Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich.
Vor Eintritt in unsere Tagesordnung habe ich einige
wenige Mitteilungen zu machen. Unser Vizepräsident
Dr. Wolfgang Thierse hat am 22. Oktober seinen
65. Geburtstag begangen. Dazu möchte ich ihm im Namen des Hauses unsere herzlichen Glückwünsche übermitteln;
({0})
wir werden das auch noch in angemessener Weise würdigen. Der Kollege Joachim Günther beging am gleichen Tag seinen 60. Geburtstag, die Kollegin Rita
Pawelski am 29. Oktober. Im Namen des Hauses Ihnen
allen alle guten Wünsche für das nächste Jahr und die
kommenden Lebensjahre!
({1})
Die Kollegen Jörg Rohde und Martin Zeil haben am
1. November auf ihre Mitgliedschaften im Deutschen
Bundestag verzichtet. Als Nachfolger begrüße ich herzlich die neuen Kollegen Dr. Daniel Volk und Dr. Erwin
Lotter.
({2})
Herzlich willkommen und auf gute Zusammenarbeit!
Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf:
Eidesleistung der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Der Herr Bundespräsident hat mir mit Schreiben vom
27. Oktober 2008 Folgendes mitgeteilt:
Gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes für
die Bundesrepublik Deutschland habe ich heute auf
Vorschlag der Frau Bundeskanzlerin den Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Herrn Horst Seehofer, aus seinem
Amt als Bundesminister entlassen.
In einem weiteren Schreiben vom 31. Oktober 2008
hat mir der Herr Bundespräsident mitgeteilt:
Gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes für
die Bundesrepublik Deutschland
- gleiche Fundstelle ({3})
habe ich heute auf Vorschlag der Frau Bundeskanzlerin Frau Ilse Aigner zur Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ernannt.
Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein
Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56
vorgesehenen Eid.
Frau Bundesministerin Aigner, ich darf Sie zur Eidesleistung zu mir bitten.
({4})
Ich darf Sie, Frau Bundesministerin, bitten, den im
Grundgesetz vorgesehen Eid zu leisten.
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde, so wahr mir Gott helfe.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die neue Bundesministerin hat den nach dem Grundgesetz vorgeschriebenen Eid geleistet. Ich darf ihr in Ergänzung der gerade
stattgefundenen eindrucksvollen persönlichen Gratulationskur nun auch die geballten guten Wünsche und die
Gratulation des ganzen Hohen Hauses übermitteln. IhRedetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
nen, verehrte Frau Aigner, wünschen wir für die Übernahme des neuen Amtes Freude, Erfolg und Gottes Segen.
({0})
Ich möchte gleichzeitig dem ausgeschiedenen Bundesminister Horst Seehofer für seine Tätigkeit als Mitglied der Bundesregierung herzlich danken und auch
ihm für die neue Aufgabe alles Gute wünschen. Wir werden ihn ja ganz sicher gelegentlich auf der anderen Seite,
der Bundesratsbank, in neuer Funktion erleben und dann
Gelegenheit haben, die einen oder anderen guten Wünsche oder Hinweise vorzutragen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 2:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der
gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen
und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags
sowie der Resolutionen 1368 ({1}) und 1373
({2}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
- Drucksache 16/10720 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
sehe, dass dazu Einvernehmen besteht. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst
dem Bundesminister des Auswärtigen, Frank-Walter
Steinmeier, das Wort.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach den Anschlägen vom 11. September 2001
haben alle Fraktionen hier im Deutschen Bundestag gesagt - wir erinnern uns -: Der Kampf gegen den Terror,
der Kampf gegen al-Qaida wird wohl einen langen
Atem brauchen. Auch wenn es in Europa und den USA
von heute aus gesehen seit mehreren Jahren keinen Anschlag der al-Qaida mehr gegeben hat und Afghanistan
heute nicht mehr die Brutstätte und das Trainingszentrum für die al-Qaida-Terroristen ist, bleibt es dennoch
dabei: Die Gefahr ist in der Tat nicht gebannt. Sie hat
sich aber verändert.
Darum müssen wir diese Mandate, durch die der Rahmen für unser militärisches Engagement in Afghanistan
gegeben wird, auch an veränderte Situationen und neue
Herausforderungen anpassen. Das entspricht dem, was
viele von Ihnen gefordert haben, nämlich kein simples
„Weiter so!“. Das gilt auch für das ISAF-Mandat und
auch für das OEF-Mandat, meine Damen und Herren.
({0})
Es hat sich in Afghanistan in der Tat die Erkenntnis
durchgesetzt - das haben wir alle hier in vielen Debatten
miteinander ausgesprochen -, dass der Kampf gegen den
Terror nicht allein mit militärischen Mitteln zu gewinnen
ist und dass wir mehr für den Wiederaufbau von Institutionen und für den Wiederaufbau der zivilen Infrastruktur tun müssen. Darum ist die Zahl der Soldaten für
die ISAF-Mission, die neben der Gewährleistung von
Sicherheit eben auch den zivil-militärischen Aufbau des
Landes sicherstellt, in den letzten Jahren von 10 000 auf
50 000 angewachsen, während sich in der gleichen Zeit
die Zahl der bei OEF eingesetzten Soldaten von 20 000
auf etwa 10 000 halbiert hat.
Auch im Norden Afghanistans spiegelt der Einsatz
unserer Bundeswehr durchaus diese Entwicklung wider.
Auch wir haben in der Tat die Zahl der Soldaten unter
ISAF erhöht, auch, um den militärischen Wiederaufbau
abzusichern, auch, um mit den zusätzlich eingesetzten
Soldatinnen und Soldaten Polizeiausbildung und vor allen Dingen Armeeausbildung zu betreiben, damit die
Regierung dieses Landes nach und nach mehr in die
Lage versetzt wird, für Sicherheit und Ordnung im eigenen Land zu arbeiten. Dafür sind unsere Soldatinnen und
Soldaten in Afghanistan. Das ist - der Überzeugung bin
ich - ein weiterhin sinnvoller und notwendiger Einsatz.
({1})
Gleichwohl - auch das gehört dazu - müssen wir uns
mit der Veränderung der Lage in der Region auch stärker
um Pakistan kümmern. Sie wissen, dass ein Teil der alQaida, die früher in Afghanistan tätig und präsent war,
nach Pakistan ausgewichen ist und dort teilweise unkontrolliert agieren kann. Deshalb muss es uns gelingen, Pakistan zu stabilisieren. Das kann uns nur gelingen, wenn
wir mit der Regierung in Islamabad und dem neu gewählten Präsidenten zusammenarbeiten. Ich füge auch
hinzu: Keine Hilfe sind die grenzüberschreitenden Luftschläge. Das trägt nicht zur Stabilisierung dieser Regierung bei, wie ich jüngst bei meinem Besuch in Pakistan
erfahren konnte.
({2})
Konkrete Politik hilft da sehr viel mehr. Darum bemühen
wir uns durch Gespräche mit der Regierung in Pakistan
oder wie zuletzt auf der Reise nach Pakistan und in die
Golfstaaten.
Worum geht es nämlich? Neben der Bekämpfung von
Terrorismus geht es darum, Pakistan insgesamt zu stabilisieren und dieses Land und seine Regierung fähig zu
halten, Terrorismus im eigenen Land zu bekämpfen. DaBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
rum beteiligen wir uns mit anderen an einer internationalen Pakistan-Freundesgruppe. Wir treffen uns bereits
am 17. November in Abu Dhabi. Daran mögen Sie erkennen, warum es sinnvoll ist, das Rettungsseil, das wir
Pakistan jetzt mit der möglichen Bereitstellung von
IWF-Krediten hingehalten haben, an möglichst vielen
Stellen auf der Erde zu verankern. Dafür brauchen wir
die Golfstaaten. Ich bin jedenfalls froh, festzustellen,
dass in Saudi-Arabien und in den Vereinigten Arabischen Emiraten offensichtlich Bereitschaft besteht, Pakistan im Konzert mit anderen zu unterstützen.
Was bedeuten die Veränderungen, von denen ich spreche, insgesamt für die deutsche Beteiligung am OEFMandat? Wir ziehen jetzt die Konsequenzen daraus,
dass es seit mehreren Jahren keine deutschen OEF-Einsätze mehr in Afghanistan gegeben hat. Wir haben deshalb die für den Afghanistan-Einsatz vorgesehenen Spezialkräfte aus dem OEF-Mandat herausgenommen. In
Zukunft werden wir uns in Afghanistan militärisch nur
noch im Rahmen von ISAF engagieren.
Das ist gleichzeitig der Grund, weshalb wir die Personalobergrenze von 1 400 auf zukünftig 800 Soldaten
reduzieren. Wir werden damit weiterhin an der Mission
teilnehmen können, die im Mittelmeer bzw. am Horn
von Afrika operiert, und da die Bewegungsfreiheit von
Terroristen und ihren Unterstützern auch weiterhin nachhaltig einschränken können. Das beinhaltet noch nicht
- um auch das vorweg zu sagen - den Kampf gegen
Piraterie in der Region. Dazu wird die Bundesregierung
ein gesondertes Mandat vorlegen, das die Beteiligung
Deutschlands an einer geplanten EU-Mission regeln
wird.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, das OEFMandat ist nur ein Faktor in unserer vielfältigen Arbeit
für Sicherheit und Stabilität in Afghanistan. Ich weiß,
dass nach der Rechtsgrundlage gefragt wird. Debattiert
worden ist darüber auch in den Fraktionen. Ich will deshalb noch einmal darauf hinweisen: Dieser Einsatz ist
nach wie vor durch das Recht auf Selbstverteidigung
durch Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen gedeckt. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat das
mehrfach bekräftigt und diesen Einsatz, wie Sie wissen,
auch mehrfach positiv gewürdigt.
Alles in allem ist das Grund genug, um Sie als Mitglieder des Deutschen Bundestages um eine breite Zustimmung zu einer Verlängerung des OEF-Mandates zu
bitten. Das wäre nicht nur ein politisches Signal, dass
wir uns aus der Solidarität der internationalen Staatengemeinschaft nicht verabschieden; es wäre vor allen Dingen auch ein starkes Zeichen für unsere Soldatinnen und
Soldaten, die bei ihrem Einsatz für unsere Sicherheit
Leib und Leben riskieren. Wir schulden unseren Soldaten dafür nicht nur Dank; wir schulden ihnen dafür vor
allen Dingen unsere volle Unterstützung.
({3})
Ich appelliere deshalb an das Hohe Haus: Bitte geben Sie
den Soldatinnen und Soldaten die notwendige politische
Rückendeckung!
Ganz herzlichen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Stinner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Fraktion wird dem Mandatsantrag der
Bundesregierung zustimmen. Aber diese Zustimmung
ist mit vielen Fragenzeichen und vielen Forderungen unsererseits an die Bundesregierung verbunden. Das jetzige Mandat unterscheidet sich wesentlich von dem vorherigen Mandat, und zwar vor allem deshalb, weil
diesmal zum ersten Mal die Unterstützung der OEF in
Afghanistan nicht einbezogen ist. Das heißt, dass die
100 KSK-Kräfte nicht mehr mandatiert werden. Diese
Änderung des Mandats ist eindeutig parteipolitisch motiviert. Herr Außenminister, das ist die weiße Salbe, die
Sie auf die Wunden Ihrer SPD-Fraktion auftragen; denn
in der SPD-Fraktion ist seit jeher die Diskussion über
das „gute“ ISAF-Mandat und das „schlechte“ OEF-Mandat im Gange. Das möchte man abmildern, bzw. diesem
möchte man ausweichen, indem man diesmal das Mandat entsprechend ändert.
Es erscheint uns allerdings, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD-Fraktion, als ob Sie die Tatsache
verbergen möchten, dass Spezialkräfte in Afghanistan
noch eingesetzt werden. Deswegen wiederhole ich ganz
deutlich, was wir in einem Entschließungsantrag zur
Verlängerung des ISAF-Mandats vor einigen Wochen
gesagt haben: Selbstverständlich ist es auch in Zukunft
möglich, KSK-Kräfte in Afghanistan einzusetzen. Es obliegt allein und ausschließlich der militärischen Führung,
die Kräfte einzusetzen, die sie für notwendig hält, um
das Mandat zu erfüllen.
({0})
Aufgabe des Parlamentes, unsere Aufgabe ist, dafür
zu sorgen, dass die eingesetzten Soldaten richtig ausgebildet und vor allem richtig ausgerüstet sind.
({1})
Dazu gibt es gerade im Hinblick auf Afghanistan eine
ganze Reihe von Fragen. Unsere Soldaten in Afghanistan sind nicht nur dazu da, Sicherheit in Afghanistan herzustellen. Sie dienen auch dazu, die Sicherheit in
Deutschland zu erhalten und zu fördern. Auch das ist ihr
Auftrag in Afghanistan. Wir haben eine Kleine Anfrage
zur Ausrüstung der Soldaten in Afghanistan an die
Bundesregierung gestellt. Interessanterweise - oder frevelhafterweise - sind die Antworten klassifiziert worden. Das heißt, sie sind vertraulich gegeben worden, sodass mit ihnen politisch nicht gearbeitet werden kann.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, das
wirft ein schlechtes Licht auf das, was Sie in Afghanistan tun. Natürlich wird dadurch das Vertrauen der Bevölkerung und auch der Soldaten, dass wir das Richtige tun,
nicht gerade gefördert. Ich bitte Sie herzlich, diese Ihre
Entscheidung nachhaltig zu überdenken.
({2})
Ich verhehle nicht, dass die völkerrechtliche Grundlage dieses Mandates auch in unserer Fraktion wieder zu
umfangreichen Diskussionen geführt hat. Selbstverständlich ist es richtig, die Frage zu stellen, ob die Begründung noch Bestand hat. Wir müssen darüber diskutieren, ob das Selbstverteidigungsrecht und der Angriff
nach Art. 5 des NATO-Vertrages noch heute, sieben
Jahre später, Grundlage sein können. Für uns gilt: Ad infinitum kann diese Begründung nicht dafür herhalten,
dieses Mandat fortzuführen. Wir müssen darüber gemeinsam nachdenken.
Kern dieses neuen Mandats ist also der Marineeinsatz
am Horn von Afrika. Es ist ohne jeden Zweifel in unserem deutschen Interesse, dass die Seewege am Horn von
Afrika sicherer werden. Wir als größte Exportnation dieser Welt haben ein vehementes eigenes, nationales Interesse daran, dass diese Wege sicher sind. Deshalb ist der
Einsatz deutscher Soldaten dort sinnvoll und richtig.
({3})
Was machen aber nun unsere Soldaten am Horn von
Afrika? Genauso wichtig ist die Frage: Stimmen eigentlich die Regeln, unter denen sie arbeiten, mit ihrem Auftrag heute noch überein? Im Antrag zur Erteilung des
Mandats steht wörtlich, es sei Aufgabe, „Führungs- und
Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen zu nehmen und
vor Gericht zu stellen …“. Wie können aber Soldaten
das machen, wenn sie zum Beispiel ein Schiff gegen den
Willen des Kapitäns nicht betreten dürfen? Ganz zu
schweigen von der Anwendung militärischer Gewalt,
wenn es sich nicht um eng definierte Nothilfe handelt.
Wie können eigentlich deutsche Soldaten Führungs- und
Ausbildungsstrukturen ausschalten, wenn sie militärisch
nur im Rahmen eng begrenzter Nothilfe vorgehen können? Das sind offene Fragen,
({4})
denen wir uns stellen müssen. Das sind nicht Fragen des
Mandats, meine Damen und Herren von der Regierung,
das sind Fragen, die die Bundesregierung beantworten
muss. Es ist Ihre Aufgabe, für unsere Soldaten eindeutige Regeln festzulegen, damit sie den Auftrag, den wir
ihnen hier geben, wirklich erfüllen können; denn wenn
wir unsere Soldaten nicht mit einem klaren Auftrag und
klaren Einsatzregeln versehen, bringen wir sie, wie geschehen - das erfahren wir alle, wenn wir in Einsatzgebieten sind -, in eine unmögliche, in eine ungünstige
Situation. Das dürfen wir unseren Soldaten nicht zumuten. Genauso schlimm ist: Wir machen uns leider häufig
vor aller Welt lächerlich.
Das gilt auch für das Problem der Abgrenzung zwischen Terrorismus und Piraterie. Die Bundesregierung hat bis dato immer wieder gesagt, das könne man
klar voneinander abgrenzen. Ich sage Ihnen: Die deutsche Marine ist schon etwas klüger. Das Flottenkommando der deutschen Marine schreibt nämlich in einem
Bericht, dass der grenzüberschreitende internationale
Terrorismus, der von Piraterie und organisierter Kriminalität häufig nicht zu trennen sei, ebenfalls den freien
Seeverkehr zum illegalen Transport von Waffen und Personen nutze. Hier ist eindeutig festgehalten, was unsere
Partnernationen seit Jahren betonen. Selbstverständlich
ist gerade am Horn von Afrika eine eindeutige Trennung
zwischen Piraterie und Terrorismus nicht möglich. Unsere Partnernationen verfahren entsprechend.
({5})
Das heißt, sie gehen schon heute im Rahmen des OEFMandats gegen Piraterie vor, wo es möglich und geboten
ist.
Nur unsere Bundesregierung verstrickt sich hier in eine
Debatte, die mittlerweile kein Mensch mehr richtig nachvollziehen und verstehen kann. Die Regierungsparteien
sind in dieser Frage heillos zerstritten. Wir bekommen auf
unsere Anfragen völlig unterschiedliche Mitteilungen
vom Außenministerium und vom Verteidigungsministerium. So bestätigt zum Beispiel das Auswärtige Amt auf
eine schriftliche Anfrage von uns, dass die Bundeswehr
selbstverständlich Polizeiaufgaben im Ausland übernehmen dürfe und es selbstverständlich weder völkerrechtlich noch verfassungsrechtlich ein Problem sei, dass die
Bundeswehr gegen Piraten vorgehe. Das ist die Aussage
des Auswärtigen Amts. Das Verteidigungsministerium
behauptet das Gegenteil. Herr Kossendey geht sogar so
weit, die Nothilfe auf einen ganz engen Bereich zu begrenzen, nämlich auf den Moment der Piraterie und der
Gefangennahme. Nach Aussage des Verteidigungsministeriums besteht Nothilfe dann nicht mehr, wenn die Piraten ein Schiff gekapert haben und mit Geiseln abgedampft sind. Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Nothilfe besteht so lange, wie die Not für die betroffenen
Menschen anhält. Das ist, glaube ich, eine eindeutige
Definition.
({6})
Die Regierungspraxis steht im klaren Widerspruch zum
Seerechtsübereinkommen, das wir, der Deutsche Bundestag, im Jahr 1994 ratifiziert haben. Darin ist das eindeutig geregelt. Ich kann auch hierzu nur sagen: Unsere
Soldaten schütteln den Kopf darüber und unsere Verbündeten wundern sich ein weiteres Mal.
Dieses Problem setzt sich leider fort. Wir haben im
Rahmen der NATO einen Verband - er war sowieso auf
dem Wege zum Horn von Afrika -, der jetzt auf Wunsch
der Vereinten Nationen die Aufgabe übernehmen soll,
Schiffe des World Food Programme am Horn von Afrika
zu schützen.
Sehr geehrte Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, die
deutsche Bundesregierung, Ihre Bundesregierung, verhindert, dass deutsche Soldaten im Auftrag der Vereinten
Nationen Lebensmittellieferungen schützen, die die
Ärmsten dieser Welt erreichen sollen. Das ist deutsche
Außen- und Sicherheitspolitik des Jahres 2008. Das
kann so nicht weitergehen.
({7})
Es geht aber weiter. Jetzt ist die Rede davon, eine
ESVP-Mission zur Bekämpfung der Piraterie zu unternehmen, wahrscheinlich ab Dezember. Es ist uns - übrigens, wie ich erkannt habe, auch vielen Kolleginnen und
Kollegen der SPD - beim besten Willen nicht klarzumachen, wieso der Bezug auf Art. 24 des Grundgesetzes für
die ESVP-Mission gilt und möglich ist, aber für die
NATO-Mission nicht. Hier sind, glaube ich, Debatten im
Gange, die völlig widersprüchlich sind. Deshalb sagen
wir: Wir müssen Klarheit schaffen in den Regeln und in
den Abgrenzungen zwischen der OEF-Mission und der
ESVP-Mission. Hier gibt es erhebliche Schnittstellen.
Die Bundesregierung erweckt den Eindruck, als wolle
sie unter allen Umständen den Anschein verhindern,
dass deutsche Soldaten schließlich auch einmal militärische Mittel einsetzen müssen. Deshalb agiert sie nach
unserem Dafürhalten hier in einer unklaren Art und
Weise. Mit diesem Verhalten lässt die deutsche Bundesregierung viele Soldaten im Stich, und wir machen uns,
wie gesagt, international unglaubwürdig. Dies muss geändert werden.
Sie sehen also: Wir haben uns die Entscheidung zu
diesem Mandat weiß Gott nicht leichtgemacht. Wir haben weiterhin viele Fragen. Wir stimmen trotzdem zu,
weil es als politisch Verantwortliche im Deutschen Bundestag unsere Aufgabe ist, die grundsätzlichen Weichenstellungen im Hinblick auf das, was zu tun ist, hier
vorzunehmen. Aber wir verlangen von der Bundesregierung, dass sie ihre Anstrengungen hinsichtlich der Art
und Weise der Ausführung dieses Mandates wesentlich
verbessert, damit Sicherheit und Vertrauen herrschen,
nicht nur bei unseren Soldaten, sondern insbesondere
auch bei denen, für die wir diese Aufgabe weltweit erfüllen.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort Bundesminister Franz Josef Jung.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der 11. September 2001 markiert eine sicherheitspolitische Zäsur. Auf diesen schrecklichen Anschlag hat die internationale Gemeinschaft geschlossen
und einmütig reagiert. Ich denke, es ist eine wirkungsvolle Antwort im Kampf gegen den internationalen Terrorismus gewesen.
Bereits einen Tag nach den Anschlägen erklärte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit Resolution 1368
die Anschläge zur Bedrohung für den internationalen
Frieden und die internationale Sicherheit, und der Nordatlantikrat hat den Bündnisfall ausgerufen. Deshalb war
es folgerichtig, dass der Deutsche Bundestag erstmals
am 16. November 2001 dem Einsatz deutscher Streitkräfte im Rahmen der Operation Enduring Freedom zugestimmt hat. An dieser Grundlage und auch an der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus für unser
Land hat sich bis heute nichts geändert. Deshalb ist es
sinnvoll, dass wir diesen Auftrag zur Bekämpfung der
Gefahren für unser Land an der Quelle fortsetzen.
({0})
Seit Ende 2001 erbringen wir unseren Beitrag sowohl
in Afghanistan als auch im Mittelmeer sowie im Seeraum
rund um das Horn von Afrika. Es liegt im deutschen Interesse, den Terrorismus und dessen Verbindungslinien,
seine Kommunikation und seinen Nachschub an der
Quelle zu bekämpfen. Wir sind am Horn von Afrika mit
einem Marineverband gemeinsam mit Koalitionskräften
aus Australien, Frankreich, Großbritannien und Pakistan
im Einsatz. Die deutschen Einheiten schützen in der
Taskforce 150 die Seeverbindungslinien in einem Operationsgebiet, das vom Roten Meer über das Arabische
Meer und den Golf von Oman bis hin zur Straße von
Hormuz reicht.
Der Auftrag beinhaltet Identifikation, Überwachung
und Aufklärung. Der Seeverkehr im Einsatzgebiet wird
umfassend beobachtet und dokumentiert. Ziel ist es, den
Transport von Personen und Gütern, Waffen und Munition, die der Unterstützung des internationalen Terrorismus dienen, zu unterbinden.
Sehr geehrter Kollege Stinner, leider geht das, was
Sie in dem Zusammenhang zum Thema Pirateriebekämpfung gesagt haben, an der Realität vorbei; ich sage:
an unserer Verfassung vorbei. Sie müssen sich schon
dazu durchringen, einen Beitrag zur verfassungsrechtlichen Klarstellung zu leisten, wenn Sie das Ziel erreichen
wollen, das Sie hier ansprechen. Ich bin nicht bereit, die
Verfassung zu brechen. Wir sollten eine Klarstellung
vornehmen, um die Chance zu haben, Piraterie in dem
Umfang zu bekämpfen, den Sie eben eingefordert haben.
({1})
Es ist - ich sage es noch einmal - ein Einsatz zum
Kampf gegen den Terrorismus, nicht gegen die Piraterie.
Im Hinblick auf jene Bedrohung wird zurzeit die ESVPMission vorbereitet. Wir werden in dem Zusammenhang
unseren Beitrag dazu leisten, dass auch dieser Gefahr
wirkungsvoll entgegengetreten wird. Neben der Nothilfe
kann man selbstverständlich auch prüfen, ob in Zukunft
im Rahmen des OEF-Mandats eine Unterstellung unter
das ESVP-Mandat möglich ist. Aber das bedarf dann
auch der Zustimmung des Deutschen Bundestages.
Neben unseren Fregatten stellen wir mit unseren Seefernaufklärungsflugzeugen Orion fallweise auch Fähigkeiten zur Aufklärung aus der Luft zur Verfügung. Die
Bundeswehr hält zudem Kräfte für luftgestützte medizinische Notfallversorgung durchgehend in Bereitschaft.
Im Januar werden wir, wenn der Deutsche Bundestag
diesem Mandat zustimmt, zum wiederholten Male für
drei Monate die Führung dieser Taskforce übernehmen.
Neben dem Einsatz am Horn von Afrika gehört die
NATO-Operation Active Endeavour im Mittelmeer zu
diesem Mandat. In wechselnder Stärke und Formation
leisten wir hier ebenfalls unseren Beitrag im Kampf gegen den internationalen Terrorismus.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lieber Kollege Stinner, ich finde, die Bilanz unseres Einsatzes kann
sich sehen lassen. Wir haben mit unseren Kräften über
14 500 Abfragen von Schiffen, über 340 Stopps, detaillierte Befragungen von Schiffsbesatzungen, 70 Durchsuchungen, also Boardings, und über 70 Geleitaufträge für
besonders schützenswerte Schiffe durchgeführt sowie
zusätzlich diverse Hilfeleistungen für Schiffe in Not erbracht. Ich bin unseren Soldatinnen und Soldaten sehr
dankbar, die einen wirkungsvollen Einsatz leisten - im
Interesse der Sicherheit unseres Landes und im Kampf
gegen den internationalen Terrorismus.
