturwandel im ländlichen Raum kümmern. Dabei haben wir eine ganze
Menge zu bewältigen. Die Frage ist: Wie gehen wir mit
der Infrastruktur im ländlichen Raum, sowohl der technischen als auch der sozialen, um? Das sind Herausforderungen und die müssen wir in den nächsten zwei, drei,
vier Jahren angehen, weil es da im Prinzip jetzt noch
Möglichkeiten gibt. Wir müssen das also jetzt gestalten.
Wir müssen das jetzt angehen. Wir werden unseren Teil
dazu beitragen.
({6})
Ein Exkurs zur wirtschaftlichen Entwicklung und
zur Arbeitslosigkeit. Wir wissen, dass das Wachstum
seit dem Ende der großen Förderprogramme im Bauwesen, der Sonderabschreibungsprogramme, stagniert. Wir
wissen auch, dass die Bauwirtschaft beim Wirtschaftswachstum in Ostdeutschland auch heute noch im Prinzip
einen sehr negativen Effekt entfaltet. Es gibt eine positive Entwicklung im produzierenden Gewerbe. Aber wir
müssen zugeben, dass der Anteil des industriellen Sektors an der Bruttowertschöpfung in Ostdeutschland nur
15 Prozent, in Westdeutschland dagegen 24 Prozent beträgt. Diese Lücke von 9 Prozentpunkten müssen wir
überwinden. Das ist ein Riesenprojekt. Dazu müssen wir
in den nächsten Jahren eine Riesenanstrengung unternehmen. Ob wir das Ziel überhaupt erreichen können,
weiß ich nicht, aber ich sage Ihnen an der Stelle: Das ist
heute noch zu wenig.
Die Krux im produzierenden Gewerbe ist - Herr
Böhmer hat es eben noch einmal gesagt -, dass die Betriebe sehr gute Wachstumsraten haben, aber keine oder
zu wenige Arbeitsplätze schaffen. An der Stelle sind wir
bei der Förderpolitik möglicherweise in einer Sackgasse.
Ich bin zwar der Meinung, dass wir hier weiter fördern
müssen und dass wir das als ein Standbein brauchen,
aber wir müssen uns schon überlegen: Woher kommen
eigentlich die Arbeitsplätze von morgen? Ich sehe die
Aufgabe ganz klar darin, die wissensbasierten Berufe,
Industrien und Produktionsfelder der Zukunft aufzutun.
An diese Aufgabe müssen wir herangehen. Das ist aus
meiner Sicht eine zentrale Aufgabe.
({7})
Ich habe eben schon gesagt, dass sich die niedrigen
Löhne in Ostdeutschland aus meiner Sicht mittlerweile
als ein zentrales Problem darstellen. Wir sehen, dass die
Löhne nicht dabei helfen, junge Leute im Osten zu behalten. Ein zweiter Aspekt ist: Wir schaffen uns damit
eigentlich die Probleme von morgen. Es ist schon heute
so, dass Leute mit 800 Euro brutto nach Hause gehen.
Das ist für manchen Westdeutschen wohl unvorstellbar.
Sie können sich überlegen, was die Leute netto verdienen. Sie können sich überlegen, was die netto bekommen, wenn sie dann arbeitslos werden. Denken Sie auch
einmal darüber nach, was die netto dann bekommen,
wenn sie in Rente sind. Wir schaffen uns mit dieser Ideologie vom Niedriglohnsektor heute also die Altersarmut
von morgen.
({8})
Wir kommen nicht daran vorbei - das wollte ich an dieser Stelle ganz deutlich sagen -, hier ohne Ideologie
auch über das Thema „Mindestlöhne in Ostdeutschland“
zu sprechen. Was die Obergrenzen angeht, bin ich sehr
offen.
Eben wurden noch einmal die Förderprogramme angesprochen. Ich verstehe nicht, warum die Koalition an
der Investitionszulage in der jetzigen Form festhält. Wir
wissen alle wirtschaftswissenschaftlichen Institute auf
unserer Seite. Die haben uns immer wieder bestätigt,
dass die I-Zulage problematisch ist, weil sie zu großen
Mitnahmeeffekten führt. Wir haben immer wieder vorgeschlagen: Lasst uns doch mit der Gemeinschaftsaufgabe Ost ein neues Instrument schaffen, bei dem wir
stärkere Gestaltungsmöglichkeiten und vielleicht auch
mehr Kontrolle haben! Ich verstehe nicht, warum Sie auf
die Argumente noch nicht eingegangen sind. Wir werden
das im Laufe des ersten Halbjahres verfolgen, wenn Sie
darüber verhandeln. Wir werden die Diskussion mit Ihnen führen.
Last, but not least: Herr Böhmer, ich weiß um die Probleme Ihres Landes. Ich weiß auch, dass die Herausforderungen, die Sie zu bewältigen haben, gewaltig sind.
Aber ich sage noch einmal: Die Fehlverwendung der
Solidarpaktmittel ist ein Problem. Die Frage ist, wie
wir mit dem Thema umgehen. Ich habe kein Problem damit, wenn aus den Solidarpaktmitteln beispielsweise Kofinanzierungen bestritten werden. Das war beim Solidarpakt I möglich, ist aber beim Solidarpakt II nach dem
Gesetzeswortlaut eigentlich nicht möglich. Ich bin an
der Stelle sehr entspannt. Man müsste sich aber vorher
einmal darüber unterhalten, was man macht. Dieses Gespräch zwischen Bund und Ländern muss unbedingt geführt werden. Für die gesamtdeutsche Solidarität ist es
ganz wichtig, dass wir an dieser Stelle zu einer vernünftigen Lösung kommen. Eines will ich uns und Ihnen, uns
allen hier im Hause, ersparen: diese unsäglichen Debatten, die wir immer im Januar oder Februar führen, wenn
die Fortschrittsberichte auf den Tisch kommen oder an
die Presse durchgestochen werden. Das hilft uns definitiv nicht.
({9})
Es gäbe noch vieles andere zu sagen. Der Aufbau Ost
ist ein Riesenfeld. Wir werden den Prozess weiter kritisch und konstruktiv begleiten. Das garantiere ich Ihnen. Wir werden auch nicht zögern, den Finger in offene
Wunden zu legen.
Ich sage Ihnen aber noch einmal: Auf die nächsten
vier Jahre kommt es an. Die große Koalition hat eine bedeutende Aufgabe vor sich und trägt große Verantwortung. Wir werden das jedenfalls von unserer Seite aus
engagiert begleiten.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Andrea Wicklein, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der heute hier diskutierte Bericht zur deutschen Einheit bildet aus meiner Sicht eine sehr gute
Grundlage, um 15 Jahre nach der deutschen Vereinigung
eine Zwischenbilanz zu ziehen. Der Blick in den Bericht
zeigt: Wir sollten sehr zurückhaltend mit Pauschalurteilen sein,
({0})
weil sich die Entwicklung in Ostdeutschland wirklich
sehr differenziert darstellt.
({1})
Weder Schwarzmalerei, so wie es die Linke in ihrem Antrag betreibt,
({2})
noch Schönfärberei bringen uns an dieser Stelle weiter.
Ihr Antrag, sehr geehrte Damen und Herren von den
Linken - ich habe ihn sehr intensiv gelesen -, ist enttäuschend.
({3})
Er wird nämlich weder der Realität in Ostdeutschland
gerecht noch der Leistung des gesamten Landes zum
Aufbau Ostdeutschlands. Noch etwas möchte ich Ihnen
sagen: In Wahrheit machen Sie durch Ihre einseitige,
düstere Situationsbeschreibung die Leistungen der Menschen in den neuen Bundesländern zunichte.
({4})
Neu sind Ihre Vorschläge auch nicht. Sie sind auch nicht
konstruktiv. Sie sind zu einem großen Teil in unserem
Entschließungsantrag enthalten, zum Teil auch schon im
Koalitionsvertrag. Deshalb bringt uns der von Ihnen vorgelegte Antrag an dieser Stelle nicht weiter.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mehr und mehr
werden die Entwicklungsunterschiede in Ostdeutschland sichtbar. Gerade deshalb lohnt es sich, genau hinzuschauen, wo wir erfolgreich waren und wo Nachholbedarf besteht. Deshalb bedanke ich mich auch bei
Minister Tiefensee für die sehr differenzierte und sehr
ehrliche Darstellung der Entwicklung im Osten unseres
Landes.
({6})
Große Erfolge - das kann niemand ernsthaft bestreiten - gibt es beim Aufbau einer modernen Verkehrsinfrastruktur und des Telekommunikationsnetzes sowie bei
der Sanierung unserer Städte. Jeder, der mit offenen Augen durch unser Land fährt, sieht das. Niemand bestreitet
jedoch, dass es auch noch große Herausforderungen gibt
und dass die weitere Entwicklung Ostdeutschlands kein
Selbstläufer ist. Aus meiner Sicht stellen folgende drei
Punkte dabei die Kernprobleme dar, die wir lösen müssen.
Erstens ist es natürlich die hohe Arbeitslosigkeit, die
im Jahresdurchschnitt immer noch doppelt so hoch liegt
wie in den alten Ländern, obwohl wir auch hier sehr
deutliche Spreizungen zwischen einer Quote von
10 Prozent in der Region um Berlin bis hin zu einer
Quote von 30 Prozent in Sachsen-Anhalt erkennen können.
Zweitens ist es die dramatische Abwanderung insbesondere von jungen und qualifizierten Menschen, vor allem auch von jungen Frauen in ganz bestimmten Regionen.
Drittens nenne ich die demographische Entwicklung, die dazu führen könnte, dass die Regionen im Osten immer mehr auseinander driften und starke und
schwache, wachsende und schrumpfende Regionen in
Zukunft deutlicher als heute das Bild Ostdeutschlands
prägen werden.
({7})
Die Menschen im ganzen Land erwarten zu Recht
von uns Politikern im Bund, aber auch in den Ländern
und Kommunen, wo übrigens auch Sie Verantwortung
tragen, dass wir ihnen Antworten geben, wie wir mit diesen Herausforderungen umgehen wollen. Letztendlich
geht es doch um die Frage: Wie schaffen wir es, dass die
ostdeutschen Bundesländer bis 2019 auf eigenen Füßen
stehen? Wie schaffen wir es, dass sie in der wirtschaftlichen Entwicklung so aufholen, dass sie national wie international wettbewerbsfähig sind? Und wie schaffen
wir es, den Menschen in Ostdeutschland Perspektiven
und Chancen in ihrer Heimat zu geben?
Sehr geehrte Damen und Herren, die ostdeutsche Realität zeigt: Der Aufbau Ost ist schon heute überall dort
erfolgreich, wo die Regionen ihre eigenen Potenziale
zielgerichtet nutzen.
({8})
Insofern ist es wichtig, dass Konzepte für strukturschwache Regionen entwickelt werden. Aber das kann
nicht ein Konzept der Bundesregierung sein, wie es im
Antrag der FDP formuliert wird. Sie haben vollkommen
Recht, Herr Ministerpräsident Böhmer: Diese Konzepte
und Ideen müssen aus den Regionen heraus wachsen.
Wir sollten den Regionen von dieser Stelle aus in einem
engen Dialog mit den Ländern dabei helfen, ihre vorhandenen Potenziale und Fähigkeiten auszubauen.
({9})
Ich bin jedenfalls davon überzeugt, dass jede Region
ihre Stärken hat.
Die vorliegenden Anträge von der Linken und der
FDP zeigen, dass sie ein wichtiges - um nicht zu sagen:
das wichtigste - Innovationsfeld für die ländlichen
Räume völlig vernachlässigt haben, und zwar die ländlichen Regionen künftig als Wirtschaftsstandort zur Produktion von Biomasse zu nutzen, die wiederum zur
Produktion von Energie, Kraftstoffen und Bioprodukten
dient. Wir hatten vorhin die Diskussion über die zukünftige Energieversorgung. Hier liegen noch ungenutzte Potenziale, von der Erforschung über den Anlagenbau bis
hin zum Produkt und dessen Vermarktung. Deshalb
finde ich es richtig, dass im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist, dass das neue Biomasseforschungszentrum
nach Ostdeutschland kommt.
({10})
In diesem Sinne müssen wir den Weg der Konzentration der Mittel nach dem Motto „Stärken stärken - Profile entwickeln“ unbedingt weitergehen, ohne die strukturschwachen Regionen zu vernachlässigen. Der Bericht
zur deutschen Einheit zeigt, dass die ostdeutschen Bundesländer dabei einen richtigen Weg eingeschlagen haben, indem sie auf Wachstumskerne und Cluster setzen.
Wir müssen zukünftig Instrumente auf den Weg bringen,
die eine differenzierte Förderstrategie ermöglichen. Die
Investitionszulage wurde hier schon angesprochen. Aber
auch die Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsstruktur“ und Programme wie „Unternehmen Region“
und „Inno-Watt“ sind Instrumente, die wir für den weiteren Aufbau in Ostdeutschland brauchen.
({11})
Natürlich müssen wir auch über die Fortentwicklung
dieser Instrumente und Programme diskutieren. Warum
soll man die Investitionszulage nicht auch auf touristische Infrastruktur ausdehnen?
({12})
Denn in vielen Regionen Ostdeutschlands ist der Tourismus der Motor der wirtschaftlichen Entwicklung.
Sehr geehrte Damen und Herren, unser Ziel ist und
bleibt die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in
Ost und West. Aber Gleichwertigkeit heißt aus meiner
Sicht nicht Gleichmacherei.
({13})
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse heißt vielmehr
gleichwertige Chancen beim Zugang zu Bildung und
Ausbildung, auf dem Arbeitsmarkt und auch bei der medizinischen Versorgung.
({14})
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in diesem Sinne
können wir nur erreichen, wenn die ostdeutschen Bundesländer nicht durch einen Wettbewerbsföderalismus
abgehängt werden, der die Starken noch stärker macht
und die Schwachen noch schwächer.
({15})
Wettbewerb braucht gleiche Startbedingungen. Ein
sehr anschauliches Beispiel ist die Hochschullandschaft
in Ostdeutschland. Dort ist der strukturelle Aufholprozess noch längst nicht abgeschlossen. Die ostdeutschen
Hochschulen haben dank der Gemeinschaftsaufgabe
„Hochschulbau“ einen guten Zwischenausbaustand erreicht. Aber wir haben eben noch keine gleichen Startpositionen, wie die Ergebnisse der Exzellenzinitiative uns
jüngst gezeigt haben. Deshalb brauchen wir auch weiterhin die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der
Hochschul- und Wissenschaftspolitik. Ich würde mir
wünschen, dass die ostdeutschen Bundesländer uns in
diesem Punkt ein Stück weit mehr unterstützen.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen in den
neuen Bundesländern immer noch vor riesigen Aufgaben; das ist wahr. Wir sollten diese Aufgaben gemeinsam beherzt, mit aller Kraft und vor allen Dingen mit
ganz viel Optimismus in Angriff nehmen.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat der Kollege Jens Ackermann, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit zieht eine
Zwischenbilanz zum Aufbau Ost - eine Zwischenbilanz. Wir können davon ausgehen, dass dieser Prozess
noch längere Zeit in Anspruch nehmen wird. Vieles ist
erreicht worden. Große Herausforderungen liegen aber
noch vor uns. Sich dieser Herausforderungen im Osten
anzunehmen betrachte ich nicht als Risiko, sondern als
Chance für ganz Deutschland.
({0})
Eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung, die den
Osten aufbaut, muss das Ziel sein, damit wir insgesamt
weltweit wettbewerbsfähig bleiben.
Sie schreiben in Ihrem Bericht, dass die Übernahme
des ausdifferenzierten westdeutschen Rechts hohe Anforderungen an die Bürger und Unternehmen stellte - zu
hohe, wie ich meine.
({1})
Das Wirtschaftswunder in den 50er-Jahren hätte es mit
diesem ausdifferenzierten Recht der heutigen Zeit nie
gegeben. Ich fordere Sie, meine sehr geehrten Damen
und Herren von der Bundesregierung, deshalb auf, Ihrer
Erkenntnis auch Taten folgen zu lassen: weniger Regulierung, weniger Bürokratie und weniger Eingriffe.
({2})
Ich weise darauf hin: Am Vorabend des Mauerfalls,
am 8. November 1989, merkte der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher in einem Bericht zur Lage
der Nation an:
Nichts wird mehr so sein, wie es war - nicht im Osten und auch nicht im Westen.
Er machte damit deutlich, dass die Einheit keine Einbahnstraße ist.
({3})
Der Osten kann eine Vorreiterrolle im gesamtdeutschen Reformprozess einnehmen. Er kann eine Chance
bieten, sich von erstarrten Strukturen zu befreien, die
auch den Westen lähmen. Hier gibt es schon betriebliche
Bündnisse und kürzere Ausbildungszeiten. Setzen Sie
mehr auf Eigeninitiative und Selbstverantwortung!
({4})
Nur in einem Klima, in dem mehr möglich erscheint,
werden Innovationen und Kreativität freigesetzt.
Wenn Sie, sehr geehrter Herr Minister Tiefensee, den
großen Schritt für Gesamtdeutschland nicht machen
können, dann fordere ich Sie auf: Machen Sie für die
neuen Bundesländer wenigstens einen kleinen Schritt!
Lassen Sie Modellregionen zu, in denen es durch die
Aussetzung bundesgesetzlicher Regelungen den Ländern ermöglicht wird, jenen freien Geist zu atmen, der
das Wirtschaftswunder in den 50er-Jahren möglich gemacht hat.
({5})
- Ihre Kollegin Frau Wicklein hat darauf hingewiesen:
Die Ideen müssen aus den Regionen kommen. Eine solche Idee gab es. Unterstützen Sie bitte die Bundesratsinitiative von Sachsen-Anhalt, das sich als Modellregion
angeboten hat. Sie können gerne daran mitwirken.
({6})
Wer den Bericht liest, dessen Handschrift noch die
der alten Regierung ist, schaut natürlich besonders genau
hin, wenn es um sein eigenes Bundesland geht. Mich
freut es besonders, dass Sachsen-Anhalt das beste Wirtschaftswachstum aller neuen Länder aufweist und weit
über dem Bundesdurchschnitt liegt. Das folgt aus den
Fakten, die in diesem Bericht enthalten sind.
({7})
Sachsen-Anhalt hat die höchsten Zuwächse in der Industrie mit einem Plus von 5 000 industriellen Arbeitsplätzen. Ein besseres Kompliment kann Wirtschaftsminister Rehberger gar nicht bekommen.
({8})
Aus eigener Kraft hat die Koalition aus CDU und FDP
- der Ministerpräsident ist leider nicht mehr anwesend ({9})
das Land weit ins Mittelfeld unter den Bundesländern
befördert, und das trotz der hemmenden Bundesgesetzgebung.
({10})
Als Modellregion könnten wir noch besser wachsen.
Dies steigert die Produktivität und schafft soziale Sicherheit.
({11})
- Das möchte ich Ihnen ganz konkret sagen: Diesen
Trend durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zu
stoppen, dem wollen wir entgegenwirken. Denn sie ist
unserer Meinung nach falsch.
({12})
Herr Minister Tiefensee, Sie sprachen den Mittelstand an. Sie haben gesagt, wenn es gelinge, in einem
mittelständischen Unternehmen einen Arbeitnehmer
mehr einzustellen, dann wäre schon sehr geholfen. Aber
Sie unterstützen den Mittelstand nicht. Sie schröpfen
ihn, indem Sie zum Beispiel im Januar zweimal dazu
aufgefordert haben, die Sozialabgaben an die Sozialkassen abzuführen. Das belastet den Mittelstand und fördert
ihn nicht.
({13})
Ich möchte auf Frau Wicklein eingehen, die sagte,
dem Tourismus komme eine hohe wirtschaftliche Bedeutung zu. Sie hätten auch in unserer Region den Tourismus fördern können, wenn Sie es ermöglicht hätten,
auch in der Hotellerie und im Gaststättengewerbe den reduzierten Mehrwertsteuersatz einzuführen. Diese
Chance hätte es gegeben.
({14})
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Es ist
eine Frage der inneren Einstellung und nicht nur eine
Frage der Finanztransfers: Wer die deutsche Einheit
nicht wollte, ist meiner Meinung nach kein Patriot; wer
sie infrage stellt, auch nicht.
({15})
Wer den Aufbau Ost zur Chefsache erklärt und nichts
tut, ist ebenfalls kein Patriot.
Ich erinnere an die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin, die das Motto hatte: „Mehr Freiheit wagen“.
Es hat sich gezeigt: Das ist auch das beste Rezept beim
Aufbau Ost. Wir möchten dieses Rezept anwenden, um
zur Verwirklichung der deutschen Einheit unseren Beitrag zu leisten.
Herzlichen Dank.
({16})
Herr Kollege Ackermann, auch Ihnen zu Ihrer ersten
Rede in diesem Hohen Hause im Namen aller Kollegen
herzlichen Glückwunsch und persönlich und politisch alles Gute!
({0})
Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz, CDU/CSUFraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es gibt das Ritual, dass sich die Abgeordneten
der Parteien, die die Regierung stellen, zu Beginn ihrer
Rede bei der Regierung bedanken. Ich habe die Angst,
dass meine folgenden Worte so klingen. Diesmal meine
ich es aber, abweichend von diesem Ritual, ernst: Herr
Minister Tiefensee, ich bin Ihnen für eine Sache unendlich dankbar, nämlich dafür, dass Sie hier in aller Klarheit gesagt haben: Der Koalitionsvertrag gilt.
({0})
Sie haben sich in eindrucksvoller Weise zur Stabilität
der finanziellen Rahmenbedingungen für den Aufbau Ost bekannt. Ich denke, das ist ein klares Wort, das
man nicht deutlich genug unterstreichen kann.
({1})
Ich bin Ihnen für eine weitere Sache dankbar. Ich bin
Ihnen dankbar dafür, dass Sie darauf hingewiesen haben,
dass der Aufbau Ost eine Sache ist, die ganz wesentlich
im Kopf vor sich geht und die etwas mit Aufbruchsstimmung, Aufbruchswillen, einem Klima des Aufbruchs zu
tun hat. Deshalb erwarten die Menschen berechtigterweise von uns als Politikern, dass wir ihnen sagen, an
welcher Stelle wir Chancen für sie sehen und an welcher
Stelle wir ihnen Möglichkeiten bieten können, diese
Chancen in Zukunft zu verwirklichen.
Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir darauf hinweisen, dass es bei all dem Schwierigen, das es in den letzten Jahren gab, an bestimmten Punkten doch deutliche
Tendenzen einer Stabilisierung der Ausgangsposition
gibt, Tendenzen, die zeigen, dass wir in Ostdeutschland
an wichtigen Punkten tatsächlich allmählich Boden unter
die Füße bekommen und eine feste Position für die Zukunft erarbeitet haben.
({2})
Meine Damen und Herren, was meine ich damit? Ich
will auf einige Stichworte hinweisen. - Herr Bisky, Sie
sind im Übrigen mit keinem Wort auf diese positiven
Dinge eingegangen.
({3})
- Ich meine Ihren Antrag. In Ihrer Rede haben Sie es
teilweise getan. Insofern ist dies anerkennenswert.
Was sind also die positiven Punkte? Positiv ist erstens
die Tatsache, dass die Wettbewerbsfähigkeit Ostdeutschlands gestiegen ist. Zweitens ist die Exportquote gewachsen. Zudem sind regionale Wachstumskerne entstanden, die inzwischen eine selbsttragende
Stabilität entwickelt haben. Das Wichtigste an diesen
Wachstumskernen ist aber nicht, dass sie bestehen, sondern dass die ländlichen Regionen mittlerweile verstanden haben, dass sie von diesen Wachstumslokomotiven
gezogen werden müssen, wenn sie vorankommen wollen. Das heißt, es wächst eine allgemeine Akzeptanz,
dass es diese Wachstumskerne geben muss, damit die
Regionen, die strukturell nicht so gut entwickelt sind, an
das allgemeine Niveau anschließen können.
({4})
In bestimmten Branchen - ich nenne nur die Tourismusbranche - gibt es ein enormes Wachstum. Es haben
sich Landschaften entwickelt, in denen wir mit erheblichen Einnahmen im Tourismusbereich rechnen können.
Das ist auch eine Folge unserer Stadtumbaupolitik, der
Sanierung der Innenstädte. An dieser Stelle zahlt sich
unsere Politik aus. Es gibt eine neue Attraktivität und
das finde ich sehr gut.
Im Übrigen sind wir auch, was PISA angeht, deutlich
besser geworden. Es sind im Wesentlichen die ostdeutschen Länder, die im bundesdeutschen Durchschnitt aufgeholt haben. Wir müssen dieses Kompliment einmal
aussprechen; denn dahinter steckt die Anstrengung vieler Menschen, die ein Recht darauf haben, dass dies von
uns gewürdigt wird.
({5})
Es gibt natürlich auch eine Reihe von Schattenseiten, die wir in dieser Debatte nicht ausklammern dürfen. Es gibt Probleme, an denen wir schon einige Jahre
laborieren; sie sind bereits genannt worden. So bestehen noch immer Unterschiede hinsichtlich des infrastrukturellen Ausbaus und des Stadtumbaus. Es gibt
auch noch immer eine verdichtungsbedürftige Forschungslandschaft. Diese Probleme sollten wir im Rahmen unserer Politik zu lösen versuchen.
Andere Probleme belasten uns schon Jahre, seit dem
letzten Jahr teilweise sogar zunehmend. Eines dieser
Probleme ist die Arbeitslosigkeit. Wir müssen im
Durchschnitt eine Arbeitslosenquote von mehr als
18 Prozent konstatieren. Auch die demographische Entwicklung ist hier schon genannt worden.
Ein einziges Problem verschärft sich laufend, und
zwar die Überschuldung der öffentlichen Haushalte.
Hier müssen wir eine ehrliche Sprache sprechen. Die
Vorschläge, die Sie gemacht haben, Herr Bisky, laufen
alle darauf hinaus, die Verschuldung der öffentlichen
Haushalte ungehemmt zu erhöhen.
({6})
Aus diesem Grunde sind zumindest die Vorschläge, die
etwas mit Geld zu tun haben, abzulehnen.
Meine Damen und Herren, wir werden daran gemessen werden, ob wir diese Probleme lösen. Das wird nur
gelingen, wenn wir stabile Rahmenbedingungen schaffen und diese mit einer vernünftigen Politik ausgestalten.
Dieser Rahmen hat mehrere Dimensionen, von denen
ich nur vier herausgreifen will: Die erste Dimension ist
die rechtliche, die zweite die finanzielle, die dritte die infrastrukturelle und die vierte die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische.
Was ist zum rechtlichen Rahmen zu sagen? Als erstes ist festzuhalten, dass strukturschwache Länder eventuell eine auf sie zugeschnittene Rechtslage benötigen.
Das haben wir in unserem Antrag relativ deutlich formuliert, indem wir sagen, dass in Ostdeutschland in bestimmten Bereichen die Möglichkeit gegeben sein muss,
vom Bundesrecht abzuweichen, wenn es erforderlich ist
und dem Aufbau in den neuen Ländern dient. Aus diesem Grund haben wir die Einsetzung einer interministeriellen Arbeitsgruppe gefordert. Sie soll die Areale absuchen und genau definieren, an welcher Stelle wir aktiv
werden sollen. Ich halte das für wichtig. Dies müsste,
Herr Kollege Günther, auch ganz in Ihrem Sinne sein;
denn das haben wir in der letzten Legislaturperiode gemeinsam gefordert.
({7})
Wir brauchen aber keinen Rückfall in die Zeiten vor
dem Aufbau Ost. Das Bundesverkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz - ich bin Ihnen dankbar, Herr
Günther, dass Sie vorhin darauf eingegangen sind - ist
für uns eine positives Beispiel. Wir wollen, dass das Infrastrukturgesetz, das Sie, Herr Minister, vorgelegt haben, am Ende eine Gestalt hat, die es nicht hinter das
Bundesverkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz
zurückfallen lässt. Das ist unser Ziel.
({8})
Kommen wir zum Finanzrahmen. Wir haben einen
zweiteiligen Finanzrahmen - Sie wissen, es gibt den
Solidarpakt II -, dessen Einhaltung beiden Seiten großen
Ehrgeiz abverlangt.
({9})
Mit seinem Volumen von 156 Milliarden Euro stellt er
die Bundesrepublik Deutschland vor eine erhebliche
Leistungsanforderung. Wir sind ausgesprochen dankbar,
dass wir ein Klima der Solidarität in Deutschland haben,
das uns diesen Solidarpakt ermöglicht hat; das kann man
nicht oft genug sagen. Wir müssen uns des Wertes dieser
Solidarleistung ständig bewusst sein.
({10})
Wir müssen mit den Geldern aber auch vernünftig
umgehen. Es ist in der Tat nicht sehr förderlich, eine
Fehlverwendungsdebatte zu führen, in der gesagt wird:
Soundso viele Anteile des Solidarpakts werden nicht ordentlich ausgegeben. Dazu ist aber zu sagen: Für einen
Teil dieser Fehler tragen wir in Ostdeutschland keine
Verantwortung. Herr Böhmer hat es vorhin schon gesagt
- ich glaube, das ist die Meinung des größten Teils der
ostdeutschen Kollegen -: Es ist falsch, zu sagen, dass
Ausgaben für Forschung und Bildung prinzipiell keine
Investitionen seien.
({11})
Es sind allerdings erhebliche Kosten entstanden, mit
denen die ostdeutschen Länder nicht rechnen konnten.
Ich darf nur an die Verfassungsgerichtsurteile zu den
Renten erinnern: Die Rentenauszahlungen schlagen in
den Länderhaushalten voll zu Buche.
All das verschärft die Lage. Leider geht meine Redezeit zu Ende. Ich hoffe aber, dass es uns auf der Ministerpräsidentenkonferenz Ost am 24. Februar - auf der
zum ersten Mal seit 1990 unsere Kanzlerin als Bundeskanzlerin die ostdeutschen Ministerpräsidenten besucht
und mit ihnen gemeinsame Beschlüsse fassen wird - tatsächlich gelingt, gerade über die Stabilität der Finanzbedingungen, über die Verwendung der Mittel und auch
über die Berichte über die Verwendung der Mittel eine
Einigung zu finden. Lassen Sie uns die Rahmenbedingungen verlässlich bereitstellen. Lassen Sie uns nicht
ständig wichtige grundsätzliche Dinge einer Diskussion
unterziehen und die Menschen verunsichern. Meine Damen und Herren, wenn uns das gelingt, dann sind wir,
glaube ich, auf einem guten Wege.
Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat nun die Kollegin Petra Weis, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Gestatten
Sie mir, als geborene und gelernte Westdeutsche, aber
bekennende Gesamtdeutsche, das Thema deutsche Einheit auch aus dem Blickwinkel einer Vertreterin einer
Region zu diskutieren - dem Ruhrgebiet nämlich -, die
es in den letzten drei, wenn nicht sogar vier Jahrzehnten
gelernt hat, mit gravierenden Strukturproblemen und mit
wirtschaftlichen und sozialen Transformationsprozessen
fertig zu werden. Zumindest in meiner Region, im Ruhrgebiet, weiß jeder, dass der „Soli“ auch von den Menschen in Ostdeutschland bezahlt wird - das nur als kleine
Nebenbemerkung.
Mein erster Hinweis gilt in der Rückschau dem Jahr
1989. Das geflügelte Wort von den blühenden Landschaften in Ostdeutschland hat nicht nur eine Illusion
genährt, wonach der Aufbau Ost relativ rasch vonstatten
gehen und quasi aus der Portokasse bezahlbar sein
würde, sondern es hat auch gleich eine zweite Illusion
genährt, nämlich die Annahme, dass sich für den alten
Westen und die dort beheimateten Menschen so gut wie
gar nichts ändern würde.
Im Verlauf der 90er-Jahre wurde den Menschen dann
mehr oder weniger schmerzlich bewusst, dass weder das
eine, noch das andere zutraf und zutrifft. Der Aufbau Ost
braucht deutlich mehr Zeit und die Menschen in Westdeutschland mussten zur Kenntnis nehmen, dass trotz
oder wegen der Einheit nun geteilt werden musste, und
zwar vor allem die logischerweise begrenzten Finanzmittel, die zur Bewältigung des Strukturwandels in ganz
Deutschland aufgewandt werden konnten und mussten.
Im selben Zeitraum wurde in Westdeutschland der
Blick auf die Tatsache versperrt, dass die uns aktuell bedrängenden Probleme des demographischen Wandels
und auch des ökonomischen Strukturwandels mit allen
zu erwartenden Folgen schon damals nachhaltige Konzepte zu ihrer Lösung erfordert hätten. Aber ich habe in
der Rückschau den Eindruck, dass der Mut und die Einsicht, diese Konzepte umzusetzen, ein bisschen gefehlt
haben.
Ich erinnere mich nur zu gut daran, dass die Stimmen
derjenigen in der Politik, aber auch in der Wissenschaft,
die entsprechende Aktivitäten anmahnten, nur unzureichend ge- und erhört wurden, weil die akuten Teilungsprobleme zu groß waren. Ich sage das ausdrücklich ohne
jeden Vorwurf und ohne jede Schuldzuweisung. Ich will
das nur noch einmal ganz klar festgestellt haben.
Zu dieser, wie wir heute wissen, verzerrten Wahrnehmung hat auch beigetragen, dass nach 1989 in Ostdeutschland ein heftiger, aber nicht automatisch nachhaltiger Wachstumsschub eingesetzt hat, der eine
kurzfristige Euphorie nach sich zog - übrigens auch in
Westdeutschland -, die aber relativ schnell abflaute, und
zwar in dem Maße, in dem wir lernen mussten, dass es
deutlich länger dauern würde, die nachhaltigen Probleme des Aufbaus Ost zu bewältigen.
Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben schon
darauf hingewiesen, dass es vor allen Dingen drei
Herausforderungen sind, die wir in Ost und West
schnellstmöglich angehen müssen.
Das ist zum einen der demographische Wandel, der
nicht nur zu einem Bevölkerungsrückgang und zu einer
deutlich veränderten Altersstruktur führt, sondern auch
zu einer Heterogenisierung in den städtischen Ballungsräumen, in denen die Probleme der Arbeitslosigkeit und
der Migration zusammenkommen. Das ist natürlich
hauptsächlich in Westdeutschland zu erkennen.
Zweitens. In Ostdeutschland wie in den altindustriellen Kernen Westdeutschlands ist die strukturelle Entwicklung dadurch bestimmt, dass die im Zuge der
Deindustrialisierung weggefallenen Arbeitsplätze
durch das erfreuliche Anwachsen des Dienstleistungssektors bei weitem noch nicht kompensiert werden
konnten. Der hohen Arbeitslosigkeit steht dennoch in
absehbarer Zeit ein Fachkräftemangel gegenüber. Das
wissen wir schon jetzt. Das ist im Übrigen nur ein
scheinbarer Widerspruch; aber es ist relativ schwer, das
zu kommunizieren.
Drittens. Die finanziellen Möglichkeiten - Kollege
Vaatz hat darauf hingewiesen - aller staatlichen Ebenen
sind definitiv begrenzt. So müssen wir versuchen, alle
Ebenen dazu zu bewegen, regional und fachlich stärker
zu kooperieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, inzwischen sind auf
den verschiedenen Handlungsfeldern des Aufbaus Ost
Instrumentarien entwickelt worden, die sich als außergewöhnlich erfolgreich erwiesen haben. Das wird im Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen
Einheit eindrucksvoll belegt. Ich würde gern als ein Beispiel von vielen noch einmal auf das Thema Stadtentwicklung eingehen. Das Programm „Stadtumbau Ost“
hat sich für die Anpassung des Wohnungsbestandes an
eine dramatisch verringerte Nachfrage als geradezu modellhaft erwiesen.
({0})
Nicht nur der nach wie vor nötige Rückbau, sondern
auch der vielerorts ganz geglückte Versuch, die historischen Innenstädte zu rekonstruieren, haben dazu geführt,
dass sich das Lebens- und Wohnumfeld der Menschen
und vor allen Dingen das Gesicht ganzer Städte nachdrücklich verbessert hat.
({1})
Dass das Programm „Stadtumbau Ost“ Vorbild war
für das neue Programm „Stadtumbau West“, von dem
vor allem Städte mit schrumpfenden industriellen Kernen in Westdeutschland - dazu gehört meine Heimatstadt Duisburg - profitieren können, ist ein Signal dafür,
dass die entsprechenden Regionen des Westens von den
Erfahrungen in Ostdeutschland profitieren können. Ich
finde, das ist ein ganz wichtiger Tatbestand, den es gilt,
in einer solchen Debatte festzuhalten.
({2})
Bei alledem lässt die Dynamik der Entwicklung und
damit die Verpflichtung, die Programme stetig weiterzuentwickeln, nicht nach. Denn nun müssen alle beteiligten
Akteure so schnell wie möglich darauf reagieren, dass
der Einwohnerrückgang weit reichende Folgen für die
Infrastruktur in den Städten hat, die ja auch von den
Menschen genutzt wird, die im jeweiligen Umland leben. Es gehört sicherlich nicht viel dazu, sich auszumalen, dass dieser Anpassungsprozess schwierig ist und
gleichzeitig den Blick auf zusätzliche Angebote wie beispielsweise Wohnraum für Ältere und für junge Familien
nicht verschließen darf. Das leitet mich noch einmal zu
der Aussage, dass Wachstum und Schrumpfung zusammengehören und dass wir große Anstrengungen unternehmen müssen, um das der Bevölkerung zu erklären.
Das ist nur ein vermeintlicher Widerspruch, den man in
der Praxis relativ schnell auflösen kann.
({3})
Viele Probleme des Landes spiegeln sich nach wie
vor in Ostdeutschland wider. Aber in Ostdeutschland
werden viele Lösungsansätze entwickelt, die beispielhaft
für ganz Deutschland sein können. Das gilt in beiderlei
Richtung. Der Regionalverband Ruhr hat erst in den
letzten Tagen das Ruhrgebiet als ein Laboratorium für
zukünftige gesamtdeutsche Entwicklungen bezeichnet.
Ich würde ganz gern in diesem Bild bleiben. Es kommt
nun darauf an, dass wir die Schutzzone des Versuchslabors verlassen, unsere Konzepte möglichst rasch mit der
Wirklichkeit konfrontieren und dabei die Absicht verfolgen, sie ganz rasch und nachhaltig in strukturschwachen
Regionen in Ost- und in Westdeutschland wirksam werden zu lassen.
Ich glaube, dass es eine weitere große Aufgabe ist,
unserer Bevölkerung zu vermitteln, dass die nächsten
Jahre weiterhin Risiken bergen werden, aber natürlich
auch Chancen. Das haben viele meiner Vorredner betont. Ich glaube, wir müssen der Bevölkerung auch deutlich machen, dass sich das Tempo der Veränderungen aller Wahrscheinlichkeit nach noch erhöhen wird, dass wir
aber gleichzeitig - das unterscheidet die heutige Situation von der vor 16 Jahren - die Chance haben, diesen
Prozess planvoll und aktiv mitzugestalten. Einige meiner
Vorredner haben ja bereits auf das Engagement der Bürgerinnen und Bürger in der Zivilgesellschaft hingewiesen.
({4})
Ich meine, dass es der inneren Einheit Deutschlands
gut tun würde, wenn alle Beteiligten mehr voneinander
wüssten. Denn wie anders - vorausgesetzt, man möchte
keine Böswilligkeit unterstellen - lassen sich viele Äußerungen, die in den letzten Jahren gemacht wurden, interpretieren, die augenscheinlich auch darauf beruhten,
dass die Menschen viel zu wenig voneinander wussten?
Das Thema Tourismus ist bereits zweimal angesprochen worden; seine Bedeutung spiegelt sich auch im
Entschließungsantrag, den die Regierungskoalition eingebracht hat, wider. Vielleicht bräuchten wir einmal so
etwas wie ein Programm für den innerdeutschen Tourismus - sowohl für Politikerinnen und Politiker als auch
für den Rest der Bevölkerung. Vor dieser Art der Binnenwanderung sollte uns meines Erachtens nicht bange
sein.
Herzlichen Dank.
({5})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kollege Dr. Michael Luther für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erlaube ich mir, meine Rede mit folgender Feststellung zu beginnen: Die Debatte, die wir heute über
den Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit geführt haben, hat sich durch relativ große Harmonie ausgezeichnet. Wir sind uns in diesem Hause sehr einig,
dass der Aufbau Ost fortgesetzt werden muss und dass
beim Aufbau Ost viel erreicht worden ist. Wir sind uns
aber auch einig, dass noch eine ganze Menge Aufgaben
vor uns liegen. Das ist positiv festzuhalten.
({0})
Damit es nicht in Vergessenheit gerät, will ich auch
auf das eingehen, was Sie, Herr Bisky, gesagt haben: Sie
haben natürlich Recht, dass wir uns über den Aufbau Ost
unterhalten, weil die Wirtschaft in der DDR in den
40 Jahren der SED-Diktatur niedergewirtschaftet worden ist. Die nachhaltigen Folgen dieser Entwicklung
können wir noch heute spüren.
({1})
An dieser Stelle will ich zwei wichtige und für mich
sehr bedrückende Daten erwähnen: Die Arbeitslosenquote liegt in den neuen Bundesländern bei fast
19 Prozent; damit ist sie doppelt so hoch wie die Arbeitslosenquote in den alten Bundesländern. Das Bruttosozialprodukt der neuen Bundesländer hat bislang erst
70 Prozent des Niveaus des Bruttosozialprodukts der alten Bundesländer erreicht. Darüber hinaus - das bewegt
uns alle ganz besonders - haben wir eine Abwanderung
insbesondere junger Menschen in die alten Bundesländer
zu verzeichnen.
