Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und darf, wie häufig vor Eintritt in unsere Tagesordnung, einige wenige Hinweise geben.
Wir haben interfraktionell vereinbart, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes ({0})
- Drucksache 16/10600 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
({2})
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Energiesparen für alle - Kosten senken, Klima
schützen
- Drucksache 16/10585 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({5})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Straßenverkehrsgesetzes
- Drucksache 16/10175 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Weingesetzes
- Drucksache 16/10552 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Volker Beck ({7}), Kai Gehring, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur … Änderung des Urheberrechtsgesetzes
- Drucksache 16/10566 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({8})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Sechsten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
- Drucksache 16/10569 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({9})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
e) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ent-
lastung der Rechtspflege
- Drucksache 16/10570 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
f) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Deutsches Historisches Museum“
- Drucksache 16/10571 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
g) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung der Strafprozessordnung - Erweiterung des Beschlagnahmeschutzes bei Abgeordneten
- Drucksache 16/10572 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({11})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Blank, Dirk Fischer ({12}), Dr. Klaus W.
Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Annette Faße, Sören
Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Infrastruktur und Marketing für den Wassertourismus in Deutschland verbessern
- Drucksache 16/10593 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig
Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Mitarbeiterbeteiligung - Eigenverantwortliche
Vorsorge stärken
- Drucksache 16/9337 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJosef Fell, Kerstin Andreae, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stromnetze zukunftsfähig ausbauen
- Drucksache 16/10590 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({15})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 7 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung eines
Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes ({16})
- Drucksache 16/10600 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({17})
Berichterstattung:
Abgeordneter Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
Steffen Kampeter
Carsten Schneider ({18})
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 18, 19, 32, 33 und 40 h
werden abgesetzt und in der Folge die Tagesordnungspunkte 34 und 35 getauscht.
Außerdem mache ich auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Die in der 179. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesenen nachfolgenden Gesetzentwürfe sollen zusätzlich dem Rechtsausschuss ({19}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen
- Drucksache 16/10289 überwiesen:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({20})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Energieeinsparungsgesetzes
- Drucksachen 16/10290, 16/10331 überwiesen:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({21})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ich vermute, dass Sie mit diesen Änderungen einver-
standen sind. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Dann rufe ich die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über zwingende Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland
beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ({22})
- Drucksache 16/10486 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({23})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über die Festsetzung
von Mindestarbeitsbedingungen
- Drucksache 16/10485 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({24})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann haben wir das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister für Arbeit und Soziales, Olaf Scholz.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Staat hat eine Rolle in wirtschaftlichen
Prozessen. Wenn selbst wirtschaftsliberale Banker staatliche Interventionen loben, dann kann daran kein Zweifel bestehen. Dass es für diese Erkenntnis erst eine weltweite und tiefgreifende Kredit- und Börsenkrise geben
musste, ist mehr als nur bedauerlich. Wenn daraus aber
alle lernen, dass die Forderung „Hands off!“ - Staat,
halte dich da heraus! - falsch ist, dann wäre wenigstens
etwas gewonnen.
({0})
Denn aus der richtigen Erkenntnis, dass sich der Staat in
einer Marktwirtschaft nicht in alles einmischen soll,
folgt noch lange nicht der Schluss, dass er sich aus allem
heraushalten soll.
({1})
Wir wissen, dass ökonomische Krisen voll auf die Legitimation unserer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verfassung durchschlagen. Deswegen kann der
Staat nicht nach dem Prinzip des Laisser-faire danebenstehen. Ein kluger Ordnungsrahmen und manchmal auch
gezielte Interventionen sind wichtig. Wenn wir aber die
Akzeptanz für unsere Wirtschaftsordnung erhalten wollen, dann muss auch erkennbar sein, dass sie das liefert,
was sie verspricht. Die Milliardengarantien in Richtung Finanzwirtschaft sind wichtig, um den Kollaps zu
verhindern. Aber darin erschöpft sich soziale Verantwortung nicht.
({2})
Zu einer klugen Rahmung des wirtschaftlichen Geschehens gehören auch die beiden Gesetze, die wir heute
beraten. Durch das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und
das Mindestarbeitsbedingungengesetz sollen überall dort
Mindestlöhne ermöglicht werden, wo sie von den Sozialpartnern, aber auch von Experten und den jeweiligen
Branchenvertretern für richtig gehalten werden. Mindestlöhne gehören zu einer modernen Marktwirtschaft
dazu.
Ich glaube, dass wir eines ganz klar sehen sollten:
Gäbe es noch heute eine Tarifbindung, wie wir sie in früheren Jahrzehnten gekannt haben, und wäre es noch
heute so, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände
gemeinsam fast alle sozialen Bedingungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern regelten, dann würden
wir heute nicht über diese Gesetze diskutieren.
({3})
Dass es zu einer Mindestlohndebatte gekommen ist,
ist auch das Verdienst derjenigen, die in den letzten
25 Jahren durch alle möglichen Talkshows gezogen sind,
die immer wieder gefordert haben, es müsse Schluss sein
mit der Sozialpartnerschaft, die Tarifverträge für schlecht
gehalten haben und die das Ende der Kompromisse verlangt haben.
({4})
Wer den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft infrage stellt, der darf sich nicht wundern, was dabei herauskommt. Wenn man es nicht der Selbstregulierung von
Gewerkschaften und Arbeitgebern überlassen will, dann
bekommt man den staatlichen Schutz als Ersatz dazu.
Deshalb sind die Mindestlohndebatten, die wir heute
führen, das Ergebnis des Handelns derjenigen, die die
Sozialpartnerschaft infrage gestellt haben.
({5})
Meine Damen und Herren, wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften alleine nicht in der Lage sind, in einer
Branche für stabile Verhältnisse zu sorgen, dann dürfen
wir nicht danebenstehen, genauso wenig wie im Falle einer Bank, die in die Insolvenz trudelt. Hier müssen wir
etwas tun und Haltelinien einziehen.
Politik ist handlungsfähig. Und ich sage: Aus der Akzeptanzkrise unserer Wirtschaftsordnung wird eine Legitimationskrise der Demokratie, wenn wir nicht bereit
sind, sozial regulierend einzugreifen und das Schlimmste
zu verhindern. Wir als Politikerinnen und Politiker müssen dafür sorgen, dass die Löhne nicht ins Kellergeschoss
gedrückt werden.
Meine Damen und Herren, moderne Industriegesellschaften haben ausgeweitete Sektoren mit Niedriglöhnen. Aber fast alle haben Mindestlöhne als ein notwendiges Korrektiv. Sie sind keine sozialromantische Idee,
sondern eine ordnungspolitische Grundlage, die für unsere soziale Marktwirtschaft unverzichtbar ist. Denn sie
sollen auch verhindern, dass Unternehmen einen Wettbewerb mit Lohndumping betreiben, indem sie mit staatlichen Sozialleistungen kalkulieren.
({6})
Paul Krugman, der in diesem Jahr den Nobelpreis für
Wirtschaft bekommt, hat kürzlich darauf hingewiesen,
dass die Debatte über Mindestlöhne in Deutschland sinnvoll sei, und in diesem Zusammenhang von einem großen politischen Gewinn gesprochen. Recht hat er, meine
Damen und Herren.
({7})
Die Mindestlohndebatte ist nicht nur volkswirtschaftlich sinnvoll, sondern sie ist auch gut für diejenigen, um
die es geht. Ich will darauf hinweisen, dass es nicht in
Ordnung ist, dass eine Friseurin in Sachsen Vollzeit arbeiten geht und nach der Gesellenprüfung am Ende des
Monats mit 755 Euro brutto dasteht und dann zur Arbeitsagentur muss, um ihre Familie zu ernähren.
({8})
Es ist auch nicht in Ordnung, dass ein Wachmann im Revierwachdienst in Brandenburg in Vollzeit in der untersten Tarifgruppe mit unter 1 000 Euro dasteht und seine
Miete nicht ohne staatliche Hilfe bezahlen kann.
({9})
Solche Löhne - und ich kann dafür viele weitere Beispiele nennen - verletzen die Ehre hart arbeitender Bürgerinnen und Bürger.
({10})
Dass es Tariflöhne sind, macht die Sache nicht besser,
meine Damen und Herren.
({11})
Auch wenn wir diese individuellen Probleme nicht
alle mit den beiden Gesetzen lösen können - das starke
Signal, dass Löhne eine ordentliche Höhe haben müssen,
können und müssen wir mit diesen Gesetzen auch senden.
Ein großer Teil unseres wirtschaftlichen Erfolgs beruht schließlich darauf, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Arbeit gut machen wollen. An gute Arbeit, an Engagement und Leistung knüpft sich das
Versprechen, dass sich individuelle Anstrengung auch
lohnen wird. Dieses Versprechen muss auch in Zukunft
gelten.
({12})
Wer etwas leistet, wer sich reinhängt, wer sein Bestes
gibt, der muss wissen, dass sich das auszahlt. In der angemessenen Entlohnung von Arbeit drückt sich eine
Wertschätzung aus, die der Würde der Arbeit entspricht.
Mit den Entwürfen zum Arbeitnehmer-Entsendegesetz und zum Mindestarbeitsbedingungengesetz, die wir
jetzt beraten, ermöglichen wir aus all diesen Gründen die
Festsetzung von branchenspezifischen Mindestlöhnen. Sie lösen zwar nicht alle Probleme, aber doch einige sehr wesentliche.
Beide Gesetze sind das Ergebnis einer Lösung, auf
die sich die Koalition im Sommer des letzten Jahres verständigt hat. Was wir hier weiterentwickeln, hat sich bewährt; denn beide Gesetze gibt es schon lange. Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz hat Auswirkungen auf die
Praxis. Für das Baugewerbe gibt es schon Mindestlöhne,
die sich dort positiv ausgewirkt haben. Viele loben das
nach dem Motto: Es ist nicht alles Gold, aber Bronze ist
auch eine Menge. Nachdem nun auch das Gebäudereinigerhandwerk und die Briefdienstleistungsbranche aufgenommen wurden, ist es uns mittlerweile gelungen, dafür
zu sorgen, dass 1,8 Millionen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer durch Mindestlöhne geschützt sind. Das
ist eine gute Sache.
({13})
Wir sorgen dafür, dass weitere Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer diesen Schutz erhalten. Acht weitere
Branchen haben sich gemeldet. Eine Arbeitsgruppe unter meiner Leitung beschäftigt sich mit dem Thema. Wir
werden prüfen, ob die Kriterien, auf die wir uns in der
Koalition verständigt haben, bei diesen jeweiligen Branchen erfüllt sind.
({14})
Es ist ganz klar: Wir haben gesagt, dass nur diejenigen
aufgenommen werden können, bei denen eine Tarifbindung von mindestens 50 Prozent gegeben ist. Die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der
Branche muss also bei Arbeitgebern beschäftigt sein, die
der Tarifbindung unterliegen. Das werden wir prüfen.
Die Branchen, bei denen wir feststellen, dass das so ist,
werden aufgenommen werden.
Als Zweites gibt es das Gesetz über die Festsetzung
von Mindestarbeitsbedingungen, das auch schon lange
existiert. Mit diesem Gesetz wird ermöglicht, dass wir
dort, wo eine geringe Tarifbindung herrscht, ebenfalls
schützen können. Dort, wo Arbeitgeberverbände und
Gewerkschaften keine Möglichkeit haben, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen, können wir
dann mithilfe einer staatlichen Gesetzgebung dafür sorgen, dass sie nicht alleine bleiben und schlimmsten Ausbeutungsbedingungen ausgesetzt sind.
({15})
Ich will gerne ergänzen: Aus meiner Sicht hat es Sinn,
dass diese beiden Gesetze von einer Großen Koalition
beraten werden; denn beide Gesetze stammen aus Zeiten, in denen beide Parteien jeweils etwas dazu beigetragen haben.
Das Mindestarbeitsbedingungengesetz stammt aus
dem Jahre 1952.
({16})
Es gab damals einen Antrag der SPD-Fraktion, und mit
der Mehrheit der CDU/CSU-Stimmen im Deutschen
Bundestag wurde es dann beschlossen. Insofern steht es
in einer guten Tradition, dass wir es jetzt mit Leben erfüllen und dafür sorgen, dass es endlich auch zur Anwendung kommt.
({17})
Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz wurde während
der Koalition von CDU/CSU und FDP verabschiedet. Es
wurde damals zwar so geschrieben, dass es nicht zur Anwendung kommt, aber als Gerhard Schröder die Regierung übernommen hatte, war es dann doch so weit. Für
die Bauwirtschaft hat es geklappt.
({18})
An diese gute Tradition knüpfen wir an, indem wir
Gesetze auf den Weg bringen, mit denen wir dafür sorgen, dass das, was die Tarifvertragsparteien vor Ort und
diejenigen, die in der Branche engagiert sind, richtig finden, zur Geltung kommen kann. Wir schützen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor einer schlimmen
Ausbeutung. Ich glaube, das ist eine gute Tradition, die
wir hier weiterentwickeln.
Meine Damen und Herren, wenn über Mindestlöhne
gesprochen wird, dann gibt es eine ganze Reihe von Argumenten, die vorgetragen werden, aber nicht immer
sehr stichhaltig sind. Das am häufigsten vorgetragene
Argument lautet, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze kosten.
({19})
Ich kann Ihnen nur sagen: Dafür gibt es keinerlei empirische Belege.
({20})
Es gibt eine ganze Reihe von Büchern, die mit abstrakten Berechnungen vollgeschrieben werden, aus denen sich ergeben soll, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze
kosten. Wenn wir uns aber in der Welt umschauen, dann
sehen wir, dass alle möglichen Staaten über Mindestlohnregelungen verfügen,
({21})
dass sie dort, wo sie in jüngster Zeit eingeführt worden
sind, keine Arbeitsplätze gekostet haben und dass dort
vielmehr ein Aufwärtstrend auf dem Arbeitsmarkt zu
verzeichnen war. Das kann man am Beispiel Großbritanniens sehen.
({22})
Deshalb will ich auch ausdrücklich sagen, dass ich
mir sicher bin, welches Schicksal diese Berechnungen
und Bücher haben werden: Sie werden in den Regalen
verstauben. Die gleichen Professoren und Politiker, die
jetzt sagen, dass Mindestlöhne eine Bedrohung für die
Marktwirtschaft sind, werden in zehn Jahren sagen, dass
es in der Marktwirtschaft schon immer Mindestlöhne gegeben hat und dass sie eines der besten Argumente für
eine soziale Marktwirtschaft sind. Recht haben sie dann
- in zehn Jahren.
({23})
Ich glaube, dass wir hier etwas voranbringen, durch
das die Tarifautonomie in Deutschland gestärkt wird und
das dazu beitragen kann, dass die Sozialpartnerschaft,
die in unserem Lande eine gute und lange Tradition hat,
wieder eine größere Rolle spielt. Am Ende dieses Prozesses werden Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besser als heute dastehen, und sie werden unmittelbar spüren, dass es Sinn hat, dass sich der Deutsche
Bundestag, der Gesetzgeber, mit ihren Angelegenheiten
befasst und dazu beigetragen hat, dass es besser geht. Sie
werden nicht alleingelassen. Das ist ein wichtiger Beitrag zur politischen Stabilität in unserem Lande und zur
Verbesserung der Situation dieser Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer. Wenn wir in diesen Zeiten, in denen
alles ein bisschen drunter und drüber geht, dazu beitragen würden, dass viele wieder daran glauben, dass die
soziale Stabilität in unserer Gesellschaft noch funktioniert, dann hätten wir damit einen großen Beitrag geleistet.
({24})
Ich bin davon überzeugt, dass wir dabei sind, wichtige Gesetze voranzubringen und dass wir mit dem, was
wir heute beschließen wollen, für die soziale Marktwirtschaft werben. Ich bin mir sicher, dass das sehr wichtig
ist. Denn wenn sich die Bürgerinnen und Bürger alleingelassen fühlen und das Gefühl haben, dass ihr Schicksal
allen egal ist, man zynische Reden hält und ihnen nicht
konkret hilft, dann ist das wirklich eine Bedrohung für
unser soziales Zusammenleben. Deshalb bin ich davon
überzeugt, dass das, was wir hier tun, für den Fortschritt
in unserer Gesellschaft, für den sozialen Zusammenhalt
und für die soziale Marktwirtschaft wichtig ist.
Was ich gerade ausgeführt habe, ist sozusagen ein Gegenargument zu einem Argument, das ich gestern gehört
habe und das mich empört hat. Deshalb will ich zum
Schluss noch darauf eingehen. Ein Redner der Linksfraktion hat gesagt, das sei doch keine Demokratie.
({25})
Das hat er in den Mittelpunkt seiner Ausführungen gestellt. Ich finde, dass man sehr vorsichtig sein muss.
({26})
- Er hat gesagt, das sei doch keine Demokratie. Er hat
das rhetorisch mehrfach wiederholt.
({27})
- Ja, selbstverständlich. Wir haben ein Problem, und es
geschehen Dinge, die nicht in Ordnung sind und uns alle
empören müssen.
({28})
Aber dann müssen wir, der Bundestag, als demokratisch
Verantwortliche und als Gesetzgeber dafür sorgen, dass
die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung eine Rolle
spielen.
({29})
Aber man darf nicht die Demokratie und die Handlungsmöglichkeiten, die wir haben, infrage stellen und ein bisschen den Eindruck erwecken, dass die Alternative zu
dem, was wir vorhaben, eine Art Volksdemokratie
wäre.
({30})
Danach klang die Äußerung gestern viel zu stark. Von
jemandem, der sich in der Linkspartei verortet, ist das
ein bisschen geschichtsvergessen.
Schönen Dank.
({31})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
teile Ihre Auffassung, Herr Minister Scholz, dass Mindestlöhne sozusagen das Gebot der Stunde sind, nicht.
Im Gegenteil: Unser Land steht mit den heute zu beratenden Gesetzesinitiativen an einem Scheideweg. Die
Einführung eines flächendeckenden Systems von Mindestlöhnen - darum geht es Ihnen doch letzten Endes,
Herr Scholz - durch die Ausweitung des Entsendegesetzes und die Wiederbelebung des in Vergessenheit geratenen Mindestarbeitsbedingungsgesetzes ist eine strategische Fehlentscheidung, die geeignet ist, unser Land und
unsere Volkswirtschaft auf Jahrzehnte hinaus schwer zu
belasten und zu schädigen,
({0})
und die vor allem diejenigen, die arbeitslos sind oder
werden und die über eine geringe Qualifikation verfügen, auf Dauer faktisch vom ersten Arbeitsmarkt ausschließt.
({1})
Diese Fehlentscheidung ist in ihrer Wirkung allenfalls
mit dem Irrweg der Arbeitszeitverkürzung mit vollem
Lohnausgleich vergleichbar, der dazu geführt hat, dass
durch die sprunghafte Verteuerung von Arbeit viele einfache Tätigkeiten - damals hat man von Hilfsarbeitertätigkeiten gesprochen - faktisch aus den Unternehmen
verschwunden sind. Aber es ist ungleich schwerer zu
korrigieren. Denn während gerade in den letzten Jahren
in den Betrieben der in den 80er-Jahren begangene Fehler Zug um Zug geheilt wurde, wird es sehr schwer werden, Mindestlöhne - wenn sie erst einmal eingeführt
sind - durch gesetzgeberisches Handeln wieder zurückzunehmen.
Ich rufe den Menschen, die diese Debatte heute an
den Bildschirmen verfolgen, zu: Glauben Sie nicht den
Politikern mit den einfachen Botschaften,
({2})
etwa der Art: „Wer Vollzeit arbeitet, muss auch davon leben können!“. Milton Friedman, der Wirtschaftsnobelpreisträger, hat einmal gesagt: „There’s no such thing as
a free lunch“. Frei übersetzt heißt das: Es gibt kein freies
Mittagessen. Irgendjemand zahlt immer die Zeche.
Herr Kollege Kolb, möchten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Steppuhn beantworten?
Gerne. Bitte.
Sehr geehrter Herr Kolb, es ist richtig, dass wir in diesem Hohen Hause den Menschen im Land sagen, wer für
welche Politik steht. Wenn ich nach Europa blicke, dann
stelle ich fest - das wissen Sie sicherlich besser als wir
Sozialdemokraten -: Nach dem Ablauf der Übergangsfristen werden Freizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit
herrschen.
({0})
Halten Sie es für richtig, dass sich dann zum Beispiel ein
Friseur aus einem osteuropäischen Land auf einen
Marktplatz in Deutschland stellt und die Haare für
1 Euro schneidet? Was soll dann der deutsche Friseurladen machen? Soll er Insolvenz anmelden?
Herr Kollege Steppuhn, Sie werden die europäische
Einigung und ihre Konsequenzen nicht aufhalten können. Wenn wir uns entschieden haben, einen gemeinsamen europäischen Markt zu schaffen, werden wir erleben, dass auch Selbstständige aus anderen europäischen
Ländern zu uns kommen und versuchen werden, uns ihre
Dienstleistungen und Produkte zu verkaufen, und zwar
zu den Preisen, die auf dem Markt erzielt werden können.
Ich sehe ein anderes Problem, das Minister Scholz bereits angesprochen hat. Es gibt schon heute niedrige
Löhne zum Beispiel im Bereich der Friseurdienstleistungen. Diese werden zwar beklagt, sind aber das Ergebnis
der Abschlüsse der Tarifparteien; das hat Herr Scholz jedoch unterschlagen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben ihre Unterschrift unter einen Tarifvertrag geleistet
und sich darauf verständigt, dass zum Beispiel für Friseurinnen und Friseure in Sachsen, im Erzgebirge
4,50 Euro in der Stunde gezahlt werden. Wenn wir uns
zur sozialen Marktwirtschaft und zur Tarifautonomie bekennen, dann werden wir auch mit den Konsequenzen
leben müssen, selbst wenn sie uns im Einzelfall nicht gefallen. - Herr Steppuhn, Sie können gerne noch stehen
bleiben. Dann läuft die Uhr weiterhin nicht zu meinen
Lasten.
Ich will sehr deutlich und unmissverständlich sagen:
Mindestlöhne sind nicht frei von Risiken und Nebenwirkungen. Sie verteuern Produkte und Dienstleistungen,
Herr Kollege Steppuhn. Sie verringern die Nachfrage
nach Produkten und Dienstleistungen. Sie kosten Arbeitsplätze. Das IWH in Halle geht davon aus, dass ein
Mindestlohn in Höhe von 7,50 Euro zu einem Verlust
von rund 620 000 Arbeitsplätzen im Niedriglohnsektor
führen wird, und zwar insbesondere in den neuen Bundesländern wegen der dort größeren Bedeutung des
Niedriglohnsektors für die Gesamtzahl der Beschäftigten, Herr Kollege Dreibus.