({2})
Wir wollen die Diskussion über dieses Mandat aus
der Zeit heraushalten, in der dieser Bundestag noch amtiert, ein neuer aber schon gewählt ist, und schlagen deshalb vor, das Mandat bis in den Dezember 2009 hinein
zu verlängern. Des Weiteren wollen wir die derzeitige
Obergrenze von 1 400 auf 800 Soldatinnen und Soldaten
zurückführen, weil dies im Hinblick auf unseren Einsatz
sachgerecht ist. Außerdem haben wir die 100 Spezialkräfte bei OEF für das Einsatzgebiet Afghanistan herausgenommen. Diese Kräfte waren in den vergangenen
Jahren eine wichtige Rückversicherung. Jedoch hat sich
der Charakter von OEF in Afghanistan mit der schrittweisen Übernahme der Verantwortung für die Sicherheit
in ganz Afghanistan durch ISAF spürbar gewandelt. Natürlich kann die knappe Ressource der Spezialkräfte weiterhin im Rahmen von ISAF eingesetzt werden, falls
dies in Afghanistan erforderlich ist.
Wir wollen in unseren Anstrengungen im Kampf gegen den Terrorismus nicht nachlassen, auch und gerade
im Interesse unserer Sicherheit. Wir stellen uns mit unseren alliierten Partnern, mit der Weltgemeinschaft nachdrücklich und entschlossen gegen diese Geißel der
Menschheit. Das ist ein wichtiger Teil unseres Beitrages,
die Welt ein Stück friedlicher und sicherer zu machen.
Deutschland wird und darf sich hier seiner Verantwortung nicht entziehen.
Ich denke, wir können insgesamt stolz und dankbar
hinsichtlich des Engagements unserer Soldatinnen und
Soldaten sein, die gut ausgebildet und gut ausgerüstet
sind und diesen Auftrag gut motiviert erfüllen. Er dient
unseren Sicherheitsinteressen, den Sicherheitsinteressen
unserer Bürgerinnen und Bürger. Ich bitte Sie deshalb
um möglichst breite Zustimmung zur Fortsetzung unseres Engagements im Rahmen der Mandate zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus, Operation Enduring Freedom und Operation Active Endeavour, in dem
einen Fall am Horn von Afrika - in diesem Mandat haben wir im Übrigen das Seegebiet klar konkretisiert, in
dem die Kräfte im Einsatz sind -, in dem anderen Fall im
Mittelmeer; denn so können wir unseren Beitrag auch in
Zukunft wirkungsvoll leisten. Ich denke, für diesen Einsatz im Interesse unserer Sicherheit haben unsere Soldatinnen und Soldaten eine breite Unterstützung dieses
Parlamentes verdient.
Recht herzlichen Dank.
({3})
Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Stinner
noch einmal das Wort.
Sehr geehrter Herr Minister! Ich bedanke mich ausdrücklich dafür, dass Sie mich direkt angesprochen haben. Das gibt mir die Möglichkeit, die Dinge noch einmal sehr deutlich darzustellen.
Erstens. Dieses Parlament hat im Jahr 1994 das Seerechtsübereinkommen ratifiziert. In diesem Seerechtsübereinkommen steht ausdrücklich, dass die Vertragsstaaten gegen Piraterie auf hoher See auf der ganzen Welt
vorgehen können - nicht müssen, aber können. Auf unsere Anfrage, ob denn Art. 25 des Grundgesetzes, der
besagt, dass völkerrechtlich verbindliche Verträge auch
für deutsches Recht bindend sind, auch für dieses Seerechtsübereinkommen gilt, hat die Bundesregierung eindeutig mit Ja geantwortet.
Zweitens. Die zweite Ausrede, die Sie, Herr Minister,
und Ihr Ministerium verwenden, ist, die Bundeswehr
dürfe angeblich im Ausland keine Polizeiaufgaben wahrnehmen. Das ist falsch, Herr Minister. Die Bundeswehr
nimmt schon gegenwärtig im Ausland in umfangreichem
Maße Polizeiaufgaben wahr. Ich erinnere an den Kosovo, wo wir nach den Umständen des Jahres 2004 die
Bundeswehr extra mit Polizeiausrüstung wie Schilden,
Schlagstöcken und Reizgas versehen haben, damit sie
polizeiähnliche Aufgaben wahrnehmen kann. Auch dieses Argument hilft also nicht.
Drittens verweise ich auf meine eben schon gemachte
Beschreibung der, wie ich finde, völlig unzuträglichen
Eingrenzung des Begriffes „Nothilfe“ durch Ihr Ministerium. Das halte ich, Herr Minister, wirklich für völlig abwegig. Diese Eingrenzung muss aufgehoben werden.
Nein, Herr Minister - ich komme zum Schluss, Herr
Präsident -, Sie und Ihre Partei wollen - das hat auch die
Ausschussberatung gezeigt - über eine Änderung des
Art. 87 unseres Grundgesetzes etwas völlig anderes, und
dafür haben Sie von Ihren Kollegen von der SPD in der
Öffentlichkeit und in den Ausschüssen die Rote Karte
bekommen. Deshalb gibt es weiterhin einen Konflikt in
der Bundesregierung, auf den ich hingewiesen haben
wollte.
Herzlichen Dank.
({0})
Herr Minister, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
Herr Kollege Stinner! Wir haben die Diskussion
schon im Ausschuss geführt. Ich will meinen Standpunkt
aber gerne noch einmal vor dem Parlament deutlich machen.
Erstens. Völkerrecht bricht nicht Verfassungsrecht.
Für mich gilt die verfassungsrechtliche Grundlage unseres Grundgesetzes; daran werde ich mich halten.
Zweitens. Wir bereiten zurzeit eine ESVP-Mission
vor, die uns im Rahmen des Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz
- da geht es um gegenseitige kollektive Sicherheit - die
Rechtsgrundlage gibt, Piraterie wirkungsvoll zu bekämpfen. Das halte ich für richtig und notwendig. Ich
hoffe, dass der Deutsche Bundestag einem derartigen
Mandat zustimmt, sodass wir einerseits im Rahmen unseres OEF-Mandates, über das wir jetzt beraten, den Terrorismus bekämpfen können und andererseits im Rahmen des zukünftigen Mandats, der ESVP-Mission,
Piraterie bekämpfen können. Das dient unserer Seesicherheit und dem freien Seehandel. Dazu wollen wir unseren Beitrag leisten.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Norman Paech, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es geschieht ja nicht sehr oft, dass wir die Regierung loben. Aber in diesem Fall ist es angebracht, da Sie aus der
Kritik die Konsequenz gezogen haben, den Antiterroreinsatz - zumindest in Afghanistan - einzustellen. Ich
will nicht darüber reden, ob Sie sich vielleicht dadurch
die Zustimmung zu einem Einsatz im Rahmen der ISAF
erkaufen wollen, der sich ohnehin nicht mehr von dem
Kampfeinsatz der OEF unterscheidet. Leider sind Sie
auf halbem Wege stehen geblieben. Sie hätten die Bundeswehr vollständig aus diesem vollkommen falschen
und auch völkerrechtswidrigen Einsatz zurückziehen
müssen.
({0})
Sie wollen uns erneut weismachen, dass alles völkerrechtlich in Ordnung ist, und verweisen dann auf das
Selbstverteidigungsrecht in Art. 51 der UN-Charta.
Das mag ja unmittelbar nach den Anschlägen am
11. September zugetroffen haben. Aber ein Krieg von
sieben Jahren gegen einen Feind, der kein Staat und
keine Regierung ist, sondern der sich über ein Netzwerk
von über 60 Staaten verteilt, hat mit dem Selbstverteidigungsrecht nach der UN-Charta nichts mehr zu tun.
({1})
Ich frage Sie: Wie lange wollen Sie noch daran festhalten? Glauben Sie, dass Sie das, was Sie in sieben Jahren
nicht geschafft haben, nämlich al-Qaida militärisch zu
besiegen, im nächsten Jahr schaffen werden? Ich sage
Ihnen: niemals.
Sie benutzen OEF als Generalermächtigung für militärische Abenteuer, die nun ihren Schwerpunkt auf See
haben sollten. Sie verweisen auf die unsichere Situation
am Horn von Afrika und die Gefahren für Handelswege,
auf denen Gas, Öl und andere lebenswichtige Rohstoffe
zu uns kommen. Natürlich ist sind diese Handelswege
für die Industrieländer von eminenter Bedeutung. Aber
die Frage ist: Rechtfertigt das eine Antiterrormission wie
die OEF?
Die Bundeswehr - Herr Jung, wenn Sie ehrlich sind,
müssen Sie das zugeben - dümpelt seit Jahren im Rahmen von OEF dort herum. Sie hat bisher noch keinen
einzigen Terroristen aufgespürt. Konsequenterweise
müsste sich die Bundeswehr von dort endlich zurückziehen. Stattdessen instrumentalisieren Sie das Piraterieproblem, um weiterhin am Horn von Afrika militärisch präsent zu sein. Dabei verfolgen Sie eine ganz gefährliche
militärische Doppelstrategie: zum einen Maßnahmen gegen die Piraten im Rahmen der EU - es gibt dazu Vorbereitungen - und zum anderen Maßnahmen gegen Terroristen im Rahmen der OEF. Ich sage Ihnen aber: Wie bei
ISAF und OEF wird auch hier wieder eine Vermischung
stattfinden. Herr Stinner, ich gebe Ihnen in diesem Punkt
vollkommen recht; ich brauche Ihre Äußerung dazu
nicht zu wiederholen. Denn wer kann schon im Ernstfall
Piraten von Terroristen unterscheiden? Wir sind gegen
eine solche Mission. Sie lösen damit weder das Problem
des Terrorismus noch das Problem der Piraterie. Sie
schicken vielmehr die Soldaten immer wieder an neue
Kriegsschauplätze. Dagegen sind wir.
({2})
Die Sicherheit am Horn von Afrika und die Bekämpfung von Piraten und Terroristen sind nur mit einer Stabilisierung der staatlichen Ordnung und mit Bekämpfung der Armut zu erreichen. Das ist nur mit politischen
Mitteln und mit ökonomischer Unterstützung möglich,
niemals militärisch. Dabei ist es gleichgültig, ob die
Truppen aus der Afrikanischen Union, der EU, der UNO
oder der NATO kommen. Selbst die Briten - das kann
man nachlesen - haben jüngst den militärischen Ansatz
und die Militarisierung des Antiterrorkampfes durch die
USA als vollkommen falsches Konzept kritisiert.
Sie machen uns immer den Vorwurf, dass wir zwar
gegen den Einsatz des Militärs seien, aber keine Alternativen hätten. Diese liegen aber auf der Hand. Schauen
Sie sich einmal die umfassenden Aktivitäten der UNO
an, die sie nach dem 11. September gegen den internationalen Terrorismus unternommen hat. Es gibt zahlreiche
Resolutionen und insgesamt zwölf Antiterrorkonventionen, in denen die Staaten zu ganz konkreten Maßnahmen
aufgerufen werden. An keiner Stelle ist vom Einsatz des
Militärs die Rede. Gestehen Sie sich endlich ein, dass die
Kriege im Irak und in Afghanistan für das Erstarken des
internationalen Terrorismus ganz wesentlich verantwortlich sind.
({3})
Um die Ursachen des Terrorismus zu bekämpfen, um
gesellschaftliche Strukturen zu schaffen, die den Menschen ein Leben ohne Armut und Gewalt, einen Weg aus
Krieg und Perspektivlosigkeit bieten, was der Nährboden des Terrorismus ist, braucht es ziviler Instrumente
und nicht des Militärs. Die Bundeswehr ist dafür ganz
und gar ungeeignet. Deswegen fordern wir Sie auf: Beenden Sie die deutsche Beteiligung an OEF! Wir werden
diesem Mandat nicht zustimmen.
({4})
Das Wort hat nun Kollege Winfried Nachtwei, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum siebten Mal haben wir im Bundestag über die Verlängerung der deutschen Beteiligung an der Operation
Enduring Freedom zu diskutieren und zu entscheiden.
Ich erinnere mich noch sehr genau: Im November 2001
war diese Entscheidung in den beiden Koalitionsfraktionen der SPD und der Grünen äußerst umstritten. Man
kann sagen, dass sich in den Jahren danach die Befürchtungen, die wir damals im November hatten, nicht bestätigt haben. Im Gegenteil: Die Dinge sind in Afghanistan
zunächst viel besser gelaufen. Bis 2005 - da waren wir
wieder in der Opposition - waren wir nach Abwägung
verschiedener Aspekte der Meinung, dass Enduring
Freedom weiterhin notwendig sei, um die zu diesem
Zeitpunkt schwache ISAF in Afghanistan stärken zu
können. Das war damals die Haltung.
Damit wir nicht aneinander vorbeireden: Der internationale Terrorismus stellt weiterhin eine Bedrohung
der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens dar
und muss weiterhin bekämpft werden.
({0})
Überwiegender Konsens ist sicher auch, dass er auf der
einen Seite nicht primär militärisch bekämpft werden
kann, dass dabei auf der anderen Seite aber auch der Einsatz militärischer Mittel notwendig sein kann.
Allerdings reicht es bei Mandatsentscheidungen ganz
und gar nicht, nur zu diesen Grundsätzen etwas zu sagen.
Entscheidungen über solche Mandate und solche Einsätze sind ja schließlich keine Bekenntnisfragen. Vielmehr muss konkret beantwortet werden, ob dieser
Einsatz weiterhin zur Gewalt- und Terroreindämmung
sicherheitspolitisch dringlich ist, ob er weiterhin legitim
und legal ist und ob er überhaupt geeignet, wirksam und
verantwortbar ist.
Dass die Bundesregierung nun für Afghanistan die
Landkomponente im Rahmen des Kommandos Spezialkräfte abgemeldet hat, ist ein richtiger Schritt. Allerdings muss man nüchternerweise hinzufügen: Dies ist
seit einigen Jahren überfällig. Im Untersuchungsausschuss, der aus dem Verteidigungsausschuss hervorging,
haben wir herausfinden müssen, dass das KSK im Rahmen von Enduring Freedom in Afghanistan seit 2002
militärisch gar nicht mehr gebraucht wurde. Danach ist
es dort nur aus symbolpolitischen Gründen gehalten
worden, im Grunde als Solidaritätsbeweis gegenüber
den USA. Gerade als Verteidigungspolitiker möchte ich
feststellen: Es ist vor allem gegenüber den Soldaten
falsch und verantwortungslos, sie aus symbolpolitischen
Gründen einzusetzen und zu missbrauchen.
({1})
Das heißt im Klartext, Herr Minister Jung und Herr
Minister Steinmeier: Da dieser Teileinsatz jetzt zu Ende
ist, muss auch endlich ein Abschlussbericht vorgelegt
werden. Das ist bisher nicht geschehen. Bisher hat dazu
der Verteidigungsausschuss den bei weitem besten Bericht vorgelegt.
Zur anderen Komponente, zum Horn von Afrika.
Seit Jahren stellen wir fest, dass der reale Einsatz mit
dem Auftrag, terroristische Kräfte an ihren Bewegungsmöglichkeiten zu hindern, nichts mehr zu tun hat. Wenn
man die Admirale fragt, was sie erkunden, dann erhält
man die Antwort, dass sie alles mögliche andere erkunden, aber nicht terroristische Bewegungen. Deshalb ist
das Mandat in diesem Bereich schlichtweg nicht ehrlich.
({2})
Es gibt andere Sicherheitsrisiken, die man klar mit einem UN-Mandat angehen muss.
Die Mandatsentscheidung, die ansteht, ist nicht nur
eine Entscheidung darüber, was die Bundesrepublik dabei macht, sondern sie ist schlichtweg auch eine politische Stellungnahme zu Enduring Freedom überhaupt. Es
wurde schon darauf hingewiesen, dass die UN-Sicherheitsratsresolution vom 12. September 2001 der völkerrechtliche Ausgangspunkt ist, in der das Recht auf
Selbstverteidigung betont wurde. Das wurde damals
vom größten Teil des Parlaments mitgetragen. Allerdings beziehen Sie sich sieben Jahre danach weiterhin
ganz allgemein auf das Selbstverteidigungsrecht. Dünner könnte die rechtliche Grundlage nicht sein; sie ist
nach unserer Auffassung eindeutig fragwürdig und nicht
mehr zu halten.
({3})
Man muss dabei immer die Konsequenzen bedenken: Es
läuft auf eine völlige Entgrenzung des Verteidigungsbegriffs und de facto auf eine Enthemmung hinaus. Im
Klartext: Operation Enduring Freedom setzt sich in der
Realität immer wieder über den völkerrechtlichen
Grundsatz territorialer Integrität hinweg. Das, was Enduring-Freedom-Kräfte in Pakistan inzwischen fast jeden
Tag machen, nämlich Verdächtige abschießen, liegt in
der Logik von Enduring Freedom; da soll man gar nicht
so überrascht sein. Das aber ist eindeutig verwerflich
und völkerrechtswidrig.
({4})
Wie sieht heute die Realität von Enduring Freedom
aus? Was sind die Wirkungen? Kollege Stinner, ich
möchte einen Punkt schnell beiseiteräumen: Sie haben
wieder das Bild vom vorigen Jahr gebracht, das Bild von
der angeblich bösen OEF und der guten ISAF. Heutzutage kann man feststellen, dass die Ausbildungskomponente bei Enduring Freedom in Afghanistan nicht mehr
enthalten ist. Das heißt, in Afghanistan ist Enduring
Freedom wieder auf den ursprünglichen Auftrag der militärischen Terrorbekämpfung reduziert worden. Seit
Jahren frage ich die Bundesregierung, wie wirksam
diese Operation insgesamt ist. Ich erhalte dazu notorisch
null Aussagen.
Die Bundesregierung ist aber nicht die einzige Auskunftsquelle; wir bemühen uns selber um entsprechende
Hinweise. Was besagen die hierbei gewonnenen Erkenntnisse?
Erstens. Zur Zielgruppe von Enduring Freedom in
Afghanistan gehören nicht nur al-Qaida als Drahtzieher
und Unterstützer, sondern ziemlich unterschiedslos alle
Aufständischen. Der Effekt davon ist eine Solidarisierung: Es werden diejenigen zusammengebracht, die man
bei einer vernünftigen Antiterrorpolitik eigentlich auseinanderbringen müsste.
Zweitens. Entsprechende Personen werden auf Verdacht liquidiert. Noch vor kurzem habe ich im ISAFHeadquarter gehört, dass der Unterschied zwischen
ISAF und OEF wesentlich ist; OEF tötet auf groben Verdacht.
Drittens. Bei OEF-Einsätzen sind überproportional
oft Zivilopfer zu beklagen. Zudem kommen OEF-Operationen immer wieder ISAF-Operationen in die Quere;
das habe ich kürzlich von Kommandeuren in Uruzgan,
Südafghanistan, gehört.
Was die Wirksamkeit angeht, fasse ich zusammen:
OEF soll zur Eindämmung von Terrorismus beitragen.
Alle Hinweise, die wir haben, deuten auf das Gegenteil
hin, nämlich darauf, dass islamistische Militanz, Gewalt
und Terror dadurch angefacht werden.
({5})
OEF steht - das sollte man nicht außer Acht lassen für den Global War on Terrorism, für den Irrglauben,
nicht nur mit Militär, sondern ausdrücklich mit Krieg
Terrorismus besiegen zu können. Aufschlussreich sind
jüngste Veröffentlichungen aus den USA, insbesondere
eine RAND-Studie mit dem Titel „How terrorist groups
end - lessons for countering Al Qa’ida“. Das Ergebnis
ist äußerst interessant. Es wurden zwischen 1968 und
2006 über 600 Terrorgruppen untersucht. Die allermeisten davon wurden aufgelöst, weil sie in den politischen
Prozess einbezogen wurden. Das zweitbeste Mittel zur
Auflösung waren polizeiliche und geheimdienstliche
Maßnahmen. Am allerwenigsten haben militärische
Maßnahmen gewirkt. Die Schlussfolgerung dieser Studie ist - gerichtet an die alte und an die neue Regierung -:
Hört auf mit dem War on Terrorism! - Die Alternativen
liegen eindeutig auf der Hand.
Ich komme zum Schluss. Ich habe alle Mandatsentscheidungen, die im Bundestag seit 1994 getroffen wurden, mitbekommen. Als alter Oppositioneller war ich
immer wieder überrascht, wie sorgfältig diese Diskussionen geführt wurden. Allerdings muss ich sagen: Die
Diskussionen der letzten Jahre über Enduring Freedom
waren Tiefpunkte der parlamentarischen Beratungen und
in Sachen Parlamentsbeteiligung. Herr Minister
Steinmeier, ich habe heute von Staatsminister Erler Antworten auf von mir gestellte Fragen zur Wirksamkeit
von Enduring Freedom usw. erhalten. Ich kann sie Ihnen
gleich einmal geben. Diese Antworten sind eine Frechheit. Ich glaube, Sie werden sich für diese Antworten
schämen. So geht das nicht weiter.
({6})
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Heute findet die Wahl eines neuen US-Präsidenten
statt, die wir wohl alle mit großen Hoffnungen begleiten.
Der Deutsche Bundestag steht gegenüber der US-Administration meiner Meinung nach in der Pflicht, ein klares
und aktives Zeichen gegen den „Krieg gegen den Terror“, für einen kooperativen Multilateralismus, für die
Rückkehr zum Völkerrecht und zur Achtung der Menschenrechte zu setzen, und zwar auch bei der Bekämpfung des Terrorismus.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Niels Annen, SPD-Fraktion.
Herr Präsident, vielen Dank. - Meine Damen und
Herren! Winni Nachtwei hat eben gesagt, dass der
Ursprung des Mandats für den Einsatz deutscher Streitkräfte im Rahmen von OEF - das dürfen wir nicht vergessen, wenn wir über dieses Mandat beraten - die Anschläge vom 11. September sind. Vielleicht ist es in der
Tat bezeichnend, dass wir heute hier darüber debattieren,
während in den USA ein neuer Präsident gewählt wird.
Der amtierende US-Präsident ist mit dem internationalen
Kampf gegen den Terrorismus verbunden und wird damit verbunden bleiben. Ich glaube, es ist nicht besonders
mutig, wenn man voraussagt, dass er nicht aufgrund weiser Entscheidungen im Kampf gegen den Terror in Erinnerung bleiben wird.
So deutlich ich sage, dass es richtig gewesen ist, dass
dieses Haus damals zugestimmt hat, so klar muss man
auch sagen, dass sich das Nebeneinander von zwei unterschiedlichen Missionen nicht ausgezahlt hat. Die Vereinten Nationen haben, nachdem der eigentliche Auftrag
in Afghanistan relativ schnell erfüllt war - Zerschlagung
der al-Qaida-Camps und Absetzung der Taliban-Regie19762
rung -, eine Grundlage für die Wiederaufbauarbeit geschaffen, die wir mit unseren Soldatinnen und Soldaten,
den Entwicklungshelfern und den anderen nach Afghanistan entsandten Menschen, mit allen, die dort arbeiten,
leisten. Wir mussten feststellen - darüber haben wir im
Deutschen Bundestag häufig diskutiert -, dass das
Nebeneinander von OEF und ISAF letztlich dazu geführt hat, dass die Legitimität unserer gemeinsamen internationalen Anstrengungen in den letzten Jahren Stück
für Stück dadurch untergraben worden ist, dass es immer
wieder, auch in den letzten Tagen und Wochen, zu unabgestimmten, unverhältnismäßigen und unkoordinierten
Aktivitäten kam, und zwar in der Regel bei Beteiligung
- das muss ich leider sagen - der amerikanischen Soldaten unter dem Mandat von Enduring Freedom.
Vor wenigen Wochen wurde uns eine Studie von
Human Rights Watch vorgelegt, die eindrucksvoll für
die einzelnen Provinzen darlegt, dass der Strategiewechsel, den wir in diesem Haus immer wieder eingefordert
haben, der allerdings schwer zu erklären ist, insofern erfolgreich war, als es so gut wie keine Todesopfer bei geplanten Luftoperationen der ISAF-Truppen gegeben hat.
Wir müssen allerdings feststellen, dass es bei Luftunterstützungsoperationen zunehmend, auch in den letzten
Tagen, zu zivilen Opfern gekommen ist, wenn amerikanische Streitkräfte in sogenannte Antiterroroperationen
verwickelt waren.
An dieser Stelle möchte ich eines deutlich sagen: Wir
haben häufig gehört, dass all das völkerrechtswidrig sei
und unsere ganze Diskussion nur für die Galerie stattfinde. Auch der Kollege Paech von der Linksfraktion hat
darauf hingewiesen. Er hat gesagt, die Regierung und die
Regierungsparteien müssten endlich begreifen, dass dieses Problem nicht mit militärischen Mitteln zu lösen ist.
Ich sage Ihnen: Das ist die tägliche Praxis dieser Koalition und dieser Regierung.
({0})
Ich empfehle Ihnen, Herr Paech, sich einmal den Antrag anzusehen. Ich kann Ihnen gerne daraus vorlesen;
ich habe ihn mitgebracht. Die Bundesregierung schreibt:
Der Kampf gegen den Terrorismus ist in erster Linie
keine militärische, sondern eine umfassende politische
Aufgabe. - Dem ist nichts hinzuzufügen.
({1})
Dass die Diskussion in diesem Hause, aber auch in der
Zivilgesellschaft und die Arbeit der vielen Nichtregierungsorganisationen, die sich vor Ort, aber auch in
Deutschland mit der Lage in Afghanistan und mit dem
Stand des Antiterrorkampfes auseinandersetzen, hier
ernst genommen werden und dass wir Konsequenzen
auch aus dem Nebeneinanderher und dem Mangel an
strategischer Abstimmung im Bündnis gezogen haben,
zeigt die Vorlage, über die der Deutsche Bundestag in
dieser Beratung zu entscheiden hat.
Ich glaube, dass es der richtige Weg ist, zu sagen: Wir
ziehen die 100 KSK-Kräfte aus dem OEF-Mandat zurück. Das ist, wenn ich das einmal sagen darf, keine
virtuelle Entscheidung. Diese Entscheidung hat einen
politischen Wert und wird von unseren Verbündeten verstanden; denn wir sind nicht die Einzigen, die sich über
diese Mängel im Alltag bei der Arbeit in Afghanistan im
Rahmen dieser Operation beklagen. Kollege Nachtwei
hat darauf hingewiesen. Wir waren gemeinsam in
Uruzgan und haben uns beispielsweise mit unseren niederländischen Kollegen unterhalten. Sie führen dort dieselbe Debatte. Deswegen bitte ich darum, dass wir auf
Folgendes hinweisen: Wir machen hier keine innenpolitischen Spielchen. Wir machen auch keine Geschäfte
- das haben Sie angedeutet, Herr Paech -, um die Zustimmung zu erleichtern. Wir arbeiten hier seit Jahren
und suchen nach Wegen, in der richtigen Art und Weise
mit dieser Verantwortung umzugehen.