Was den zuletzt genannten Aspekt betrifft, will ich
auch an meine Kollegen aus den alten Bundesländern
gerichtet ganz deutlich sagen: Das, was für die neuen
Bundesländer ein Verlust ist, ist für die alten Bundesländer ein Gewinn. Deshalb sollte man bedenken, dass Solidarität, die sicherlich noch lange vonnöten sein wird,
keine Einbahnstraße ist. Man muss sich auch darum
kümmern, dass die jungen Menschen in den neuen Bundesländern bleiben; denn sonst wird der Aufbau Ost insgesamt nicht gelingen.
Lassen Sie mich das eigentliche Problem schildern:
Wir müssen den Menschen klar machen, ob wir in den
letzten 15 Jahren überhaupt etwas erreicht haben. Das,
was in dieser Zeit geschehen ist, will ich anhand von drei
Zahlen, die das Land Sachsen betreffen, aufzeigen: Vor
Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte Sachsen ein Bruttosozialprodukt, das 130 Prozent des damaligen Reichsdurchschnitts betrug. Nach dem Ende der DDR hatte
Sachsen ein Bruttosozialprodukt in Höhe von 30 Prozent
des Bundesdurchschnitts. Das bedeutet, dass Sachsens
Bruttosozialprodukt in den mehr als 40 Jahren kommunistischer Diktatur 100 Prozentpunkte verloren hat. Jetzt
liegt es bei 70 Prozent des Bundesdurchschnitts. Sachsens Bruttosozialprodukt hat sich in den letzten 15 Jahren also etwas mehr als verdoppelt. Daran wird deutlich,
dass wir mit dem Aufbau Ost erfolgreich waren.
({2})
An dieser Stelle möchte ich recht herzlichen Dank sagen: sowohl für die Solidarität des Westens als auch für
den Fleiß und Mut der Menschen in den neuen Bundesländern, die nicht den Kopf in den Sand gesteckt, sondern angepackt, aufgebaut und etwas unternommen haben; denn sonst würden wir nicht dort stehen, wo wir
heute stehen. Man kann durchaus sagen, dass der Aufbau
Ost bis zum heutigen Tag ein wirklicher Erfolg war.
({3})
Wie ich bereits sagte, haben wir das Ende dieser Entwicklung aber noch lange nicht erreicht. Daher stellt sich
die Frage: Was muss die Politik nun tun? Lassen Sie mich
auf einen Aspekt eingehen, der in der heutigen Debatte
schon erwähnt worden ist: den Solidarpakt. Der jetzt
geltende Solidarpakt II ist im Sommer des Jahres 2001
auf einer Sonderkonferenz der Länder mit dem Ziel vereinbart worden, gleichwertige wirtschaftliche und soziale
Lebensverhältnisse in Ost und West zu schaffen. Aber im
Unterschied zum Solidarpakt I wurde sein Schwerpunkt
eindeutig bei den Investitionen gesetzt: Das im Vergleich
zum Westen bestehende Infrastrukturdefizit soll durch Investitionen in den neuen Ländern abgebaut werden.
Der Solidarpakt II setzt sich aus zwei Körben zusammen: dem Korb I, den so genannten Sonderbedarfsergänzungszuweisungen, und dem Korb II, den zusätzlichen
Leistungen; dazu gehören die Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, die
Investitionszulage, europäische Strukturfondsmittel und
andere. Dieser Solidarpakt II bedeutet aus der Sicht der
neuen Bundesländer die Chance, den Aufbau Ost fortzusetzen.
({4})
Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Mittel auch
tatsächlich für den Aufbau Ost eingesetzt werden. Lieber
Kollege Hettlich, Sie haben es angesprochen: Es gibt leider die Diskussion über die so genannte Fehlverwendung, was nach geltender Definition bedeutet, dass nicht
alle neuen Bundesländer eine solidarpaktgerechte Verwendung der Mittel nachweisen können. Darauf hat im
Übrigen auch das Bundesfinanzministerium in seiner
Stellungnahme vom Januar 2006 zu den Fortschrittsberichten „Aufbau Ost“ der ostdeutschen Länder hingewiesen; es hat eine aufbaugerechte Verwendung gefordert.
Es ist ganz klar: Wenn die Mittel aus dem Solidarpakt
nicht für den wirtschaftlichen und infrastrukturellen
Aufbau Ost verwandt werden, würde der Solidarpakt zu
Recht infrage gestellt werden. Wir müssen deshalb auch
vor dem Hintergrund der Erfahrungen der letzten Jahre
darüber diskutieren, was eine solidarpaktgerechte Verwendung ist: Die Mittel müssen im Endeffekt für die
Schaffung von Arbeitsplätzen - und zwar in der Wirtschaft - dienen; sie dürfen beispielsweise nicht, wie es
diskutiert wird, zur Sicherung eines überhöhten Personalbestandes im öffentlichen Dienst verwandt werden.
Denn 2019 läuft der Solidarpakt II aus und dann müssen
die neuen Bundesländer aus eigener Kraft die finanziellen Mittel zur Erhaltung ihrer Infrastruktur und zur Erfüllung ihrer eigenen, staatlichen Aufgaben aufbringen.
Dazu sind aus heutiger Sicht zwei Maßnahmen erforderlich: Erstens. Die Mittel des Solidarpaktes II müssen
den neuen Bundesländern verlässlich zur Verfügung stehen.
({5})
Das kann am besten durch eine gesetzliche Fixierung des
Korbes II erfolgen. Der Korb II darf keine Verfügungsmasse zur Aufstellung des jeweiligen Bundeshaushaltes
werden. Für ihn muss eine ähnliche Regelung wie für
den Korb I gefunden werden. Die Föderalismuskommission, die jetzt ihre Beratungen zum Ende bringt - ich
hoffe, dass wir zu einem positiven Ergebnis kommen -,
hat die Chance, exaktere Definitionen hierfür zu finden;
Herr Vaatz hat darauf hingewiesen.
Zweitens muss die solidarpaktkonforme Verwendung
der Mittel sichergestellt werden. Das bedeutet auch: Wer
davon abweicht, muss mit Sanktionen rechnen. Ich
denke, das ist die Konsequenz aus diesen beiden Schritten und dies ist die Aufgabe, die wir als Politiker in den
nächsten Wochen und Monaten zu erfüllen haben.
({6})
Der Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit
zeigt: Die neuen Bundesländer sind auf einem guten
Weg. Dennoch bleibt viel zu tun. Im Koalitionsvertrag
nimmt der Aufbau Ost eine wichtige, zentrale Stellung
ein. Deswegen ist mir auch nicht bange: Wir werden den
Aufbau Ost bewältigen und ich bin optimistisch, dass
wir irgendwann nicht mehr über den Aufbau Ost reden
müssen.
Danke schön.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/6000 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. Die Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/650, der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/693 sowie der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/692 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe,
das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen
Gehb, Dr. Günter Krings, Günter Baumann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim
Stünker, Dr. Peter Danckert, Klaus Uwe
Benneter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Speicherung mit Augenmaß - Effektive
Strafverfolgung und Grundrechtswahrung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Gisela Piltz, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Gegen eine europaweit verpflichtende Vorratsdatenspeicherung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Silke Stokar
von Neuforn, Volker Beck ({1}), Jerzy
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Freiheit des Telefonverkehrs vor Zwangsspeicherungen
- Drucksachen 16/545, 16/128, 16/237, 16/690 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Joachim Stünker
Wolfgang Neskovic
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser Debatte hat der Kollege Martin Dörmann von der
SPD-Fraktion das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei politischen Entscheidungen müssen wir oft eine Abwägung zwischen unterschiedlichen Gesichtspunkten
und Zielen treffen, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Die Vorratsdatenspeicherung von Verbindungsdaten im Telekommunikationsbereich ist hierfür ein geradezu klassisches Beispiel. Auf der einen
Seite geht es um eine effektive Strafverfolgung und den
Schutz vor Verbrechen durch Terroristen, auf der anderen Seite geht es um den Grundrechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger sowie der betroffenen Unternehmen.
Uns ist beides wichtig.
({0})
Mit dem vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen stellen wir einen angemessenen Ausgleich beider
Ziele sicher. Der auf der europäischen Ebene gefundene
Kompromiss bezüglich einer neuen EU-Richtlinie wird
durch ihn unterstützt und innerhalb dieses Kompromisses werden die strengstmöglichen Anforderungen formuliert. Hierdurch leisten wir einen Beitrag zu einer
effektiven Strafverfolgung. Es geht dabei um Verbindungsdaten und nicht um die Inhalte von Telefonaten
und E-Mails.
({1})
Zurzeit haben die Strafverfolgungsbehörden bereits
die Möglichkeit, bei den Telekommunikationsunternehmen solche Verbindungsdaten abzufragen, die diese zu
Abrechnungszwecken bis zu sechs Monate speichern
dürfen.
({2})
Diese Ermittlungsmöglichkeiten gehen nun jedoch immer weiter zurück, da immer mehr Kunden die so genannten Flatrates nutzen. Bei diesen Pauschaltarifen
werden die Einzelverbindungen in der Regel eben nicht
mehr erfasst. Diese Ermittlungsmöglichkeit ist für eine
effektive Strafverfolgung jedoch geeignet und in vielen
Fällen sogar erforderlich. Deshalb liegt uns sehr daran,
hier eine gleichmäßige Speicherungspflicht für alle Verbindungsdaten vorzusehen.
Mit dem Antrag machen wir aber zugleich auch deutlich, dass es dabei nicht darum gehen kann, möglichst
viele Daten für eine möglichst lange Zeit zu speichern
und abfragen zu können.
({3})
Vielmehr legen wir Wert darauf, den Eingriff möglichst
gering zu halten, um somit die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger zu wahren.
In der EU-Richtlinie sind im Hinblick auf die Daten,
die erhoben werden dürfen, bereits deutliche Einschränkungen gegenüber den früheren Vorschlägen aus Mitgliedsländern vorgesehen. Darüber hinaus werden wir
uns bei der gesetzlichen Umsetzung hier bei uns in
Deutschland darauf beschränken - das ist in dem gemeinsamen Antrag der Koalition vorgesehen -, hinsichtlich der Speicherung lediglich die Mindestanforderungen umzusetzen, und uns eben nicht am oberen Rand der
Möglichkeiten, die durch die EU-Richtlinie gegeben
sind, zu orientieren.
({4})
Konkret heißt dies: Wir sehen lediglich eine Speicherungsfrist von sechs Monaten vor. Dieser Zeitraum
kommt dem bisherigen faktischen Speicherzeitraum sehr
nahe. Andere Länder, wie zum Beispiel Großbritannien,
wollen bis zu 24 Monate speichern lassen; ursprünglich
waren es sogar 36 Monate.
({5})
Außerdem werden wir die Voraussetzungen, unter denen
die Ermittlungsbehörden Daten abfragen können, hoch
ansetzen. Nur bei schweren Straftaten oder bei Straftaten, die mittels Telekommunikation begangen werden,
soll die Abfrage erlaubt werden. Damit stellen wir die
Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen sicher.
({6})
Zudem werden wir die betroffenen Telekommunikationsunternehmen auch nicht im Regen stehen lassen.
Sie werden durch die Speicherungspflicht und die Abfrage zunächst ja belastet. Bei der gesetzlichen Umsetzung werden wir eine angemessene Entschädigung für
die Inanspruchnahme regeln.
({7})
Eine Totalverweigerung auf europäischer Ebene,
wie sie der Opposition vorschwebt, hätte schwerwiegende Probleme aufgeworfen. Gerade in Europa kommt
es darauf an, gemeinsame Standards zu verabreden,
({8})
und zwar sowohl im Hinblick auf eine effektive Strafverfolgung als auch im Hinblick auf den Grundrechtsschutz der europäischen Bürgerinnen und Bürger.
Es ist der Bundesregierung und namentlich der Bundesjustizministerin Zypries zu verdanken, dass es in der
EU nun zu einer angemessenen Kompromisslösung gekommen ist. Dadurch, dass wir in Deutschland die Fristen zur Speicherung der abgefragten Daten am unteren
Ende der Möglichkeiten der Richtlinie ansetzen, die Anforderungen an den Eingriff jedoch heraufsetzen, wahren
wir die notwendige Balance.
Diese Speicherung mit Augenmaß wird dem Zielkonflikt zwischen effektiver Strafverfolgung auf der einen
Seite und der Wahrung der Grundrechte auf der anderen
Seite in vollem Umfange gerecht. Deshalb bitte ich Sie:
Unterstützen Sie den ausgewogenen und sachgerechten
Antrag der Koalition.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Überschrift, Herr Dörmann, des
Koalitionsantrags „Speicherung mit Augenmaß - Effektive Strafverfolgung und Grundrechtswahrung“ ist in
allen Punkten falsch. Die geplante Maßnahme, die Einführung einer europaweit verpflichtenden Vorratsdatenspeicherung, ist eben nicht maßvoll, sondern sie ist eher
maßlos.
({0})
Der Beitrag zur Verbrechensbekämpfung ist äußerst
fragwürdig. Grundrechtswahrend ist dieser Eingriff mit
Sicherheit nicht, sondern er ist grundrechtseinschränkend.
({1})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU und der SPD, in Ihrem Antrag verkaufen Sie
Selbstverständlichkeiten als Sieg der Bürgerrechte. Wie
muss es um die Bürgerrechte bestellt sein, wenn bereits
der Verzicht auf die Speicherung von Standortdaten, erfolglosen Anrufversuchen und Inhaltsdaten als Erfolg
gefeiert wird?
({2})
Am eigentlichen Paradigmenwechsel ändert sich überhaupt nichts; denn es wird künftig auch nach dem jetzt
gefundenen Kompromiss das Kommunikationsverhalten von mehr als 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern in der Europäischen Union anlasslos und verdachtsunabhängig überwacht.
({3})
Natürlich hat die Justizministerin Vorschläge eingebracht. Warum? Weil ein einstimmiger Beschluss des
Bundestages vorlag, diesem Vorhaben nicht zuzustimmen.
({4})
Sie hat versucht, eine Einigung zu erzielen. Wir konzedieren, dass sie sich in einer schwierigen Lage eingebracht und verhandelt hat. Aber letztendlich ist das, was
als Kompromiss gefunden worden ist, immer noch eine
falsche Weichenstellung.
({5})
Auch nach diesem Kompromiss wird es möglich sein,
über Monate hinweg minutiös nachzuvollziehen, wer wo
im Internet gesurft hat, wer wann mit wem per Telefon,
Handy oder E-Mail kommuniziert hat,
({6})
wer wann welche Onlinedienste in Anspruch genommen
hat. Die Daten sollen von allen gespeichert werden, und
zwar nicht nur in einem gezielten Verfahren.
({7})
Das ist ein Bruch mit den bisherigen Grundsätzen der
Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung, weil eben die
generelle Speicherung über einen längeren Zeitraum unabhängig davon ist, ob überhaupt ein Verdachtsmoment
gegen eine Person vorliegt.
({8})
Die Folge ist, dass die Dauer des Eingriffs beliebig
wird.
({9})
Das zeigt die Diskussion um die Speicherfristen. Ist die
Dauer von sechs Monaten, wie jetzt in Ihrem Antrag
vorgesehen, verhältnismäßig und die von neun Monaten
unverhältnismäßig? Die Wahrheit ist: Die Unverhältnismäßigkeit beginnt nicht erst bei sechs, neun, zwölf oder
24 Monaten, sondern diese Form der Vorratsdatenspeicherung ist generell unverhältnismäßig.
({10})
Wir weisen außerdem darauf hin, dass es in Europa
keine einheitlichen Regeln gibt. Das war immer ein Anliegen und auch die Zielrichtung. In den einzelnen Ländern können jetzt Maßnahmen von unterschiedlicher
Dauer vorgenommen werden.
({11})
Die untere Grenze ist die Dauer von sechs Monaten.
Aber es ist zu keiner Vereinheitlichung gekommen, weil
die anderen Länder in unterschiedlicher Art und Weise
Daten speichern können.
({12})
Von daher wird der Erfolg, von dem immer gesprochen
wird, nicht eintreten.
Alternativen sind nicht ernsthaft in Erwägung gezogen und geprüft worden.
Auch das „quick freeze“-Verfahren, das immer wieder genannt wird, ist nicht als ernsthafte Alternative in
die Debatten eingebracht worden. Mit diesem Verfahren
wäre die Wirtschaft aber deutlich besser gefahren.
Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion vom 8. Oktober 2004
mitgeteilt, dass es mit der Vorratsdatenspeicherung zu
einer Beeinträchtigung des Lissabonprozesses kommen
wird, weil die Dynamik der Wirtschaft durch diese Form
der Datenspeicherung behindert wird. Es war aber das
erklärte Ziel des EU-Gipfels in Lissabon, Europa zur
weltweit wettbewerbsstärksten Wirtschaftsregion zu machen.
({13})
Deshalb kann von einem Ausgleich mit Augenmaß keine
Rede sein; vielmehr wird gerade dieses wichtige Ziel
durch die vorgesehene Vorratsdatenspeicherung ein
Stück weit konterkariert.
({14})
In dem Antrag ist des Weiteren eine Entschädigungsregelung für die Unternehmen vorgesehen, die verständlicherweise allein ob der Tatsache, dass eine solche Regelung aufgenommen wurde, positiv reagiert haben. Wie
diese Regelung aber konkret beschaffen sein soll, geht
aus dem Antrag nicht hervor. Wie sollen im Übrigen die
damit verbundenen Kosten finanziert werden?
Wir begrüßen zwar das Vorhaben, die Unternehmen
zu entschädigen;
({15})
die vorgesehene Regelung geht aber zulasten der Bürgerinnen und Bürger. Die Finanzierung muss schließlich
über den Haushalt erfolgen, sodass die Bürger letztendlich für ihre eigene Überwachung zahlen müssten.
({16})
Die Wirtschaft und die Datenschutzbeauftragten waren gegen die Vorratsdatenspeicherung. Der Bundestag
hat sich, nachdem er sich ruhig und sachlich mit diesem
Thema befasst hat, einstimmig dagegen ausgesprochen.
Die Bundesregierung und die Koalition mit ihrem Antrag setzen sich aber über alle berechtigten Bedenken
hinweg. Insofern ist von dem Versprechen der Bundeskanzlerin, mehr Freiheit zu wagen, auch in diesem Bereich äußerst wenig übrig geblieben.
Recht herzlichen Dank.
({17})
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Günter Krings für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Meine Vorrednerin hat darauf hingewiesen, dass sich der Bundestag in den bisherigen Debatten ruhig und sachlich mit dem Thema befasst habe.
Ich glaube, dass wir das auch heute schaffen. An uns soll
es jedenfalls nicht scheitern.
In den heute zur Abstimmung stehenden Anträgen zur
so genannten Vorratsdatenspeicherung ist viel von der
Freiheit des Telefonverkehrs, von Wirtschaftsinteressen
und der Pflicht zur Kostentragung die Rede. All das sind
zweifellos ganz zentrale Punkte, auf die ich noch eingehen werde.
Ich glaube aber, dass es wichtig ist, uns am Anfang
der Debatte noch einmal klar zu machen, worum es den
Befürwortern einer - wohlgemerkt: eingeschränkten Vorratsdatenspeicherung geht und was den Anlass zu
dem vorliegenden Antrag gegeben hat.
Ich möchte nur ein Beispiel von vielen Fällen anführen, in denen die Vorratsdatenspeicherung eine Rolle
hätte spielen können. Anfang 2003 deckte die spanische
Polizei ein Internetforum auf, in dem Bilddateien mit
überwiegend kinderpornographischem Inhalt verbreitet
wurden. Die Spur der Verantwortlichen führte nach
Deutschland. Als sich die Polizei um die Daten der Tatbeteiligten bemühte, teilte ihr der Internetserviceprovider mit, dass keine gesetzliche Protokollierungspflicht
hinsichtlich IP-Adresse und Nutzungszeitraum bestehe.
Eine Identifizierung der Täter schied damit aus. Dies ist
umso tragischer, da nicht ausgeschlossen werden kann,
dass die Forumsnutzer auch an Misshandlungen von
Kindern beteiligt waren.
Dieses Beispiel ist, wie gesagt, nur eines von vielen.
Zahlreiche Verbrechen nicht nur im Bereich des Kindesmissbrauchs, sondern etwa auch rechtsradikale Straftaten, Taten des organisierten Verbrechens und des internationalen Terrorismus hätten in Deutschland aufgeklärt
werden können, wenn es bereits eine entsprechende Regelung, wie sie Union und SPD in dem vorliegenden Antrag fordern, gegeben hätte.
({0})
Die Koalitionsfraktionen erkennen sehr wohl an, dass
wir uns hier in einem schwierigen Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen und Grundrechte befinden. Die
Interessen des Bürgers, möglichst wenigen Eingriffen in
die Privatsphäre ausgesetzt zu werden, stehen dem staatlichen Interesse an der Verfolgung von Kriminellen gegenüber. Schon der Titel unseres gemeinsamen Antrages
„Speicherung mit Augenmaß - Effektive Strafverfolgung und Grundrechtswahrung“ macht deutlich, dass
wir einen vernünftigen Interessenausgleich vornehmen
wollen und werden. Wir sind uns bewusst, hier in
Rechte der Bürger einzugreifen. Aber es sind eben
keine Rechte, die die Verfassung vorbehaltlos gewährt.
Einschränkungen sind möglich, solange sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen.
Bei einer ernsthaften Interessenabwägung darf man
nicht bei dem vordergründigen Interessengegensatz Bürger/Staat stehen bleiben. Vielmehr muss man sich fragen, welches Gut auf der Seite des Staates steht. Hat
denn nur der Staat als Institution ein Interesse an einer
effektiven Strafverfolgung oder ist die Strafverfolgung
nicht vielmehr ein Mittel zum Zweck, damit die Menschen in unserem Land in Sicherheit leben können? Auf
diese Frage geben Sie von den Grünen und der FDP in
Ihren Anträgen keine Antworten. Vielmehr verschanzen
Sie sich hinter einer 30 Jahre alten Grundrechtsdogmatik, die nur Abwehrrechte kennt. Sie ignorieren, dass gerade die Grundrechte dem Staat auch die positive Pflicht
auferlegen, Leib, Leben und Eigentum seiner Staatsbürger aktiv zu schützen.
({1})
Der Staat darf nicht tatenlos zusehen, wie seine Staatsbürger zu Opfern werden. In Wirklichkeit geht es also
nicht nur um den Interessengegensatz Staat/Bürger, sonDr. Günter Krings
dern auch um den zwischen dem Bürger als Opfer und
dem Bürger als Täter. Wer dies ignoriert, betreibt Täterschutz auf Kosten von Opferschutz.
({2})
Die orwellschen Visionen, unter denen manch einer
aus diesem Hause in den letzten Wochen offenbar gelitten hat, lassen sich schnell kurieren, wenn man nur bereit
ist, zur Kenntnis zu nehmen, welche Daten überhaupt
gespeichert werden sollen; der Kollege Dörmann hat das
bereits dargelegt. Bei der Vorratsdatenspeicherung geht
es lediglich um Verkehrsdaten und nicht um Daten, die
über den Inhalt einer Kommunikation Auskunft geben.
Es sind noch nicht einmal alle Verkehrsdaten, die von
der Richtlinie erfasst werden, sondern es sind nur ausgewählte Daten, die für die Strafverfolgung unerlässlich
sind. Das ist im Internet etwa die IP-Adresse; es sind
aber nicht die aufgerufenen Internetseiten. Bei einem Telefonat sind das die Telefonnummer, die Verbindungsdauer und die Standortdaten zu Gesprächsbeginn, nicht
aber der Inhalt des Gespräches. Erfolglose Telefonate
und die Standortdaten im weiteren Verlauf eines Handygespräches im Auto sind von der Speicherungspflicht
entbunden. Die angesprochenen Verkehrsdaten werden
zum Teil schon heute gespeichert, wenn es sich um Daten handelt, die der Diensteanbieter aus abrechnungstechnischen Gründen braucht. Bei diesen Daten besteht
für den Zeitraum der Abrechnung das Recht der Unternehmen, sie zu speichern.
Für die Staatsanwaltschaft und die Polizei beginnt damit in schöner Regelmäßigkeit ein Wettlauf mit der Zeit,
um noch rechtzeitig an die benötigten Daten zu kommen. Die Tataufklärung wird damit zum Roulettespiel.
Sie ist von der Zufälligkeit des Vertragsverhältnisses und
der Organisation der internen Betriebsabläufe in dem jeweiligen Telekommunikationsunternehmen abhängig.
Da, wo Pauschalvergütungen, so genannte Flatrates, mit
dem Kunden vereinbart sind, ist der Täter nahezu optimal geschützt; denn Alternativen zu solchen Telekommunikationsdaten stehen den Strafverfolgungsbehörden
oft gar nicht zur Verfügung, Frau LeutheusserSchnarrenberger. Die traurige Folge der gelöschten Daten ist daher oft die unaufgeklärte Tat. Das wollen und
können wir nicht hinnehmen.
({3})
Wie schon mein kurzes Eingangsbeispiel gezeigt hat,
macht Kriminalität heute längst nicht mehr vor Landesgrenzen Halt. Wir brauchen daher einen verlässlichen
Rahmen in der Europäischen Union, der den Strafverfolgungsbehörden eine solide Grundlage für ihre Ermittlungen gibt. Daher sind nationale Alleingänge keine Lösung; vielmehr müssen in allen Ländern der EU
Mindeststandards gelten. Dass die Mindeststandards ihren Namen auch verdient haben und die Europäische
Union auf übertriebene und unverhältnismäßige Speichervorgaben, etwa bei den Fristen, verzichten wird, ist
ganz entscheidend dem Einsatz unserer Justizministerin,
Frau Zypries, geschuldet. Ich möchte mich im Namen
meiner Fraktion für die Brüsseler Verhandlungsführung
der Ministerin ausdrücklich bedanken. Nur weil sich das
BMJ dem Ansinnen einiger anderer Mitgliedstaaten zum
Beispiel bezüglich einer verpflichtenden zwei- oder dreijährigen Speicherung oder einer Speicherung von Inhaltsdaten entgegengestemmt hat, können wir, die Koalitionsfraktionen, guten Gewissens unseren gemeinsamen
Antrag mit einer abgewogenen Lösung zur Abstimmung
stellen.
({4})
Die Bürger und die Unternehmer können sich darauf
verlassen, dass wir die Vorgaben aus Brüssel nicht überschreiten werden. Getreu der in den Medien hinreichend
oft genannten zentralen Devise der großen Koalition
wollen wir auch diese Richtlinie nur eins zu eins umsetzen und nicht draufsatteln. In Deutschland wird die
Speicherfrist daher nicht über sechs Monate ausgedehnt
werden. Die Rückmeldungen aus der Praxis von Polizei
und Staatsanwaltschaften zeigen übrigens sehr deutlich,
dass die Sechsmonatsfrist in aller Regel ausreichend ist,
um die relevanten notwendigen Daten für die Ermittlung
zu erhalten.
Mit der jetzt gefundenen Lösung, die unser Antrag
widerspiegelt, können auch die betroffenen Unternehmen gut leben. Der Präsident des Branchenverbandes
BITKOM hat dies am Montag auf einer Veranstaltung,
auf der ich sein durfte, bestätigt und diese Regelung als
annehmbar dargestellt. Diese Akzeptanz können wir von
den betroffenen Unternehmen aber nur dann erwarten,
wenn zumindest die Kosten abgegolten werden, die bei
einem konkreten Auskunftsverlangen der Behörde entstehen. Wenn ein Unternehmen Ermittlungshandlungen
für Polizei und Staatsanwaltschaft durchführen muss,
darf es nicht auf den Kosten sitzen bleiben. Eine Anpassung der einschlägigen Entschädigungsvorschriften sieht
unser Antrag daher ausdrücklich vor.
({5})
Die Unternehmen erhalten somit einen finanziellen
Ausgleich durch den Staat auf der einen Seite, auf der
anderen Seite bleibt die Belastung im Vergleich zu andern TK-Märkten auch innerhalb der Europäischen
Union durch die Festlegung der Speicherungspflicht auf
sechs Monate an der untersten Grenze. Wie Sie von der
FDP vor diesem Hintergrund zu der Prognose kommen,
hier drohe gerade der deutschen TK-Branche ein Verlust
der wirtschaftlichen Dynamik, wird wohl Ihr Geheimnis
bleiben.
({6})
Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine kurze Bemerkung. Wir haben in der Tat lange darüber nachgedacht, wie wir mit der Rechtsgrundlage bei dieser
Richtlinie umgehen. Wir haben lange die Auffassung
vertreten - ich vertrete sie heute noch -, dass ein Rahmenbeschluss das Richtige an dieser Stelle gewesen
wäre.
({7})
Ich glaube aber, dass wir bei aller gebotenen Zurückhaltung bei europäischen Rechtsgrundlagen eine vertretbare
Lösung gefunden haben. Ich habe auch gar nichts dagegen, wenn diese Angelegenheit vom EuGH geprüft wird.
Ich glaube schon, dass wir es durch die konstruktive
Haltung, uns auf die Verhandlungen innerhalb der Richtliniendiskussion einzulassen, geschafft haben, die Frist
von sechs Monaten zu erreichen, die schlimmsten Dinge
abzuwehren und eine ausgewogene und vernünftige Lösung zu finden. Vor dem Hintergrund kann ich auch bei
Bedenken hinsichtlich der Rechtsgrundlage guten Gewissens für mich und meine Fraktion die Zustimmung
nicht nur zum Antrag, sondern auch zu der dahinter stehenden Richtlinie erklären.
Ich komme zum Schluss. Speicherung mit Augenmaß - das ist unser Ziel. Interessengegensätze können
und dürfen wir, die wir Regierungsverantwortung tragen, nicht einseitig auflösen, wie das die beiden anderen
Anträge wollen. Wir müssen vielmehr einen vernünftigen, adäquaten und fairen Ausgleich finden, gerade auch
im Interesse der Bürger in Deutschland und der Europäischen Union. Sie werden mit dieser Vorratsdatenspeicherung ein Stück sicherer leben. Es wäre schön, wenn uns
die Opposition im Interesse dieser Sicherheit begleiten
würde.
Danke schön.
({8})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Jan Korte, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist
wieder eine typisch sozialdemokratische Logik. Nur
weil man das absolut Schlechte verhindert hat, ist das
Schlechte noch lange nicht gut.
({0})
Das gilt auch für diesen Antrag, bei dem unter der Überschrift „Speicherung mit Augenmaß - Effektive Strafverfolgung und Grundrechtswahrung“ die Leute in die
Irre geführt werden sollen. Das ist euphemistisch. Unter
dem Vorwand der Terror- und Verbrechensbekämpfung
beschneidet die Koalition wieder einmal Grundrechte
- sie setzt damit das fort, was Rot-Grün begonnen hat und sorgt dafür, dass niemand mehr vorbehaltsfrei kommunizieren kann.
Konkret bedeutet das: Jeder steht unter Überwachung,
wenn er die Telekommunikation nutzt. Über Monate
werden Gesprächspartner, Zeitdauer oder, wie hier schon
erwähnt, IP-Adressen verdachtsunabhängig - das ist der
eigentliche Skandal - gespeichert.
({1})
Hinzu kommt, dass der Antrag der Koalitionsfraktionen
zahlreiche Hintertürchen offen lässt, wie übrigens auch
der Koalitionsvertrag, weswegen da in den nächsten Jahren noch Schlimmes zu befürchten ist. So ist zum Beispiel die Frist der Datenspeicherung, die Sie hier als großen Erfolg verkaufen, lediglich Mindeststandard. Es
kann in Umsetzung der Richtlinie natürlich entschieden
werden, dass wesentlich länger als sechs Monate gespeichert werden kann. Das ist durchaus möglich. Es können
auch Standortdaten beim Mobilfunk vor und nach dem
Gespräch gespeichert werden. Auch das ist bei der Umsetzung zulässig. Das ist sehr gravierend; denn diese Daten erlauben es, wenn man will, Bewegungsmuster zu erstellen. Angesichts des Trends zu Homezonetarifen für
das Handy ist das besorgniserregend. Deswegen lehnen
wir den Antrag ab.
({2})
- Ja, das ist PDS-Logik. Viele von uns haben nämlich
schon einmal einen aufgeblähten Überwachungsapparat
erlebt.
({3})
Wir haben aus der Geschichte gelernt. Das ist Ihnen offensichtlich intellektuell nicht vergönnt.
({4})
Wo ist das Augenmaß, das Sie versprochen haben?
Sie stellen unbescholtene Bürger per se unter Generalverdacht, und zwar alle. Sie sorgen dafür, dass in letzter
Konsequenz niemand mehr seinen Arzt oder Rechtsanwalt vertrauensvoll kontaktieren kann; denn der Staat
kann im Zweifel mithören.
({5})
Damit torpedieren Sie übrigens im Vorbeigehen auch
noch die Wahrung des Berufsgeheimnisses.
({6})
- Je mehr Sie sich aufregen, desto klarer wird, dass ich
in dieser Frage richtig liege.
({7})
Was Sie vorhaben, ist also inakzeptabel.
Routinemäßig wird von Ihnen angesprochen, dass die
Vorratsdatenspeicherung nötig ist, um den Terrorismus
effektiv zu bekämpfen. Ich kann dem, was auf der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der
Länder gesagt worden ist, nur zustimmen. Ich zitiere:
Die damit verbundenen Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis und das informationelle Selbstbestimmungsrecht lassen sich auch nicht durch die Bekämpfung des Terrorismus rechtfertigen, weil sie
unverhältnismäßig sind. Insbesondere gibt es keine
überzeugende Begründung dafür, dass eine solche
Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft
zwingend notwendig wäre.
Recht haben sie an dieser Stelle.
Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache,
dass Deutschland bereits jetzt „Abhörmeister“ ist, halte
ich es für unerlässlich, bei künftigen Gesetzesvorhaben
grundsätzlich eine Verträglichkeitsprüfung in Bezug auf
die Grundrechte einzuführen, damit so etwas schon im
Vorfeld verhindert werden kann. Es ist bedauerlich, dass
so ein Schritt notwendiger denn je ist.
Sie müssen sich darüber klar werden, dass Sie an den
Grundlagen unserer Demokratie nicht herumdoktern
können, wie es Ihnen gerade beliebt. Ich verweise auf
das gestrige Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Darin wurde einiges zur Verfassung und zum Umgang dieses Hauses mit ihr deutlich gemacht. Ich glaube, dass
auch dieses Vorhaben von Ihnen das Bundesverfassungsgericht noch beschäftigen wird.
Blicken wir zurück auf die letzten Monate, was die
Vermischung und Verquickung mit BKA und BND angeht.
({8})
Kaum noch jemand hat einen Überblick darüber, was unsere Dienste zusammen mit dem BKA wo und wann treiben. Mir wird angst und bange, wenn ich darüber nachdenke, dass wir die Grundlagen dafür schaffen, Tonnen
an Daten zu sammeln.
Die Linke wird dem Antrag der Koalitionsfraktionen
deswegen selbstverständlich nicht zustimmen. Er zielt
auf einen weiteren Eingriff in die Grundrechte. Wir stimmen in diesem Falle dem Antrag der FDP zu. Er ist äußerst trefflich. Ich wünsche mir, dass Sie so treffliche
Anträge auch in Fragen der Sozial- und Wirtschaftspolitik vorlegen.
({9})
Dann könnten wir die große Koalition hier ordentlich
unter Druck setzen.
({10})
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat nun der Kollege Jerzy Montag, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Korte, Ihr Vergleich der Bundesrepublik
Deutschland, selbst wenn sie von einer schwarz-roten
Koalition geführt wird, mit dem Unrechts- und Spitzelstaat DDR, unter dem Sie vielleicht gelitten haben, war
unangemessen. Ich sage „unangemessen“, um kein unparlamentarisches Wort zu benutzen.
({0})
Wenn ich mehr als fünf Minuten Zeit hätte, würde ich
die Koalition gegen Sie in dieser Frage in Schutz nehmen. Wegen der knappen Redezeit, erspare ich es mir.
({1})
Die Menschen, die uns zuhören, und diejenigen, die
vielleicht nachlesen, will ich daran erinnern, worum es
geht: In Europa leben mehr als 450 Millionen Menschen.
Die meisten von ihnen telefonieren, simsen, mailen, faxen und bewegen sich im Internet. Jede dieser Aktivitäten hinterlässt Spuren. Rufnummern, Rufumleitungen,
Rufweiterleitungen, Namen, Anschriften der Kommunikationsteilnehmer, Benutzerkennungen, Internetprotokolladressen, IMSI- und IMEI-Kennungen, Datum, Uhrzeit, Dauer der Kommunikation und schließlich
Standortdaten über Beginn und Dauer der Kommunikation mit Mobilgeräten, all das soll nach der vorliegenden
Richtlinie auf Vorrat gespeichert werden. Bis auf die direkte Kenntnisnahme der Inhalte wird damit alles, was
es an Standortdaten gibt - wirklich alles! -, durch die
neue Richtlinie erfasst.
({2})
Wie weit aus diesen sensiblen und umfassenden Daten
Rückschlüsse auf soziales Verhalten, persönliche Veranlagungen, ja, auch Inhalte der Kommunikation möglich
sind, überlasse ich der Fantasie jedes Einzelnen. Aber
ich weise darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht
alle diese Daten im Rahmen des Fernmeldegeheimnisses
unter den gleichen grundrechtlichen Schutz gestellt hat
wie die Inhalte der Kommunikation selbst.
({3})
Um das Ausmaß dessen, was an Speicherung vorgesehen ist, auch für diejenigen, die sich technisch nicht so
sehr damit befassen, klar zu machen: Nach den Zahlen
von BITKOM, die unwidersprochen geblieben sind,
würden für die Bundesrepublik Deutschland pro Tag
- pro Tag! - 639 000 Disketten voll geschrieben werden.
Für ganz Europa ergäbe sich für die sechs Monate, die
Sie als Speicherungsdauer anstreben, eine Wegstrecke
von 2 800 Kilometern, wenn man die Disketten nebeneinander legen würde. - Das sage ich nur, damit Sie sich
einmal die Größenordnung vorstellen können.
({4})
Eine solch lückenlose Erfassung des Kommunikationsverhaltens aller Kommunikationsteilnehmer greift
tief in unser Selbstbestimmungsrecht ein.
({5})
Dieses Selbstbestimmungsrecht ist Teil des Persönlichkeitsrechts. Es ist verfassungsrechtlich geschützt. Das ist
ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das ist der Geist des deutschen Datenschutzrechts
und das war bisher die Auffassung dieses Parlaments.
Deshalb hat sich das Hohe Haus bei der Novelle des
TKG ausdrücklich gegen jegliche Speicherung auf Vorrat ausgesprochen. Zum Schutz der Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger haben wir den Firmen Löschungsfristen auferlegt. Das war bisher die Auffassung des
Parlaments. Deshalb hat dieses Parlament der Bundesregierung auch aufgegeben, auf europäischem Parkett dafür zu sorgen, dass Deutschland diese Richtlinie nicht
mitträgt; so der Innenausschuss am 22. Dezember. Wir
haben gefordert, dass Deutschland diese Richtlinie bei
der Abstimmung ablehnt; so der Rechtsausschuss und
der Wirtschaftsausschuss. Alle diese Entscheidungen haben Sie, meine Damen und Herren Kollegen von CDU/
CSU und SPD, mit uns zusammen getragen.
Deswegen ist es richtig, wenn ich sage: Sie sind diejenigen, die einen Paradigmenwechsel vollzogen haben.
({6})
Das ist besonders enttäuschend bei Ihnen, meine Damen
und Herren Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
weil Sie, was Wortgewalt und auch Wortwitz anbelangt
({7})
- derjenige, der gemeint ist, meldet sich soeben -, bisher
immer diejenigen waren, die sich am effektivsten und
am stärksten für die Grundrechte der Bürger stark gemacht haben.
({8})
Herr Kollege Montag, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Aber selbstverständlich.
Lieber Kollege Montag, vielen Dank dafür, dass Sie
mir Wortwitz zuschreiben. Aber hier geht es nun wirklich um ein ernstes Thema. Sie sprechen zu Recht an,
dass wir in diesem Haus eine gemeinsame Position gefunden haben. Diese gemeinsame Position haben wir
übrigens auch deshalb gesucht, um gegenüber dem
Europäischen Parlament deutlich zu machen, was die
Meinung des deutschen Parlaments ist, so wie das andere nationale Parlamente ebenfalls getan haben.
Nur, das Europäische Parlament hat jetzt entschieden,
und zwar nicht in dem Sinne, in dem ich es mir gewünscht hätte. Ich halte das in der Tat für einen Anschlag auf Bürgerrechte und auf Datenschutz in Europa,
der inakzeptabel ist; da stimme ich den Kritikern zu.
({0})
Mit dieser Bewertung komme ich jetzt aber nicht weiter.
Wir haben diese Richtlinie nun einmal umzusetzen.
Würden Sie deswegen nicht auch konstatieren, dass
sich hier etwas an der Lage geändert hat? Wir müssen
eine Richtlinie umsetzen, ob sie uns gefällt oder nicht.