Herr Minister Scholz, ich wundere mich über die
Sprunghaftigkeit der politischen Diskussion. Es war
doch die SPD, die gemeinsam mit den Grünen erst vor
wenigen Jahren die Einrichtung eines Niedriglohnsektors zu einem wesentlichen Ziel ihrer Politik erhoben
hatte. Jetzt haben Menschen mit geringer Qualifikation
Beschäftigungschancen zu niedrigeren Löhnen. Aber
wieder ist das Geschrei groß: Skandal! Wie kann es sein,
dass man von seiner Arbeit nicht leben kann? - Kollege
Steppuhn, wir lassen Sie da nicht aus der Verantwortung.
Denn Sie haben genau dafür die Voraussetzungen geschaffen; Sie wollten genau das. Wenn Sie das nun wieder ändern wollen, dann werden wir Sie nicht daran hindern können. Schließlich haben Sie zusammen mit der
Union die Mehrheit. Aber Sie sollten wissen: Die Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor werden genauso
schnell verschwinden, wie sie entstanden sind.
Damit wende ich mich an die Kollegen der Union. Ihnen habe ich im Dezember 2007 von dieser Stelle aus
prophezeit, dass Sie nach Ihrer Zustimmung zum Mindestlohn in den Bereichen Gebäudereinigung und Postdienstleistungen Zug um Zug bei weiteren Branchen
über den Tisch gezogen werden. Heute kommt es erneut
zum Schwur. Heute werden Sie sich erneut in die falsche
Richtung bewegen.
Herr Kollege Kolb, darf auch der Kollege Ernst eine
Zwischenfrage stellen?
Ja, bitte.
Dann muss es aber auch gut sein, weil die Redezeiten
durch Zwischenfragen eigentlich nicht vervielfacht werden sollen.
({0})
Das ist auch nicht meine Absicht. Danke, dass Sie
meine Zwischenfrage zulassen. - Meine Frage ist leicht
zu beantworten, Herr Dr. Kolb. Sie stellen immer einen
Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Mindestlöhnen her. Glauben Sie denn, dass das Pferd nicht vom
Traktor ersetzt worden wäre, wenn es versprochen hätte,
weniger zu saufen und zu fressen? Letztendlich läuft das
darauf hinaus. Natürlich ist es eine Tatsache, dass Arbeitsplätze abwandern. Das hat aber teilweise gar nichts
mit den Löhnen zu tun, sondern mit dem technischen
Fortschritt. Des Weiteren ist es eine Tatsache, dass über
die Länder, in denen es Mindestlöhne gibt, das Gegenteil
von dem berichtet wird, was Sie sagen. Meine Frage:
Kann man Jobs erhalten, wenn man die Löhne so stark
senkt, dass man davon nicht mehr leben kann?
Herr Kollege Ernst, ich bin davon überzeugt, dass auf
Dauer die gezahlten Löhne und der Wert der in einer
Zeiteinheit hergestellten Produkte und erbrachten
Dienstleistungen korrespondieren müssen. Kein Arbeitgeber kann auf Dauer Löhne zahlen, die nicht durch die
Erlöse aus dem gedeckt sind, was produziert wurde. Wer
das auf Dauer tun würde, würde unweigerlich in den
Konkurs, in die Insolvenz geraten und mit der Existenz
seines Unternehmens bezahlen. Davon bin ich überzeugt. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt betrifft - das ist vorhin schon angesprochen worden - die Mindestlöhne in den anderen europäischen Ländern. Ich habe mir das übrigens einmal
anhand einer Schrift, die vom DGB verlegt wurde, angeschaut. In den allermeisten Fällen liegen die Mindestlöhne in den anderen EU-Staaten unter 3,50 Euro.
({0})
- Ich sagte, in den allermeisten Fällen liegen sie unter
3,50 Euro. Darunter sind viele osteuropäische Staaten.
Das ist keine Frage. - Es gibt insgesamt sieben Staaten
in Europa - ({1})
- Lassen Sie mich doch einmal zu Ende reden. Ich gehe
davon aus, dass das alles nicht auf meine Redezeit angerechnet wird, Herr Präsident.
Mit Ausnahme der Rückfragen, nicht.
Herr Kollege Ernst, es gibt insgesamt sieben Staaten
in Europa, die einen Mindestlohn etwa in der Größenordnung von 7,50 Euro haben, die von Ihnen zumindest
in der Vergangenheit gefordert wurde. Mittlerweile ist
der Benchmark eher bei 9 Euro bis 9,80 Euro. Dann
muss man aber auch sehen, dass beispielsweise Großbritannien ganz andere Lohnnebenkosten hat, als wir sie in
Deutschland haben, und dass die Arbeitsmarktregulierung in Großbritannien eine vollkommen andere ist, als
wir sie in Deutschland haben. Sie dürfen nicht Äpfel mit
Birnen vergleichen, sondern es müssen gleiche Sachverhalte verglichen werden. Wenn man glaubt, man könne
die Löhne anheben und die starke Regulierung beibehalten, dann - das sage ich Ihnen - wird man am Ende genau das erleben, was ich hier prophezeit habe, nämlich
dass in großer Zahl - da stehe ich nicht alleine als Kassandra, sondern alle bedeutenden Wirtschaftsinstitute in
Deutschland kommen zu ähnlichen Ergebnissen - Arbeitsplätze verloren gehen.
Nun zurück zur Union. Es ist uns nicht verborgen geblieben, wie Sie sich, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wie ein Ringer beim Kampf auf der Matte gewunden haben. Wie Sie versucht haben, Herr Kollege Straubinger,
sich aus dem Klammergriff des politischen Gegners zu
lösen.
({0})
Aber so sehr Sie sich auch bemüht haben: Aus dem
Schwitzkasten, in den die SPD Sie beim Thema Mindestlohn genommen hat, konnten Sie sich nicht mehr befreien.
Herr Kollege Lehrieder, es leuchtet mir nicht ein, wie
man auf der einen Seite - wie die Kanzlerin höchstpersönlich - gegen einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn sein kann, auf der anderen Seite aber die Hand
dafür heben kann, Branche für Branche spezifische
Mindestlöhne einzuführen.
({1})
Es gibt nicht gute und weniger gute Mindestlöhne. Auch
die branchenspezifischen Mindestlöhne sind ein Irrweg,
wie Claus Hulverscheidt in der Süddeutschen Zeitung zu
Recht ausgeführt hat. Er wirft die Frage auf:
Wie eigentlich will die SPD - und ich füge hinzu:
wie will die CDU - erklären, dass ungelernte Postboten mindestens 9,80 Euro, ausgebildete Friseurinnen aber vielleicht nur 6,50 Euro erhalten sollen?
Ist das gerecht?
({2})
Ich sage: Nein, gerecht ist das nicht. Vieles spricht dafür,
dass die vorgesehenen Regelungen zudem ein verfassungswidriger Eingriff in die grundgesetzlich garantierte
Tarifautonomie sind.
({3})
Diesen Fragen werden wir in der Anhörung zu Ihren Gesetzentwürfen besondere Bedeutung zukommen lassen.
Ich meine, der Spuk muss ein Ende haben. Die Party
der letzten Jahre, in denen Sie sich an mehr oder weniger
verdienten Arbeitsmarkterfolgen selbstzufrieden gesonnt
haben, ist vorbei. Was den Mindestlohn angeht, so gilt
angesichts des Übergreifens der Finanzmarktkrise auf
die Realwirtschaft: Nie war er so falsch wie heute.
Der Kollege Wend hat gestern in der Debatte zu den
Turbulenzen an den Finanzmärkten und mit Blick auf
die zu erwartende konjunkturelle Abschwächung mit
sorgenvollem Gesicht gefragt: Was können wir tun, um
dem Mittelstand zu helfen? - Herr Wend, ich kann Ihnen
sagen, was Sie nicht tun sollten, wenn es Ihnen wirklich
um den Mittelstand geht: Sie sollten diese Mindestlohngesetze nicht verabschieden. In den Unternehmen, in denen der Mindestlohn wirklich greifen würde, ist die
zwangsweise Anhebung von Löhnen durch den Gesetzgeber bei einer rückläufigen Konjunktur so wirksam wie
die Verabreichung von K.-o.-Tropfen. Dass die Warnung
einen realen Hintergrund hat, haben wir bei der Postdienstleistungsbranche sehen müssen, in der innerhalb
von wenigen Monaten 6 000 Arbeitsplätze verschwunden sind.
({4})
Ich komme zum Schluss. Wir sollten nicht länger
über Mindestlöhne reden, sondern über ein Mindesteinkommen. Wer seinen Bedarf nicht aus dem Ergebnis eigener Arbeit decken kann, der muss zur vollen Bedarfsdeckung einen staatlichen, steuerfinanzierten Zuschuss
bekommen. Die FDP hat dazu das Konzept
Herr Kollege.
- des liberalen Bürgergeldes entwickelt, das mein
Kollege Niebel in seinem Redebeitrag näher erläutern
wird. Das empfehle ich Ihrer Aufmerksamkeit.
({0})
Ich bedanke mich, dass Sie mir Ihre Aufmerksamkeit
haben zuteil werden lassen.
({1})
Nun erhält der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Arbeitsmarktpolitik der Regierung Merkel ist erfolgreich
wie keine andere zuvor. Keine andere Bundesregierung
hat es geschafft, die Zahl der Arbeitslosen in drei Jahren
um fast 2 Millionen zu reduzieren. Wir erleben gegenwärtig gleichzeitig Tarifabschlüsse, die deutlich über
den Tarifforderungen der Gewerkschaften früherer Jahre
des wirtschaftlichen Abschwungs liegen. Das zeigt uns
und bestätigt: Hohe Beschäftigung ist das beste Mittel
gegen niedrige Löhne, und deswegen haben wir mit guter Politik etwas gegen niedrige Löhne in diesem Land
getan.
({0})
Hohe Beschäftigung bleibt auch das beste Mittel gegen niedrige Löhne.
Gleichzeitig werden wir als Große Koalition und wird
die Bundesregierung ihrer Verantwortung gerecht, ergänzend einen rechtlichen Rahmen dafür zu setzen, dass
in diesem Land gerechte Löhne gezahlt werden. Dazu
gehört die Ausweitung des Entsendegesetzes, und dazu
gehört das doppelte Angebot, das wir für die Branchen
machen, die eine hohe Tarifbindung haben und die die
Aufnahme in das Entsendegesetz wollen. Denjenigen,
die nicht die Chance haben, eine solche Tarifbindung zu
erreichen, dient die Modernisierung des Mindestarbeitsbedingungengesetzes aus der Zeit von Konrad
Adenauer und Ludwig Erhard. Meines Wissens war auch
die FDP damals an der Regierung beteiligt.
({1})
Dieses Gesetz stammt also aus einer Zeit, in der wir
ebenfalls eine gute Regierung hatten.
Wir setzen damit den Weg tariflicher Mindestlöhne
fort. Unser Grundsatz ist: Wir wollen die Tarifvertragsparteien stärken; wir wollen sie nicht ersetzen. Die
Tarifautonomie lebt davon, dass nicht jeder von dem
Recht auf negative Koalitionsfreiheit Gebrauch macht.
Dass man davon Gebrauch macht, das gibt es auch. Tarifautonomie kann nur wirklich lebendig sein, wenn es
auch welche gibt, die bei der Tarifautonomie mitmachen.
({2})
Dieses Land ist nicht durch einen Wettbewerb um die
niedrigsten Löhne wirtschaftlich groß und stark geworden, sondern durch vernünftige Lohnuntergrenzen im
Wettbewerb um Innovationen und Qualität.
Einen anständigen Lohn für eine anständige Arbeit zu
zahlen, das ist ein urchristliches Anliegen. Die Päpste,
die das schon vor Jahrhunderten gefordert haben, waren
keine Sozialisten.
({3})
Es ist ein urchristliches Anliegen, dass man für eine anständige Arbeit einen anständigen Lohn bekommt. Das
ist in einer sozialen Marktwirtschaft möglich, und es ist
die beste Voraussetzung für eine soziale Marktwirtschaft.
({4})
Es ist unverkennbar, dass die Regelungen, auf die wir
uns in der Konsequenz dessen, was wir schon früher vereinbart haben, verständigt haben, viele Gegner haben.
Da gibt es die FDP, die sagt: Das soll alles so weitergehen; der Staat soll sich da heraushalten. Wir sagen: In einer Situation, in der die Tarifbindung in unserem Land
leider sinkt - sie ist mittlerweile bei rund 52 Prozent angekommen -, kann man nicht so tun, als könnte alles so
weitergehen wie bisher. Wir brauchen in diesem Land
eine Renaissance der Tarifautonomie, wenn wir keine
staatliche Lohnfestsetzung wollen. Wir wollen keine
staatliche Lohnfestsetzung; deswegen wollen wir die Tarifautonomie stärken.
({5})
Genauso klar ist für uns, dass es auf der anderen Seite
in einem Land, in dem die Situation in den verschiedenen Branchen und Regionen so unterschiedlich ist, wie
sie es bei uns ist, keinen einheitlichen flächendeckenden
gesetzlichen Mindestlohn geben kann. Die Lage ist differenziert, und wir brauchen deswegen auch den Mut zu
differenzierten - nicht zu einfachen - Lösungen. Daher
legen wir diese Gesetzentwürfe vor.
Was ich meine, will ich an der unterschiedlichen
Situation, die wir in diesem Land haben, verdeutlichen.
Die wirtschaftliche Situation in Nordrhein-Westfalen,
woher ich komme, ist natürlich mit der seiner Nachbarländer, beispielsweise Belgien und Niederlande, vergleichbar. Wir haben in Nordrhein-Westfalen eine - sozial sehr verantwortungsvolle - Landesregierung, die
dafür gesorgt hat, dass bereits in drei Branchen Flächentarifverträge landesweit für allgemeinverbindlich erklärt
werden können, und zwar mit Löhnen, wie sie auch hier
in Debatten um flächendeckende gesetzliche Mindestlöhne gefordert werden.
({6})
Karl-Josef Laumann hat beispielsweise im Friseurgewerbe einen von Tarifvertragsparteien vereinbarten Mindestlohn von 7,60 Euro für allgemeinverbindlich erklärt.
Sie werden doch nicht sagen, dass die FDP in NRW da19428
bei nur wegen der schönen Dienstwagen der Landesregierungsmitglieder mitgemacht hat. Sie waren doch
aus voller Überzeugung für einen tariflichen Mindestlohn für Friseure in Nordrhein-Westfalen.
({7})
Wir machen eine gute, soziale Politik in NRW, und
Sie machen sogar mit. Stellen Sie sich doch hier nicht
dümmer an, als Sie in NRW regieren.
({8})
So machen wir es doch vernünftig in Nordrhein-Westfalen.
Gleichzeitig ist klar: Wir machen hier nicht nur Politik für Nordrhein-Westfalen; wir machen hier Gesetze,
die in Aachen genauso gelten können müssen wie in
Frankfurt/Oder.
({9})
In den verschiedenen Teilen unseres Landes ist die
Situation unterschiedlich. In unserem Nachbarland
Polen beträgt der gesetzliche Mindestlohn umgerechnet
1,92 Euro, in Tschechien 1,97 Euro. Da soll niemand so
tun, als würde der Markt nicht merken, wenn die Lohnunterschiede so groß sind. Bei uns sind die Löhne, von
Tarifvertragsparteien vereinbart, deutlich höher. Wir unterstützen mit einer Vielzahl von Maßnahmen, dass es
möglich ist, westlich der Oder deutlich höhere Löhne zu
zahlen als östlich der Oder.
Wenn die Tarifvertragsparteien, die auch in den
neuen Ländern vielfach gute Löhne vereinbart haben,
erklären: „Wir trauen uns zu, dass wir viermal besser
sind als unsere polnischen Konkurrenten, und wir trauen
uns zu, dass wir viermal höhere Tariflöhne zahlen können als die 1,92 Euro östlich der Oder“, dann sagen wir
als Politik doch nicht: Das darf nicht sein. Wir wollen
doch, dass die Tarifverträge gelten. Aber wenn beispielsweise die Tarifvertragsparteien im Sicherheitsgewerbe
erklären: „6 Euro können wir verkraften - in Brandenburg, in Mecklenburg-Vorpommern und anderswo“
({10})
und das so vereinbaren, dann wären wir doch mit dem
Klammerbeutel gepudert, wenn wir sagen würden:
7,50 Euro muss gesetzlich vorgeschrieben werden. Es
wäre doch Hybris, sich so über die Tarifvertragsparteien
hinwegzusetzen. Das machen wir nicht.
({11})
Das ist der entscheidende Unterschied zwischen einem
gesetzlichen Mindestlohn und einer branchenspezifischen Regelung von Tarifvertragsparteien, die wir akzeptieren und zu stärken bereit sind.
Wir sind jetzt - darauf hat der Bundesarbeitsminister
zu Recht hingewiesen - am Beginn ergebnisoffener parlamentarischer Beratungen über die Frage, welche der
Branchen, die einen entsprechenden Antrag gestellt haben, in das Entsendegesetz aufgenommen werden können. Es gibt bei der SPD eine Vorabfestlegung: alle
Branchen. Wir kennen das. Seit Monaten erzählt der
Kollege Struck - er schaut mich gerade an -: Wir treiben
die Union von Branche zu Branche zum Mindestlohn.
({12})
Das ist euer politisches Ziel. Das ist legitim. Klappen
wird es nicht.
({13})
Wir haben uns nur an einer Stelle festgelegt, nämlich:
Die Voraussetzungen für die Aufnahme der Zeitarbeitsbranche ins Entsendegesetz sind nicht erfüllt.
Dort besteht seit mehreren Jahren dieselbe Situation.
Deswegen ist das entscheidungsreif. In dieser Branche
besteht eine Tarifbindung von annähernd 100 Prozent.
Wenn wir sagen: „Wir wollen die Tarifvertragsparteien
stärken, aber nicht ersetzen“, dann macht es bei einer Tarifbindung von bundesweit nur noch etwas über
50 Prozent keinen Sinn, bei einer Branche anzusetzen,
die fast 100 Prozent Tarifbindung hat. Das ist die Lage.
Deswegen haben wir das so erklärt.
({14})
Ich will nur noch einmal daran erinnern, wie die Lage
ist. Es gibt einen Tarifvertrag des DGB mit einer unteren
Lohngruppe von 7,31 Euro im Westen. Es gibt einen
CGB-Tarifvertrag mit 7,21 Euro. Grundsätzlich können
wir Tarifverträge verdrängen - das ist wahr -, aber es
muss Güter von Verfassungsrang geben, die das rechtfertigen. Niemand kann uns erzählen, dass zwischen
7,21 Euro und 7,31 Euro die Grenze liegt, von der an
beispielsweise die Berufsfreiheit - Art. 12 Grundgesetz oder die Menschenwürde verletzt ist. Herr Sommer, der
DGB-Vorsitzende, hat im letzten Jahr auf einer MaiKundgebung, als wir das Angebot gemacht hatten, die
Regelung über sittenwidrige Löhne im Gesetz noch weiter zu verschärfen, gesagt, Löhne unter 7,50 Euro seien
sittenwidrig. Das heißt, aus DGB-Sicht hat der DGB
selbst einen sittenwidrigen Tarifvertrag abgeschlossen.
Ich schließe mich dieser Einschätzung ausdrücklich
nicht an. Für uns gilt die Richtigkeitsgewähr von Tarifverträgen. Ich sage klipp und klar: Es ist kein Rechtsgut
von Verfassungsrang erkennbar, das es wegen 10 Cent
Unterschied rechtfertigen würde, an der Stelle einen Tarifvertrag über den anderen zu erstrecken und zu verdrängen. Deswegen machen wir das nicht.
({15})
Ich möchte mich bei all denjenigen, die den Grundstein für die Gesetzentwürfe gelegt haben, die wir jetzt
beraten, herzlich bedanken. CDU und CSU haben die
Position, Tarifvertragsparteien zu stärken, aber nicht zu
ersetzen, durchgesetzt. Das gilt für die Bundesregierung.
Das gilt für die CDU/CSU-Fraktion. Wir waren als Fraktion sehr eng in die Entwurfserstellung eingebunden. Ich
freue mich, dass wir zu diesem Ergebnis gekommen
sind. Ich freue mich auch, dass es möglich ist, dass wir
dies als Koalition gemeinsam machen, nachdem Kurt
Beck, an den sich die Älteren in diesem Hause sicherlich
noch erinnern, seinerzeit gesagt hat, es sei eine große
Niederlage für die SPD, den flächendeckenden Mindestlohn nicht durchgesetzt zu haben. Es ist gut, dass wir uns
gemeinsam auf diesen Weg der Stärkung der Tarifvertragsparteien begeben haben, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
Ehre, wem Ehre gebührt: Ich erinnere daran, dass wir
auf den Schultern derer stehen - darauf hat Olaf Scholz
zu Recht hingewiesen -, die in den 90er-Jahren das Entsendegesetz geschaffen haben. Norbert Blüm, der damalige Bundesarbeitsminister, und Heinrich Kolb, der damalige Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium,
sind die Väter dieses Gesetzes. Auf den Schultern von
Norbert Blüm und Heinrich Kolb bauen wir heute auf.
({16})
Sie haben das Entsendegesetz auf den Weg gebracht; das
ist die Wahrheit. Die Grünen dagegen haben in sieben
Jahren Mitregierung keine einzige Branche ins Entsendegesetz aufgenommen. Alle Branchen sind unter CDUKanzlerinnen und -Kanzlern ins Entsendegesetz aufgenommen worden. CDU/CSU und FDP sind in diesem
Hause die Parteien für tarifliche Mindestlöhne.
({17})
Diese sozial gerechte Politik für die arbeitenden Menschen werden wir fortsetzen, auch wenn Sie die Vaterschaft im Nachhinein bestreiten. Damals waren Sie gut,
und wenn Sie wieder gut sind, dann können Sie auch
wieder mitregieren, Herr Kolb.
Schönen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({18})
Herr Kollege Brauksiepe, da Sie die Gruß- und
Glückwunschadressen an die vermeintlichen Väter einschlägiger Gesetzgebung heute Morgen nur an einen von
beiden persönlich haben richten können, werden Sie sicherstellen, dass es der andere in geeigneter Weise erfährt.
({0})
Nun hat der Kollege Werner Dreibus für die Fraktion
Die Linke das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit den vorliegenden Gesetzentwürfen räumt die
Bundesregierung immerhin ein, dass Armut trotz
Arbeit in Deutschland ein gravierendes - ich betone:
gravierendes - Problem ist und dass Politik endlich handeln muss.
({0})
Das ist ein Fortschritt, den wir begrüßen, auch wenn er
- das ist schon bitter - für die Menschen, die seit Jahren
für Stundenlöhne von 3, 4 oder 5 Euro arbeiten müssen,
viel zu spät kommt. Die entscheidende Frage, die wir
uns stellen müssen, lautet aber: Reicht das, was die Bundesregierung hier vorlegt, aus, um das Problem tatsächlich in den Griff zu bekommen?