({2})
Die Beteiligung an einer internationalen Koalition ist
nichts, aus dem man eben einmal aussteigt wie bei einer
Aktie, die im Wert abstürzt. Das hat mit Abstimmungsprozessen und Diskussionsprozessen zu tun. Das kann
man nicht von heute auf morgen entscheiden. Deswegen
will ich ganz klar sagen: Die völkerrechtliche Grundlage steht nicht infrage. Der Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen - auf den berufen Sie sich ja immer, Herr
Paech - hat das am 12. September 2001 festgestellt; er
hat den Angriff auf die Vereinigten Staaten mit einem
Angriffskrieg gleichgesetzt. Das ist die Lage, in der wir
uns befinden.
Etwas ganz anderes ist die Frage, ob wir es uns als internationale Staatengemeinschaft dauerhaft erlauben
wollen, uns auf dieser Rechtsgrundlage zu bewegen. Es
gibt Diskussionen - auch in unserer Fraktion und im
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen - über die Frage,
ob wir die Bekämpfung der Piraterie, die hier schon angesprochen worden ist, möglicherweise als Anlass nutzen sollten, um miteinander eine klarere politische
Grundlage zu finden. Aber lassen Sie uns hier keine
haarspalterischen Diskussionen führen. Auch in der erneuten UN-Resolution wird die Operation Enduring
Freedom erwähnt. Deswegen sollten wir uns hier nicht
auf Nebenkriegsschauplätze konzentrieren, sondern wir
sollten die politische Diskussion führen. Wir stehen zu
unserer Verantwortung und erkennen die Bedrohung, die
hier genannt worden ist und auch am Horn von Afrika
sichtbar wird.
Ich plädiere dafür, dem Antrag der Bundesregierung
zuzustimmen. Ich glaube, dass wir gut beraten sind, dieses Zeichen auch an diejenigen zu senden, die nicht nur
darüber diskutieren, sondern auch unter Einsatz ihres
Lebens dafür einzustehen haben. Das sind unsere Soldatinnen und Soldaten. Ich bitte um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({3})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Norman Paech.
Lieber Kollege Annen, ich kann durchaus lesen. Ich
lese zum Beispiel immer wieder, dass der Kampf gegen
den Terrorismus nicht militärisch zu gewinnen ist. Das
sagen die US-Amerikaner sowieso; das sagen die Generäle immer wieder. Eines aber müssen wir sehen: Wir
führen hier zum wiederholten Mal eine Debatte, in der es
ausschließlich um die Verteilung von Geldern für militärische Maßnahmen geht.
({0})
Haben wir jemals eine Diskussion von der gleichen Güte
und Länge geführt, in der es um die Finanzierung ökonomischer und ziviler Instrumente zur Bekämpfung des
Terrorismus ging? So eine Diskussion haben wir bisher
nicht geführt. Wenn wir sie führen werden, dann werden
wir auch anders zu dem Thema reden.
({1})
Kollege Annen, bitte.
Herr Kollege Paech, es freut mich natürlich sehr, dass
Sie des Lesens mächtig sind. Ich möchte Ihnen deswegen die Lektüre des Protokolls der Plenarsitzung, in der
es um die Ergebnisse der Paris-Konferenz ging, empfehlen. Darüber haben wir hier in diesem Hause diskutiert.
Ich würde Sie gerne daran erinnern, dass die Bundesregierung die finanziellen Aufwendungen für den Wiederaufbau in Afghanistan verdoppelt hat; da kann ich auch
aus der Rede, die Sie gerade vorgetragen haben, zitieren.
Wir haben Konsequenzen gezogen, auch aus den Diskussionen im Deutschen Bundestag und in der interessierten Öffentlichkeit, in denen man sich mit der Frage
auseinandergesetzt hat: Ist die Beteiligung von über
100 KSK-Kräften am OEF-Mandat eigentlich ein Weg,
der in die richtige Richtung geht? Wenn ich es richtig in
Erinnerung habe, haben Sie selbst, als Sie vor wenigen
Minuten an diesem Pult standen, diese Entscheidung gelobt. - Das sollten Sie sich noch einmal durchlesen.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
sind auf einem guten Weg. Wir führen hier keine Debatten für die Galerie.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Thomas Silberhorn, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wie schon bei der Verlängerung des ISAF-Mandates wird auch in Bezug auf das OEF-Mandat hin und
wieder gemutmaßt, wir würden die Mandatsdauer deshalb auf 13 Monate festlegen, um eine öffentliche Debatte darüber aus dem nächsten Bundestagswahlkampf
herauszuhalten.
({0})
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, dem ausdrücklich
entgegenzutreten. Niemand gibt sich der Illusion hin,
man könne eine Debatte über Auslandseinsätze der Bundeswehr aus der Öffentlichkeit heraushalten.
({1})
Wir wissen, dass im nächsten Jahr in Afghanistan Präsidentschaftswahlen stattfinden. Bei jedem Anschlag, was
Gott verhüten möge, ist eine breite öffentliche Debatte
zu erwarten. Es wäre geradezu naiv, anzunehmen, man
könne eine solche Diskussion verhindern. Wir sollten sie
vielmehr offensiv führen.
Wir müssen bei der Verlängerung dieses Mandats
aber auch deutlich machen, dass wir aus Respekt vor
dem nächsten Deutschen Bundestag
({2})
den Kolleginnen und Kollegen, die am 27. September
nächsten Jahres gewählt werden, die Gelegenheit geben
müssen, darüber zu entscheiden, ob das Mandat, das wir
heute verlängern, im nächsten Jahr nochmals verlängert
werden sollte. Es wäre für den nächsten Deutschen Bundestag eine Zumutung, wenn dieses Haus nach der
nächsten Bundestagswahl, aber vor der Konstituierung
des dann bereits gewählten Bundestages noch einmal
eine Mandatsverlängerung beschließen würde. Es gehört
zur Selbstbescheidung der Mandatsträger, die auf Zeit
gewählt sind, diese Aufgabe dem nächsten neu zu wählenden Bundestag zu überlassen.
({3})
Meine Damen und Herren, die Reduzierung im Hinblick auf den Bundeswehreinsatz im Rahmen von OEF,
sowohl was den Personalumfang als auch was das Einsatzgebiet angeht, ist im Ergebnis eine Anpassung an die
Einsatzrealität, die nicht mit operativen Einschränkungen verbunden ist. Wir bringen damit zum Ausdruck,
dass das OEF-Mandat teilweise dadurch ersetzt worden
ist, dass durch das ISAF-Mandat die Sicherheit in ganz
Afghanistan gewährleistet werden soll. Wir haben das
ISAF-Mandat erweitert und das Kontingent um
1 000 Soldaten aufgestockt.
Ich füge aber hinzu: Wir können uns der Gesamtverantwortung für Afghanistan, die wir im Rahmen des
ISAF-Mandats wahrnehmen, nicht dadurch entziehen,
dass wir uns aus dem OEF-Mandat in Bezug auf Afghanistan zurücknehmen; denn die Soldaten, die in Afghanistan im Einsatz sind, werden als Bestandteil der internationalen Gemeinschaft wahrgenommen. In der
Bevölkerung Afghanistans fragt niemand danach, ob ein
Soldat unter dem OEF-Mandat oder dem ISAF-Mandat
handelt. Deswegen ist es notwendig, dass wir deutlich
machen: Deutschland trägt weiterhin einen Teil der Gesamtverantwortung der internationalen Gemeinschaft in
Afghanistan, auch wenn wir mit den 100 Spezialkräften
nicht mehr im Rahmen des OEF-Mandates in Afghanistan im Einsatz sein werden. Wie schon angeklungen ist,
können sie im Rahmen des ISAF-Mandates auch weiterhin zum Einsatz kommen.
Ich halte es für wichtig, dass wir zum Ausdruck bringen: Auch wenn keine deutschen Soldaten mehr im Rahmen des OEF-Mandates in Afghanistan eingesetzt werden, müssen wir uns dennoch weiterhin um eine
gemeinsame Zielsetzung der internationalen Gemeinschaft in Bezug auf Afghanistan, aber auch um eine abgestimmte und gemeinsame Durchführung militärischer
Aktionen bemühen. Das betrifft auch die Herangehensweise, die hier von manchen meiner Vorredner sehr kritisch beleuchtet worden ist.
Ich stimme dem ehemaligen US-Botschafter John
Kornblum zu, der heute in der Frankfurter Rundschau
erklärt hat - ich zitiere -:
Verantwortung übernehmen heißt aber auch: Ein
Ziel zu definieren und es mit unterschiedlichen, abgestimmten Mitteln zu verfolgen.
Vernetzte Sicherheit aus zivilen und militärischen Mitteln - das ist genau der Ansatz, den wir in der NATO mit
Erfolg propagiert haben, den wir aber auch in der Einsatzrealität einlösen müssen.
Ich stelle mir allerdings schon Fragen, wenn ich
gleichzeitig lese, was der Präsidentschaftskandidat
Barack Obama am vergangenen Sonntag in der Welt am
Sonntag in einem Interview erklärt hat. Ich zitiere auch
hier:
Meine generelle Haltung ist, dass wir al-Qaida
auslöschen, Bin Laden festnehmen und töten müssen, …
Wenige Sätze weiter führt er aus - ich zitiere wieder -:
Wir werden ihn töten oder festnehmen,
- gemeint ist Bin Laden ihn anklagen, zum Tode verurteilen.
Für den Fall, dass dieser Präsidentschaftskandidat der
nächste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika
werden sollte, bitte ich Sie, Herr Bundesaußenminister,
uns eine Erläuterung dieser Aussagen des möglicherweise künftigen Präsidenten zu geben und uns zu erklären,
({4})
in welchem Umfang Sie eine deutsche Beteiligung am
Einsatz in Afghanistan mit dieser Zielsetzung weiterhin
für möglich und überhaupt für zulässig erachten.
Meine Damen und Herren, das Ziel unseres Einsatzes
ist nicht Rache, sondern die Stabilisierung Afghanistans
im Interesse der internationalen Sicherheit vor terroristischen Bedrohungen, im Interesse der Sicherheit Afghanistans vor Aufständen und Terroranschlägen und nicht
zuletzt auch im Interesse der eigenen Sicherheit. Wir
wollen den Bedrohungen dort begegnen, wo sie entstehen, und nicht warten, bis sie bei uns sind.
Ich stimme allen Vorrednern zu, die hier erklärt haben, dass wir eigenständige staatliche Strukturen aufbauen müssen. Wir tun das in Afghanistan und mit zunehmendem Einsatz auch in Pakistan. Gerade zu diesem
Zweck haben wir das zivile Engagement in Afghanistan
und jetzt auch in Pakistan deutlich ausgeweitet. Ich
glaube, das ist die beste Voraussetzung dafür, dass uns
ein Übergang von der militärischen Stabilisierung hin zu
zivilem Wiederaufbau gelingen kann. Der Militäreinsatz
ist also kein Abenteuer, sondern notwendig, um die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass der zivile Wiederaufbau gelingen kann. Durch das OEF-Mandat soll sichergestellt werden, dass das Einrichten von Rückzugsund Aktionsräumen für Terroristen auf den Seewegen erschwert wird und dass auch die für den Welthandel strategisch wichtigen Seepassagen am Horn von Afrika gesichert werden.
Ich danke allen Soldatinnen und Soldaten, die sich an
dieser Aufgabe bisher mit Erfolg beteiligt haben. Wir
wollen sie weiter darin unterstützen und mit der Zustimmung für dieses OEF-Mandat die Voraussetzung dafür
schaffen, dass die Bundeswehr weiterhin am Horn von
Afrika und im Mittelmeer erfolgreich im Einsatz sein
kann.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Kollege Paul Schäfer, Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es
hier darum geht, deutsche Soldatinnen und Soldaten ins
Ausland zu schicken, dann brauchen wir eine größtmögliche Klarheit und Wahrhaftigkeit. Das ist bei dem vorliegenden OEF-Mandat aber nicht der Fall. Im Gegenteil: Es handelt sich im Grunde genommen um zwei
Lügen. Die Unwahrheit Nummer eins ist, dass es bei
dem Einsatz am Horn von Afrika darum gehe - 2002
wie auch heute -, Terroristen zu bekämpfen. Die Unwahrheit Nummer zwei ist, dass die Bundesrepublik mit
dem Verzicht darauf, die Spezialkräfte der Bundeswehr,
KSK, unter dem OEF-Mandat einzusetzen, nichts mehr
mit dem Antiterrorkrieg in Afghanistan zu tun habe.
Ich bleibe bei Afghanistan. Es ist klar und folgerichtig, das KSK nicht mehr im Rahmen des OEF-Mandats
einzusetzen. Unter ISAF wird es aber schon noch eingesetzt. Der entscheidende Punkt ist aber der: Sie weichen
dem grundsätzlichen Streit über OEF und über die Wirkung von OEF aus. Damit billigen Sie diesen Einsatz im
Grundsatz.
Paul Schäfer ({0})
Hier hieß es, es sei doch alles halb so schlimm, OEF
bedeute doch im Wesentlichen Ausbildung für die afghanische Armee. Das wird jetzt ISAF zugeschlagen. Was
verbleibt bei OEF? Die Frage, wozu OEF in Afghanistan
überhaupt nötig ist, müssen Sie hier beantworten.
({1})
Die Auskunft der NATO-Militärs ist eindeutig. Sie sagen, dass die bösen Buben - the bad guys - aus dem
Spiel genommen werden müssen. Dafür brauche man
eben besondere Regeln, genauer gesagt, möglichst wenig Regeln. OEF-Angehörige dürfen auch ohne begründeten Verdacht festnehmen. Sie müssen sich nicht unbedingt an Landesgrenzen halten, und sie können - auch
das ist hier schon gesagt worden - auf Verdacht töten.
Das macht den Unterschied aus.
Der springende Punkt ist: Die alte Arbeitsteilung
bleibt bestehen. Bei OEF geht es um den schmutzigeren
Teil der Kriegsführung, aber dies ebenfalls im Zusammenwirken mit ISAF. Auch das lesen wir weder im
ISAF-Mandat noch im OEF-Mandat. Es geht dabei nicht
um die allgemeine Abstimmung zwischen ISAF und
OEF, und es geht dabei auch nicht um die unmittelbare
Nothilfe. Es geht durchaus auch um gemeinsame Operationen. Vielleicht fragen Sie die Bundesregierung in den
nächsten Tagen einmal danach.
All das steht nicht in den Mandaten. Das nenne ich
eine Täuschung des Parlaments.
({2})
Was die Armada, liebe Kolleginnen und Kollegen,
vor der somalischen Küste betrifft, so wissen wir aus den
Unterrichtungen der Bundesregierung, dass keine Terroristen gefangen genommen wurden. Stattdessen lesen
wir dort, dass der Terrorismus seinen Aktionsraum von
Algerien über den Maghreb bis in die Sahelzone ausgeweitet hat. Jemen ist weiter Aktions- und Rückzugsraum
für islamistische Terroristen. In Somalia galoppiert die
Gewalt weiter.
Das ist eine ernüchternde Bilanz. Die Marinesoldaten,
die am Horn von Afrika ihren Dienst tun, können am
allerwenigsten etwas dafür. Es zeigt sich nur, dass der
Militäreinsatz das völlig falsche Mittel ist, um diese Probleme in den Griff zu bekommen.
({3})
Der Aufwand dafür ist beträchtlich. Ich habe es nachgerechnet: Allein der deutsche Kostenanteil am OEF-Einsatz am Horn von Afrika beträgt von 2001 bis 2008 circa
1 Milliarde Euro. Mit diesem Betrag hätte man eine
Menge für die Stabilisierung der Region machen können. Das ist der entscheidende Punkt.
({4})
Wenigstens in einem Punkt sind Sie ehrlicher geworden. Sie sagen jetzt, beim OEF-Einsatz am Horn von
Afrika gehe es auch darum, Handelsschiffe zu begleiten
und Marineeinheiten verbündeter Nationen im Einsatzgebiet zu eskortieren. Das erinnert mich fatal an die Eskortierung der US-Truppen beim Aufmarsch in den Irak.
An dieser Stelle und an diesem Tag sei es gesagt: Good
bye and see you again in Den Haag, Mr. Bush.
Sie sind zumindest in einem Punkt deutlicher: Der
Auftrag der Marine in Dschibuti ist die umfassende Kontrolle der Seewege im Interesse mächtiger Industrienationen. Aber im Mandat steht das so nicht.
Es kann auch nicht angehen, dass sich eine Handvoll
Staaten selbst den Auftrag gibt, Teile der Weltmeere systematisch zu überwachen und zu kontrollieren. OEF ist
und bleibt in diesem Zusammenhang eine Amtsanmaßung außerhalb des Völkerrechts. Deshalb sagt die Fraktion Die Linke dazu entschieden Nein.
({5})
Der Kollege Hans-Peter Bartels hat das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der Bundesregierung stellt eine gewisse
Mandatsbereinigung dar. Das heißt, wir beschließen
das, was tatsächlich geplant ist und stattfindet, und wir
beschließen unseren Beitrag jetzt exakt für die Region,
in der dieser Beitrag tatsächlich gebraucht wird. Das ist
gut so. Denn wie beim Bundeshaushalt sollte auch bei
den Bundeswehreinsätzen gelten: Wahrheit und Klarheit.
Unser Prinzip der Parlamentsarmee bedeutet, dass der
Regierung gerade keine Blankoschecks ausgestellt werden. Der Bundestag kann nur dann die Verantwortung
für den Einsatz militärischer Gewaltmittel übernehmen,
wenn er weiß, was wann wo von wem zu tun ist.
Ich sage ausdrücklich: Das war in der Vergangenheit
insbesondere bei der Mission OEF nicht immer so. Der
Sachverhalt, dass KSK-Spezialkräfte unter OEF in
Afghanistan eingesetzt wurden bzw. nicht eingesetzt
wurden, galt als geheim. Ob also Bundeswehrsoldaten in
diesem Mandatsrahmen seit 2001 tatsächlich im Einsatz
waren, wurde gegenüber dem Parlament - auch gegenüber dem Verteidigungsausschuss - geheim gehalten.
Erst einer wohl unbeabsichtigten Indiskretion des Verteidigungsministers war zu entnehmen, dass seit 2005 unsere Beteiligung an OEF in Afghanistan praktisch erloschen ist. In der Sache ist das absolut in Ordnung. Aber
die Geheimniskrämerei darum herum war nicht besonders parlamentsfreundlich.
Es darf nicht - dies sage ich ganz klar - zweierlei
Bundeswehren geben: eine normale und eine geheime.
Wir müssen wissen, wofür wir als Abgeordnete die Verantwortung übernehmen, wenn wir hier in namentlicher
Abstimmung Entsendebeschlüsse fassen.
({0})
Uns interessiert nicht das operative Detail oder die
taktische Planung, sondern die Frage, ob überhaupt deutsche OEF-Soldaten ein Jahr lang im Einsatzgebiet eingesetzt werden. Diese Frage kann und darf vor dem Parlament und vor der deutschen Öffentlichkeit nicht
unbeantwortet bleiben. Wir haben dazu auch in dem
Untersuchungsausschuss - das wurde bereits angesprochen -, zu dem sich der Verteidigungsausschuss in der
Sache Kurnaz erklärt hat, diskutiert und Verabredungen
getroffen, die dieses Problem der, ich sage einmal: blinden Flecken im Parlamentsvorbehalt hoffentlich ein für
allemal ausräumen.
Wir sind Außenminister Steinmeier und Verteidigungsminister Jung dankbar, dass sie nun die Konsequenz aus der Schwerpunktverlagerung in Afghanistan
gezogen haben und zu OEF dort nichts mehr beitragen.
ISAF ist inzwischen im ganzen Land präsent. Unser
Schwerpunkt liegt auf ISAF, insbesondere auf dem Regionalkommando Nord. Die Doppelstruktur von NATO
und US-geführter Antiterroroperation OEF ist historisch
gewachsen. Aber sie ist mehr und mehr ein Hindernis für
eine einheitliche Sicherheitsstrategie der internationalen
Gemeinschaft in Afghanistan. Das wird mittlerweile
auch auf amerikanischer Seite gesehen. Egal wie die
Präsidentenwahl heute Nacht ausgeht, es wird Anstrengungen zu mehr Kohärenz geben müssen. Auch der neue
CENTCOM-Befehlshaber Petraeus hat sich schon in
diese Richtung geäußert.
Meine Damen und Herren, die Fortsetzung unserer
Beteiligung an der Seeraumüberwachung am Horn von
Afrika sollte unstrittig sein. Die deutsche Marine mit ihren Fregatten, Versorgern, Hubschraubern und Aufklärungsflugzeugen leistet hier einen kontinuierlichen, guten, hoch anerkannten Beitrag fern der Heimat. Wären
die Verbündeten nicht da, wären die Verbindungswege
der Terroristen schnell wiederhergestellt. Deshalb sind
wir da.
Daneben wird wohl noch in diesem Jahr eine ESVPMission zur Pirateriebekämpfung vor der somalischen
Küste starten. Daran sollten wir uns ebenfalls beteiligen.
Die Zahl der Piraterieattacken hat in den vergangenen
Monaten dramatisch zugenommen. Das Schifffahrtsbüro
der Internationalen Handelskammern in Kuala Lumpur
teilt mit, dass es seit Anfang dieses Jahres 200 Pirateriefälle weltweit gegeben hat, davon ein Drittel im Seeraum
vor Somalia. Über 500 Seeleute sind dort als Geiseln genommen worden. Auch Schiffe deutscher Reedereien
sind immer wieder betroffen. Dagegen müssen wir uns
zur Wehr setzen. Das sollten wir wirksam unterbinden
können. Dies mit einem eigenen Bundestagsbeschluss zu
tun, entspricht den Grundsätzen von Mandatswahrheit
und Mandatsklarheit.
({1})
Gut, dass die verfassungsrechtlichen Bedenken, die es
bei den Mehrheitsfraktionen dieses Hauses wohl gab,
mittlerweile ausgeräumt sind! Wir sind uns in der Koalition einig, wenn ich das richtig sehe.
Ob man auf Dauer immer eine deutsche Doppelpräsenz am Horn von Afrika braucht - eine Fregatte für
OEF und eine Fregatte für die Antipiraterie -, wird die
Zukunft zeigen. Man könnte sich auch vorstellen, dass
beide Mandate je nach Bedarf auf die gleichen Mittel zurückgreifen. Ein Schiff kann ja in Sekundenschnelle einem anderen Kommando unterstellt werden. Das wäre
eine Frage pragmatischen Ressourcenmanagements,
dem der Bundestag gewiss nicht im Wege stehen würde,
wenn die Beschlüsse klar sind und kontinuierlich informiert wird.
Ich empfehle das von der Regierung bereinigte OEFMandat der Zustimmung des ganzen Hauses.
Vielen Dank.
({2})
Jetzt spricht der Kollege Gert Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Eigentlich könnte ich heute meine Rede vom vorigen
Jahr zum gleichen Anlass halten;
({0})
denn faktisch hat sich nichts geändert, außer dass nun
auch offiziell auf den KSK-Einsatz in Afghanistan verzichtet wird. Aber sonst? Wie ein Mantra wiederholen
die Juristen der Bundesregierung seit sieben Jahren eine
falsche Behauptung, die Behauptung, dass die Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen 1368 und
1373 die Bundesregierung und die NATO angeblich ermächtigten, bei der Bekämpfung des Terrorismus militärische Gewalt anzuwenden. Das wird auch durch noch
so viele Wiederholungen nicht wahrer. Mit einer solchen
Begründung würden die Hausjuristen der Bundesregierung mit Pauken und Trompeten durch jede Staatsprüfung fallen.
Sie berufen sich immer wieder darauf, dass in den
Präambeln der beiden Resolutionen das Recht auf
Selbstverteidigung bekräftigt wird. An dieser Stelle der
Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates hat das dieselbe
Relevanz für das Handeln der UNO-Mitglieder, als wenn
dort die Formulierung stünde, dass das schöne Wetter
begrüßt werden würde. Entscheidend ist einzig und allein, was der Sicherheitsrat in den Beschlussteilen anordnet, und das ist eindeutig und glasklar. Um ein Zitat
von Herrn Fischer aus dem Jahre 1994 abzuwandeln: Ich
wundere mich nicht zum ersten Mal, wie sich die Mehrheit hier im Parlament seit Jahren an der Nase des Rechtes auf militärische Selbstverteidigung in den globalen
Krieg gegen den Terrorismus hineinführen lässt.
Nicht ein einziges Wort ist dort zu finden, das sich
auch nur im Entferntesten als Militäreinsatz interpretieGert Winkelmeier
ren ließe. Dort steht vielmehr die Aufforderung zur Zusammenarbeit, um Verantwortliche und Hintermänner
der Terroranschläge vom 11. September 2001 vor Gericht zu bringen und den Terrorismus mit politischen,
polizeilichen, gesetzgeberischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Mitteln auszutrocknen.
Auch die Ausrufung des NATO-Bündnisfalles vom
4. Oktober 2001 führt die Bundesregierung wieder als
Rechtsgrundlage für den OEF-Einsatz an. Das war
nichts anderes als eine Selbstermächtigung zum Kriegführen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Sicherheitsrat
bereits die zivilen Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus beschlossen. Damit war das Recht auf militärische Selbstverteidigung nach Art. 51 der Charta der
UNO für den vorliegenden Fall ein für alle Mal beendet.
Denn es gilt nur - Zitat - „bis der Sicherheitsrat … die
erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“. Dies hatte er
mit den Resolutionen 1368 und 1373 getan. Ich stelle somit fest, dass sich Bundesregierung und Parlamentsmehrheit nicht an Recht, Grundgesetz und Völkerrecht
halten wollen.
Das war vor der sogenannten Normalisierung und der
Enttabuisierung des Militärischen in unserem Land einmal anders. Da galt noch - Zitat -:
Wir Deutschen haben angesichts unserer Geschichte im 20. Jahrhundert gute Gründe, mit eigener Beteiligung an militärischen Interventionen zurückhaltend zu sein.