Wir haben uns im Sinne dessen, was wir beschlossen ha-
ben, bemüht, nur ein Mindestmaß an Umsetzung vorzu-
nehmen. Würden Sie, Kollege Montag, bei der Kritik,
die Sie jetzt auch als Person geübt haben, mir zubilligen,
a) dass es ein Bemühen, hier zu einer Verbesserung zu
kommen, gegeben hat und b) dass wir uns mit unserem
Antrag am unteren Rande dessen bewegen, was uns die
Richtlinie zur Umsetzung vorgibt?
Herr Kollege, zuallererst freue ich mich darüber, dass
Sie auch heute noch zu der Auffassung stehen, dass die
Richtlinie, so wie sie jetzt Realität werden soll, wirklich
einen Anschlag auf die Bürgerrechte darstellt. Für diese
Klarstellung danke ich Ihnen.
({0})
Herr Kollege, nun zu der Antwort auf Ihre Frage an
mich.
({1})
- Hören Sie lieber mir zu! Mit Ihren Kollegen können
Sie sich später unterhalten.
Wenn die Richtlinie nach einer höchstrichterlichen
Überprüfung umzusetzen ist, dann werden wir uns darüber zu unterhalten haben, wie das zu geschehen hat.
Ich will Ihnen aber in den Sekunden, die mir noch
verbleiben, lieber erklären, was wir jetzt gemeinsam machen könnten, wenn Sie nur mitziehen würden. Wir stehen nämlich vor der Situation, dass Kommission und Rat
die Pferde gewechselt haben. Im Jahre 2004/2005 haben
sie es in Form eines Rahmenbeschlusses in der Dritten
Säule, für den sie die Einstimmigkeit gebraucht hätten,
auf den Weg gebracht. Jetzt wurden die Säulen gewechselt und es soll in Form eines Mitentscheidungsverfahrens geschehen, für das nur eine Mehrheit erforderlich
ist.
({2})
Dies ist ein völliger Missbrauch der entsprechenden
europäischen Vorgaben. Ich kündige Ihnen an, dass wir
hier eine dahin gehende Initiative starten werden, dass
die Bundesrepublik Deutschland eine Nichtigkeitsklage
erhebt, falls diese Richtlinie tatsächlich in dieser Form
beschlossen werden sollte. Ich würde mich freuen, wenn
Sie, Herr Kollege, dann die Initiative des Parlaments,
eine Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof zu erheben, mittragen würden. In Ihrem eigenen Antrag steht ja, dass Sie immer noch Bedenken hinsichtlich
der Rechtsgrundlagen, nach denen jetzt vorgegangen
wird, haben.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Wenn Sie es gestatten, gestatte ich es auch.
Ich gestatte es.
Herr Kollege, ich habe Sympathie für diesen Vorschlag. Zwischen uns besteht ja bezüglich der Säulen
völlige Übereinstimmung. Ist Ihnen aber bekannt, dass
alle Rechtsgutachten, die dem Europäischen Parlament
und dem BMJ vorliegen, den Weg über eine andere
Säule nicht mehr als den einzig gangbaren erscheinen
lassen? Hier hat sich die Rechtslage in Europa ziemlich
eindeutig zu unseren Ungunsten gewendet. Wir prüfen
es gerne. Ist Ihnen also dieses in Form von Rechtsgutachten vorliegende Material bekannt? Wenn nicht, stelle
ich es Ihnen gerne zur Verfügung.
Herr Kollege Tauss, mir ist das bekannt. Ich denke
nur mit Grausen an folgende Situation: Wir hatten in diesem Hohen Haus über das Luftsicherheitsgesetz zu beraten und zu entscheiden.
({0})
- Das müssen Sie sich schon anhören. - Deshalb hatte
der Innenausschuss dazu eine Sachverständigenanhörung durchgeführt, bei der uns alle geladenen Rechtsprofessoren mitgeteilt hatten, alle Regelungen seien verfassungsgemäß. Ich hoffe, Sie haben sich gestern ebenso
wie ich dem Vergnügen der Selbstkasteiung hingegeben
und es sich im Fernsehen angeschaut, mit welcher Klarheit das Bundesverfassungsgericht dazu eine eigene
Position gefunden hat, eine Position, die, wie ich finde,
keine schlechte ist. Wir sind deswegen - ich hoffe, das
gilt auch für Ihre Fraktion und die Koalition - bereit,
dann, wenn es zu dieser Richtlinie kommt, dafür zu sorgen, dass, wie es Irland schon angekündigt hat - Frankreich wird sich dieser Haltung offensichtlich auch bald
anschließen -, eine Nichtigkeitsklage dagegen erhoben
wird. Danach können wir immer noch vom EuGH prüfen lassen, ob die Rechtsgrundlage wirklich in Ordnung
gewesen ist. Ich habe dazu meine eigene juristische Meinung. Ich sage Ihnen aber, dass die vorliegende Richtlinie auf sehr schwachen Füßen steht und dass es gut ist,
wenn sie fällt, und nicht schlecht.
({1})
Meine Damen und Herren, ich habe schon darauf hingewiesen, dass die Koalition in ihrem Antrag unter
Ziffer 13 sehr wohl die Bedenken formuliert hat, die sie
immer noch gegenüber der zugrunde gelegten Rechtsgrundlage hat. Deswegen kann ich Sie nur noch einmal
auffordern: Lassen Sie diesen Bedenken auch Taten folgen! Wenn es so weit ist und die Richtlinie im nächsten
Monat tatsächlich kommen sollte, dann sollten wir gemeinsam versuchen, den Rechtsweg zu beschreiten.
Wenn ich den Blick auf die linke Seite des Hauses richte,
kann ich aus Ihren Gesichtern lesen, dass Sie eigentlich
immer noch gegen eine solche Vorratsdatenspeicherung
sind. Sie machen nur mit - das ist klar -, um die Koalition nicht zu gefährden.
Danke schön.
({2})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Jan Korte.
({0})
Es muss ganz schön langweilig gewesen sein ohne
uns. Wie haben Sie das bloß ausgehalten? - Herr
Montag, ich möchte nur eine Bemerkung machen: Erstens habe ich keinen Vergleich mit der DDR angestellt,
sondern eine Schlussfolgerung aus der Analyse der Geschichte gezogen, wonach man heute zu bestimmten
Standpunkten kommt. Zweitens ist zu sagen, dass die
ständigen DDR-Vergleiche, insbesondere von dieser
Seite des Hauses, ununterbrochen gegenüber uns angebracht werden, um sich nicht mit sachlichen Argumenten auseinander setzen zu müssen. Das ist die Wahrheit.
({0})
Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Kollege Montag, ich darf Ihnen versichern: Die
Koalition steht fest, auch in dieser Sache. Es ist gut, dass
es kritische Stimmen gibt; wir brauchen in diesem Deutschen Bundestag kritische Stimmen.
Wir debattieren heute nicht zum ersten Mal über die
Vorratsdatenspeicherung. Deswegen will ich mich ein
bisschen kurz fassen und am Ende meiner Rede auf das
kommen, was hier gesagt worden ist. Nur einige wenige
Punkte:
Erstens brauchen wir für eine wirksame Verfolgung
und Bekämpfung von Straftaten dringend den Zugriff
auf Telekommunikationsverkehrsdaten. Deshalb müssen diese Daten über einen gewissen Zeitraum gespeichert werden. Dies belegen Berichte der Länder und der
anderen EU-Mitgliedstaaten und das belegt auch ein
jüngst vorgelegter Bericht des Bundeskriminalamtes,
der anhand Hunderter realer Fälle aufzeigt, dass die bestehende Rechtslage, die keine strafprozessuale Speicherpflicht vorsieht, unzureichend ist.
Zweitens. Der in Brüssel erzielte Kompromiss hält
die Balance zwischen den Interessen der Strafverfolgung
einerseits und den Interessen der Bürger und der Diensteanbieter andererseits. Zum einen sind nur Daten erfasst,
für die ein Bedarf tatsächlich belegt ist und deren Speicherung keinen unverhältnismäßigen Aufwand verursachen wird.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Geis?
Ja, bitte.
Herr Staatssekretär, im Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen wird beklagt, dass die Bundesregierung
nicht ebenso wie die Staaten Slowenien, Slowakei und
Irland den Beschluss der Richtlinie abgelehnt hat. Können Sie mir sagen, warum diese Staaten die Richtlinie
abgelehnt haben?
({0})
Es gibt - Herr Tauss hat das mit seiner lauten Stimme
schon gesagt - unterschiedliche Gründe. Irland will, wie
der Kollege Montag schon ausgeführt hat, den Europäischen Gerichtshof anrufen, weil es meint, dass die Richtlinie nicht das richtige Rechtsinstrument sei. Das Gleiche meint übrigens auch die Slowakei. Die Slowenen
haben ganz andere Gründe. Sie wissen, dass wir getreu
dem Beschluss des Deutschen Bundestages vom
Januar 2005 immer darauf gedrängt haben, im Rahmen
der Dritten Säule zu verhandeln. Es gibt aber ernst zu
nehmende Rechtsgutachten der Kommission und des
Europäischen Parlamentes, die das anders sehen. Auch
nach neuer Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes kann zum Beispiel Umweltstrafrecht in einer
Richtlinie geregelt werden.
Nun noch etwas, Herr Kollege Geis, was für Sie vielleicht von Interesse ist: Irland hat derzeit bereits eine
Vorratsdatenspeicherfrist von 36 Monaten. Der Slowakei
waren sechs Monate zu wenig; sie will eine Mindestspeicherfrist von 24 Monaten.
({0})
Slowenien hat sich für eine Speicherfrist von mindestens
zwölf Monaten ausgesprochen. Gerade diese drei Staaten sind also nicht so altruistisch und menschenfreundlich, wie Bündnis 90/Die Grünen hier unterstellt.
({1})
Deswegen halten wir die Mindestspeicherfrist von
sechs Monaten für maßvoll. In der Praxis bedeutet das,
dass die meisten Unternehmen gar keine wesentlich längeren Speicherungen vornehmen müssen als bisher. Das
haben auch die Abgeordneten des Europäischen Parlaments so gesehen und deshalb von sich aus gesagt, dass
sie dem zustimmen können.
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, auch die Reaktion
der Unternehmen und Verbände war - Herr Krings hat es
bereits gesagt - einhellig positiv. Wir wollen uns bei der
Umsetzung der Richtlinie an Mindestanforderungen
orientieren. Was jetzt in der Richtlinie als Mindestanforderung festgelegt ist, geht wesentlich auf unsere Verhandlungsführung zurück. Wir haben uns in Brüssel für
maßvolle Speicherpflichten eingesetzt. Dabei ging es im
Übrigen nicht um das Bewegungsprofil, das Sie, Herr
Montag, angesprochen haben. Dies wird es nach unserem Willen nicht geben. Wir wollen diese Position mit
Ihrer Unterstützung in Brüssel weiter vertreten.
({2})
Ich darf mich an dieser Stelle bei denjenigen sehr
herzlich bedanken, die im Januar 2005 diesen Beschluss
gefasst haben. Auch dank der Rückendeckung des Parlamentes wurden wir befähigt, die Verhandlungen in unserem Sinne zu führen. Es war keineswegs so, Herr Kollege Montag, dass wir generell gesagt haben, wir wollen
keine Vorratsdatenspeicherung. Wir haben im Jahre
2004 einen Änderungsantrag des Bundesrates abgelehnt,
({3})
weil er nach unserer Ansicht nicht in das Telekommunikationsgesetz hineinpasste. Wir haben aber auch gesagt,
dass wir im Moment und unter diesen Bedingungen
keine Vorratsdatenspeicherung wollen, aber dass wir
noch einmal in diese Thematik einsteigen, wenn sich die
Bedingungen - damals war von Mindestspeicherfristen
von 24 Monaten und von einer Erstellung des Bewegungsprofils die Rede - ändern.
Verehrte Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger,
ich muss mich noch einmal an Sie wenden. Sie beklagen,
dass wir Bürgerrechte verletzen
({4})
und dass wir wahllos in diese Rechte eingreifen. Herr
Dörmann hat deutlich gemacht, dass Abfragen nur bei
ganz bestimmten Straftaten überhaupt zulässig sind. Das
von Ihnen vorgeschlagene „quick freeze“-Verfahren
würde viele Fälle überhaupt nicht erfassen, wie zum Beispiel den von Herrn Krings genannten Fall.
Ich kann Ihnen einen weiteren Fall nennen, der uns im
Moment alle betrifft. Sie alle bekommen zurzeit sicher
fingierte E-Mails, so genannte Phishing-Mails. Die vermeintlichen Absender sind beispielsweise Deutsche
Bank, Commerzbank und Raiffeisen-Volksbank.
({5})
- Halt doch mal deinen Mund, Jörg.
({6})
In diesen Mails wird nach Ihren persönlichen Daten wie
PIN und TAN-Nummern gefragt. Darauf fallen Leute
rein. Die Täter sind nicht identifizierbar, weil sie dynamische IP-Adressen benutzen. All das können wir mit
dem „quick freeze“-Verfahren überhaupt nicht verfolgen.
Ich sage es noch einmal: Wer behauptet, dass man
nicht einmal mehr harmlos telefonieren könne, der tut
diesem Rechtsstaat unrecht.
({7})
Denn in unserem Rechtsstaat wird dafür Sorge getragen,
dass man auf diese Daten nur dann zugreifen kann, wenn
jemand gegen das Gesetz gehandelt hat.
({8})
- Herr Kollege Ströbele, ganz ruhig bleiben.
Herr Kollege Montag, wir sind doch keine Straftäter.
Aber wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Bürgerinnen und Bürger vor Straftätern geschützt werden.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun die Kollegin Daniela Raab, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Für die noch wenigen verbliebenen Zuschauer auf der
Tribüne will ich drei Fußnoten anbringen. Sollten Sie bis
zum heutigen Tage der Ansicht gewesen sein, Rechtspolitik sei eher unspannend und manchmal etwas langweilig und unbegreiflich, dann sehen Sie, dass es auch
anders sein kann. Wir haben heute den Fall einer tiefenpsychologischen Anwandlung. Der Kollege Montag
wollte in den Gesichtern der SPD erkannt haben, was die
Kollegen wirklich wollen.
({0})
Es gibt den fast noch bemerkenswerteren Fall, dass
die Linke, ehemals PDS, die Grundrechte für sich entdeckt. Respekt und Gratulation, möchte man nach einem
jahrzehntelangen Lernprozess sagen.
({1})
Aber - das ist die dritte Fußnote - aufgrund Ihrer Unkenntnis fehlt noch einiges zum Verständnis unseres Antrages. Deswegen möchte ich auch gar nicht auf Ihre Position eingehen.
({2})
Zurück zum Thema. Es ist viel Richtiges, aber auch
viel Falsches gesagt worden. Deswegen versuche ich,
das Thema noch einmal für alle diejenigen einzufangen,
die vielleicht in dem Gewusel den Überblick verloren
haben.
Worum geht es bei der Vorratsdatenspeicherung und
worum geht es gerade nicht? Um es gleich vorweg in aller Klarheit zu sagen - ich denke, Kollege Krings hat es
vorhin relativ deutlich ausgeführt -: Es geht nicht um
das wahllose und wilde Anhäufen von Datenbergen,
schon gar nicht von irgendwelchen CD-ROMs, die angeblich bis nach Rom reichen sollen. Es geht einzig und
allein darum, beispielsweise aus der Telefon- oder Internetnutzung Kommunikationsdaten zu sichern und diese
im Falle des Verdachts einer schweren Straftat für Ermittlungen abrufen zu können, also um nicht mehr und
nicht weniger.
Warum ist uns das so wichtig? Das lässt sich für diejenigen, die nicht sehr rechtskundig sind, am besten anhand von einfachen Beispielen erklären. Kollege Krings
hat bereits eines erwähnt. Ich möchte ein zweites hinzufügen, weil es aus einem ganz anderen strafrechtlichen
Bereich kommt: Gegen einen deutschen Staatsangehörigen wurde wegen des Verdachts ermittelt, Turbinen für
Kampfhubschrauber zu beschaffen und nach Libyen zu
liefern. Ursprünglich waren Verbindungsdaten vorhanden. Mangels gesetzlicher Speicherungspflicht konnte
auf diese im Zuge des Ermittlungsverfahrens nicht mehr
zurückgegriffen werden. Es gibt viele weitere Fälle, die
belegen, wie wichtig es ist, dass wir Kommunikationsdaten in einem zeitlichen Mindestrahmen speichern.
Ich füge hinzu: Wir reden hier nicht von Bagatelldelikten und vom viel zitierten Fahrraddiebstahl. Wir reden
auch nicht davon, dass der Staat an der Muschel Ihres
Telefones hängt und Ihre Gespräche belauscht. Es geht
schlicht und ergreifend darum - am Rande sei festgestellt, dass das der Unterschied zwischen Speicherung
und Abhören ist -, dass Kontaktdaten bis zu einem Zeitraum von sechs Monaten gespeichert und im Falle des
Falles, also dann, wenn der Verdacht auf eine erhebliche
Straftat vorliegt, abgefragt werden.
({3})
Wir leben leider nicht auf einer Insel der Glückseligen, die uns von all dem Bösen, das um uns herum geschieht, abschottet. Wir werden vielmehr mit Strukturen
weit verzweigter Verbrechen, mit mafiösen Strukturen
und mit Terrorismus konfrontiert; darauf ist heute schon
vielfach hingewiesen worden. Die bisherigen Bestimmungen des Telekommunikationsgesetzes sind hier einfach nicht ausreichend. Deswegen muss es eine europaweit einheitliche Regelung geben.
Der Bundesregierung ist es - der Staatssekretär hat es
angesprochen - nach teilweise sehr zähen Verhandlungen auf europäischer Ebene gelungen, eine, wie auch ich
finde, ausgewogene, allen beteiligten Interessen Rechnung tragende Lösung zu finden. Im Richtlinientext hat
man sich auf eine allgemeine Speicherungsfrist von
mindestens sechs und höchstens 24 Monaten geeinigt;
all das ist gesagt worden. Erfolglose Anrufversuche werden nicht gespeichert und es wird - das betone ich - kein
Inhalt gespeichert.
Es wurde in der Tat ein Ausgleich zwischen dem effektiven Strafverfolgungsinteresse und, Frau LeutheusserSchnarrenberger, dem Grundrecht des Fernmeldegeheimnisses gefunden. Ich möchte Ihre Bedenken nicht
kleinreden; dass wir uns da richtig verstehen. Wir müssen hier sensibel vorgehen. Das wollen wir auch tun.
({4})
Aber ich denke, der Bürger, der ein großes Interesse daran hat, dass sein Fernmeldegeheimnis gewahrt bleibt,
hat ein ebenso großes Interesse daran, dass er vor Straftaten geschützt wird. Das dürfen wir nicht aus dem Auge
verlieren.
Deshalb bin ich mir ziemlich sicher, dass wir, wenn
die Richtlinie beschlossen worden ist - denn es gibt sie
noch nicht -, vielleicht auch in Zusammenarbeit mit Ihnen - das würde mich sehr freuen - einen ausgewogenen
Gesetzentwurf erarbeiten können. Wie gesagt, wir nehmen die Bedenken ernst. Sie sind angekommen. Ihr Beitrag war sachlich und absolut berechtigt.
Ich bin mir sicher: Wir sind auf dem richtigen Weg.
Es gibt keinen Paradigmenwechsel, höchstens im Bereich der internationalen Kriminalität. Wir sind gezwungen, darauf zu reagieren. Ob es uns wirklich gefällt, ist
eine andere Frage.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Peter Danckert,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Bevor ich es am Schluss meiner Rede vergesse,
möchte ich das Bundesministerium des Innern und das
Bundesjustizministerium bitten, zu prüfen, ob nicht ähnliche Erklärungen abgegeben werden sollten, wie sie inzwischen von etlichen Ländern eingereicht oder angemeldet worden sind.
({0})
Offensichtlich scheint es hinsichtlich der Frist im Bereich der Internettelefonie und der Internet-E-Mails technische Probleme zu geben. Wir wären gut beraten, dies
noch einmal zu prüfen, um nicht nachher an dieser Stelle
ein Problem zu bekommen.
({1})
Ich will mich nicht darüber auslassen, ob hier die
Dritte oder die Erste Säule die richtige Rechtsgrundlage
ist; das wissen die Kollegen Montag und LeutheusserSchnarrenberger sehr viel besser. Ich denke, wir sollten
die Auffassung der Europäischen Kommission zur
Kenntnis nehmen und abwarten, was daraus wird. Inzwischen ist eine gewisse Vorentscheidung ergangen. Ob sie
standhält, bleibt abzuwarten. Es besteht vielleicht auch
die Möglichkeit, dass der eine oder andere dagegen
klagt. Ich stelle mich zunächst einmal auf den Boden der
Tatsache, dass die Richtlinie auf Basis der Ersten Säule
gerechtfertigt ist. Es hilft nichts, im Parlament darüber
zu lamentieren; denn wir haben dies nicht zu entscheiden. Von daher lasse ich diesen Punkt einmal außen vor.
Die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger hat heute
einen Begriff geprägt, der mich angesichts der Materie,
um die es hier geht, stark irritiert hat. Sie sprachen davon, dass hier eine Überwachung durch den Staat erfolgt. Das ist maßlos übertrieben
({2})
und trägt dem deutschen Anspruch, diese Materie fast
minimalistisch zu regeln, in keiner Weise Rechnung.
({3})
Sie bauen hier einen Buhmann auf.
Wir haben eine lange Rechtskultur, was die Grundrechtswahrung angeht, angefangen vom Volkszählungsurteil 1985. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass das,
was sich im Bereich der Kriminalität bedauerlicherweise
entwickelt hat, Lichtjahre von dem entfernt ist, was 1985
in diesem Bereich Usus war.
({4})
Heute haben wir weltweiten Terrorismus und europaweite Kriminalität. Von daher können wir Kriminalitätsbekämpfung nicht mit den Mitteln aus der Zeit des
Volkszählungsurteils betreiben.
({5})
- Doch, das ist es, was Sie wollen.
({6})
Ich sage es Ihnen ganz offen: Wenn es den Telekommunikationsanbietern erlaubt ist, die Daten zum Zwecke
der Abrechnung sechs Monate zu speichern, kann ich es
nicht als Paradigmenwechsel empfinden, wenn wir jetzt
sagen, dass es eine Verpflichtung geben soll, mehr als
450 Millionen Daten zu erfassen, aber nicht grundlos,
sondern ausschließlich zum Zweck der Kriminalitätsbekämpfung, zur Bekämpfung des Terrorismus, zur Verfolgung schwerster Straftaten. Diese Regelung dient also
nicht dazu, im Umfeld der Bürger herumzuschnüffeln,
sondern lediglich dazu, im Falle schwerster Straftaten
Aufklärung zu betreiben.
Sie werden sicherlich den Bericht des Bundeskriminalamts erhalten haben, Frau Kollegin - auch der Kollege Montag -,
({7})
den die Justizministerin den Berichterstattern zugeleitet
hat. In diesem Bericht, der Ergebnis einer rechtstatsächlichen Untersuchung ist, ist klar zu erkennen, welche Bedeutung die Datenspeicherung hat, und zwar in dem
Umfang, wie wir sie vorgesehen haben, also für eine
Dauer von maximal sechs Monaten. Das ist der Zeitraum, der für die Kriminalitätsbekämpfung am effektivsten ist; darauf können wir nicht verzichten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger?
Sehr gerne, Frau Kollegin.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass Ergebnis dieser
rechtstatsächlichen Untersuchung des Bundeskriminalamts gewesen ist, dass man sich bei Delikten des sexuellen Missbrauchs und bei Betrugsdelikten etwas von der
Vorratsdatenspeicherung verspricht? Das sind die einzigen Delikte, die bei den entsprechenden Abfragen als relevant benannt wurden, nicht die Bereiche, die Sie hier
die ganze Zeit anführen. Ist Ihnen das bekannt?
Das ist mir bekannt. Ich weiß auch, dass in diesem
Bereich der höchste Prozentsatz an positiven Ermittlungsergebnissen erreicht wurde. Das spricht aber nicht
gegen die Regelung an sich.
({0})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Montag?
Ich fühle mich geehrt, dass der Kollege mich mit einer Zwischenfrage bedenkt.
Danke schön. - Sie haben mich persönlich angesprochen und darauf hingewiesen, dass ich einen Bericht auf
der Grundlage einer rechtstatsächlichen Untersuchung
erhalten habe. Sie haben auch gefragt, ob ich ihn gelesen
habe. Ich frage Sie, ob Sie uns hier im Plenum bestätigen
können, dass einerseits die Richtlinienentwürfe davon
sprechen, dass die Vorratsdatenspeicherung eingeführt
werden soll, um den internationalen Terrorismus zu
bekämpfen, und dass sich andererseits aus der Studie ergibt, dass sich von den 361 Fällen, die das BKA zur Verfügung gestellt hat, genau 0,5 Prozent mit Straftaten des
internationalen Terrorismus beschäftigt haben?
({0})
Lieber Kollege Montag, diese Fakten kenne ich auch;
sie liegen mir vor. Das stimmt auch alles. Das ist aber
kein grundlegender Einwand gegen die Datenspeicherung. Selbst wenn es auch nur 0,2 Prozent oder drei Fälle
sind, dann lohnt sich die Sache, um solche schwersten
Straftaten aufzuklären.
({0})
Das ist der grundlegende Unterschied zwischen uns beiden.
Wenn wir in die eigentliche Beratung gehen - das ist
heute ja nur der Auftakt dazu; wir werden den Entwurf
des Justizministeriums in den nächsten sechs bis zwölf
Monaten haben; das muss gründlich vorbereitet werden -,
werden wir uns an dieser Stelle sicherlich noch einmal
genauso intensiv und - wie ich hoffe - sehr sachlich über
diese Fragen unterhalten. Um eines bitte ich aber, und
zwar dass denjenigen aus der Koalition, die heute den
Antrag „Speicherung mit Augenmaß - Effektive Strafverfolgung und Grundrechtswahrung“ unterstützen und
verabschieden werden, nicht unterstellt wird, sie würden
den Bürgern Grundrechte vorenthalten. Genau das Gegenteil ist richtig: Wir sind besorgt um die Sicherheit der
Bürger und wahren gleichzeitig ihre Grundrechte. Das
ist das Ziel dieses Antrages.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, erteile ich das
Wort für eine Erklärung zur Abstimmung dem Kollegen
Siegfried Kauder, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Die europäischen Institutionen beackern das Feld des
Strafprozesses punktuell, aber außerordentlich konsequent und beharrlich. Ich bin der Meinung, dass wir dieses Vorgehen unter grundsätzlichen Erwägungen durchleuchten müssen.
Dazu habe ich in einer Rede zum Europäischen Haftbefehlsgesetz am 9. Februar 2006 Ausführungen gemacht - ich darf dazu erwähnen: unter breitem Beifall
aller Fraktionen. Es ging schlicht und ergreifend um die
Frage, die wir uns auch hier stellen müssen: Hat die EU
überhaupt eine Regelungskompetenz in dem Bereich
der Vorratsdatenspeicherung?
({0})
Wenn eine Regelungskompetenz besteht, besteht sie
dann in der Dritten Säule - mit der Möglichkeit, dass nur
ein Rahmenbeschluss erlassen werden darf -, oder besteht die Möglichkeit, diese Kompetenz von der Dritten
Säule in die Erste Säule zu verlagern?
Siegfried Kauder ({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe den Verdacht, dass die EU konsequent die Entscheidung des
EuGH vom 13. September 2005 zum Umweltstrafrecht
weiterverfolgt. Man zieht eine Kompetenz, die in die
Dritte Säule gehört, als so genannte Annexkompetenz
schlicht und ergreifend in die Erste Säule. Dabei stellt
sich schon die Frage, ob so etwas überhaupt machbar ist
und ob wir diesen Weg nachvollziehen wollen. Aber
denklogisch setzt eine Annexkompetenz erst einmal voraus, dass für die Regelung eine Hauptkompetenz besteht. Diese Hauptkompetenz ist hier überhaupt nicht gegeben. Das heißt, man macht den so genannten Annex
zur Hauptsache.
Wenn wir diesen Weg verfolgen, werden wir zu dem,
wovor Herr Schünemann uns warnt, nämlich zu einem
Lakaien Brüssels.
({2})
Wir sind kein Abnickverein Brüssels und wir sind kein
Abnickverein der deutschen Regierung!
({3})
Wir sind ein eigenständiges Parlament, das seine Rechte
insbesondere bei europäischen Rechtsetzungsakten wahren muss. Deswegen werde ich diesem Antrag der CDU/
CSU und SPD nicht zustimmen. Ich werde ihn ablehnen.
({4})
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses auf Drucksache 16/690. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/545 mit dem
Titel „Speicherung mit Augenmaß - Effektive Strafverfolgung und Grundrechtswahrung“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung
angenommen mit den Stimmen der SPD-Fraktion, aller
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion mit Ausnahme einer
Stimme, bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion, der Grünen und der Linken und einer Stimme aus der CDU/
CSU-Fraktion.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/128 mit dem Titel „Gegen eine europaweit verpflichtende Vorratsdatenspeicherung“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Wer
enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP, der Grünen und der Fraktion
Die Linke.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/690 die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/237 mit dem Titel „Freiheit
des Telefonverkehrs vor Zwangsspeicherungen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Dann ist die Beschlussempfehlung angenommen mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der
SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die
Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 8:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Martin Zeil, Christian Ahrendt und
der Fraktion der FDP
Bürokratieabbau - Jetzt sind konkrete
Schritte gefragt
- Drucksache 16/472 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile - sobald diejenigen, die der Aussprache nicht folgen möchten, ihre
Gespräche außerhalb des Plenarsaals fortführen - das
Wort der Kollegin Birgit Homburger von der FDP-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren heute erneut über einen Antrag der FDPBundestagsfraktion zum Abbau bürokratischer Lasten in
Deutschland. „Bürokratieabbau“ ist ja zum Schlagwort
geworden. Es ist in aller Munde. Aber man muss sagen:
Schon die letzte Bundesregierung hat dabei überhaupt
nichts erreicht. Damals hat ein Bundeswirtschaftsminister namens Clement das Thema zur Chefsache gemacht.
Das Ergebnis war, dass er ein paar Kleinigkeiten erreicht hat, wie beispielsweise die Erleichterung der Berichts- und Dokumentationspflichten beim Umweltmanagementsystem oder ein paar Erleichterungen bei
der Arbeitsstättenverordnung, die nicht einmal richtig
greifen.
Es wurde auch ein Rechtsbereinigungsgesetz unter
Justizministerin Zypries verabschiedet. Dadurch wurden so wichtige Gesetze und Verordnungen abgeschafft
wie beispielsweise das Gesetz zur Wiederherstellung der
Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung,
der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und
des Kostenrechts von 1950
({0})
oder die Verordnung zur einheitlichen Regelung der Gerichtsverfassung von 1935. So wichtige Sachen sind abBirgit Homburger
geschafft worden - ich könnte die Liste fortsetzen - und
alle sind von anno Tobak. Das hat nichts, aber auch gar
nichts für die Entlastung der Betriebe von bürokratischen Kosten gebracht. Deswegen wird es jetzt endlich
Zeit, dass wir damit anfangen.
({1})
- Herr Tauss, jetzt seien Sie einfach einmal ruhig oder
melden Sie sich zu einer Zwischenfrage. Dann beantworte ich gern Ihre Frage zu Baden-Württemberg.
({2})
In der ersten Regierungserklärung, die Frau Merkel in
dieser Legislaturperiode abgegeben hat, haben wir gehört, die neue Regierung wolle etwas für den Mittelstand
tun. Frau Merkel hat erklärt:
Meiner Meinung nach können wir am meisten beim
Bürokratieabbau leisten … Wir werden uns das genau anschauen und erst einmal lernen, Bürokratiekosten zu berechnen und zu bemessen. Wir nehmen
uns klare Reduktionsziele vor.
Das Thema Bürokratieabbau hat es bis in die Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin und bis in ihre Rede
auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos geschafft.
({3})
Dort hat sie dieses Thema zur Chefsache erklärt; diesmal
allerdings nicht zur Chefsache des Wirtschaftsministers,
sondern zur Chefsache der Bundeskanzlerin.
({4})
Zudem hat sie die Ermittlung der Bürokratiekosten und
die Einsetzung eines Normenkontrollrats angekündigt.
Jetzt stellt sich die Frage: Was machen Sie eigentlich?
In unserem Antrag fordern wir genau das ein, was die
Bundeskanzlerin angekündigt hat: die Einführung des
niederländischen Bürokratiekostenmessverfahrens, des
so genannten Standard Cost Model. Dort wird nämlich
durch ein ganz einfaches Schätzverfahren herausgefunden, wie viel Zeit Unternehmen mit bürokratischem
Aufwand verbringen und wie häufig ein bestimmter Vorgang stattfindet. Dies wird dann in betriebliche Kosten
umgerechnet. Auf diesem Wege wird ermittelt, wie viel
das die Betriebe insgesamt kostet. Deshalb brauchen wir
einen Normenkontrollrat, der unsere Gesetzentwürfe
im Vorhinein daraufhin kontrolliert, ob sie zu unsinniger
Bürokratie führen.
({5})
In den Niederlanden will man dadurch eine Reduzierung der Bürokratiekosten um 25 Prozent erreichen. Die
Bertelsmann-Stiftung hat unter Zugrundelegung der Annahme, dass dies gelingt, errechnet, dass die Betriebe in
Deutschland dadurch um 20 Milliarden Euro entlastet
werden könnten. Unsere Unternehmen ersticken in Bürokratie und die vorhandenen Arbeitsplätze werden unnötig belastet. Gleichzeitig könnten wir eine Entlastung
erzielen, ohne in irgendeiner Form Haushaltsmittel in
Anspruch nehmen zu müssen. Wir müssten lediglich
überflüssige Vorschriften beseitigen.
({6})
Herr Tauss, es stellt sich die Frage, was eigentlich die
Regierung macht - die SPD ist ja eine der Koalitionsfraktionen -:
({7})
In dieser Woche stand ebendieser Vorschlag auf der Tagesordnung der Kabinettssitzung.
({8})
Aber dann hat die Regierung diesen Tagesordnungspunkt abgesetzt. So ist sie auch mit Begleitgesetzen verfahren, zum Beispiel dem Vorschlag, den Mittelstand
durch die Reduzierung von Statistikpflichten zu entlasten oder den Aufwand im Baurecht dadurch zu verringern, sowie den Vorschlag, dass Anträge dann als genehmigt zu betrachten sind, wenn man nach Antragstellung
innerhalb von sechs Wochen nichts von der zuständigen
Behörde gehört hat.
All diese Vorschläge, über die Sie immer nur reden,
hat die FDP-Fraktion bereits in den Deutschen Bundestag eingebracht. Aber was ist passiert? Es ist nicht nur
so, dass diese Vorschläge vom Kabinett nicht behandelt
wurden. Es wurde sogar als Begründung angegeben, die
Koalitionsfraktionen hätten sich nicht auf die Besetzung
des Normenkontrollrates einigen können.
({9})
Meine Damen und Herren, die Republik ächzt und
stöhnt unter den hohen Bürokratiekosten und Arbeitsplätze sind gefährdet. Aber Sie können sich nicht einigen, wie Sie den Normenkontrollrat besetzen wollen.
Das ist, was Ihren Einsatz für den Bürokratieabbau betrifft, eine Schande.
({10})
Stattdessen kommt es zu zusätzlichen Belastungen:
Die Mehrbelastungen, die sich für die Unternehmen allein durch das Vorziehen des Fälligkeitstermins der Sozialversicherungsbeiträge ergeben, bewegen sich in einer
Größenordnung von 3 bis 4 Milliarden Euro pro Jahr.
Wir haben beantragt, dieses Gesetz zurückzunehmen.
({11})
Diesem Antrag haben Sie im zuständigen Ausschuss
Ihre Zustimmung verweigert. Auch hier haben Sie erneut das Gegenteil dessen getan, was Sie angekündigt
hatten. Deswegen sagen wir Ihnen klipp und klar: Hören
Sie auf mit Ihrer Ankündigungspolitik und fangen Sie
endlich mit dem Bürokratieabbau an!
Im Rahmen der Ausschussberatungen haben Sie die
Chance, zu zeigen, dass es Ihnen mit diesem Thema
ernst ist. Wenn Sie sich nicht einigen können, nehmen
Sie den Antrag der FDP als Grundlage. Dann haben Sie
eine Vorlage und brauchen nicht länger nachzudenken.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Michael Fuchs für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Verehrte Frau Kollegin Homburger, ich danke
Ihnen für die baden-württembergische Wahlrede, die Sie
gehalten haben. Ich kann ja verstehen, dass Sie da nervös
sind.
Wenn ich mir Ihren Antrag so anschaue, darf ich Ihnen ein Kompliment machen: Sie sind im Abschreiben
des Koalitionsvertrages hervorragend - grammatikalisch
richtig und auch die Interpunktion ist in Ordnung gewesen.
({0})
In der Sache haben Sie ja völlig Recht. Allerdings denke
ich, dass eine solche Abschreiberei einer Partei, die sich
Freiheit auf die Fahne geschrieben hat, unwürdig ist; Sie
sollten das Urheberrecht respektieren.
({1})
Bei all dem, was Sie hier vorgetragen haben, brauchen
Sie uns nicht zu belehren: Es steht exakt so im Koalitionsvertrag. Ich habe Ihnen die entsprechenden Auszüge aus dem Koalitionsvertrag mitgebracht und werde
sie Ihnen gleich geben. Ich habe mir nämlich schon gedacht, dass Sie die Originaltexte nicht haben. Manchmal
hilft ein klein wenig Nachlesen.
({2})
Zur Sache. Wir wissen, dass wir beim Bürokratieabbau vorankommen müssen, und wir wollen das auch.
Frau Merkel hat darüber nicht nur in Davos gesprochen,
wie Sie es erwähnt haben, sondern sie hat das auch in ihrer Regierungserklärung angekündigt und ist sogar in ihrer Weihnachtsansprache darauf eingegangen. Sie hat
gesagt, dass sie den Bürokratieabbau für eines der wichtigsten Elemente der Politik der Regierung in den nächsten vier Jahren hält. Insofern müssen Sie schon warten.
({3})
- Sie werden nicht vier Jahre warten müssen: In Kürze
wird sich etwas tun.
({4})
- Wir werden das halt nicht so machen, wie Sie das gemacht haben, liebe Frau Scheel: Bröckelchen für Bröckelchen. Ich zitiere den Wirtschaftsminister der letzten
Regierung. Er hat gesagt, es ist eine Verzettelung mit geringen bis minimalen Reförmchen, Einzel- oder Häuserkampf. Bundesminister Clement hat auch gesagt, es mache keinen Sinn, die 173. Verordnung zur Änderung
einer weiteren Verordnung zu ändern. Dieses wollen
auch wir nicht - wir wollen eine Politik aus einem Guss
machen.
({5})
Wir haben uns vorgenommen, uns dabei nicht ständig
mit neuen Dingen zu beschäftigen. Wir haben uns das
niederländische Modell sehr wohl angeschaut. Das Standardkostenmodell macht Sinn und wir werden es mit
dem Normenkontrollrat umsetzen. Das wird in Kürze
auf Sie zukommen - Sie brauchen da keine Sorgen zu
haben - und wir freuen uns schon jetzt auf den gewaltigen Applaus, den Sie uns dann spenden werden.
Wenn Sie den Koalitionsvertrag etwas intensiver gelesen hätten, hätten Sie festgestellt, dass wir in ihm eine
ganze Menge Sofortmaßnahmen vorgesehen haben. Es
wird diesen Small-Company-Act geben, ein Gesetz, mit
dem wir speziell den Mittelstand entlasten wollen. Das
sind nur die wesentlichen Punkte. All das hätten Sie vorher wissen können; Sie hätten Ihren Antrag gar nicht zu
stellen brauchen. Eigentlich ist es ohnehin unser Antrag:
Denn es steht darin exakt so, wie wir es geschrieben haben.
({6})
Herr Kollege Dr. Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Homburger?
Frau Kollegin, es ist mir eine Ehre.
Herr Kollege Dr. Fuchs, geben Sie mir Recht, dass die
Unternehmen, die unter den bürokratiebedingten Kosten
leiden, erst dann etwas von einer im Koalitionsvertrag
angekündigten Maßnahme haben, wenn diese umgesetzt
worden ist und zum Tragen kommt? Wollen Sie mir
Recht geben, dass „Sofortmaßnahme“ heißt, dass man
etwas sofort macht? Wenn Sie immer nur ankündigen, in
Kürze würde etwas kommen - erst hieß das: Februar;
man hat es verschoben, doch noch immer heißt es: in
Kürze -, dann ist das doch keine Sofortmaßnahme!
Frau Homburger, ich bin anderer Meinung als Sie. Ich
kann Ihnen nur eines sagen: Wir wollen eine vernünftige
Gesetzgebung hinbekommen, wir wollen, dass den einzelnen Fakten Rechnung getragen wird.
({0})
Wir wollen nicht die ganze Zeit hin und her springen und
wie Sie jede Woche irgendein Anträgelchen auf die
Beine stellen - das Sie noch dazu bei anderen abschreiben!
({1})
Wir wollen ein umfassendes Gesetz, das die Wirtschaft
entlastet. Wir sind uns in dem Punkt, dass die Wirtschaft
entlastet werden muss, völlig einig.
({2})
Nur, so wie Sie das machen - immer hin und her
springend -, macht das nicht allzu viel Sinn.