Rund 6,5 Millionen Menschen verdienen in Vollzeitarbeit weniger als drei Viertel des durchschnittlichen
Bruttoeinkommens. Das ist ein Viertel aller abhängig
Beschäftigten, Tendenz steigend. Von diesen 6,5 Millionen Menschen verdienen rund 3,8 Millionen weniger als
50 Prozent des Durchschnittslohns, also weniger als
50 Prozent von 1 470 Euro im Monat. Wir sprechen, wie
gesagt, über Stundenlöhne von 3, 4 oder 5 Euro. Das
sind Armutslöhne. Von diesen Armutslöhnen sind in besonderer Weise, nämlich zu 70 bis 80 Prozent, Frauen
betroffen. Die Folgen werden regelmäßig nicht nur von
uns beklagt: sinkende Reallöhne, Nachfrageschwäche,
sinkender Anteil der Erwerbseinkommen, wachsende
Lücke zwischen niedrigen und hohen Einkommen, eine
wachsende Zahl von Familien und Kindern in Armut
usw.
Wir brauchen eine Untergrenze für Löhne, die gewährleistet, dass ein Lohn für Vollzeittätigkeit auch tatsächlich zum Leben reicht. Deshalb muss - egal, wie das
Gesetz letztendlich heißt - an erster Stelle die Festlegung einer allgemeinen Lohnuntergrenze liegen, die
sicherstellt, dass Menschen, die Vollzeit arbeiten, davon
tatsächlich auch leben können.
({1})
In dieser Hinsicht sind leider die Gesetzentwürfe der
Bundesregierung substanzlos. Die wesentliche Frage,
die wir uns heute stellen und die sich Millionen Menschen stellen, wie hoch der Lohn sein sollte, wird in den
beiden Gesetzentwürfen noch nicht einmal gestreift.
Stattdessen konzentrieren Sie sich auf Verfahrensfragen;
sie sind auch wichtig, kommen aber immer an zweiter
Stelle. Vorschläge zum Verfahren können die fehlende
Substanz nicht ersetzen.
Was soll nach den Vorstellungen der Koalition passieren? Sie wollen die untersten Tariflöhne zu Mindestlöhnen erklären. In vielen Bereichen ist dies nichts
anderes als Etikettenschwindel. In Deutschland gibt es
massenweise Tariflöhne von 3, 4 oder 5 Euro pro Stunde:
im Einzelhandel, im Fleischerhandwerk, im Bewachungsgewerbe usw. Keinem Mann und keiner Frau - betroffen
sind, wie gesagt, vor allen Dingen Frauen - wäre damit
gedient, wenn wir als Gesetzgeber Tariflöhne von
3,50 Euro per Gesetz zu Mindestlöhnen erklärten. Im
Gegenteil; dann bekäme Lohndumping auch noch den
Segen des Gesetzgebers.
({2})
An dieser Stelle eine Zwischenbemerkung. Gewerkschaften können dann gute Löhne durchsetzen, wenn
Beschäftigte selbstbewusst sind und sich organisieren.
Wer aber in einem 400-Euro-Job schafft, nur einen befristeten Arbeitsvertrag hat oder als Leiharbeiter eingesetzt ist - heute hier, morgen da -, hat schlicht und ergreifend Existenzangst. Er fragt sich zu Recht: Fliege ich
raus, wenn ich mich engagiere? Ist mein Job dann ganz
weg?
So sieht die Wirklichkeit von Millionen von Menschen mit prekären Arbeitsverhältnissen aus. Dafür trifft
nicht diese Menschen die Schuld, sondern einzig und allein die Politik,
({3})
allen voran SPD und Grüne, die mit den Hartz-Gesetzen
die Menschen gedemütigt und - bewusst oder unbewusst den Gewerkschaften einen Knüppel zwischen die Beine
geworfen haben. Gedemütigte Menschen engagieren
sich nicht, organisieren sich nicht, setzen auch nicht über
die Gewerkschaften gerechte Arbeitsbedingungen durch.
Union und FDP haben - das wissen wir alle; das ist auch
heute Morgen wieder geschehen - diesen Zuständen
noch applaudiert und Hurra gerufen.
So sieht es aus. Jetzt beklagen wir, dass es so viele
Menschen gibt, die von ihrer Arbeit nicht leben können.
Dafür sind Sie verantwortlich und niemand anderes.
Aber obwohl nun endlich die Erkenntnis reift, dass es so
nicht weitergehen kann, schaffen Sie es nicht einmal,
wenigstens eine klare Grenze für Lohndumping einzuführen. Damit nicht genug: Letztlich missachtet die Koalition mit den beiden Gesetzentwürfen eine Lohnuntergrenze, die der Gesetzgeber faktisch längst festgelegt
hat. Ich meine die Pfändungsfreigrenze, die derzeit bei
rund 1 000 Euro netto liegt. Die Pfändungsfreigrenze besagt, dass einem verschuldeten alleinstehenden Arbeitnehmer oder einer verschuldeten alleinstehenden Arbeitnehmerin ein Einkommen mindestens in dieser Höhe
zusteht und nicht gepfändet werden darf; denn weniger
als 1 000 Euro reichen nicht zum Leben. Aber Sie wollen allen Ernstes mit den vorliegenden Gesetzentwürfen
Tariflöhne zu Mindestlöhnen erklären, bei denen nicht
einmal 1 000 Euro brutto auf dem Lohnzettel stehen.
({4})
Eine Friseurin in Brandenburg, um ein zugegebenermaßen extremes, aber leider nicht gering verbreitetes Beispiel zu nennen, bekommt 2,75 Euro die Stunde per Tarifvertrag. Das wollen Sie mit diesen Gesetzen zum
Mindestlohn erklären. Das ist zynisch und menschenunwürdig.
({5})
- Deshalb habe ich es ja gesagt, Herr Niebel. Im Gegensatz zu Ihnen weiß ich, wovon ich rede.
({6})
Hätten wir in Deutschland einen Mindestlohn wie in
Frankreich, würde bei einer Vollzeitarbeit ein Nettolohn ermöglicht, der mindestens auf der Höhe der Pfändungsfreigrenze in Deutschland läge. Der Mindestlohn
in Frankreich beträgt derzeit 8,71 Euro die Stunde. Das
sollte auch für einen Mindestlohn in Deutschland eine
Orientierungszahl sein.
({7})
Herr Kollege Dreibus, nun möchte der Kollege
Niebel, wie beinahe vorprogrammiert, die von Ihnen
provozierte Zwischenfrage stellen.
Das war ja fast schon eine Vorlage. - Bitte schön,
Herr Niebel.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich habe mich mit dieser Frage lange zurückgehalten und gedacht, ich könne
sie umgehen. Aber dem Handbuch des Deutschen Bundestages ist zu entnehmen, dass Sie, Herr Kollege
Dreibus, im Hauptberuf Gewerkschaftssekretär sind,
({0})
also durchaus jemand, wie Sie gesagt haben, der sich mit
Tarifverhandlungen auskennt. Da Sie jetzt aber im Rahmen Ihres Wortbeitrages schon mehrfach gesagt haben,
dass die untersten Tariflöhne, die von der Regierung
- ich bin gegen Mindestlöhne, nur dass das nicht vergessen wird ({1})
als allgemein verbindliche Mindestlöhne eingeführt werden sollen, sittenwidrige Dumpinglöhne sind - so ungefähr haben Sie es formuliert -, frage ich mich, warum
Ihre Kolleginnen und Kollegen Gewerkschaftssekretäre
Tarifverträge mit solchen sittenwidrigen Dumpinglöhnen unterschreiben.
({2})
Ich gebe Ihnen zwei Antworten darauf. Erstens. Wenn
Sie mir vor der Formulierung Ihrer Frage bei meiner
Rede zugehört hätten, hätten Sie festgestellt, dass ich die
Antwort bereits gegeben habe.
({0})
Zweitens. Ich bin als Gewerkschafter bei diesen Entwicklungen Täter und Opfer zugleich. Ich bin als Gewerkschafter in vielen Fällen - wenn die Bedingungen
so sind, dass Menschen, beispielsweise Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, nicht in der Lage sind, sich engaWerner Dreibus
giert für ihre Interessen einzusetzen, weil sie Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren ({1})
gezwungen, gemeinsam mit diesen Menschen das Mindeste herauszuholen, was herauszuholen ist, und das sind
oft sittenwidrige Löhne.
({2})
Aber wenigstens bin ich in der Lage, mein eigenes Tun
kritisch zu sehen und festzustellen, dass Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um das in Zukunft zu
ändern.
({3})
Dieses Maß an Selbstkritik würde ich auch bei Ihnen
gerne erkennen.
({4})
Ich wiederhole: Hätten wir in Deutschland einen Mindestlohn wie in Frankreich, dann hätten wir ihn in einer
Größenordnung von 8,71 Euro. Wenn Sie es wirklich
ernst meinen mit Mindestlöhnen, dann müssen Sie in der
Koalition über solche Größenordnungen sprechen, Herr
Minister. Nur dann kommen wir ein Stück weiter.
({5})
Zur Redlichkeit der Politik gehört auch, den Willen
der Menschen zu achten. Drei Viertel der Deutschen sind
für gesetzliche Mindestlöhne. Alle Umfragen zeigen das.
Auch unter den Wählern der CDU gibt es dafür eine
deutliche Mehrheit. Das wissen Sie. Sie handeln somit
gegen den Willen Ihrer Wählerinnen und Wähler.
Demokratie heißt Volksherrschaft. Darum geht es
bei diesem Thema genauso wie bei dem Thema Finanzkrise. Nur so sind die Worte meines Fraktionsvorsitzenden gestern zu verstehen, gemeint und auch gesagt worden. Die Finanzkrise ist eine Krise der Demokratie, weil
wir die Voraussetzungen dafür geschaffen haben. Deshalb besteht für uns die verdammte Pflicht und Notwendigkeit, mit demokratischen Entscheidungen Korrekturen herbeizuführen - im Bereich der internationalen
Finanzkrise genauso wie beim Thema Dumpinglöhne.
({6})
Nicht nur wir kritisieren die vorliegenden Gesetzentwürfe. Viele Experten haben sich in den vergangenen
Wochen und Monaten damit beschäftigt und darauf hingewiesen, dass manches in diesen Gesetzentwürfen einen Schritt darstellt, dass aber das eigentliche Problem,
nämlich die Schaffung einer sicheren Lohnuntergrenze,
mit diesen Gesetzentwürfen nicht gelöst wird. Dies ist
jedenfalls kein Ersatz für einen allgemeinen gesetzlichen
Mindestlohn.
Auch der Weg über das Gesetz über die Festsetzung
von Mindestarbeitsbedingungen ist keine Alternative.
Wir müssten für jede heute tariflose Branche eine Kommission bilden, und es müssten Verhandlungen geführt
werden. Das würde einen riesigen Aufwand bedeuten.
Am Ende wäre noch nicht einmal sichergestellt, dass bei
solchen Gesprächen ein vernünftiger Mindestlohn herauskommt. Dass Hunderte von Branchenmindestlöhnen
zudem völlig intransparent wären, sei hier nur am Rande
erwähnt.
Die Experten des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts des DGB haben in ihrer Studie darauf hingewiesen:
Zu erwarten ist auch, dass zahlreiche Lücken bleiben, wenn nicht systematisch und flächendeckend
für alle in Betracht kommenden Niedriglohnbranchen Verfahren in Gang gesetzt werden.
Das Fazit der Wissenschaftler des DGB lautet: Die erwartbaren
Regelungslücken werden auch in Deutschland dafür sorgen, dass eine universelle Lösung im Sinne
eines allgemeinen, branchenübergreifenden Mindestlohns auf der Tagesordnung bleibt.
An dieser Stelle eine zweite Zwischenbemerkung, gerichtet an diejenigen, die meinen, der deutsche Kapitalismus breche zusammen, wenn ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wird.
({7})
Es ist schon davon gesprochen worden: In 20 EUStaaten gibt es Mindestlöhne. Darunter sind Staaten wie
Großbritannien oder die Niederlande. In beiden Ländern
liegt der Mindestlohn deutlich über 8 Euro, und er schadet dem Arbeitsmarkt in keiner Weise. Da überall im
Kapitalismus dieselben ökonomischen Gesetze gelten,
ist zu erwarten, dass die deutsche Wirtschaft unter einem
Mindestlohn von 8,71 Euro - wie die Franzosen ihn haben - nicht zusammenbrechen wird.
Der wahre Grund dafür, weshalb die Regierung und
die FDP - zumindest die CDU und die FDP - den gesetzlichen Mindestlohn so nachhaltig ablehnen, ist doch
ein ganz anderer. Wir alle wissen, dass billige Löhne
letztlich höhere Profite bedeuten. Das sagen Sie so natürlich nicht. Um Gottes Willen. Jetzt schon gar nicht in
diesen Zeiten. Täten Sie es, wäre allen sofort klar, dass
Sie die einen bei schmaler Kost halten wollen, damit es
den anderen besser geht. Deshalb müssen wir uns von
Ihnen immer wieder die Mär anhören, ein gesetzlicher
Mindestlohn würde Arbeitsplätze vernichten. Das ist
blanker Unsinn.
({8})
Wer einen klaren Blick hat, der weiß, was zu tun ist.
Wir brauchen ein Gesetz, das erstens einen einheitlichen
gesetzlichen Mindestlohn festlegt und das zweitens den
Tarifparteien ermöglicht, branchenspezifische Mindestlöhne zu vereinbaren, sofern diese über dem gesetzlichen Mindestlohn liegen.
Meine Fraktion hat bereits im Jahr 2006 Eckpunkte
für ein solches Gesetzgebungsverfahren in den Bundestag eingebracht. Dabei orientieren wir uns an den schon
mehrfach zitierten positiven Erfahrungen Großbritanniens.
Dazu ein letztes Zitat. Auf einer Anhörung meiner
Fraktion stellte John Cridland dazu fest:
Bisher war der Mindestlohn ein großer Erfolg. Für
mehr als eine Million Arbeitnehmer sind die Löhne
deutlich angehoben worden, ohne dass dies Arbeitsplätze gekostet hätte. Auch die Wirtschaft ist
nicht behindert worden.
Herr Cridland ist stellvertretender Vorsitzender des britischen Industrieverbandes, also sozusagen des BDI von
Großbritannien, und Mitglied der britischen Low Pay
Commission. Ich glaube, dem ist nichts hinzuzufügen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun die Kollegin Brigitte Pothmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 20 von
27 europäischen Mitgliedstaaten haben gesetzliche
Mindestlöhne. Nun ist es nicht etwa so, dass die anderen europäischen Staaten keine Mindestlohnregelungen
hätten. Nein, sie haben äquivalente Regelungen, die dafür sorgen, dass eine bestimmte Lohnuntergrenze nicht
unterschritten wird. In Deutschland ist das leider immer
noch anders.
Im letzten Jahr sind die Mindestlöhne in sehr vielen
Ländern angehoben worden. Bei uns sind im letzten Jahr
die Löhne gerade im untersten Bereich noch einmal
deutlich gesenkt worden.
({0})
Der Mindestlohn in den anderen europäischen Ländern hat dafür Sorge getragen, dass diejenigen, die am
schlechtesten verdienen, vom wirtschaftlichen Aufschwung profitieren, der noch im letzten Jahr zu verzeichnen war.
({1})
- Wir wollten den Niedriglohnsektor keineswegs. Wir
wollten immer, dass Mindeststandards festgeschrieben
werden, Herr Kolb.
({2})
Sie aber haben lautstark dagegengebrüllt.
({3})
Ich will Ihnen einmal sagen, wie sich die Mindestlöhne im letzten Jahr in den anderen Ländern entwickelt
haben: In Großbritannien liegt der Mindestlohn bei
5,73 Pfund, in den Niederlanden bei 8,33 Euro, in Belgien bei 8,41 Euro, in Frankreich bei 8,71 Euro und in
Luxemburg bei 9,30 Euro. Jetzt kommen Sie mir nicht,
Herr Kolb, mit den östlichen europäischen Ländern. Natürlich hat die Festsetzung der Höhe des Mindestlohns
auch etwas mit den Lebenshaltungskosten in den jeweiligen Ländern zu tun.
({4})
Natürlich geht es um vergleichbare Volkswirtschaften,
Herr Kolb. Wenn das mal in Ihren Kopf ginge!
({5})
Ich frage Sie: Warum soll bei uns etwas nicht gehen,
was in den anderen europäischen Ländern seit Jahren
überaus erfolgreich funktioniert,
({6})
und zwar ohne dass damit Arbeitsplätze vernichtet werden? Wenn es nach Ihrer Propaganda ginge, meine Damen und Herren von der FDP
({7})
- ich spreche an dieser Stelle, Herr Brauksiepe, ausdrücklich auch die CDU/CSU an -, dann wären Großbritannien, die Niederlande, Belgien, Frankreich und
Luxemburg längst erledigt.
({8})
Untergegangen wären sie auf dem Weg in eine sozialistische Planwirtschaft. Das ist doch die Propaganda, die
Sie hier immer vortragen.
({9})
Aber die Wirklichkeit widerlegt Sie. Was soll ich Ihnen
sagen: Noch immer hat sich die Propaganda an der
Wirklichkeit gebrochen. Die jedenfalls werden Sie propagandistisch nicht überlisten.
({10})
Deutschland hält einen traurigen Rekord: Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor in ganz Europa.
Innerhalb dieses Niedriglohnsektors arbeiten 2 Millionen Menschen in Deutschland für Löhne unterhalb von
5 Euro die Stunde. Das sind noch nicht einmal 200 Euro
in der Woche. Das sind knapp 800 Euro im Monat. Herr
Kolb,
({11})
für 800 Euro halten Sie doch noch nicht einmal einen
Vortrag; um die Dimension deutlich zu machen.
({12})
Sie von der FDP und große Teile der CDU/CSU sind
für diese Hungerlöhne persönlich mitverantwortlich.
({13})
Sie haben all die Jahre jede Form einer vernünftigen
staatlichen Regelung blockiert. Das Ergebnis dieser Blockade sind diese Löhne. Sie haben sich hier hingestellt
und gesagt, Mindestlöhne seien der Untergang des
Abendlandes, Mindestlöhne würden die Marktwirtschaft
ruinieren. Das war Ihre Propaganda. Aber heute, in den
Fieberschüben der weltweiten Finanzkrise, in einer Zeit,
in der Ihre marktradikale Welt am Abgrund taumelt,
können Sie nicht schnell und laut genug nach dem Staat
rufen. Sie messen mit zweierlei Maß. Das werden Ihnen
die Leute aber nicht durchgehen lassen.
({14})
Frau Kollegin Pothmer, möchten Sie nun dem Kollegen Kolb Gelegenheit zur Fortsetzung seiner Propaganda geben?
({0})
Ich finde, er sollte die Frage stellen, und ich überlege
mir dann, ob ich sie beantworte.
({0})
Versuchen wir es einmal, Frau Kollegin Pothmer. Sie
haben den Eindruck erweckt, die FDP sei schuld an allem Übel. Mir geht Folgendes durch den Kopf: Ich
glaube mich zu erinnern, dass Sie nach 1998 acht Jahre
lang in diesem Land regiert und die Verantwortung getragen haben. Können Sie mir noch einmal sagen, was
die Gründe dafür waren, dass Rot-Grün damals keinen
gesetzlichen Mindestlohn eingeführt hat?
Wir haben schon zu rot-grünen Zeiten
({0})
Initiativen zur Einführung von Mindestlöhnen ergriffen.
Damals haben wir uns leider nicht durchsetzen können.
({1})
Herr Kolb, Sie jedenfalls waren damals nicht an unserer
Seite.
({2})
Herr Kolb, ich will Ihnen einmal sagen, welches Voting es zurzeit bei Spiegel-Online gibt. Da steht:
Die FDP hat sich stets für die freie Marktwirtschaft
eingesetzt. Jetzt erschüttert eine Bankenkrise die
ganze Welt. Muss die FDP jetzt verboten werden
oder nicht?
({3})
Das Ergebnis dieses Votings sollten Sie sich einmal anschauen, bevor Sie in dieser Debatte weiterreden.
({4})
Sehr schön. Das nehmen wir als Zwischenruf zu Protokoll. - Im Übrigen bitte ich, ein bisschen daran zu denken, dass unsere heutige Sitzung, wenn es bei den Redezeiten bleibt, bis weit nach Mitternacht dauert. All das,
was wir uns jetzt an Großzügigkeiten erlauben, geht auf
Kosten der nachfolgenden Tagesordnungspunkte. Ein
bisschen Disziplin würde ich im Interesse der nachfolgenden Kollegen erbitten.
Mich können Sie damit nicht gemeint haben.
({0})
Das bestätige ich ausdrücklich, Frau Kollegin.
Meine Damen und Herren! Die politische Auseinandersetzung über den Mindestlohn in Deutschland ist,
wenn Sie so wollen, ein Lehrstück. Jahrelang haben die
Union und die FDP tatenlos zugesehen, wie sich der
Niedriglohnsektor immer weiter ausgebreitet hat. Den
Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, haben Sie einen Schutzschild verweigert.
({0})
Den von den Geringqualifizierten und Geringverdienenden so dringend gebrauchten Schutz haben Sie verweigert. Sie haben den Mindestlohn zerredet. Sie haben ihn
denunziert. Sie haben ihn verzögert, und sie haben ihn
blockiert.
Was den Geringverdienern an staatlichem Schutz
über Jahre verwehrt wurde, kann für die Banken offensichtlich schon in 48 Stunden geregelt werden. Es ist
schon erstaunlich, wie sich einige Propheten der Deregulierung angesichts der Zuspitzung der internationalen
Finanzkrise heute zu entschiedenen Befürwortern von
Staatsinterventionen gewandelt haben. Das muss man
einfach einmal zur Kenntnis nehmen. Herr Kolb, es sind
aber die gleichen Leute - das gilt auch heute wieder -,
die eine Staatsintervention ablehnen, wenn es um den
Mindestlohn geht, wenn es darum geht, die kleinen
Leute zu schützen. Sie schreien: Das ist der Untergang
des Abendlandes.
({1})
Dabei hat der Mindestlohn seine Praxistauglichkeit
längst unter Beweis gestellt. Er hat sich bewährt. Ich
sage es noch einmal ganz deutlich: Wir brauchen einen
Mindestlohn in Deutschland, und zwar dringend. Ich befürchte allerdings, dass die vorgelegten Gesetzentwürfe
nicht wirklich dabei helfen, dass wir diesem Ziel faktisch näherkommen. Das will die eine Seite dieses Hauses ganz offensichtlich auch gar nicht. Herr Oettinger
stellt sich hin und sagt ganz freimütig: Ich will so wenig
Mindestlohn wie möglich in so wenigen Branchen wie
irgend möglich. - So sieht das Gesetz auch aus. Hier haben wir die Situation, dass die CDU ein Mindestlohngesetz zwar mitunterschreiben wird, aber dieses Gesetz davon gekennzeichnet ist, dass es so wenig wie möglich
greift und so wenig wie möglich Anwendung finden
wird.