Das Zitat ist von Helmut Schmidt und in der aktuellen
Ausgabe der Zeit nachzulesen.
Wer mitten im Glashaus sitzt, der sollte übrigens nicht
mit Steinen werfen. Mit welcher moralischen Autorität
will der Finanzminister eigentlich die Schweiz in die
Nähe von Schurkenstaaten rücken, indem er das Land
auf die schwarze Liste der OECD setzen lassen will?
Das ist kein Witz. Diese Äußerung ist gemacht worden.
Etwa mit der moralischen Autorität der Bundesregierung, die den usbekischen Geheimdienstchef in Deutschland nach dem Motto empfängt „aber er ist unser
Schweinehund“, Herrn Inojatow, der die Islamische
Dschihad-Union erfunden hat, damit der Bundesregierung die Begründungen für den Krieg gegen den Terrorismus nicht abhanden kommen und Herrn Schäuble
nicht die Gründe zur Verschärfung der Sicherheitsgesetze und der Vermengung von innerer und äußerer Sicherheit?
Ich rate Ihnen: Verstecken Sie Ihre machtpolitischen
Ambitionen nicht länger hinter der fadenscheinigen Begründung, es gehe bei OEF um Terrorismus; denn dazu
müssen Sie ständig das Recht beugen. Das wird Ihnen
eines Tages bitter aufstoßen - garantiert.
Der Einsatz der Marine am Horn von Afrika zeigt
doch exemplarisch auf, dass es um alles andere als um
Terrorbekämpfung geht. Seit Jahren ist Ihnen nicht ein
einziger Fang gelungen. Das ist auch verständlich bei
der Jagd nach Phantomen. Geben Sie einfach zu, dass es
Ihnen um die Sicherung einer der wichtigsten Seestraßen
der Welt geht und um nichts anderes. Dann könnten wir
hier im Bundestag endlich eine Debatte führen, die
schon seit Jahren überfällig ist und auf die unsere Bevölkerung einen Anspruch hat: Welche Rolle soll und darf
die Parlamentsarmee Bundeswehr im Rahmen einer an
Recht und Verfassung ausgerichteten Außen- und Sicherheitspolitik spielen?
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat Henning Otte für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Erteilung eines Mandates für einen Auslandseinsatz gehört für das Parlament des Deutschen
Bundestages nicht zum Alltagsgeschäft, sondern zu den
schwersten Entscheidungen. Es ist eine äußerst verantwortungsvolle Entscheidung, deutsche Soldaten in den
Einsatz zu entsenden, um gemeinsam auf Basis der einschlägigen Rechtsgrundlagen mit multinationalen Kräften für die Schaffung und Wahrung des Friedens zu agieren. Dieser Einsatz ist weiter notwendig, um der
asymmetrischen terroristischen Bedrohungslage entgegenzuwirken und mit der Bekämpfung des Terrorismus
die Sicherheit in Deutschland zu erhöhen. Daher wird
die CDU/CSU-Fraktion der OEF-Mandatsverlängerung zustimmen.
({0})
Das zu beschließende Mandat umfasst eine Reduzierung
der Einsatzstärke von 1 400 auf 800 Soldaten. Das zeigt,
dass wir lageorientiert handeln und das maximale Kontingent entsenden.
Eine Reduzierung im OEF-Mandat und eine kürzlich
beschlossene Erhöhung des ISAF-Mandates auf
4 500 Soldaten machen deutlich, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Deutschland verzichtet auf einen OEF/
KSK-Einsatz in Afghanistan und verstärkt gleichzeitig,
wie beschlossen, unter dem ISAF-Mandat die Anstrengungen zum zivilen Aufbau Afghanistans. Parallel werden über OEF am Horn von Afrika und über Active
Endeavour im Mittelmeer der Zugang zu Rückzugs- und
Aktionsräumen und die Nutzung potenzieller Verbindungswege zu terroristischen Gruppen verhindert sowie
der Schutz wichtiger Seepassagen für den freien Welthandel gewährleistet. Den Terrorismus weltweit zu bekämpfen, den zivilen Aufbau in Afghanistan zu unterstützen, die Sicherheit in Deutschland zu erhöhen, das ist
unsere Aufgabe. Dieser Aufgabe stellen wir uns, zum
Wohle und zum Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger.
({1})
Der Antiterrorkampf muss konsequent weitergeführt
werden. Die Gefahr muss weiterhin dort bekämpft werden, wo sie entsteht. Ich danke an dieser Stelle unseren
Soldatinnen und Soldaten sowie allen zivilen Kräften,
die ihren Beitrag dazu leisten. Herzlichen Dank dafür!
({2})
Meine Damen und Herren, gestern ist von Wilhelmshaven aus die Fregatte „Mecklenburg-Vorpommern“ in
Richtung Horn von Afrika ausgelaufen, um demnächst
als Führungsschiff der OEF die Spitze der US-geführten
internationalen Überwachungsflotte zu stellen. Dies ist
auch ein sichtbares Zeichen der transatlantischen Kooperation mit unseren verbündeten amerikanischen Freunden.
Am heutigen Wahltag wünsche ich allen US-Bürgerinnen
und -Bürgern eine gute Wahl. Wir freuen uns - unabhängig vom Ausgang der Wahl - auf eine gute, auf eine
noch bessere Zusammenarbeit.
Aber es ist auch wichtig, dass wir in Europa unsere eigenen Strukturen verbessern. Ich begrüße daher sehr die
Ankündigung unseres Bundesministers der Verteidigung, eine Beteiligung der deutschen Marine am ESVPMandat zur Bekämpfung der Piraterie zu überprüfen.
Die derzeitige Lage ist aus meiner Sicht zu verbessern.
Im Augenblick eines Überfalls gelten die allgemeinen
Grundsätze des Notwehr- und Nothilferechts. Zu diesem
Zeitpunkt könnten unsere Soldatinnen und Soldaten
noch eingreifen. Sobald der Überfall nicht mehr gegenwärtig ist, wenn zum Beispiel die Piraten mit dem gekaperten Schiff abziehen, ist eine Verfolgung durch deutsche Marineeinheiten aus rechtlichen Gründen nicht
mehr möglich. Ich glaube, wir sind uns weitestgehend
einig, dass hier reagiert werden muss. Wir müssen über
eine Anpassung des Grundgesetzes nachdenken, die es
unserer Marine ermöglicht, mit eigenen Kräften gegen
Piraten vorzugehen.
({3})
Unseren Soldatinnen und Soldaten ist genauso wie allen Bundesbediensteten im Auslandseinsatz ein angemessener Rechtsschutz zu gewährleisten. Bei meinem
letzten Besuch in Afghanistan ist hier konkret Regelungsbedarf aufgetreten. Werden Soldaten wegen einer
dienstlichen Tätigkeit im Ausland einer Straftat gegen
das Leben oder die körperliche Unversehrtheit beschuldigt, trägt der Dienstherr nunmehr alle Kosten der
Rechtsverteidigung, sofern abschließend kein vorsätzliches Vergehen festgestellt wird. Die jetzige Regelung
schafft Rechtssicherheit und ist ein wesentlicher Beitrag
zum Rechtsfrieden unter den Soldaten. Auch hier danke
ich unserem Verteidigungsminister dafür, dass er diese
Rechtsschutzlücke so schnell geschlossen hat.
({4})
Neben der erfolgten Verbesserung des Rechtsschutzes
halte ich es für notwendig, auch bei den seit 1995 unveränderten Auslandsverwendungszuschlägen eine Verbesserung zu erzielen. Die Auslandseinsätze unserer
Soldaten erfolgen nicht allein wegen eines Auslandsverwendungszuschlages, sondern aus Überzeugung im Einsatz für unsere Bundesrepublik. Die finanzielle Anerkennung dieser auch lebensgefährlichen Einsätze darf
aber nicht unterschätzt werden. Sie muss deshalb nicht
nur der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch der
Gefahrenlage angepasst werden.
Ich habe daher gefordert, dass die Zahlungen, orientiert am Gefährdungsgrad, angepasst werden. Ich freue
mich, dass das Verteidigungsministerium hierzu einen
Vorschlag unterbreitet hat. Konkret geht es in Anbetracht
der gestiegenen Gefahr für Leib und Leben der Soldatinnen und Soldaten zum Beispiel in der höchsten Gefahrenstufe um eine Anhebung von derzeit 92,03 Euro auf
110 Euro. Es wäre ein richtiges Signal, wenn das Finanzministerium diese notwendige und angemessene Erhöhung in der aktuellen Haushaltsplanung berücksichtigen
würde.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, am 24. Oktober fand in Zweibrücken die Trauerfeier für zwei gefallene Soldaten statt. Die Teilnahme an der Feier hat
mir einmal mehr verdeutlicht, welche Gefahren und Risiken die Auslandsmandate beinhalten und wie wichtig
es ist, den Sinn dieser Einsätze zu verdeutlichen. Unsere
Anteilnahme gilt den Hinterbliebenen.
Ich bin mir sicher, dass wir alles unternehmen, um für
unsere Soldaten im Einsatz den größtmöglichen Schutz
zu gewährleisten. Eine absolute Sicherheit jedoch kann
gerade in einer asymmetrischen Bedrohungslage niemand garantieren. Für uns ergibt sich daraus die Verpflichtung, unseren Kräften die größtmögliche Unterstützung zu bieten und klar zum Ausdruck zu bringen,
dass der Deutsche Bundestag hinter der verdienstvollen
Arbeit unserer Soldaten sowie der zivilen Kräfte steht.
Dass die Fraktion Die Linke oder der fraktionslose
Vorredner durch populistische Reden diese schwierige
Aufgabe für sich instrumentalisieren möchte, ist verantwortungslos. Die CDU/CSU-Fraktion steht zu ihrer Verantwortung für eine friedliche Weltordnung und zu den
daraus resultierenden Verpflichtungen. Wir werden der
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an OEF daher zustimmen.
({5})
Damit schließe ich die Aussprache.
Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, die Vor-
lage auf Drucksache 16/10720 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Damit
sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken,
jüdisches Leben in Deutschland weiter fördern
- Drucksache 16/10775 ({0}) -
b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE
Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken,
jüdisches Leben in Deutschland weiter fördern
- Drucksache 16/10776 Nach einer interfraktionellen Verabredung ist für die
Aussprache hier eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dr. Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Mit dem Datum des 9. November 1938
verbinden wir in besonderer Weise das Gedenken an den
bestialischen Versuch der Nazis, jüdisches Leben in
Deutschland durch Gewalt und millionenfachen Mord zu
beseitigen. Mit diesem einmalig frevelhaften Verbrechen
hat sich Deutschland selbst einer seiner wesentlichen
kulturellen Wurzeln beraubt; schließlich sind die jüdische Religion und die jüdische Kultur ein fester Bestandteil der deutschen Geschichte und der deutschen Gesellschaft.
Nach alldem grenzt es an ein Wunder, dass nach Jahrzehnten jüdisches Leben in Deutschland wieder gedeiht
und dass sich Juden in diesem Land wieder beheimatet
fühlen. Mitten in unseren Städten haben sie wieder ihren
angestammten Platz erhalten. Gerade in einer Stadt wie
München, aus der ich komme, ist es ganz wichtig, dass
in Rufweite des Alten Rathaussaales, nämlich am Jakobsplatz, die neue jüdische Synagoge errichtet worden
ist. Ich freue mich, dass wir gemeinsam mit der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, Frau Charlotte
Knobloch, dieses Tages gedenken - am 9. November,
am kommenden Sonntag, abends, in München.
Doch leider, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ist Antisemitismus kein abgeschlossenes Kapitel
der deutschen Geschichte. Selbst in Deutschland hält
sich bei vielen Menschen nach wie vor die fatale Bereitschaft, Verschwörungstheorien und Negativbilder zu
pflegen. Noch heute werden in bestimmten Kreisen mit
- in Anführungsstrichen - „den Juden“ Misstrauen und
Vorbehalte verbunden. Das Bild der viel zu mächtigen
Gruppe der Juden, wie man dort sagt, dieser Mythos hält
sich zählebig, und zwar leider in allen Teilen der Gesellschaft.
Was mit dummen Vorurteilen und unreflektierten Klischeebildern beginnt, endet leider nicht selten in üblen
antisemitischen Drohbriefen und Hetzreden. Es ist bedauerlich, dass auch heute noch in Deutschland sämtliche jüdische Einrichtungen von der Polizei bewacht
werden müssen. Nach Auskunft der Bundesregierung
beläuft sich die Zahl der antisemitischen Straftaten in
diesem Jahr auf circa 800.
Da das Gift des Antisemitismus quer durch alle gesellschaftlichen Kreise wirksam werden kann, sind alle
Politiker aufgerufen, in besonderer Weise und besonders
sorgfältig mit diesem Thema umzugehen.
({0})
Wir dürfen uns antisemitische Reflexe in unseren Reden
in keiner Form zunutze machen. Wir müssen uns eindeutig erklären: für die Aufarbeitung latent vorhandener antisemitischer Stimmung, für die Pflege jüdischer akademischer, kultureller und gesellschaftlicher Institutionen,
für eine angemessene Erinnerungskultur und ernsthafte
Anstrengungen zur Werte- und Wissensvermittlung.
Dem dient unser Antrag, den wir seit Monaten fraktionsübergreifend gemeinsam erarbeitet haben.
({1})
In der Tat handelt es sich hier um ein überparteiliches
Anliegen. Das ist nicht Sache einer Fraktion; dieses Anliegen sollten wir möglichst alle verfolgen.
({2})
Es geht hier auch nicht um parteipolitische Prinzipienreiterei. Genau das aber ist uns in den letzten Tagen vorgeworfen worden.
({3})
Die Frage ist, warum die CDU/CSU diesen Antrag gemeinsam mit der FDP, den Grünen und der SPD, aber
nicht gemeinsam mit den Linken formuliert.
({4})
Deshalb möchte ich einiges klarstellen; das ist mir wichtig an dieser Stelle.
Es ist unbestritten, dass ein verkappter Antisemitismus geradezu zur Staatsräson der DDR gehört hat.
({5})
Dieses Thema muss 18 Jahre nach dem Zusammenbruch
der DDR nicht im Mittelpunkt der heutigen Diskussion
stehen;
({6})
es muss an anderer Stelle aufgearbeitet werden. Es gibt
Antisemitismus in allen politischen Lagern, von rechts
bis links;
({7})
das ist meine Kernaussage. Die Linke - nicht alle Linken, Herr Gysi, aber Teile - spielt allerdings bisweilen
auf der Schalmei einer überzogenen Israel-Kritik. Darauf wird einzugehen sein.
Es ist inakzeptabel, wenn Bundestagsabgeordnete der
Linken - Jelpke, Dağdelen, Hirsch - im Juli 2006 in
Berlin zusammen mit radikalislamischen Hisbollah-Anhängern gegen Israel demonstrieren. Wir wissen, dass
Hisbollah-Anhänger das Volk der Juden, soweit sie sich
in Israel aufhalten, ins Meer treiben wollen. Wer mit diesen Menschen gemeinsam durch die Straßen zieht, kann
kein Partner im Kampf gegen Antisemitismus sein.
({8})
In diese Reihe gehört auch die Behauptung, Israel betreibe einen Vernichtungskrieg. Presseberichten zufolge
sagte der Bundestagsabgeordnete Gehrcke im April dieses Jahres unter Applaus seiner Anhänger, dem Bild des
kleinen jüdischen Jungen im Warschauer Getto - wir
kennen alle das Bild - entspreche heute das Bild von palästinensischen Jungen vor anderen Gewehrläufen. Wer
solche Bilder zusammenstellt und in solcher Weise antisemitische Kreise in ihren Vorurteilen bedienen will, der
spielt mit dem Feuer. Das ist nicht unsere Art des Umgangs mit dem Thema.
({9})
Ich will Israel-Kritik nicht per se verbieten. Jeder
Mensch hat das Recht, das tagespolitische Handeln der
israelischen Regierung zu kritisieren. Aber es gibt eine
Israel-Kritik, die etwas anderes bezwecken will. Wir
wollen keine Kritik, die in verhängnisvoller Weise an antiisraelische Klischees anknüpft.
So hat der Abgeordnete Paech von den Linken in einem Reisebericht aus Palästina Investitionshilfen der
Europäischen Union für das Westjordanland in folgender
Weise diffamiert:
Sie
- also diese Hilfen dienten vor allem israelischem und internationalem
Kapital als Investitionsmöglichkeit zur Beschäftigung billiger palästinensischer Arbeitskräfte.
Das ist nicht die Israel-Kritik, die wir zulassen dürfen.
({10})
Ich möchte mich mit der Linken aus folgendem
Grund nicht weiter beschäftigen. Herr Gysi, ich habe
sehr aufmerksam Ihre Grundsatzrede vom April dieses
Jahres gelesen, die Sie vor der Rosa-Luxemburg-Stiftung gehalten haben.
({11})
Sie haben mit Ihrer Feststellung recht, die Sie anlässlich
des 60. Jahrestages der Gründung Israels und des
75. Jahrestages der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten getroffen haben:
Schon diese beiden Daten weisen auf die besonderen Beziehungen Deutschlands und somit auch auf
die besondere Haltung der deutschen Linken zum
Staat Israel hin.
Sie sprachen auch davon, dass die Linke die Haltung zu
Israel überdenken muss, und weiter sagten Sie:
… denn die Haltung der Linken zu Israel ist keineswegs so eindeutig … Es besteht also durchaus Klärungsbedarf in der Linken, …
({12})
Sie haben recht, diese Haltung ist keineswegs eindeutig.
Sie müssen das klären.
Wenn Sie die Position der Linken zum Staate Israel,
also zu dem Staat, in dem die Juden leben, ehrlich und
aufrichtig geklärt haben, könnten Sie ein Partner für einen solchen Antrag sein. Solange Sie dies nicht getan
haben, können Sie nicht unser Partner sein.
({13})
Lassen Sie mich zum Schluss kommen.
({14})
Wir müssen den 9. November, den Schicksalstag der Juden in Deutschland, in einer würdigen, ehrlichen und anständigen Form begehen, indem wir den Juden versprechen: Antisemitismus wird es in diesem Land nicht mehr
geben. Die politische Klasse, egal welcher Coleur, will
mit dieser Ideologie nichts zu tun haben.
({15})
Wir werden auf keinen Fall antisemitische Klischees bedienen, um auf diese Weise den einen oder anderen
Wähler zu uns herüberzuziehen. Mit solchen Wählern
wollen wir nichts zu tun haben. Hier halten wir alle zusammen. Es darf in Deutschland nie mehr dieses Gedankengut geben.
Danke schön.
({16})
Der Kollege Christian Ahrendt hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Der 9. November 1938 jährt sich in wenigen Tagen zum 70. Mal. Es war eine der schrecklichsten
Nächte, die Deutschland erlebt hat. Jüdische Geschäfte
wurden zerstört, Friedhöfe geschändet und Synagogen
angezündet. In dieser Nacht verloren 400 jüdische Mitbürger ihr Leben.
Sich im Bewusstsein unserer Geschichte mit einem
neuen Antisemitismus in Deutschland auseinanderzusetzen, gehört zu den wichtigsten Aufgaben dieses Hauses.
Ich glaube, es ist unbestritten, dass alle Mitglieder dieses
Hauses eine Überzeugung eint - das kann ich zumindest
für meine Fraktion sagen -: Antisemitismus, egal welChristian Ahrendt
cher Ausprägung, darf in Deutschland keine Chance
mehr haben.
({0})
Dennoch ist vor dem Hintergrund des Themas, mit
dem wir uns hier befassen, die Diskussion über einen gemeinsamen Antrag, die wir in den letzten Tagen erlebt
haben, eher ein kleinliches Parteiengezänk. An dieser
Stelle darf ich Ihnen, Herr Dr. Uhl, sagen, dass Sie sich
diesem Thema insofern etwas kleinmütig genähert haben, als Sie sich an dieser Stelle nur mit der Linken auseinandergesetzt haben.
({1})
Der interfraktionelle Antrag, den wir heute beraten,
hat eine doppelte Natur. Er erinnert an die Ereignisse vor
70 Jahren, und hieran anknüpfend wird in dem Antrag beschrieben, dass Antisemitismus trotz vielfältiger Fortschritte noch immer ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Problem in Deutschland ist. Wir begegnen
Antisemitismus bei Sportveranstaltungen. Jüdische Einrichtungen in Deutschland müssen besonders gesichert
werden. Oftmals ist Polizeischutz vonnöten. Im Jahr
2007 wurden laut Verfassungsschutzbericht 1 541 Straftaten registriert, die antisemitisch motiviert waren.
1 541 Straftaten sind 1 541 Einzelschicksale.
Eines möchte ich Ihnen kurz schildern: Eine Kleinstadt in Deutschland, 3 000 Einwohner, Tatort ist ein
Gymnasium. Die Täter sind drei Jugendliche im Alter
von 15 und 16 Jahren. Das Opfer ist ebenso alt. Die Tat
besteht darin, dass man dem Mitschüler ein Schild umhängt. Das, was auf dem Schild geschrieben steht, ist
2006 geschrieben worden. Der Satz, der auf dem Schild
zu lesen ist, stammt aus der Zeit vor 70 Jahren. Auf dem
Schild steht - ich zitiere diesen Satz -:
Ich bin im Ort das größte Schwein, ich lass mich
nur mit Juden ein.
Deutschland 2006. Diese Entwicklung ist bedrohlich
und muss uns zutiefst ängstigen.
({2})
Erschreckend ist aber auch, dass die antisemitische
Einstellung nicht nur bei den Ewiggestrigen vorkommt
und nicht nur bei extremistischen Parteien anzutreffen
ist, sondern dass sie auch einen Resonanzboden in der
Mitte der Gesellschaft hat. Wir müssen uns in diesem
Zusammenhang die Frage stellen: Was müssen wir heute
unter Antisemitismus verstehen? Das Spektrum von
Antworten, die hier gegeben werden, ist recht vielfältig.
Eine Erklärung gibt Professor Werner Bergmann vom
Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen
Universität Berlin - ich zitiere -:
Es handelt sich beim Antisemitismus … nicht bloß
um Xenophobie oder um ein religiöses und soziales
Vorurteil, das es gegenüber Juden auch gibt, sondern um ein spezifisches Phänomen: eine antimoderne Weltanschauung, die in der Existenz der Juden die Ursache sozialer, politischer, religiöser und
kultureller Probleme sieht. Entsprechend wurden
und werden bestimmte moderne politische Strömungen und Ordnungen … oder wirtschaftliche
Entwicklungen … als Erfindungen jüdischen Geistes betrachtet, die den anderen Nationen als etwas
Fremdes aufgezwungen werden.
Wenn man sich diesen Erklärungsversuch vergegenwärtigt und ihn mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit
verknüpft, wird eines deutlich: Wir können Antisemitismus nicht allein mit einer Ausrichtung an zwölf Jahren
schrecklicher deutscher Geschichte bekämpfen. Wir
brauchen neue und vor allen Dingen moderne Bildungskonzepte, um uns mit dem Vorurteil, dass Antisemitismus zeitlich nur auf die Jahre von 1933 bis 1945 fixiert
werden kann, auseinanderzusetzen.
({3})
Wir dürfen uns auch nicht dem Irrglauben hingeben,
dass die Mahnung an unsere jüngere Geschichte bereits
genug ist, um Antisemitismus erfolgreich zu bekämpfen.
Wer so argumentiert und es beim ausschließlich historischen Bildungsansatz bewenden lassen möchte, macht
es sich am Ende zu einfach.
({4})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich bemühe mich, mich kurzzufassen.
Für ein Urteil gilt, dass es widerlegt werden kann. Für
Vorurteile gilt das nicht; sie können nicht widerlegt werden. Im Sinne des eben vorgetragenen Zitates ist Antisemitismus ein Vorurteil. Deswegen ist der Kampf gegen
Antisemitismus keine befristete Aufgabe, sondern eine
dauernde Aufgabe. Lassen Sie uns gemeinsam in diesen
Kampf gehen!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Die Kollegin Gabriele Fograscher hat jetzt das Wort
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bedauere - das sage ich für die SPD-Bundestagsfraktion -, dass es trotz vielfältiger Bemühungen, die
bis zum Schluss angehalten haben, nicht gelungen ist,
hier einen gemeinsamen Antrag aller fünf Fraktionen zustande zu bringen.
({0})
Mit den Äußerungen einiger Unionspolitiker in der öffentlichen Diskussion, die einzig zum Ziel hatten, die
Linke mit fragwürdigen, historisch falschen Argumenten
auszugrenzen - Herr Uhl, Sie haben das hier wiederholt -,
({1})
haben sie selbst ein unwürdiges Zeichen gesetzt. Das
müssen Sie auch verantworten.
({2})
Zu Ihrer Erinnerung: Bei dem Antrag „Existenzrecht
Israels ist deutsche Verpflichtung“ sind Sie über Ihren
Schatten gesprungen und haben die Linksfraktion als
Mitantragsteller akzeptiert. Ich zitiere in diesem Zusammenhang Salomon Korn, den Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland:
Es wäre wichtig gewesen, an diesem besonderen
Datum auch den Zeitzeugen gegenüber ein Zeichen
der Solidarität zu setzen.
Es hätte Ihnen gut angestanden, diese Gelegenheit
heute hier zu nutzen.
({3})
In wenigen Tagen jährt sich eines der schlimmsten
Kapitel der deutschen Geschichte zum 70. Mal: die
Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November
1938. In jener Nacht im November brannten jüdische
Synagogen in ganz Deutschland. Angehörige der SA
und der SS zertrümmerten die Schaufenster jüdischer
Geschäfte, demolierten die Wohnungen jüdischer Bürgerinnen und Bürger und misshandelten ihre Bewohner.
Mehr als 1 300 Menschen starben in jener Nacht. Mehr
als 1 400 Synagogen und Gebetshäuser gingen in
Deutschland und Österreich in Flammen auf, wurden beschädigt oder ganz zerstört. Mehr als 30 000 männliche
Juden wurden in Konzentrationslager verschleppt. Die
Reichskristallnacht war der Höhepunkt eines staatlichen
Antisemitismus, der mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 begonnen hatte.
Große Teile der Bevölkerung zeigten keinen zivilen
Widerstand gegen die Verbrechen. Im Gegenteil: Auch
Nichtangehörige von SA und SS beteiligten sich aktiv an
den Zerstörungen und Brandschatzungen oder sie sahen
weg. Wenige - zu wenige - leisteten Widerstand, versteckten und schützten jüdische Mitbürgerinnen und
Mitbürger und riskierten damit ihr eigenes Leben.