({3})
Ich möchte kurz vortragen, was wir genau machen
wollen: Wir werden die Statistik-, Nachweis-, Dokumentations- und Buchführungspflichten angehen und
sie auf ein vernünftiges Maß reduzieren. Dabei muss
auch mehr Kostenbewusstsein ins Parlament. Mich hat
während meiner parlamentarischen Tätigkeit schon immer geärgert, dass § 44 GGO eigentlich sehr wenig beachtet wurde und es auf der ersten Seite eines Entwurfs
stets hieß „Kosten: keine“. Wir hatten vor kurzem im
Wirtschaftsausschuss eine Debatte darüber, dass die Erfassung der Folgekosten von Bürokratie bis jetzt nicht
vernünftig vorgenommen worden ist. Dafür führen wir
ja den Normenkontrollrat ein. Wir werden auch die Genehmigungsverfahren vereinfachen.
Nebenbei: Das alles sind Dinge, die wir mit unserem
Koalitionspartner abgestimmt haben, mit dem wir uns
einig sind. Sie brauchen also überhaupt keine Hoffnung
zu haben, dass Sie einen Keil in die Koalition treiben
können.
({4})
Das tun wir gemeinsam. Der Kollege Wend und ich sind
uns auf diesem Sektor völlig einig.
({5})
Wir werden darüber hinaus die Geltungsdauer des
- ich kann das mittlerweile fast unfallfrei aussprechen Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes verlängern und die Geltung auf die ganze Bundesrepublik
Deutschland ausweiten.
({6})
- Frau Homburger, wenn Sie manchmal zuhören würden, dann brauchten Sie nicht abzuschreiben.
({7})
Sie werden es erleben: Wir werden auch die Doppelund Mehrfachprüfungen einschränken. Hierzu will ich
Ihnen ein schönes Beispiel aus meinem unternehmerischen Erleben erzählen - das können Sie dann in BadenWürttemberg anbringen; dort ist es wahrscheinlich
genauso -: Das Gewerbeaufsichtsamt hat mein Unternehmen besucht. Es beschäftigte sich mit der Höhe, in
der die Feuerlöscher in meinem Unternehmen aufgehängt sind, und stellte fest - oh Graus -, dass sie falsch
angebracht sind, nämlich zu niedrig.
({8})
Ich habe dann alle Feuerlöscher auf die Höhe von
1,10 Meter hängen lassen. Ich weiß nicht, wie viele hundert Stück wir haben, aber ein Mitarbeiter war einen guten Tag lang damit beschäftigt. Es dauerte vier Wochen,
dann kam ein Vertreter der Berufsgenossenschaft. Und
dieser stellte fest, dass die Feuerlöscher viel zu hoch aufgehängt waren.
Ich habe dann allerdings doch einen leichten Wutanfall bekommen und gefragt: Was sollen wir denn jetzt
tun? Sollen wir eine Schiene anschrauben, sodass wir die
Dinger immer rauf und runter schieben können, je nachdem, wer gerade zur Haustür hereinkommt? Das kann es
nicht sein. - Das darf in Zukunft nicht mehr passieren.
Es muss eine Richtlinie geben, nach der geprüft wird.
Doppelprüfungen sind tunlichst zu vermeiden. Daran
werden wir arbeiten.
({9})
Hier sind aber auch die Bundesländer gefordert, die
alle auf diesem Sektor zusätzliche Vorschriften geschaffen haben.
({10})
Wir müssen das gemeinsam hinbekommen und den Bundesländern auch sagen: Hört mit diesem Unfug der Doppelprüfungen auf.
({11})
Wir werden die Schwellenwerte im Bilanz- und Steuerrecht vereinheitlichen.
({12})
- Ich weiß, dass das schon einmal Ihre Forderung war.
Wir werden das jetzt aber tun. Sie brauchen keine Sorge
zu haben.
Wir werden die Begrenzung der Verpflichtung der
Betriebe zur Bestellung von Beauftragten in die Hand
nehmen; denn dieses Beauftragtenunwesen müssen wir
ebenfalls eingrenzen. Darin sind wir uns einig.
({13})
Wir werden auch die betriebsärztliche und sicherheitstechnische Betreuung von Kleinbetrieben vereinfachen.
Wir haben im Koalitionsvertrag auch festgelegt, dass
wir bei den EU-Richtlinien genau hinschauen und sie
möglichst nur noch eins zu eins umsetzen. Deutschland
ist nicht mehr an der Spitze in Europa. Wir wollen wieder dorthin kommen und dafür sorgen, dass das wieder
funktioniert. Das schaffen wir nur, wenn wir bei der Umsetzung der Richtlinien der EU nicht bis ins Äußerste gehen, wie das vielfach der Fall gewesen ist.
Wir werden die Bürokratie sehr exakt messen und
feststellen, welche Kosten da entstehen. Es ist gut, dass
der Normenkontrollrat eine Art Vetorecht bekommen
und sich damit beschäftigen wird, die Dinge, die zu
bürokratisch sind, zu verhindern.
Ich finde es besonders bemerkenswert, dass die Kanzlerin in Davos versprochen hat, sich im Jahr unserer
Ratspräsidentschaft, im Jahr 2007, den Bürokratieabbau
auf die Fahnen zu schreiben und ihn voranzutreiben. Das
müssen wir auch; denn über Brüssel handeln wir uns
sehr viel Bürokratie ein. Das heißt, wir müssen hier ein
Forecheckingsystem aufbauen. Auch das haben Sie von
uns dankenswerterweise gelernt und abgeschrieben.
({14})
Ich möchte nur noch auf einen Punkt hinweisen: Es
würde sicherlich viel helfen und wir brauchten solche
Debatten wie die heute Abend hier nicht zu führen, wenn
Sie ganz simpel zur Kenntnis nehmen würden, dass wir
in Deutschland die Kräfte wieder freimachen. Ich zitiere
die Bundeskanzlerin, die in Davos darauf hingewiesen
hat,
dass wir im Augenblick grandiose Kräfte in
Deutschland dadurch fesseln, dass wir uns in Regularien, die scheinbare Sicherheit versprechen, verfangen haben.
Sie sagte auch:
Ich glaube, wir kommen mit der Betrachtung der
Einzelregelung nicht mehr voran, weil jede Einzelregelung inzwischen zu einer Lobby für eine bestimmte Gruppe geworden ist.
({15})
Deswegen möchte ich von diesem Hohen Hause aus
die Lobbygruppen auffordern - das sollten wir schon gemeinsam tun -: Wenn Sie wirklich Bürokratieabbau wollen, dann verhalten Sie sich bitte nicht so, wie es der heilige Sankt Florian gesagt hat: Fangt doch bitte schon mal
bei diesem Häuslein an, aber nicht bei mir. - Wenn jeder
sagt, bei ihm dürfe nichts passieren, dann können wir
nicht weiterhin glauben, dass wir die Bürokratie vernünftig abbauen können. Nur dann, wenn wir das gemeinsam tun, kommen wir voran.
Lassen Sie uns auf diesem Weg bitte gemeinsam vorangehen. Deutschland und die deutschen Unternehmen
haben einen vernünftigen Bürokratieabbau dringend notwendig. Wenn Sie alle mithelfen und uns gute Vorschläge machen, Frau Homburger, dann werden wir sie
sogar umsetzen.
({16})
Das Wort hat nun für die Fraktion Die Linke die Kollegin Sabine Zimmermann.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Bei der Prüfung
des vorliegenden Antrages „Bürokratieabbau“ fragt man
sich, worin eigentlich der Unterschied zwischen der Regierung und der Opposition liegt. Ich muss Herrn Fuchs
Recht geben.
({0})
- Ja, ich muss ihm tatsächlich Recht geben, dass es hier
keinen Unterschied gibt; denn im Jahreswirtschaftsbericht sowie in der Koalitionsvereinbarung steht genau
diese Forderung.
Nun ist die Forderung nach Bürokratieabbau beileibe
nicht neu. Die meisten Regierungen auf Bundes- und
Länderebene beschäftigen sich seit Jahren mit diesem
Thema, ohne dass bisher große Fortschritte erzielt worden sind. Im Gegenteil: Vor allem durch die Regulierungswut der Brüsseler Bürokratie sind viele neue Regelungen hinzugekommen.
Wir als Linke sind grundsätzlich bereit, uns an der
Diskussion konstruktiv zu beteiligen,
({1})
in welchem Umfange Unternehmen, Betriebe - vor allem kleine und mittlere Betriebe - und auch Selbstständige durch Verwaltungsvorschriften, durch immer neue
Formulare, Statistiken und Nachweise in einem Maße
belastet werden, dass sich dies hemmend auf Investitionen und auf das wirtschaftliche Wachstum und damit
auch auf die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen auswirkt.
Wir haben es aber nicht nur in der Wirtschaft mit einer übermäßigen Bürokratie zu tun. Auch das Gesundheitswesen leidet darunter. Sprechen Sie einfach einmal
mit Klinikärzten und niedergelassenen Ärzten, welchen
Bürokratieaufwand diese betreiben müssen. Auch das
gehört zum Inhalt einer umfassenden Gesundheitsreform.
Zu einer ehrlichen Diskussion gehört das Eingeständnis, dass viele unnütze Verwaltungsvorschriften das Ergebnis politischer Entscheidungen von Regierungen und
Parlamenten sind. Es ist überhaupt mehr als auffällig:
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, reden von
den Belastungen der Unternehmen und Bürger. Um
Letzteres geht es bei Ihren konkreten Vorschlägen jedoch kaum. Kein Wunder; denn Sie hätten sonst einräumen müssen, dass das größte bürokratische Machwerk
der letzten Jahre, das Millionen Menschen betrifft, den
Namen Hartz IV trägt.
Es kann nicht bestritten werden, dass von Rationalisierungsmaßnahmen, mögen sie auch notwendig sein,
auch die Interessen von Beschäftigten betroffen sein
können. Deshalb haben wir an Sie die Frage, weshalb
dem vorgeschlagenen Normenkontrollrat zwar Vertreter
der mittelständischen Wirtschaft, der Selbstständigen,
der Kommunen, der Rechnungshöfe sowie des Bundes
der Steuerzahler, aber keine Gewerkschaften als Interessenvertreter der Beschäftigten angehören sollen.
({2})
Noch eines fällt in Ihrem Antrag auf. Es soll sichergestellt werden, dass der Normenkontrollrat zu allen Gesetzesinitiativen aus der Mitte des Deutschen Bundestages Stellung nimmt. Damit würde der Normenkontrollrat
nicht nur zu einem politischen Kontrollgremium, das
nicht in unserer Verfassung steht
({3})
- darüber sollten Sie bitte einmal nachdenken -, auch die
Entscheidungswege würden länger. Das wollen Sie als
Liberale doch auf gar keinen Fall.
Ihr Antrag weist noch einen Schwachpunkt auf. Es
geht nicht nur um Bürokratie, von der die Wirtschaft entlastet werden soll und muss. Es geht nach unserer
Meinung auch um übermäßige Zentralisierung beim
Vollzug von Gesetzen und Verwaltungsvorschriften.
Manches könnte nämlich vor Ort von den Verwaltungen
und den Behörden schneller, besser und lebensnäher entschieden werden. Darüber sollten wir einfach einmal
nachdenken.
({4})
Deshalb fordern wir, dass ein umfassender Bürokratieabbau mit einer Folgeabschätzung verbunden wird
und seine wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Ziele klar beschrieben werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Rainer Wend, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist immer wieder eine Freude, mit der FDP
über Bürokratieabbau zu diskutieren.
({0})
Sie reden selbstgerecht mit volltönender Stimme, Frau
Homburger, und tun so, als hätten Sie mit der Problematik nichts zu tun. Dabei bemühen wir uns gegenwärtig,
bürokratische Vorschriften abzuschaffen, für die Sie in
den Jahren 1949 bis 1998 mit Ausnahme der drei Jahre,
in denen die große Koalition regierte, zumindest Mitverantwortung getragen haben. Deswegen gehören Sie genauso wie wir in die Phalanx derer, die eingestehen müssen, dass sie in der Vergangenheit nicht alles richtig
gemacht haben.
({1})
Ein bisschen Selbstkritik und etwas weniger Selbstgefälligkeit würde Ihnen an dieser Stelle helfen, Frau
Homburger.
({2})
Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht: Man kann
das Thema Bürokratieabbau manchmal nicht mehr hören
und hat auch keine Lust mehr, darüber zu sprechen; denn
es hat quer durch alle Parteien schon viele Versuche gegeben, Bürokratieabbau in der Praxis umzusetzen. Aber
wenn wir alle ehrlich sind, dann müssen wir erkennen:
Richtig vorangekommen ist niemand.
Glauben Sie mir - auch wenn Sie es mir nicht zutrauen -: Rot-Grün hatte es ernsthaft vor. Auch
Wolfgang Clement hatte es ernsthaft vor.
({3})
Dennoch ist es letztlich nicht zu dem Erfolg gekommen,
den wir uns gewünscht hätten.
Wir haben dann nach den Gründen dafür gesucht. Ich
glaube, dass es nicht nur eine Ursache gibt. Ich möchte
zunächst einen - zugegebenermaßen - etwas polemischen, parteipolitischen Grund nennen: Es ist uns nicht
geglückt, die ganze Breite unserer Gesellschaft - auch
die gesellschaftlichen Gruppen - für dieses Thema zu
gewinnen. Denn wenn die FDP von Bürokratieabbau
sprach, dann meinte sie damit häufig genug den Abbau
des Kündigungsschutzes
({4})
oder die Senkung von Umweltstandards. Wenn die Menschen und die Interessengruppen den Eindruck hatten,
dass Bürokratieabbau der Vorwand war, um in Wirklichkeit Arbeitnehmerrechte und Umweltstandards abzubauen, dann hatte das zur Folge, dass wir sie nicht für
dieses Thema gewinnen konnten.
Insofern müssen wir in ideologischer Hinsicht abrüsten und den Bürokratieabbau darauf beschränken, was er
in Wirklichkeit bedeutet, statt mithilfe dieses Stichwortes unredliche politische Absichten zu verfolgen.
({5})
Lassen Sie mich aber jenseits der parteipolitischen
Polemik feststellen, dass der Kollege Fuchs durchaus
Recht hat. Eine weitere Ursache dafür, dass der Bürokratieabbau bisher nicht geklappt hat, sind die Interessengruppen und auch zum Teil die Beamten selbst. Ich erinnere mich an ein Beispiel aus der letzten
Legislaturperiode. Auch wir waren so schlau, uns zu fragen, ob Doppelprüfungen wirklich sein müssen: Zuerst
läuft die Berufsgenossenschaft durch die Betriebe und
ein paar Wochen später prüft die Arbeitssicherheit noch
einmal mehr oder weniger dasselbe. Folglich haben wir
gesagt: Lasst uns das zusammenlegen.
Als wir das zum ersten Mal vorgeschlagen haben,
sind die Berufsgenossenschaften und die für die Arbeitssicherheit zuständigen Ämter über uns hergefallen und
haben unser Vorhaben für völlig unmöglich erklärt. Als
sich dann abzeichnete, dass wir uns auf die Seite der Berufsgenossenschaften schlagen und ihnen die Zuständigkeit übertragen wollten, brachten sie ihre begeisterte Zustimmung zu dieser wundervollen Entbürokratisierung
zum Ausdruck. Die betreffenden Ämter haben uns - das
ist aus ihrer Sicht verständlich - darauf hingewiesen,
dass diese Maßnahme das Ende des Arbeitsschutzes in
der Republik bedeuten würde.
({6})
Ich bin sicher: Wenn wir uns für die andere Seite ausgesprochen hätten, dann wäre die Reaktion genau umgekehrt erfolgt. Solche Verbands- und Interessenegoismen verhindern eine effektive Gestaltung des
Bürokratieabbaus.
({7})
Es gibt aber vielleicht einen noch wichtigeren Punkt.
Fast jeder bürokratischen Regelung lag doch irgendwann
einmal die gute Absicht zugrunde, etwas Vernünftiges zu
tun. Nehmen wir zum Beispiel den Zusammenbruch der
Halle in Bad Reichenhall vor wenigen Wochen mit vielen Todesopfern: Sofort wurde vom TÜV die Forderung
erhoben, solche Gebäude stärker zu überwachen und
häufiger zu überprüfen. Wer von uns hätte sich in dieser
Situation getraut, diese Forderung strikt abzulehnen?
Man hätte uns vorgeworfen, weitere Unfälle dieser Art
und damit weitere Todesopfer zu riskieren.
Wenn wir einer solchen Forderung nachgeben, werden wir uns vielleicht in 40 Jahren fragen lassen müssen,
wie es zu dieser Regelung gekommen ist. Bis dahin hat
sich nämlich das Vorhaben, das vor Jahrzehnten mit guten Absichten verwirklicht wurde, so verselbstständigt
und die heute eingeführte Regelung so weit von der Ausgangssituation entfernt, dass sich am Ende mehr Probleme als positive Auswirkungen daraus ergeben haben.
Das müssen wir auch den Menschen in unserem Land
deutlich machen. Wenn wir Bürokratieabbau betreiben,
dann bedeutet das auch, dass im Einzelfall einmal etwas
schief laufen kann. Natürlich müssen solche Unglücke
wie das eben angesprochene immer vermieden werden.
Aber wie soll denn ein Beamter in einer Stadtverwaltung
mit gesundem Menschenverstand eine Lösung jenseits
aller Vorschriften und Untervorschriften anstreben, wenn
er die Sorge haben muss, dass ihn, wenn er ausnahmsweise einmal schief liegt, anschließend die Bürger - das
ist sicherlich ihr gutes Recht in einem Rechtsstaat - über
gerichtliche Verfahren an den Hammelbeinen ziehen und
dranbekommen? Wenn es uns nicht gelingt, in unserem
Staat ein Verhältnis zu den Bürgerinnen und Bürgern zu
finden, das dazu führt, dass nicht jede Situation in der
Weise ausgenutzt wird, wie ich es beschrieben habe,
dann verhindert das ebenfalls Bürokratieabbau.
({8})
- Ich danke der FDP dafür, dass sie unsere Koalitionsvereinbarung unterstützt; das ist nicht selbstverständlich.
Das nehme ich positiv zur Kenntnis.
Wir versuchen, zu vermeiden, was ich eben beschrieben habe. Wir wollen den Bürokratieabbau auf die
Punkte konzentrieren, um die es geht, und ihn nicht auf
ideologische Weise, zum Beispiel in den Bereichen des
Arbeitnehmerrechts oder des Umweltschutzrechts, betreiben. Was bedeutet das im Hinblick auf das Standardkostenmodell? Wir haben den Unternehmen im
Laufe der Jahrzehnte - zum Teil aus nachvollziehbaren
Gründen - viele Dokumentations- und Berichtspflichten
auferlegt. Das kostet die Unternehmen viel Geld. Die
Niederländer behaupten, dass bei ihnen die Erfüllung
dieser Pflichten 20 Milliarden Euro im Jahr kostet. Wenn
man das - bezogen auf unser Bruttoinlandsprodukt hochrechnet und davon ausgeht, dass die Bürokratie bei
uns nicht unbedingt kleiner ist als in den Niederlanden,
dann kommt man zu dem Ergebnis, dass die Erfüllung
dieser Pflichten Kosten in Höhe von etwa 80 Milliarden
Euro bei Bund, Ländern und Kommunen sowie den Unternehmen verursacht. Angesichts dieser Dimension
sollten wir jenseits der inhaltlichen Fragen über die Dokumentations- und Berichtspflichten reden. Alle müssen
weiß Gott nicht entfallen. Aber können wir sie vielleicht
nicht reduzieren? Muss die Berichterstattung in manchen
Fällen immer monatlich erfolgen oder reicht es nicht
auch, wenn sie vierteljährlich erfolgt? Können wir dafür
sorgen, dass mehr Pflichten online erledigt werden?
Können wir sie zusammenfassen, indem wir sie nicht
mehreren Instanzen, sondern nur einer staatlichen Instanz auferlegen, die dann verantwortlich ist? All das
sind konkrete Dinge, die wir zu prüfen uns vorgenommen haben.
({9})
Wir wissen: Auch Großunternehmen leiden unter der
Bürokratie, wohl wahr. Aber die Handwerksbetriebe, die
Freiberufler und die Selbstständigen sind diejenigen, die
ihre Zeit besser nutzen können - nämlich indem sie für
ihre Produkte und Dienstleistungen arbeiten -, als sie für
die Bürokratie aufzuwenden.
({10})
Wir unternehmen in dieser Legislaturperiode einen
erneuten Anlauf zum Bürokratieabbau und nehmen dieses Thema sehr ernst. Ich freue mich ausdrücklich, dass
die Bundeskanzlerin in Davos den Bürokratieabbau zu
ihrer Sache gemacht hat, weil sie damit diesem Thema
die Bedeutung beimisst, die es benötigt. Ich bin sicher,
Frau Homburger: Wenn Sie unserem rationalen Ansatz
folgen und nicht nur versuchen, um der Parteipolitik willen Schaum zu schlagen, dann werden Sie unsere Unterstützer sein. Wir wollen Sie jedenfalls dafür gewinnen.
Warum denn nicht? Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken. Diese große Koalition kämpft, auch wenn es - das
räume ich ein - nur in kleinen Schritten vorwärts geht.
Aber ich bin sicher: Wir werden auch an dieser Stelle
Schritt für Schritt weiterkommen. Man wird später sagen, dass die große Koalition auch auf diesem Gebiet etwas zustande gebracht hat.
({11})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich nun
das Wort dem Kollegen Matthias Berninger, Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich meine Rede mit dem Eifel-Weiderind beginnen. Diese Sache hat zumindest mir graue Haare in Sachen Bürokratieabbau beschert. Zum Glück sind es nur
ein paar. Ich bin ganz froh, dass mein Nachfolger im
Amt, der Kollege Paziorek, beim Bürokratieabbau keine
zusätzlichen grauen Haare bekommen wird. Die Zulassung des Eifel-Weiderinds hat Jahre gedauert. Die betreffenden Vorschriften sind unglaublich kompliziert. Es
ging hin und her. So mussten unter anderem die Fragen
beantwortet werden, wie lange ein Weiderind auf der
Weide stehen muss und wie groß die Weide sein muss.
Die Diskussion verlief vollkommen chaotisch. Interessant ist: Die Vermarktung des Eifel-Weiderindes im Supermarktbereich war verboten, während es im Restaurantbereich erlaubt war.
Der Hintergrund war, dass es EU-Vorschriften zur Etikettierung gegeben hat. Das ist das erste Problem, das wir
beim Bürokratieabbau haben. Wir entscheiden auf Bundesebene eben nicht alles alleine, sondern es gibt eine
ganze Reihe von EU-Vorschriften. Das jüngste Beispiel
ist das kindersichere Feuerzeug ohne eine Regelung zur
kindersicheren Streichholzschachtel. Ich glaube, dass
man sehr genau darüber nachdenken sollte, ob man diesen Weg geht.
Ich will ein zweites Beispiel aus meiner vorherigen
Tätigkeit nennen, weil das viel mit dem Thema des heutigen Vormittags zu tun hat. Ich kann mich gut daran erinnern, wie Renate Künast dafür kritisiert wurde, dass
sie eine Registrierungspflicht für Geflügelhalter eingeführt hat. Da gab es ein Riesenbohei, das sei eine unglaubliche zusätzliche Bürokratie usw. In diesen Tagen
ist der Nachfolger Horst Seehofer sehr glücklich darüber, dass es eine Registrierungspflicht für Hühnerhalter gibt. Denn im konkreten Krisenmanagement erleichtert das den Behörden ungemein, auf ein solches
Geschehen einzuwirken. Das bedeutet, dass wir bei der
Bewertung von Bürokratie ein zweites Problem haben.
Das, was an einem Tag als Bürokratie erscheint, ist langfristig betrachtet möglicherweise genau das nicht. Es ist
also nicht ratsam, zu ideologisch an das Thema heranzugehen.
({0})
Ich halte es für wichtig, dass wir in Sachen Bürokratieabbau einen Konsens finden. Es sollten alle Beteiligten mit ins Boot kommen. Herr Wend hat es nun zum
zweiten Mal angeboten. Herr Kollege, ich bin für meine
Fraktion sehr gerne bereit, mitzugehen. Wir haben aus
Gründen des Bürokratieabbaus dem Antrag der FDP keinen weiteren hinzugesellt,
({1})
denn wir sind mit der FDP und Ihnen in der Sache einer
Meinung. Eine Schlüsselfrage ist, ob sich dieses Parlament in diese Debatte federführend einmischt - denn das
Parlament ist der Gesetzgeber - oder ob man das allein
externen Gruppen überlässt.
({2})
Ich will einen Punkt nennen, der mich sehr stört. Die
Juniorchefin für Bürokratieabbau ist Hildegard Müller,
Kanzleramtsministerin.
({3})
Sie hätte heute hier sein müssen. Ich finde, es gehört
sich, dass man in der Debatte als die dafür im Kabinett
Verantwortliche anwesend ist, wenn darüber diskutiert
wird. Ihr geht es wie uns allen. Die Tagesordnung hat
sich sehr stark verschoben, aber unter dem Strich erwarte ich, dass sie hier ist und dieses Parlament ernst
nimmt.
({4})
Ich glaube, dass neben der Einbeziehung der Experten
extrem wichtig ist, dass das Parlament insgesamt mitmacht.
Im Zusammenhang damit, was die Koalition in Bezug
auf die Kinderbetreuungskosten und die steuerliche Abzugsfähigkeit vorgelegt hat, will ich ein weiteres Problem des Bürokratieabbaus benennen. Häufig ist unsere
Kompromissfindung so kompliziert, dass Regelungen
herauskommen, die seitenlang sind und die keiner mehr
versteht, es sei denn, er ist professioneller Steuerberater.
Mein Wunsch wäre, dass wir bei der Kompromissfindung den Bürokratieabbau gleich einschließen. Ich
glaube, dass es auch im Umweltrecht absolut notwendig
ist, dass wir auf europäischer Ebene Vorgaben haben,
diese national einheitlich umsetzen und nicht jedem
Bundesland eine Ausnahmeregelung erlauben. Sonst
halten Sie nämlich einem Unternehmer, der in mehreren
Bundesländern investieren will, wieder das Stoppschild
vor die Nase. Wir haben bei der Föderalismusreform in
dieser Beziehung eine gemeinsame Verantwortung.
Zum Abschluss noch ein Beispiel aus dem Umweltrecht, der Kammmolch in Nordhessen. Der Kammmolch in Nordhessen hat ein Autobahnprojekt gefährdet.
Da gab es ein Riesenbohei. Zwei Jahre lang hat man sich
über 5 000 Kammmolche aufgeregt. Dann hat die Straßenbaubehörde um das Gebiet der Kammmolche herum
neu geplant. Das Autobahnprojekt ist nach der jetzigen
Planung 50 Millionen Euro billiger.
({5})
Das heißt, jeder Kammmolch wird dem Steuerzahler
10 000 Euro sparen.
({6})
Insofern mein Vorschlag zur Haushaltssanierung für den
Minister Steinbrück: Er sollte Kammmolche züchten.
Das wird vielleicht helfen, den Haushalt wieder ins
Gleichgewicht zu bringen.
Ich danke sehr.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/472 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung
des Gentechnikgesetzes
- Drucksache 16/430 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})
- Drucksache 16/628 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Dr. Christel Happach-Kasan
Ulrike Höfken
Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe
Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundesregierung dem Parlamentarischen Staatssekretär
Dr. Peter Paziorek das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
erfreulich, dass es trotz aller grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten im Deutschen Bundestag über die
Grüne Gentechnik im bisherigen Beratungsgang gelungen ist, in dieser zeitlich drängenden Teilfrage eine
breite Einigkeit zu erzielen. In den Ausschüssen haben
nämlich nicht nur die Fraktionen von CDU und SPD,
sondern auch die von FDP und den Grünen dem Entwurf
zugestimmt. Diese Fraktionen sind sich einig, dass wir
das Dritte Gesetz zur Änderung des Gentechnikgesetzes
in der jetzt vorliegenden Fassung sehr dringend verabschieden müssen. Ich bitte Sie deswegen, dieses Gesetz
mit derselben Einmütigkeit, mit der Sie es in den Ausschüssen unterstützt haben, heute im Plenum zu beschließen. Ich hoffe, dass auch der Bundesrat diesem
Gesetz zügig zustimmen wird.
Wie Sie alle wissen, dient das vorliegende Gesetz der
Umsetzung der europäischen Freisetzungsrichtlinie,
nicht mehr und nicht weniger. Es betrifft überwiegend
Form- und Verfahrensvorschriften, wie Regelungen über
den Inhalt der Antragsunterlagen oder Bearbeitungsfristen. Es ist hinreichend bekannt, dass es jetzt höchste Zeit
ist, diese Regelung zu schaffen; denn Ende letzten Jahres
hat uns die Europäische Kommission dazu aufgefordert,
binnen zwei Monaten die Freisetzungsrichtlinie umzusetzen. Die Kommission drohte an, im Falle der Nichtumsetzung gegen Deutschland ein Zwangsgeld zu verhängen, das bis zu 792 000 Euro pro Tag betragen kann und
außerdem mit einem Pauschalbetrag kombinierbar ist.
Deswegen mussten wir so handeln. Uns blieb auch von
der Sache her keine vernünftige Alternative.
({0})
Es ist aber auch völlig klar - das will ich hier betonen -, dass der heute zu beschließende Gesetzentwurf
nicht ausreichend ist.
({1})
Die Anliegen des Bundesrates, die dieser schon in der
letzten Legislaturperiode mit Nachdruck verfolgt hat,
sind zum großen Teil nicht berücksichtigt. Auch nach Ansicht der Bundesregierung sind weitergehende Regelungen nun unverzüglich zu treffen. Ich denke beispielsweise
an die Haftungsregelung, insbesondere im Hinblick auf
die Schaffung eines leistungsfähigen Anspruchsgegners
bei unverschuldeter Auskreuzung. Ganz wichtig wird die
Definition der guten fachlichen Praxis sein, um eine Koexistenz der verschiedenen Anbauformen zu ermöglichen.
({2})
Außerdem wird es um die weitere Vorgehensweise beim
Auskreuzen aus experimentellen Freisetzungen gehen.
Darüber hinaus müssen wir uns die Frage stellen - das
deckt sich mit dem, was in der Diskussion über den vorhergehenden Tagesordnungspunkt gesagt wurde -, ob
wir bei Vorliegen von Kenntnissen bei weiteren FreisetParl. Staatssekretär Dr. Peter Paziorek
zungen nicht zusätzliche Verfahrenserleichterungen
schaffen. Es geht also um die Frage: Können wir dieses
Verfahren zukünftig weiter vereinfachen?
({3})
Das Ziel der Bundesregierung ist, möglichst umgehend einen Gesetzentwurf zu diesen Fragen vorzulegen.
Um es von vornherein klarzustellen: Dieser Gesetzentwurf wird von dem Grundsatz ausgehen, dass der Schutz
von Mensch und Umwelt entsprechend dem Vorsorgeprinzip wichtigster Maßstab der deutschen Gentechnikpolitik ist und bleibt und dass die Wahlfreiheit der Verbraucher weiterhin gewährleistet ist.
({4})
Ich will unterstreichen: Es muss durch strenge Zulassungsverfahren zukünftig gewährleistet sein, dass keine
schädlichen Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit
eintreten.
Was zentrale Fragen der Haftung angeht, gilt - ich zitiere bewusst den Koalitionsvertrag -:
Die Bundesregierung wird darauf hinwirken, dass
sich die beteiligten Wirtschaftszweige für Schäden,
die trotz Einhaltung aller Vorsorgepflichten und der
Grundsätze guter fachlicher Praxis eintreten, auf einen Ausgleichsfonds verständigen. Langfristig ist
eine Versicherungslösung anzustreben.
({5})
Wir haben zur Frage des Haftungsfonds bereits in den
letzten Tagen und Wochen mehrere Gespräche mit der
Saatgutindustrie, mit den Vertretern der heimischen
Landwirtschaft, aber auch mit der Versicherungswirtschaft geführt.
({6})
Es wäre schön, wenn ich mich hier hinstellen und sagen
könnte, Herr Tauss: Der gordische Knoten ist durchgeschlagen. - Er ist aber noch nicht durchgeschlagen. Wir
sind in dieser Frage leider noch nicht zu einem Durchbruch gekommen. Wir werden unsere Anstrengungen
fortsetzen, einen für alle Seiten annehmbaren Lösungsweg zu finden. Ich sage an dieser Stelle aber auch ganz
deutlich: Hier muss vonseiten der Wirtschaft noch mehr
Bewegung kommen.
({7})
Wir fordern die Wirtschaft auf, sich in Fragen des Haftungsfonds zu bewegen.
In den Gesprächen mit den Beteiligten, die ich gerade
genannt habe, ist immer wieder betont worden, dass für
die Koexistenz und für die damit zusammenhängenden
Haftungsfragen eine verlässliche rechtliche Grundlage
geschaffen werden muss. Die Bundesregierung hält es
für ihre Aufgabe, die Wahlfreiheit von Verbrauchern und
Landwirten hinsichtlich der verschiedenen Bewirtschaftungsformen - zum Beispiel: Anbau mit oder ohne
GVO? - zu gewährleisten. Nur bei einem echten Nebeneinander, also bei der Koexistenz der Bewirtschaftungsformen, kann letztlich auch die Wahlfreiheit des Verbrauchers gewährleistet bleiben.
Wir sollten uns vor Augen führen, dass die beste Lösung darin besteht, wenn von Anfang an vermieden
wird, dass Ernteprodukte des Nachbarn beeinträchtigt
werden. Prävention ist immer besser als Kompensation
über Haftungsregelungen. Dennoch müssen wir auch daran denken, dass es einmal zu solchen Streitigkeiten
kommen kann. Deshalb brauchen wir den Haftungsoder Ausgleichsfonds. Deshalb noch einmal unsere
Bitte, dass sich die interessierte Wirtschaft bewegt, damit wir in dieser Frage ein Stückchen weiterkommen.
({8})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
einer Kollegin aus der Fraktion der Linken?
Ja, die gestatte ich.
Zu der Frage des Haftungsfonds bzw. der langfristigen Versicherungsregelungen haben Sie gesagt, dass es
noch nicht gelungen ist, den gordischen Knoten zu
durchschlagen. Sind Sie in der Lage bzw. willens, einige
Kernpunkte zu der Frage zu nennen, worin das Hauptproblem besteht?
Hier stellt sich die Frage - die Diskussion ist auch
durch die Tageszeitungen gegangen -, ob in Deutschland
zukünftig jede Innovation durch einen Haftungsfonds
begleitet werden muss. Das ist eine prinzipielle ordnungspolitische Frage.
Die nächste Frage ist natürlich: Gibt es Erfahrungen
im Bereich des Versicherungsrechts? Solche Erfahrungen liegen noch nicht vor. Deshalb ist die spannende
Frage: Wie kann das Versicherungsrisiko taxiert werden? Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass es in diesem Bereich Fragen gibt.
Weil das ein Gebiet ist, das politisch natürlich sehr
strittig gesehen wird, bin ich der Ansicht, dass man hier
bei einer Innovation ausnahmsweise einen solchen ordnungspolitisch neuen Ansatz wählen sollte; denn über
den Haftungsfonds können wir zur Beruhigung in diesen
Rechtsfragen beitragen. Deshalb plädiere ich dafür, dass
wir in diesem Bereich wirklich einem Haftungsfonds näher treten.
({0})
Letztlich wird für die Frage der Haftung entscheidend
sein, welche rechtlichen Regeln für die gute fachliche
Praxis zugrunde liegen. Die entscheidende Frage ist ja,
ob sich jemand - ich sage es jetzt einmal vereinfacht korrekt verhält oder nicht. Deshalb werden wir seitens
der Bundesregierung in Kürze einen Verordnungsentwurf zur guten fachlichen Praxis vorlegen. Den Landwirten wollen wir in Form einer Verordnung klare Regeln dazu an die Hand geben, wie sie beim Anbau von
GV-Pflanzen vorzugehen haben, sodass die Früchte von
Nachbarfeldern von der Gentechnik unbeeinträchtigt
bleiben. Ich glaube, dass wir mit einer solchen Verordnung Rechtssicherheit, die von allen Seiten gefordert
wird, schaffen können.
Bundesminister Seehofer wird in den kommenden
Wochen einen intensiven Dialog mit allen betroffenen
Seiten in Gesellschaft und Wirtschaft führen. Diese Gespräche sollen erstens den Diskussionsstand zur Grünen
Gentechnik zusammenfassen und zweitens ein Forum
für den Meinungsaustausch bieten. Diese Gespräche
werden einen Beitrag zu einer gesetzlichen Lösung leisten können, die sowohl den Sorgen und Ängsten vieler
Menschen als auch dem Bedürfnis nach Nutzung innovativer Potenziale Rechnung trägt. Aus Sicht der Regierung wird es darauf ankommen - das will ich an dieser
Stelle noch sagen -, beide Punkte in Verbindung miteinander zu sehen. Wir müssen die Sorgen und Ängste der
Menschen sehen; gleichzeitig müssen wir die Chancen
für Innovation sehen. Es wird darauf ankommen, einen
vernünftigen politischen Weg zu finden, um dies beides
zusammenzuführen.
({1})
Somit wollen wir mit unserer Politik den Rahmen dafür schaffen, dass Wissenschaft, Forschung und Industrie
die Chancen und Potenziale der Grünen Gentechnik ausloten und weiterentwickeln können. Wir nehmen dabei
aber auch die Ängste und Besorgnisse eines sehr großen
Teils der Bevölkerung unseres Landes ernst.
({2})
Wir werden darauf achten, dass die Sicherheit für die
menschliche Gesundheit und für die Umwelt oberste
Priorität hat und die Wahlfreiheit für Verbraucher und
Landwirte gewahrt wie auch die Koexistenz der unterschiedlichen Anbauformen ermöglicht wird. So wie es
uns hier im Bundestag gelungen ist, die unterschiedlichen politischen Ansätze nun zu einer fast einmütigen
zustimmenden Entscheidung zu vereinen, hoffe ich, dass
uns dies auch bei dem zweiten Schritt, nämlich der Ermöglichung von Koexistenz der Anbauformen, gelingen
wird.
Ganz zum Schluss noch ein Satz zum FDP-Antrag.
Darin steht vieles Richtige, was ich persönlich unterstreichen kann. Aber einen Vorwurf möchte ich erheben:
Die von mir gerade geschilderte Gesamtschau, bei der
die Sorgen der Menschen ernst genommen und die Menschen mitgenommen werden, bei der Chancen auf Innovationen eröffnet werden und bei der als oberstes Prinzip
nicht allein der Markt entscheidet, sondern auch die Sicherheit für Umwelt und Menschen eine Rolle spielt,
fehlt mir in diesem Antrag. Vielleicht können wir hier
noch zu einer gemeinsamen Position kommen.
Unabhängig davon habe ich die Bitte an den Deutschen Bundestag, dem Dritten Gesetz zur Änderung des
Gentechnikgesetzes zuzustimmen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Christel HappachKasan, FDP-Fraktion.
({0})
Ich bin einfach gut.
({0})
- Es ist ja auch nicht viel, aber gut bin ich trotzdem.
({1})
- Eben.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist wahrhaftig nicht die erste Rede zur Gentechnik,
die im Deutschen Bundestag gehalten wird. Ich bedanke
mich, Herr Paziorek, für Ihre Worte. Ich finde es schade,
dass Sie unserem Antrag wohl nicht zustimmen werden.
Ich freue mich aber, dass auch Sie gesehen haben, wie
viel Änderungsbedarf beim derzeit geltenden Gentechnikrecht besteht. Ich hoffe sehr, dass es zu einer Novellierung des Gentechnikgesetzes kommt. Wir brauchen
es; deshalb werde ich Sie dabei konstruktiv unterstützen.
Dieses Land hat es verdient, dass wir Wege für Innovationen eröffnen, dass wir Wege für technologischen Fortschritt eröffnen, dass wir Wege eröffnen, um die Lebensmittelsicherheit zu erhöhen, dass wir jungen Menschen
Wege eröffnen, zukunftsträchtige Arbeitsplätze zu bekommen, damit sie nicht abwandern. Vielen Dank, Herr
Staatssekretär, wir werden Sie beim Wort nehmen.
({2})
Gentechnik ist in aller Munde: heute hier im übertragenen Sinne, aber auch ganz allgemein. Wir wissen alle,
dass Gentechnik in der Medizin bei der Herstellung von
Enzymen, Vitaminen und Aminosäuren Standard ist. Die
Wiener Universität hat im letzten Jahr eine Machbarkeitsstudie zum Verzicht auf Gentechnik in der Tierhaltung erstellt. Dabei hat sich gezeigt, dass eine so genannte gentechnikfreie Schweine- und Geflügelhaltung
nicht möglich ist. Gentechnikfreie Fütterung führt zu hohen Sterberaten, die schon allein unter dem Gesichtspunkt des Tierschutzes nicht hinnehmbar sind.
({3})
Die mit gentechnisch veränderten Mikroorganismen hergestellten Vitamine B2 und B12 sowie weitere Aminosäuren sind unverzichtbar. Das zeigt uns: Auch die
Landwirtschaft ist an einem Punkt angekommen - das
war zwangsläufig -, wo sie diese Technologie nutzen
muss. Sie tut es, weil es ihr Vorteile bringt und die Herstellung von sicheren Produkten ermöglicht.