Ich will das an ein paar Punkten deutlich machen.
Welche Branchen jetzt tatsächlich zusätzlich ins Entsendegesetz aufgenommen werden, steht doch in den
Sternen. Sie, Herr Struck, haben Anfang des Jahres immer wieder formuliert, Sie gingen davon aus, dass
4,4 Millionen Menschen von der Einführung des Mindestlohns profitieren werden. - Darauf deutet allerdings
nichts, aber auch gar nichts hin. Bis jetzt haben sich acht
Branchen gemeldet, das sind 1,7 Millionen Beschäftigte.
Eine große Gruppe unter ihnen, nämlich 700 000 Menschen, sind Zeitarbeiter. Da hat aber die Union schon
gesagt: Zeitarbeiter? Njet! Diese Gruppe wird nicht vom
Gesetz erfasst. - Genau so wird das weitergehen. Eine
Branche nach der anderen wird von Ihnen abgelehnt,
weil Sie dieses Mindestlohngesetz, so wie das Oettinger
formuliert, gar nicht wollen. Ich sage Ihnen: Auf diesem
Gesetzentwurf steht zwar „Scholz“ drauf, aber da ist
„Glos“ drin. Deswegen wird es auch keine Wirkung entfalten.
({2})
Ich komme zu einem weiteren Punkt, der hier schon
angesprochen worden ist. Ich frage Sie: Was hat die berühmte Friseurin in Sachsen, die laut Tarifvertrag
3,06 Euro die Stunde verdient, von diesem Gesetz? Für
diese junge Frau ändert sich nichts, aber auch gar nichts.
Das liegt daran, dass Sie in diesem Gesetz festgeschrieben haben, dass bestehende Tarifverträge dauerhaft weiter bestehen und Vorrang vor den Regelungen zum Mindestlohn haben, selbst wenn die vereinbarten Löhne
noch so niedrig sind.
({3})
So wird man jedenfalls keine existenzsichernden Löhne
durchsetzen können.
({4})
Diese Politik kostet den Staat oder auch den Steuerzahler
1,5 Milliarden Euro im Jahr, weil diese Löhne aufgestockt werden müssen. In diesem Gesetz ist keine allgemeine Lohnuntergrenze vorgesehen. Deswegen wird das
Gesetz in vielen Bereichen, wo es dringend gebraucht
wird, nicht wirken.
Ich sage Ihnen: Für mich ist der Qualitätsmaßstab für
dieses Gesetz der Wirkungsgrad. Die Frage ist also: Wie
viele Menschen werden von den Regelungen dieses Gesetzes tatsächlich profitieren? Die Antwort ist: Dieses
Gesetz hat den Wirkungsgrad eines alten Atommeilers.
Es wird nicht wirklich etwas bringen. Wir werden das
Gesetz nicht abschalten, sondern es verändern und
verbessern. Wir werden Änderungsanträge zu unterschiedlichen Punkten stellen. Wir wollen eine allgemeine Lohnuntergrenze. Wir wollen die Einrichtung einer Mindestlohnkommission nach britischem Vorbild.
({5})
Frau Kollegin, ich hatte Sie vorhin leichtfertigerweise
für die Einhaltung der Redezeit gelobt. Ich möchte Sie
nun aber vorsichtig auf dieselbe hinweisen.
Aber hier ist angezeigt, dass ich noch über eine Minute habe.
({0})
Umgekehrt.
({0})
Dann komme ich jetzt zum Schluss. - Lassen Sie
mich noch Folgendes sagen: Beim Mindestlohn geht es
um mehr als eine gesetzliche Regelung für Niedriglohnempfänger. Der Mindestlohn ist auch ein Symbol für die
Frage, ob die Politik bereit ist, sich als Schutzmacht der
kleinen Leute einzusetzen.
({0})
Herr Brauksiepe, wenn Sie sagen, das sei ein urchristliches Anliegen, dann müssen Sie dieses Gesetz dringend
verbessern.
Ich danke Ihnen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, entsprechend dem
Thema der Debatte will ich noch einmal darauf hinweisen, dass es sich bei den vereinbarten Redezeiten nicht
um Mindestzeiten handelt.
({0})
Jetzt hat die Kollegin Nahles für die SPD-Fraktion das
Wort.
({1})
Das ist jetzt natürlich eine schwere Bürde. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieses Thema
passt gut in diese außerordentliche Woche, weil wir in
dieser Woche ein Rettungspaket für die Banken, für unsere Wirtschaft und für unsere Unternehmen auf den
Weg bringen müssen. Hinter dieses Rettungspaket gehört aus Sicht der Sozialdemokraten ein Doppelpunkt
und kein Punkt, weil es auch darum gehen muss, die
Schutzfunktion und die Stärke, die wir als Staat dem
Bankensektor leihen, natürlich auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zugutekommen zu lassen.
Genau darum geht es beim Thema Mindestlohn und den
Gesetzentwürfen, die hier heute auf dem Tisch liegen.
({0})
Ich denke zum Zweiten, dass wir mit den beiden Gesetzentwürfen einen großen Schritt machen. Ich bedanke
mich ausdrücklich beim Bundesarbeitsminister dafür,
dass er hier in der Ressortabstimmung eine solide
Grundlage geschaffen hat. Wir haben nun die Chance,
neben den 1,8 Millionen Menschen, die im Baubereich,
in der Gebäudereinigung und im Postbereich bereits
Mindestlohn haben, in diesem Jahr weiteren 1,6 Millionen Menschen den Schutz von Mindestlöhnen zu bieten.
Darum muss es uns gehen.
Deswegen sagen wir für die SPD - auch an die
Adresse unseres Koalitionspartners -, dass es darum gehen muss, die vereinbarten Kriterien in diesem Gesetz
daraufhin zu prüfen, ob sie auf die acht Branchen, die
sich gemeldet haben, passen. Nach unserer Einschätzung
ist es so, dass diese acht Branchen die Kriterien erfüllen.
Es gibt da noch einiges zu diskutieren. Aber wir - das ist
die erste Prüfung, die wir gemacht haben - gehen davon
aus, dass alle diese acht Branchen die Kriterien erfüllen
und deswegen Mindestlöhne in acht Branchen eingeführt
werden.
({1})
Ich bin froh, dass es Bewegung gibt. Denn wir haben
hier eben über die Schuldfrage diskutiert: Wieso? Wer
war schuld? - Ich muss hinzufügen: Ich war in der letzten Legislaturperiode nicht im Bundestag.
({2})
- Das war eine gute Zeit. Ich lasse mir dann einmal genauer berichten, Herr Niebel, wie das war. - Es geht hier
aber nicht um Schuld, sondern um die Frage: Haben wir
eigentlich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland
Mindestlöhne gebraucht? Ich betone: Wir haben starke
Sozialpartner, die für das Gemeinwohl und für soziale
Demokratie gestanden haben. Wir hatten über Jahrzehnte eine hohe Tarifautonomie und hohe Tarifbindung.
Ich kann mich gut erinnern, dass ich im Gewerkschaftsrat meiner Partei Monate gebraucht habe, um die verschiedenen Einzelgewerkschaften Ende 2005 beim Mindestlohn auf eine gemeinsame Position zu bringen. Erst
in dem Moment, als klar wurde - auch meiner IG Metall,
die in Lohngruppe 1 11 Euro Stundenlohn vorsieht,
({3})
und der IG BCE -, dass die Tarifbindung in vielen
Branchen mittlerweile so schwach ist, dass starke Gewerkschaften ihre Kraft schwächeren leihen müssen, damit es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in
diesem Land insgesamt besser geht, haben wir eine
handlungsfähige Struktur branchenbezogener Mindestlöhne gemeinsam geschaffen.
({4})
Das scheint mir keine Schuldfrage zu sein, sondern
eine Frage der Entwicklung in diesem Land. In Westdeutschland sind nur noch 52 Prozent und in Ostdeutschland nur noch 33 Prozent der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt.
({5})
Was ist das für eine bittere Zahl? Das ist ein Rückgang
um 14 Prozentpunkte in den letzten zehn Jahren. Der
Sockelabbau in Westdeutschland ist immer noch nicht
gestoppt. Deswegen brauchen wir flächendeckende Mindestlöhne in diesem Land.
({6})
Ich weise darauf hin, dass es auch keine - man könnte
ja sagen, man hätte das durch Haustarifverträge auffangen können - Zunahme von Haustarifverträgen gibt. Das
wäre ja noch eine Möglichkeit, aber auch das ist nicht
der Fall. Deswegen, glaube ich, ist es wichtig, dass wir
da, wo es besonders dringend ist, zum Beispiel in der
Zeitarbeitsbranche, den Unterbietungswettbewerb bei
den Löhnen stoppen. Keine Branche erfüllt die Kriterien
unserer Gesetze so einwandfrei wie die Zeitarbeitsbranche.
({7})
Deswegen gibt es überhaupt keinen Grund, warum diese
Branche nicht einbezogen werden sollte.
Ich bin an dieser Stelle so frei und zitiere jetzt die
Vollversammlung des Katholikenrates aus meinem Bistum Trier.
({8})
Der Katholikenrat des Bistums Trier schreibt:
Es gilt zu verhindern, dass Lohndumping zum dominierenden Geschäftsmodell wird und die Skrupellosen die Sozialstandards in unserem Land bestimmen.
Das ist genau das, worum es in dieser Frage geht.
Wir haben die Beschäftigungsschwelle in den letzten
Jahren gesenkt; das ist auch gut so. Das wird in den
nächsten Jahren, in denen es wahrscheinlich eine wirtschaftliche Stagnation, wenn es nichts Schlimmeres geben wird, wichtig sein. Ich stehe dazu, dass wir die Beschäftigungsschwelle gesenkt haben. Wir haben aber
niemals das Ziel von Armutslöhnen verfolgt. Im Gegenteil, zu Zeiten von Rot-Grün haben wir Armutslöhne immer bekämpft. Das sage ich, damit auch das hier ein für
allemal klargestellt ist.
({9})
Eine weitere Branche, die für uns wichtig ist, ist der
Pflegebereich. Ich freue mich, dass Herr Neher, der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, eine angemessene Bezahlung im Pflegebereich im letzten Monat ausdrücklich begrüßt hat. In dieser Frage brauchen wir die
Kirchen, um das Kriterium der 50-prozentigen Tarifbindung zu erfüllen. Im Pflegebereich besteht Regulierungsbedarf; das stellen mittlerweile alle fest. Daher appelliere ich an die Beteiligten: Jetzt müssen sich alle
aufeinander zubewegen - auch Verdi und die Kirchen -,
damit wir eine Lösung für die 600 000 Menschen im
Pflegebereich finden.
In Richtung FDP möchte ich sagen: Wettbewerb ist
immer gut. Aber Wettbewerb auf Kosten der Pflegebedürftigen darf es in diesem Land nicht geben. Deswegen
ist es dringend erforderlich, dass wir für den Pflegebereich einen Mindestlohn organisieren.
({10})
Ich komme zum Schluss. Ab dem Jahr 2011 wird die
volle Freizügigkeit gelten; das ist nicht mit FKK zu verwechseln,
({11})
sondern dabei handelt es sich um einen europäischen
Binnenmarkt für Arbeitskräfte. Als ich neulich beim
Zentralverband des Deutschen Handwerks war, habe ich
erstaunlicherweise festgestellt, dass sehr wohl viele
Handwerker und Handwerksbetriebe Mindestlöhne befürworten, und zwar deshalb, weil dadurch Wettbewerbsverzerrungen verhindert werden können. Beim
Mindestlohn geht es nämlich auch darum, die Mittelständler zu schützen, auch im Hinblick auf den ab 2011
geltenden europäischen Arbeitsmarkt.
({12})
Die Anträge liegen auf dem Tisch, und die Argumente
sind bekannt. Nun geht es nur noch darum, zu prüfen, ob
die erforderlichen Kriterien erfüllt werden oder nicht.
Jetzt müssen sich diejenigen, die wir dazu aufgefordert
haben, Anträge zu stellen, auch darauf verlassen können,
dass wir die Kriterien sauber prüfen und den Anträgen
dann, wenn die Kriterien erfüllt sind, auch zustimmen.
Im Übrigen brauchen wir einen flächendeckenden Mindestlohn.
Vielen Dank.
({13})
Nun hat der Kollege Dirk Niebel das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die Diskussion über die beiden
Mindestlohngesetze, die die Bundesregierung heute vorlegt, zeigt, was im nächsten Jahr auf die Menschen in
diesem Land zukommen wird.
({0})
Es kommt zu einem ideologischen Schlagabtausch mit
einem Wettbewerb darum, wer am meisten zu bieten hat.
All denen, die den Linken auf den Leim gehen, sage ich:
Sie können gar nicht so schnell rennen, wie die schon
unterwegs sind. Egal was die vorschlagen, Sie werden
mit Ihren Vorschlägen immer darunter bleiben. Deswegen sollten wir wieder ein bisschen wirtschaftspolitische
Vernunft in diese Diskussion einbringen.
({1})
Auch wenn Frau Nahles sagt, der geringe Organisationsgrad im Osten gebiete zur Stärkung der Tarifautonomie Mindestlöhne,
({2})
bleibt es ein Fakt, dass man mit Mindestlöhnen keinen
Menschen motiviert, in eine Gewerkschaft einzutreten.
({3})
Denn warum sollte man sich noch von einer Gewerkschaft vertreten lassen, wenn es schon der Staat macht?
Auf der anderen Seite - das kennzeichne ich gerne als
Werbeblock -: Wer sich die Rede der Kollegin Pothmer
angehört hat, hat festgestellt, dass die Stimme der Bürgerinnen und Bürger bei der FDP offenkundig am besten
angelegt ist. All das, was wir hier durchgesetzt oder verhindert haben, obwohl wir schon seit zehn Jahren gar
nicht mehr regieren, zeigt, dass wir wirklich eine sehr effiziente Politik machen.
({4})
Was Sie uns dargeboten haben, ist realitätsfern.
Es bleibt dabei: Mindestlöhne sind maximaler Unsinn. Wenn sie zu niedrig sind, wirken sie nicht. Wenn
sie zu hoch sind, vernichten sie Arbeitsplätze in der legalen Wirtschaft im Inland, gerade solche für Geringqualifizierte oder diejenigen Menschen, denen wir am
ehesten eine Chance geben sollten, in Arbeit zu kommen.
({5})
Ich kann Ihnen das auch begründen, liebe Kollegin
Pothmer. Ich weiß ja, dass man, wenn man bei den Grünen ist, jetzt mächtig nach links rücken muss. An den
Wahlergebnissen Ihres Fraktionsvorsitzenden in BadenWürttemberg wird deutlich, dass man bei den Grünen
nur noch als Linker wieder aufgestellt wird.
Fakt ist, dass ein Arbeitgeber, egal wie sozial er eingestellt ist, einem Arbeitnehmer nicht mehr Geld zahlen
kann, als dieser erwirtschaftet. Das ist vielleicht über einen begrenzten Zeitraum möglich. Wenn der Arbeitgeber dies aber zu lange macht, gefährdet er dadurch alle
anderen Arbeitsplätze in seinem Betrieb. Das ist unsozial.
({6})
Eine ideologisierte Diskussion bringt uns an dieser Stelle
nicht weiter.
Jeder in diesem Haus, wahrscheinlich auch jeder
Fernsehzuschauer und jeder Besucher auf der Tribüne
würde doch emotional den Satz unterstützen: Wer arbeitet, soll von seinem Lohn leben können. Das ist doch
nicht der Punkt. Der Punkt ist doch, dass jeder Mensch
eine bestimmte Produktivität hat. Es gibt allerdings
Menschen - das sind gar keine schlechten Menschen,
sondern welche, um die wir uns kümmern müssen -, die
mit ihrer Produktivität nicht die Wirtschaftsleistung erzielen können, die wir für ein menschenwürdiges und
selbstbestimmtes Leben als ausreichend ansehen. Deswegen haben wir das Arbeitslosengeld II als Ergänzung.
Das ist faktisch der Mindestlohn in Deutschland.
({7})
- Sie können sehr gerne eine Zwischenfrage stellen.
Es wird darüber lamentiert, dass es in Deutschland
Aufstocker gibt. Hier müssen wir mehr Seriosität in die
Diskussion bringen. Wenn jemand Vollzeit arbeitet und
zusätzlich Arbeitslosengeld II benötigt, dann wird das
von Ihnen beklagt, weil er nicht von seinem eigenen
Lohn leben kann. Fakt ist allerdings, dass die Hälfte der
vollzeitbeschäftigten Aufstocker einen Stundenlohn von
9 Euro und mehr hat und dass insgesamt zwei Drittel der
Aufstocker einen Stundenlohn von über 7,50 Euro haben; das stellt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung fest.
({8})
Höchstens 15 000 vollzeitbeschäftigte alleinstehende Menschen haben einen zu geringen Stundenlohn und müssen
deshalb aufstocken.
Jetzt lassen Sie uns einmal ehrlich sein. Es geht doch
gar nicht um Mindestlöhne. Was nützt einem ein hoher
Bruttomindestlohn, wenn netto zu wenig übrig bleibt? Es geht um den Nettolohn. Diese Nettofrage müssen wir
beantworten,
({9})
und gerade jetzt müssen wir den Menschen und Betrieben mehr vom selbst verdienten Geld übrig lassen. Gerade jetzt dürfen wir nicht den Fehler begehen, vor dem
Hintergrund der Finanzkrise plötzliche alle Schleusen zu
öffnen. Jetzt müssen die Bürger entlastet werden. Jetzt
brauchen wir eine Diskussion über Mindesteinkünfte,
nicht aber über Mindestlöhne.
({10})
Die Liberalen haben hierfür einen Vorschlag gemacht.
Wir nennen das unser liberales bedarfsorientiertes Bürgergeld. Es ist eine Verbindung des Steuersystems mit
dem Transfersystem, bei der die steuerfinanzierten Transferleistungen, die es heute ohnehin schon gibt - diese
werden von 136 verschiedenen Leistungen gespeist und
von über 40 Behörden verwaltet werden -, mit dem
Steuersystem kombiniert werden.
Ich sage ausdrücklich, dass es ein bedarfsorientiertes
Bürgergeld ist. Es soll kein bedingungsloses Grundeinkommen sein. Bedingungslosigkeit ist leistungsfeindlich. Bedingungslosigkeit bedeutet nämlich, dass der
Lotto-Millionär genauso von den Steuergeldern der Fleischereifachverkäuferin profitieren könnte wie derjenige,
der hartnäckig Arbeit verweigert. Deswegen wollen wir
eine Bedarfsorientierung beim Bürgergeld.
In diesem Punkt hat sich der abgewählte Kanzler, der
Gasmann aus Hannover, einmal geirrt. Er hat hier einmal
gesagt, es gebe kein Recht auf Faulheit. Das stimmt na19438
türlich nicht. In einer freien Gesellschaft gibt es ausdrücklich auch ein Recht auf Faulheit.
({11})
Es gibt allerdings nicht den Anspruch darauf, dass die
Allgemeinheit die Faulheit finanzieren muss. Und das
spricht für die Bedarfsorientierung und gegen die Bedingungslosigkeit.
({12})
Wir brauchen ein Mindesteinkommen, das in einem
kombinierten Steuer- und Transfersystem das soziokulturelle Existenzminimum gewährleistet, Anreize schafft,
eine Arbeit auch dann, wenn sie gering entlohnt ist, aufzunehmen, und die Chance eröffnet, durch eigene Leistung in diesem System aus der Transferleistung herauszukommen und in die Steuerpflicht hineinzuwachsen
und sich den größten Teil seines Lebensunterhaltes
durch eigene Arbeit zu finanzieren.
({13})
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, sage ich
mit vollem Selbstbewusstsein: Die Freie Demokratische
Partei ist die Partei der sozialen Verantwortung,
({14})
weil wir dafür sorgen wollen, dass sich die Menschen
mit ihrer eigenen Hände Arbeit zumindest teilweise
selbst finanzieren können. Deswegen brauchen wir dieses Bürgergeld als kombiniertes Steuer- und Transfersystem, wie wir es vorschlagen.
Vielen herzlichen Dank.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da es eine eigendynamische Entwicklung von Zwischenfragen und Kurzinterventionsmeldungen gibt, möchte in aller Ruhe auf
Folgendes aufmerksam machen: Wir haben zu Beginn
dieser Debatte 90 Minuten Redezeit vereinbart; diese
sind jetzt fast vorbei. Mir liegen jetzt noch angemeldete
vereinbarte Redezeiten von fast einer halben Stunde vor.
Wir können natürlich so verfahren, dass wir gewissermaßen die selbst getroffenen Vereinbarungen zur Redezeit schon beim ersten Tagesordnungspunkt atomisieren.
Dann dürfen wir uns jedoch nicht darüber beklagen, dass
wir am Ende nicht in der Lage sind, eine Tagesordnung
abzuwickeln, die wir miteinander vereinbart haben.
({0})
Deswegen werde ich jetzt restriktiv mit der Zulassung
solcher Zwischenfragen und Kurzinterventionen umgehen, die mir nicht in jedem Fall zwingend erforderlich
erscheinen.
({1})
Nun hat der Kollege Max Straubinger für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Dass gesetzliche Rahmenbedingungen notwendig sind,
zeigen die bevorstehenden Beschlüsse dieser Woche,
und hier pflichte ich ausdrücklich bei, dass diese für
viele Bereiche in unserem Leben, in unserer Gesellschaft
und sicherlich auch für einzelne Bereiche unseres Arbeitsmarktes notwendig sind.
Ich möchte mit dem beginnen, was der Kollege
Brauksiepe bereits dargestellt hat: Den Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, den Schutz der Arbeitsplätze in unserem Land und den Schutz eines guten
und ausreichenden Einkommens für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erreicht man dadurch, eine gute
Wirtschaftspolitik zu betreiben, wie das die Bundesregierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundeswirtschaftsminister Michael Glos auch getan haben,
indem sie die Grundlagen dafür gelegt haben, dass jetzt
2 Millionen Arbeitslose weniger als vor drei Jahren, zu
Beginn der Arbeit dieser Bundesregierung, zu verzeichnen sind. Dies ist meines Erachtens etwas Entscheidendes, das immer wieder darzustellen ist.