In den folgenden Jahren kam es zu weiteren Entrechtungen, Enteignungen, Zwangsarisierungen. Juden
wurden zur Auswanderung gezwungen. Es begann die
systematische Ermordung der Juden in den Konzentrationslagern. Diese Geschehnisse im Herbst 1938 waren
der Auftakt; jegliches Zeugnis jüdischen Lebens in
Deutschland sollte vernichtet werden.
Doch heute, 70 Jahre nach der Reichspogromnacht,
gibt es zum Glück wieder jüdisches Leben in Deutschland. Seit 43 Jahren unterhält Deutschland freundschaftliche und diplomatische Beziehungen mit dem Staat
Israel. Diese Geste Israels, 20 Jahre nach dem Holocaust
auf Deutschland zuzugehen, ist beispiellos. Dafür sind
wir dankbar.
({4})
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion und die
deutsche Sozialdemokratie begrüßen die kulturelle Bereicherung durch das jüdische Leben in Deutschland.
Wir wollen und müssen Lehren aus der Geschichte ziehen. Antisemitismus ist auch heute noch ein ernstzunehmendes Problem in Deutschland. Noch heute müssen
sämtliche jüdische Einrichtungen in Deutschland besonders gesichert werden. Im Jahr 2007 wurden 1 541 antisemitische Straftaten registriert, darunter 59 Gewalttaten, die sich gegen Jüdinnen und Juden gerichtet haben.
Antisemitismus ist Bestandteil der rechtsextremen
Ideologie. Nicht nur die Wahlerfolge rechtsextremer Parteien und die seit Jahren hohe Zahl rechtsextremistisch
motivierter Straftaten, sondern auch die durch Studien
belegte rechtsextremistische Einstellung in allen Schichten der Bevölkerung erfordern unser entschiedenes Handeln. Die große Mehrheit der Deutschen lehnt Antisemitismus entschieden ab. Aber es gibt eben auch eine
nennenswerte konstante Minderheit, die antisemitisch
denkt. 8,4 Prozent haben - so die in diesem Jahr von der
Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichte Studie „Ein
Blick in die Mitte“ - Vorurteile gegen Mitbürgerinnen
und Mitbürger jüdischen Glaubens.
Politik allein kann das Problem des Antisemitismus
und des Antizionismus nicht lösen. Politik kann und muss
aber Impulse geben, um die Zivilgesellschaft zu stärken
und alle demokratischen Akteure und Kräfte zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung deshalb auf, ein Expertengremium einzusetzen, das
in regelmäßigen Abständen einen Antisemitismusbericht
für Deutschland erstellen und Empfehlungen zur Entwicklung und Weiterentwicklung von Programmen gegen
Rechtsextremismus und Antisemitismus geben soll.
Neben der Förderung des weiteren Aufbaus und der
Pflege jüdischer akademischer, kultureller und gesellschaftlicher Institutionen möchten wir dafür werben,
dass jüdisches Leben und die jüdische Geschichte in die
Lehrpläne an Schulen aufgenommen und unsere demokratischen Werte, die Menschenrechte sowie die religiöse und kulturelle Vielfalt aktiv im Unterricht vermittelt werden. Nur so können wir es erreichen, dass unsere
Kinder und Jugendlichen tolerante, selbstbewusste und
vorurteilsfreie Erwachsene werden, die diese Werte leben und an die folgenden Generationen weitergeben.
Die Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus
beinhalten und fördern auch Projekte und Initiativen gegen Antisemitismus. Viele dieser Projekte arbeiten sehr
erfolgreich, können aufgrund des Modellcharakters aber
nicht langfristig fortgesetzt werden und somit nicht
nachhaltig wirken. Das vorwiegende Anliegen von uns
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist, Lösungen zu finden, diese erfolgreichen Projekte nicht nur
zeitlich befristet zu fördern, sondern nachhaltig finanziell abzusichern.
({5})
Ich möchte schließen mit einem Zitat aus einer Rede,
die Johannes Rau im Jahr 2000 vor der Knesset gehalten
hat:
Deutschland will ein offenes, liberales und gastfreundliches Land sein, in dem Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen ihren Platz
haben und zusammenleben können. Das setzt die
Bereitschaft zur guten Nachbarschaft voraus, die
sich im Alltag bewähren muss. Das heißt, nicht das
Trennende, sondern das Verbindende zu suchen.
Bei allen kulturellen und religiösen Unterschieden
sollten wir die gemeinsamen Werte suchen und
pflegen.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Petra Pau hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mein erster Gedanke gilt den Millionen Jüdinnen
und Juden, die in der NS-Zeit gedemütigt, vertrieben und
ermordet wurden. Mein zweiter Gedanke gilt den Jüdinnen und Juden, die trotz alledem heute wieder mit uns leben. Der Schmerz und der Dank gehören zusammen,
ebenso die Sorge, dass sich nie wiederholen möge, was
schon einmal geschehen ist.
Vor 70 Jahren, am 9. November 1938, ging das NSRegime zum offenen Angriff auf Jüdinnen und Juden
über. Die sogenannte Pogromnacht war die Generalprobe für den Holocaust. Allzu viele sahen zu. Eine
Lehre aus dieser furchtbaren Geschichte war: Das NSRegime kam nicht an die Macht, weil die NSDAP so
stark war. Es kam an die Macht, weil die Demokraten in
zentralen Fragen zerstritten und deshalb zu schwach waren. Ich wünschte, alle hätten diese Lektion gelernt.
({0})
Ich möchte an vier Ereignisse jüngeren Datums erinnern. Vor reichlich einem Jahr wurde in Berlin eine jüdische Schule mit antisemitischen Parolen beschmiert.
Auf das Spielzeug des dazugehörenden jüdischen Kindergartens wurden SS-Runen geschmiert.
Die Fußballer des jüdischen Vereins TuS Makkabi
brachen ein Spiel ab. Sie wurden fortwährend antisemitisch beschimpft und mit Sprechchören wie „Hier regiert
die NPD und nicht der DFB“ bedroht.
Aktuelle empirische Untersuchungen belegen, dass
25 Prozent der Bevölkerung latent antisemitisch eingestellt sind; im Westen der Bundesrepublik übrigens mehr
als im Osten.
Eine Antwort der Bundesregierung auf eine Frage der
Fraktion Die Linke ergab, dass seit Jahren im statistischen Schnitt Woche für Woche ein jüdischer Friedhof
geschändet wird, und zwar bundesweit.
Die letztgenannte Meldung war übrigens der Anlass
dafür, dass sich vor Jahresfrist Abgeordnete aus allen
Fraktionen des Bundestages fanden, um gemeinsam etwas gegen diese schlimmen Befunde zu tun. Auch daran
möchte ich erinnern: Im Mai dieses Jahres hatten wir
hier eine Debatte aus Anlass des 60-jährigen Bestehens
Israels. Ich mahnte damals für die Fraktion Die Linke:
Man kann nicht 60 Jahre Israel würdigen, ohne zugleich
über den aktuellen Antisemitismus zu sprechen. Abschließend sprach ich von der überfraktionellen Arbeitsgruppe gegen Antisemitismus. Im Protokoll ist dazu vermerkt: Beifall bei der Linken, bei der SPD, beim
Bündnis 90/Die Grünen, bei der FDP und bei der CDU/
CSU.
Die gemeinsame Arbeit kam gut voran. Die Fachpolitiker suchten das Gemeinsame im Trennenden. Dann
übernahmen Machtpolitiker das Vorhaben. Sie suchten
das Trennende im Gemeinsamen. Seither kann von einem starken Signal des Bundestages keine Rede mehr
sein. Viele Kommentatoren, auch jüdische Organisationen bescheinigen uns stattdessen ein Trauerspiel. Ich bedauere das außerordentlich.
({1})
Wie aber kommt es, dass die Union im Mai ein gemeinsames Vorhaben beklatscht und dasselbe im September vehement bekämpft? Ich habe dafür nur eine Erklärung. Die neue Wahlstrategie der Union für 2009
lautet kurz gefasst: Die Linke prügeln, um die SPD zu
treffen. Dass man dafür sogar ein mögliches Miteinander
aller Bundestagsfraktionen gegen Antisemitismus und
für jüdisches Leben opfert, das wiederum finde ich geschichtsvergessen, kurzsichtig und würdelos.
({2})
Dasselbe trifft auf die meisten bemühten Unionsvorwürfe gegen die Linksfraktion zu. Erst wurde suggeriert,
die DDR sei mit den Juden genauso umgegangen wie
seinerzeit das NS-Regime. Schließlich wurde die Linke
pauschal als antisemitisch diffamiert. Beides ist infam.
({3})
Wieder und wieder wurde ich von Journalisten bedrängt, ich möge nun doch endlich mit gleicher Elle
heimzahlen. Ich habe das nicht getan und auch meine
Fraktion nicht. Ich wollte das kleinkarierte Parteiengezänk nicht noch selbst vergrößern. Mein Rat ist älter. Ich
empfehle insbesondere den vermeintlich christlichen
Parteien Johannes 8: Wer von euch ohne Sünde ist,
werfe als Erster einen Stein.
Es gibt ohnehin bessere Beispiele. In Delmenhorst
fand sich parteiübergreifend ein sehr breites gesellschaftliches Bündnis, um zu verhindern, dass Neonazis
dort ein bundesweites Schulungszentrum errichten. Dieses Bündnis hatte Erfolg. Im Land Brandenburg verhinderte ein ebenso breites Bündnis mit einem „Fest der
Demokratie“, dass rechtsextreme Kameraden auf dem
Soldatenfriedhof Halbe ein Heldengedenken für die
Wehrmacht inszenieren konnten. Erst vor wenigen Wochen hat die CSU im bayerischen Memmingen gemeinsam mit der Linkspartei und vielen anderen gegen einen
Aufmarsch der NPD demonstriert; ich war dabei. Alle,
die solche Zivilcourage zeigen, haben einen Anspruch
darauf, dass der Bundestag sie in ihrem täglichen Kampf
gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus unterstützt und keine egoistischen Signale dagegensetzt.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke hat den
Antrag der anderen Fraktionen übernommen. Wir stellen
ihn als eigenen Antrag wortgleich zur Abstimmung. Ich
appelliere an uns alle: Gehen wir souverän damit um!
Die Linke tut dies, wohl wissend, dass der aktuelle Antrag, was seine konkreten Vorhaben angeht, schwächer
ist als der Entwurf, den der überfraktionelle Arbeitskreis
im Konsens unterbreitet hatte, und wohl wissend, dass
die eigenen Vorschläge der Linksfraktion weitgehender
sind, als es der Kompromiss des Arbeitskreises war.
Aber die aktuelle Alternative heißt: Entweder schwächt
der Bundestag die gesellschaftlichen Bündnisse, oder
wir kehren gemeinsam zur Vernunft zurück. Ich plädiere
für Vernunft. Alles andere wäre fatal.
({5})
Renate Künast hat jetzt das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alle
Fraktionen des Deutschen Bundestages verpflichten sich
heute gemeinsam, jüdisches Leben in Deutschland zu
fördern, den Kampf gegen den Antisemitismus zu verstärken und für konkrete Projekte Geld in die Hand zu
nehmen. Ich bin froh darüber, dass wir im Vergleich zu
dem Antrag, der noch bis vor kurzem vorgelegen hat,
zwei Verbesserungen erzielt haben; hier bin ich anderer
Ansicht als Frau Pau.
Der erste Punkt ist, dass die Formulierung, durch die
die Linkspartei ausgeschlossen wurde, gestrichen worden ist. Darüber bin ich froh, weil ich finde, dass man
des 70. Jahrestages der Pogromnacht und ihrer Folgen
nur dann angemessen gedenken kann, wenn man jetzt
nicht wieder das tut, was auch damals am Anfang stand,
dass man nämlich jemanden ausgrenzt, welcher Partei
auch immer er angehört.
Frau Pau, der zweite Verhandlungserfolg ist, dass
jetzt konkrete Projekte benannt sind. Wer für den Beauftragten war, fand den alten Antrag vielleicht besser.
Ich finde es aber besser, dass nun avisiert ist, konkrete
Projekte - quer durch das ganze Land, überall dort, wo
Menschen vor Ort mühevolle Arbeit verrichten - auf
Dauer zu finanzieren und nicht nur als Modellprojekte.
Insofern glaube ich, dass uns ein guter Antrag vorliegt.
({0})
Ich will an dieser Stelle all denen danken, um die es
dabei auch geht. Denn wir gedenken nicht nur, sondern
es muss hier und heute auch um all diejenigen gehen, die
vor Ort in den Projekten arbeiten. Beispiele sind das Projekt Exit, dessen finanzielle Förderung leider ausgelaufen ist, und die weiteren Anlaufstellen für NPD-Aussteiger. Außerdem werden in vielen Städten quer durch das
Land Jugendprojekte durchgeführt. Diejenigen, die sich
dort engagieren, sind zum Teil selbst Druck und Bedrohungen ausgesetzt. All diesen Menschen sollten wir gemeinsam danken, egal welcher Fraktion wir angehören.
({1})
Ich glaube, wir im Deutschen Bundestag haben buchstäblich in letzter Minute eine sehr große Blamage verhindert. Früher, als ich Jugendliche und junge Erwachsene war, hatte ich manchmal einen Kloß im Hals, wenn
ich an die Art dachte, wie wir in der alten Bundesrepublik mit der NS-Zeit umgegangen sind; da lag nämlich
manches im Argen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Als ich
heute die Rede von Herrn Uhl hörte, hatte ich wieder einen Kloß im Hals, und er ist noch nicht weg.
Ich muss jetzt sagen: Trotz alledem, trotz seiner Rede,
stimmen wir diesem Antrag zu.
({2})
Das war unglaublich selbstgerecht, Herr Uhl.
Ich glaube, die Jüdinnen und Juden in Deutschland
und alle Demokratinnen und Demokraten in diesem
Land dürfen erwarten, dass wir uns in dieser Frage einig
sind, dass wir tatsächlich nach vorne gehen und dass wir
heute und hier das Signal senden: Jeder Antisemit und
jede Antisemitin soll wissen, dass sie außerhalb des demokratischen Spektrums stehen. Jeder Antisemit und
jede Antisemitin in diesem Land soll wissen, dass sie damit außerhalb des Spektrums aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien stehen.
({3})
Das ist das notwendige Signal und Zeichen.
Wir alle wissen - das ist hier schon gesagt worden -,
dass Antisemitismus nicht auf den politischen Extremismus beschränkt ist. Er ist auch kein Unterschichtenproblem, sondern er ist quer durch die verschiedenen
Schichten dieses Landes vertreten. Es gibt täglich Angriffe auf jüdische Einrichtungen. Gerade am Wochenende hat es in Berlin einen Angriff auf einen jüdischen
Rabbiner und seine Schülerinnen und Schüler gegeben.
Die Menschen erleben diese Angst also heute hier. Wir
alle zusammen müssen sagen: Wir stehen mit euch zusammen und kämpfen für dieses „Nie wieder“.
({4})
Wir dürfen das auch nicht kleinreden. Wir wissen,
dass es innerhalb des Rechtsextremismus Leute gibt, die
seit vielen Jahren versuchen, in diesem Land, wie sie es
nennen, national befreite Zonen zu organisieren, sodass
es Bereiche gibt, in denen junge Menschen gar kein Jugendzentrum mehr finden, in dem nicht alle anderen antisemitisch und rechtsextrem sind. Wie sollen denn diese
zehn-, elf- und zwölfjährigen Kinder - gerade die Jungen, die aus dem Elternhaus herausgehen und eine Bezugsgruppe suchen, an der sie teilhaben und sich orientieren können - eigentlich als kleine Demokraten
aufwachsen können, wenn wir nicht alle gemeinsam an
dieser Stelle stehen und „Nie wieder“ und „Gegen den
Antisemitismus“ sagen?
Gerade weil Herr Uhl von seinen elf Minuten Redezeit, ich glaube, fast zehn Minuten für die Auseinandersetzung mit der Partei Die Linke verwendet hat, muss
ich sagen: Lassen Sie uns an dieser Stelle keine Lebenslügen aufbauen. Deshalb sage ich klar: Es gab eine lückenhafte Aufarbeitung. Das war ja auch das Desaster
dieser Länder. Es gab personelle und ideologische Kontinuitäten nach dem Ende des Dritten Reichs. Die gab es
aber überall. Es gab sie in der DDR, und es gab sie in der
frühen Bundesrepublik. Wer hier spricht und andere kritisiert, dabei aber nur das eine benennt, ohne auch das
andere zu benennen, Herr Uhl, ist nicht glaubwürdig.
({5})
Die DDR hat Israel nie anerkannt. Sie hat alte NSVertreter und Soldaten weiterbeschäftigt und so getan,
als sei nichts. Ich bin in der frühen Bundesrepublik groß
geworden und weiß, dass es einen Globke gab, dass es
herbe Auseinandersetzungen über Filbinger gab, dass es
lange dauerte, bis klar war, dass die, die nach der KZZeit im Nationalsozialismus im Westen irgendeiner wilden K-Gruppe angehörten, keine Opferentschädigung
erhielten, und dass kein einziger NS-Jurist letztinstanzlich rechtskräftig verurteilt wurde. Das alles liegt mir auf
der Seele und war mir sowieso wie ein Kloß im Hals.
Durch Herrn Uhls Rede ist er noch größer geworden.
Lassen Sie uns an dieser Stelle keine falschen Signale
geben!
Ich will Ihnen zwei Leute aus Ihren Reihen benennen,
die mich in diesem Zusammenhang beeindrucken. 1992
- es war am 8. November 1992 am Lustgarten - hat es in
Berlin eine sehr große Demonstration gegeben. Viele haben gesagt, dass diese Demonstration von 400 000 Menschen unter dem Titel „Die Würde des Menschen ist unantastbar - Gegen Ausländerfeindlichkeit, Rassismus
und Antisemitismus“ die größte der Nachkriegszeit war.
Ich habe sie gemeinsam mit anderen initiiert, und ich
weiß noch, wie wir im Berliner Abgeordnetenhaus - das
wurde später von vielen anderen, auch von von
Weizsäcker, Süssmuth und anderen unterstützt - saßen
und auch die CDU sagte: nicht mit der PDS, wie sie damals noch hieß.
Ich ging dann zu einer der stärksten Frauen, die die
CDU in Berlin je hatte, nämlich zu Hanna-Renate
Laurien. Sie war Präsidentin des Abgeordnetenhauses.
Sie saß da und sagte: Wenn sie das untereinander nicht
wollen, dann rufe ich als Parlamentspräsidentin für alle
auf. - Das ganze Abgeordnetenhaus sagte: Die Würde
des Menschen ist unantastbar. - 400 000 Menschen, Parteien, NGOs, Gewerkschaften: Alle waren auf der Straße.
Ich finde, Hanna-Renate Laurin ist eine große und starke
Frau.
({6})
Ich muss noch jemanden aus der CSU nennen. Denn
damals hat sich die CSU geweigert, daran teilzunehmen.
Max Streibl hat es als bloße Schaufensterveranstaltung
bezeichnet, an der die CSU nicht teilnehme - und das
nach Hoyerswerda, Hünxe und Lichtenhagen. Er ist
nicht hingegangen. Enoch zu Guttenberg, der Vater des
neuen CSU-Generalsekretärs zu Guttenberg, hat einen
Großonkel - er ist also der Urgroßonkel des CSU-Generalsekretärs - namens Karl Ludwig zu Guttenberg. Er
war Widerstandskämpfer in dem Kreis um Stauffenberg.
Enoch zu Guttenberg war damals über Streibl entsetzt.
Er hat mit ihm diskutiert, und weil Streibl sich immer
noch weigerte, hat er seinen Austritt aus der CSU erklärt.
Ich finde, er ist ein mutiger Mann, weil er die Sache über
eine Partei stellte, der er nahestand.
Ich finde es gut, dass uns die Geschäftsordnung die
Chance gibt, das Ganze zu retten, und dass wir heute gemeinsam über die Anträge abstimmen. Es geht um das
Gedenken an die NS-Opfer und den gemeinsamen
Kampf gegen Antisemitismus. Wir werden das Thema
hier wieder diskutieren.
({7})
Kristina Köhler ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! In wenigen Tagen jähren sich zum 70. Mal die Novemberpogrome des
Jahres 1938. In der Nacht vom 9. zum 10. November
wurden über 1 000 jüdische Synagogen in ganz Deutschland beschädigt oder in Brand gesetzt. Unzählige jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden zerstört. Hunderte Menschen verloren ihr Leben. 30 000 Juden
wurden am nächsten Tag, dem 10. November, in Konzentrationslager verschleppt.
Zuvor waren an menschenfeindlichem Zynismus
nicht mehr zu überbietende Fernschreiben, gezeichnet
vom damaligen SS-Führer Heydrich, bei Stellen der
Staatspolizei eingegangen. In diesen hieß es zum Beispiel - ich zitiere -:
Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden,
die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen ({0}).
Diese Nacht des organisierten Terrors war nicht der
Ausgangspunkt des Holocaust. Seine Wurzeln liegen
viel früher und tiefer. Diese Nacht lieferte jedoch für alle
im In- und Ausland den sichtbaren Beweis, dass die Nationalsozialisten mit dem von Goebbels ausgerufenen
Ziel eines sogenannten judenfreien Reiches ernst machen wollten - zumindest für alle, die das Sichtbare auch
sehen wollten.
In dieser Nacht wurden die jüdischen Bürger unseres
Landes zum Objekt degradiert. Der Historiker Hans
Mommsen schrieb dazu - ich zitiere -:
Zweifellos trugen die Ereignisse des Pogroms und
seine Folgen entscheidend zu der „Entpersönlichung“ der jüdischen Mitbürger bei, die eine wichtige psychologische Voraussetzung des Genozids
war.
Der Einzelne mag mit diesen damals organisierten
Ausschreitungen noch nicht verbunden haben, was später in den Todesfabriken von Treblinka oder Auschwitz
passierte, wie es der leider viel zu früh verstorbene ehemalige Präsident des Zentralrates der Juden, Paul
Spiegel, formulierte. Er sagte aber:
Doch war nicht alles, was bis Mitte November 1938
geschehen war, schon schrecklich und menschenverachtend genug?
Das war es. Dies zu wissen, verpflichtet uns alle, auf Antisemitismus und Menschenverachtung nicht mit Erschrecken oder Schweigen zu reagieren, sondern aufzustehen und zu sagen: „Nie wieder! Erst recht nicht in
Deutschland!“
({1})
Die Bekämpfung des Antisemitismus muss für uns alle
in diesem Haus auch im Jahr 2008 eine besondere Aufgabe sein.
Freilich ist es nicht so - auch dieses Signal wäre verheerend oder falsch -, dass Bundesregierungen in den
letzten Jahrzehnten die Bekämpfung des Antisemitismus
nicht ernst genommen hätten, ganz im Gegenteil. Dabei
schließe ich alle in diesen Jahren an den Regierungen beteiligten Fraktionen ein. Es ist auch nicht so, dass der
Antisemitismus in Deutschland in diesen Jahren, verglichen mit anderen Ländern, besonders auffällig wäre oder
überproportional zugenommen hätte. Auch dieser Eindruck ist falsch. Aber zum einen müssen wir nach wie
vor zur Kenntnis nehmen, dass etwa im Jahr 2007
1 500 antisemitische Straftaten, darunter 1 300 Propagandadelikte oder Fälle von Volksverhetzung sowie
59 Gewalttaten registriert wurden. Zum anderen gibt es
den Satz unseres Bundestagspräsidenten Norbert
Lammert, der immer wieder eindringlich mahnt und
richtigerweise formuliert hat:
Antisemitismus, wo immer er auftritt, ist nicht akzeptabel. In Deutschland ist er unerträglich.
Gerade weil er in Deutschland unerträglich ist, haben
wir eine besondere Verantwortung. Diese Verantwortung
ist ein Auftrag ohne Verfallsdatum. Diese Verantwortung
erschöpft sich nach meiner festen Überzeugung nicht in
symbolischen Gesten.
Der Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen, über den wir heute beraten, kann
deshalb nicht nur der Erinnerung und der Symbolik dienen; denn das Geschwür des Antisemitismus entwickelt
sich weiter. Deswegen muss sich auch die Antisemitismusbekämpfung weiterentwickeln. Sie muss es in der
Frage der Unterstützung zivilgesellschaftlicher Initiativen. Sie muss es in der Frage der Bildung, die mit zunehmendem persönlichen und zeitlichen Abstand vom
Holocaust vor neuen Aufgaben der Vermittlung steht.
Sie muss es aber auch in der grundsätzlichen Frage, aus
welchen Quellen sich der Antisemitismus von heute
überhaupt speist; denn ohne eine umfangreiche Analyse,
woher das Geschwür des Antisemitismus kommt, ist die
Antisemitismusbekämpfung nur ein Placebo. Deswegen
ist es richtig, in regelmäßigen Abständen Expertenberichte zum Antisemitismus erstellen zu lassen. Das haben wir gefordert, und das unterstützen wir.
({2})
Zum Thema Linke und zum Thema antisemitischer
Antizionismus nur ein einziger Satz: Der Kollege Uhl
hat Ihnen Zitate von hochrangigen Funktionsträgern der
Linken vorgetragen. Das Schlimme ist nicht in erster Linie, dass es solche Äußerungen gibt. Dagegen ist keine
Partei gefeit. Das Schlimme ist vielmehr, dass kein Einziger dieser Abgeordneten oder Funktionsträger für
diese Äußerungen seinen Hut nehmen musste. Das sagt
alles.
({3})
Der Deutsche Bundestag wird heute seiner Verantwortung gerecht. Wir werden niemals mehr verstummen, und wir werden niemals mehr schweigen, wenn
Menschenverachtung oder Judenhass versuchen, sich
Bahn zu brechen. Für mich als relativ junge AbgeordKristina Köhler ({4})
nete ist dabei der Auftrag maßgebend, den unser damaliger Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner
Rede vom 8. Mai 1985 formuliert hat:
Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was
damals geschah. Aber sie sind dafür verantwortlich,
was in der Geschichte daraus wird.
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Markus Löning,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Es ist
unsere Verantwortung als Abgeordnete des Deutschen
Bundestages, die Freiheit unserer Gesellschaft und unserer Gesellschaftsordnung zu verteidigen. Es ist unsere
Verantwortung als frei gewählte Abgeordnete des deutschen Volkes, uns für die Werte unserer Verfassung einzusetzen und für die Werte unserer Verfassung zu kämpfen. Das ist eine Verpflichtung, die uns die Geschichte
lehrt. Die Weimarer Republik ist daran gescheitert, dass
die Mitte der Gesellschaft nicht bereit war, sich für die
Werte und die Freiheit der Gesellschaft einzusetzen.