Wir haben hier heute Morgen sehr ernsthaft das Auftreten der Vogelgrippe diskutiert. Die Vogelgrippe ist
eine Zoonose, wie die Kollegen Goldmann und
Dr. Tackmann ausgeführt haben. Der gegenwärtig entwickelte Markerimpfstoff gegen die Vogelgrippe wird mit
gentechnischen Methoden erzeugt. Auch dabei wird also
Gentechnik eingesetzt. Diese ist die Methode des
21. Jahrhunderts.
({4})
Warum gibt es nun eigentlich ideologische Hürden
bei der Anwendung der Grünen Gentechnik auf dem
Acker? Ich will es vorwegnehmen, Frau Höfken: Es
wird vielfach zitiert, dass laut Umfragen 70 Prozent der
Bevölkerung Gentechnik ablehnen. Aber 66 Prozent
wollen - auch das wissen wir - einen gentechnisch veränderten Joghurt, der vor Darmkrebs schützt. 80 Prozent
befürworten Bioprodukte - darauf sind Sie stolz, Frau
Höfken -, aber der Marktanteil der Bioprodukte beträgt
gerade einmal 2,6 Prozent. Bei der Suchmaschine
Google rangiert das Stichwort „Gentechnik“ bei Ernährungsfragen auf Platz 47. Das zeigt sehr deutlich: In der
Öffentlichkeit spielt das Thema Gentechnik keine Rolle,
nur bei Verbänden, bei einer bestimmten Klientel. Die
normalen Menschen in unserer Bevölkerung interessieren sich dafür überhaupt nicht.
({5})
Das heißt, die berühmten Umfragen zur Akzeptanz
der Gentechnik spiegeln ein Meinungsklima wider,
aber nicht das Kaufverhalten der Menschen. Da verwundert es nicht, dass in Österreich an einer Fleischtheke im Supermarkt nur eine Minderheit zu Fleischprodukten griff, die als „gentechnikfrei“ gekennzeichnet
waren. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Frau
Drobinski-Weiß, auch ein prononcierter Gegner sollte
wissen, wie die Menschen sich verhalten.
({6})
Jede Ingenieurskunst hatte ihre Befürworter und ihre
Gegner, das wissen Sie: die Dampfmaschine genauso
wie die Eisenbahn, das Handy oder der PC. Die Evolutionsbiologie wird abgelehnt. Es gibt Kreationisten, Anhänger des Intelligent Design und Gentechnikgegner.
Aber davon unabhängig sind wir in der Pflicht, die
Freisetzungsrichtlinie der EU umzusetzen. Der vorliegende Gesetzentwurf bleibt weit hinter dem zurück, was
CDU/CSU und SPD den Menschen im Koalitionsvertrag
versprochen haben.
({7})
Im Koalitionsvertrag steht, das Gentechnikgesetz solle
novelliert und die Regelungen sollten so ausgestaltet
werden, dass sie Forschung und Anwendung in Deutschland befördern. Nichts von dem erreicht dieser Gesetzentwurf.
({8})
Deswegen bin ich dankbar, dass der Staatssekretär
ganz klar gemacht hat, dass es eine weitere Novellierung des Gentechnikgesetzes geben muss.
({9})
Die Regierung darf hier nicht stehen bleiben. Es ist gut,
dass in der Begründung des Gesetzentwurfes die weitere
Novellierung versprochen wird. Haben Sie das nicht gelesen? Sie sollten etwas konkreter arbeiten. Heute hat die
stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion,
Frau Katherina Reiche, in der „Welt“ deutlich gemacht,
dass wir eine weitere Novellierung brauchen.
({10})
Während sich in der rot-grünen Regierung die SPDMinister - erinnern Sie sich: Frau Bulmahn, Herr
Clement, Herr Stolpe - mit ihren positiven Stellungnahmen zur Grünen Gentechnik übertroffen haben, versucht
die SPD heute, den Grünen das Angstschüren abzunehmen. Das finde ich, ehrlich gesagt, schmählich und absolut schändlich.
({11})
Das heißt, die SPD ist die Opposition in der Regierung.
Sie übernimmt von den Grünen deren Blockadehaltung.
Wenn wir Liberalen heute dem Gesetz zustimmen,
machen wir deutlich, dass wir die drohenden Zwangszahlungen von Deutschland abwenden wollen. Gleichzeitig schenken wir Ihnen Vorschusslorbeeren. Ich hoffe,
dass Sie gut damit umgehen werden.
Wir stimmen dem Änderungsantrag der Grünen nicht
zu, weil wir das politische Ziel der Grünen, Angst gegen
die Gentechnik und Misstrauen gegenüber Behörden zu
schüren, ablehnen. Das wollen wir nicht.
({12})
Sie haben in unserem Entschließungsantrag unsere
Vorstellungen zur Gentechnik gelesen. Ich bitte Sie, diesem Entschließungsantrag zuzustimmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat nun die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute
nicht über die Novellierung des Gentechnikgesetzes,
sondern über die Verabschiedung des Dritten Gesetzes
zur Änderung des Gentechnikgesetzes, Frau Kollegin.
Mit der Verabschiedung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes tragen wir unseren Teil
dazu bei, dass die EU-Freisetzungsrichtlinie nun endlich
komplett umgesetzt wird.
({0})
Bereits bei der Einbringung des Gesetzentwurfes haben
wir darüber debattiert, wie wichtig die zügige Umsetzung ist, damit wir einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof zuvorkommen und keine Strafzahlungen wegen Nichtumsetzung leisten müssen. Das
Dritte Gesetz zur Änderung des Gentechnikgesetzes enthält die Regelungen, die zur Umsetzung der EU-Freisetzungsrichtlinie noch ausstehen. Ohnehin lassen die EUVorgaben für die in diesem Gesetz geregelten Verfahrensfragen nicht viel Spielraum.
Ich bin sehr froh darüber, dass es uns gelungen ist,
uns mit unserem Koalitionspartner in den Ausschussberatungen auf einen Änderungsantrag zum Gesetzentwurf
zu verständigen, der für mehr Transparenz für die
Öffentlichkeit sorgt.
({1})
Mit diesem Änderungsantrag wird der geplante § 28 a
des Gentechnikgesetzes, der die Unterrichtung der Öffentlichkeit bei ungenehmigter Freisetzung gentechnisch
veränderter Organismen regelt, konkreter gefasst. So tritt
anstelle der bisher vorgesehenen Kannregelung eine
Sollregelung. Das heißt, die Behörden sollen die Öffentlichkeit informieren. Dies wird dem Informationsinteresse der Menschen besser gerecht.
Das ist eine wichtige Maßnahme hin zu mehr Transparenz, die ständig gefordert wird. Jeglichem Verdacht
der Geheimniskrämerei muss entgegengewirkt werden;
({2})
denn nur durch Transparenz lässt sich das Vertrauen der
Verbraucherinnen und Verbraucher gewinnen.
({3})
Vertrauen ist die Basis für mehr Akzeptanz.
({4})
79 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher, Frau
Kollegin Happach-Kasan, lehnen gentechnisch veränderte Lebensmittel ab und demonstrieren uns eindrucksvoll, dass es an Akzeptanz für die Grüne Gentechnik
mangelt. Diese mangelnde Akzeptanz ist das eigentliche
Problem. Wir könnten noch Jahre darüber debattieren,
welcher rechtlichen Regelungen und welcher politischen
Initiativen es bedarf, um die Potenziale der Grünen Gentechnik zu fördern.
({5})
- Die Argumente der Frau Kollegin haben wir schon
rauf und runter diskutiert. Deswegen möchte ich ihre
Zwischenfrage nicht zulassen.
({6})
Wenn die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht
überzeugt sind, dann hilft alles nichts. Dann bleibt der
Einsatz der Gentechnik in der Lebensmittelproduktion
wirtschaftlich riskant.
({7})
Die Politik kann hier nicht für mehr Akzeptanz sorgen.
Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass den 79 Prozent
der Menschen, die gentechnikfreie Produkte haben wollen, diese auch angeboten werden können.
Der Schutz der konventionellen und der ökologischen
Landwirtschaft vor Einträgen aus dem GVO-Anbau
muss gewährleistet bleiben. Verbraucher und Landwirte
müssen die echte Wahl haben und selbst entscheiden
können, ob sie gentechnisch veränderte Produkte kaufen
bzw. anbauen wollen oder nicht. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten stellt in ihrem Positionspapier
aus dem Juli letzten Jahres fest:
… der Zwang zum Konsum gentechnisch modifizierter Produkte und ungenügende Ausweichmöglichkeiten auf nicht gentechnisch veränderte Produkte reduzieren die Akzeptanz und Wahlfreiheit.
Die Wahlfreiheit stärkt das Vertrauen der Verbraucher
und dient damit letztlich auch den Interessen der Wirtschaft.
Von der Möglichkeit, in Deutschland weiterhin gentechnikfrei produzieren zu können, hängen auch Arbeitsplätze ab, und zwar über 150 000 allein in der Ökolebensmittelbranche. In dieser Branche steckt wirklich
wirtschaftliches Potenzial. Ja, sie boomt regelrecht. So
wird im Zusammenhang mit der derzeit in Nürnberg
stattfindenden Naturkostfachmesse Biofach darüber berichtet, dass es aufgrund der enorm gestiegenen Nachfrage nach Bioprodukten bereits zu Angebotslücken und
Lieferengpässen kommt. Ich habe heute gelesen, dass
dies vor allen Dingen im Bereich Milch und Fleisch der
Fall ist. Das hängt zum einen mit der wachsenden Bedeutung von Biosupermärkten und dem Einstieg der Lebensmitteldiscounter ins Biogeschäft zusammen, zum
anderen aber auch damit, dass Verbraucherinnen und
Verbraucher Vertrauen in Bioprodukte haben.
Vor dem Hintergrund der Lebensmittelskandale
- derzeit müssen wir uns mit dem Gammelfleischskandal beschäftigen - gibt es eine wachsende Verunsicherung der Verbraucher hinsichtlich der Qualität der ihnen
angebotenen Lebensmittel.
({8})
- Das ist überhaupt nicht weit hergeholt. - Da wird das
Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher zum
echten Wettbewerbsvorteil. Dieses Vertrauen darf nicht
verspielt werden.
({9})
Verbraucher wollen über die Produkte informiert sein
und Verbraucher wollen selbst wählen können. Mit unseren gesetzlichen Regelungen ermöglichen wir gemäß
den EU-Vorgaben den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen und stellen gleichzeitig sicher, dass der
gentechnikfreie Anbau vor Beeinträchtigungen aus dem
GVO-Anbau geschützt ist
({10})
und auch in Zukunft die Erzeugung ökologischer und
konventioneller gentechnikfreier Produkte möglich ist.
Eine Absenkung des Schutzniveaus für die gentechnikfreie Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion würde
sowohl von den Verbraucherinnen und Verbrauchern als
auch von den Landwirten als Bedrohung wahrgenommen
({11})
und könnte für einige konventionelle Unternehmen und
die Ökolebensmittelwirtschaft zur Existenzgefährdung
werden. Es gibt also gute Gründe, an unserem hohen
Schutzniveau festzuhalten. Wenn wir das Dritte Gesetz
zur Änderung des Gentechnikgesetzes verabschiedet und
damit die EU-Freisetzungsrichtlinie komplett umgesetzt
haben, haben wir eine gute Basis geschaffen.
({12})
Sehr geehrte Damen und Herren von der FDP, Ihren
Entschließungsantrag lehnen wir ab. Das in Ihrem Antrag aus dem Zusammenhang gerissene Zitat aus einer
Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages belegt keinesfalls einen Verstoß gegen die europäischen Zielvorgaben der Freisetzungsrichtlinie. Ich bitte Sie, dies etwas genauer nachzulesen.
({13})
Für uns ist der Schutz von Mensch und Umwelt
oberstes Ziel des deutschen Gentechnikrechts. Dabei gilt
der Vorsorgegrundsatz. Mit diesem ist es nicht vereinbar,
dass Ihrem Entschließungsantrag entsprechend Produkte
aus Forschungsfreisetzungen ohne Genehmigung in Verkehr gebracht werden dürfen.
({14})
Die von Ihnen geforderte Sicherheit für die Forschung
und die Produktentwicklung ist wichtig. Sie ist aber dem
Schutz von Mensch und Umwelt unterzuordnen.
({15})
In Abwandlung des Einstein-Zitats schließe ich mit den
Worten: Die Forschung ist für die Menschen und nicht
die Menschen für die Forschung.
Vielen Dank.
({16})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan.
Frau Kollegin Drobinski-Weiß, schade, dass Sie
meine Zwischenfrage nicht zugelassen haben! ({0})
Ich meine, wir sollten uns in Deutschland sehr viel intensiver damit beschäftigen, was Verbraucherumfragen eigentlich besagen. Ich habe es sehr deutlich gemacht:
70 Prozent lehnen die Gentechnik ab. 60 Prozent wollen
aber einen Joghurt, der vor Darmkrebs schützt.
({1})
Das heißt, wir haben zwei verschiedene, zwei vollkommen entgegengesetzte Aussagen. Wir haben die Aussage, dass 80 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher biologische Lebensmittel bevorzugen. Der
Anteil der Lebensmittel aus dem Ökolandbau am Gesamtmarkt beträgt aber nur 2,6 Prozent. Ich kann ein
drittes Beispiel hinzufügen: 2002 wurde nachgefragt,
wie gefährlich es ist, Fleisch von BSE-kranken Tieren zu
essen, und wie gefährlich Rauchen ist. Die Verbraucherinnen und Verbraucher schätzten beides gleich gefährlich ein.
Das heißt, wir sollten mit den Ergebnissen solcher
Umfragen sehr viel vorsichtiger umgehen. Ich meine,
dass sie nur das herrschende Meinungsklima abbilden.
Sie sind nicht dazu geeignet, Vorhersagen zu treffen, wie
die Verbraucherinnen und Verbraucher sich verhalten.
Sie fragen in keiner Weise die tatsächliche Akzeptanz
ab. Dies ist bei einem Thema wie der Grünen Gentechnik viel zu schwierig.
Sie haben auf die Freisetzungsrichtlinie abgehoben.
({2})
Frau Kollegin Drobinski-Weiß, ich bitte Sie, die Freisetzungsrichtlinie einmal vollständig durchzulesen. Sie
werden dort finden, dass es zur Zulassung von gentechnikveränderten Pflanzen notwendig ist, Freisetzungsversuche zu machen. Diese müssen also möglich sein. Ich
bitte Sie, die Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes
vollständig zu lesen. Ich bitte, zu entschuldigen, dass ich
nicht das gesamte Gutachten in die Drucksache aufge1444
nommen habe. Das wäre wohl eine Überforderung gewesen.
({3})
Das Gutachten macht sehr deutlich - als es herauskam,
waren Sie von der SPD-Fraktion es doch, die immer
wieder gefragt haben, ob Sie es endlich bekommen
könnten -, dass die Art und Weise, wie die rot-grüne Regierung die Haftungsregelung gestaltet hat, zu Rechtsunsicherheit führt. Dies lehnen wir als FDP ab.
({4})
Dann ist die nächste Rednerin Frau Dr. Kirsten
Tackmann von der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Die Lebensmittelbranche, das
heißt die Land- und Lebensmittelwirtschaft, hat in
Deutschland und Europa unter den Bedingungen eines
globalisierten Welthandels nur eine Zukunft, wenn ihre
Produkte in Preis und Qualität dem entsprechen, was
Verbraucherinnen und Verbraucher akzeptieren und
- das muss man in Zeiten von prekären Beschäftigungsverhältnissen, Niedriglohnsektor und Hartz IV hinzufügen - was sie sich noch leisten können.
Eine große Mehrheit der Verbraucherinnen und Verbraucher lehnt aus unterschiedlichen Gründen den Konsum, viele sogar die Produktion von GVO-Lebensmitteln ab. Auch Landwirte sind - ich denke mit Recht sehr skeptisch. Das ist eine Tatsache, die in der Debatte
um das Gentechnikgesetz berücksichtigt werden muss.
({0})
Trotz des insbesondere auf dem amerikanischen Kontinent exorbitant gewachsenen Anbauanteils gentechnisch veränderter Pflanzen ist es bei uns in Europa
ebenso wie in großen Teilen Asiens nicht zu einer höheren Akzeptanz von GVO gekommen. Der Druck, GVOKulturpflanzensorten zuzulassen, ist also nicht auf der
Nachfrageseite entstanden. Ganz im Gegenteil: Er stieg
vor allem auf der Seite der Saatgutanbieter.
({1})
Die Interessen der multinationalen GVO-Saatgutkonzerne haben aber nichts mit den Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher zu tun. Wenn man den neuesten Studien über die ökologischen und wirtschaftlichen
Folgen der Anwendung Grüner Gentechnik auswertet,
stellt man fest, dass sie auch wenig mit den Interessen
der Landwirte zu tun haben.
Der Koalitionsvertrag macht im Zusammenhang mit
der Grünen Gentechnik drei Versprechen: Vorsorge, Koexistenz und Wahlfreiheit. Daran muss sich die konkrete
Politik der Koalition messen lassen. Voraussetzung wäre
die Sicherstellung einer Erzeugung ohne Gentechnik sowie des Bezugs von gentechnikfreien Rohstoffen, Zusatz- und Hilfsstoffen, und zwar unter den Bedingungen
eines komplexen Systems der Arbeitsteilung; denn die
meisten Lebensmittel gehen heute durch viele Hände,
bevor sie beim Verbraucher ankommen.
Wer aber Koexistenz und Wahlfreiheit unter diesen
Bedingungen verspricht, muss auch für Transparenz
und Information sorgen, und zwar ohne Einschränkung.
({2})
Genau das sichert der Entwurf nicht. In § 28 a Gentechnikgesetz wird nicht etwa ein konkreter Anspruch der
Verbraucherinnen und Verbraucher auf Information formuliert, sondern lediglich eine Unterrichtungsermächtigung der Behörden mit eher komplizierten und einander
widersprechenden Beurteilungs- und Ermessensspielräumen. Spielräume sind bekanntlich manchmal unergründlich. In Abs. 3 werden außerdem vier umfangreiche Fallgruppen definiert, wann Informationen gar nicht
weitergegeben werden dürfen. § 28 a Gentechnikgesetz
wird damit zum Unterrichtungsverhinderungsparagraphen.
Es stellt sich die Frage, wessen Interessen gesetzlich
eigentlich geschützt werden. Ich vermag vor allem eine
kleine Gruppe zu erkennen, die offensichtlich wenig Interesse an Transparenz hat: die Saatgutkonzerne, vielleicht auch mancher GVO-Anwender. Es kann doch
nicht Aufgabe von Politik sein, Lobbyinteressen über
das berechtigte Informationsinteresse der Öffentlichkeit
zu stellen,
({3})
erst Recht nicht im Zusammenhang mit der Anwendung
einer Risikotechnologie, die mit nicht rückholbaren Folgen verbunden ist. Wenn Grüne Gentechnik denn so
harmlos und selig machend ist, wie es von vielen Befürwortern dargestellt wird, frage ich mich, wieso die Informationsrechte dann so restriktiv gehandhabt werden
müssen.
Für die Fraktion Die Linke bleibt der Informationsanspruch der Öffentlichkeit elementarer Bestandteil demokratischer Teilhabe. Schon deswegen können wir dem
Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich komme erst einmal auf das Positive zu
sprechen. Gut ist auf jeden Fall, dass die schwarz-rote
Koalition heute die EU-Freisetzungsrichtlinie in gleicher
Weise umsetzt wie unter grüner Federführung. Angesichts einer Strafandrohung in Höhe von 792 000 Euro
pro Tag vonseiten der EU bei Nichtumsetzung der Richtlinie war es unverantwortlich - das haben Sie, Herr
Staatssekretär, richtigerweise gesagt -, dass dieser Teil
des Gesetzes im Bundesrat an CDU und CSU, unter tatkräftiger Mithilfe von SPD und PDS aus MecklenburgVorpommern und - leider - SPD und FDP aus Rheinland-Pfalz gescheitert ist.
({0})
Es ist jedenfalls gut, dass die wichtigen, geltenden
Regelungen im Gentechnikrecht wie Haftung, Transparenz im Standortregister und Schutz ökologisch sensibler
Gebiete erhalten bleiben. Damit ist - soweit es im Rahmen der EU-Gesetze möglich ist - der Schutz der gentechnikfreien Produktion und vor allem auch die Wahlfreiheit gesichert. Damit haben alle, die in Deutschland
gentechnikfrei produzieren wollen - das sage ich ganz
klar -, einen Rechtsanspruch auf Schadensausgleich,
wenn ihre Ernte gentechnisch kontaminiert wird. Frau
Happach-Kasan, wo kämen wir denn hin - ganz ernsthaft -, wenn in Zukunft plötzlich diejenigen, die einen
Schaden erleiden, nicht mehr entschädigt werden können, obwohl dies im BGB verankert ist? Das wäre doch
wohl nicht zu machen.
({1})
Ich finde, Herr Staatssekretär Paziorek hat Recht,
wenn er sagt: Koexistenz muss gesichert werden. So
sagt es auch die EU-Freisetzungsrichtlinie. In Ihrem Antrag, Frau Happach-Kasan, steht: Koexistenz ist nicht
möglich. Ganz klar ist: Ihr Antrag ist absolut abzulehnen, weil er überhaupt nicht den Anspruch erhebt, die
Freisetzungsrichtlinie umzusetzen und Koexistenz zu sichern.
({2})
Ich komme aber auch zum schlechten Teil - Frau
Tackmann hat es schon angesprochen -: Die Öffentlichkeitsbeteiligung ist nicht gut geregelt. Wir werden unseren grünen Antrag verteidigen, auch auf der europäischen Ebene. Wir verlangen nämlich, dass die
zuständigen Behörden zur Unterrichtung verpflichtet
sind.
In diesem Zusammenhang komme ich auf den FDPAntrag zu sprechen, in dem so nett steht:
Die umfangreichen Zulassungsverfahren ... sichern
die Unbedenklichkeit ...
Aber genau das ist der Punkt. Wenn man nämlich, so wie
Greenpeace das durch die Klage erwirkt hat, einmal in
diesen Zulassungsbedingungen nachschaut, was zur Prüfung herangezogen wurde, dann stellt man fest, dass das
erstens viel zu wenig war und dass zweitens die Aussagen sehr bedenklich sind.
Nehmen wir einmal MON 863, insektizidresistenten
Mais, an Ratten verfüttert: Die Versuchstiere hatten verschiedene Veränderungen an Organen. Sie hatten ferner
eine Verminderung der weißen Blutkörperchen, eine Erhöhung des Blutzuckers und Veränderungen an den Nierenkanälen. Bei den Versuchen mit gentechnisch veränderten Erbsen stellte man Lungenentzündungen bei den
Versuchstieren fest.
({3})
Wenn man hinter diese unterschiedlichen Beurteilungen kommt, dann sieht man sehr wohl, dass mehr Bedenken und ein höher eingeschätztes Risiko hinsichtlich der
Agrogentechnik angebracht sind, als dass Nutzen damit
verbunden ist.
({4})
Deshalb darf es da keine Verheimlichung geben.
({5})
Wir werden uns mit aller Entschiedenheit gegen die
illegale Zulassung des MON 810 wehren, die Herr
Seehofer in erster Amtshandlung erwirkt hat. Denn dieses Produkt ist eine Altlast aus dem Jahr 1998, die erstens keine saatgutrechtliche Zulassung hat und zweitens
auch nach heutigem Rechtsstand überhaupt nicht mehr
zugelassen würde. Ich finde, es ist eine absolute Zumutung, dass ein solch unzureichend geprüftes Produkt auf
die Menschheit und die deutsche Landwirtschaft losgelassen wird. Das ist eine Art Menschenversuch. Angesichts der Tatsache, dass diese Zulassung 2006 endet
- was Monsanto in seinen Werbeanzeigen nie sagt -, ist
das eine unverantwortliche Vorgehensweise, gegen die
wir uns mit aller Entschiedenheit wenden. Ich verlange
von Herr Minister Seehofer - auch wenn er jetzt nicht da
ist -, dass er bitte persönlich die Haftung übernimmt.
Danke schön.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ge-
setzentwurf zur Änderung des Gentechnikgesetzes,
Drucksache 16/430. Der Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/628, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/694 vor,
über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen
Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt mit den Stim-
men aller Fraktionen bei Zustimmung der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Zustim-
mung aller übrigen Fraktionen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Ge-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
genstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit angenommen bei Zustimmung aller Fraktionen
und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke bei einer
Enthaltung aus der Fraktion Die Linke.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/
695. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschlie-
ßungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen aller Fraktio-
nen bei Zustimmung der FDP-Fraktion.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Föderalismusreform im Bildungsbereich
- Drucksache 16/647 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Innenausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Priska Hinz ({2}), Kai Boris Gehring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Kooperationsmöglichkeiten von Bund und
Ländern in Bildung und Wissenschaft erhalten
- Drucksache 16/648 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Cornelia Hirsch von der Fraktion Die Linke.
({3})
Einen Moment, Frau Kollegin Hirsch. - Kann ich die
Kollegen bitten, die diesem Tagesordnungspunkt nicht
folgen wollen, den Saal zu verlassen, damit wir der Rednerin Gehör schenken können? - Bitte schön, Frau
Hirsch.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern während der Fragestunde haben wir schon einmal kurz über die geplante Föderalismusreform gesprochen. Wir haben dort die Frage gestellt, inwieweit bei
der Beratung im Kabinett auf die geäußerten bildungspolitischen Bedenken eingegangen wurde. Dazu bekamen wir vom Staatsminister bei der
Wir haben nicht im Einzelnen Bedenken und Anregungen, die hier und dort aus den unterschiedlichsten Richtungen vorgetragen worden sind, erörtert,
sondern wir haben einmütig vereinbart, … alles
dazu beizutragen, dass die inzwischen vorliegenden
Texte … eingebracht und verabschiedet werden.
Vor ein paar Stunden haben wir über die Ticker die
Nachricht erhalten, dass das heutige Spitzengespräch erfolgreich war und die Reform nun vor der Sommerpause
unter Dach und Fach sein soll.
Aus unserer Sicht ist die Art und Weise, in der bei
dieser Föderalismusreform vorgegangen wird, nicht nur
eine Missachtung des Parlaments, sondern es ist auch
eine Missachtung der bildungspolitischen Fachöffentlichkeit,
({0})
die sich fast geschlossen mit sehr vielen guten Gründen
und im Übrigen quer über alle politischen Richtungen
hinweg gegen die vorliegenden Vorschläge ausspricht.
({1})
Ich möchte versuchen, zumindest einige der Bedenken deutlich zu machen. Im Prinzip besteht bei einigen
grundlegenden Fragen in der Bildungspolitik Einigkeit
quer über alle Fraktionen, beispielsweise darüber, dass
wir endlich mehr Chancengleichheit im Bildungssystem
realisieren müssen, dass die frühkindliche Bildung gestärkt werden muss, dass die Studierendenquote erhöht
werden soll oder dass die Weiterbildung ausgebaut werden muss.
({2})
Die geplante Föderalismusreform steht allerdings in
krassem Widerspruch zu all diesen Zielen. Auch hier
möchte ich einige Beispiele nennen: Initiativen wie das
Ganztagsschulprogramm wären zukünftig verboten. Jedes Land könnte beim Hochschulzugang und bei den
Abschlüssen seine eigenen Regelungen verabschieden.
Es gäbe keine bundesweit abgesicherten Arbeitsbedingungen für die im Bildungsbereich Beschäftigten mehr.
Der dringend erforderliche Ausbau der Hochschulen
wäre gefährdet. Aus unserer Sicht ist solch eine Föderalismusreform keine Grundlage für eine progressive Bildungspolitik.
({3})
Die Frage, weshalb trotzdem ein Interesse an dieser
Reform bestehen könnte, lässt sich relativ leicht beantworten. Im Prinzip handelt es sich einfach um einen faulen Kompromiss im Machtgezerre zwischen Bund und
Ländern, der zudem ziemlich durchsichtig ist. Die Länder verzichten auf Zustimmungspflicht im Bundesrat, im
Gegenzug erhalten sie mehr Kompetenzen, etwa in der
Bildungspolitik. Das Problem dabei ist aber, dass eine
Diskussion über die Konsequenzen für die Bildung so
weit es geht vermieden wird.
Genau das wollen wir mit unserem Antrag ändern.
Wir fordern darin, dass man den bildungspolitischen Bereich aus dem Föderalismuspaket vorerst ausklammert
und neu darüber diskutiert.
({4})
Wir wollen an dieser Stelle klarstellen: Wir sind
durchaus der Ansicht, dass wir eine Föderalismusreform
brauchen. Aber wir sind nicht der Ansicht, dass wir eine
Föderalismusreform brauchen, die zulasten von Vätern
und Müttern, Schülerinnen und Schülern, Studentinnen
und Studenten und Lehrerinnen und Lehrern geht.
({5})
Frau Kollegin Hirsch, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Ja, gerne.
Bitte schön, Herr Tauss.
Liebe Frau Kollegin, ich nehme das, was Sie sagen,
mit Interesse zur Kenntnis. In vielen Punkten haben wir
noch nicht einmal unterschiedliche Auffassungen. Aber
angesichts der Vehemenz, mit der Sie vortragen, möchte
ich Sie fragen: Haben Sie in den beiden Ländern, in denen Sie mitregieren - in Berlin und in MecklenburgVorpommern -, schon eine ähnlich feurige Rede gehalten, und ist zu konstatieren, dass die dortigen Landesregierungen aufgrund Ihrer Intervention aus der bisherigen
Phalanx der 16 : 0-Ministerpräsidentenriege ausbrechen
und ihre Auffassungen möglicherweise überdenken?
({0})
Herr Kollege Tauss, vielen Dank für Ihre Nachfrage.
- In meiner ersten Aussage habe ich darzustellen versucht, dass ich vor allen Dingen die Problematik der
Missachtung parlamentarischer Vorgänge sehe.
({0})
Ebenso habe ich kritisiert, dass heute das Gespräch zwischen den Regierungsspitzen stattgefunden hat.
({1})
Sie persönlich kritisiere ich in keiner Form.
({2})
Ich rufe lediglich die anwesenden Abgeordneten ganz
grundsätzlich dazu auf, dieses Anliegen, das für uns sehr
wichtig ist, abzulehnen, wenn es in das Parlament eingebracht werden sollte.
({3})
Das ist kein Vorwurf an Sie, sondern nur ein Aufruf. Nochmals danke für Ihre Nachfrage, Herr Tauss.
Da ich das Ende der mir zur Verfügung stehenden Redezeit schon erreicht habe, will ich abschließend klarstellen: Es geht uns nicht darum, jemandem widersprechen zu wollen, dass wir eine Föderalismusreform
brauchen.
({4})
Wir wollen deutlich machen, dass das Parlament einer
Grundgesetzänderung aus gutem Grund zustimmen
muss und sie nicht einfach im Rahmen eines Koalitionsvertrags beschlossen werden kann.
({5})
Deshalb unser Appell: Wir alle sollten den jetzt vorliegenden faulen Kompromiss nicht mittragen.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Marcus Weinberg von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Allerliebste Frau Hirsch, das war schon eine ganz bestimmte Form der Konsequenz, die Sie uns gerade präsentiert haben. Ich habe Ihren Antrag mit Interesse gelesen. In seinem ersten Satz heißt es, dass Sie eine Reform
des Föderalismus in der Bildungspolitik begrüßen. Im
17. oder 18. Satz Ihres Antrags fordern Sie die Bundesregierung allerdings auf, den Bildungsbereich von der
Reform auszunehmen. Diese „Konsequenz“ können wir
natürlich nicht mittragen. Wir begrüßen diese Reform
und wir werden sie auch durchführen.
({0})
Gerne gehe ich auf die von Ihnen angesprochenen
Kritikpunkte ein - allerdings stand Ihnen eine kürzere
Redezeit zur Verfügung als mir; das ist bedauerlich für
Sie, aber gut für mich -: Grundsätzlich ist es so, dass wir
nicht nur durch den Koalitionsvertrag gebunden sind, die
Föderalismusreform durchzuführen. Vielmehr liegt dem
auch unsere Einsicht in die pure Notwendigkeit zugrunde, dass wir eine Reform unserer bundesstaatlichen
Ordnung durchführen müssen, um unser föderatives
System endlich wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen, damit wir insbesondere unter dem Gesichtspunkt einer modernen und progressiven Bildungspolitik die richtigen Reformschritte einleiten können. Dabei geht es im
Wesentlichen um drei Punkte: erstens um die klare Zuordnung von Kompetenzen, zweitens um den Abbau von
Blockaden und Blockademechanismen und drittens um
die Schaffung von Transparenz.
In den letzten Tagen, Wochen und Monaten mag man
irritiert gewesen sein, wenn man die Diskussion über die
Föderalismusreform verfolgt hat. Noch vor ein paar Jahren waren sich die Bildungspolitiker in den Ländern und
im Bund einig, dass die Notwendigkeit für eine solche
Reform besteht. Auch wenn ich Ihre Bedenken nicht
mittragen kann, kann ich sie teilweise durchaus nachvollziehen. Es wäre schon ärgerlich, wenn eines der
größten Reformvorhaben, das es in den letzten 40 Jahren
in der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat, in den
nächsten Wochen möglicherweise zerredet werden
sollte, und das aufgrund einzelner Detailfragen, die vielleicht noch zu lösen sind. Wir sind dieses Thema angegangen.
Aus Ihrem Antrag, liebe Frau Hirsch, haben Sie einige Punkte hervorgehoben; hier möchte ich gerne nachhaken. Erstens muss ich etwas zu den Ganztagsschulen
sagen. Verzeihen Sie mir, aber als ehemaliger Landespolitiker hatte ich zu diesem Thema in der Vergangenheit
eine etwas andere Position als der eine oder andere in
diesem Hohen Hause. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir
waren sehr kritisch, was das Ganztagsschulprogramm
betrifft, und das zu Recht.
({1})
- Das Geld haben wir uns geholt, richtig. Aber ich kann
Ihnen eines sagen, lieber Herr Tauss: Wir hätten die Mittel wesentlich zielgenauer eingesetzt und damit größeren
Erfolg erzielt.
({2})
- Das ist nicht lächerlich. Man muss die Situation im
Land schon kennen. Sie wissen doch auch, dass es in den
verschiedenen Bundesländern unterschiedlichen Bedarf
gab.
Sie haben in Ihrem Antrag angesprochen, dass es notwendige Reformen gibt, und fordern ein, dass diese auf
der Bundesebene angeschoben werden, zum Beispiel die
vorschulische Bildung. Nun ist unser föderatives System
nicht von ungefähr gekommen, sondern es hat sich aus
der Verschiedenheit sozialer, kultureller und auch bildungspolitischer Hintergründe in den Regionen entwickelt. Das hat zur Folge, dass wir, was die Bildungspolitik angeht, unterschiedliche Vorgaben haben. Sie können
Bayern, Rügen, Hamburg, Bremen und Dresden nicht
gleichsetzen - es gibt jeweils andere Problembereiche.
Deswegen ist es nur richtig und konsequent, den Ländern die Kompetenz zu geben. Sie wissen, wo man die
Mittel am besten einsetzt.
({3})
- Herr Tauss, wenn ich meine Ausführungen zu Ende
bringen darf; Sie können gleich noch reden.
Es war schon damals sehr schwierig, von oben
oktroyiert zu bekommen, welche Reformen man durchführen muss.
({4})
- Wir haben diese Diskussion in den Ländern geführt.
Zweitens. Sie sprechen in Ihrem Antrag von mangelnder Transparenz. Da stimme ich Ihnen zu. Doch diese
mangelnde Transparenz ist letztendlich das Ergebnis davon, dass die Kompetenzen nicht genau definiert sind.
Deshalb ist es richtig, dass im Zuge der Föderalismusreform endlich Klarheit geschaffen wird, wer für den Bildungsbereich verantwortlich ist. Bisher konnten Politiker auf Landesebene die Verantwortung Richtung Bund
schieben, und auch in der Gegenrichtung wurden Verantwortlichkeiten hin- und hergeschoben. In Zukunft - das
ist das Gute - sind die Landesregierungen aufgefordert,
die notwendigen Reformen im Bildungsbereich durchzuführen. Sonst bekommen sie nämlich ein Problem: das
der möglichen Nichtwiederwahl. Das heißt, die Föderalismusreform mit der klaren Zuordnung der Kompetenz
für den schulischen Bereich an die Länder ist gut und
richtig. Dadurch sind die Länder gezwungen, an sich zu
arbeiten. Wenn Sie verfolgen, was in einigen Ländern
hinsichtlich vorschulischer Bildung, Kindertagesbetreuung und Schulreformen passiert, dann müssen Sie zugeben, dass viele Länder das bereits verstanden haben und
die richtigen Reformen durchführen.
Drittens. Sie sprechen vom europäischen Bildungsraum. Auch diesen muss eine Reform berücksichtigen;
da stimme ich Ihnen zu. Wir haben mittlerweile drei
Ebenen und man kann zu Recht sagen: Drei Ebenen, das
ist eine zu viel. Den Rahmen für Bildungspolitik wird
mehr und mehr Europa vorgeben; dort werden die Bedingungen festgelegt. Aber die Ausführung muss auf der
untersten Ebene geleistet werden. Deswegen kann man
sich fragen, ob die Kompetenzen der mittleren Ebene
überflüssig sind. Ich sage explizit „kann man sich fragen“ - man kann auch eine andere Position vertreten. Ich
glaube allerdings, es ist richtig, sich an Europa zu orientieren und den Ländern die Ausführung zu überlassen.
Herr Kollege Weinberg, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hirsch?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Ich finde es sehr spannend, dass Sie mir grundsätzlich
zustimmen, dass sehr große Anforderungen an die Föderalismusreform bestehen und dass das auch für die Bildungspolitik gilt. Offensichtlich erfüllen die vorliegenden Vorschläge diesen Anspruch aber nicht. Denn wie
sonst würden Sie sich erklären, dass in der bildungspolitischen Fachöffentlichkeit der Widerstand gegen die vorgelegten Vorschläge so groß ist? Andernfalls wäre das
doch unsinnig.
Ich stimme Ihnen in der formulierten Zielsetzung
- Transparenz, europäische Ebene - zu. Aber Sie haben
unter dem Strich die falschen Ergebnisse - wir haben die
richtigen.
({0})
Was heißt in diesem Zusammenhang „Bildungsöffentlichkeit“? Dass sich zu dieser Frage jetzt alle möglichen Leute äußern, stimmt. Aber die Experten, gerade in
den Ländern, sind, was den schulischen Bereich angeht,
durchaus positiv gestimmt. Im Hochschulbereich sieht
es ähnlich aus. Insoweit kann ich nicht feststellen, dass
sich die gesamte so genannte Bildungsöffentlichkeit einen anderen Prozess wünschen würde.
Für den Bildungsbereich Schule lässt sich konstatieren, dass sie auf Länderebene organisiert werden muss.
Das heißt in der Konsequenz - das ist unsere Analyse -,
dass die Föderalismusreform mit sich bringen muss, dass
im schulischen Bereich die Kompetenz der Länder gestärkt wird.
Soweit es die Zeit erlaubt, möchte ich noch auf den
Hochschulbereich eingehen; das ist auch der Schwerpunkt des Antrags von Frau Sager und der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen. Sie haben mit Ihrem Antrag
zum Ziel, die Kooperation zu stärken. Sie werden wahrscheinlich gleich in Ihrer Rede monieren, dass es eine
solche nicht mehr gibt. Das möchte ich etwas relativieren, zum Beispiel, was die so genannte Abweichungsgesetzgebung angeht. Folgendes ist dabei zu beachten: Im
engeren Sinne wird der Bund zwar seine Kompetenz
verkleinern, aber - das halte ich für einen interessanten
Aspekt - er erhält in diesem Bereich auch eine Kompetenz zur Voll- und Detailregelung, während er bislang
auf Rahmenregelungen beschränkt war. Die Kritik lautet, dass diese Abweichungsgesetzgebung vermutlich
zur Kleinstaaterei führt. Erstens ist dies nicht bewiesen
und zweitens glaube ich, dass es für die Länder sehr
schwierig oder problematisch wird, wenn sie diese
Kleinstaaterei tatsächlich betreiben; denn auch dort
wirkt der europäische Rahmen. Wer davon abweicht
- gerade nach dem Jahr 2010 -, der wird sicherlich Probleme bekommen.
Des Weiteren muss festgestellt werden, dass die
Kompetenz des Bundes in ebenfalls zeitweise sehr umstrittenen Bereichen bei ihm geblieben ist. Ich nenne die
berufliche Bildungskompetenz, die Forschungsförderung, die Ausbildungsbeihilfe und die Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung, also auch das, was im
Zuge der Reform des Art. 91 b Grundgesetz geleistet
wird. Hier hat der Bund seine Position und seine Kompetenzen durchaus behauptet.
Es gab es sicherlich Punkte, die offen waren und zur
Diskussion standen. Sie haben gerade gesagt - was ich
noch nicht wusste -, dass das Spitzengespräch positiv
ausgegangen ist.
({1})
- Sagen wir es einmal so: Zumindest längerfristig wird
man die Übergangsregelungen hinbekommen.
Außerdem muss auch einmal hinterfragt werden, was
durch die Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung in
den letzten Jahren massiv bewegt wurde.