({0})
In der Vergangenheit und auch in der heutigen Diskussion ist in manchen Redebeiträgen angeklungen, dass
niedrige Löhne Armut bedeuten und dass Armut bekämpft werden muss, worin wir alle übereinstimmen. Ich
sage aber auch ganz deutlich: Die Lohnpolitik kann die
Sozialpolitik nicht ersetzen; denn die Lohnpolitik - hier
stimme ich durchaus mit dem Kollegen Niebel überein muss sich an der Produktivität in unserem Land orientieren.
({1})
Dies ist sicherlich eine Grundlage dafür, dass es vernünftige Löhne gibt. Diese wird es nur mit starken Tarifpartnern geben. Es gilt, diese in unserem Land zu stärken. Damit es in Deutschland eine gute Lohnfindung für
unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben
kann, sind die Gewerkschaften genauso wie die Tarifpartner der Arbeitgeber zu stärken.
({2})
Deshalb sagen wir Ja zu gesetzlichen Rahmenbedingungen, zu den Möglichkeiten nach dem ArbeitnehmerEntsendegesetz und zu den Möglichkeiten nach dem Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen. In der Vergangenheit haben viele Parteien hier gesagt, dies mitregeln zu wollen. Das gilt nicht nur für die
CDU als soziale Partei, für die CSU als soziale Partei
und für die SPD, sondern genauso hat auch die FDP
({3})
hier in der Vergangenheit ihren Beitrag geleistet. Der
Kollege Brauksiepe hat das bereits dargestellt: Auch der
ehemalige Staatssekretär Heinrich Kolb hat hier seinen
Beitrag geleistet.
({4})
Das gilt es jetzt fortzusetzen, und zwar mit diesen beiden Gesetzentwürfen, die heute vorgestellt worden sind.
Ich möchte ausdrücklich festhalten: Durch sie muss und
wird eine Stärkung der Tarifautonomie bewirkt werden.
Die Tarifpartner sind aufgefordert, besonders darauf zu
achten, auch zukünftig gute und vernünftige Tarifabschlüsse im Sinne der Beschäftigung und der Beschäftigten zu erreichen.
Deshalb wenden wir uns dezidiert gegen gesetzliche
Mindestlöhne, die von einem Gesetzgeber verordnet
werden, der weit von der Tariflandschaft entfernt ist.
Kollege Brauksiepe hat das ja dargestellt: Im Westen
gibt es eine andere Situation als im Osten, der an die östlichen Länder in Europa grenzt. Darum gibt es auch eine
sehr differenzierte Tariflandschaft, in die kein hoher gesetzlicher Mindestlohn passt, sondern es muss differenzierte Möglichkeiten geben.
Ich glaube, mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz
gibt es die beste Möglichkeit, dies auf Branchen abzustellen und die einzelnen Erfordernisse in diesen Branchen aufzunehmen, um sicherlich auch gesetzliche Unterregelungen zu treffen, wobei aber auch festzustellen
ist: Es gibt Branchen, für die wir gesetzliche Unterregelungen und Mindestregelungen getroffen haben. Dadurch wird aber noch lange nicht garantiert, dass damit
auch die Arbeitsplätze erhalten werden. In der Bauindustrie hat sich die Anzahl der Arbeitsplätze halbiert, obwohl es eine Entsenderegelung gibt. Das muss man einfach sehen.
({5})
Ich möchte nur darauf hinweisen, dass eine sogenannte Mindestregelung nicht unbedingt auch eine
Schutzfunktion beinhaltet. Da die Rednerinnen und Redner heute vielfältig dargelegt haben, dass es in vielen europäischen Ländern einen gesetzlichen Mindestlohn
gibt, möchte ich fragen, welche Auswirkungen solche
gesetzlichen Mindestlöhne haben. Frankreich wurde
heute häufig angeführt. Man muss einfach feststellen,
dass in Frankreich eine weit höhere Arbeitslosigkeit als
in Deutschland zu verzeichnen ist.
({6})
In Frankreich ist vor allen Dingen eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit zu verzeichnen.
({7})
Auch das zeigt sehr deutlich, dass hohe Mindestlöhne
ein Eintrittshemmnis ins Erwerbsleben bedeuten können. Ich bin überzeugt, dass dies letztlich eine Tatsache
ist. Es kann doch nicht so weit gehen, dass zwar wie mittlerweile in Frankreich ein hoher gesetzlicher Mindestlohn garantiert ist, aber kleine und mittlere Betriebe vom
Staat bei der Zahlung der Mindestlöhne unterstützt werden müssen, um Beschäftigung zu sichern. Ich glaube,
das wäre eine weitere Fehlleistung in der Festsetzung
von gesetzlichen Rahmenbedingungen. Deshalb werden
wir die beiden Gesetzentwürfe in den kommenden Wochen und Monaten sehr intensiv diskutieren und herausfinden, welche Branchen mit aufgenommen werden
müssen. Hier gibt es keinen Automatismus. Wir werden
sicherlich gute und vernünftige Lösungen dafür finden.
Ich fordere alle auf und bitte Sie, sich an der Diskussion zu beteiligen. Es geht darum, den Menschen eine
gute Grundlage für sichere Arbeitsverhältnisse in unserem Land zu schaffen. Damit dürfen aber wirtschaftliche
Möglichkeiten nicht abgewürgt werden. Die Wirtschaft
muss weiter einen Aufschwung erleben, damit die Arbeitsplätze gesichert werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Die Kollegin Kramme ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir setzen heute Grundpfeiler für Mindestlöhne
in Deutschland. Wir können auf der Aufgabenliste, die
wir als Koalition vereinbart haben, einen weiteren Haken machen. Es ist ein sozialer Fortschritt für den Arbeitsmarkt, und es ist ein Erfolg für die Koalition, vor allen Dingen für den sozialdemokratischen Teil dieser
Großen Koalition.
({0})
Vor einigen Tagen hat mir ein kleines Mädchen ihr
Freundschaftsbuch gereicht. Beim Durchblättern bin ich
auf den Eintrag ihres Lehrers gestoßen. Darin stand ein
Satz, den ich schön fand: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“ Diese Weisheit erinnert ein
wenig an die Verfahrensabläufe beim Arbeitnehmer-Entsendegesetz und beim Mindestarbeitsbedingungengesetz.
Beide Gesetze wurden schon vor einiger Zeit auf den
Weg gebracht: Das eine Pflänzchen wurde in den 50erJahren, das andere in den 90er-Jahren gesetzt. Das eine
kümmerte ein wenig vor sich hin; das andere wuchs unter der sozialdemokratischen Regierung recht ordentlich.
Bundesarbeitsminister Olaf Scholz hat die Pflänzchen
nun eifrig gegossen, um ihnen zu einem besseren Gedeihen zu verhelfen.
({1})
Die Opposition hat Anträge gestellt. Sie hat sozusagen an den Halmen gezogen, und trotzdem erfolgte das
Wachstum nicht schneller. Die Arbeitgeberverbände und
die Union, insbesondere Bundesminister Glos, trampelten auf der Wiese und versuchten, den Rasen möglichst
kurz zu mähen.
({2})
Die klimatischen und politischen Bedingungen waren
nicht ganz einfach. Aber nun - kurz nach dem Erntedankfest - sehen wir einige Fortschritte: Der Rasen sieht
sehr ordentlich aus. Von blühenden Landschaften zu
sprechen, ist vielleicht ein wenig vorschnell, aber es
bleibt festzuhalten: Unser Rasen steht in saftigem, fettem Grün.
({3})
Es ist auch höchste Zeit, dass wir etwas tun. Millionen von Arbeitnehmern erhalten Armutslöhne. 6 Prozent der Erwerbstätigen sind arm. 370 000 Vollzeitarbeitnehmer beziehen zusätzlich zum Lohn Leistungen
nach dem SGB II.
Niemand kann vor diesen Fakten seine Augen verschließen. Niemand - auch Sie nicht, Herr Kolb - kann
behaupten, dass kein Handlungsbedarf besteht. Niemand
kann gegen eine Ordnung des Niedriglohnsektors sein.
Eine solche Ignoranz, Herr Kolb, wäre einfach nur zynisch.
({4})
Selbst in Zeiten des Aufschwungs ist der Niedriglohnsektor nicht wesentlich kleiner geworden. Wir haben es nun mit einer sich ausweitenden Finanzmarktkrise zu tun. Möglicherweise droht eine Rezession. Wir
als Politiker haben die Verantwortung, dagegen Vorsorge
zu treffen. Dazu gehören auch Mindestlöhne. Ist es nicht
sehr schön, eine große Mehrheit der Bevölkerung hinter
sich zu wissen? 80 Prozent der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland wollen Mindestlöhne.
({5})
Sie wollen keine ideologische Blockadehaltung, wie sie
hier manchmal zu sehen ist.
Die Grundsätze des Mindestarbeitsbedingungengesetzes und des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes sind bekannt. Weniger als 50 Prozent Tarifbindung bedeutet
Mindestarbeitsbedingungengesetz. Mehr als 50 Prozent
Tarifbindung bedeutet Arbeitnehmer-Entsendegesetz.
Wir nehmen keine politische Lohnfestsetzung vor. Ich
finde, das gehört sich aus Respekt vor den Gewerkschaften und der Wirtschaft so. Nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz wird der Hauptausschuss mit Gewerkschaftern und Vertretern der Wirtschaft besetzt. Gleiches
gilt für den kleineren Ausschuss, der die Höhe der Mindestlöhne festsetzt. Nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz gilt Ähnliches. Gewerkschafter und Arbeitgeber
beantragen die Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines zuvor gemeinsam abgeschlossenen Tarifvertrages.
Mindestlöhne liegen auch im Interesse der Arbeitgeber,
nämlich solcher, die anständige Löhne zahlen wollen
({6})
und die Sorge wegen der Dumpingkonkurrenz haben,
die ihnen gegenübertritt. Wirtschaftlicher Erfolg in der
Bundesrepublik Deutschland darf nicht auf Ausbeutung
von Menschen beruhen.
Beide Gesetze sind geeignete Instrumente gegen
Armutslöhne. Wir müssen nun die Klaviatur spielen,
müssen die Instrumente nutzen. Das bedeutet, dass wir
drei Dinge vorzunehmen haben. Erstens. Wir müssen die
vorliegenden Gesetzentwürfe verabschieden. Zweitens.
Wir müssen schnellstmöglich die Ausschüsse nach dem
Mindestarbeitsbedingungengesetz einsetzen. Drittens.
Alle Branchen, die Anträge gestellt haben, müssen - vor
allen Dingen das ist relevant - in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen werden.
Herr Brauksiepe, Sie haben gesagt, ein Mindestlohn
sei bei der Zeitarbeit wegen der hohen Tarifbindung
nicht erforderlich. Dazu kann ich nur sagen: Das
stimmte vielleicht, wenn vermeintliche Gewerkschaften
gewerkschaftlichen Aufgaben nachkämen, wenn es in
diesen Gewerkschaften Arbeitnehmer gäbe, die für ihre
Interessen auch streikten. Wenn sie aber lediglich Erfüllungsgehilfen der Arbeitgeber sind, dann macht man den
Bock zum Gärtner.
In diesem Sinne ganz herzlichen Dank.
({7})
Das Wort erhält der Kollege Paul Lehrieder, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Politik beginnt mit der Betrachtung der Realität. Ich
möchte noch ein Sprichwort voranstellen: Halbwahrheiten sind oft schlimmer als Lügen. Wir haben in der Diskussion sehr viel von Mindestlöhnen - diese gibt es bereits in Deutschland - gehört. Herr Dreibus, Sie haben
moniert, dass die Lohnhöhe nicht gesetzlich geregelt ist,
und haben mehrfach - völlig zu Recht - auf den französischen Mindestlohn in Höhe von 8,71 Euro hingewiesen. Der Kollege Niebel hat gesagt, jeder solle von seinem Lohn leben können. Wir sollten das Ganze näher
betrachten. Gerade für die Zuschauerinnen und Zuschauer auf der Tribüne und an den Fernsehgeräten bedarf es der Klarstellung. Wir müssen definieren, wer
mit „jeder“ gemeint ist. Haben Sie damit den alleinstehenden, vollbeschäftigten Single gemeint? Dann haben
Sie recht. Diesem können Sie mit 8,71 Euro - ich gehe
noch etwas weiter und verweise auf den luxemburgischen Mindestlohn in Höhe von 9,30 Euro - eine Existenzsicherung verschaffen. Es geht aber auch um den Familienvater, dessen Frau wegen der Erziehung der
minderjährigen Kinder - das gibt es noch in Deutschland zu Hause bleibt. Dieser würde mit dem französischen
Mindestlohn in Höhe von 8,71 Euro und erst recht mit
dem luxemburgischen Mindestlohn in Höhe von
9,30 Euro in Deutschland besser fahren. Er bekäme in
Deutschland zu den 9,30 Euro als Aufstocker noch etwa
3 Euro hinzu. Das heißt, wenn wir über die Höhe des
Mindestlohns diskutieren - egal ob es um 8,71 Euro,
9,30 Euro oder sogar um 9,50 Euro geht -, dann geht es
immer nur um den alleinstehenden Singlehaushalt.
Frau Pothmer, Sie haben ausgeführt, durch unsere restriktive Haltung gegenüber dem Mindestlohn würden
wir Geringverdienern den Schutz verweigern. Sie haben zur Höhe des Mindestlohns wohlweislich nichts gesagt. Sie haben die Problematik offensichtlich erkannt.
Wir sagen dazu: Die Geringverdiener sind - so glaube
ich - in keinem europäischen Land, egal ob dort ein
Mindestlohn existiert oder nicht - im Übrigen liegen die
Mindestlöhne zum Teil bei 1 Euro oder wie im Falle von
Rumänien sogar bei unter 1 Euro -, besser geschützt als
in Deutschland, und zwar durch die Sozialgesetzgebung,
durch SGB II und die Regelung über die Aufstocker.
({0})
- Da kann man gerne einmal klatschen. - Diese Große
Koalition hat das SGB II weiterentwickelt. Wir haben
den Kinderzuschlag entfristet. Wir haben hier in diesem
Hohen Hause vor wenigen Wochen eine weitere Sicherungsschranke eingezogen, damit Familien mit Kindern
nicht in SGB-II-Bezug geraten. Das gehört zur politischen Ehrlichkeit. Dann können wir gemeinsam miteinander diskutieren. Der Mindestlohn muss sich per definitionem auf Alleinstehende, auf vollbeschäftigte Singles
beziehen.
Die Arbeitswelt hat sich in den letzten Jahren tiefgreifend gewandelt. Das ist uns allen bewusst. Jeder Wandel
bringt aber auch Verwerfungen mit sich. Auch die Tarifvertragsparteien sind von den Verwerfungen der letzten Jahre nicht verschont geblieben. Die Vorredner haben bereits darauf hingewiesen. Immer mehr
Arbeitgeber kehren den Arbeitgeberverbänden den
Rücken, in den Gewerkschaften organisieren sich immer
weniger Arbeitnehmer. Herr Arbeitsminister Scholz hat
diese Entwicklung in seiner Eingangsrede zu Recht moniert. In manchen Branchen sind deshalb die Tarifvertragsparteien längst nicht mehr repräsentativ für alle Beschäftigten. Diese Situation haben leider einzelne
Arbeitgeber teilweise zu Lohndumping ausgenutzt. Das
müssen wir feststellen.
Die Große Koalition tut nun etwas dagegen. Anstelle
der von unserem Koalitionspartner geforderten Einführung von flächendeckenden gesetzlichen Mindestlöhnen
halten wir den Weg, über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und das Mindestarbeitsbedingungengesetz bei Verwerfungen in einzelnen Branchen Lohnuntergrenzen
einzuziehen, die mit den Tarifvertragsparteien abzustimmen sind, für den richtigen Weg. Die Mittel liegen in
Gestalt des Mindestarbeitsbedingungengesetzes und des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes heute zur ersten Lesung
vor. Bereits im Koalitionsvertrag von Union und SPD
findet sich das Ziel, entschieden gegen Billiglohnkonkurrenz aus dem Ausland, Dumpinglöhne und ruinöse
Konkurrenz für mittelständische Betriebe vorzugehen.
Wir wollen verhindern, dass unfairer Wettbewerb insbesondere die hier ansässigen kleinen und mittleren Unternehmen und damit eine große Zahl von Arbeitsplätzen
gefährdet. Für die Union haben der Schutz der Tarifautonomie und ein fairer Wettbewerb Vorrang vor staatlicher Lohnfestsetzung. Es ist unser Ziel, mit dem bisherigen Vorgehen in Bezug auf tarifvertragliche
Mindestlohnvereinbarungen die Tarifvertragsparteien zu
stärken. Wir wollen und dürfen sie nicht ersetzen. Wenn
es darum gehen soll, sittenwidrig niedrige Löhne für die
Zukunft unmöglich zu machen, muss die Politik gemeinsam - ich betone: gemeinsam - mit den Tarifpartnern einen Teil der Verantwortung tragen. Dies muss aber schonend und vor allem in solchen Branchen geschehen, in
denen nachweislich soziale Verwerfungen drohen.
({1})
Allerdings haben wir in der Baubranche sehen können, dass das Entsendegesetz und tarifliche Mindestlöhne keine Allheilmittel gegen Arbeitsplatzabbau und
rechtswidrige Dumpinglöhne sein können. Hier zeigt
sich deutlich, wie in den letzten Tagen auch in anderen
Wirtschaftsbereichen, dass wir nicht alles dem freien
Markt überlassen können. Politik kann über Gesetze
Kontroll-, Evaluations- und Sanktionsmöglichkeiten eröffnen und so für Rechtssicherheit sorgen.
Das Mindestarbeitsbedingungengesetz schiebt Versuchen einen Riegel vor, Arbeitnehmer zum Verzicht auf
ein festgesetztes Mindestarbeitsentgelt zu drängen. Ein
solches Vorgehen ist grundsätzlich nur im Rahmen eines
gerichtlichen Vergleichs zulässig. Es ist ausgeschlossen,
dass ein Beschäftigter seinen Anspruch auf das Mindestarbeitsentgelt verwirkt. Die beiden uns hier vorliegenden
Gesetzentwürfe sind im Kampf gegen sittenwidrige
Löhne unverzichtbar. Sie achten die Tarifautonomie - es
ist erstaunlich, dass wir für die Tarifautonomie mehr
kämpfen müssen als manche andere Parteien in diesem
Hohen Hause - und bieten Rechtssicherheit in einer sich
verändernden Arbeitswelt. Das Vorliegen der jeweiligen
Voraussetzungen für die einzelnen Branchen der acht angemeldeten Berufsgruppen wird nunmehr nach der ersten Lesung im Verfahren zu prüfen sein. Die Kolleginnen und Kollegen der Opposition sollten ohne
ideologische Scheuklappen anerkennen, dass es zu den
Vorschlägen der Großen Koalition keine ernstzunehmende Alternative gibt.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({2})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Laurenz Meyer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe mir diese Debatte ganz in Ruhe angehört und einfach einmal auf mich wirken lassen. Ich muss als Erstes
sagen: Ich verstehe überhaupt nicht, warum ein Großteil
der Kollegen hier meint - man begründet dies damit,
dass man sich für Mindestlöhne ausspricht -, unser Land
so schlecht machen zu müssen. Die Debatte hat gezeigt:
In keinem einzigen anderen europäischen Land ist die
soziale Absicherung eines Großteils der Arbeitnehmer,
zumindest aller Familien, besser als in Deutschland.
({0})
Das liegt daran, dass wir das Thema Mindestlohn
nicht isoliert betrachten. Für die Höhe der Mindestlöhne
ist für uns nicht ausschließlich die Höhe des Mindestlohnes von Alleinstehenden ausschlaggebend. Wir haben in
Deutschland Lösungen gefunden, die viel sozialer sind
- das sage ich auch an die Adresse der Linken - als in allen anderen Ländern. Wir haben sogar Lösungen gefunden, die der Situation der Familien Rechnung tragen.
Mancher von denen, die Vollzeit arbeiten, bekommt
leider Gottes immer noch einen Schock - stellen Sie in
Ihren Veranstaltungen einmal entsprechende Fragen -,
wenn er hört, dass er, Familienvater von zwei Kindern,
möglicherweise mehr Einkommen hätte, wenn er nicht
arbeitete. In meiner Heimatstadt kann man monatlich
- ohne die vielen Ranken, die es da gibt - bis zu
1 900 Euro an Sozialleistungen bekommen. Das liegt
weit über den Beträgen, die Sie eben angesprochen haben. Angesichts dessen fragt mich mancher Arbeitnehmer: Warum mache ich das denn eigentlich?
Wir sollten die ganze Debatte hier mit einem Kompliment an all diejenigen verbinden, die jeden Morgen zur
Arbeit gehen, obwohl sie die sozialen Bedingungen in
unserem Land kennen. Eigentlich müsste man ihnen am
Werktor jeden Morgen die Hand geben und sie dafür loben, dass sie so viel Ehre im Leib haben und jeden Morgen pünktlich zur Arbeit erscheinen.
({1})
Das ist das soziale Deutschland, das über 50 Jahre gewachsen ist. Ich lehne es für unsere Fraktion einfach ab,
dass das schlechtgeredet wird, nur um immer wieder
kurzfristig Populismus zu betreiben.
Sie - das muss ich an die Adresse der Kollegin
Kramme sagen - haben von 370 000 Vollzeitbeschäftigten gesprochen. Davon sind ungefähr - nur von denen
reden wir - 50 000 alleinstehend. Den anderen 320 000
würden Sie mit der Umsetzung der Vorschläge, die wir
heute besprechen, nicht helfen.
({2})
Das müssen wir einfach einmal sagen. Die große Mehrheit, auch der Vollzeitbeschäftigten, ist von dem, was
hier debattiert wird, gar nicht betroffen.
({3})
Mehr als die Hälfte der Aufstocker - 1,2 Millionen;
Herr Scholz, Sie verweisen immer wieder auf diese Zahl ist teilzeitbeschäftigt. Diese Menschen haben 400-EuroJobs oder 100- bis 200-Euro-Mini-/Midijobs. Ihnen kann
man auch mit einem noch so hohen Mindestlohn nicht
helfen.
({4})
- Hallo, Entschuldigung! Wollen Sie den Mindestlohn
wirklich so festsetzen, dass man mit zehn Stunden im
Monat aus der Aufstockerposition herauskommt? Nun
fangen Sie hier doch nicht an zu spinnen und durchzudrehen. Das ist nun wirklich nicht der Punkt.
({5})
Ich bin froh, dass wir hier die Frage diskutieren: Was
wollen wir eigentlich? Wir haben zwei Ebenen der Diskussion. Die eine Ebene sind die Gesetzentwürfe als solche; darüber diskutieren wir heute. Die andere Ebene ist
die Ausfüllung der Gesetzentwürfe.