Daraus müssen wir die Lehre ziehen.
({0})
Es ist daher unsere Verantwortung als Abgeordnete,
die Feinde der Freiheit und Angriffe auf die Freiheit abzuwehren. Antisemitismus in all seinen Facetten ist ein
schwerwiegender Angriff auf die Freiheit von Menschen
in unserem Land, auf die Freiheit einer Minderheit und
damit ein Angriff auf die Freiheit unserer Gesellschaft,
ein Angriff auf unser aller Freiheit.
({1})
Der Gradmesser für die Freiheit einer Gesellschaft ist
immer die Freiheit von Minderheiten. Wie frei und wie
sicher fühlt man sich in Deutschland, wenn man eine
Kippa oder als Schmuckstück einen kleinen silbernen
Davidstern trägt? Es wurden heute schon verschiedene
Beispiele genannt. Frau Künast, Sie haben die Angriffe,
die gerade in dieser Woche in Berlin stattgefunden haben, angesprochen. Wie sicher und wie frei fühlt man
sich, wenn man sich erkennbar als Jude in unserer Gesellschaft bewegt? Da müssen wir ansetzen, meine Damen und Herren.
({2})
Die Versuche, im Kampf gegen Antisemitismus etwas
zu erreichen, wirken oft hilflos. Wir haben über verschiedene Maßnahmen diskutiert, die wir als Abgeordnete ergreifen können: die Einrichtung einer EnqueteKommission, die Einsetzung eines Beauftragten für den
Kampf gegen Antisemitismus; jetzt sollen ein Expertengremium eingesetzt und ein jährlicher Bericht erstellt
werden. Der Kern der Sache ist doch, dass wir als Abgeordnete unsere Verantwortung wahrnehmen, das, was
wir in diesem Land sehen, zum Thema zu machen, in die
Öffentlichkeit zu tragen, Übergriffe zu geißeln und zu
sagen, dass es in unserem Land nicht akzeptabel ist,
wenn Leute ausgegrenzt werden.
({3})
Eines ist ganz klar für unsere Gesellschaftsordnung:
Der Kampf gegen den Antisemitismus, der entschlossene gemeinsame Kampf aller Demokraten und aller
Parteien ist ein konstitutives Element unserer Gesellschaft, unserer freien Bundesrepublik. Wir dürfen nicht
nachlassen, dies immer wieder gemeinsam zu tun. Wenn
wir die Geschlossenheit an dieser Stelle aufgeben, so
öffnen wir die falsche Tür. Ich denke, es ist unerlässlich,
dass wir als Deutscher Bundestag hier geschlossen stehen, um ein gemeinsames und entschlossenes Signal gegen Antisemitismus, gegen Diskriminierung von Minderheiten und für die Freiheit in unserer Gesellschaft zu
setzen.
Vielen Dank.
({4})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin von der Unionsfraktion, ja, Antisemitismus gibt es in vielen Ländern
dieser Erde, aber für uns Deutsche ist es noch einmal etwas anderes.
({0})
Denn wir wissen: Der Antisemitismus kommt wie der
Dieb in der Nacht, und wenn er da ist, dann greift er von
innen an. Wir haben in der Weimarer Republik erlebt,
wohin das führt. Es führt zum Mord an der Demokratie,
und es führt dazu, dass Menschen ausgerottet werden.
Das ist es, was Antisemitismus für uns Deutsche bedeutet. Deswegen darf es für uns nicht darum gehen, zu verharmlosen, zu beschönigen, gar davonzulaufen
({1})
oder mit dem Finger auf andere zu zeigen; denn immer
wenn man mit einem Finger auf andere zeigt, weisen
drei Finger auf einen selbst zurück.
({2})
Der 9. November 1938, als die vielen Synagogen - es
waren wohl 1 500 an der Zahl - in Flammen aufgegan19778
Gert Weisskirchen ({3})
gen sind und viele Hunderte von Juden erschlagen, ermordet worden sind, war der Vorschein dessen, was sich
im Holocaust zeigte: die industrielle Ermordung von
Menschen. Ihnen wurde das Recht genommen, Rechte
zu haben, wie Hannah Arendt es ausgedrückt hat. Das
war der Vorschein dessen, was damals am 9. November
in vielen Städten Deutschlands geschah.
Dieser Vorschein hat dazu geführt, dass bis zum Ende
aller Zeit, dass bis an das Ende aller Tage der Name Holocaust in den Namen Deutschlands eingebrannt bleibt,
ich wiederhole: eingebrannt bleibt. Weil das so ist, müssen wir - ich bin der Frau Bundeskanzlerin dafür dankbar, dass sie das vor der Knesset so gesagt hat - anerkennen, dass die unverbrüchliche Zustimmung zum
Existenzrecht Israels unsere eigene Staatsräson ist.
({4})
Das ist ein Satz, der in die Geschichte gemeißelt ist und
der für uns Aufruf bleibt, auch für immer und für alle
Zeit.
Was bedeutet das heute, wenn wir uns anschauen,
dass Jüdinnen und Juden zurückkehren nach Deutschland, hierher kommen, in ein Land, lieber Kollege
Kauder, aus dem sie fliehen mussten, aus dem sie vertrieben wurden von Deutschen, die gemordet haben?
Wenn sie heute zurückkommen: Was bedeutet das für
unser eigenes Selbstverständnis? Ich finde, liebe Frau
Goodman-Thau - Sie sind aus Israel hierher gekommen
und hören dieser Debatte zu -, das ist ein ermutigendes
Zeichen für uns. Warum sind Jüdinnen und Juden nach
Deutschland zurückgekommen? Weil sie hier versuchen,
gemeinsam mit Deutschen an einem kollektiven Gedächtnis zu arbeiten, nämlich an einem Gedächtnis, das
immer getrennt bleiben wird - das ist der Schmerz, der
uns von Nazideutschland überlassen bleibt - zwischen
Tätern und Opfern. Nur das Partikulare der Opfer wird
uns und allen, die nach uns kommen, als Stachel und als
Pfeiler der Erinnerung in unserem eigenen politischen
Handeln bleiben.
Dieser Pfeiler, dieser Stachel des kollektiven Gedächtnisses wird uns aber auch das Fundament einer
Brücke in eine andere Zukunft sein, in eine Zukunft, in
der Jüdinnen und Juden erneut bei uns leben können und
versuchen, den Teil ihres historischen Gedächtnisses, der
von den Tätern immer getrennt bleiben wird, weil sie
Opfer waren, zu bewahren. Er wird ihnen aber eine
Chance geben, eine gemeinsame neue Brücke in die Zukunft zu bauen.
Ich verweise zum Beispiel auf Hermann Cohen, ein
deutscher Jude aus Marburg, demokratischer Sozialist.
Er war einer derjenigen, die mitgeholfen haben - wie
Rudolf Hilferding; man braucht nur das Buch Das
Finanzkapital zu lesen -, die Konflikte jener Zeit zu erkennen, zu bearbeiten und neue Wege zu gehen. Ich
muss sagen: Ich bin stolz darauf, dass jemand wie
Rudolf Hilferding Mitglied unserer sozialdemokratischen Fraktion war. Er hat uns deutlich gemacht, dass es
in jener Zeit andere Wege aus der Krise des internationalen Finanzkapitals geben konnte.
Also: Das, was an jüdischem Vermächtnis für unser
eigenes Gedächtnis unverzichtbar ist und bleibt, ist, dass
wir gemeinsam eine Brücke in die Zukunft bauen dürfen. Das erlauben uns sowohl diejenigen, die als Opfer
Deutschlands durch den Rauch von Auschwitz gehen
mussten, als auch diejenigen, die haben zurückkommen
dürfen, weil sie zurückkommen wollten. Das ist ein
großartiges Geschenk.
Ich bin dankbar dafür, dass wir dieses Geschenk jetzt
in dem Text gemeinsam festhalten. Das ist die Aufgabe,
jeden Tag neu gegen den Antisemitismus anzukämpfen,
ihm ein Stoppsignal entgegenzusetzen; denn wenn wir
das nicht tun, besteht die gleiche Gefahr wie in der Weimarer Republik: Er kommt wie der Dieb in der Nacht,
ermordet die Demokratie, und am Ende wird Deutschland im Innersten zerstört.
Das ist der Auftrag der Geschichte: Wir bauen an einem gemeinsamen neuen historischen Gedächtnis, und
wir tun das mit den jüdischen Gemeinden hier in
Deutschland - für eine neue, eine europäische Zukunft,
vielleicht sogar mit dem Ziel, dass Jüdinnen und Juden
in Deutschland wieder den Ort finden, der zuvor ausgelöscht worden war. Darum geht es. Ich bin dankbar dafür, dass wir das gemeinsam hier so beschließen.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Es ist vereinbart, dass
über die gleichlautenden Anträge der Fraktionen von
CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen sowie der Fraktion Die Linke gemeinsam abgestimmt werden soll.
Dazu liegt mir eine Erklärung von elf Mitgliedern der
Fraktion Die Linke nach § 31 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung vor,
({0})
in der sie erklären und erläutern, dass und warum sie
sich an dieser Abstimmung nicht beteiligen.
({1})
Die Erklärung fügen wir, wie immer in solchen Fällen,
dem Protokoll bei.1)
Wir stimmen jetzt ab über die Anträge auf den Drucksachen 16/10775 ({2}) und 16/10776 mit dem Titel
„Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken, jüdi-
sches Leben in Deutschland weiter fördern“. Wer stimmt
für diese Anträge? - Stimmt jemand dagegen? - Eine
Gegenstimme. Gibt es Enthaltungen? - Dann ist das mit
1) Anlage 2
Präsident Dr. Norbert Lammert
überwältigender Mehrheit des Deutschen Bundestages
so beschlossen.
({3})
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Vereinbarte Debatte
Wachstum stärken - Beschäftigung sichern Finanzmarktkrise überwinden
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie,
Michael Glos.
({4})
- Vielleicht warten wir noch einen Augenblick, bis der
neue Tagesordnungspunkt die notwendige Aufmerksamkeit findet.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Für unsere Wirtschaft müssen wir jetzt auf zwei Feldern
entschlossen handeln. Zum Ersten müssen wir wieder
Vertrauen schaffen - das ist ungeheuer wichtig -, und
zum Zweiten müssen wir das Wachstum stärken. An den
Finanzmärkten ist in den letzten Wochen, wie wir wissen, sehr viel Vertrauen zerstört worden. Vertrauen ist
eine kostbare Pflanze, die sehr leicht vernichtet werden
kann, aber nur ganz schwer wieder nachwächst. Deswegen dürfen wir nicht abwarten, bis sich in der Wirtschaft
alles zum Schlechteren wendet, sondern müssen Maßnahmen ergreifen, die einen Abschwung abwenden.
Die Wirtschaft kann weder ohne das nötige Vertrauen
noch ohne die nötigen Finanzmittel arbeiten. Insofern
begrüße ich, dass sich jetzt immer mehr Banken bereit
erklären, das anzunehmen, was wir als Bund insgesamt
anbieten. Wir möchten nämlich, dass die Banken ihr Eigenkapital so stärken, dass sie der Wirtschaft - darum
geht es uns - wieder Kreditmittel gewähren können.
({0})
Nur so können wir verhindern, dass die Finanzkrise zu
einer Krise der realen Wirtschaft wird.
Ich habe bei mir im Hause zusätzlich ein Sorgentelefon für den Mittelstand eingerichtet.
({1})
- Uns werden sehr viele Sorgen mitgeteilt. Wir hören
den Menschen auch zu - offensichtlich im Gegensatz zu
Ihnen. Der Mittelstand hat auch noch Vertrauen in unsere Handlungsfähigkeit. Wir wollten vor allen Dingen
wissen, wie es mit der Kreditversorgung aussieht. Da
hören wir erste Klagen. Wenn die Banken also nur ihre
Bilanzen konsolidierten oder möglicherweise sogar ihr
Kreditvolumen verkleinerten, um zu erreichen, dass die
Kernkapitalquote stimmt, dann wäre das der falsche
Weg. Wir möchten das Gegenteil erreichen.
({2})
Die Verbraucherinnen und Verbraucher, die gegenwärtig sozusagen noch gut handeln - ich höre vom Einzelhandel, dass der Konsum nicht zurückgeht -, brauchen weiterhin die nötige Kaufkraft. Um zu verhindern,
dass der Konsum zurückgeht, dürfen nun allerdings
nicht so hohe Löhne gefordert werden, dass möglicherweise die Wettbewerbsfähigkeit leidet. Vielmehr ist es
notwendig, dass nicht nur negative, sondern auch positive Entwicklungen auf dem Markt, die es ja auch gibt,
an die Verbraucher weitergegeben werden. Ich kann zum
Beispiel nicht verstehen, warum es unseren Energiekonzernen bzw. -versorgern nicht möglich ist, dafür zu sorgen, dass sich die stark gesunkenen Ölpreise noch vor
Beginn der Heizperiode auf die Gaspreise auswirken.
({3})
Wir brauchen hier offensichtlich noch mehr Wettbewerb,
als wir ohnedies haben;
({4})
denn der Wettbewerb löst die Probleme am allerbesten.
Wenn dieser durch die Koppelung des Gaspreises an den
Ölpreis nicht ohne Weiteres möglich ist, dann könnten
zumindest die Abschlagszahlungen gesenkt werden. Ich
habe den Eindruck, hier steckt ein Kaufkraftvolumen
von circa 15 Milliarden Euro,
({5})
das ansonsten im wahrsten Sinne des Wortes durch den
Schornstein geht.
({6})
Aber zurück zu dem Paket, das wir morgen im Kabinett verabschieden wollen. Uns geht es dabei insbesondere darum, das Wachstum zu stärken und die Beschäftigung zu sichern. Das Paket fördert in den Jahren 2009
und 2010 Investitionen in Höhe von insgesamt circa
50 Milliarden Euro. Zum einen werden langfristige Programme und Investitionsprojekte verstärkt, zum Beispiel der Ausbau der Infrastruktur. Das sind Maßnahmen, die nötig sind und jetzt vorgezogen werden
müssen. Zum anderen wird die Energieeinsparung gefördert. Wir geben befristet Impulse für diejenigen, die
in der Lage sind, jetzt zu investieren. Ich nenne nur ein
Beispiel für einen solchen Impuls: die auf zwei Jahre befristete Wiedereinführung der 30-prozentigen degressiven Abschreibung für bewegliche Wirtschaftsgüter.
Genauso wichtig ist es, dem Handwerk zu mehr Aufträgen zu verhelfen. Das tun wir, indem wir Schwarzarbeit bekämpfen und den Handwerkerbonus, der ungefähr 600 Euro beträgt, auf 1 200 Euro erhöhen.
({7})
Damit werden nötige Renovierungs- und Wartungsarbeiten sowie Energiesparinvestitionen angestoßen.
Vor allen Dingen darf es keine Kreditklemme für den
Mittelstand geben. Wir müssen den Mittelstand weiter
mit Kapital versorgen können. Hier kann der Staat nur
flankierende Hilfe leisten. Wir werden das tun, indem
wir die Kreditanstalt für Wiederaufbau zu einem Kreditprogramm in Höhe von 15 Milliarden Euro veranlassen.
Die Haushaltsbelastungen für dieses Programm liegen also weit unter dem Umfang der angestoßenen Investitionen. Es ist wichtig, zu sehen, wie viel mehr wir
mit dem, was an Haushaltsmitteln fließt, in Bewegung
setzen können.
Trotz der Krise müssen wir, wie ich meine, auch die
Angebotsseite verstärken, um so langfristige Wachstumsaussichten für unsere Volkswirtschaft zu ermöglichen.
Das steht nicht im Widerspruch zu konkreten Maßnahmen.
Ich will ein Beispiel herausgreifen, das sehr umstritten ist, auch in der eigenen Fraktion. Wir haben jetzt das
Problem, dass die Automobilproduktion stoppt. Viele
Bänder wurden angehalten, viele Fabriken pausieren.
Der Druck wird hauptsächlich auf die Zulieferer abgegeben, insbesondere auf die kleinen Zulieferer, die mit dieser Krise schwerer fertig werden. Ich kann nur an die
Automobilfirmen appellieren, dass sie mit ihren Zulieferern pfleglich umgehen. All diese wird man wieder brauchen.
({8})
Wir wollen deswegen per Kabinettsbeschluss die
Kfz-Steuer für Neuwagen - das ist eine Art symbolischer Akt, der zeigt, wie wichtig für uns die Automobilindustrie ist, von der jeder sechste Arbeitsplatz in
Deutschland abhängt - für ein Jahr aussetzen, weil jedes
neu gekaufte Auto weniger Schadstoff ausstößt als die
alten Stinker, die auf unseren Straßen relativ stark verbreitet sind. Für diejenigen Autos, die jetzt schon vorbildlicherweise die Euro-5- und die Euro-6-Norm erfüllen, wollen wir die Kfz-Steuer für zwei Jahre aussetzen.
All dies sind Beispiele, die zeigen, dass wir rasch
handeln, um das Vertrauen der Märkte zu stärken. Ohne
Vertrauen in die Zukunft lässt sich nämlich keine Stabilisierung erreichen. Es kann alles nur funktionieren,
wenn auch weiterhin, sowohl von den Verbrauchern als
auch von den Investoren, an die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft geglaubt wird.
Wir haben in der Großen Koalition sehr viel erreicht.
Die Arbeitslosenzahl im Oktober lag zum ersten Mal seit
vielen Jahren wieder unter 3 Millionen. Wir haben bei
der Sanierung der öffentlichen Haushalte Fortschritte erzielt. Deswegen ist der Staat handlungsfähig, und wir
konnten gezielt Abgaben und Steuern senken. Auf diesem Weg müssen wir weitergehen. Die erfolgreiche
Haushaltssanierung, die wir in der nächsten Legislaturperiode fortsetzen müssen, eröffnet Spielräume.
Wir müssen aber als Welthandelsnation Nummer eins
auch aufpassen. Wir wissen, dass wir auf vielen Exportmärkten Schwierigkeiten haben und dass die Zahlungsfähigkeit einer Reihe von Staaten gefährdet ist. Für die
Wirtschaft sind die Risiken manchmal nicht zu überschauen, die mit der Lieferung von Waren und Leistungen nach außen verbunden sind. Wir haben durchaus die
Möglichkeit, unsere Maßnahmen der Kreditversicherung, die sogenannte Hermes-Deckung, weiter zu verstärken, ohne dass wir gesetzliche Maßnahmen ergreifen
müssen. Ich habe mein Haus angewiesen, hier großzügiger zu sein. Ich kann die Wirtschaft nur einladen, sich
dieser Instrumente zu bedienen.
({9})
Wir möchten aber nicht, dass international eine Art
Subventionswettlauf entsteht. Deswegen müssen wir
schauen, dass die Regeln der WTO eingehalten werden.
Es geht nicht an, dass einzelne Staaten, wie angekündigt,
ihre Automobilindustrie überdimensional subventionieren. Auch hier müssen die Spielregen eingehalten werden. Das Allerfalscheste wäre, wenn man in dieser Krise
den freien Welthandel gefährden würde. Es ist deswegen
richtig, dass sich die Bundeskanzlerin auf dem G-20Treffen dafür einsetzt - das hat sie heute noch einmal
vor unserer Fraktion erklärt -, dass die Doha-Runde der
WTO weitergeht; denn Protektionismus wäre die allerfalscheste Antwort, die wir auf diese Krise geben könnten.
({10})
Meine werten Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen die richtige Mischung aus Marktwirtschaft, Wettbewerb und natürlich sozialer Absicherung. Wir brauchen
aber auch weiterhin die private Risikobereitschaft.
Ich möchte einen letzten Punkt erwähnen. Der Kampf
um Investitionskapital ist jetzt überall ausgebrochen.
Deswegen meine ich, dass wir die Erbschaftsteuer so
regeln müssen, dass die Betriebsübergänge im Mittelstand und in der gewerblichen Wirtschaft in einer Art
und Weise erfolgen können, dass den Firmen nicht zusätzlich Kapital entzogen wird, das dann anderweitig
fehlt.
({11})
Der Staat kann immer nur flankierend tätig sein und
helfen. Handeln müssen die Menschen selber.
Danke schön.
({12})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Rainer
Brüderle das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Bundesregierung hat allen Grund, sich Sorgen um das
Wirtschaftswachstum in Deutschland zu machen. Die
Europäische Kommission prognostiziert Stagnation. Das
Land befindet sich am Rande der Rezession. Im Herbstgutachten wird eine Spannbreite von plus 0,2 bis minus
0,8 Prozent Wachstum angegeben. Die Finanzkrise hat
die Realwirtschaft erreicht. Das Geschäftsklima ist in
den letzten fünf Monaten permanent gesunken. Die Signale aus den verschiedenen Wirtschaftsbranchen - aus
dem Automobilsektor, aus dem Maschinenbau - sind
alarmierend. Auftragseinbrüche und Kurzarbeit sind
wieder an der Tagesordnung.
In einer solchen Situation ist von einer Regierung entschlossenes Handeln gefragt. Doch das, was die Regierung auf den Weg zu bringen beabsichtigt, ist eine Aneinanderreihung von Einzelmaßnahmen. Ein Konzept
ist hinter der Auflistung von Gebäudesanierungsmaßnahmen, Autohilfen, Handwerkersubventionen und
Luftfahrtfonds nicht erkennbar. Das alles ist zwar im
Einzelnen durchaus liebenswert; aber es ist kein Konzept. Das sind Konjunkturprogrämmchen; aber das ist
kein klares Antirezessionsprogramm.
({0})
Selbst in der Unionsfraktion können viele keinen rechten
Sinn dahinter erkennen; ich erinnere an die Äußerungen
von Herrn Kampeter und Herrn Dr. Fuchs in den letzten
Tagen. Offenbar will man im beginnenden Wahljahr die
eigene Klientel bedienen. Schwarz-Rot hat kein wirtschaftspolitisches Konzept. Dies ist vordergründiger Aktionismus mit wenig ökonomischer Substanz.
({1})
Wichtig wären Schritte, die die Nettoeinkommen
der Bürger erhöhen und zu einer steuerlichen Entlastung führen. Die Nettoeinkommen sind in den letzten
Jahren gesunken. Die private Nachfrage macht zwei
Drittel des Bruttosozialprodukts aus. Sie zu stärken,
wäre der richtige Ansatz, um die Wachstumskräfte zu
stärken und Deutschland angesichts der Gefahr einer Rezession wieder ein Stück zu kräftigen. Hier müsste man
vorankommen.
({2})
Steuersenkungen werden aber abfällig beurteilt. Es
wird gesagt, die Leute gäben das Geld dann falsch aus.
Der Staat weiß viel besser, wie die Verwendung auszusehen hat! - Das ist eine Lenkung in bestimmte Sektoren,
in bestimmte Konsumbereiche hinein. Da wird ein bisschen für die Automobilindustrie gemacht. Es glaubt
doch keiner, dass jemand, weil er ein Jahr lang keine
Kfz-Steuer zahlen muss, ein neues Auto für 35 000 Euro
kauft. Es grenzt an Volksverdummung, ein solches Konzept zur Wirtschaftsbelebung vorzutragen.
({3})
Ähnlich ist es im Handwerksbereich. Es dient vielleicht der Bekämpfung von Schwarzarbeit, wenn man
Handwerkerrechnungen etwas höher steuerlich absetzen
kann. Aber es wird sich keiner deshalb ein neues Bad installieren lassen, weil er 600 Euro mehr steuerlich absetzen kann. Auch das ist nicht der Push, den man braucht,
um jetzt die Wachstumskräfte zu stärken.
Die SPD glaubt, mit diesen Subventionen Aufträge von
60 Milliarden Euro zu mobilisieren. Der Wirtschaftsminister erklärt, 1 Million Arbeitsplätze könne man
damit sichern bzw. schaffen. Chefökonomen der Deutschen Bank und der deutschen Wirtschaft sagen, dazu
brauche man 8 Prozent Wachstum.
({4})
Aber offenbar besteht bei der Regierung die Einschätzung, mit diesen Progrämmchen könne man das erreichen.
Symptomatisch ist der Umgang mit der Pendlerpauschale. Erst wurde sie in weiten Teilen abgeschafft. Jetzt
soll der Kauf von Autos mit subventionierten Krediten
und einer Befreiung von der Kfz-Steuer für ein Jahr gefördert werden. Setzen wir doch die alte Regelung der
Pendlerpauschale wieder in Kraft! Das würde sofort wirken und würde gerade für die Bürger in der Fläche eine
Entlastung darstellen.
({5})
Verbesserte Abschreibungsbedingungen sind gut.
Aber hier gibt es ein Hickhack. Die Wirtschaft braucht
für Wachstum Konstanz. Vor einiger Zeit wurde die degressive Abschreibung für zwei Jahre eingeführt. Dann
wurde sie abgeschafft. Jetzt ermöglichen Sie sie wieder
für zwei Jahre. Dann wird sie wieder abgeschafft. Dann
kommt sie vielleicht wieder einmal für ein oder zwei
Jahre in die Wundertüte. Das ist keine Politik, die der
Wirtschaft eine klare Richtung und Stabilität gibt. Eine
solche Wirtschaftspolitik gibt keine klare, verlässliche
Orientierung.
Es gäbe eine Reihe von Maßnahmen, die sofort wirken
würden. Der Wirtschaftsminister hat zu Recht vorgeschlagen, die steuerliche Absetzbarkeit der Krankenversicherungsbeiträge um ein Jahr vorzuziehen. 2010 muss
dies sowieso eingeführt werden. Dies könnten wir doch
schon für 2009 vorsehen. Das würde die Bürger um
9 Milliarden Euro entlasten. Hier könnte man schnell
eine Wirkung erzielen. Diese Maßnahme und die vollständige Wiedereinführung der Pendlerpauschale brächten eine Entlastung von 12 Milliarden Euro; damit
könnte man eine Wirkung erzielen.
({6})
Man kann diese Beträge auch sehr schnell zu verfügbarem Einkommen machen - noch vor dem Weihnachtsgeschäft -, etwa durch Steuerschecks. Auch das wird in
Deutschland immer belächelt. Aber immer mehr fordern
dies - vom liberalen Professor Straubhaar vom Hamburgischen Welt-Wirtschaftsinstitut bis hin zu Herrn
Bofinger, dem DGB-nahen Wirtschaftsweisen des Sachverständigenrats. Das ist der Weg, der in Amerika mehrfach gegangen wurde. Diese Maßnahme ging zu über
60 Prozent direkt in den Konsum, in die Nachfrage.
Aber dann kommt der Einwurf, dass die Menschen dieses Geld sparten. Sparen ist aber nichts Schlechtes.