Ich komme zum Schluss: Die Bedenken, Wünsche
und Visionen, die man so hat, kann man sicherlich auch
anders ausleben. Alternativen gibt es immer. Man muss
dann aber auch eine gewisse Konsequenz vertreten.
Ich glaube, unter dem Strich ist es sowohl für den
schulischen Bereich als auch für den Bereich der Hochschule richtig und wichtig, dass diese Föderalismusreform möglichst zügig umgesetzt wird; denn es gilt, den
europäischen Rahmen zu fassen und auch dort Bildung
zu produzieren, wo sie ankommt, nämlich auf der untersten Ebene, dort, wo Menschen Bildung erleben. Deswegen werden wir diesen Prozess natürlich positiv begleiten.
Vielen Dank.
({2})
Herr Kollege Weinberg, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen
Glückwunsch.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Meinhardt von
der FDP-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Die Diskussion heute ist wirklich so sinnlos wie ein Kropf.
({0})
Wir sollten über diese beiden Anträge dann diskutieren,
wenn es hier im Parlament um das ganze Föderalismuspaket geht. Alles andere ist aus unserer Sicht vergeudete
Zeit.
({1})
Herr Tauss, die These, dass die Bildungspolitik aus
der gesamten Föderalismusdebatte herausgebrochen
werden soll, ist nur der neueste Taschenspielertrick, um
die dringend notwendige Föderalismusreform doch noch
auf die lange Bank schieben zu können. Diese Entscheidung ist seit Jahren überfällig. Deshalb erwarten wir als
FDP auch, dass jeder hier in diesem Haus zu seiner politischen Verantwortung steht.
({2})
Es muss aber die Frage erlaubt sein, wer eigentlich für
die Bildungspolitik in dieser Regierung verantwortlich
ist. Ist es Frau Ministerin Schavan oder ist es Frau ExMinisterin Bulmahn, die im Hintergrund den koalitionsinternen Widerstand organisiert?
({3})
Hier müssen Schwarz und Rot Farbe bekennen.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag wackelt,
wenn die Koalition als Ganzes nicht weiß, wo sie hin
will. Die Zweidrittelmehrheit im Bundesrat gibt es nicht
ohne die FDP.
({5})
Kollege Tauss, Sie werden es nicht glauben, aber ich
zitiere Sie jetzt, und zwar sogar aus der „taz“:
({6})
„Der FDP kommt eine entscheidende Rolle zu.“
({7})
Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht, Herr Tauss.
({8})
Das heißt aber nicht, dass wir als stärkste Oppositionsfraktion für Sie die Kohlen aus dem Feuer holen.
({9})
Wir alle wissen doch genau, dass eine Föderalismusreform nur dann Sinn macht, wenn sie auch mit einer
Neujustierung der Finanzbeziehungen zwischen Bund
und Ländern verbunden ist.
({10})
Deswegen muss parallel dazu ganz klar festgelegt werden, in welcher Form, mit welchem Zeitplan und mit
welchem Ziel die Finanzverfassung reformiert wird.
({11})
Auch hier muss der Grundsatz gelten: Wer bestellt, bezahlt.
({12})
Inhaltlich machen die beiden Anträge sehr deutlich,
wo die wirkliche Trennlinie in dieser so wichtigen Debatte verläuft, nämlich zwischen denen, die eine Bildungsbürokratie von oben wollen, und denen, die wie
wir Liberale die Bildungsfreiheit vor Ort umsetzen wollen.
({13})
Was wir in Deutschland wirklich brauchen, ist eine
neue Schulkultur. Jede Schule muss zu einer kreativen
Denkfabrik werden. Jede Schule muss eine individuelle
Talentschmiede sein. Jede Schule muss zu einer wirklichen Verantwortungsgemeinschaft von Lehrern, Eltern
und Schülern werden. Deswegen will die FDP die freie
Entscheidung der Schulen vor Ort über Budget, Personal, Organisation und Profil.
({14})
Die FDP will die selbstständige Schule.
({15})
Häufig sagt das, was in einem Antrag nicht steht,
mehr über ihn aus als das, was in ihm steht. Die größte
Bildungskrake, die wir in Deutschland haben, ist die
Kultusministerkonferenz.
({16})
Sie ist extrem träge. Sie ist Bürokratie pur. Am allerschlimmsten ist: Sie hat über Jahrzehnte hinweg schlicht
und ergreifend versagt.
({17})
Die Integration von Migranten ins Bildungssystem,
die Chancengerechtigkeit am Start, die gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse durch alle Bundesländer, die
Perspektivdiskussion über Kindergärten, die Reform der
Lehrerausbildung und die Freizügigkeit der Lehrer, die
Bewältigung der stark ansteigenden Studentenzahlen,
die Autonomie der Hochschulen und die Autonomie der
Schulen - hier hätte eine verantwortungsvolle Kultusministerkonferenz mit sage und schreibe über
240 Mitarbeitern aktiv werden können und aktiv werden
müssen.
({18})
Deswegen gilt für die FDP ganz klar: Die Kultusministerkonferenz
({19})
in dieser Form hat ausgedient. Sie muss zusammen mit
der Bund-Länder-Kommission zu einer schlanken Bildungskonferenz werden.
({20})
Schließen wir hier im Deutschen Bundestag ein
Bündnis für die Abschaffung der Kultusministerkonferenz.
({21})
Die Schulen werden es uns danken.
Beide Anträge sind Ausdruck einer Geisteshaltung,
die wir Liberale nicht teilen. Wir brauchen in diesem
Land mehr Bildung der Freiheit und mehr Freiheit der
Bildung.
Vielen Dank.
({22})
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Oppermann
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Kollege Meinhardt hat eben den Kollegen
Tauss zitiert.
({0})
Das Zitat besagte, dass die FDP in dieser Frage eine
wichtige Rolle spiele. Nach dem, was Sie eben vorgetragen haben,
({1})
ist für mich nicht erkennbar, welche Rolle Sie in dieser
Debatte spielen.
({2})
Vor allen Dingen ist für mich nicht erkennbar, was Sie
wirklich genau wollen; denn die Abschaffung der Kultusministerkonferenz steht jedenfalls dem Bundestag
nicht zu. Das ist eine freiwillige Veranstaltung
({3})
autonomer Länder in einem föderalistischen und demokratischen Staat. Hier kann man nicht einfach Verbote
aussprechen. Verbotspolitik war übrigens bisher nicht
die Grundlinie der FDP, aber vielleicht verändert sie sich
gerade. Wenn der Vorsitzende einmal nicht da ist, kann
das schnell passieren.
({4})
Die Föderalismusreform wird gelegentlich von Herrn
Ramsauer und Herrn Stoiber als die Mutter aller weiteren Reformen bezeichnet. Ich weiß nicht, ob das eine
zutreffende Beschreibung ist. Richtig ist aber, dass die
Föderalismusreform die größte Änderung des Grundgesetzes seit 1949 ist. Daraus folgt, dass jedenfalls wir
sie mit größter Sorgfalt beraten und begleiten werden.
({5})
Wenn das, Frau Hirsch und Frau Sager, die Absicht
Ihrer Anträge gewesen sein mag, dann rennen Sie bei
uns offene Türen ein.
Frau Hirsch, worin die Missachtung des Parlamentes
liegen soll, die Sie kritisiert haben, kann ich nicht sehen.
Die Koalition hat heute beschlossen, dass ein Gesetzentwurf vorbereitet und ins Parlament eingebracht werden
soll. Auch wenn Ihnen das nicht gefällt, wird das Parlament deshalb noch nicht missachtet. Die Koalition
macht lediglich Gebrauch von ihrem Recht, Gesetzentwürfe einzubringen. Das können Sie genauso gut machen. Vielleicht bringen Sie ein besseres Gesetz ein.
Die gründliche und sorgfältige Beratung der Verfassungsänderung ist schon wegen der Tragweite der möglichen Änderungen und aus Respekt vor der Verfassung
geboten. Es darf aber kein Zweifel daran bestehen, dass
wir diese Reform wollen.
In Deutschland sind mehr Transparenz in den politischen Prozessen und die Entflechtung von Gesetzgebungszuständigkeiten notwendig. Des Weiteren müssen
die Blockademöglichkeiten im Bundesrat durch die
deutliche Verringerung der Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze reduziert werden.
Altbundespräsident Roman Herzog - in einer großen
Koalition darf man sich schließlich gegenseitig zitieren hat einmal zutreffend festgestellt: „In einem System, in
dem alle für alles Verantwortung tragen, trägt in Wirklichkeit niemand Verantwortung.“ Das ist in unserer Verfassungswirklichkeit in gewissem Maße der Fall. Deshalb ist es wichtig, dass die Föderalismusreform wieder
die Deckungsgleichheit zwischen politischer Zuständigkeit und politischer Verantwortlichkeit herstellt.
Aber die Menschen in Deutschland wollen nicht nur
eine Staatsreform, die zügige, klare und verantwortungsbewusste Entscheidungen ermöglicht. Es ist ihnen mindestens genauso wichtig, dass wir die Bildungsreformen
vorantreiben, dass die Chancen der frühkindlichen Bildung besser genutzt werden, dass die deutschen Schüler
und Schülerinnen bei künftigen PISA-Studien international in der Spitzengruppe stehen und dass vor allem der
in Deutschland so stark wie nirgendwo sonst gegebene
Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft aufgebrochen wird, damit die Bildungschancen der
Kinder nicht mehr vom Geldbeutel der Eltern abhängen.
({6})
Um diese Ziele zu erreichen, brauchen wir bessere
Schulen. Für die Schulen sind bisher die Länder zuständig - der PISA-Studie zufolge eher mit bescheidenem
Erfolg - und es wird, hoffentlich mit besserem Erfolg,
auch künftig so sein. Der Bund hat in der Schulpolitik
keine Kernzuständigkeiten, aber es ist in der vergangenen Wahlperiode gelungen - das ist ein großes Verdienst
der rot-grünen Bundesregierung -, ein Ganztagsschulprogramm mit einem Volumen von über 4 Milliarden Euro auf den Weg zu bringen, das einer zivilisatorischen Errungenschaft, die in allen entwickelten Industrieländern angeboten wird, auch in Deutschland zum
Durchbruch verhelfen sollte. Das halte ich für ein Verdienst.
({7})
Wenn Sie in Hamburg die Mittel nicht zielgenau einsetzen konnten, Herr Kollege Weinberg, dann muss ich
darauf hinweisen, dass sehr breite Einsatzmöglichkeiten
bestanden haben.
({8})
Wenn die Länder etwas nicht hinbekommen haben, dann
hat das damit zu tun, dass zwar aus Bundesmitteln Investitionen getätigt, aber leider keine pädagogischen Fachkräfte eingestellt wurden, um in den Ganztagsschulen
Lehrer- und Sozialarbeiterstellen zu besetzen. Wie sollen
denn Kinder mit Migrationshintergrund oder aus Familien der unteren Einkommensgruppen und aus so genannten bildungsfernen Schichten besser betreut, gefördert und gefordert werden als in Ganztagsschulen? Diese
Kinder sind doch die ersten Opfer von Medienverwahrlosung. Deshalb sind Ganztagsschulen der richtige Weg.
({9})
Art. 104 b des Grundgesetzes in der neuen Fassung
lässt Finanzhilfen des Bundes an die Länder nicht mehr
zu, wenn es sich um einen Gegenstand handelt, für den
die Länder die ausschließliche Gesetzgebung haben. Das
heißt im Klartext: So etwas wie das 4-Milliarden-EuroProgramm wäre in Zukunft nicht mehr möglich. Das
halte ich für außerordentlich problematisch.
({10})
Denn gerade auf einem Gebiet, auf dem Deutschland einen finanziellen und gestalterischen Kraftakt vor sich hat
und deshalb alle verfügbaren Kräfte und Ressourcen mobilisieren müsste, erscheint ein Finanzhilfe- und Kooperationsverbot wenig plausibel.
In verfassungsmäßiger Hinsicht geht es vielmehr um
die folgende Frage: Wenn nach dem Urteil aller Beteiligten eine zeitlich begrenzte Kooperation zwischen Bund
und Ländern richtig und vernünftig und zudem im Interesse der jungen Menschen dringend geboten ist und alle
16 Bundesländer und der Bund dies auch wollen, muss
dann nicht die Verfassung in solchen Fällen eine Handlungsmöglichkeit - oder sozusagen eine Reservezuständigkeit - bieten? Anders formuliert: Wollen wir wirklich
ein striktes und unumstößliches Kooperationsverbot normieren?
({11})
Wir werden das sehr genau zu bedenken haben.
Den zweiten Kraftakt, der bewältigt werden muss, erfordert die Aufgabe, für die in den nächsten Jahren erfreulich große Zahl von Studierenden ausreichend Studienplätze zu schaffen. Auch hier erwarten die
Menschen zu Recht, dass die Politik nicht versagt. Aber
wir werden gewaltige Anstrengungen zu unternehmen
haben; denn schon jetzt sind 52 Prozent aller Studiengänge zulassungsbeschränkt, das heißt, sie sind voll. Die
in der finanziellen Obhut der Bundesländer befindlichen
Hochschulen sind zudem strukturell unterfinanziert - es
fehlen einige Milliarden Euro -, sodass sie aus eigener
Kraft kaum die benötigten 200 000 Studienplätze schaffen können. Soweit Studiengebühren erhoben werden,
sollen sie per definitionem ausschließlich zur Qualitätsverbesserung, nicht aber zur Schaffung zusätzlicher Studienplätze eingesetzt werden.
Nun befürchten viele, dass der Bolognaprozess missbraucht wird und dass in eilig eingerichteten Bachelorstudiengängen eine Art Schnellbesohlung durchgeführt
wird und die jungen Leute in Notprogrammen durch die
Hochschulen geschleust werden. Das darf nicht passieren.
({12})
Damit das nicht passiert, brauchen wir den von Ministerin Schavan angekündigten und von vielen Seiten ausdrücklich begrüßten Hochschulpakt 2020. Ich glaube,
niemand hätte das geringste Verständnis dafür, wenn die
Föderalismusreform einen solchen Pakt, eine gemeinsame Anstrengung von Bund und Ländern, verbieten
würde.
({13})
Also werden wir bei den Beratungen auch an dieser
Stelle genau hinzuschauen haben.
Die dritte und letzte Baustelle, die ich ansprechen
möchte, ist der Hochschulbau. Wer jemals beruflich mit
den bürokratischen Prozeduren des Hochschulbauförderungsgesetzes zu tun hatte, der wird diesem Gesetz keine
Träne nachweinen. Die Übertragung der investiven Mittel des Bundes auf die Länder ist deshalb wohl in Ordnung. Aber soll die Zweckbindung dieser Mittel tatsächlich 2013 enden? Soll es danach den Ländern offen
stehen, diese Mittel zum Beispiel zum Flicken von
Schlaglöchern in Landesstraßen einzusetzen?
Wir sollten darüber genauso nachdenken wie über die
Verteilung der rund 700 Millionen Euro Kompensationsmittel auf die Bundesländer.
({14})
Es ist vorgesehen, die Mittel so zu verteilen, dass dorthin, wo die wenigsten Studierenden sind, die meisten
Mittel gehen, und dort, wo die meisten Studierenden
sind, am wenigsten ankommt. Daraus kann nur umgekehrt ein Schuh werden. Wir müssen also über den vorgesehenen Verteilungsschlüssel noch einmal sprechen.
Sie sehen, dass über die neuen Zuständigkeiten für
Bildung, Wissenschaft und Forschung im Grundgesetz
noch sehr intensiv beraten werden muss. Dafür wird
meine Fraktion, dafür wird die Koalition Sorge tragen.
Ich bin zuversichtlich, dass wir zu Ergebnissen kommen,
die sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat eine
Zweidrittelmehrheit finden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Herr Kollege Oppermann, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Die beiden letzten Erstredner waren, wie man gemerkt
hat, keine Anfänger mehr, sondern haben schon Erfahrungen in den Landesparlamenten gemacht.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Krista
Sager vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als im
Herbst 2004 die Föderalismusreform scheiterte, spielten
die Differenzen bei der Bildung eine ganz zentrale Rolle.
Ich kann Ihnen versichern: Alle, die dabei waren, wussten, worum es geht. Niemand hat diese Reform leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Aber es wurde deutlich, dass wir
es nicht akzeptieren, dass in einem so zentralen Bereich
wie der Bildung die Weichen falsch gestellt werden.
({0})
Deswegen war es damals richtig, zu sagen: Wenn wir die
Reform nicht aufhalten wollen, dann ist es besser, die
Bildung auszuklammern und keine falschen Weichenstellungen vorzunehmen. So sehe ich das noch heute. Es
gibt keinen Grund, der es rechtfertigt, das, was man damals für falsch gehalten hat, heute zu schlucken.
({1})
Herr Weinberg, mit einer Verfassungsänderung kann
man nicht so umgehen, als ob man sich auf einem traditionellen Pferdemarkt oder in einer Tarifverhandlung befände. Hier ist ein solches Geschacher nicht gut zu gebrauchen. Wenn es nicht nur ein hehrer Anspruch ist,
dass Bildung und Wissenschaft Schlüsselbereiche für
uns sind, dann müssen wir aufpassen, dass wir nicht zu
einer falschen Weichenstellung kommen.
({2})
Herr Meinhardt, Sie sind in Bezug auf die Autonomie
der Bildungseinrichtungen aus meiner Sicht nur ein Semiliberaler. Denken Sie den Gedanken des Qualitätswettbewerbs zwischen Schulen und Hochschulen doch
einmal zu Ende! Was spricht denn eigentlich dagegen,
dass sich Hochschulen und Schulen direkt um Bundesprogramme im Wettbewerb bewerben dürfen?
({3})
Das ist selbst in den USA möglich. Warum nicht auch in
Deutschland? Wenn wir aber der Bundesebene die Finanzierungsmöglichkeit entziehen und ein Kooperationsverbot verhängen, dann ist das ein deutscher Sonderweg. Dieser Weg wird in keinem föderativen System
auf der Welt so gegangen.
({4})
Aus meiner Sicht hat es überhaupt nichts mit Qualitätswettbewerb zu tun, wenn einige starke Ministerpräsidenten wie Herr Stoiber, Herr Koch und Herr Oettinger
an der Spitze dafür sorgen, dass dem Bund nicht die
Möglichkeit gegeben wird, in schwächeren Ländern
Ganztagsschulen zu fördern und Studienplätze auszubauen. Das ist ein unfairer Machtkampf und kein Qualitätswettbewerb. Dieser Machtkampf geht auf Kosten
von Kindern und jungen Leuten in diesem Land.
({5})
Jetzt, Herr Weinberg, zu Ihrer Position zu den Ganztagsschulen. Was soll denn das Kooperationsverbot in
diesem Bereich? Das wird auch in Hamburg niemand
verstehen. Die Landespolitiker auch bei uns in Hamburg
- da hat Herr Oppermann vollkommen Recht - haben
sich darüber beklagt, dass ihnen der Bund keine Personalmittel gibt und nur Investitionsmittel gewährt.
({6})
Selbst die Gewährung von Investitionsmitteln wollen Sie
jetzt untersagen.
({7})
Erinnern Sie sich doch bitte auch daran, dass sich selbst
der Hamburger Senat noch im letzten Bürgerschaftswahlkampf mit den Ergebnissen des Ganztagsschulprogramms gebrüstet hat. Das ist einfach wahr und das
muss hier auch einmal erwähnt werden.
({8})
Tatsache ist auch, dass wir in Bezug auf die Hochschulen nicht einen handlungsunfähigen Bund brauchen,
sondern einen helfenden Bund, damit wir mehr Studienplatzkapazitäten für wachsende Bewerberzahlen bekommen. Wir brauchen einen Ausgleich zwischen den Ländern, die viel für die Studienplätze tun, und den Ländern,
die wenig für die Studienplätze tun. Auch dort haben Sie
Recht, Herr Oppermann. Ich hoffe nur eines, nämlich
dass die Bildungspolitiker hier im Hause in dieser Diskussion nicht nur den Mund spitzen, sondern - da schaue
ich auch Sie an, Herr Tauss - auch den Mut haben, zu
pfeifen, wenn wir jetzt in die parlamentarische Beratung
gehen.
({9})
Wir müssen die parlamentarische Beratung jetzt nutzen,
um Schaden vom Bildungssystem in Deutschland abzuwenden. Wenn wir uns das vornehmen, dann sind wir
auf einem guten Weg.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/647 - Tagesordnungspunkt 10 a - zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Innenausschuss zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/648 - Tagesordnungspunkt 10 b soll an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung überwiesen werden. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Buchpreisbindungsgesetzes
- Drucksache 16/238 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache ebenfalls eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Dorothee Bär das Wort.
Ich sehe, Frau Kollegin Bär, dass Sie Ihren Namen
kürzlich geändert haben. Ich entnehme dem, dass Sie geheiratet haben. Ich gratuliere Ihnen nachträglich herzlich.
({1})
Vielen Dank für die lieben Glückwünsche.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In „Meyers Lexikon“ heißt es unter dem Stichwort „Buch“: „Im Kulturleben der Menschheit ist das
Buch eine der bedeutungsvollsten Erscheinungen überhaupt.“ Dass uns Deutschen Bücher lieb und teuer sind,
beweisen die Zahlen: Der deutsche Buchmarkt erwirtschaftet im Jahr ein geschätztes Gesamtvolumen von
über 9 Milliarden Euro. Die Deutschen sind also durchaus bereit, für das Kulturgut Buch Geld auszugeben.
Gleichzeitig liegt der Anteil von Nichtlesern in
Deutschland bei rund 20 Prozent. Das bedeutet, dass ein
Fünftel unserer Bevölkerung keine Bücher liest. Das ist
eine erschreckende Zahl und sie lässt sich meiner Meinung nach nur durch eines verbessern: Wir müssen Kinder und Jugendliche so schnell und so intensiv wie möglich an das Lesen heranführen.
({0})
Das darf sich auch in haushaltspolitisch angespannten
Zeiten nicht ändern. Genau deshalb beraten wir heute
diesen Gesetzentwurf: um den Zugang zu Schulbüchern,
zu Bildung weiterhin zu ermöglichen.
({1})
Einige Bundesländer sind aus fiskalischen Gründen
gezwungen, die Eltern an der Finanzierung der Schulbücher zu beteiligen.
({2})
Zum Beispiel Bayern, Herr Tauss, aber auch Hamburg,
Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Das
heißt, dass diese Bücher überwiegend nicht mehr von
der öffentlichen Hand finanziert werden. Mit dem jetzt
gültigen Gesetz würde der Sammelrabatt für Bestellungen von Schulen entfallen. Die Folge wäre, dass weniger
Bücher angeschafft werden.
Man kann zu der Einführung von Büchergeld stehen
wie man will: Es ist sicherlich in unser aller Interesse,
dass unsere Kinder schon so früh wie möglich an Bücher
und damit an das Lesen herangeführt werden. Dazu ist es
wichtig, dass sie aktuelle Bücher bekommen.
({3})
Die Finanzierung von aktuellen Büchern muss dabei auf
eine breitere Basis als bisher gestellt werden. Dass dies
sozialverträglich geschieht, ist eine Grundvoraussetzung.
({4})
Diese Form der Bildung - durch Lesen, durch die
Reise in die Welt der Bücher und damit durch die Schulung des Vorstellungsvermögens und der Fantasie - ist
unbezahlbar. Sie ist vor dem Hintergrund von Studien
wie PISA oder IGLU umso wichtiger. In unserer Zeit
nehmen Fernsehen, Internet und Computerspiele einen
meiner Meinung nach viel zu großen Raum in den Tagesabläufen unserer Kinder ein.
({5})
Die Bindung des Buchpreises sichert eine Vielfalt an
Buchtiteln, Verlagen und Buchläden, die notwendig ist.
Das sieht auch der Großteil unserer Bevölkerung so. In
einer Emnid-Umfrage aus dem vergangenen Jahr sprachen sich 55 Prozent der Befragten für feste Buchpreise
aus. Besonders spannend dabei ist, dass sich 62 Prozent
der 14- bis 29-Jährigen für die Beibehaltung der Buchpreisbindung ausgesprochen haben. Das zeigt, dass die
Jugendlichen und Heranwachsenden, denen immer wieder gern unterstellt wird, dass sie nicht mehr lesen, eine
ganz klare Meinung zum Thema Buchpreisbindung haben: Sie befürworten die Beibehaltung.
Die Buchpreisbindung hat einen weiteren Effekt:
Durch sie ist es unter anderem möglich, dass der deutsche
Büchermarkt Klassiker oder Fachliteratur zu möglichst
erschwinglichen Preisen anbietet. Gerade die deutsche
Fachliteratur würde unter einer Aufhebung der Buchpreisbindung besonders leiden. Der englische Markt ist
für sie weitaus größer als beispielsweise der deutsche.
Eine Aufhebung der Buchpreisbindung hätte zur Folge,
dass Bücher mit Spezialthemen unbezahlbar wären.
({6})
Die Folge davon wäre wiederum, dass unsere deutsche
Fachliteratur - weil unverhältnismäßig teuer - allmählich vom Markt verdrängt würde und mit ihr auch die
Arbeit der deutschen Forscher.
So müssen wir uns schon fragen lassen: Soll ein Buch
wie jedes andere Produkt behandelt werden oder ist es
ein Teil unserer Kultur, ein Teil unserer Identität, die wir
zu oft und zu gern verstecken?
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Christoph Waitz von
der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Zu dieser fortgeschrittenen Stunde,
in der es um das bedeutende Gesetz zur Änderung des
Buchpreisbindungsgesetzes geht, bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit. Kollegin Bär hat den Grund unseres Hierseins schon sehr ausführlich begründet. Bislang war ein
Rabatt bei Sammelbestellungen von Schulbüchern gesetzlich möglich, wenn diese Bücher überwiegend von
der öffentlichen Hand finanziert oder von ihr erworben
wurden. Dem ist eigentlich nichts weiter hinzuzufügen.
Es ist natürlich richtig, Herr Kollege Tauss, dass es
nicht immer einleuchtend ist, warum bestimmte Bundesländer versuchen, einen Großteil dieser Lasten auf
Eltern und auf erwachsene Kinder abzuwälzen.
({0})
- Ich will diesen Namen gar nicht mehr in den Mund
nehmen.
Trotzdem verstehen wir Liberale natürlich die prekäre
Situation. Damit meine ich nicht so sehr die prekäre Situation der Länderhaushalte - sie ist schon dramatisch
genug - als vielmehr die der Kommunen und der Städte,
die diese Finanzen im Zweifel aufbringen müssen.
Aber ich will hier im Bundestag nicht darüber klagen,
dass diese Erhöhung des Elternanteils etwas mit dem
Aushöhlen des Prinzips der Lernmittelfreiheit in den jeweiligen Bundesländern zu tun hat. Das müssen die Landespolitiker in den Landtagen und in ihren sonstigen
Gremien schon selbst ausfechten. Ich will vielmehr auf
einige Absurditäten dieses Systems der Buchpreisbindung hinweisen, die hier offenkundig werden.
Als Motive werden in der Stellungnahme der Bundesregierung genannt, dass das Buch als Kulturgut gestärkt
werden muss und dass man die Vielfalt der Verlagsund Buchhandelslandschaft fördern möchte. All das
scheint mir mit der gesetzlichen Normierung eines Anspruchs auf Rabattgewährung nicht notwendigerweise
befördert zu werden.
({1})
Tatsächlich erfolgt die Schulbuchbeschaffung - ich habe
es schon gesagt - durch die Städte und Gemeinden, die
natürlich versuchen, den Bedarf an Schulbüchern möglichst vieler Schulen zu bündeln und auf diese Weise einen größtmöglichen Rabatt für sich erzielen. Aber diese
Aufträge werden nicht dem örtlichen Buchhandel zugeleitet, wo sie im Zweifel die Nachfrage fördern und zusätzliche Umsätze generieren würden, sondern Spezialhändlern, die über große Lager, aber im Regelfall über
keinerlei Verkaufsflächen für die Öffentlichkeit verfügen. Mit diesen Spezialhändlern kann und will der mittelständische Buchhändler nicht in Konkurrenz treten.
Besonders grotesk wird es, wenn das Preisvolumen
der zu beschaffenden Bücher nach dem EU-Recht eine
öffentliche Ausschreibung des Auftrags erfordert. Der
Schwellenwert dafür beträgt 200 000 Euro. Dies ist
gerade in größeren Städten ein schnell erreichter Auftragswert. Sie erinnern sich sicherlich daran, dass der
Buchpreis, der mögliche gesetzliche Rabatt und auch
alle denkbaren zulässigen Angebotsnebenleistungen im
Buchpreisbindungsgesetz festgelegt wurden. Das heißt,
die Angebote der Fachhändler können sich nicht voneinander unterscheiden. Jede Ausschreibung, die von den
Städten durchzuführen ist, erfordert eine umfassende
Wertung der Angebote, die in vier Stufen erfolgen muss.
Aus der Ausschreibung ergibt sich aber zwangsläufig
eine Vielzahl fast gleichwertiger Angebote mit der
Folge, dass die Städte das Losverfahren wählen. In meinen Augen ist dies ein sinnloser und zudem kostenträchtiger Vorgang, der die Vorteile des gesetzlichen Rabatts
zumindest teilweise wieder aufhebt.
({2})
Wenn wir die Vielfalt der Buchhandelslandschaft in
Deutschland wirklich fördern wollen, dann sollten wir in
größtmöglichem Umfang von der Ausnahme nach § 7
Abs. 3 Gebrauch machen, die vorsieht, dass immer dann,
wenn Schulen über einen eigenen Beschaffungsetat verfügen, Anschaffungslose den örtlichen Buchhändlern zugeteilt werden können. Auf diese Weise würde eine solche Ausschreibung umgangen. Auch während des
Schuljahres könnte man noch problemlos Folgeanschaffungen tätigen. All das ist ansonsten nicht möglich.
Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme zum
Gesetzentwurf des Bundesrats eine ganze Reihe von
praktikablen Ergänzungsvorschlägen gemacht. Dabei
geht es insbesondere darum, dass auch die Privatschulen
in den Genuss einer möglichen gesetzlichen Rabattregelung kommen sollen. Es geht um die Einführung einer
Räumungsverkaufsklausel und Ähnliches mehr. Wir als
FDP begrüßen diese Änderungsvorschläge der Bundesregierung, weil sie aus unserer Sicht das Leben mit
dem Buchpreisbindungsgesetz für den Buchhandel erleichtern.
Ich bedanke mich.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Tauss von der
SPD-Fraktion.
({0})
- Jörg Tauss.
Mein Name ist unverändert. Ich habe nicht geheiratet.
({0})
Liebe Kollegin Bär, herzlichen Glückwunsch selbstverständlich auch von unserer Seite.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute den Gesetzentwurf des
Bundesrats zur Änderung des Buchpreisbindungsgesetzes. Wir begrüßen diesen Entwurf. Ich will die Gelegenheit nutzen, einmal ganz grundsätzlich - Sie haben das
angesprochen, Kollege Waitz - auf das Buchpreisbindungsgesetz, die Regelungen insgesamt in ihrem positiven Wirken und darüber hinaus natürlich auch auf die
Punkte einzugehen, die jetzt geändert werden sollen. Dabei geht es natürlich nicht nur, aber vor allem um Schulbücher. Das ist ein wichtiger Punkt, der uns als Bildungspolitiker ganz speziell interessiert.
In einem Punkt bin nicht ganz Ihrer Auffassung. Ich
glaube, es sind vor allem die Buchhandlungen, die von
dem Buchpreisbindungsgesetz, das wir 2002 miteinander beschlossen haben, profitieren. Ich glaube auch, dass
gerade dieses Gesetz - das war auch immer die Position
der Verlage und der Buchhandlungen - entscheidend zu
dieser langfristigen Vielfalt im deutschen Buch- und
Verlagswesen beigetragen hat, die in der Tat weltweit
einmalig ist. Diese Vielfalt gilt es weiter zu sichern.
Wir hatten infolge der Gesetzgebung aus dem Jahre
2002 relativ heftige Probleme mit der EU-Kommission,
die die Buchpreisbindung im Rahmen von Liberalisierungsbestrebungen untersagen wollte. Wir haben uns damals gemeinsam mit Österreich erfolgreich dagegen gewehrt. Ich glaube, das war gut so; denn mit dem
Buchpreisbindungsgesetz werden drei kulturpolitische
Ziele angestrebt: Erstens sollen Vielfalt und hohe Qualität des Buchangebotes gewahrt werden. Zweitens soll
das enge Netz von Buchhandlungen mit qualifiziertem
Personal in kleinen und mittleren Orten erhalten bleiben.
Drittens soll den Autorinnen und Autoren natürlich weiterhin eine angemessene Vergütung gewährt werden.
Dass wir hier erfolgreich waren, belegen übrigens einige Zahlen aus der Statistik:
({1})
In Ortschaften mittlerer Größe, also mit 20 000 bis
50 000 Einwohnern, gibt es in Österreich durchschnittlich 4,7 Buchhandlungen - damit ist Österreich in diesem Bereich Rekordhalter -, in der Schweiz 4,5 und in
Deutschland „nur“ 3,2. Immerhin liegen wir damit zusammen mit den beiden anderen Staaten an der Spitze.
In Großbritannien, wo es keine Buchpreisbindung gibt,
gibt es in solchen Ortschaften im Schnitt 1,7 Buchhandlungen und in den USA sogar nur 0,75. Hier gibt es also
sehr deutliche Unterschiede. Gleiches trifft bei einem
anderen Aspekt zu. Die Zahl der lieferbaren Bücher pro
1 Million Einwohner liegt im deutschen Sprachraum um
44 Prozent höher als im angelsächsischen Sprachraum,
wo man keine Buchpreisbindung kennt. Diese Zusammenhänge sind ganz eindeutig. Wir haben also mit unseren gesetzgeberischen Maßnahmen, die darauf abzielten,
die Buchpreisbindung zu erhalten, auch wichtige kulturpolitische Ziele erreicht.
({2})
Übrigens haben wir ganz nebenbei rund
10 000 Arbeitsplätze in Buchhandlungen erhalten.
Trotz aller Strukturprobleme, die es zweifellos auch in
diesem Bereich gibt, haben wir damit auch einen wichtigen Beitrag für die Buchhandlungen geleistet.
Heute reden wir aber vor allem über die Nachlassgewährung für preisgebundene Schulbücher. Darauf
zielt die Initiative des Bundesrates ab. Sie ist sinnvoll,
weil ansonsten aufgrund der Maßnahmen bestimmter
Bundesländer - die Kolleginnen und Kollegen vor mir
haben das schon angesprochen - die Rabattgewährung
bei Schulbuchbestellungen durch Schulen wegfallen
würde und Eltern und schulpflichtige Kinder die Betroffenen wären. Ich bedauere sehr, Frau Kollegin Bär, dass
Bayern hier eine Vorreiterrolle eingenommen hat.
({3})
Ich halte es für ein schlechtes und politisch fatales Signal, dass ausgerechnet das nicht ganz arme Land Bayern
signalisiert, die Schulbücher für seine Kinder und Jugendlichen nicht mehr finanzieren zu können. Das ist ein
ganz schlechtes Signal auch an andere Bundesländer.
Das muss ich kritisch sagen.
({4})
Wir müssen jetzt reagieren, weil andere Länder nachziehen. Hamburg, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben das angekündigt und begründen es mit dem
Vorgehen Bayerns. Dass das ein Problem ist, ist doch
völlig klar.
Auch Schulbücher, die im Eigentum der Schule verbleiben, sollen jetzt zu einem großen Teil von den Erziehungsberechtigten bzw. den volljährigen Schülerinnen
und Schülern finanziert werden. Die Formulierung im
alten Gesetz gewährleistet den Sammelrabatt für Schulbücher aber nur dann, wenn keine oder nur eine geringe
Beteiligung der Eltern bzw. der volljährigen Schülerinnen und Schüler erfolgt. Aus diesem Grunde müssen wir
uns um diese Frage kümmern. Wenn wir die Änderung,
wie sie vom Bundesrat vorgeschlagen wird, nicht vornehmen würden, bedeutete das in der Konsequenz, dass
der Rabatt in Höhe von 8 bis 15 Prozent entfiele und die
Bücher entweder entsprechend teurer würden oder nur
eine entsprechend geringere Zahl von Büchern von den
Schulen beschafft werden könnte. Deshalb ist es notwendig, diese Änderung vorzunehmen.
Wir halten die Änderungsvorschläge des Bundesrates
für richtig, durch die im gleichen Zuge einige Rechtsunsicherheiten beseitigt werden. Auf diese will ich jetzt
aber im Detail nicht eingehen. Wir wollen nämlich noch
einige andere Punkte mit dem Gesetzentwurf regeln, der
seitens der Bundesregierung ins Parlament eingebracht
wird. Hier geht es beispielsweise um die Frage, ob und
wie unter stärkerer Betonung bildungspolitischer Aspekte auch Privatschulen - das halte ich nicht für eine
Elitegeschichte, Frau Kollegin, sondern das ist ein
Punkt, der für die Waldorfschulen usw. sinnvollerweise
mitgeregelt wird - einbezogen werden können, damit sie
ähnlich von den Rabatten profitieren. Auch diesem Vorschlag der Bundesregierung würden wir zustimmen.
Aber, Herr Kollege Waitz, es geht nicht nur um die
Rabatte. Wir haben eine Reihe weiterer Änderungen.
Die Mängelexemplare sind ein Thema. Ein wichtiger
Punkt ist, dass wir die Kennzeichnungspflicht für Mängelexemplare einführen. Das ist die eine Klarstellung.
Zum Zweiten werden wir eine Räumungsverkaufsklausel in § 3 des Buchpreisbindungsgesetzes vorschlagen; denn es hat sich gezeigt, dass die Möglichkeiten der
Lagerbereinigung, wie wir sie in der Vergangenheit hatten, nicht ausreichend sind. Hier kann man sich vorstellen, eine entsprechende Regelung zu finden. Vorgeschlagen ist ein Zeitraum von 30 Tagen, und zwar für die
Bücher, die aus den gewöhnlichen Beständen des Unternehmens stammen und die zuvor den Lieferanten zur
Rücknahme angeboten worden sind. Auch da wollen wir
eine Klarstellung erreichen.
Der dritte Punkt ist die Prüfung der Aufhebung der
Buchpreisbindung für Ausgaben, deren erstes Erscheinen länger als 18 Monate zurückliegt. Auch das ist eine
Klarstellung.
Last, but not least: Die Gesetzesinitiative des Bundesrates ist sinnvoll. Wir werden seitens des Parlaments und
der Bundesregierung alle vorgeschlagenen Änderungen
diskutieren. Es gibt noch einige ergänzende Vorschläge
vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, die wir
im praktischen Gesetzgebungsverfahren ebenfalls sorgfältig betrachten wollen.
Es geht bei diesem Buchpreisbindungsgesetz - ich
glaube, da sind wir uns hier im Hause auch zu vorgerückter Stunde einig - um das wichtige Kulturgut Buch
und dessen Verwendung in unseren Schulen sowie um
die notwendige Sicherung der einzigartigen Vielfalt unseres Buch- und Verlagswesens. Das müsste doch ein
Ziel sein, bei dem wir Übereinstimmung erzielen. Wenn
wir dann nebenbei, wie beschrieben, für die betroffenen
Eltern, Jugendlichen und Kinder und natürlich die Schulen die Rabatte erhalten, dann haben wir, glaube ich, etwas getan, womit wir in der Öffentlichkeit sehr gut bestehen können. Kulturpolitisch können wir ohnehin
bestehen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({5})
Herr Präsident, ich habe Redezeit gespart. Wenn Sie
mir die für das nächste Mal gutschreiben, bin ich hoch
zufrieden. Einen schönen Abend!
({6})
Die Redezeit haben Sie durch die vielfältigen Zwischenrufe schon verbraucht, Herr Kollege Tauss.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Petra Sitte von der
Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein
Grundbekenntnis vorweg: Wir halten die Buchpreisbindung natürlich für ein unverzichtbares Instrument, um
das Kulturgut Buch allen zugänglich zu machen. Im Eingangsbeitrag wurde bereits darauf hingewiesen. Im Wissen um den Wert der Bücher für die Bildung und die Entwicklung eines jeden Menschen und vor allem der
Heranwachsenden, also der jungen Menschen, haben wir
uns stets dafür eingesetzt, Bücher aus der Logik des
Marktradikalismus und der Profitmaximierung herauszuhalten, Schulbücher ganz besonders.
Heute diskutieren wir dem Grunde nach eigentlich
gar nicht über die Buchpreisbindung, wenn auch formalrechtlich; es besteht ja ein solcher Antrag vonseiten des
Bundesrates. Tatsächlich reden wir aber über ein bildungspolitisches Thema; denn das, was sich aus dieser
Entwicklung ergibt, ist höchst problematisch. Es ist
schon erwähnt worden: Eigentlich beginnt damit an den
Schulen die Abschaffung der Lernmittelfreiheit. An den
Universitäten hat sie längst stattgefunden. Weil bereits
fünf Bundesländer eine Regelung eingeführt haben, nach
der Schüler bzw. Eltern an den Kosten der Schulbücher
mit mehr als 50 Prozent beteiligt werden, ist die Sammelrabattklausel gefährdet. Danach ist für Schulbücher,
die überwiegend von der öffentlichen Hand finanziert
werden, ein Rabatt von 8 bis 15 Prozent vorgesehen.