Ich sage zu den Gesetzentwürfen als solchen eines
- das ist auch in der Debatte deutlich geworden -: Mit
uns werden bestehende und zukünftige Tarifverträge
nicht außer Kraft gesetzt. Wir werden bei der Beratung
der Gesetzentwürfe erhebliche Diskussionen zu führen
haben.
({6})
Zum Zweiten - da besteht eine Parallele zu den Diskussionen um unsere Finanzverfassung -: Die soziale
Marktwirtschaft setzt einen Ordnungsrahmen gegen
Egoismen. In dieser Diskussion gibt es eine ganze
Menge verschiedener Egoismen. Wir dürfen da nicht auf
einem Auge blind sein. Es gibt Arbeitgeber, die die Notlage von Arbeitnehmern mit Dumpinglöhnen ausnutzen.
Diese Arbeitnehmer müssen von uns geschützt werden.
({7})
Es gibt darüber hinaus Arbeitgeber - auch das erleben
wir in dieser Situation -, die die derzeitige Diskussion
um das sozialpolitische Instrument Mindestlohn dazu
nutzen, ihre eigene Wettbewerbsposition gegenüber kleineren Wettbewerbern zu verbessern.
({8})
Wir müssen aufpassen, dass wir nicht auf diesem Auge
blind sind.
Aus den Gestzentwürfen, die uns vorliegen, Herr
Scholz, will ich drei Beispiele herausgreifen:
Erstens. Nach meinem persönlichen Eindruck haben
wir es beim Wach- und Sicherheitsgewerbe mit einem
Bereich zu tun, in dem Arbeitgeber derzeit zum Teil die
Notlage von Menschen ausnutzen, um zu Dumpinglöhnen zu kommen. Da werden wir möglicherweise etwas
tun müssen.
Zweitens. Bei der Entsorgung liegt der Fall ganz anders. Da versucht zurzeit gerade der öffentliche Entsorgungsbereich, der ohnehin schon mit MehrwertsteuerLaurenz Meyer ({9})
privileg sowie Anschluss- und Benutzungszwang
gesegnet ist,
({10})
sich auf Kosten der Verbraucher gegen den privaten Entsorgungsbereich durchzusetzen, und das dürfen wir nicht
zulassen. So einfach ist das.
({11})
- Da gab es das Postgesetz. Lasst das raus! Ihr macht es
euch nur schwer, wenn ihr immer darauf verweist. Bleibt
bei den Beispielen hier!
({12})
Da habt ihr genug zu tun. Dabei sehe ich von eurer Verantwortung ab, die eben schon angesprochen worden ist.
Der dritte Bereich, den wir ernsthaft diskutieren müssen, ist der der textilen Dienstleistungen. Hier ist es besonders eklatant. Da führen zehn Große einen Kampf gegen tausend Kleine. Da werde ich zunächst die Frage
stellen müssen: Hat es etwas mit sozialer Absicherung
oder mit Wettbewerb zu tun, wenn hier Leute ihre Wettbewerbsposition beinhart auf Kosten der Kleinen und
damit auf Kosten der Arbeitsplätze verbessern wollen?
Nachdem die Diskussion schon so lange dauert, habe
ich nun Gott sei Dank den Eindruck, dass die populistischen Klamaukattitüden sich langsam, aber sicher - das
haben wir heute morgen erlebt - totlaufen. Frau
Pothmer, auch Ihre Rede hörte sich an wie von vorgestern.
({13})
Herr Kollege Meyer.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Die Frage ist: Was hilft - nur daran dürfen wir es
messen -, soziale Verwerfungen zu beseitigen, was hilft,
die Grundfesten der Tarifautonomie zu stärken, und was
ist umgekehrt schlecht für Arbeitsplätze und damit ausgerechnet für weniger qualifizierte Arbeitnehmer? Eine
kluge Abwägung in dieser Hinsicht wird allen in
Deutschland weiterhelfen, aber nicht populistische Sprüche.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/10486 und 16/10485 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 sowie den
Zusatzpunkt 3 auf:
4 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansKurt Hill, Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Energiekosten sozial ausrichten - Sozialtarife
einführen, wirksame Strompreisaufsicht schaffen, Energiesparen ermöglichen
- Drucksache 16/10510 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Energiesparen für alle - Kosten senken, Klima
schützen
- Drucksache 16/10585 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Auch diese Aussprache soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung 90 Minuten dauern. - Dazu sehe ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Hans-Kurt Hill für die Fraktion
Die Linke.
({3})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
Finanzkrise überdeckt ein wichtiges Thema. Die Energiepreise steigen und steigen. Die Folge ist: Armut per
Steckdose. Das fatale Treiben der Banker wird diese soziale Schieflage weiter verschärfen, und es kostet bereits
Arbeitsplätze. Deshalb fordert die Linke: Energie muss
bezahlbar sein und auch bleiben.
({0})
Das bedeutet: Nur Sozialtarife, also die Halbierung
der herkömmlichen Tarife, können Männern, Frauen und
Kindern in armen Haushalten sofort helfen. Wir müssen
den Energiekonzernen auf die Finger schauen. Dann
werden wir gerechte Preise bekommen. Auch die Bürgerinnen und Bürger mit geringem Einkommen wollen
Energie sparen. Das muss gefördert werden. Wer aber
mehr Einkommen zur Verfügung hat, kann auch mehr
für Energie bezahlen und fürs eigene Energiesparen sorgen.
Die Bilanz der Kanzlerin und ihres bayerischen Bundeswirtschaftsministers können sich wirklich sehen lassen: Seit Antritt dieser Bundesregierung ist Strom um
20 Prozent teurer geworden, und Heizenergie verteuerte
sich sogar um 40 Prozent. So sieht die soziale Gerechtigkeit der Regierungskoalition aus. Das ist auch ein Grund
für das zunehmende Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland; denn gleichzeitig
sind gerade die unteren Einkommen gesunken. Es ist geradezu zynisch, wenn der Berliner SPD-Senator Sarrazin
die Empfehlung ausspricht, sich warm anzuziehen. Die
Rentnerinnen und Rentner werden mit einer Rentenerhöhung von 1,1 Prozent abgespeist, und dann wundern Sie
sich, werte Kolleginnen und Kollegen, wenn es in einem
Land, das seine Wirtschaftskraft rühmt und einen Spitzenplatz in der Welt einnehmen will, mittlerweile über
800 000 Stromsperrungen gibt. Das ist mit nichts zu
rechtfertigen.
Energie ist lebensnotwendig wie der Zugang zu sauberem Trinkwasser. Sie lassen es zu, dass es in Deutschland ein neues Phänomen gibt: Energiearmut. Wenn
man im Land unterwegs ist, bemerkt man, dass sich immer mehr Menschen in Deutschland keinen angemessenen Zugang zu Energie mehr leisten können. Währenddessen lachen sich die Energiekonzerne ins Fäustchen
und stopfen sich ungehindert die Taschen voll. Was
macht die Energiekanzlerin der Merkel-Regierung? Als
Freundin der Strombosse verhindert sie eine europaweite
und wirksame Kontrolle der Energiekartelle. Die Linke
sagt hierzu: So nicht, Frau Merkel!
({1})
Jetzt schreien Sie von CDU/CSU und SPD wahrscheinlich, man habe die Netzgebühren gesenkt und das
Kartellrecht verschärft, was zu Preissenkungen geführt
habe. Verzeihen Sie, die Realität ist eine andere; die
Leute fühlen sich von Ihnen veräppelt. Die Strompreise
steigen immer schneller, und Wirtschaftsminister Glos
stochert weiter nur im Nebel herum. Ihre Papiertiger haben auf den Stromrechnungen der Verbraucherinnen und
Verbraucher keine Spuren hinterlassen, meine Damen
und Herren von der Regierung.
Die Linke hat natürlich die Sorgen der Verbraucherinnen und Verbraucher im Auge. Deshalb schlagen wir
dem Bundestag vor, im Strombereich mit wirksamen
Maßnahmen zu beginnen. Es sind fünf Punkte:
Erstens brauchen wir gezielte Energieberatung, um
die machbaren Sparpotenziale auszuschöpfen.
Zweitens brauchen wir Sozialtarife, die deutlich unter
den Normalkosten liegen. Damit bleiben bei den Bürgerinnen und Bürgern, die nicht so viel Einkommen haben,
das Licht an und die Heizung warm.
Drittens brauchen wir eine kostenfreie Sockelversorgung, die Haushalte mit geringem und durchschnittlichem Energieverbrauch entlastet.
({2})
Viertens brauchen wir eine wirksame Strompreisaufsicht durch die Länder, um die Preise überprüfbar zu machen.
Fünftens brauchen wir die Abschöpfung der überhöhten Profite bei den Energiekonzernen. Damit finanzieren
wir langfristige Maßnahmen für Energieeffizienz, Energieeinsparung und die Zuschüsse für energiesparende
Geräte.
Die Linke will, dass sich alle Menschen Energie leisten können. Niemand soll im Dunkeln oder im Kalten
sitzen, meine Damen und Herren.
({3})
Aus den anderen Fraktionen habe ich von einigen, zumeist halbherzigen Vorschlägen gehört. Klar ist: Wer
glaubt, man könne Menschen mit kleinem Geldbeutel
helfen, indem man ihnen ausschließlich Energiesparen
verordnet, der kann wirklich gleich Wollpullover verteilen. Ist Ihnen eigentlich klar, was es bedeutet, mit
351 Euro Hartz IV im Monat auskommen zu müssen?
Auch die Grünen frage ich: Wie wollen Sie Menschen
helfen, die schon alles gemacht haben, um Strom zu sparen, und trotzdem ihre Stromrechnung nicht bezahlen
können? Sie, die Hartz IV mitbeschlossen haben, sollten
aufhören, die Menschen zu schikanieren, die Sie selbst
mit arm gemacht haben.
({4})
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Ihre Idee einer verbilligten Sockelversorgung ist gut. Sie greift bei
armen Haushalten aber zu kurz und muss mit Sozialtarifen gekoppelt werden. Nur gemeinsam wird ein Schuh
daraus.
Sozialtarife helfen Menschen, die aufgrund der Energieteuerung in Not geraten sind. Die Sockelversorgung
hilft auch Familien mit unteren und mittleren Einkommen oberhalb von Transferleistungen. Ein Sockelbetrag,
der von allen solidarisch getragen wird und hohen Verbrauch verteuert, ist richtig und findet unsere Zustimmung. Es handelt sich dabei aber um eine rein ökologische Maßnahme. Sie erfassen die soziale Situation der
betroffenen Menschen nicht. Das ist der Punkt, den Sie
dabei übersehen. Deshalb sind solche Vorschläge ein
Anfang; aber sie sind wirkungslos, wenn die Menschen
ohnehin kein Geld in der Tasche haben. Ich kann nicht
verstehen, werte Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von der SPD, dass Sie dem Parlament bis heute keinen geeigneten Vorschlag vorgelegt haben. Ich bedaure
das sehr.
Die Bundesregierung ist nicht bereit, die Sozialleistungen für die über 7 Millionen Betroffenen - zum Beispiel
Hartz-IV-, Wohngeld-, Sozialhilfe-, BAföG-Empfängerinnen und -Empfänger, Rentnerinnen und Rentner; auch
Asylbewerberinnen und Asylbewerber gehören dazu zu verbessern.
({5})
Die Linke fordert, diese Menschen wenigstens bei der
teuren Energie zu entlasten und beim Kauf Strom sparender Geräte zu unterstützen. Wir fordern - ich glaube,
ein ähnlicher Vorschlag kam vor kurzem auch aus der
SPD - Klimaschecks, mit denen arme Haushalte in die
Lage versetzt werden, sich neue Geräte mit geringem
Verbrauch zu leisten. Bei den Sozialtarifen ist eine echte
und spürbare Entlastung wichtig. Eine Halbierung der
Stromrechnung ist gerechtfertigt; denn die Energiepreise
schlagen sich langfristig in den Preisen aller Produkte
des täglichen Lebens nieder.
Natürlich muss die Inanspruchnahme eines Sozialtarifs an eine Energieberatung gekoppelt sein. So können
machbare Sparpotenziale gehoben werden. Das Ziel ist,
eine Verbrauchssenkung bei allen zu erreichen. Ein
wirksamer Klimaschutz ist Aufgabe für alle, nebenbei
bemerkt: auch für die Industrie.
Noch ein Punkt. Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung den Stromkonzernen auch noch soziale Regelungen im Energiebereich überlässt. Die Folge ist: Eon
und Co legen in ihrem eigenen Interesse willkürliche Regeln fest, meist zeitlich begrenzt oder nur für wenige
Kunden. Darüber hinaus werben sie mit der Not der
Menschen, während sie hinterrücks weiter den Strommarkt manipulieren.
Die Linke sagt: Energie ist öffentliches Gut, und die
Regelung von Sozialtarifen ist Sache des Staates.
({6})
Das Energiewirtschaftsgesetz muss sozial und ökologisch ausgestaltet werden. Den Strombossen sind in ihrem grenzenlosen Schalten und Walten endlich die Daumenschrauben anzulegen. Zuallererst muss deshalb eine
wirksame Strompreisaufsicht eingeführt werden. Es
geht nicht darum, wie von der CDU immer gerne behauptet wird, die Preise staatlich zu verordnen. Vielmehr
müssen die Unternehmen endlich ihre Preisgestaltung
offenlegen, damit diese umfassend überprüft werden
kann, selbstverständlich auch von den Verbraucherinnen
und Verbrauchern.
Ich fasse zusammen. Bezahlbare Energie und Klimaschutz gehen zusammen, wenn die Maßnahmen sozial
ausgewogen sind. Erstens. Nur Sozialtarife im Energiebereich können Energiearmut verhindern. Zweitens.
Energiesparen ist Pflicht für alle. Drittens. Nur wenn das
Stromkartell umfassend kontrolliert wird, sinken die
Preise. Viertens. Wir brauchen ein Konjunkturprogramm
mit einem Energiesparfonds, durch den Bürgerinnen und
Bürger dazu angehalten werden, effizient zu handeln und
sparsam mit Energie umzugehen.
({7})
Davon sollen vor allem die Menschen mit kleinem Geldbeutel profitieren. Wir Linke wollen nicht, dass es bei
diesen Menschen zappenduster wird.
Vielen Dank.
({8})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege
Dr. Joachim Pfeiffer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir debattieren heute über diesen Antrag der
Linken. Herr Hill, Sie stellen sich hier hin und fordern
günstige Stromtarife für alle. Das ist an Populismus
nicht zu überbieten; denn Ihre Forderungen und vorgeschlagenen Maßnahmen würden den Strom nur teurer
machen.
Sie fordern einen beschleunigten Ausstieg aus der
Kernenergie. Sie wollen keine neuen Kohlekraftwerke
mehr bauen. Sie wollen insgesamt aus der Nutzung fossiler Energieträger aussteigen. Vor Ort sind Sie gegen
den Neubau von Leitungen, in denen erneuerbare Energien aus Windkraftanlagen in die Verbrauchszentren
transportiert werden sollen, und, und, und. Die Liste
lässt sich fortsetzen.
({0})
Nach dem Motto „Freibier für alle“ stellen Sie Forderungen in einer Größenordnung von 130 Milliarden bis
140 Milliarden Euro auf; das ist einmal zusammengerechnet worden. Dann stellen Sie fest, dass dies auch finanziert werden muss; denn es fällt ja nicht vom Himmel. Wie soll dies finanziert werden? Über Steuern und
Abgaben, die den Bürger belasten. Schließlich sagen
Sie: Der arme Bürger ist so sehr belastet. Deshalb brauchen wir Sozialtarife.
({1})
Lieber Herr Hill, es ist ziemlich durchsichtig, was Sie
betreiben. Deshalb kann ich Ihnen nur sagen: Anstatt gegen Castor-Transporte zu sein, sollten Sie sich lieber von
der Fidel-Castro-Politik lossagen, die mit populistischen
Forderungen und Sprüchen am Thema vorbei geht, und
sich an einer Politik orientieren, die nicht an Symptomen
kuriert, sondern an den Wurzeln ansetzt.
({2})
Das ist das, was wir in der Union und auch in der Großen
Koalition machen, nämlich an den Wurzeln ansetzen und
nicht an den Symptomen kurieren. Das will ich Ihnen
jetzt darlegen.
Mit dem Integrierten Energie- und Klimapaket
schaffen wir es, bis zum Jahr 2020 20 Prozent des Energieverbrauchs einzusparen. Das heißt, dass wir an erster
Stelle den Königsweg der Energieeffizienz beschreiten.
Das ist die beste Energiepolitik: Die Energie, die nicht
verbraucht wird, ist gut für das Klima. Sie kostet den
Bürger nichts, also spart er Geld. Dies ist letztlich auch
ein Mittelstandsbeschäftigungsprogramm, wenn man
beispielsweise an die CO2-Gebäudesanierungen oder
den verstärkten Einsatz erneuerbarer Energien zur Heizung oder Kühlung im Haus denkt.
Was machen wir im Strombereich ganz konkret? Wir
wollen und werden die staatlichen Belastungen - anders
als Sie es für andere Bereiche vorschlagen - nicht weiter
erhöhen. Die Grenze der Belastung ist hier nämlich erreicht.
({3})
Wir wollen und werden mit den neuen Maßnahmen des
Emissionshandels den Bürger entlasten.
Was haben wir bisher schon erreicht? Stichwort:
Netznutzungsentgelte. Überall steigen die Preise. Wir
haben bei den Netznutzungsentgelten in den vergangenen Jahren sehr viel erreicht - das ist ein Erfolgsmodell;
das muss man sich einmal vergegenwärtigen -: Seit dem
Jahr 2005, als wir die Regulierung eingeführt haben,
sind die Netznutzungsentgelte in der ersten Regulierungsperiode von 2006 auf 2007 - um einmal die Gesamtsumme zu nennen - um 2,5 Milliarden Euro nicht
erhöht, sondern gekürzt worden; ich verweise auf den
kürzlich durch die Bundesnetzagentur vorgelegten Monitoringbericht 2008. Das ergibt für den Bürger weitere
1,6 Milliarden Euro, die ihn nicht mehr belasten. Bei
Netznutzungsentgelten von insgesamt 23 Milliarden
Euro im Jahr 2005 beschreiten wir mit der Anreizregulierung, die im nächsten Jahr beginnt, einen Pfad, auf
dem wir in vier bis fünf Jahren auf 18 Milliarden Euro
kommen - und das in einem Umfeld, in dem die Preise
insgesamt steigen. Dies ist eine Entlastung, die der Bürger auch zu spüren bekommt.
Laut Monitoringbericht - um für den Bürger auch
Konkretes zu nennen - sind die Preise von April 2007
bis April 2008 um 3,3 Prozent bis 7,7 Prozent zurückgegangen. Wäre dieses Instrument so nicht eingesetzt worden, wäre der Strompreis für den normalen Durchschnittshaushalt um 21,7 Prozent höher gewesen, als er
jetzt ist, und für den energieintensiven Verbraucher in
der Industrie wäre er um 15 Prozent höher gewesen als
jetzt.
Insofern wirkt unsere Politik ganz konkret nicht nur
kostendämpfend, sondern sogar kostenentlastend.
Des Weiteren haben wir den Wettbewerb im Blick
und wollen ihn weiter stärken. Stichworte sind hier:
GWB-Novelle und Netzanschlussverordnung.
({4})
Nur mit mehr Anbietern und mehr Liquidität erreichen
wir einen besseren Wettbewerb, aber nicht mit der Verhinderung von Kraftwerksneubauten.
({5})
Wir haben jetzt das Instrument des Smart Metering
eingeführt. Die ersten Feldversuche zeigen, dass der
Bürger - auch der Bürger ist gefordert; es geht um Konsumentensouveränität - bis zu 30 Prozent seines Stromverbrauches einsparen kann, weil er mit dem Smart Metering in der Lage ist, sekundengenau zu wissen, wie viel
Strom er verbraucht und wie viel ihn das kostet. Es ist
Schluss mit der Blackbox. Heute ist es so, dass der Bürger zwölfmal im Jahr eine Abschlagszahlung leistet und
nach einem Jahr eine Gesamtrechnung bekommt, ohne
zu wissen, wie sich diese im Einzelnen zusammensetzt.
Zukünftig kann er seinen Verbrauchsverlauf genau nachvollziehen.
Ab 2010 - wir haben das im Gesetz vorgesehen werden lastvariable Tarife angeboten. Das heißt, der
Bürger kann reagieren: Da er weiß, wann der Strom
günstiger ist, kann er entsprechend die Waschmaschine,
den Wäschetrockner oder was auch immer laufen lassen.
Das, was bei der Telekommunikation zu einer Preisspirale nach unten und einer Erhöhung der Wettbewerbsintensität geführt hat, kann jetzt endlich auch im
Strombereich eingeführt werden. Dies gibt dem Bürger
Souveränität über seine Rechnung und seinen Stromverbrauch, was ihm hilft, wenn er sich engagiert, Kosten zu
sparen.
Die Große Koalition hat - da wird schlicht die Unwahrheit behauptet; Kollege Kelber hat völlig recht das Wohngeld rückwirkend zum 1. Oktober dieses Jahres angehoben.
({6})
Wir haben eine Heizkostenkomponente eingeführt. Gerade dies entlastet die einkommensschwache Bevölkerung. Wir sehen auch in anderen Bereichen Verbesserungen vor: zum Beispiel beim Kinderfreibetrag, beim
Kindergeld; um nur einige Stichworte zu nennen. Für die
Leistungsträger in unserer Gesellschaft, für diejenigen,
die arbeiten, wird der Arbeitslosenversicherungsbeitrag
weiter auf 2,8 Prozent von einstmals 6,5 Prozent gesenkt. Das bedeutet für den Durchschnittsverdiener in
diesem Land eine Entlastung von 750 Euro pro Jahr. Das
ist die Politik der Großen Koalition. Sie entlastet den
Bürger konkret mit einem austarierten Maßnahmenpaket
im Energiebereich, aber auch im Bereich von Wirtschaft
und Arbeitsmarkt.
({7})
Zum Abschluss möchte ich den Verbraucher direkt
ansprechen; denn auch der Verbraucher ist gefordert. Es
ist zwar Aufgabe des Staates, die Rahmenbedingungen
zu setzen, und Aufgabe der Energiewirtschaft, entsprechende Angebote zu machen. Diese Angebote müssen
aber auch vom Verbraucher angenommen werden. Leider kam vieles erst sehr zögerlich in Gang. Von 1998 bis
2007 haben nur knapp 2 Millionen Menschen den
Stromanbieter gewechselt. Im letzten Jahr ist Gott sei
Dank Dynamik hineingekommen, sodass jetzt insgesamt
4,5 Millionen Menschen einen Wechsel vollzogen haben.