Wenn die Bürger einen Teil des Geldes zu den Banken
tragen, haben die Banken Geld und können wieder Kredite, zum Beispiel in Form von Mittelstandsdarlehen, geben. So funktioniert eine soziale Marktwirtschaft. Das
Sparen zu diskreditieren, ist deshalb eine volkswirtschaftliche Dummheit.
({7})
Sie sollten froh sein, wenn die Bürger sparten; Sie sollten froh sein, wenn sie Geld auf die Bank brächten, wenn
sie dabei Vertrauen in Wachstum und Entwicklung unserer Wirtschaft hätten.
Den Gesundheitsfonds zu stoppen, würde sofort eine
Entlastung von 6 Milliarden Euro bringen. Fast alle wissen - das muss man zugeben, wenn man ehrlich ist -,
dass diese Gesundheitsreform Murks ist.
({8})
Egal wie die nächste Bundestagswahl ausgeht: Man wird
dies neu regeln müssen. Jetzt erhöhen wir aber die Beiträge auf 15,5 Prozent, was zu einer Mehrbelastung von
6 Milliarden Euro führt. Das soll ein Beitrag sein, um die
Wirtschaft zu beleben? Das ist eine Lachnummer! Alle
wissen, dass es falsch ist. Haben Sie den Mut, etwas Falsches zu korrigieren und die Bürger zu entlasten, nicht
zu belasten!
({9})
Bei der Erbschaftsteuer gibt es ein Hickhack; die
großen Heroen kämpfen. Es gäbe eine ganz einfache Lösung: Destinatar, Begünstigter der Erbschaftsteuer sind
die Länder. Gebt doch den Ländern, die das Geld bekommen, auch die Kompetenz, zu entscheiden!
({10})
Das wäre das Einfachste. Die Länder sind volljährig.
Wir haben einen Föderalismus; die Länder haben Selbstentscheidungsfähigkeiten. Lasst die Bundesländer entscheiden! Ich sage voraus, dass die neuen Bundesländer
als Erste sagen würden: Die Erbschaftsteuer ist Unsinn;
wir schaffen sie ab; dann brauchen die Unternehmen
nicht mehr nach Österreich, Schweden, Frankreich oder
sonst wo hinzugehen, sondern können in Deutschland
bleiben.
({11})
Lasst es die Länder entscheiden! Das ist Föderalismus. Wir wollen eine Föderalismusreform, führen Diskussionen, machen dicke Backen, aber entschieden wird
nichts. Am Schluss kommt dann etwas Komisches heraus, das weiterhin eine Belastung von 4 Milliarden Euro
mit sich bringen soll.
Wir brauchen eine vernünftige Ordnungspolitik. Die
Finanzmarktarchitektur ist nicht stimmig. Da ist vieles
aus dem Ruder gelaufen. Hier müssen Freiheit und Verantwortung, Gewinnchancen und die Pflicht zur Haftung
wieder zusammengebracht werden. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Ich würde nicht darauf warten,
dass sich die ganze Welt einigt. Wir können bei uns
schon mit ersten Regelungen anfangen, etwa die Anforderungen für Eigenkapital bei den Finanzinstituten ändern. Der Staat sollte eine Vorreiterrolle übernehmen.
Die KfW sollte wieder eine Förderbank sein. Die ganzen
Abenteuer, die Versuche, Privatbanker zu spielen - das
konnte ja nicht gutgehen -, bei denen 10 Milliarden Euro
Steuergelder riskiert wurden, müssen endgültig aufhören. Die Landesbanken müssen zu einem Institut zusammengelegt werden. Sie können es aber nicht, denn alles
wird politisch besetzt, nach Farbenlehre. Da fahren sie
die Kiste an die Wand und verbrennen das Geld der
Steuerzahler. Auch das belastet unsere Wirtschaftsentwicklung.
({12})
Wo sind denn die Reformansätze, die endlich konsequent dieses Problem angehen?
Dass wir uns in einer Mischung aus Konjunkturproblematik und Strukturkrise befinden, hat damit zu tun - ({13})
- Es hat nichts mit Karneval zu tun; Sie haben es immer
noch nicht verstanden. Sie treiben Karneval mit den Bürgern:
({14})
Sie werden für dumm verkauft, sie dürfen nicht selbst
entscheiden. Sie dürfen eine halbe Billion Euro - das
sind 500 Milliarden Euro - Steuern zahlen, sind in Ihren
Augen aber nicht fähig, eigenverantwortlich zu entscheiden, was sie mit ihrem Geld machen, wenn man sie um
5 bis 10 Prozent steuerlich entlastet. Wir haben ein anderes Bild von den Bürgern und von den Menschen: Die
Menschen in Deutschland können sehr wohl eigenverantwortlich entscheiden, wie sie ihr Geld ausgeben.
({15})
Sie brauchen keinen Vormund, weder einen schwarzen,
noch einen roten; denn sie sind eigenständige Bürger in
einem freien Land. Solange Sie das nicht respektieren,
werden Sie die Sache nicht wieder flottkriegen.
({16})
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Peer
Steinbrück.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die erste Aufgabe des Staates ist es, Schaden
von den Bürgerinnen und Bürgern fernzuhalten und sie
vor Gefahren zu schützen. Das ist die Hauptaufgabe, der
wir uns stellen müssen. Wir haben mit staatlichem Handeln, wie ich glaube, richtig auf die aktuelle Finanzmarktkrise reagiert. Es ging darum, einen Zusammenbruch der Geldmarktkreisläufe zu verhindern, nicht nur
im Interesse der Banken, sondern im Interesse von Sparern, im Interesse derjenigen, die für ihr Alter sparen, im
Sinne der Kommunen, im Sinne des Mittelstandes, im
Sinne der großen Unternehmen, die Investitionen nicht
allein über ihren Cashflow finanzieren können, sondern
dazu intakte und stabile Finanzmärkte brauchen.
Wir sind dieser Bedrohung, wie ich glaube, richtig
entgegengetreten. Es geht jetzt darum, dafür zu sorgen,
dass wir zukünftig neue Verkehrsregeln auf den Finanzmärkten bekommen. Dies wird Gegenstand wichtiger
Veranstaltungen in den nächsten Wochen sein: beim Europäischen Rat, bei einem Finanzgipfel in Washington,
zu dem die Bundeskanzlerin und ich fahren werden.
Heute komme ich von Beratungen in Brüssel, wo diese
wichtigen Termine vorbereitet worden sind.
Nun droht zusätzlich, verstärkt durch die Finanzmarktkrise, eine Konjunkturabschwächung, und zwar
weltweit, nicht nur in Deutschland. Auch hier ist in unseren Augen der Staat gefordert, ökonomisch sinnvoll,
zielgenau und mit der größtmöglichen Hebelwirkung,
also mit einem Euro ein Maximum an Investitionen zu
bewirken, um dieser Konjunkturabschwächung entgegenzuwirken. Das ist unsere Aufgabe.
({0})
Wir dürfen nicht in eine Beliebigkeit verfallen und irgendwelche Wunschzettel bedienen, sondern müssen
sehr gezielt vorgehen, um ein Maximum an Wirkung zu
erzielen, insbesondere bezogen auf die Arbeitsplätze.
Man muss hinzufügen, dass der deutsche Staat - das gilt
insbesondere für den Bundeshaushalt, aber auch für die
Haushalte der anderen Gebietskörperschaften - nicht in
der Lage ist, mit nationalstaatlichen Programmen allein
gegen einen weltwirtschaftlichen Abschwung anzufinanzieren. Wir sollten den Menschen ehrlicherweise sagen,
dass das nicht möglich sein wird.
({1})
Der Staat, die Politik kann aber in und für Deutschland
durchaus sinnvoll und wirksam handeln. In unseren Augen ist es in diesen konjunkturell schwierigen Zeiten das
wichtigste Ziel, einen Schutzschirm für Arbeitsplätze
zu spannen. Das heißt, wir müssen alles dafür tun, dass
die Arbeitslosigkeit nicht wieder zunimmt, dass die Arbeitsplätze gesichert werden. Das tut die Bundesregierung durch das, was morgen Gegenstand unserer Beratungen im Kabinett sein wird. Sie tut dies nicht mit
einem klassischen Konjunkturprogramm nach dem
Motto „Viel hilft viel“. Das wäre Inputorientierung nach
dem Motto „Nimm doch einfach 10, 20, 30, 35 Milliarden Euro in die Hand“. Dann setzte sofort ein politischer
Überbietungswettbewerb ein, ohne dass die Frage beantwortet wird, was im Sinne der Sicherung von Arbeitsplätzen schnell, ohne irgendwelche Zeitverzögerungen
- Herr Brüderle, auf die Zeitverzögerungen komme ich
gleich zu sprechen - wirkt. Dabei ist dies die entscheidende Fragestellung. In meinen Augen standen klassische Konjunkturprogramme daher nicht auf der Tagesordnung. Mit der Gießkanne übers Land zu gehen, hätte
im Ergebnis viel Geld verbrannt, und der Schuldenstand
für nachfolgende Generationen wäre noch größer geworden.
({2})
Ich füge hinzu, wohl wissend, dass Teile dieses Hauses darüber anders denken: Kein wirksamer Schutz für
Arbeitsplätze wären Steuersenkungen, die durch neue
Schulden finanziert werden müssen. Wir werden das
nicht tun.
({3})
Keiner diskreditiert die Spartätigkeit. Herr Brüderle,
das ist ein völliger Irrtum. Die Wirksamkeit von Maßnahmen für die Inlandsnachfrage würde dann allerdings
relativiert, wenn viel Geld auf Sparkonten geht. Bei Ihrem Hinweis darauf, dass man die Absetzungsfähigkeit
von Krankenversicherungsbeiträgen hätte vorziehen
müssen, haben Sie völlig übersehen, dass die damit verbundenen Vorteile erst mit einem Zeitverzug von einem
Jahr über die jeweiligen Steuererklärungen geltend gemacht werden können. Das verschweigen Sie.
({4})
Sie tun so, als wäre das eine Art goldener Schlüssel, mit
dem man jetzt etwas tun könnte. In Wirklichkeit wirkt
das zeitversetzt.
Herr Brüderle, auch der Eindruck, dass der Gesundheitsfonds das große Problem ist, ist falsch. Alle in diesem Saal wissen, dass die Krankenversicherungsbeiträge
auch ohne Gesundheitsfonds hätten erhöht werden müssen. Insofern ist das, was Sie sagen, sachfremd.
({5})
Die Art und Weise, in der Sie die gute und richtige
Förderpolitik der KfW in Ihrem Potpourri mitverschwirbeln, ist nicht sehr hilfreich für die Debatte, die
wir im Augenblick zu führen haben.
({6})
Es wäre auch kein wirksamer und dauerhafter Schutz
für Arbeitsplätze, jetzt die Staatsausgaben wahllos und
maßlos hochzufahren. Es macht keinen Sinn, mit nationalen Ausgabenprogrammen ein Strohfeuer zu entfachen, wenn am Ende langwirksame Belastungen durch
eine neue Schuldenaufnahme entstehen. Wenn Sie sagen, man könnte das am besten organisieren, indem man
Steuernachlässe bietet, dann stellen sich die Fragen:
Welche Größenordnung hätten Sie denn gerne?
1 Prozent des Bruttosozialproduktes? 2 Prozent des
Bruttosozialproduktes oder 3 Prozent? Sind Sie bereit,
25, 50 oder 75 Milliarden Euro zusätzlicher Schulden
mit dem damit verbundenen Kapitaldienst zu schultern?
Sie müssen schon konkreter werden und unseren Kindern und Enkelkindern erklären, was das auf Dauer an
Belastungen mit sich bringt, statt in einer solchen Debatte einfach darüber hinwegzusurfen.
Ich will darauf hinaus, dass die Komponenten dieses
Programms in meinen Augen sinnvoll sind. Das sind
Impulse für Investitionen: angefangen bei einer zeitlich befristeten Wiedereinführung der degressiven AfA,
über dringlich notwendige Verkehrsinvestitionen und
eine Ausweitung der Gemeinschaftsaufgabe, über ein
CO2-Gebäudesanierungsprogramm, das auch strukturell
langfristig richtige Effekte hinsichtlich des Klima- und
Umweltschutzes hat - das wird gut angenommen und ist
ein Erfolgsmodell -,
({7})
bis hin zur Sicherung der Finanzierung der kleinen und
mittleren Unternehmen, indem wir, ähnlich wie wir es
bei den Banken gemacht haben, eine Garantieposition
auch für das Kreditangebot an den Mittelstand in Gang
setzen. Letztlich übernehmen wir die Haftung, damit das
Kreditangebot zunimmt. Wir entlasten auch private
Haushalte und tragen dabei zugleich den Interessen der
Handwerker Rechnung, die gern in privaten Haushalten
Dienstleistungen erbringen möchten.
Wir bauen ein weiteres Sicherheitsnetz für die Beschäftigung, indem wir zum Beispiel die Bezugsdauer
des Kurzarbeitergeldes von zwölf auf 18 Monate verlängern und - auch über die Programmangebote der Bundesagentur - den wichtigen Grundsatz verfolgen: Qualifizieren statt entlassen.
({8})
Mein Appell an die Unternehmen lautet: Halten Sie die
Arbeitsplätze! Diese gut qualifizierten oder zu qualifizierenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer brauchen Sie aufgrund der weiteren demografischen Entwicklung in zwei, drei Jahren dringend. Deshalb setzen
Sie sie nicht auf die Straße, sondern nehmen Sie die
Qualifizierungsangebote, die es gibt, an.
Ich möchte dieses Paket, über das immer einige sagen, es sei das kleine „k“ oder es sei nicht genug, noch
einmal in einen Gesamtzusammenhang stellen, der
sehr schnell verloren geht.
Das Kabinett hat am 7. Oktober dieses Jahres Maßnahmen verabschiedet, die den deutschen Steuerzahler
bzw. Abgabenzahler im nächsten Jahr um 6 Milliarden
Euro und ab dem Jahr darauf um 14 Milliarden Euro entlasten werden. Das ist knapp vier Wochen her.
Ich erinnere daran, dass wir eine Unternehmensteuerreform in Gang gesetzt haben, die die Unternehmen
im nächsten Jahr um ungefähr 7 Milliarden Euro entlasten wird.
Ich erinnere daran, dass diese Große Koalition innerhalb von drei Jahren die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gesetzlich von 6,5 Prozent auf 3,0 Prozent
und weitergehend auf 2,8 Prozent gesenkt hat. Das ist
eine Entlastung um 30 Milliarden Euro,
({9})
und zwar paritätisch: Arbeitgeber auf der einen Seite,
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf der anderen
Seite. Dies erhöht die verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und entlastet die Arbeitgeber von Bruttoarbeitskosten.
Wir haben insbesondere über deutliche Personalverstärkungen eine Erhöhung der Vermittlungsaktivitäten der BA in Gang gesetzt, weil wir bei den Tests, die
wir durchgeführt haben, festgestellt haben, dass eine
Personalverstärkung eindeutig bessere Ergebnisse in der
Vermittlung von Arbeitslosen zur Folge hat.
Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz, das wir verabschiedet haben, zielt auf eine Kreditversorgung der
Realwirtschaft und ist dadurch ein stabilisierender Faktor.
Nicht zuletzt - das ist kein Verdienst der Bundesregierung oder des Parlaments - sind die deutlich gesunkenen Öl- und Rohstoffpreise eindeutig das größte Verbraucherförderungsprogramm, das es gibt, und zwar im
zweistelligen Milliardenbereich.
Ich wäre dankbar, wenn das, was wir jetzt tun bzw.
morgen im Kabinett beschließen werden, in Bezug zu
diesen Komponenten gesetzt wird. Dann wird daraus
durchaus ein System mit einer Größenordnung, von dem
ich überzeugt bin, dass es wirksam ist. Es wird die typischen Reaktionen geben. Man wird alldem mit Geringschätzung begegnen und sagen, die Dimension und das
Konzept seien falsch. Herr Brüderle, ich habe allerdings
in Ihrem Potpourri kein überzeugenderes Konzept gefunden.
Ich sage abschließend: Wenn die Stimmen, die sich
kritisch äußern, mithelfen würden, wenn sie nicht nur
aus dem zweiten Rang Buhrufe organisieren oder mit
faulem Obst auf diejenigen werfen würden, die auf der
Bühne Verantwortung haben,
({10})
wenn diese kritischen Stimmen etwas mehr Zuversicht
verbreiten und sich dafür einsetzen würden, dass wir
wieder Vertrauen gewinnen, wenn diejenigen, die die
Leute auf die Bäume reden, gelegentlich auch die Leitern nehmen würden, um sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, und die Leute an die Hand nehmen
würden, statt sie nur rhetorisch hochzujubeln, wenn sich
all diese Stimmen für das einsetzen würden, worum es
jetzt in dieser schwierigen Lage geht, dann würden wir
die jetzigen konjunkturellen und finanziellen Probleme
sehr viel schneller und sehr viel besser überwinden als
durch manche ritualisierte politische Auseinandersetzung.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({11})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Oskar
Lafontaine das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir haben einen riesigen Schutzschirm für die
Banken aufgespannt; das wird niemand in Abrede stellen.
({0})
In letzter Zeit ist auch das Bild vom Schutzschirm für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer wieder
bemüht worden. Nach allem, was die Bundesregierung
hier vorgetragen hat, bleibt folgende Bilanz: Der Schutzschirm für die Banken ist riesig, der Schirm für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist kaum zu sehen.
Das ist ein falscher Ansatz der Wirtschaftspolitik. Dies
will ich begründen.
({1})
Man hätte erwartet, dass Sie irgendeine Konsequenz
aus dem ziehen, was täglich draußen passiert. Sie, Herr
Bundesfinanzminister, bitten die Arbeitgeber, niemanden zu entlassen, sondern die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer zu qualifizieren. Wer würde das nicht gern
unterstreichen? Wer würde nicht gern sagen: Bitte macht
das so? Aber was geschieht denn draußen? Zigtausende
Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter werden entlassen.
Die erste Konsequenz wäre doch gewesen, diese löchrige Regelung für die Leiharbeiter abzuschaffen, damit
sich solches nicht wiederholt.
({2})
Sie reden hier immer nur über Dinge, ziehen aber überhaupt keine Konsequenzen.
Nun haben Sie vorhin einen Ansatz vorgetragen, auf
den man eingehen kann. Sie haben gefragt: Wollen Sie
1 Prozent, 2 Prozent oder 3 Prozent vom Sozialprodukt?
Das ist ein Ansatz, über den man diskutieren kann. Sagen Sie doch, dass Sie der Überzeugung sind,
0,3 Prozent des Sozialprodukts pro Jahr seien ausreichend. Das wäre allerdings ein lächerlicher Ansatz, Herr
Bundesfinanzminister. Wenn Sie in der jetzigen Situation von einer Größenordnung von 0,3 Prozent sprechen,
zeigt das, dass Sie die Größe des Problems überhaupt
nicht erfasst haben.
({3})
Als es damals in Schweden eine regionale Krise gab,
wurden dort 3 Prozent des Sozialprodukts zur Verfügung
gestellt. Sie können zwar sagen, das sei alles falsch und
völlig übertrieben gewesen. Aber die Schweden haben
mit immerhin 3 Prozent des Sozialprodukts pro Jahr versucht, gegenzusteuern. Diese Krise war allerdings eine
regionale Krise. Jetzt befinden wir uns in einer globalen
Krise. Wir werden im nächsten Jahr eine sehr tiefe Rezession erleben. Um es in aller Klarheit zu sagen: Die
Schrittlein, die Sie machen wollen, sind überhaupt nicht
geeignet, diese Rezession zu stoppen.
({4})
Man muss nur einmal genau zuhören, was Sie hier
vortragen. Der Wirtschaftsminister hat gesagt, wir müssten die Angebotsseite stärken. Da traut man den eigenen
Ohren nicht mehr. Sie haben in den letzten Jahren überhaupt nichts anderes gemacht, als die Angebotsseite der
Unternehmen zu stärken.
Sie haben sogar nachgelegt, Herr Bundesfinanzminister, und vorgetragen: Den Unternehmen haben wir
7 Milliarden Euro erlassen. Sie haben außerdem vorgetragen: Bei der Arbeitslosenversicherung haben wir
30 Milliarden Euro erlassen. Hier muss man ergänzen:
15 Milliarden Euro wurden den Arbeitnehmern und
15 Milliarden Euro den Unternehmen erlassen. Wenn
Sie redlich gewesen wären, hätten Sie hinzufügen müssen: Das, was wir den Arbeitnehmern an dieser Stelle gegeben haben, haben wir ihnen durch die Mehrwertsteuererhöhung doppelt und dreifach wieder genommen. Dann würde daraus ein Gesamtbild werden. Aber man
kann sich, wenn man das will, natürlich auch in die eigene Tasche lügen. Sie haben in den letzten Jahren einseitig entlastet. Das geht Ihnen anscheinend aber nicht in
den Kopf, weil Sie die Zahlen nicht saldieren.
({5})
Weil das so ist, stellt sich die Frage: Wie kann man
die Konjunktur überhaupt stabilisieren? Was die Angebotsseite angeht, wenn man also aus Sicht der angebotsorientierten Theorie argumentiert, haben Sie sich wirklich die Note „sehr gut“ verdient. Aber was ist mit den
Staatsausgaben? Beim letzten Mal haben Sie hier von einer sinkenden Staatsquote geredet. Ich habe Ihnen gesagt: Lassen Sie diesen Unsinn! Erzählen Sie keinen solchen Quatsch, den Sie nirgendwo vertreten können!
Natürlich kann die Staatsquote in diesen Zeiten nicht
sinken.
Sie haben ernsthaft am Ziel festgehalten, bis zum
Jahre 2011 eine Nullverschuldung des Haushalts zu erreichen. Ich habe Ihnen gesagt: Das Lachen wird Ihnen
noch vergehen. - So kann man nicht analysieren, und
erst recht darf man an diese Sache nicht so herangehen.
Jetzt wäre es notwendig - überall auf der Welt wird das
auch gemacht -, die investiven Staatsausgaben deutlich
zu erhöhen, um die Nachfrage zu stabilisieren.
({6})
Wenn Sie von Zweit- oder Dritteffekten sprechen,
dann handelt es sich dabei um das international anerkannte Mittel. Glauben Sie doch nicht, wir könnten hier
in Deutschland die Ökonomie neu erfinden! Das ist das
international anerkannte Mittel. Wenn wir unsere eigene
Situation analysieren, stellen wir fest: Beim Export ist
die Situation seit vielen Jahren hervorragend. Viele Unternehmen haben exorbitante Gewinne gemacht. Seit
sehr vielen Jahren haben wir aber auch eine stagnierende
oder sogar sinkende Nachfrage auf dem Binnenmarkt
zu verzeichnen.
Wenn man an der richtigen Stelle ansetzen möchte,
müsste man also die Nachfrage auf dem Binnenmarkt
stabilisieren. Das heißt nicht, Steuersenkungen anzukündigen, von denen wir alle, die wir hier sitzen, profitieren
würden. Vielmehr muss man die Treppe einmal von unten kehren. Es geht also um Hartz-IV-Empfänger, Rentnerinnen und Rentner und die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. Das wäre eine Reaktion auf die
Krise, um die Nachfrage, wenn auch nur ganz bescheiden, zu stabilisieren.
({7})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus Zeitgründen kann ich diesen Gedanken nicht weiter fortführen. Ich will aber noch etwas zu den Konsequenzen, die
Sie aus der Finanzkrise gezogen haben, sagen. Ich kann
nicht erkennen, dass Sie irgendwo ansetzen, um Konsequenzen zu ziehen. Sie betteln lediglich bei den Banken
und sagen: Nehmt unser Geld! - Ansonsten machen Sie
nichts.
Es waren mehrere Punkte, die diese Entwicklung ermöglicht haben. Ein Aspekt war zum Beispiel die Möglichkeit, in Zweckgesellschaften auszulagern. Warum
haben Sie diese Möglichkeit nicht gestrichen? Warum
gibt es noch keine Vorlage, durch die dies in Zukunft
vermieden wird? Das ist doch die Frage.
({8})
Ferner haben Sie der Verbriefung Tür und Tor geöffnet. Das steht auch im Koalitionsvertrag. Warum gibt es
aber keine Vorlage, durch die diese Geschäfte in Zukunft
eingeschränkt bzw. verboten werden? Warum ziehen Sie
keine Konsequenzen?
({9})
Wir haben weitere Vorschläge gemacht, um aus der
Finanzkrise Konsequenzen zu ziehen. Auf einen unserer
Vorschläge, der einen Grundsatz der wirtschaftlichen
Ordnung thematisiert, will ich jetzt zu sprechen kommen. Wir haben Ihnen gesagt: Setzt keine falschen Anreize im Hinblick auf das Handeln der Manager, nicht
nur bei den Banken - allerdings insbesondere bei den
Banken -, sondern auch in der Wirtschaft generell. Wir
haben auch von Ihnen gefordert: Verbieten Sie Aktienoptionen! - Aber Sie haben all das abgelehnt.
Warum haben wir das gefordert? Weil die einseitige
Orientierung auf Shareholder-Value und auf das eigene
Einkommen eine grundsätzliche Fehlentwicklung ist.
Man muss nachhaltig wirtschaften und darf nicht kurzfristig Aktien hochjubeln, um das eigene Einkommen zu
steigern. Das ist ein Fehlanreiz. Warum tun Sie hier
nichts?
({10})
Sie beklagen die Bonuszahlungen der Banken. Die
Frage ist doch: Warum gibt es keine Vorlage, um die
Zahlungen solcher Boni einzuschränken?
({11})
Sie haben gesagt, weil das populistisch ist - ich habe
Ihnen das schon einmal vorgehalten -: Bei den Banken,
die so gnädig sind, das Kapital, das wir anbieten, anzunehmen - so muss man das heute ja fast formulieren -,
wollen wir die Managergehälter befristet begrenzen. Hier geht es um einen Grundgedanken der Wirtschaft,
den ich als Fraktionsvorsitzender der Linken gerne und
mit Genuss ansprechen möchte. Ich zitiere Walter
Eucken: Eine Marktwirtschaft kann nur funktionieren,
wenn Freiheit auf der eine Seite ist, aber auch Verantwortung und Haftung für das eigene Tun auf der anderen
Seite.