Dies ist aber wegen der hohen privaten Mitfinanzierung
nicht mehr der Fall. Das heißt, wenn man von der bisherigen Summe ausgeht, nichts anderes, als dass in Zukunft weniger Bücher angeschafft werden können. Deshalb sollen wir jetzt einer Gesetzesänderung zustimmen,
die den Preisnachlass für Schulbücher erhält, ungeachtet
der Höhe der privaten Mitfinanzierung durch die Eltern
bzw. volljährigen Schüler.
Wir werden diesem Gesetz zustimmen, weil wir wollen, dass die Eltern in den Genuss dieses Rabatts kommen. Eigentlich fällt uns dieser Kompromiss sehr
schwer, weil wir genau wissen, dass damit ein Tor geöffnet wird, was es den betreffenden Kommunen und den
Ländern leichter macht, sich von ihrer Verpflichtung,
Schulbücher künftig mitzufinanzieren, zu lösen. Ich
habe diese Diskussion auf Landesebene mitgemacht.
Auf der anderen Seite gibt es Eltern - das wissen wir
genau -, für die jeder gesparte Euro, auch an dieser
Stelle, von entscheidender Bedeutung ist. Ich hatte schon
einmal gesagt, dass jedes zweite Kind in Armut aufwächst. Eltern solcher Kinder denken, wenn es um Anschaffungen geht, nicht in erster Linie an Bücher oder
Schulbücher. Deswegen halten wir diesen Gesetzentwurf
hinsichtlich seiner Auswirkungen auf den Bildungszugang, die soziale Gerechtigkeit und die sozialen Perspektiven, die sich daraus für Kinder ergeben, für höchst
problematisch. Ich glaube, Länder wie Bayern machen
es sich an dieser Stelle recht einfach. Diese Regelung
darf man eigentlich nicht akzeptieren.
({0})
In den letzten Jahren wurde uns aufgrund der Ergebnisse der PISA-Studien immer ins Stammbuch geschrieben, dass in der Bundesrepublik Deutschland der soziale
Hintergrund und - davon abhängig - die Bildungschancen der Kinder, ihre soziale Perspektive sowie die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Bildungschancen eine
unheilvolle Wirkungskette bilden. Deshalb glaube ich,
dass wir uns an dieser Stelle mit dem eigentlichen Problem, das hinter dieser Gesetzesänderung steckt, viel intensiver und offensiver befassen sollten. Selbst wenn die
Föderalismusreform in der geplanten Weise durchgeführt wird, sollten wir die Verantwortung der Länder und
der Kommunen, soweit sie mit betroffen sind, in der öffentlichen Debatte aufzeigen. Wir sollten versuchen,
eine solche Entwicklung zu verhindern.
Danke schön.
({1})
Die Rede der Kollegin Katrin Göring-Eckardt neh-
men wir zu Protokoll.1)
Damit kommen wir zur Rede der Kollegin Rita
Pawelski von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Herr
Kollege Tauss, weil wir alle gemeinsam wollen, dass die
Schulen künftig wieder Rabatte bei der Bestellung von
Schulbüchern bekommen, wollen wir diesen Gesetzentwurf ganz schnell beraten. In einem Punkt muss ich Sie
allerdings korrigieren: In dem Gesetzentwurf des Bundesrates geht es lediglich um die in § 7 des Buchpreisbindungsgesetzes festgelegten Sammelbestellungen von
Büchern, die überwiegend von der öffentlichen Hand finanziert werden.
({0})
Die anderen Punkte, auf die Sie Bezug genommen haben
- ich werde nachher noch darauf eingehen -,
({1})
sind lediglich Vorschläge der Bundesregierung. Hierzu
gibt es noch keinen Gesetzentwurf.
({2})
- Es ist doch klar, dass wir das gemeinsam machen wer-
den. Wie ich schon sagte: Rabatte und andere Ergänzun-
gen, auf die ich gleich noch eingehen werde, soll es ge-
ben.
Bücher gehören zum täglichen Leben. Das fängt spä-
testens in der Schule mit den Schulbüchern an. Ich kann
mich dunkel daran erinnern, dass diese Bücher bei den
Nutzern meist nicht ganz so beliebt waren. Aber das än-
dert sich. Die Liebe zu Büchern wächst mit der Fähig-
keit, sie zu lesen und zu verstehen.
1) Anlage 2
Aber Bücher haben ihren Preis, der - von wenigen
Ausnahmen abgesehen - durch das Buchpreisbindungsgesetz festgelegt ist. Was sich hier höchst bürokratisch
und verstaubt anhört, ist aber unbedingt notwendig.
Denn ohne eine Preisbindung gäbe es nicht die Vielzahl
der Verlage, Buchhandlungen und Titel.
({3})
Vor allem kleine und mittlere Verlage würden im Wettbewerb nicht überleben. Feste Ladenpreise für Bücher
sind also eine Grundvoraussetzung für eine lebendige
und vielseitige Literaturlandschaft in Deutschland.
({4})
Die Zahlen belegen es: Deutschland gehört zu den
führenden Buchnationen. Darin sind wir Spitze und darauf können wir stolz sein.
({5})
Bei uns gibt es fast 5 000 Buchhandlungen und etwa
14 000 Verlage. Sie produzieren jährlich 700 Millionen
Bücher. Rund 80 000 deutsche Titel kommen pro Jahr in
Deutschland auf den Markt.
({6})
Fast 1 Million Buchtitel sind jederzeit lieferbar. Insgesamt beträgt der Umsatz des deutschen Buchmarktes
9 Milliarden Euro. Das ist ein unglaublich hoher Betrag.
Aber die Praxis des Buchpreisbindungsgesetzes zeigt
Änderungs- und Ergänzungsbedarf. Ich will hier drei
Punkte aufgreifen, die die Bundesregierung nennt und
bei denen es eine hohe Übereinstimmung mit den Wünschen des deutschen Buchhandels gibt:
Erstens. Mit der wachsenden Bedeutung von Auktionen im Internet sind vermehrt Fälle von Preisbindungsmissbrauch aufgetreten. Verlagsneue, oft fehlerfreie Bücher wurden als Mängelexemplare angeboten, um die
Preisbindung zu umgehen. Darum sollten wir prüfen,
eine Kennzeichnungspflicht für Mängelware einzuführen. Im Internet kann man nicht immer erkennen, ob
ein Buch wirklich einen Mangel hat. Das kann man erst
sehen, wenn man es mit der Post erhalten hat. Wir sollten den Markt nicht durchlöchern.
({7})
Zweitens brauchen wir die Einführung einer Räumungsverkaufsklausel. Die Erfahrungen haben gezeigt,
dass bei einer Insolvenz die Möglichkeiten der Lagerbereinigung im Buchhandel nicht ausreichend sind. Eine
vertraglich bestehende Verpflichtung zur Rücknahme
besteht nicht immer. Alternativen sind relativ selten.
Eine spezielle Räumungsverkaufsklausel könnte Abhilfe
schaffen. Selbstverständlich müssen die Anforderungen
besonders hoch sein, um Missbrauch zu vermeiden. Es
kann nicht sein, dass einer seinen Laden schließt, ihn
wieder öffnet und dann wieder schließt, nur damit er die
Bücher günstig auf den Markt bringen kann.
Drittens brauchen wir eine Klarstellung des Wortlauts
in § 8 Abs. 1 Buchpreisbindungsgesetz. Die jetzige Regelung ist unklar. Bisher gilt, dass bei einem unveränderten Nachdruck die Preisbindung der alten Auflage
nach 18 Monaten ausläuft und für die neue Auflage neu
beginnt, auch wenn der Text absolut identisch ist. So gibt
es für ein und denselben Titel mit identischem Text eine
preisgebundene und eine preisfreie Version. Das verstehen die Kunden nicht. Hier muss Klarheit geschaffen
werden. Die Pflicht zur Preisbindung bei älteren Titeln
darf nur dann einsetzen, wenn sie überarbeitet worden
sind oder in veränderter Form neu auf den Markt kommen.
({8})
Meine Damen und Herren, wir werden zudem darüber
sprechen, ob die Rabattregelung auch für Privatschulen
gilt. Ich denke, das ist notwendig. Wir haben sehr gute
Privatschulen.
({9})
Warum sollen nicht auch die in den Genuss dieser Rabattregelung kommen?
Ich kann abschließend sagen: Der Trend zum Buch ist
Gott sei Dank ungebrochen. Wir können aber noch besser werden. In Finnland werden pro Jahr und pro Bürger
- darin sind die Babys, die Kinder und die älteren Leute
eingeschlossen - 24 Bücher verliehen. Die Finnen lernen
schon im zweiten und dritten Lebensjahr lesen. Wir sollten uns Finnland zum Beispiel nehmen. Wir könnten
noch besser sein, auch wenn wir schon gut sind.
Ich danke Ihnen.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 16/238 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Boris Gehring, Priska Hinz ({0}), Krista
Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mehr Qualität für die Hochschulen
- Drucksache 16/649 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Kai Gehring vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben es im Hochschulwesen mit einer einmaligen
Chance zu tun. Die Zahl der Studienberechtigten wird in
den nächsten fünf Jahren um mindestens 20 Prozent steigen. Das ist eine überaus erfreuliche Entwicklung. Uns
steht ein kleines Zeitfenster zur Verfügung, um die Studierendenzahlen auf internationales Niveau anzuheben
und dem absehbaren Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Doch was macht die große Koalition? Sie plant eine
Föderalismusreform, die ein gemeinsames strategisches
Handeln des Bundes mit den Ländern stark einschränkt.
Das halten wir für einen Irrweg.
({0})
Eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund und Ländern ist bitter nötig, um die Hochschulen auf die stark
steigenden Studierendenzahlen vorzubereiten.
Nun kündigt Frau Ministerin Schavan einen Hochschulpakt mit den Ländern an. Der Kompetenzverlust
wird mit schönen Worten verkleistert.
({1})
Ich meine, gerade dann, wenn Sie einen erfolgreichen
Pakt wollen, dürfen Sie diese Föderalismusreform nicht
verabschieden.
({2})
Aber immerhin, Sie scheinen den Hilferuf der Hochschulen endlich ernst zu nehmen.
Ich bleibe skeptisch, was die Erfolgsaussichten eines
freiwilligen Paktes angeht. Einen Pakt für mehr Qualität
an den Hochschulen halte ich nur dann für denkbar,
wenn die strategischen Ziele stimmen. Zukunftsweisende Hochschulpolitik muss aus unserer Sicht vor allen
Dingen drei Ziele verfolgen: erstens die Teilhabe erhöhen und die Mobilität erleichtern, zweitens die Studienplatzkapazitäten erhöhen und drittens - als Leitidee über
allem - die Qualität steigern.
({3})
Für einen solchen Qualitätspakt brauchen wir auch einen Ort gemeinsamer Strategiebildung von Bund und
Ländern. Daher fordern wir Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der großen Koalition, und Sie, Frau Ministerin Schavan, auf: Sorgen Sie dafür, dass die Studienplatz- und Personalkapazitäten an den Hochschulen
an die steigenden Zahlen der Studienberechtigten angepasst werden. Die HRK hat hierzu den bedenkenswerten
Vorschlag gemacht, 8 000 Stellen von Professorinnen
und Professoren, die ab 2015 pensioniert werden, schon
jetzt zu besetzen.
Sorgen Sie dafür, dass die Ausgaben für die Hochschulinfrastruktur auf ein angemessenes Niveau angehoben werden und sichern Sie diese langfristig ab.
({4})
Sorgen Sie für ein System, das einen fairen Ausgleich
der Studienplatzkosten zwischen den Ländern regelt.
Derzeit entsteht ein Wettbewerb um die höchsten Studiengebühren und den schnellsten Studienplatzabbau.
Dem muss mit einem intelligenten Anreizmodell entgegengewirkt werden. Ministerpräsident Milbradt und
DIW-Forschungsdirektor Professor Wagner
({5})
denken ebenfalls in diese Richtung. Sorgen Sie dafür,
dass Hochschulzugänge und -abschlüsse weiterhin
bundesweit einheitlich, ohne Abweichungsrecht für die
Länder, geregelt werden.
({6})
Anderenfalls verschlechtern Sie die Mobilität von Studierwilligen und Absolventinnen und Absolventen.
Überprüfen Sie auch den Zwischenstand im Bolognaprozess. Sie müssen sich um eine gute Akkreditierungspraxis kümmern, vor allem aber dafür sorgen, dass sich
Vergleichbarkeit und Mobilität verbessern und ein ungehinderter Übergang von Bachelor- zu konsekutiven Master-Studiengängen überhaupt möglich ist.
Wenn wir uns die Realität an den Hochschulen anschauen, dann wird deutlich: Schöne Worte der Ministerin und der Koalitionspartner reichen nicht aus; denn
Anspruch und Wirklichkeit klaffen immer weiter auseinander.
({7})
Zahlreiche unionsgeführte Bundesländer führen allgemeine Studiengebühren ein. Studiengebühren bringen
weder mehr Qualität noch mehr Kapazitäten, sondern
vor allen Dingen weniger Chancengleichheit, neue Zugangshürden und mehr soziale Selektion.
({8})
Mit den gerade genehmigten KfW-Studienkrediten
geben die Union und übrigens auch die SPD eine Antwort auf Studiengebühren, die Studierende in eine
Schuldenfalle treiben,
({9})
nach dem Motto: Wer vorher wenig hat, muss hinterher
besonders viel zurückzahlen, und das ausgerechnet in
der Rushhour des Lebens. - Das sind die traurigen Realitäten Ihrer Hochschulpolitik.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Koalition, ich kann Ihnen nur raten: Nehmen Sie die schönen Worte wie Qualität, Teilhabe und Gerechtigkeit erst
wieder in den Mund, wenn Sie die Weichen für entsprechende Taten gestellt haben.
Herzlichen Dank.
({11})
Herr Kollege Gehring, auch Ihnen gratuliere ich zu
Ihrer ersten Rede im Hohen Haus.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Grütters von
der CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Christoph
Georg Lichtenberg, der große Gelehrte, hat 1774 gesagt:
Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders
wird. Aber es muß anders werden, wenn es besser
werden soll.
({0})
Herr Gehring, Sie haben mit Ihrem Antrag zur Qualität an den Hochschulen Vorschläge unterbreitet, die aus
Ihrer Sicht die Situation der deutschen Hochschulen verändern sollen. Ob sie sie auch verbessern, darüber müssen wir noch diskutieren. Wir jedenfalls haben gemeinsam mit Frau Schavan die Weichen gestellt. Ihr
wissenschaftspolitischer Auftakt galt insbesondere der
Situation an den Hochschulen und dem Bildungsbereich
insgesamt.
Sie stellen zu Recht dar, dass die Modernisierung unseres Landes ohne gerechte Bildungschancen nicht
denkbar ist. Deshalb verweisen Sie in Ihrem Antrag auf
die, wie Sie es nennen, Zieltrias Teilhabegerechtigkeit,
Kapazitätsausbau und Qualitätssteigerung. Damit liegen
Sie in der Tat voll im Trend der Bildungsministerin dieser neuen Regierung.
Sie hat schon in der Regierungserklärung deutlich gemacht, worum es ihr geht, wenn sie unser Land zu einer
international anerkannten Talentschmiede - so nennt sie
es - machen will. Frau Schavan hat damals gesagt:
Dazu sind mehr Bildungsbeteiligung, die konsequente Förderung von Exzellenz und mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung notwendig.
Dafür brauchen wir Freiraum für junge Talente, für
neue Ideen und für unsere Hochschulen und Forschungseinrichtungen.
Herr Gehring wird jetzt gerade gestört, aber in der Tat
scheint es so, als ob auch die Grünen Frau Schavan gut
zugehört hätten. Sie hat nämlich schon drei Tage nach
ihrem Amtsantritt Gespräche mit den Hochschulvertretern und übrigens auch mit den Bildungsministern der
Länder aufgenommen.
({1})
- Ja, aber Sie behaupten ja, sie hätte das nicht getan und
wir sollten die schönen Worte lassen und erst die Weichen stellen. Sie haben offensichtlich nicht mitbekommen, welche Weichen Frau Schavan - allerdings in den
ersten Wochen ihrer Amtszeit - bereits gestellt hat.
({2})
- Frau Kollegin, Sie sitzen in einem fahrenden Zug. Offensichtlich gefällt es Ihnen ja ganz gut.
({3})
Ich sage einmal etwas zum Thema Teilhabegerechtigkeit. Die Erhöhung der Bildungsbeteiligung der gesamten Bevölkerung ist in der Tat der Schlüssel für die
Zukunft des Landes. Frau Schavan hat wörtlich gesagt,
dass mehr Qualität der Bildung, mehr Teilhabe an Bildung und mehr Gerechtigkeit die Ziele sind, die zu erreichen sie den Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs entwickelt hat. Wir stellen zusammen
mit der Wirtschaft immerhin Mittel für die Ausbildung
und Weiterbildung aller unter 25-Jährigen zur Verfügung, damit keiner auf der Strecke bleibt. Das hat Herr
Gehring in seinem Antrag zu erwähnen vergessen.
Sie sagen, das Hauptproblem sei der Hochschulzugang. Aber seien wir doch einmal ehrlich: Das Problem
beginnt nicht nach dem Abitur und auch nicht vor der
Hochschultür, sondern weit davor in der Bildungsentwicklung, und zwar bei den Grundschulen und am Ende
sogar bei der Vorschulbildung, im Kindergarten.
({4})
Da sind, ehrlich gesagt, die Länder am Zuge. Mit dem
berühmten Öffnungsbeschluss der 70er-Jahre ist ja versucht worden, genau dieses Missverhältnis bei der Teilhabe sozial Schwächerer am tertiären Bildungsangebot
zu korrigieren. Ich frage Sie einmal: Mit welchem Erfolg? Mit gar keinem Erfolg, so weh uns das tut. Auch
PISA hat das wieder bestätigt. 35 Jahre später müssen
wir sagen: Einfach die Hochschulen zu öffnen, ist nicht
die Lösung dieses Problems. Das sehen wir alle in der
Analyse gleich. Deshalb müssen Sie die Länder bitten,
bei Schulen und Hochschulen - ({5})
- Ich bitte Sie, der Bund leistet an dieser Stelle seinen
Anteil. Ich habe schon auf den Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs verwiesen, über den
das Ministerium mit der Wirtschaft gemeinsam diese
Ausbildungsanstrengungen sichert. Ich weiß nicht, warum die Kollegin so aufgeregt ist.
Zum Thema Kapazitätsausbau: Sie beschreiben den
zu erwartenden Anstieg der Zahl der Studierwilligen, als
ob er eine Bedrohung wäre. Wir sehen darin erst einmal
eine hervorragende Chance für Deutschland.
({6})
Womit Sie natürlich Recht haben, ist das allseits bekannte Drama - auch Sie haben keine Weichen dafür gestellt, es anders zu machen - von Überlast und Unterfinanzierung an den Hochschulen. Auch das ist übrigens
ein Phänomen, das wir seit 30 Jahren haben. Auch hier
ist es ausgerechnet der Bund, der sich jetzt der Misere
annimmt. Wir, diese große Koalition, haben uns dem
Ziel verschrieben, gemäß der Lissabonstrategie kontinuierlich die privaten und öffentlichen Investitionen in Forschung und Entwicklung bis 2010 auf 3 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Nicht die Vorgänger,
auch nicht die Grünen, sondern wir haben die 3 Prozent
ins Programm geschrieben.
({7})
Darüber hinaus gibt diese Regierung mehr als jede
andere vor ihr für den Bildungsbereich aus: 6 Milliarden
Euro sind in dieser Legislaturperiode zusätzlich für den
Bildungsbereich vorgesehen. So viel hat noch keine andere Bundesregierung vorher in den Bildungsbereich gesteckt. Es sind also die Länder, die wir in die Pflicht nehmen müssen. Die Grünen sind leider an keiner einzigen
Länderregierung mehr beteiligt. Vielleicht regt Sie das
deshalb so auf.
({8})
Ich versuche es einmal mit dem Beispiel Berlin. Im
Jahre 2020 wird in Berlin - das ist unsere Hauptstadt,
das betrifft auch Sie - nur noch jeder Zweite im berufsfähigen Alter sein. Das heißt, der Wettbewerb um die Jugend müsste hier mit aller Kraft gefahren werden. Aber
was macht der rot-rote Senat mit seinem linken Wissenschaftssenator? In drei Jahren hat diese rot-rote Regierung in Berlin den Hochschulen so viel Geld gestrichen,
wie es seit dem Krieg nicht geschehen ist. In der ganzen
Nachkriegsentwicklung ist dem Wissenschaftsbereich
nicht so viel Geld gestrichen worden.
({9})
Es ist so, dass in Berlin inzwischen drei von vier Studienplatzbewerbern allen Ernstes abgelehnt werden. Sieht
so der Wettbewerb um die Jugend aus in einer Zeit, in
der wir wissen, dass im Jahr 2020 nur noch jeder Zweite
im berufsfähigen Alter sein wird? Dann erfolgt der Appell der Grünen an den Bund: Macht doch einmal was. Aber sie sehen zu, wie vor ihrer eigenen Haustür zwei
Drittel der Hochschulkapazitäten binnen drei Jahren gestrichen werden.
({10})
Es ist doch kein Zufall, dass es ausgerechnet der Finanzsenator aus Berlin ist, der als einziger - wenig sachkundig - meint, er müsse zu den Prognosen über den
neuen Studentenansturm im „Tagesspiegel“ vorletzte
Woche sagen, das sei blanker Unsinn. Ich ahne, warum
er das vorsichtshalber sagt. Wir wissen, dass es kein
blanker Unsinn ist. Es ist eine Herausforderung an die
Bildungspolitik von Bund und Ländern, damit Deutschland seine Chancen gerade im Hinblick auf den Bildungseifer der jungen Generation wahrnehmen wird.
Hier geht es vor allen Dingen darum, nicht nur nach
Kapazitäten zu rufen, sondern auch Bildungsverläufe
zu ändern. Die jungen Menschen müssen, finde ich, in
überschaubarerer Zeit, als es zurzeit möglich ist, ihr Studium abschließen können; selbst bei einer Drop-outQuote von 30 Prozent geht es um andere Verläufe.
({11})
Credit-point-Systeme und Prüfungsmuster wie Freischussregelungen sind erste Schritte in die richtige Richtung. Der Bachelor ist ein wichtiger erster berufsbefähigender Abschluss. Damit können die Studenten ihr
Studium schneller abschließen. Das zielt natürlich auf
den Arbeitsmarkt und auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit.
Herr Gehring, Sie wollen mehr Qualität an deutschen
Hochschulen. Das ist gut so. Denn das ist ja auch Konsens.
({12})
Sprechen Sie doch auch einmal mit den Bildungspolitikern Ihrer Koalitionsfraktionen in den einzelnen Bundesländern.
({13})
In Berlin beispielsweise ist es Ihre Kollegin Pau, die
ganz vorne mitredet, wenn der Wissenschaftssenator von
der Linkspartei wieder so etwas wie Viertelparität einführen will. Das ist das Gegenteil von Qualitätssteigerung. Das ist ein Rückschritt in die wissenschaftspolitische Steinzeit. So funktioniert Qualitätssicherung nicht.
({14})
Dazu sind ganz andere Maßnahmen nötig, Herr
Gehring, wie zum Beispiel mehrjährige Verträge und andere Leitungsformen. Unterstützen Sie Bildungsministerin Schavan doch einfach darin, den Einstieg in eine
neue Forschungsförderungsstruktur, zum Beispiel durch
Berücksichtigung von Overheadkosten, zu bewerkstelligen. Hier greift auch Ministerin Schavans Programm zur
Stärkung der Geisteswissenschaften mit 13,5 Millionen
Euro, das die Grundlagenforschung in zehn Forschungsverbünden begünstigt. Sie mahnen ja an, dass die Fächer,
die nur von wenigen studiert werden, gestärkt werden
sollen. Hier hat sie ein Zeichen gesetzt, Bildungspolitik
für die Kulturnation Deutschland sichtbar zu machen.
Ich komme zum Schluss. Wir fördern auch die Exzellenzinitiative, ein Bundesprogramm, in dessen Rahmen
der Bund in großem Umfang ausgewählte Bereiche an
den Hochschulen finanziell unterstützt. Sie beklagen,
Herr Gehring, dass es durch die Föderalismusreform
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin
Grütters.
- weniger Möglichkeiten in der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern gibt. Wir sehen das anders.
Frau Schavan hat sehr umsichtig und von Anfang an einen konstruktiven Dialog mit den Bildungsministern der
einzelnen Länder unter Respekt der Länderzuständigkeit
geführt. Wir sind auf dem besten Weg, einen Hochschulpakt zu schließen. Sie nennen es Hochschulqualitätspakt.
Wir arbeiten schon daran.
Ich glaube, wir sollten alle versuchen, die Situation
der Hochschulen zu verändern, damit es - frei nach
Lichtenberg - nur besser werden kann.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Barth von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im Koalitionsvertrag finden sich folgende
schöne Worte:
Nur an der Spitze des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts wird unser rohstoffarmes Land
seine Zukunftschancen wahren.
({0})
Das ist richtig. Dazu brauchen wir starke, autonome
Hochschulen mit Spitzenqualität in Forschung und
Lehre.
({1})
Werfen wir einen Blick in die Realität. Im letzten Ranking der „Times“ liegt die beste deutsche Hochschule
auf Platz 45.
({2})
Spitze ist das nicht. Die Wahrheit ist: Unsere Hochschulen sind weit entfernt von der Weltspitze. Ein wesentlicher Grund hierfür ist ihre notorische Unterfinanzierung.
({3})
- Herr Tauss, ich bin Ihr Verhalten ja aus dem Ausschuss
gewohnt; deswegen bringt es mich auch jetzt nicht aus
der Ruhe.
({4})
Während die OECD-Länder im Durchschnitt
1,1 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für die Lehre an
den Hochschulen aufwenden, sind es in Deutschland gerade einmal 0,65 Prozent. Die Folgen sind überfüllte
Hörsäle, schlecht ausgestattete Bibliotheken und ein
schlechtes Betreuungsverhältnis. Mehr Qualität für die
Hochschulen - so lautet ja die Forderung im Titel Ihres
Antrags - ist deshalb dringend nötig.
({5})
Schade ist nur, dass der vorliegende Antrag nicht halten
kann, was seine Überschrift verspricht.
({6})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen
und von der SPD, werter Herr Tauss: Niemand bestreitet,
dass in Deutschland Kinder aus Akademikerfamilien
häufiger ein Hochschulstudium aufnehmen als Kinder
aus Familien mit niedrigeren Bildungsabschlüssen.
({7})
Was ich jedoch vehement bestreite, ist Ihre permanente
Behauptung, dies sei eine Folge der materiellen Ausstattung des Elternhauses.
({8})
Nein, das ist vor allem eine Folge der Einstellung des Elternhauses und damit der Einstellung der Kinder zum
Wert der Bildung.
({9})
Die Grundeinstellung zu Bildung als Wert muss sich in
unserem Land verändern. Der Wert der Bildung muss
zuerst in den Elternhäusern erkannt und vermittelt werden.
({10})
Hier besteht offenbar ein signifikantes Defizit, gerade
in den Elternhäusern, die Sie als die vom System benachteiligten darstellen. Deshalb ist Ihre Unterstellung,
das System betreibe eine beabsichtigte Sozialauswahl,
unzutreffend.
({11})
Es geht um die Vermittlung von Leistungsmotivation
und von Freude an Bildung, die vor allem in den Familien stattfinden kann. Das ist eine der wesentlichen
Grundvoraussetzungen für einen guten Schulabschluss.
({12})
Letztlich wahrt man seine Chance auf ein Hochschulstudium durch gute Leistungen in der Schule, nicht aber
durch den Geldbeutel der Eltern.
Meine Damen und Herren, auch Ihre Behauptung, die
Einführung von Studiengebühren würde den Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungserfolg drastisch verschärfen - so ist es in Ihrem Antrag formuliert -,
ist unzutreffend. Tatsache ist: In Ländern mit Studiengebührensystemen - zum Beispiel in den USA, aber auch
in Australien und England - gibt es mehr Studierende
aus schwächeren Schichten als in Deutschland.
({13})
Auch in dem von mir genannten Ranking liegen viele
Hochschulen aus diesen Ländern weit vor unseren. Es
muss Schluss sein mit Legendenbildungen, die nichts
mit der Wirklichkeit zu tun haben.
({14})
Wir sagen: Hochschulen müssen frei und unabhängig
sein. Sie brauchen wirkliche Autonomie, um sich im internationalen Wettbewerb behaupten zu können.
({15})
Dazu gehören ein eigenständiges Budget, das von ihnen
auch selbst verwaltet wird, und die volle Zuständigkeit
für ihr eigenes Personal. Die Hochschulen sollen sich
ihre Studierenden selbst aussuchen können und umgekehrt.
({16})
Die staatlichen Mittel, die für die Lehre an den Hochschulen bereitgestellt werden, müssen sich zum einen an
der Zahl der Studierenden, zum anderen aber auch an der
Zahl erfolgreicher Abschlüsse orientieren. So entsteht
Wettbewerb unter den Hochschulen und letztlich mehr
Qualität.
({17})
Die Hochschulen sollen Gebühren erheben dürfen, um
ihre Finanzlage und damit letztlich ihre Qualität verbessern zu können.
({18})
Klar ist: Niemand darf aus sozialen bzw. finanziellen
Gründen an der Aufnahme eines Studiums gehindert
sein. Deshalb muss es jedem Studierenden
({19})
- darauf komme ich noch zu sprechen - unabhängig vom
Einkommen seiner Eltern gesetzlich ermöglicht werden,
die entsprechenden Entgelte sofort oder auch nachlaufend zu zahlen. In diesem Zusammenhang finde ich es
schon bemerkenswert, dass insbesondere einige Abgeordnete der SPD der Meinung sind, Studienkredite dürften keinesfalls zur Bezahlung etwaiger Studiengebühren
verwendet werden. Darüber sollten wir einmal unter
dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit diskutieren.
({20})
Unsere Hochschulen und unsere Studenten brauchen
Freiheit und Wettbewerb um die beste Qualität. Das ist
der Weg, den wir einschlagen müssen, damit unser rohstoffarmes Land ganz im Sinne Ihrer Koalitionsvereinbarung an der Spitze des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts seine Zukunftschancen wahren kann.
Vielen Dank.
({21})
Herr Kollege Barth, ich gratuliere auch Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Dieter Rossmann
von der SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
finden es verdienstvoll, dass die Grünen mit diesem Antrag ins Parlament hineingetragen haben, was viele an
den Hochschulen bewegt. Sie begrüßen die Exzellenzinitiative, fragen sich aber gleichzeitig, was es an Hochschulinitiative gibt: für ausreichende Kapazitäten und
gute Lehre, und das für möglichst viele Studierende. Die
Grünen tragen damit etwas ins Parlament, was bereits
von der Ministerin in die Agenda dieser Regierung eingebracht worden ist. Deshalb: Ausdrückliche Anerkennung, dass Sie parlamentarisch die Initiative ergreifen!
Gleichzeitig - damit spreche ich auch die Kollegin
der CDU an - habe ich die Bitte, dass wir uns, bevor wir
mit dem Vorlauf eines kleingemünzten Wahlkampfs beginnen, ganz vorurteilsfrei die Zahlenverhältnisse in
Deutschland anschauen. So, wie die Kollegin von der
CDU meinte Berlin angreifen zu müssen, wollen wir
Berlin natürlich verteidigen.
({0})
Ich will andere Länder nicht unbedingt angreifen, aber
mir zumindest einen Hinweis erlauben - er hat etwas damit zu tun, wie wir ausreichende Kapazitäten für die
wachsende Zahl von Studierenden in Deutschland
aufbauen -: Ausweislich der Statistiken beträgt der Anteil der Studierenden in Berlin gemessen an der Gesamtzahl in Deutschland 7 Prozent. Sein Bevölkerungsanteil
liegt aber unter 5 Prozent. Damit engagiert sich das Land
Berlin überdurchschnittlich.
({1})
- Das ist eine Hauptstadtaufgabe, aber dennoch eine
Leistung, die man anerkennen muss. - Das Land Bayern
hingegen hat ausweislich der Statistiken unter 12 Prozent der Studierenden, aber über 14,7 Prozent der Bevölkerung.
({2})
Das größte Bundesland, Nordrhein-Westfalen, gibt
27 Prozent aller Studierenden Bildungschancen. Sein
Anteil an der Bevölkerung beträgt 21,7 Prozent.
({3})
Das sind die Zahlen. Wenn es ein Gemeinschaftsanliegen aller Länder wird, Exzellenz nicht nur in der Forschung anzustreben, sondern auch in der Lehre und in
der Versorgung der Studierenden, dann haben wir mit
diesem Antrag etwas gewonnen; so habe ich auch die
Ministerin verstanden.
({4})
Wir diskutieren heute zu später Stunde. Ebenfalls
heute hat der Minister für Wissenschaft und Weiterbildung von Rheinland-Pfalz, einem Bundesland, dessen
Anteil an den Studierenden mit dessen Anteil an der Bevölkerung zufällig genau übereinstimmt, in einer Regierungserklärung geschildert, wie sich Rheinland-Pfalz einen Ausgleich, ein Engagement der Länder zusammen
mit dem Bund vorstellt für den Aufbau von Exzellenz in
der Lehre und Exzellenz in der Ausbildung aller Studierenden - auch bei wachsenden Studierendenzahlen.
An dieser Stelle lohnt es sich, sich in einen zentralen
Punkt des Antrags der Grünen hineinzudenken: Ihr zentraler Punkt ist, dass Sie einen bundesweiten Fonds zur
Ausgabe von Studiengutscheinen fordern, den Bund
und Länder gemeinsam finanzieren. Dieser Vorschlag
deckt sich nicht damit, wie Bund und Länder sich bisher
an der Bewältigung von Studienerfordernissen beteiligt
haben. Denn in Bezug auf die Hochschulen gibt es - bisher - keine Regelfinanzierung durch die Länder. Rheinland-Pfalz schlägt deshalb vor, dass der Bund einen besonderen Anteil in dem bundesweiten Ausgleich
zwischen den Ländern übernehmen sollte: die Leistungen für diejenigen Studierenden, die aus dem Ausland zu
uns kommen, etwa aus Entwicklungsländern.
({5})
Rheinland-Pfalz hält das für eine besondere Aufgabe, für
die eigentlich kein Bundesland verantwortlich gemacht
werden kann. Hier hätte der Bund besondere Verantwortlichkeiten. Damit ist der Charakter des Besonderen
bei der Regelfinanzierung durch die Länder hervorgehoben. Es gab immer Sonderprogramme und ein besonderes Engagement. Rheinland-Pfalz hat dort eine besondere Idee. Es lassen sich auch andere besondere
Anstrengungen des Bundes mit einfordern, wenn es darum geht, die stark wachsende Zahl der Studierenden zu
bewältigen.
Wir werben stark dafür, dass die Ministerin zusammen mit den Ministern der Länder auslotet, wo dieser
besondere Beitrag liegen kann, der dann auch besonders
definiert und besonders mit unterstützt wird. Wir sagen
Ihnen gegenüber aber genauso freimütig: Das ist noch
nicht entschieden und das kann auch noch nicht entschieden sein, solange diese Debatten laufen. Ihr Antrag
wird in einen Ausschuss überwiesen, der sich in den
nächsten zwei Monaten, in denen die Ministerin mit den
Ländern Gespräche darüber führt, bei dieser Frage sicherlich auch sehr stark engagieren wird.
Auch in Übereinstimmung mit der CDU, mit der wir
jetzt gemeinsam die Regierung stellen, möchte ich noch
einen zweiten Punkt positiv aufgreifen, den wir im Interesse der Sache voranbringen wollen. Frau Grütters
sagte, es sei doch gut, dass jetzt auch die KfW Studienkredite anbietet, und zwar zu Kriterien, die uns wichtig
waren: keine Bonitätsprüfung, keine soziale Ausgrenzung und anderes mehr. Wir als Sozialdemokraten sagen
aber immer: Studienkredite ohne ein leistungsfähiges
BAföG wären für uns nur das halbe Bild. Beides gehört
uneingeschränkt zusammen.
({6})
Den Grünen müssen wir aber zumindest sagen, dass
das mal eine weit nach vorne reichende Idee war, die in
Bezug auf nachlaufende Studiengebühren aus dem Bereich der Grünen kam.
({7})
Letztlich ist dies ein Kredit, den man aufnimmt, um ihn
dann später, wenn man leistungsfähig ist, abzuzahlen.
Deshalb glaube ich, dass es aufgrund der Tradition eines
Matthias Berninger keine Fundamentalkritik an dem geben wird, was wir jetzt diskutieren, nämlich an der Tatsache, dass wir den Studierenden anbieten, Bildungskredite à la KfW aufzunehmen. Noch einmal gesagt:
BAföG muss bleiben.
Zu den Inhalten habe ich noch zwei Anmerkungen zu
machen. Sie haben einen Katalog an Ideen angesprochen, in dem viel Länderverantwortung enthalten ist.
Wir wollen das aber gerne mit aufnehmen und möchten
ergänzen: Wenn es um die Qualität von Hochschulen
geht, dann muss es natürlich auch um die Qualität der
Dinge gehen, die sich in Bezug auf das Ansteigen der
Zahl der Studierenden verändern. Das, was sich an den
Hochschulen bei der Vereinigung von Forschung und
Lehre abspielt, muss verbessert werden.
Was ist eigentlich in Deutschland und in der Welt los,
dass wir zwar eine PISA-Studie in Bezug auf Schulen
und auch Studien in Bezug auf die Qualität der vorschulischen Bildung haben, dass es aber keine wissenschaftliche Evaluation der Qualität der Lehrer an Hochschulen gibt? Welches Tabu in den Köpfen der
Hochschulprofessoren, die in einer gewissen Unangreifbarkeit wegen ihres wissenschaftlichen Forschungsstatus
leben, lassen wir ihnen in Bezug auf ihre zweite große
Aufgabe, nämlich die Mitorganisation einer exzellenten
Lehre, dort durchgehen? Die Ministerin will die Bildungsforschung mit in den Vordergrund stellen. Wir sehen es als einen wichtigen Punkt an, der mit aufgenommen werden sollte, dass die Bildungsforschung in Bezug
auf die Qualität von Lehre und die Organisation von
Hochschulen dazu gehört.
({8})
Wenn man das aber erforscht, dann gehört dazu auch,
dass man Weiterbildung, Fortbildung und all das, was in
allen übrigen Lehrbereichen selbstverständlich ist, auch
bei den Hochschulen nicht außen vor lässt.
Auch in Deutschland gibt es ja schon hochschuldidaktische Zentren. Wir sagen aber: Wenn es in den
Jahren 2012, 2013 usw. rund 20 Prozent mehr Studierende gibt, dann muss man jetzt damit anfangen, diese
Qualitätszentren für eine gute Lehre in der Zukunft mit
aufzubauen. Es gehört dazu - das scheint in Ihrem Antrag etwas unterbelichtet zu sein -, dass wir auch die soziale Lage und die soziale Versorgung bis hin zur Studienberatung von Studierenden verbessern.
Ich möchte noch eine Schlussbemerkung an die Kollegin von der CDU richten, die den Philosophen Lichtenberg so schön zitiert hat, einen Geist, den man immer
gerne hört. Das Folgende ist nun nicht von Lichtenberg,
aber ich möchte in Sachen Föderalismus, über den man
ja fast verbotene Debatten führen könnte, so enden
- vielleicht hätte Lichtenberg das ja auch zur Föderalismusdiskussion gesagt, wenn es um die Interessen der
Studierenden geht -: Lasst doch Geist wachsen, lasst
doch Einsicht wachsen und dann vielleicht auch Geld
wachsen - bei Bund und Ländern für die Hochschulen
und für die Studierenden.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Cornelia Hirsch von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erst einmal ein Wort an Frau Grütters. Ich glaube schon,
dass die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mitbekommen hat, dass die Bundesbildungsministerin einen
Hochschulpakt vorgelegt hat. Was sie aber explizit fordern, ist ein Hochschulqualitätspakt. Wir halten es für
richtig, dass diese Debatte über die Qualität eingefordert
wird, die es bisher in dieser Form nicht gegeben hat.
({0})
Viele der Forderungen, die in dem Antrag genannt
werden, finden wir richtig und sie werden von uns auch
unterstützt. Das betrifft beispielsweise solche Punkte
wie bessere Betreuungsrelationen, höhere Investitionen
in den Hochschulbau oder den freien Zugang zum Masterstudiengang. In der Föderalismusdebatte haben wir
dazu schon einiges gesagt. Was uns in dem Antrag fehlt,
ist das, was im Titel steht, worauf aber fast gar nicht Bezug genommen wird. Im Zusammenhang mit der Qualitätsdebatte stellt sich die Frage: Wie sieht eine Qualitätsentwicklung inhaltlich aus? Dazu steht in dem Antrag
relativ wenig.
Ich will unsere Positionen einmal grundsätzlich nennen. Wir halten es nicht für sinnvoll, mittels Markt- und
Wettbewerbsmechanismen die Qualitätsentwicklung im
Hochschulbereich voranzutreiben. Vielmehr setzen wir
auf eine demokratische Steuerung. Ich habe in der vorherigen Debatte überhaupt nicht verstanden, warum die
Forderung nach Einführung der Viertelparität ein Schritt
in die falsche Richtung sein sollte, um eine Qualitätsentwicklung zu erreichen.