Wenn Sie die Leute fragen, wie oft sie ihren Handyanbieter gewechselt haben, dann stellen Sie fest, dass
fast jeder schon einmal eine Veränderung vorgenommen
hat. Im Strombereich sind wir noch nicht so weit. Der
Verbraucher hat es in der Hand, etwas zu unternehmen.
Die Verbraucherverbände sagen ganz klar: Schon bei der
heutigen Wettbewerbssituation kann der einzelne Verbraucher bis zu 30 Prozent seiner Stromrechnung einsparen, wenn er die günstigste Variante wählt. Deshalb kann
ich an dieser Stelle nur die Verbraucher auffordern, ihren
Teil beizutragen.
Das alles ist ein Gesamtpaket und keine Mogelpackung, wie es Sozialtarife wären. Damit bekommen wir
das Energieproblem in den Griff.
Vielen Dank.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Gudrun
Kopp das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und
Damen! Auch angesichts der Finanzmarktkrise kommen
wir am heutigen Tage zu anderen politischen Problemfällen. Die hohen Energiepreise sind natürlich ein Dauerproblem, dessen Lösung wir seit vielen Monaten vor
uns herschieben. Viele Bürger und Bürgerinnen draußen
im Lande wissen nicht mehr, wie sie ihre Stromrechnung
bezahlen sollen. Es ist völlig klar, dass es hier zu einer
Entlastung kommen muss. Wir Liberale sehen dafür völlig andere Instrumente vor als Sie, Herr Hill, von den
Linken und als die Grünen, die heute hierzu ebenfalls einen Antrag vorgelegt haben. Wir haben bereits vor einigen Wochen unsere Vorstellung von einer Entlastung der
Bürger eingebracht; darauf komme ich gleich zu sprechen.
Wenn beide Fraktionen, die eben von mir genannt wurden, einen Energiesparfonds einfordern - die eine politische Gruppierung in Höhe von 1,5 Milliarden Euro, die
andere sogar in Höhe von über 3 Milliarden Euro -, wenn
pro Kopf der Bevölkerung eine Energiesparprämie von
50 Euro bzw. eine sogenannte Geräteabsatzprämie von
250 Euro gefordert wird - der Bundeswirtschaftsminister kann sich eine sogenannte Kühlschrankprämie in
Höhe von 150 Euro pro Gerät als Zuschuss sehr gut vorstellen; Minister Tiefensee packt noch einen drauf und
möchte eine steuerliche Vergünstigung für sogenannte
Ökoautos -, dann kann ich nur sagen: Das alles sind populistische Maßnahmen, die viele Mitnahmeeffekte auslösen, die die breite Bevölkerung, die eine Entlastung
nötig hätte, aber nicht treffen. Insofern sind diese Maßnahmen ungeeignet.
({0})
Lieber Herr Kollege Pfeiffer, das Folgende betrifft
Sie, die Vertreter der Regierungskoalition und die Bundesregierung: Sie haben auch heute keinen Vorschlag
eingebracht, der geeignet wäre, die hohen Steuern und
Abgaben auf Strom - die Belastungen liegen bei 40 Prozent - zu senken. Sie gehen immer vom Status quo aus
und sagen: Da machen wir Schluss; das ist unsere Deckelung. - Wir hingegen möchten von diesen hohen
Steuern und Abgaben herunterkommen.
Wenn man genau hinschaut, stellt man fest, dass die
von der Linken geforderten Sozialtarife höchst unsozial
sind.
({1})
Sie treffen nämlich nicht die Durchschnittsverdiener.
Das Durchschnittseinkommen in Deutschland liegt bei
rund 3 100 Euro brutto pro Kopf und Monat. Diese Menschen werden doppelt belastet: Als Arbeitnehmer zahlen
sie Steuern und müssen darüber hinaus auch noch die
Lasten durch Sozialtarife und andere Sondertatbestände
schultern. Ferner schwächen Sie die kleineren Stromanbieter am Markt, beispielsweise die Stadtwerke. Rund
die Hälfte aller Strom- und Energiebezieher sind immer
noch Kunden von Stadtwerken. Genau diese Anbieter
schwächen Sie und stärken die Oligopolisten am Markt.
Das kann nicht sein; das ist nicht FDP-Politik, weil das
nicht zielführend ist.
({2})
- Ja, lieber Kollege Kelber, auch der breite Energiemix
gehört dazu. Vor allen Dingen gehört dazu - das sage ich
ganz deutlich an Ihre Adresse -, dass wir die Scheuklappen abnehmen.
({3})
- Ich sage: Wir brauchen einen breiten Energiemix. Wir
müssen der Gefahr einer Stromlücke, die auf uns zukommen kann, begegnen. Wir können die Stromversorgung
in Deutschland nicht ohne die Nutzung von Kernkraftwerken und Kohle gewährleisten. Das ist nun einmal
nicht möglich, ob Sie das nun toll finden oder nicht.
({4})
Die FDP hat in den Deutschen Bundestag einen Antrag zur Reduzierung der Mehrwertsteuer von 19 auf
7 Prozent eingebracht. Das wäre ein gangbarer Weg, von
dem alle profitieren würden. Es gäbe keine Ausnahmetatbestände, keine Bevorzugung bestimmter Bevölkerungsgruppen und keine Benachteiligung anderer. Vielmehr hätten wir mit Blick auf die Grundversorgung eine
Basis, auf der man agieren könnte. Also: Mehrwertsteuerreduzierung.
({5})
- Ich erinnere daran, dass die jetzige Bundesregierung
eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte
vollzogen hat, liebe Kollegin Höhn. Auch Sie werden
sich sicher noch daran erinnern.
({6})
Auch die Grünen haben ihren Anteil an den hohen Subventionen und an den milliardenschweren Belastungen
der Bürger, insbesondere der Stromkunden. Seien Sie
also ganz friedlich!
({7})
Ferner fordere ich insbesondere die Union, deren Vertreter hier eben noch einmal dargestellt hat, wie wichtig
der Emissionshandel und die Einnahmen daraus sind,
auf, die Dinge auch tatsächlich umzusetzen.
({8})
In diesem Jahr starten wir in Deutschland mit einer Versteigerung von knapp 10 Prozent der CO2-Zertifikate.
Die Einnahmen in Höhe von rund 900 Millionen Euro
brutto müssen an die Stromkunden zurückgegeben und
dürfen nicht in einzelne Förderprojekte gesteckt werden.
({9})
Wir halten den Emissionshandel für das geeignete
Klimaschutz- und Ressourcenschutzinstrument, das es
möglich macht, dass alle anderen Parallelinstrumente
entfallen. Wir wünschen uns, dass es hier endlich Klarheit gibt.
Folgende Punkte sind für die FDP wichtig:
Erstens. Wir machen nicht dabei mit, dass die Einnahmen aus dem Emissionshandel, die immer weiter steigen
und ab 2013 wahrscheinlich in zweistelliger Milliardenhöhe liegen, nicht an die Energiekunden zurückgegeben
werden. Wir wollen eine Rückschleusung und wollen die
Bürger entlasten.
Zweitens. Wir möchten, dass auf EU-Ebene und in
Deutschland Klarheit darüber besteht, was mit den stromintensiven Industrien passieren soll. Wenn im Umweltausschuss des Europa-Parlaments und in der EU-Kommission beschlossen wurde, sich erst nach dem Jahr
2011 zu entscheiden, dann muss ich sagen: Das ist das
Gegenteil von verlässlicher Politik. Ich fordere die Bundesregierung auf, auf der europäischen Ebene Klarheit
zu schaffen. Wir brauchen vor dem Jahr 2011 für unsere
Wirtschaft die klare Ansage, was energieintensive Industrien, die ja im internationalen Wettbewerb stehen, mit
ihren 600 000 Arbeitsplätzen in Deutschland erwartet.
Wir möchten nicht, dass aus Deutschland Industrien abwandern, mit der Folge, dass die Emissionen in Nachbarländern entstehen und nicht abgebaut werden.
({10})
Drittens. Wir wünschen uns - das haben wir bereits
klargemacht -, dass die Bundesregierung endlich eine
Netz AG, wie wir sie bereits vorgeschlagen haben, einrichtet. Widersetzen Sie sich nicht länger einer Trennung
von Vertrieb und Netz beim Strom, sondern lassen Sie
uns die Netz AG, in die alle vier großen Netzbetreiber
ihre Netze einbringen, gemeinsam angehen, damit wir
auch in diesem Bereich zu mehr Wettbewerb und zu einem besseren Ausbau von Netzen kommen! Wir wollen
bei dieser Gelegenheit die vier Regelzonen, die es derzeit noch in Deutschland gibt, zu einer Regelzone zusammenfassen und so die Effizienz erhöhen und dabei
Kosten sparen.
Viertens. Wir wollen den Wettbewerb auf den Gasmärkten stärken. Auch da haben wir große Defizite.
Hier muss dringend etwas geschehen. Wir wollen, dass
Gas vollständig an der Börse gehandelt werden kann.
Auch da tut die Bundesregierung im Moment nichts, jedenfalls nicht so, dass man irgendetwas bemerken
könnte. Wir wünschen uns auf jeden Fall mehr Transparenz an der Börse, nämlich in Form einer Marktbeobachtungsstelle, damit mögliche Manipulationen bereits beim
Handel aufgedeckt und eliminiert werden können.
Kollegin Kopp, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Pfeiffer?
Sehr gerne.
({0})
Frau Kollegin Kopp, Sie haben das Allheilmittel
Ownership-Unbundling - oder auf Deutsch: Netz AG angesprochen. Sind Sie nicht vielmehr mit uns der Meinung, dass es richtiger wäre, die einheitliche Regelzone
einzuführen, mit der wir ein Einsparungs- und Optimierungspotenzial von mehreren Hundert Millionen Euro
erreichen würden? Würden Sie nicht lieber an Themen
wie Interkonnektoren arbeiten? Die Netz AG allein ist,
wie das Ownership-Unbundling, eine Monstranz, die
man vor sich herträgt, die aber dem Wettbewerb nichts
bringt. Oder sehen Sie das anders?
Wir sind einer Meinung - das habe ich eben auch dargestellt -, dass der Netzausbau dringend nötig ist, gerade
an den Grenzkuppelstellen. Es ist in der Tat richtig, dass
wir an dieser Stelle dringend weiterkommen müssen.
Beim Netzausbau sind wir also völlig einer Meinung.
({0})
Von einem Ownership-Unbundling habe ich eben
nichts gesagt, sondern ich habe von einer Netz AG gesprochen. Wir möchten keine Enteignung vornehmen,
weil eine Enteignung in diesem Fall rechtlich sehr
schwierig wäre und nicht nachweislich zu mehr Wettbewerb führen würde; jedenfalls haben das alle Experten
bisher so gesagt. Deswegen - das ist gerade der Charme
einer Netz AG - wollen wir, dass alle vier Übertragungsnetzbetreiber ihre Netze in diese AG einbringen, dass
wir dadurch eine Regelzone schaffen
({1})
und dass die Übertragungsnetzbetreiber Anteile entsprechend dem Wert ihrer Netze erhalten.
({2})
Sie selbst sollen aber in dieser Netz AG nicht über den
Ausbau entscheiden dürfen. Das ist das Entscheidende.
Das wäre rechtlich sehr viel eleganter, gäbe weniger Probleme, wir brauchten dabei keine Enteignung, und wir
würden den Wettbewerb, den wir wünschen, sehr wohl
befördern. Für Enteignung sind wir nicht. Wir halten das
für keinen gangbaren Weg.
({3})
Ich möchte zum Schluss noch auf eine weitere Entwicklung zu sprechen kommen. Neben der Energiepreissteigerung, über die wir hier heute Morgen diskutieren,
ist ganz wichtig, zu fragen: Was folgt eigentlich realpolitisch aus dieser Finanzmarktkrise? Natürlich trägt sie
stark zur Verunsicherung der Bevölkerung bei. Der klassische Fall einer Enteignung gerade des kleinen Mannes,
der kleinen Frau im Land ist natürlich der Preisauftrieb.
Wir sollten daher die Inflationsrate im Auge behalten.
Ich mache mir Sorgen, wenn ich sehe, dass der Anstieg der Verbraucherpreise in 2007 und 2008 im Schnitt
bei 2,8 Prozent liegt; das ergibt sich aus dem Herbstgutachten. Es wird geschätzt, dass der Preisauftrieb im
nächsten Jahr bei in etwa 2,3 bis 2 Prozent liegen wird.
Wenn es eine solche Inflationsrate - keiner kann das
heute verlässlich vorhersagen - geben oder wenn sie sogar noch steigen sollte, dann würde das eine weitere
Schwächung der Menschen bedeuten, die ein geringes
oder ein mittleres Einkommen haben. Das muss uns
Sorge bereiten. Denn wir haben es mit einer Wirtschaftsflaute zu tun - im nächsten Jahr werden wir das noch
mehr spüren -, wahrscheinlich mit einem Arbeitsplatzabbau und mit einer sinkenden Nachfrage. Auch an der
Stelle werden wir merken, dass es den Bürgern angesichts aller notwendigen Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, um Energieeffizienz und Energieeinsparung
zu befördern, immer schwerer fällt, gerade ihren täglichen Bedarf, auch den Energiebedarf, zu finanzieren.
Es gibt aber eine Grenze. Von daher kann ich heute
Morgen nur noch einmal mahnen: Wir müssen die Bürger entlasten, damit sie für das, was im nächsten und im
darauffolgenden Jahr wahrscheinlich auf uns alle zukommen wird, gewappnet sind. Daher ist es notwendig,
die von mir genannten Maßnahmen umzusetzen. Ich fordere die Bundesregierung auf, das zu tun und sich nicht
immer auf Einzelmaßnahmen zu beschränken. Ich wünsche mir, dass auch Bundesminister Glos zu den realpolitischen Auswirkungen, die die Finanzmarktkrise in
Deutschland, international und europaweit hat, Stellung
nimmt. Das wäre am heutigen Morgen wichtig als Signal
und als Orientierung für die Bürger draußen, damit sie
wissen, was auf sie zukommt. Die Politik muss sich darauf einstellen und darf sich nicht ideologisch verhalten,
sich in weiteren Subventionstatbeständen ergehen und
die Bürger milliardenschwer belasten.
Vielen Dank.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Garrelt
Duin das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Manchmal - das ist, glaube ich, unser aller Erfahrung schmeckt Aufgewärmtes besonders gut. Manchmal ist es
aber leider so, dass Aufgewärmtes fast ungenießbar wird
oder jedenfalls sehr fade und langweilig schmeckt. So ist
es in diesem Fall, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Linken. Es ist schon ein bisschen enttäuschend, dass
Sie uns hier mit dem gleichen Thema und einem fast
identischen Antrag innerhalb von wenigen Wochen das
zweite Mal quasi mit Aufgewärmtem beglücken.
({0})
Es war erst am 20. Juni 2008, also unmittelbar vor der
Sommerpause, als wir hier über einen Antrag von Ihnen
diskutiert haben, der in zwei von drei Punkten mit Ihrem
jetzigen Antrag identisch ist. Die Debatte zeigt auch,
dass ein Teil der Argumente oft wiederkehrt.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um Ihnen zur
Kenntnis zu geben, was wir als Große Koalition in dieser
Wahlperiode alles schon auf den Weg gebracht haben.
Zunächst einmal zu Ihrer Forderung nach Wiedereinführung der staatlichen Strom- und Gaspreisaufsicht auf
Länderebene.
({1})
Diesen Vorschlag haben wir, wie Sie wissen, schon im
Juni dieses Jahres abgelehnt. Auch die Bundesratsinitiative, die es dazu gegeben hat, ist im Grunde sang- und
klanglos verpufft. Das ist auch gut so; denn die staatliche
Preisaufsicht hat sich immer nur auf den Vertrieb bezogen. Hier hilft uns kein Rückfall in staatliche Preisaufsicht, sondern mehr Wettbewerb.
Im Stromendkundenmarkt kommt der Wettbewerb
mittlerweile in Gang, auch wenn wir uns noch mehr
wünschen. Im vergangenen Jahr haben nach Angaben
der Bundesnetzagentur rund 1,3 Millionen Stromkunden
den Versorger oder zumindest den Tarif gewechselt. Herr
Kollege Pfeiffer hat schon darauf hingewiesen, dass
noch nicht die Zahlen und die Selbstverständlichkeit erreicht wurden, die wir aus anderen Bereichen kennen.
Hier kommt aber etwas in Bewegung. Das wünschen wir
uns natürlich auch für den Gasmarkt. Was den Gasendkundenmarkt angeht, kann sicherlich noch viel mehr erreicht werden.
Mit der Novelle zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen haben wir dem Bundeskartellamt Ende
letzten Jahren mehr Möglichkeiten im Kampf gegen
missbräuchlich überhöhte Endkundenpreise eingeräumt.
Das ist der richtige Weg. Es sind bereits erste Erfolge zu
verzeichnen, wie die Einstellung des Missbrauchsver19450
fahrens gegen sechs regionale Eon-Gasversorger Anfang
Oktober dieses Jahres gezeigt hat. Obwohl § 29 des
GWB noch nicht einmal zehn Monate alt ist, können wir
schon jetzt feststellen, dass dieses Instrument in die richtige Richtung weist. Im bereits erwähnten Verfahren
wurde entschieden, dass durch eine Verschiebung der
Preiserhöhung bzw. im Rahmen von Boni 55 Millionen
Euro an die Kunden zurückgezahlt werden müssen. Weitere knapp 30 Verfahren gegen Gasversorger stehen nach
Aussage des Bundeskartellamtes kurz vor dem Abschluss.
Die von Ihnen geforderte staatliche Preisaufsicht auf
Länderebene konnte die Verbraucher früher nicht in diesem Umfang vor Preiserhöhungen schützen, und sie
wird dies auch in Zukunft nicht können. Deswegen
bleibt es bei dem eingeschlagenen Weg.
Richtig ist - das wird auch von niemandem in Zweifel
gezogen -, dass die Energiekostenentwicklung der vergangenen Jahre und insbesondere der vergangenen Monate für immer mehr Haushalte eine erhebliche Belastung darstellt. Richtig ist auch, dass die Menschen von
der Politik Handlungsoptionen erwarten. Was sie nicht
erwarten, sind unhaltbare Versprechungen. Die Bürgerinnen und Bürger wissen genau, dass es in Zeiten einer
wachsenden globalen Energienachfrage bei gleichzeitig
knapper werdenden Ressourcen falsch wäre, Hoffnungen auf dauerhaft niedrige Energiepreise zu wecken. Insbesondere wäre es angesichts der Entwicklungen auf
dem Weltmarkt falsch, den Eindruck zu erwecken, dass
diese Probleme durch nationale Politik gelöst werden
könnten; dieser Ansatz kommt in Ihrer Programmatik
aber immer wieder zum Vorschein.
Die Politik kann aber helfen, die Kostenbelastung
der Verbraucherinnen und Verbraucher in einem bezahlbaren Rahmen zu halten. Deswegen muss ganz oben auf
der Tagesordnung stehen - das ist unsere Leitlinie -,
gleichen Lebenskomfort bei sinkendem Energieverbrauch zu ermöglichen. Das ist im Grunde die Maxime,
nach der wir unsere Politik ausgerichtet haben; darauf
hat Herr Kollege Pfeiffer schon hingewiesen. Im Rahmen des Integrierten Energie- und Klimaprogramms
haben wir eine ganze Reihe von Maßnahmen aus verschiedenen Politikbereichen gebündelt. Das war auch
notwendig.
Die Novelle zum Erneuerbare-Energien-Gesetz, das
KWK-Gesetz und das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz gehen in die richtige Richtung. Durch KraftWärme-Kopplung und den verstärkten Einsatz erneuerbarer Energien im Strom- und Wärmesektor werden unsere Importabhängigkeit und die Belastung der privaten
Haushalte durch den Preisanstieg auf den Weltenergiemärkten verringert.
Schon seit Jahren schaffen wir darüber hinaus mit
dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm Anreize zur
energetischen Gebäudesanierung. Allein in den Jahren
2005 bis 2007 wurden 650 000 Wohnungen mithilfe von
staatlichen Zinsverbilligungen oder Zuschüssen saniert
oder energiesparend neu gebaut. Durch diese dauerhafte
Entlastung der Haushalte im Hinblick auf ihre Energiekostenrechnung wurden außerdem Tausende, ja Zehntausende von Arbeitsplätzen im lokalen Handwerk gesichert und zum Teil neu geschaffen. Wegen der hohen
Nachfrage haben wir die Mittel für energetische Sanierungen im Bereich privater Haushalte Mitte dieses Jahres von 900 Millionen Euro auf 1,4 Milliarden Euro
aufgestockt. Wir haben uns geeinigt, das CO2-Gebäudesanierungsprogramm mindestens bis 2011 mit mindestens 900 Millionen Euro jährlich fortzuführen.
Ein weiteres Element - ich will es hier noch einmal
ausdrücklich erwähnen - ist das ebenfalls im Juni, als
wir diese Diskussion führten, verabschiedete Gesetz zur
Liberalisierung des Zähl- und Messwesens. Spätestens 2010 haben Endkunden die Möglichkeit, sich intelligente Strom- und Gaszähler einbauen zu lassen,
wodurch wir Transparenz über den tatsächlichen Energieverbrauch und neue Möglichkeiten zur gezielten Verbrauchssteuerung schaffen. Wir haben in dieses Gesetz
auch die Pflicht der Energieversorgungsunternehmen
aufgenommen, tageszeit- und lastvariable Tarife anzubieten. Auch damit wird der Energieverbraucher zunehmend zu einem wirklich mündigen Kunden.
Ich will an dieser Stelle auch die Ausweitung des
Contractings im Mietwohnungsbereich erwähnen. Contracting ist zwar eine zunächst kompliziert anmutende
Materie, bringt aber eine tatsächliche Entlastung der
Bürgerinnen und Bürger mit sich. Contracting ist die
Brücke in das Zeitalter der Energiedienstleistungen. Es
ermöglicht ein professionelles Management der Energieverbräuche und generiert, sofern es gut ausgestaltet ist,
spürbare Einsparungen von Energiekosten.
({2})
Darüber hinaus macht Contracting Schluss mit der kontraproduktiven Anbieterphilosophie, möglichst viele Kilowattstunden absetzen zu wollen. Wir wollen deshalb
möglichst noch im parlamentarischen Verfahren zum
Energieeinspargesetz eine Regelung zur Erleichterung
von Contracting im Mietwohnungsbereich einbringen.
Ich komme jetzt zu Ihrer Forderung nach den Sozialtarifen. Ich freue mich über jeden Energieversorger, der
diese auf freiwilliger Basis anbietet; wir kennen Stadtwerke und andere Regionalgesellschaften großer Energieversorger, die solche Tarife anbieten. Ich warne allerdings im gleichen Atemzug vor staatlich verordneten
Sozialtarifen, wie Sie sie heute erneut fordern. Ein solcher Tarif bietet im Übrigen keinerlei Anreiz zum sparsamen Umgang mit Energie. Er gäbe möglicherweise sogar Fehlanreize in Richtung von Energieverschwendung.