({12})
Durch falsche Anreizsysteme sind in den letzten Jahren insbesondere bei den Banken Verantwortung und
Haftung im Management ausgesetzt worden. Das ist eine
Ursache für die Fehlentwicklung der marktwirtschaftlichen Ordnung.
({13})
Ich habe nicht erkennen können, dass Sie irgendwo einen Anreiz geben, um daran etwas zu ändern.
Eine letzte Bemerkung. Ich wiederhole es hier immer
wieder, obwohl ich nicht den Eindruck habe, dass das
großartige Wirkung zeigt: Wir haben derzeit Währungskrisen in der Welt. Unter diesen Währungskrisen leidet
auch die deutsche Exportwirtschaft. Deswegen wäre es
ganz nett, wenn Sie angesichts einer Reihe von Vorschlägen, die schon sehr, sehr lange im Raum sind, etwas
dazu sagen würden, wie Sie in Zukunft dazu beitragen
wollen, dass Währungskrisen dieser Art - ich denke jetzt
nur einmal an die Bewegung des Yen gegenüber dem
Euro - in Zukunft vermieden werden; denn nur so kann
man das Wachstum dauerhaft stabilisieren.
({14})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Fritz Kuhn das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man über die Ursachen der Krise redet, die sich
jetzt abzeichnet, dann kommt man auf ein vielschichtiges Bild.
Die einen sagen wahrscheinlich nicht zu Unrecht,
dass es starke psychologische Faktoren dafür gibt, dass
die Investitionen laut den Umfragen jetzt zurückgehen.
Wahrscheinlich schlägt die Finanzkrise auch schon
durch, weil Kreditverkürzung und -verknappung angesagt sind. Vielleicht ist das auch ein allgemeiner Konjunkturrückgang im Rahmen einer Weltkonjunkturkrise.
Schließlich gibt es den Krisenfaktor - den erkennen wir
bei der Automobilindustrie -, also dass gegenwärtig zum
Teil versucht wird, mit falschen Produkten auf den
Markt zu gehen, mit Produkten, die niemand abnimmt.
({0})
Es ist also ein ganz diffuses Bild der Krise. In einem
solchen Moment kann und muss der Staat reagieren. Er
kann aber nicht blind mit einem Sammelsurium von
Maßnahmen agieren, sondern er muss - ich greife das
Wort des Finanzministers auf, wenn wir auch eine andere Konsequenz ziehen - zielgenau und effektiv eingreifen, da es sonst nicht funktioniert.
({1})
Für ein Konjunkturprogramm im großen Stil - Entlastung auf allen Ebenen - fehlen die Mittel natürlich
vollständig. So etwas kann man nicht mit 30 Milliarden
Euro, sondern so etwas müsste man mit 100 oder
150 Milliarden Euro machen. Dabei käme aber eine
große Verschuldung heraus, und bei vielen würde das
wahrscheinlich nur ein Strohfeuer bewirken.
Deswegen ziehen wir Grüne eine andere Konsequenz.
Wir haben heute in der Fraktion ein Papier beschlossen,
das jetzt vorliegt. Wir sagen: Wenn wir gegen solche
schillernden, also vielschichtigen Krisenphänomene effektiv und wirksam vorgehen wollen, dann dürfen wir
das nicht mit einem blinden und wilden Konjunkturprogramm und auch nicht mit einem Sammelsurium tun,
sondern dann müssen wir gezielte Investitionen in Bereichen tätigen, in denen wir ohnehin Probleme haben und
etwas tun müssen, weil uns die Folgekosten unterlassenen Handelns teuer zu stehen kommen würden.
({2})
Dadurch entstehen letztendlich Arbeitsplätze, und wir
lösen Probleme, die wir ohnehin lösen müssen, die wir
verdrängen und vor uns herschieben.
Deswegen muss jetzt ein vernünftiges Investitionsprogramm - ich sage noch einmal: kein blindes Konjunkturprogramm - für drei Bereiche greifen.
Der erste Bereich ist die ökologische Modernisierung. Wir haben hinsichtlich der Themen Energie, Verkehr und auch ökologische Modernisierung Vorschläge
gemacht, mit denen wir weiter als die Bundesregierung
gehen. Es geht zum Beispiel um Wasserentsorgung und
-aufbereitung; hier schieben wir viele Kosten vor uns
her. Wir sagen: Mit grünen Ideen und ökologischen Investitionen kann man schwarze Zahlen schreiben und
Arbeitsplätze schaffen, wenn man etwas mehr Mittel
richtig in die Hand nimmt und Investitionen vorzieht, die
wir für den Klimaschutz ohnehin tätigen müssen.
({3})
Herr Steinbrück und Herr Glos, dabei darf man aber
keinen solchen Unsinn machen, wie Sie ihn bei der KfzSteuer vorhaben. Dass man jetzt die großen Fahrzeuge
- auch die CO2-Dreckschleudern -, die von den Leuten
übrigens zu Recht nicht mehr abgenommen werden, weil
sie nicht blöd sind, für ein Jahr von der Kfz-Steuer befreit - in der Glos’schen Variante wird noch ein Kaufkredit gewährt -, ist doch der blanke Unsinn. Keynesianismus zulasten der Umwelt - das ist es, was Sie vorhaben,
Herr Glos - kann nicht funktionieren. Erklären Sie den
Menschen, warum für einen Geländeschlitten eine Steuervergünstigung von 1 800 Euro vorgesehen ist, für ein
kleines Auto aber nur 130 Euro! Das ist doch Unsinn.
Deswegen richte ich einen Vorschlag an Sie: Räumen
Sie diesen Mist weg! Führen Sie endlich eine CO2-bezogene Kfz-Steuerreform durch, die dazu führt, dass endlich die Fahrzeuge gefördert werden, die wenig emittieren, damit wir die strukturelle Krise im Fahrzeugbau in
Deutschland überwinden und endlich Autos bauen, die
der modernen Zeit - das heißt dem Klimaschutz adäquat sind, statt solcher Schrottdinger, die man nicht
mehr fahren kann. Das ist eine ganz einfache Antwort.
({4})
Das zweite Investitionsfeld neben der ökologischen
Modernisierung - es erstaunt mich, dass Sie das nicht
aufgreifen, obwohl Sie an anderen Stellen darüber reden ist die Bildung in Deutschland. Wenn wir mehr für Bildung tun - damit meinen wir Personalausstattung, Gebäude, Ganztagsschulen, also die ganze Breite dessen,
was auf dem Bildungsgipfel ergebnislos diskutiert worden ist -, dann erreichen wir zwei Ziele: erstens mehr Gerechtigkeit - denn Bildung ist Gerechtigkeit -, und zweitens machen wir unser Land innovationsfähig.
Meiner Meinung muss man gerade dann, wenn man
in Krisen kommt, die Innovationsfähigkeit eines Landes
steigern. Das geht nur über Bildung. Deshalb liegt der
zweite Investitionsschwerpunkt auf der Bildung.
({5})
Der dritte Investitionsschwerpunkt - ich sage bewusst
Investitionsschwerpunkt und nicht Konsumschwerpunkt,
Herr Kauder - bezieht sich auf die Frage, wie wir in unserem Land gerade in einer solchen Situation für mehr
Gerechtigkeit sorgen können. Dabei komme ich in einem
- allerdings in einem einzigen - Punkt zu einem ähnlichen Ergebnis wie Herr Lafontaine. Das Arbeitslosengeld II ist nach allgemeiner Überzeugung zum Beispiel
der Wohlfahrtsverbände und auch schon von Gerichten in
Hessen - es wird auch bald vor das Bundesverfassungsgericht kommen - zu niedrig und mit Blick auf die Kinder
in Arbeitslosengeld-II-Haushalten nicht mehr ausreichend. Warum erhöhen wir nicht das Arbeitslosengeld II,
statt diffuse Steuersenkungen vorzunehmen, die breit gestreut sind und kaum konjunkturelle Effekte haben werden? Damit schaffen wir mehr Gerechtigkeit. Dass das
Geld wieder zurückkommt, ist logisch; denn die Menschen können es gar nicht sparen. Sie müssen es für Konsum ausgeben, wenn die Mittel im Familienhaushalt
knapp sind.
({6})
Herr Steinbrück, auch wenn Sie anders argumentiert
haben, kann ich Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, dass
die von Ihnen vorgelegten Vorschläge ein Sammelsurium sind, dem keine klare ordnungspolitische Theorie
zugrunde liegt und das keine klare Konzeption hat.
Stattdessen schlagen wir vor: Lasst uns mit den vorhandenen Mitteln oder mit Mitteln, die vorgezogen werden müssen oder gegenfinanziert werden können wie bei
der Kfz-Steuer, in Klimaschutz, Bildung und mehr soziale Gerechtigkeit investieren. Damit tun wir das Beste
auch gegen die drohende Wirtschaftskrise.
Vielen Dank.
({7})
Der Kollege Dr. Michael Fuchs spricht nun für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Herr Kollege Lafontaine, als Allererstes muss ich Ihnen
sagen, dass ich mich darüber wundere, dass Sie anscheinend mittlerweile nicht einmal mehr Zeitung lesen. Der
Dollar ist im letzten Monat gegenüber dem Euro um über
20 Prozent an Wert gestiegen. Das bedeutet ein dickes
Konjunkturprogramm für die deutsche Wirtschaft, weil
damit die Exporte in die dollarabhängigen Regionen - das
sind fast 40 Prozent unseres Exports - erleichtert werden.
Darüber können wir alle froh sein. Das wird auch
letztlich der Automobilindustrie vermutlich mehr helfen
als eine Einsparung bei der Kfz-Steuer für ein, eineinhalb oder zwei Jahre.
Ich meine, dass die Bundesregierung mit diesem Paket schon einige richtige Maßnahmen vorgesehen hat.
Sie hat bei der Finanzkrise gezeigt, dass sie schnell, vernünftig und zielgenau gehandelt hat. Wir haben meiner
Meinung nach im Vergleich mit den Programmen weltweit das vernünftigste Programm hinbekommen, und
zwar in großer Einigkeit in diesem Hause. Sie haben
dazu gar nichts beigetragen; Sie haben nur gestört.
({0})
Ich glaube auch, dass wir jetzt weiter in die richtige
Richtung unterwegs sind, weil wir mit den Maßnahmen,
die der Bundeswirtschaftsminister zusammen mit dem
Bundesfinanzminister ausgearbeitet hat, gerade im Bereich der Gebäudesanierung, Herr Kuhn, die CO2-Einsparung etc. fördern, dem Handwerk helfen und auch in
diversen anderen Bereichen hilfreich tätig sind. Gezielte
Investitionen müssen jetzt her. Es darf nicht irgendwo
herumgekleckert werden; das bringt gar nichts. Nach
meiner Meinung gewährleistet das dieses Programm.
Ich weiß genau, dass wir in bestimmten Bereichen
viel mehr machen müssten. Aber das zentrale Ziel der
Großen Koalition war immer, so schnell wie möglich einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen. Wir haben
uns das für 2011 vorgenommen. Wir hätten das auch erreicht, wenn die Finanzmarktkrise nicht auch unser Land
getroffen hätte. Dem kann sich kein Mensch entziehen.
Das konnte keine Bundesregierung ahnen. Man kann
nicht argumentieren, dass das unser Fehler ist. Das war
es ganz sicherlich nicht. Ich finde, dass der Bundesfinanzminister und der Bundeswirtschaftsminister genau
den richtigen Weg aufgezeigt haben, den wir jetzt zu gehen haben. Dennoch darf das Ziel, einen ausgeglichenen
Haushalt vorzulegen, nicht aus den Augen verloren werden. Wir müssen uns fragen, ob es nicht möglich ist, in
dem einen oder anderen Bereich, vor allen Dingen dort,
wo wir konsumtiv Gelder ausgeben, Einsparungen vorzunehmen, um den Folgen der Finanzmarktkrise ein
bisschen entgegenzusteuern, damit wir dieses Ziel nicht
allzu weit aus den Augen verlieren.
Ich halte es für richtig, die KfW-Mittel aufzustocken,
wie der Bundeswirtschaftsminister eben erklärt hat. Allerdings müssen wir dabei die Banken auffordern, dafür
zu sorgen, dass diese KfW-Mittel durchgereicht werden.
Ich selber habe als Unternehmer erlebt, dass KfW-Mittel
nicht unbedingt sofort angeboten werden, weil die Banken natürlich ein Interesse daran haben, dem Kunden zuerst ihre eigenen Produkte zu verkaufen. Dafür habe ich
jedes Verständnis. Auf jeden Fall müssen wir die günstigen KfW-Mittel publik machen. Dafür ist eine Bundestagsdebatte sicherlich gut und richtig. Aber parallel dazu
müssen die Banken aufgefordert werden, die KfW-Mittel so schnell wie möglich an die mittelständische Wirtschaft weiterzureichen, damit diese Mittel abgerufen
werden. Wenn man sich das eine oder andere Programm
der KfW anschaut, dann stellt man fest, dass die Mittel
oft nicht dort ankommen, wo sie ankommen sollten. Hier
muss noch nachgearbeitet werden.
Ich halte es für notwendig - Herr Lafontaine, auch hier
haben Sie wieder unrecht; aber das sind wir gewohnt -,
ein internationales Programm für Finanzmarktregulierungen anzugehen. Es nutzt uns gar nichts, wenn wir irgendetwas in Deutschland machen. Dann machen die
Banken es eben in Irland, auf den Cayman Islands oder
irgendwo anders auf der Welt. Wir können mit einem
Finanzmarktregulierungsprogramm nur etwas erreichen,
wenn wir alle mitnehmen. Ich erinnere daran, dass die
Bundeskanzlerin schon in Heiligendamm genau das gewollt hat; das ist eineinhalb Jahre her. Aber damals waren Blair und Bush nicht bereit, mitzuspielen. Wir wären
sonst schon ein gutes Stück weiter und hätten auf diesem
Gebiet den einen oder anderen Ansatz. Wir haben heute
in meiner Fraktion dazu ein Papier beschlossen. Wir
werden mit den Kollegen von der SPD in Kürze tätig
werden. Die Bundeskanzlerin wird auf dem G-20-Gipfel
ein solches Programm einfordern. Das funktioniert aber
nur, wenn alle mitspielen. Ich hoffe, dass die Amerikaner und die Engländer das mittlerweile begriffen haben.
Die angelsächsischen Länder waren bislang nicht gerade
hilfreich.
Für mich ist noch ein anderer Punkt wichtig. Wir
müssen alles auf den Prüfstand stellen, was zurzeit belastend wirkt und was zusätzlich belastend auf die deutsche Wirtschaft sowie auf die Bürgerinnen und Bürger
zukommt. Folgendes möchte ich wirklich infrage stellen: Es kann in meinen Augen nicht angehen, dass das
Emission-Trading, der Emissionshandel, aufgrund der
Verteuerung durch die Vollauktionierung der CO2-Zertifikate dazu führt, dass gerade die deutsche Wirtschaft
besonders betroffen wird, und zwar in zweierlei Hinsicht. Wir haben hier die meisten Industrieunternehmen
in Europa. Das können Sie nicht mit Schweden vergleichen. In Schweden gibt es beispielsweise keine chemische Industrie. Bei uns ist das größte chemische Unternehmen der Welt angesiedelt, nämlich BASF in meinem
Heimatland Rheinland-Pfalz. Sie können auch nicht davon ausgehen, dass wir so günstig Energie erzeugen, wie
es Frankreich tut, wo der Anteil der Kernkraft bei
87 Prozent liegt. Wir müssen also sehr aufpassen, dass
wir die deutschen Unternehmen mit der Vollauktionierung nicht zu sehr belasten. Sie hat ungefähr 5 Milliarden Euro zusätzliche Belastung pro Jahr zur Folge, und
das nur im Energiesektor. Ob wir uns das in dieser Phase
leisten können, weiß ich nicht. Wir sollten den Beginn
dieses Programms ein wenig verschieben. Ich halte das
für notwendig.
({1})
Lassen Sie mich noch einen Satz zur Automobilindustrie sagen. Ich glaube wirklich, dass die Automobilindustrie durch den stärker gewordenen Dollar
sehr schnell wieder Tritt fassen wird. Ich halte es auch
für richtig, dass wir so schnell wie möglich mit den Bundesländern eine Einigung finden und dafür sorgen, dass
dieses CO2-Minderungspaket eingebaut wird und wir
eine CO2-abhängige Kfz-Steuer hinbekommen. Das
muss schnell gehen, weil es meiner Meinung nach sehr
gefährlich ist, die Leute in Unsicherheit zu lassen, weil
sie nicht wissen, welche Steuern sie nachher zu zahlen
haben. Wir sollten nicht noch zwei Jahre warten. Wenn
wir 500 Milliarden Euro innerhalb einer Woche bereitstellen können, dann muss auch so etwas schnell gehen
können.
Herr Bundesfinanzminister, ich habe eine Bitte an
Sie. Bitte streichen Sie so schnell wie möglich die im
Jahressteuergesetz vorgesehene Einschränkung des Vorsteuerabzugs für dienstlich genutzte Kraftfahrzeuge.
({2})
Das führt dazu, dass heftigst gespart und darüber nachgedacht wird, nicht zu investieren. Ich halte es für notwendig, dass das so schnell wie möglich getan wird.
Zum Schluss. Im Herbstgutachten, das vor drei Wochen erschienen ist, steht eine Reihe von Punkten. Dieses Maßnahmenpaket haben wir zum Teil umgesetzt,
aber nicht alles. Es ist richtig, dass wir nicht alles umgesetzt haben, weil wir für diese Einsparungen einfach
nicht die Steuermittel haben. Dennoch glaube ich, dass
eine weitere Direktentlastung der Bürger notwendig
wäre. Herr Bundesfinanzminister, in einem Punkt bin ich
mit Ihnen nicht einig - sonst bin ich fast immer mit Ihnen einig -: Wenn Sie beispielsweise die steuerliche Absetzbarkeit der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge vorziehen würden, hätte das sehr wohl Wirkungen
in 2009; denn die Menschen sind nicht blöde. Sie tragen
das auf der Lohnsteuerkarte ein, oder sie senken ihre Vorauszahlungen. Das alles kann man machen, und damit
wird das schon 2009 wirksam. Ich halte das für richtig.
Wir sollten auch darüber nachdenken, ob nicht weitere Spielräume bei den Lohnzusatzkosten erarbeitet
werden können. Hier haben wir mit dem Ausgleichsbeitrag, den die Bundesagentur für Arbeit zu zahlen hat, ein
verfassungsrechtlich größeres Problem. Dass uns das erhalten bleiben wird, wage ich zu bezweifeln. Wenn wir
wissen, dass uns das nicht erhalten bleiben wird, dann
wäre es sinnvoll, bereits jetzt nach einer Lösung zu suchen.
Das Programm, das jetzt aufgelegt wird, bedeutet einen Schritt in die richtige Richtung. Wir müssen aber
sehr genau die Situation am Arbeitsmarkt und in der gesamten Wirtschaft beobachten. Es kann durchaus sein,
dass wir das eine oder andere noch nachsteuern müssen.
Wir sind dazu bereit, wenn es sein muss.
({3})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kollege Ludwig Stiegler für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich der Bundesregierung,
({0})
dem Bundesfinanzminister und dem Bundeswirtschaftsminister danken.
({1})
Es ist fast wie in der ersten Großen Koalition: Wenn die
Krise da ist, sind auch Plisch und Plum da, die dagegen
ankämpfen müssen. Ich denke, Sie haben mit dem Gesamtmosaik durchaus ein richtiges Bild gezeichnet. Herr
Brüderle war mit der Nase zu nahe dran, und Oskar
Lafontaine will eh nur das sehen, was er bekämpfen
kann. Aber wenn man mit dem nötigen Abstand herangeht, dann sieht man: Dieses Mosaik von Maßnahmen
passt zu der ökonomischen Landschaft. Deshalb sollten
Sie, Herr Brüderle, uns lieber unterstützen, anstatt Ihre
alten Steckenpferde hier zu reiten.
({2})
Das passt nicht für diesen Bereich.
Das Wichtigste ist: Wir nehmen zur Kenntnis, dass
die Weltwirtschaft in einem schweren Abschwung ist,
was vor Wochen noch nicht der Fall war; wir nehmen
zur Kenntnis, dass die europäische Wirtschaft zu einem
Stillstand gekommen ist und das Risiko eines Abschwungs besteht; und wir nehmen zur Kenntnis, dass
die deutsche Wirtschaft in einer Gefährdungslage ist.
Dagegen gehen wir an. Wir sagen nicht wie manche Professoren, das sei Schicksal und man müsse unter dem
unteren Bogen des Zyklus durchlaufen, sondern wir sagen, dass wir uns gegen den Wind lehnen und etwas gegen die falsche Entwicklung tun können.
Was wir hier brauchen, Herr Brüderle, sind Investitionen. Wir haben in Deutschland aber weit mehr Ersparnisse, als es Investitionen von Bund, Ländern und
Gemeinden sowie von privater Wirtschaft gibt. Darum
haben manche Banken Ersatzinvestitionen, nämlich in
diese toxischen Papiere, getätigt. Wenn wir es jetzt
schaffen, die Privaten zu veranlassen, zu investieren,
und wenn die öffentliche Hand, und zwar Bund, Länder
und Gemeinden, investiert, Herr Brüderle, dann nutzen
wir die Ersparnisse in diesem Land für Wachstum und
für Beschäftigung. Darauf zielt dieses Programm, das
die Bundesregierung aufgelegt hat.
({3})
Wir sollten auch darauf achten, dass wir international
aktiv bleiben. Wir Deutschen allein können uns nicht
wie Münchhausen selber aus dem Sumpf ziehen; viel19790
mehr brauchen wir bei G 7, bei G 8, bei G 20 oder bei
Gott weiß welchen Gs eine internationale Abstimmung.
({4})
- Ja, Sie denken wieder an den G-Punkt oder irgendetwas Ähnliches; aber das ist nicht in Ordnung. - Wir
brauchen eine internationale Abstimmung. Deshalb ist
es wichtig, dass alle europäischen Länder - wie damals
beim Venedig-Gipfel von Helmut Schmidt vorgemacht und die wichtigsten Volkswirtschaften der Welt in
Kooperation mit dem Weltwährungsfonds zusammenarbeiten, damit wir uns weltweit gegen die Entwicklung
lehnen, damit wir weltweit durch ein abgestimmtes Verhalten auch in der Ökonomie vorankommen. Der Weltwährungsfonds forderte das schon seit dem April dieses
Jahres. Er hat diese Entwicklung eher überschätzt als unterschätzt.
Es geht um die Hebelwirkung. Mit der Gebäudesanierung, mit der Investitionsförderung lösen wir durch eine
überschaubare Förderung mit staatlichen Mitteln erhebliche private Investitionen aus. Diese Hebel müssen wir
nutzen. Diese Hebel werden uns auch dabei helfen, dass
wir wieder an den Problemen ansetzen. Unsere Wirtschaft ist bisher auf dem Exportmotor gefahren. Dieser
Motor stottert. Ihn können wir nur international wieder
zum Laufen bringen. Es fehlen im Inland eben auch die
Investitionen in Bauten, in Ausrüstungen, in Maschinen
und in Anlagen. All das können wir durch diese Anstöße
voranbringen. Deshalb sollten wir diese Möglichkeiten
miteinander nutzen.
Wir müssen, gerade was die Automobilindustrie anbetrifft, weniger auf die fetten Daimlers und BMWs
schauen, auf diese großen Gesellschaften, die sehr gut
verdient haben, die sehr viel Speck angesetzt haben. Sie
repräsentieren nur etwa 25 Prozent der Wertschöpfung.
75 Prozent der Wertschöpfung werden von den Zulieferern erbracht, und deren Bilanz schaut nicht so gut aus.
Denen müssen wir helfen, damit sie Produktionskürzungen überleben können. Wenn wir nicht aufpassen, befinden sich am Ende der Krise ein Drittel oder mehr der Zulieferer nicht mehr auf dem Markt, und dann haben wir
es mit einem quasi automatischen Outsourcing zu tun.
Hier muss die Automobilindustrie selber ihren Zulieferern, denen sie die Aufträge kürzt, auch mit Krediten
beistehen.
({5})
Die KfW und der Bund werden dabei sicher helfen. Wir
haben die ganz wichtige Aufgabe, das Gespräch mit
diesen Herrschaften zu suchen. Es darf nicht einfach
eine E-Mail verschickt werden, in der gesagt wird: Schicken Sie Ihre Leute weg!
Wir werden erleben, dass die Kurzarbeit, die fast verschwunden war, wiederkehrt. Ich bin froh, dass Olaf
Scholz in diesem Paket verankert hat, dass während der
Kurzarbeit Qualifikation, Weiterbildung für die Zukunft
durchgeführt werden. Das Entscheidende ist, nicht zu
entlassen und anschließend wieder zu suchen, sondern
die Zeit der Produktionspause zu nutzen, um sich auf
den neuen Aufschwung vorzubereiten. Das ist unsere
Form, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu
schützen.
({6})
Das ist eine Vielzahl von Maßnahmen, die wir international und national durchführen müssen. Ich bin froh,
dass auch die Haushälter der Union - auch wenn Herr
Kampeter aus Protest weggeblieben ist - sehen: Nur
dann, wenn wir uns jetzt gegen die Krise stemmen, werden wir einen ausgeglichenen Haushalt erreichen.
Als der Kollege Runde und ich zu Beginn der Großen
Koalition für das große Investitionsprogramm eingetreten sind, haben manche gesagt - ich kann mich noch erinnern -: Um Gottes willen; wir gefährden den ausgeglichenen Haushalt. - Das Gegenteil war der Fall. Wir
wachsen aus der Krise heraus; wir können uns nicht daraus heraussparen. Das muss in die Köpfe hinein. Deshalb ist der Ansatz, den die Bundesregierung wählt, gut.
Wir unterstützen ihn. Es muss noch nicht jedes Detail
stimmen. Auch da gilt das Struck’sche Gesetz, das den
Fortschritt in der parlamentarischen Beratung definiert.
Das werden wir wieder in Anspruch nehmen.
({7})
Entscheidend ist: Wir beugen uns nicht dem Geschick
der Wirtschaft, sondern wir stemmen uns gegen den
Wind und kämpfen für Wachstum und Beschäftigung sowie sichere Arbeitsplätze.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 12. November 2008, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.