({1})
Aus unserer Sicht ist vollkommen klar, dass gerade das
ein Schritt zu einer demokratischen Hochschule ist und
deshalb dazu beiträgt, eine Qualitätsentwicklung in
Gang zu setzen.
({2})
Wenn man sich überlegt, welche Instrumente dazu
taugen könnten, um zu einer Qualitätsentwicklung zu
kommen, dann möchte ich ein Instrument herausgreifen,
das gerade in der Debatte schon kurz angesprochen
wurde und aus unserer Sicht gerade nicht dazu führen
wird, dass Qualität entsteht. Ich beziehe mich jetzt weniger auf die Debatte zum Länderfinanzausgleich, sondern
auf die Debatte zur Qualität der Hochschulen. Es geht
um die Einführung von Studiengutscheinen. Studierende bekommen diese zwar laut dem Konzept zunächst
einmal kostenlos zugeteilt und sollen sie dann verwenden, um sich dafür die entsprechenden Dienstleistungen
zu kaufen.
Erstens. Solche Gutscheine werden natürlich begrenzt
sein. Von daher halte ich es von den Grünen für ziemlich
doppelzüngig, sich auf der einen Seite klar gegen Studiengebühren auszusprechen, aber auf der anderen Seite
die Einführung von Studiengutscheinen zu fordern.
({3})
Zweitens - das bezieht sich eher auf die Debatte zur
Qualitätsentwicklung -: Man muss sich die Frage stellen, wie sich ein Instrument wie die Studiengutscheine
auf das Angebot der Hochschulen auswirken wird. Wenn
die Studiengutscheine die Nachfrage darstellen sollen,
dann ist doch klar, dass sich das Studienangebot an der
Nachfrage ausrichtet. Wenn eben keine Nachfrage vorhanden ist oder die Nachfrage nicht groß genug ist, wird
das Angebot vom Markt genommen. Uns würde interessieren, welchen Platz Studiengänge wie Altorientalistik
oder Kunstgeschichte dann noch an der Hochschule haben. Aus unserer Sicht gehören sie aber zu einer qualitativen Entwicklung einer Hochschule unbedingt dazu.
({4})
Ein Instrument, das in dem Antrag genannt wird,
möchte ich gerne noch ansprechen. Es geht um die
Akkreditierung. Hier steht nur sehr allgemein, dass das
Akkreditierungssystem weiterentwickelt werden soll.
Ich finde es wichtig, dass wir uns das derzeitige Akkreditierungssystem genau ansehen, weil es reichlich absurd ist. Der Akkreditierungsrat akkreditiert private
Akkreditierungsinstitute. Diese akkreditieren dann an
den Hochschulen gegen Geld die Studiengänge.
Ein Beispiel, wie dadurch definitiv keine Qualität entsteht, konnte kürzlich an der Universität Leipzig erlebt
werden. Weil Akkreditierung teuer ist, verständigte man
sich darauf, eine so genannte Cluster-Akkreditierung
durchzuführen. Das bedeutete, an drei Tagen 27 Studiengänge zu überprüfen. Wie so Qualität entstehen soll, ist
uns vollkommen schleierhaft.
({5})
Was wir uns wünschen, ist, dass gerade die Aspekte
Instrumente der Qualitätsentwicklung und speziell Akkreditierungssysteme in der Ausschussdebatte aufgegriffen werden. Wenn der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen einen Beitrag leisten kann, um dazu einen Impuls zu
geben, dann halten wir das für richtig und sinnvoll.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/649 an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu überweisen.
Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sprint-Studie des Deutschen Sportbundes darf
nicht folgenlos bleiben - Jetzt bundesweite
Wende im Schulsport einleiten
- Drucksache 16/392 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Debatte eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Detlef Parr von der FDP-Fraktion das
Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Fast zwei Jahrzehnte
herrschte wissenschaftliche Zurückhaltung hinsichtlich
einer umfassenden Untersuchung des Schulsports in
Deutschland. Jetzt liegt endlich in Form der Sprint-Studie eine systematische Bedingungs- und Situationsanalyse vor, die die bisherigen Einzeluntersuchungen weit
übertrifft.
In diesem Zusammenhang möchte ich den deutschen
Bewerberstädten für die Olympischen Spiele 2012 meinen Dank aussprechen. Sie haben sich auf Initiative des
Bundestages zur Finanzierung dieser Studie verpflichtet
und damit für wertvolle Erkenntnisse zur zukünftigen
Neugestaltung des Schulsports gesorgt.
Wie auch immer wir diese Studie bewerten, wir sollten uns in einem Punkt einig sein: Sie muss die Grundlage für notwendige konkrete Reformschritte sein und
sie darf nicht nach einem Aufflammen der öffentlichen
Diskussion zum Strohfeuer werden und bei Bund und
Ländern in den Schubladen verschwinden. Zu eindeutig
sind auch die in anderen Untersuchungen getroffenen
Feststellungen zum Gesundheitszustand unserer Kinder
einerseits und zum sportlichen Leistungsvermögen und
der Leistungsbereitschaft andererseits.
Wir müssen diese Botschaften ernst nehmen. Zu
lange haben wir die Spaß- und Kuschelpädagogik als
vermeintlichen Fortschritt gepflegt
({0})
und die Werte des Sich-Anstrengens und Leistens und
eines damit verbundenen anspruchsvollen Übens und
Trainierens aus dem Blick verloren.
({1})
Der Sportausschuss des Deutschen Bundestages beschäftigt sich jetzt schon in der dritten Legislaturperiode
mit dem Schulsport. Die Bildungspolitik ist zwar Ländersache und wir wollen nicht am föderalen Prinzip rütteln, aber wenn die zunehmenden Alarmmeldungen vor
allem aus dem Gesundheitsbereich - ich nenne nur die
Stichworte „Übergewicht“, „Herz-Kreislauf-Probleme“
und „Haltungsschäden“ -, aber auch aus dem Leistungssport keine wesentlichen Konsequenzen nach sich ziehen, dann dürfen wir uns als Bundespolitiker und der
Bund als Mitglied in der Kultus- und Sportministerkonferenz nicht vor der Verantwortung drücken.
({2})
Deshalb stellt die FDP diesen Antrag heute zur Diskussion, um einen Anstoß zu einer bundesweiten Wende
im Schulsport zu geben, die wir alle gemeinsam tragen
sollten.
({3})
- Wenn Sie mir eben zugehört hätten, dann würden Sie
jetzt nicht diese Zwischenfrage stellen, Herr Kollege. Es ist zu wenig, wenn die im Jahr 2000 erarbeitete gemeinsame Erklärung von DSB, KMK und SMK vor
Weihnachten wolkig-unverbindlich fortgeschrieben wird.
Wir brauchen eine neue konkrete schulische Sportkultur,
für die wir in den Gremien offensiv eintreten müssen.
Wenn wir uns auf der Bundesebene einigen, dann werden wir auch die Länder überzeugen können.
Die neue schulische Sportkultur muss auf drei Säulen
basieren: auf Bewegungsvielfalt, sportlichem Können
und Leisten sowie durch Fairness geprägter sozialer
Kompetenz.
({4})
Das alles muss sich am Leistungsvermögen jedes Einzelnen orientieren, das auch in der Benotung zum Ausdruck
kommen sollte, und zwar weg von den wenig differenzierenden Ziffernnoten hin zu einer verbalen Beurteilung
der Leistungen, die auch außerschulisches Engagement
und ehrenamtliche Tätigkeiten mit einbeziehen.
({5})
Wir wollen über den Sportunterricht Sport und Bewegung für möglichst viele Menschen zu einem selbstverständlichen Teil ihres Lebens machen. Präventives Verhalten nimmt vor dem Hintergrund der Entwicklung
unseres Gesundheitssystems an Bedeutung zu. Es ist zuallererst eine Frage der Verbesserung der Lebensqualität
für jeden Einzelnen. Aber auch volkswirtschaftlich werden wir auf lange Sicht Nutzen daraus ziehen können.
Bundesweit ist eine Einigung auf klare Zielsetzungen
im Sportunterricht notwendig - bisher gibt es bei
16 Bundesländern acht unterschiedliche Zielvorgaben
des Schulsports -,
({6})
die sowohl auf Gesundheits- als auch auf Leistungsförderung ausgerichtet sind. Wir brauchen des Weiteren einen leistungsorientierten erziehenden Sportunterricht,
der sich nicht nur auf die Schule konzentrieren darf, sondern auch eine Brücke zu außerschulischen Aktivitäten
bauen muss.
({7})
Die Kooperation von Schule und Verein ist nichts
Neues, kann aber zum Beispiel durch die teilweise Freistellung von Lehrkräften für diese Aufgaben intensiviert
werden. In diesem Zusammenhang gehören unsere Eliteschulen des Sports auf den Prüfstand. Die unterschiedlichen Ergebnisse in Ost und West geben zu denken.
Wir stellen uns des Weiteren eine bundesweite Jugendmeisterschaft nach australischem Vorbild vor, die
an den Olympischen Spielen orientiert ist und an die
Stelle anderer schulischer Wettkämpfe tritt.
Ich kann aus Zeitgründen nur einige Punkte aus unserem Antrag erläutern und freue mich deshalb auf unsere
Diskussion im Ausschuss. Vor allem bin ich gespannt
- der Kollege Danckert ist leider nicht anwesend -, wie
die SPD und die Union auf unseren seit langem vorgetragenen Vorschlag eines „Goldenen Planes für Gesamtdeutschland“ reagieren werden.
Unsere Sportstätten sind die Voraussetzung für qualitativ hochwertigen Schulsport. Mit dem Ganztagsschulprogramm - auch hier handelt es sich um eine Länderaufgabe, der sich der Bund angenommen hat - hat der
Bund einen Anstoß gegeben, den die Bundesländer aufgegriffen haben. Das sollte auch bei der Förderung unserer Sportstätten möglich sein.
Zum Abschluss noch eine Bemerkung der Präsidentin
des Weltrates für Sportwissenschaft, Frau Professor
Gudrun Doll-Tepper. Sie hat auf dem Weltgipfel zum
Schulsport in der Schweiz Folgendes gesagt:
Im internationalen Kontext ist die Sprint-Studie auf
großes Interesse gestoßen; sie kann beispielgebend
für andere Länder sein.
So sollten auch wir sie in unsere Arbeit einordnen.
Ich danke Ihnen, dass Sie zugehört haben.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Riegert von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zuerst mit dem Positiven beginnen. Dass heute im Bundestag über den Schulsport diskutiert wird, ist ganz eindeutig ein Verdienst der FDP.
Das Thema nehmen wir dankbar auf.
({0})
Des Weiteren möchte ich Dank an unseren alten Sportsfreund Klaus Kinkel sagen, der dieses Thema vor vielen
Jahren aufgegriffen hat. Als Bayern, das Saarland und
Hamburg den Schulsport zurückfahren und Unterrichtsstunden streichen wollten, haben wir durch einen Anstoß
von Klaus Kinkel und eine Anhörung im Sportausschuss
eine Wende eingeleitet.
Im FDP-Antrag ist von Entwicklungsstörungen, Koordinationsproblemen, Juniordiabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen die Rede. Natürlich kann das alles
nicht allein auf den mangelhaften Schulsport zurückgeführt werden. Aber in der Tat zeigt die Sprint-Studie Defizite auf. Diese beginnen schon bei der Qualität des
Sportunterrichtes, die von der Sportstättensituation und
der Qualität der Ausbildung der Sportlehrer abhängt.
Das ist der erste Punkt.
Zum Zweiten wird in der Studie am Beispiel der
Schwimmbäder klar gemacht, wie sich die Situation der
Schulsportstätten auswirkt. Wenn zunehmend Schwimmbäder geschlossen werden und Bäder nur noch als Spaßbäder eröffnet werden, dann haben wir beim Schulsport
und insbesondere beim Schwimmunterricht natürlich
Probleme.
Der dritte Punkt, der in der Studie als Defizit angesprochen wird, ist, dass oft fachfremder Unterricht gegeben wird.
Der vierte Punkt betrifft die Einstellung der Schulleiter und der Kollegien gegenüber dem Schulsport. Wir
Sportpolitiker leiden ein bisschen darunter, dass wir in
unseren Fraktionen nicht immer den notwendigen Widerhall finden. Dass wir heute zu so später Stunde über
dieses Thema diskutieren, zeigt ein Stück weit, dass der
Stellenwert des Schulsports nicht so hoch ist, wie er eigentlich sein sollte.
Als fünften defizitären Punkt wird in der Studie auf
die hohe Ausfallquote beim Schulsport hingewiesen.
Die Ergebnisse der Sprint-Studie müssen in den Bundesländern aufgegriffen werden. Umfang und Qualität
des Schulsports müssen verbessert werden. Die Bundesländer arbeiten bereits daran. Ich weiß, dass beispielsweise in Baden-Württemberg schon einiges geschehen
ist. Wir werden außerdem genau beobachten, was die
FDP in NRW, wo ein freidemokratischer Minister für
den Sport zuständig ist, auf diesem Feld leistet.
({1})
Der FDP-Antrag ist zu undifferenziert. Ich nenne nur
drei Beispiele. Erstens. Es wird eine bundesweite Jugendmeisterschaft nach australischem Vorbild gefordert.
Ich frage mich, warum nach australischem Vorbild.
({2})
Wir haben die Bundesjugendspiele, „Jugend trainiert für
Olympia“ und - wenn man in die Vergangenheit schaut die Spartakiade als Vorbild. Wir haben gezeigt, dass wir
bundesweite Wettbewerbe und Jugendmeisterschaften
erfolgreich organisieren können.
Der zweite Punkt betrifft Marketingmaßnahmen bei
den Bundesjugendspielen. Ich weiß nicht, welche Marketingmaßnahmen Sie bei den Bundesjugendspielen planen. Ich glaube, wenn dort die Leistung stärker zählt,
dann kommen wir schon ein großes Stück weiter voran.
Der dritte Punkt ist die Sportbenotung. Sie haben sie
in Ihrer Rede angesprochen. Eine verbale Sportbenotung
und die Möglichkeit, dass ehrenamtliches Engagement
im Zeugnis festgehalten werden kann, gibt es in BadenWürttemberg mit dem Zeugnisbeiblatt schon seit zehn
Jahren. Die pädagogische Note kann bis zu zwei Zehntel
positiv oder negativ abweichen. Wir hören, dass man dabei ist, dieses Zeugnisbeiblatt, das wir seit zehn Jahren
haben, jetzt auch in NRW einzuführen. Damit sind wir
schon ein gutes Stück vorangekommen.
Wozu ich aber ein klares Wort sagen will, ist Folgendes: Wir dürfen die Schulsportnoten nicht abschaffen.
({3})
Sie werden ohnehin schon kritisch betrachtet, weil sie im
Vergleich zu denen der anderen Fächer viel zu gut ausfallen. Wer Schulsportnoten abschafft, der wird Sport
zum Randfach machen und kein gutes Ergebnis erhalten.
({4})
Lassen Sie mich zum Ergebnis der Sprint-Studie einige Sätze sagen. Erstens hat die Sprint-Studie festgestellt, dass sich Sport als Bildungsfach etabliert hat.
Zweitens hat die Studie festgestellt, dass Sportlehrer von
Schülern sportfachlich und pädagogisch positiv beurteilt
werden. Drittens werden bei Sportlehrern ein hohes
Fort- und Weiterbildungsengagement und hohe außerunterrichtliche Kompetenz festgestellt. Ich möchte mich an
dieser Stelle ganz herzlich bei den Sportlehrern, die sich
bei mir zu Hause für „Jugend trainiert für Olympia“
engagieren, bedanken.
({5})
- Ich korrigiere mich. Ich habe die Erfahrungen bei mir
zu Hause geschildert. Ich möchte mich natürlich bei allen Sportlehrern bedanken, auch bei denen, die bei Ihnen
zu Hause sind.
({6})
Die Studie hat viertens festgestellt, dass die Schüler im
Sport leistungswilliger als in den anderen Fächern sind.
Fünftens schätzen Schüler, Eltern und Lehrer den Sportunterricht und erkennen die Wichtigkeit des Sportunterrichts an.
Abschließend kann ich nur sagen, dass der FDP-Antrag - ich habe Defizite genannt - nur Teilaspekte aufzeigt. Was die Überschrift des Antrags betrifft - SprintStudie des Deutschen Sportbundes darf nicht folgenlos
bleiben - Jetzt bundesweite Wende im Schulsport einleiten -, so kann ich in der Schulsprache nur sagen: Thema
verfehlt, Fünf, setzen!
({7})
- Es sind auch richtige Elemente darin. Ich habe von der
Überschrift gesprochen. Deswegen keine Sechs, sondern
eine Fünf.
Der Antrag hat wichtige Teilaspekte. Wir werden deshalb diesen Antrag in den Ausschuss überweisen und
dann einen Koalitionsantrag einbringen, der die gesellschaftspolitischen und die sportpolitischen Aspekte des
Sports einschließlich des Schulsports und anderer Elemente umfasst. Dann werden wir hoffentlich einen gemeinsamen Antrag des ganzen Hauses zum Sport bzw.
Schulsport hier beschließen.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Katrin Kunert von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die vergangenen Tage bei Olympia in Turin
wurden durch Otto und Fischer und Co zu Tagen der Seniorinnen und Senioren im Leistungssport. Letztes Wochenende bei den Deutschen Hallenmeisterschaften der
Seniorinnen und Senioren der Leichtathletik wurde
Katrin Kunert mit ihrer Staffel Vizemeisterin.
({0})
Die Zahl der Sportbegeisterten ab 30 aufwärts wächst.
International stehen die Deutschen an erster Stelle. Die
Anzahl der Europa- und Weltmeistertitel, die die Seniorinnen und Senioren in der Leichtathletik holen, wünsche ich mir auch für den Leistungssport.
({1})
Der Anteil der Seniorinnen und Senioren beim
Deutschen Leichtathletik-Verband hat sich von 1984 bis
heute von 30 Prozent auf 46 Prozent erhöht. Warum ist
das so? Fest steht, dass für die Motivation für das weitere oder wieder begonnene Sporttreiben vor allem die
Erfahrungen aus der Kindheit und aus dem Schulsport
wichtig sind. Wer einmal Freude an der Bewegung und
die Vorteile von Teamarbeit gespürt hat, eine bessere Fitness und einen gesunden Ehrgeiz besitzt, der zieht die
Turnschuhe irgendwann wieder an.
({2})
Schulsport von heute ist jedoch oftmals eine Pflichtübung und steht auf der Liste der wichtigsten Fächer hintenan. Uns überraschen die Ergebnisse der Sprint-Studie
nicht. Sie bestätigen gefühlte Werte.
({3})
- Wäre es möglich, dass die Herrschaften vielleicht mal
etwas zuhören könnten?
Kolleginnen und Kollegen, würden Sie bitte der Rede
folgen oder den Raum verlassen!
Im Sport geht man fair miteinander um. Das könnte
auch im Bundestag mal auf der Tagesordnung stehen.
({0})
Herr Parr, wir werden Ihren Antrag unterstützen, weil
er die Möglichkeit bietet, die für den Schulsport Verantwortlichen endlich zusammenzuführen und Nägel mit
Köpfen zu machen - auch wenn wir im Detail Klärungsbedarf sehen. Ich finde, der Unterstellung, dass sich die
Politik immer nur dann mit dem Sport beschäftigt, wenn
große Events anstehen, sollten wir mit aller Ernsthaftigkeit entgegentreten. Vor allem müssen wir ein gewisses
Maß an Verbindlichkeit an den Tag legen; ansonsten reden wir hier in diesem Hause alle Jahre wieder über die
gleichen Themen.
({1})
Auch für den Schulsport gilt: Wenn bundesweit gültige Mindeststandards durchgesetzt werden sollen, dann
müssen wir die Kleinstaaterei im Bildungswesen überwinden.
({2})
In 16 Bundesländern gibt es acht Zielvorgaben für den
Schulsport; Sie haben darauf hingewiesen. Circa 70 Gremien bilden in Deutschland Sportpädagogen aus. Es
wird viel geforscht, aber viel zu wenig effizient und
praktikabel ausgebildet.
Die Föderalismusdiskussion zeigt, dass nur ein zukunftsfähiges Nebeneinander von bundespolitischer
Rahmensetzung und landespolitischer Detailsteuerung
zum Erfolg führen kann. Referendare ziehen Warteschleifen, weil Stellen fehlen. Die Bundesländer verlassen sich aufeinander und die Sportlehrerausbildung ist
verlassen. So sollte der Studiengang Sportwissenschaften an der Uni Halle in Sachsen-Anhalt aus Kostengründen geschlossen werden. Verantwortlich dafür war ein
FDP-Kultusminister. Die Schulunterrichtsstunden für
den Sport wurden von drei auf zwei pro Woche reduziert. In Hamburg, der so genannten Sportstadt, wird der
Schwimmunterricht ab August 2006 privatisiert.
Schwimmmeister vergeben dann die Noten. In Hamburg
gibt es zwar die geforderte dritte Sportstunde; aber sie ist
im Lehrplan flexibel gestaltet und fällt so anderen Fächern zum Opfer.
Kinder brauchen Bewegung und Aktivität in biologischer, psychologischer und sozialer Hinsicht, um sich erproben und altersgerecht entwickeln zu können. Für die
Vielzahl der Kinder und Jugendlichen ist der Schulsport
die einzige Möglichkeit zur sportlichen Betätigung. Deshalb stehen für uns nicht die Leistung und die Nachwuchssicherung für Sportvereine im Vordergrund, sondern die Vermittlung der Grundlagen des Sports.
Da meine Redezeit zu Ende geht, möchte ich zusammenfassend sagen, welche Schwerpunkte wir für die
Diskussion sehen: klare Orientierung und Standards für
alle Bundesländer für die Sportlehrerausbildung und die
Unterrichtsinhalte; generelle Einführung der dritten
Sportunterrichtsstunde; durchgängiger Einsatz von ausgebildeten Sportlehrern ab der Grundschule - das heißt
natürlich, dass der Einstellungskorridor für junge Lehrer
geöffnet werden muss -; Sicherstellung des Schwimmunterrichts; ausreichende Weiterbildung; Sicherstellung
der Finanzierbarkeit des Schulsports; ein angemessenes
Angebot an Wettkämpfen. In dieser Hinsicht ist die
Spartakiadebewegung in der DDR durchaus ein lohnendes Beispiel.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Martin Gerster von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Wir von der SPD-Fraktion sind für den FDPAntrag sehr dankbar, weil er uns die Gelegenheit gibt, in
diesem Hause über Schulsport zu reden, aber auch darüber, wer an der Schulsportmisere in Deutschland schuld
ist.
Die Diskussion um den Schulsport ist schon etwa 20
Jahre alt; seit 20 Jahren wird über das diskutiert, was im
Schulsport im Argen liegt. Ein Artikel aus der „Frankfurter Rundschau“ von vor 20 Jahren belegt dies. Damals gab es ein Aktionsprogramm der Kultusministerkonferenz und des Deutschen Sportbundes. Die
Probleme von damals sind auch die Probleme von heute:
hoher Unterrichtsausfall, zu wenig qualifizierte Lehrkräfte und geringe Hallenkapazitäten. Da ist es nicht erstaunlich, dass die SPD-Bundestagsfraktion das Thema
Schulsport schon vor 20 Jahren im Deutschen Bundestag
auf die Tagesordnung gebracht hat. Ich zitiere die frühere Bundesministerin Wilms von der damaligen CDU/
CSU-FDP-Bundesregierung. Die Entwicklung des
Schul- und Hochschulsports falle in erster Linie in die
Zuständigkeit der Länder, war die lapidare Antwort auf
die Initiative damals. - Was damals richtig war, ist heute
natürlich auch noch richtig.
Es ist schon interessant, dass vor einer halben Stunde
hier vonseiten der FDP-Fraktion im Rahmen der Debatte
über den Föderalismus noch gesagt wurde, der Bund
dürfe den Ländern in Sachen Schule nicht hineinreden,
und jetzt ein FDP-Antrag vorliegt, nach dem der Bund in
Sachen Schulsport sehr wohl hinreden soll.
({0})
Es ist ganz klar, warum der FDP-Antrag hier im Bundestag und nicht etwa in den Ländern gestellt wird. Im
Landtag von Baden-Württemberg beispielsweise könnte
ein solcher Antrag auch gestellt werden. Bei näherer Betrachtung stellt sich ganz schnell heraus: Wo die FDP
mit in der Regierungsverantwortung ist, ist es um den
Schulsport gar nicht so gut bestellt.
({1})
Die Kollegin Kunert hat dazu vorhin schon etwas angeführt. In Hamburg beispielsweise gab es in der unsäglichen Koalition mit der Schill-Partei ein neues Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte, bei dem die Lehrkräfte für
Sport degradiert wurden, weil der Schulsport dort wesentlich weniger wichtig war als beispielsweise der
Deutschunterricht.
({2})
- Das ist richtig, Frau Homburger.
({3})
In Niedersachsen - Kollegin Kunert hat das ebenfalls
angesprochen - wurde der Schwimmunterricht kaputtgemacht, wurden Lehrerstellen gestrichen und wurde die
Verantwortung den Eltern übertragen. Wenn die Mutter
oder der Vater nicht kann, fällt der Schwimmunterricht
eben aus. Das ist nicht der Schulsport, den wir von der
SPD-Bundestagsfraktion uns wünschen.
({4})
Ihr Antrag in allen Ehren, aber ich muss sagen: Es ist
unredliche Politik, wenn man hier einen solchen Antrag
einbringt, in den Ländern jedoch anders handelt.
({5})
- Herr Parr, ich komme darauf noch zu sprechen.
({6})
Konkret zum Antrag. Sie fordern dazu auf, Konsequenzen aus der Sprint-Studie zu ziehen, diese Studie
auszubauen, zu erweitern und darüber zu diskutieren. Ich
war im Dezember selbst auf einer Tagung in Karlsruhe,
bei der es genau um dieses Thema ging.
({7})
Sehr interessant war, dass am Empfang an alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein Papier mit ergänzenden
Informationen der Landesregierung Baden-Württemberg
zur Sprint-Studie ausgehändigt wurde. Ich fand es schon
fast kurios, dass darin mehr oder weniger gesagt wurde,
die Sprint-Studie sei unseriös, was die wissenschaftliche
Ausarbeitung angehe,
({8})
eine fragwürdige Methodik sei angewandt worden und
um den Sport in der Schule sei es gar nicht so schlecht
bestellt, wie in der Sprint-Studie behauptet werde.
({9})
Das fand ich schon sehr merkwürdig.
({10})
Hier bringt die FDP einen solchen Antrag ein und von
der Landesregierung Baden-Württemberg heißt es, um
den Schulsport sei es gar nicht so schlecht bestellt. Deswegen fragen wir uns natürlich: Warum debattieren wir
die Sache überhaupt, wenn es um den Schulsport doch
gar nicht so schlecht bestellt ist?
({11})
Wir diskutieren Ihren Antrag leider mit dem Ergebnis,
dass wir ihn ablehnen müssen; denn auch inhaltlich hat
er nicht das Potenzial, um den Schulsport wirklich zu
retten. Die FDP fordert in ihrem Antrag leistungsorientierten erziehenden Schulsport. Ein Ergebnis der Studie ist nach unserer Meinung aber, dass der leistungsorientierte erziehende Sportunterricht, wie Sie ihn
fordern, junge Leute gerade abschreckt. Wir müssen in
Baden-Württemberg - Frau Homburger, Sie bringen das
immer wieder zur Sprache - und in allen anderen Ländern einen Sportunterricht durchführen,
({12})
der junge Leute ermuntert, Sport zu treiben,
({13})
sich für den Sport zu begeistern.
({14})
Deswegen ist der Schluss, den Sie aus der Studie ziehen,
falsch.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried
Hermann ({15})
Die FDP fordert eine Rückbesinnung auf traditionelle
Sportarten, weil ansonsten angeblich der Leichtathletik
der Nachwuchs wegbricht.
({16})
Wir sagen: Der Schulsport ist keine Produktionsstätte für
Hochleistungssportler,
({17})
sondern er ist dafür da, jungen Leuten Mut zu machen,
Sport zu treiben und sportlich aktiv zu sein.
In einer Sache haben Sie, Herr Parr, völlig Recht. Die
Sprint-Studie ist richtig und wichtig. Wir von der SPDBundestagsfraktion stehen ohne Wenn und Aber hinter
dieser Studie. Wir wollen eine bessere Ausbildung für
die Lehrkräfte im Sport; völlig d’accord. Wir wollen,
dass der Sportunterricht nicht ausfällt, sondern dass er in
den Schulen tatsächlich stattfindet.
({18})
Wir wollen eine gleichberechtigte Stellung des Schulsports mit anderen Fächern. Wir wollen einen Schulsport, der Kinder und Jugendliche für den Sport begeistert.
Wir wollen mehr Schulen mit sportlichem Profil und
einer bewegten Schul- und Lernkultur. Wir wollen, dass
Sportvereine in die Schulen kommen können, insbesondere in die Ganztagsschulen; dann sollen aber bitte
schön die Übungsleiterinnen und Übungsleiter auch entsprechende Vergütungen für das bekommen, was sie an
diesen Schulen leisten.
({19})
Ich sage ganz bewusst: Wir wollen mehr Kooperationen
zwischen den Sportvereinen und den Schulen. Wir wollen aber auch mehr Elternaufklärung über Elternabende
und andere Veranstaltungen, damit den Eltern bewusst
gemacht wird, welche Bedeutung der Sport tatsächlich
in unserer Gesellschaft für die Erziehung und für das
Aufwachsen von jungen Leuten hat. Wir wollen Qualitätssicherung in der Fachlehrerausbildung und - da bin
ich mit Ihnen vollkommen d’accord - nationale Bildungsstandards auch beim Schulsport. Wir wollen - auch
das ist ein wichtiger Punkt - mehr Kooperation im Vorschulbereich, also dass schon früher mit dem Schulsport
begonnen wird.
({20})
Die Umsetzung all dieser Forderungen ist Ländersache. Deshalb fordere ich Sie ganz klar auf: Sprechen Sie
mit Ihren Landesministern und Landesministerinnen,
({21})
damit auf allen Ebenen etwas zustande gebracht wird
und wir hier nicht auf der einen Seite Scheindebatten
führen, aber auf der anderen Seite die Bundesländer den
Schulsport als finanziellen Steinbruch benutzen und die
Mittel dafür kürzen.
Herzlichen Dank.
({22})
Herr Kollege Gerster, auch Ihnen gratuliere ich im
Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Hermann
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Ich halte jetzt auch eine Jungfernrede, denn ich durfte
noch nie als letzter Redner zu so später Stunde vor so
viel Publikum sprechen. Ich bedanke mich im Voraus für
Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Die Kollegen haben ja schon alles Mögliche aus der
Sprint-Studie angeführt. In der Kürze meiner Redezeit
kann ich nur ein paar neue Aspekte hinzufügen. Im Rahmen dieser Studie wurden die Schüler ja zum ersten Mal
befragt, wie sie Sportunterricht wahrnehmen, was sie
von ihm erwarten, was ihnen fehlt und was sie stört. Interessant ist, dass die Studie zutage gefördert hat, dass
im Unterschied zu früher Sportunterricht inzwischen bei
Schülern einen hohen Stellenwert hat, ja mit am besten
im Fächerkanon der Schule angesehen ist und dass inzwischen auch die Schulleiter, die Kollegen und die Eltern den Sportunterricht weitaus höher einschätzen als
früher. Umso bitterer ist es, wenn dieser Unterricht häufig ausfällt.
Andererseits beklagen die Schüler, dass der Unterricht oft nicht das bringt, was sie erwarten. Sie vermissen
Elemente, die sie aus der modernen Sportwelt mitbekommen. Was erwarten diese Schüler genau? Sie wollen
die neuen Freizeit- und Erlebnismöglichkeiten, die es
auf der Straße gibt, kennen lernen; das würden sie gerne
auch in der Schule vermittelt bekommen. Ein anderer
Punkt, über den sich beklagt wird, sind die Leistungsanforderungen. Es ist richtig, Herr Kollege Parr, dass herausgekommen ist, dass die Schüler den Sportunterricht
als einen Ort ansehen, wo sie sich beweisen können, wo
sie etwas leisten können, wo sie gefordert werden wollen. Das leistet schlechter Sportunterricht teilweise nicht.
Das Problem ist nicht, dass hier Kuschelpädagogik
betrieben wird.
({1})
Darum geht es nicht, sondern es geht um falsche Leistungsanforderungen. Es stört die Schüler, wenn man an
alle den gleichen Maßstab legt, obwohl sie höchst unterschiedlich sind, wenn man sich formaler Messmethoden
bedient, wenn man sie in althergebrachter Art und Weise
auf die immer gleiche Art und Weise Runden laufen und
immer nur dieselben alten Sportarten betreiben lässt.
({2})
Hier liegt das Problem. Ein solcher Unterricht ist nicht
wirklich interessant für sie.
Ich komme nun zum Antrag der FDP. Hierzu wurde
schon einiges Kritisches gesagt. Aus meiner Sicht ist
dieser Antrag nicht Fisch und nicht Fleisch. Er hat extrem zentralistische Züge und ist sehr staatsfixiert - ganz
im Gegensatz zu dem, was Sie sonst immer fordern. Sie
erwarten vom Bund, dass er alles richtet.
({3})
- Nein, Sie müssen einmal Ihren eigenen Antrag ernst
nehmen.
({4})
Es ist absurd, welche Forderungen Sie darin an die Bundesregierung stellen. Das geht ja bis hin zur Aufforderung, flächendeckend für eine angemessene SportinfraWinfried Hermann
struktur zu sorgen. Das ist aber nicht Aufgabe der
Bundesregierung.
Was ist zu tun? Ich glaube, wir müssen das Sportkonzept durch Einbeziehung moderner Sportarten und
Schaffung vielfältiger Bewegungs-, aber auch Auswahlmöglichkeiten weiterentwickeln. Auf gar keinen Fall
- da kann ich dem Kollegen Gerster voll und ganz zustimmen - kann die richtige Antwort die Rückkehr zu alten Konzepten sein. Gerade die Sportartenpädagogik ist
in den Unterrichtsplänen längst überholt. In allen Bundesländern geht man eher von modernen Bewegungsfeldansätzen aus, die Sie in Ihrem Antrag beschimpfen.
Genau das, was Fortschritt bedeutet und was die Schüler
anerkennen, wollen Sie zugunsten der alten Sportarten
wieder abschaffen. Das ist beschränkt; es ist kein Fortschritt und bringt uns nicht weiter. Es ist, lieber Kollege,
leider keine Wende im Sportunterricht.
Eine Wende ist übrigens auch gar nicht nötig. Wir
brauchen eine Weiterentwicklung, einen Sprung nach
vorne. Was Sie vorschlagen, ist jedoch eine Wende rückwärts, jedenfalls in Teilbereichen. Sie erwähnen auch
den Gesundheitsaspekt; das ist gut. Aber in anderen Bereichen bedeuten Ihre Forderungen keinen Fortschritt.
Ich finde, Ihr Antrag ist kein besonders intelligenter Anstoß für eine Debatte über einen modernen Sportunterricht.
Ich bedanke mich.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/392 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Kornelia Möller, Katrin Kunert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Übertragung der im Jahr 2005 nicht genutzten
Mittel der Arbeitsmarktpolitik ins Jahr 2006
- Drucksache 16/546 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Sabine Zimmermann von der Fraktion Die
Linke. Bitte schön, Frau Zimmermann, Sie haben das
Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Riegert, wie
soll es mir denn gehen: Ich spreche jetzt um 22.01 Uhr
zum Thema Arbeitslosigkeit.
({0})
Da sehen Sie, welchen Stellenwert dieses Thema in diesem Hause hat.
({1})
- Nein, wir verzichten eben nicht, weil uns das Thema
Arbeitslosigkeit am Herzen liegt; Ihnen offenbar nicht.
({2})
In ihrer Koalitionsvereinbarung haben die Regierungsparteien die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit eigentlich zu ihrer zentralen Aufgabe erklärt.
Zu Recht, sagen wir; denn 5 Millionen Menschen sind
ohne Arbeit, von der stillen Reserve will ich überhaupt
nicht reden. Das ist ein gesellschaftlicher und sozialer
Skandal in diesem Land.
({3})
Vergessen wir nicht: 3 Millionen Arbeitslose leben mit
Hartz IV und damit unterhalb der offiziellen Armutsgrenze.
An dieser Realität wird sich so lange nichts ändern,
wie bei den Regierungsparteien der Irrglaube vorherrscht, mit Arbeitsmarktpolitik allein ließe sich die tatsächliche Massenarbeitslosigkeit wirksam bekämpfen.
({4})
Solange in der Wirtschaftspolitik nicht umgesteuert und
Beschäftigung nicht gezielt durch mehr öffentliche Investitionen und Stärkung der Binnenkaufkraft gefördert
wird, wird sich an dem Ausmaß der Arbeitslosigkeit in
diesem Lande wenig ändern.
({5})
So ist es arbeitsmarktpolitisch auch ein Irrweg, die Wochen- und Lebensarbeitszeit in dieser Lage verlängern zu
wollen.
Wir unterstützen das Prinzip „Fördern und Fordern“ in der Arbeitsmarktpolitik grundsätzlich. In der
Wirklichkeit wird dieses Prinzip von der Bundesregierung jedoch auf den Kopf gestellt. Mit verschärften Kontrollen, Zumutbarkeitsregelungen und Leistungskürzungen werden Arbeitslose zunehmend unter Druck gesetzt,
obwohl es in diesem Land keine zu vermittelnden Arbeitsplätze gibt. Darauf haben Sie keine Antwort.
({6})
Das Prinzip „Fördern“ bleibt wie schon bei der vorhergehenden Regierung voll auf der Strecke.
Seit Jahren haben wir mit dem Problem zu kämpfen,
dass die Ausgaben für die aktive Arbeitsförderung
gekürzt werden. Wie ist es mit dem Ziel, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, in Übereinstimmung zu bringen, dass
die Ausgaben für die aktive Arbeitsförderung in den
letzten vier Jahren von über 22 Milliarden Euro auf 14
Milliarden Euro im letzten Jahr gekürzt wurden, die Zahl
der Langzeitarbeitslosen aber im gleichen Zeitraum auf
1,5 Millionen gestiegen ist? Wir haben den Eindruck,
dass die aktive Arbeitsmarktpolitik inzwischen vom
Rotstift ersetzt wird. Was wir mit unserem vorliegenden
Antrag fordern, ist nicht weniger, als dass die Mittel, die
für eine aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung stehen, auch ihrem eigentlichen Zwecke zugute kommen.
({7})
- Ja, das machen wir mal.
Wir haben es mit dem Skandal zu tun, dass im letzten
Jahr nur 57 Prozent des Eingliederungstitels im Rechtskreis SGB II abgerufen worden sind. In einzelnen Ländern, wie zum Beispiel bei Ihnen in Baden-Württemberg,
({8})
ist jeder zweite Euro nicht ausgegeben worden, obwohl
es auch in Ihrem Land nicht wenige Arbeitslose gibt.
Es sind also 2,8 Milliarden Euro im Kampf gegen die
Arbeitslosigkeit verloren gegangen. Wir wollen, dass der
gesetzlich mögliche Teil von etwa 1 Milliarde Euro ins
neue Jahr übernommen wird.
({9})
Bis jetzt unternimmt die Bundesregierung keine Anstalten, diese Mittel zu übertragen. Es mag sein, dass
dieser vierstellige Millionenbetrag die Begehrlichkeiten
der Regierung zum Stopfen des Haushaltsloches geweckt hat. Aber wir sind der Meinung, dass man die
Haushaltssanierung nicht auf dem Rücken der Arbeitslosen austragen darf.
({10})
Ich meine, dass Sie, meine Damen und Herren von
der Union und von der SPD, heute Farbe bekennen können. Halten Sie an Ihrem alten Kurs fest, wäre es von Ihnen ehrlicher, zu sagen, dass Sie den Haushalt auf Kosten der Arbeitslosen sanieren wollen. Oder Sie meinen
es ernst mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und
lassen Ihren Worten endlich Taten folgen.
({11})
Dann können Sie dem vorliegenden Antrag eigentlich
nur zustimmen und 1 Milliarde Euro der Förderung der
Arbeitslosen zugute kommen lassen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Die Reden der Kollegen Wolfgang Meckelburg,
CDU/CSU-Fraktion, Andrea Nahles, SPD-Fraktion,
Dirk Niebel, FDP-Fraktion, und Markus Kurth,
Bündnis 90/Die Grünen, nehmen wir zu Protokoll.1)
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/546 mit dem Titel
„Übertragung der im Jahr 2005 nicht genutzten Mittel
der Arbeitsmarktpolitik ins Jahr 2006“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen
bei Zustimmung der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie den Zusatzpunkt 4 auf:
14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke
Stokar von Neuforn, Grietje Bettin, Volker Beck
({1}) und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Bürgerfreundliche Kostenregelung für das
Informationsfreiheitsgesetz
- Drucksache 16/580 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Der Informationsfreiheit durch transparente
und niedrige Gebühren zum Durchbruch verhelfen
- Drucksache 16/659 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Alle Reden sollen zu Protokoll genommen werden.
Das sind die Reden der Kollegen Beatrix Philipp, CDU/
CSU-Fraktion, Dr. Michael Bürsch, SPD-Fraktion,
Gisela Piltz, FDP-Fraktion, Petra Pau, Die Linke, und
Silke Stokar von Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 16/580 und 16/659 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 17. Februar 2006,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.