({3})
Natürlich ist uns sehr bewusst, dass gerade Haushalte
mit niedrigem Einkommen oder Haushalte von Transferleistungsbeziehern ganz besonders von steigenden Energiekosten betroffen sind, sofern sie diese Mehrkosten
nicht vom Amt erstattet bekommen. Wir halten es jedoch
für verfehlt, dieses Problem über Zwangstarife, über
staatliche Sozialtarife zu lösen. Ich glaube, dass wir im
Bereich der klassischen Sozialpolitik einiges auf den
Weg gebracht haben - auch davon ist schon gesprochen
worden -, was sich wirklich als positiv darzustellen
lohnt.
Die Novelle zum Wohngeldgesetz will ich an erster
Stelle nennen. Es ist verabschiedet, die Fördersätze deutlich zu erhöhen und die Heizkosten einzubeziehen.
({4})
- Nicht so lange, wie Sie vielleicht glauben. Es ist am
Ende sogar viel schneller gegangen.
({5})
Wir haben es jetzt geschafft, die gesamte Heizperiode
einzubeziehen. Das ist ein großer Erfolg, der in dieser
Koalition erzielt worden ist.
({6})
Lassen Sie sich diese Zahlen noch einmal sagen: Von
den Änderungen, die wir beim Wohngeld vorgenommen
haben, sind in Deutschland rund 800 000 Haushalte mit
niedrigem Einkommen und rund 300 000 Haushalte von
Rentnerinnen und Rentnern positiv betroffen. Insofern
können Sie doch nicht sagen, das sei alles viel zu spät
gekommen.
({7})
Ursprünglich war vereinbart, das zu Beginn des nächsten
Jahres zu machen. Wir haben es jetzt vorgezogen; das ist
ein absolut notwendiger und richtiger Schritt in die richtige Richtung.
({8})
Insofern bin ich sehr froh, dass Herr Tiefensee und andere, die daran mitgewirkt haben, sich in diesem Punkt
haben durchsetzen können.
Wenn es um die Anpassung von Regelsätzen beim
Arbeitslosengeld II und der Sozialhilfe geht, werden wir
nach Vorlage des Existenzminimumsberichts die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen und diese in der
Politik konkret umsetzen.
({9})
Aber tun Sie doch nicht immer so, als ob von steigenden
und sehr hohen Energiepreisen in unserem Land nur
Transferleistungsempfänger betroffen wären.
({10})
Das ist doch nicht der Fall.
({11})
In der Mitte der Gesellschaft spielt dieses Thema eine
große Rolle. Deswegen werden Sie dieses Problem über
die Instrumente, die sich auf das Arbeitslosengeld II und
andere Transferleistungen beziehen, nicht lösen. Sie
müssen es viel breiter diskutieren.
({12})
- Doch, ich habe ihn sehr genau gelesen.
Wir haben uns im ersten Halbjahr dieses Jahres in einer Arbeitsgruppe sehr viel Zeit genommen und mit vielen externen Sachverständigen intensiv darüber gesprochen, wie man es machen kann. Statt eines speziellen
Tarifs für sozial Schwache gibt es die Idee eines für alle
Haushalte wählbaren Effizienztarifs. Ich denke, dass
Herr Kollege Kelber im weiteren Verlauf dieser Debatte
noch einiges dazu sagen wird. Wir werden das weiter
prüfen, weil wir glauben, dass das ein wesentlich intelligenteres Mittel ist, dieses Problem zu lösen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend noch etwas zu den Lösungsvorschlägen der Kollegin Kopp sagen. Das, was Sie hier
vorgeschlagen haben - zum einen durch einen Zwischenruf ausgelöst, zum anderen war das aber auch Teil
Ihrer grundsätzlichen Ausführungen -, läuft am Ende
auf die Aussage hinaus, dass man die steigenden Energiepreise und die Belastung der Bürgerinnen und Bürger
hauptsächlich durch zwei Maßnahmen in den Griff bekommen kann, nämlich durch eine Verlängerung von
Laufzeiten der Atomkraftwerke und durch Steuersenkungen. Sehr verehrte Frau Kollegin Kopp, beides ist
völlig irreführend. Ich lade Sie gerne nach Niedersachsen ein. Wir können einmal mit den Bürgerinnen und
Bürgern im Landkreis Wolfenbüttel, die oberhalb der
Asse leben, darüber sprechen, wie sie das Thema Verlängerung von Laufzeiten der Atomkraftwerke beurteilen. Solange das Problem des Endlagers in Deutschland
nicht abschließend und eindeutig geklärt ist, stellt sich
die Frage der Verlängerung von Laufzeiten der Atomkraftwerke überhaupt nicht.
({13})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kopp?
({0})
Ich erinnere allerdings an die getroffene Regelung, um
die Sitzung heute unterbrechen zu können.
Möglicherweise sind Frau Kopp und ich ja selber davon betroffen, weil wir dann später zu einem anderen Tagesordnungspunkt noch einmal sprechen werden. - Bitte
sehr.
Ich versuche, mich sehr kurz zu fassen, Herr Kollege
Duin.
Sind Sie bereit, mir darin zuzustimmen, dass in Ihrem
Koalitionsvertrag, also dem Koalitionsvertrag von SPD
und Union, steht, dass Sie sich darauf verständigt haben,
noch in dieser Legislaturperiode das Problem der Endlagerung von Atommüll einer Lösung zuzuführen? Wo ist
diese Lösung? Reden Sie sich bitte nicht mit dem Thema
Asse heraus; das hat mit diesem Thema nichts zu tun.
({0})
- Nein, es geht um stark strahlende Abfälle.
({1})
Wo ist Ihre Endlagerlösung für den Atommüll, wie
Sie es in Ihrem Koalitionsvertrag vereinbart haben?
Frau Kollegin Kopp, natürlich steht das so in der
Koalitionsvereinbarung; Sie haben sie sinngemäß richtig
zitiert. Wenn sich aber während dieser Überprüfung ergibt, dass es zurzeit keine Lösung für dieses Endlagerproblem gibt - die Vorkommnisse in der Asse sind ein
Beleg dafür, dass wir dort weder technisch noch anders
auf einem guten Weg sind -, dann muss das in der Großen Koalition eben auch zur Kenntnis genommen werden.
({0})
Es gibt jetzt ein anderes verabredetes Verfahren. Wir
werden weiter prüfen, weil wir ja ein Interesse daran haben, dass wir irgendwann zu einer entsprechenden Lösung kommen. Dass diese Lösung noch nicht vorliegt,
hat aber nichts damit zu tun, dass man sich im Bundesumweltministerium oder an anderer Stelle nicht um
diese Dinge kümmern würde, sondern das hat schlichtweg damit etwas zu tun, dass alle Erfahrungen, die bisher gemacht worden sind, nicht ausreichen, um ein sicheres Endlager in Deutschland zu definieren. Solange
das nicht der Fall ist, kann über eine Verlängerung von
Laufzeiten der Atomkraftwerke nicht gesprochen werden.
({1})
- Doch, natürlich.
Auch mit dem zweiten Punkt, den Sie hier vorschlagen, nämlich Steuersenkungsprogrammen, liegen Sie
falsch. Das kann nicht die Lösung der Probleme sein.
Wir haben das in den letzten Monaten an den Tankstellen
immer wieder erlebt, auch wenn es jetzt eine Entwicklung hin zu sinkenden Spritpreisen gibt. Wer glaubt denn
ernsthaft, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher
länger als drei oder vier Tage etwas von einer Senkung
der Mehrwertsteuer oder der Ökosteuer hätten? Das landet am Ende doch wieder bei den Konzernen. Die Preisgestaltung, die insbesondere bei den Tankstellen vorgenommen wird, ist doch für niemanden nachvollziehbar.
Sie glauben doch nicht wirklich, dass dabei am Ende
eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger herauskommen würde. Es würde zu einem riesigen Loch im Haushalt kommen, das wir durch Mittel von anderen Stellen
wieder stopfen müssten. Für die Bürgerinnen und Bürger
käme dabei nichts Positives heraus.
({2})
Ich will abschließend sagen: Beide Wege - sowohl
der staatlich verordnete Sozialtarif als auch Steuersenkungen und Atomkraft - sind irreführend. Wir müssen
auf dem Weg weitergehen, den diese Koalition auf der
Basis der von Rot-Grün in diesem Punkt eingeleiteten
Politik geebnet hat. Effizienzsteigerungen, erneuerbare
Energien - das und nicht das, was wir hier in diesem
Saal von links und rechts dazu gehört haben, ist der Weg,
um eine wirkliche Lösung dieses Problems zu erarbeiten.
Herzlichen Dank.
({3})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Bärbel Höhn das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben in den letzten Wochen bei der Bankenkrise
gemerkt, wie schnell die Bundesregierung aktiv wird,
um ein gravierendes Problem anzupacken. Wir wollen,
dass andere Probleme, die die Menschen betreffen,
ebenso schnell angepackt werden. Durch die Auswirkungen der Finanzkrise werden die Bürgerinnen und
Bürger mehrfach belastet. Wir werden nicht nur den
Haushalt mit mehreren Hundert Milliarden Euro belasten, sondern ein Teil der Belastungen wird auch real auf
die Menschen zukommen. Wir stehen vor einer Rezession, und wir müssen uns mit hohen Energiepreisen auseinandersetzen. Das ist eine dreifache Belastung der Bevölkerung. Deshalb ist es richtig, dass wir angesichts des
wachsenden sozialen Problems heute eine Debatte darüber führen, wie die Lösung aussehen könnte.
({0})
Ehrlich gesagt hat mich die Lösung, die CDU/CSU
und SPD für dieses Problem vorschlagen, nicht überzeugt. Herr Duin hat eben zu Recht festgestellt, dass
nicht nur Hartz-IV-Empfänger bzw. Wohngeldempfänger betroffen sind. Insofern ist es zwar richtig, dass Sie
das Wohngeld erhöht und einen Heizkostenzuschuss
vorgesehen haben; aber wir haben auch eine Mittelschicht. Es gibt Familien mit kleinen Einkommen, die
massiv von den drei Punkten betroffen sind, die ich genannt habe. Dafür brauchen wir eine Lösung.
({1})
Mit der Wohngelderhöhung und dem Heizkostenzuschuss laufen Sie dem Problem hinterher. Allein im Oktober haben 300 Gasanbieter ihre Gaspreise um durchschnittlich 15 Prozent erhöht. Mit Ihrer Feststellung,
dass die Menschen im Winter nicht im Kalten sitzen sollen, haben sie recht, Herr Hill. Aber in Ihrem Antrag gehen Sie auf das Problem der Heizkosten gar nicht ein.
Sie kündigen zwar an, dafür sorgen zu wollen, dass die
Menschen nicht frieren, aber Sie schlagen keine Lösung
für dieses Problem vor. Sie beschäftigen sich nur mit
dem Strom, aber nicht mit den Heizkosten und dem Verkehr.
({2})
Die Menschen werden einen zusätzlichen Schock erleben, wenn sie im nächsten Frühjahr ihre Heizkostenabrechnung bekommen. Jetzt zahlen sie noch nach der Vorausberechnung vom letzten Jahr. Im Sommer war das
Heizöl teilweise doppelt so teuer als im Vorjahr. Das
heißt umgekehrt: Wer zu diesem Zeitpunkt Heizöl eingekellert hat, wird den Mietern erhebliche Kosten in Rechnung stellen müssen. Das wird die Menschen im nächsten Frühjahr erwarten. Deshalb sind nicht nur eine
Wohngelderhöhung und ein Heizkostenzuschuss notwendig; wir brauchen vor allen Dingen eine Lösung, mit
der wir unabhängiger vom teuren Öl werden und wertvolle Energie einsparen, um dem nächsten Preisschock
vorzubeugen. Wir müssen handeln, wir müssen reagieren.
({3})
Der beste Weg dorthin besteht in erneuerbaren Energien, Energieeinsparung und Energieeffizienz. Wir haben ein großes Energieeinsparpotenzial. Deshalb brauchen wir - das ist der Vorschlag der Grünen - eine
Energiesparoffensive; denn jede eingesparte Kilowattstunde ist billiger als jede verbrauchte Kilowattstunde.
({4})
Wie wollen wir vorgehen? Wir fordern beispielsweise
einen Energiesparfonds; denn gerade in den Bereichen,
in denen es Einzelne nicht schaffen, muss es eine Unterstützung der Infrastruktur geben. Das heißt, dass wir
zum Beispiel mehr in Dämmmaßnahmen investieren
müssen. Herr Duin, Sie haben zu Recht gesagt, dass in
diesem Bereich bereits investiert wird. Aber wir sehen
doch, dass gerade im Mietwohnungsbau viel zu wenig
geschieht. Auf diese Weise bräuchten wir 100 Jahre, bis
dieses Problem gelöst wäre. Aber wir haben keine
100 Jahre. Wir können den Menschen nicht sagen, dass
sie noch 100 Jahre warten müssen, bis die letzte Wohnung gedämmt ist.
Das heißt, wir brauchen bessere Contracting-Maßnahmen; denn die bestehenden Maßnahmen greifen
nicht. Wir brauchen Finanz-Contracting. Wir brauchen
gerade im Wohnungsbau mehr Unterstützung. Wir brauchen auch im Verkehrsbereich mehr Unterstützung. Der
ÖPNV muss ausgebaut werden, damit die Menschen
eine Alternative zu den steigenden Spritkosten in diesem
Land haben.
({5})
Wir wollen nicht nur durch einen Energiesparfonds die
Infrastruktur verbessern. Wir wollen auch einen Energiesparscheck. Jede Person in diesem Land soll entscheiden, ob sie mit diesem Scheck im Wert von 50 Euro pro
Jahr ein ÖPNV-Ticket bezahlt, eine Energieberatung in
Anspruch nimmt oder - wenn sie die Schecks sammelt einen energieeffizienteren Kühlschrank kauft. Auch das
ist wichtig, um den Menschen vor Ort individuell eine
Möglichkeit zu geben, etwas zu tun.
Wir brauchen darüber hinaus ein entsprechendes Ordnungsrecht. Ich kann nicht verstehen, dass es nur die Japaner mithilfe des Ordnungsrechts schaffen sollen, einen
Top-Runner-Ansatz zu verfolgen. Das effizienteste
Elektrogerät setzt den Standard. Alle diejenigen, die es
in drei bis fünf Jahren nicht geschafft haben, diesen
Standard einzuhalten, sind weg vom Markt. Ein solches
Top-Runner-Modell brauchen wir in der EU, auch in
Deutschland.
({6})
Ich muss ganz ehrlich sagen: Die Kennzeichnungsregelungen in der EU müssen überarbeitet werden. Die
Kennzeichnung ist für die Verbraucher nicht nachvollziehbar. So gibt es bei den Elektrogeräten ein Labeling
von A, B, C und D. Das kann man noch verstehen. Wenn
man aber ein Gerät der Stufe A kauft und meint, dies sei
das beste, muss man sich erklären lassen, dass es auch
Geräte der Stufen A+ und A++ gibt. Wenn man einen
Kühlschrank der Stufe A++ gekauft hat, dann hat man
einen Kühlschrank, der teilweise 45 Prozent effizienter
ist als ein Kühlschrank der Stufe A. Das verstehen die
Menschen nicht. Das müssen wir ändern. Wir brauchen
eine bessere Kennzeichnung, die die Menschen verstehen.
({7})
Das wäre auch gut für die Wirtschaft; denn die Wirtschaft produzierte dann bessere Geräte. Die Exportmöglichkeiten nähmen zu. Wir wären damit besser dran. Wir
sehen an der Krise der Automobilindustrie in den USA,
wie schlimm es ist, wenn man auf die falschen Produkte
setzt. Damit werden letzten Endes Arbeitsplätze gefährdet.
Ich komme zum Schluss. Wir brauchen mehr Wettbewerb auf dem Energiemarkt. Es gibt ein Kartell von vier
großen Energiekonzernen, die 88 Prozent der Stromversorgung kontrollieren. Das geht nicht, weil das zu unfairen Preisen führt.
({8})
Wir Grüne fordern mehr Wettbewerb, mehr Effizienzstandards und mehr Energieeinsparoffensiven. Aber hier
tut die Bundesregierung zu wenig. Wir müssen jetzt
agieren und vor der nächsten Energiepreiserhöhung handeln, damit die Menschen wissen, dass wir etwas getan
haben.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat der Kollege Franz Obermeier für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wieder
einmal wird versucht, mit alten planwirtschaftlichen Instrumenten auf Stimmenfang zu gehen. Es ist ja so einfach: Die Strompreise werden quasi staatlich festgesetzt.
Vorgeschlagen wird: Sockelversorgung kostenlos, 50 Prozent Vergünstigung für Bezieher sozialer Leistungen,
eine höhere Besteuerung der Energieunternehmen zur
Deckung des Freifahrtscheins für Strom, einen neuen
Energieeinsparfonds, dazu noch eine neue Strompreisaufsicht auf Länderebene und ein neuer Verbraucherbeirat, nicht zu vergessen ein Klimascheck in jährlicher
Höhe von 250 Euro.
({0})
Selbst wenn ich etwas vergessen haben sollte: Es reicht
uns schon. Warum soll es Sozialtarife eigentlich nur für
Energie geben? Warum gibt es denn keine Sozialtarife
für Nahrungsmittel? Warum gibt es keine Sozialtarife für
Kleidung? Warum gibt es keine Sozialtarife für Urlaubsreisen? Das alles könnten Sie beantragen.
({1})
Nein, der richtige Ansatz ist, dass der soziale Ausgleich bei uns über Sozialtransfers und über das Steuersystem stattfindet und nicht bei einzelnen Gütern ansetzt. Wir verzetteln uns sonst und bringen die soziale
Marktwirtschaft durch immer mehr Eingriffe und Zusatzkosten aus dem Lot. Ihre Vorschläge strotzen nur so
von zusätzlicher Bürokratie, Geld, das uns dann an anderer Stelle fehlt.
({2})
Das Kabinett hat gerade beschlossen, die ab 2009 geplante Wohngelderhöhung um drei Monate vorzuziehen. Bedürftige erhalten rückwirkend ab dem 1. Oktober
rund 140 Euro statt bisher 90 Euro. Außerdem wird der
Heizkostenzuschlag für Bedürftige über das Wohngeld
aufgestockt. Der Zuschlag wird im kommenden Frühjahr
gezahlt. Das beschlossene Schulbedarfspaket bringt eine
weitere Entlastung. Wie Herr Duin gerade gesagt hat,
kommt dies insgesamt 800 000 Haushalten in der kommenden Heizperiode zugute.
Sie sprechen immer nur von den einkommensschwachen Haushalten, die mit höheren Energiepreisen konfrontiert sind. Was ist eigentlich mit den ganz normalen
Arbeitnehmern, den Familien mit Kindern, den Handwerkern und den mittelständischen Unternehmen, die
sich anstrengen, Leistungen erbringen, ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften und die Sozialtransfers mit
ihren Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen finanzieren?
Sie denken nur über neue Steuern für diese Personengruppen nach; Sie wollen ihnen nur neue Lasten auferlegen, was man zum Beispiel an der Regelung zur Erbschaftsteuer erkennt. Danach soll es den Erben
möglichst schwer gemacht werden, den Betrieb weiterzuführen.
({3})
Ihr Prinzip ist: Neid hat immer Konjunktur.
Was verbirgt sich nun hinter den Vorschlägen, und
wer trägt die Kosten? Die Antwort ist: Das sind die anderen privaten Verbraucher, auf die diese Kosten durch
Preiserhöhungen umgelegt werden. Sie zahlen höhere
Preise, um das auszugleichen.
Bei dieser Gelegenheit will ich auf einige Instrumente
zu sprechen kommen. Natürlich ist es richtig, dass wir
alles daransetzen, Wettbewerb auf dem Energiesektor
einzuführen. Die Große Koalition ist dabei, die Dinge
voranzubringen. Natürlich ist es auch Aufgabe des Staates und des Gesetzgebers, die Voraussetzungen für einen
effizienten Markt zu schaffen.
Da vorhin von der Kernenergie die Rede war, will
ich auf diesen Punkt eingehen. Ich weiß, dass Sie aus
Niedersachsen kommen, Herr Duin. Wenn man die Endlagerfrage zum Casus knacksus macht, dann stellt sich
natürlich die Frage, ob durch das bestehende Moratorium die Endlagerfrage irgendwann gelöst werden kann.
Ich glaube das nicht. Ich glaube nicht, dass ein Moratorium schon einmal ein Problem gelöst hat. Deswegen ist
der Hinweis auf den Koalitionsvertrag natürlich nachvollziehbar. Wir sollten uns in der verbleibenden Zeit
schon bemühen, dass wenigstens dort, wo die wissenschaftliche Erkundung weitgehend abgeschlossen ist,
festgelegt wird, ob der Standort geeignet ist oder nicht.
Frau Höhn, Sie bringen die Rezession und die hohen
Energiepreise in einen direkten Zusammenhang.
({4})
Es ist wahr, dass wir in der Vergangenheit den Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftswachstum und den
Energiepreisen verspürt haben. Aber Sie stellen die
Frage, was die Bundesregierung in dieser Beziehung getan hat. Dazu will ich Ihnen wegen der knappen Zeit nur
einige Punkte nennen.
Die Umstellung auf andere Energieformen ist bei den
deutschen Verbrauchern voll im Gange. Ich sehe, dass
sehr viele Haushalte jetzt auf neue Formen der Energie
umstellen, nicht zuletzt deswegen, weil die Große Koalition die Förderung neuer Energieformen verstärkt hat.
Ich stelle zum Beispiel fest, dass eine ganze Menge von
Haushalten jetzt Pelletöfen und Hackschnitzelheizungen
einbauen und dass Wärmepumpen jeglicher Art hoch im
Kurs stehen. Das ist eine Folge dieser Politik. Um Ihre
Frage zu beantworten: Der Bund reagiert für meine Begriffe auf die Herausforderungen richtig. Auch das CO2Gebäudesanierungsprogramm hat erhebliche Erfolge
gezeitigt. Es ist mittlerweile zu einer Stütze der Bauwirtschaft geworden. Insbesondere das Innenausbaugewerbe
zieht daraus erhebliche Vorteile.
Ich will auf den Antrag der Linken zurückkommen.
Auf wen zielen Sie wirklich ab?
({5})
Im Rahmen der Grundsicherung werden die Energiekosten bereits über die Erstattung der Wohnkosten abgegolten.
({6})
- Die Stromkosten nicht, aber die Heizkosten werden
abgegolten.
({7})
- Warmwasser auch nicht; das spielt aber mit 10 Prozent
nur eine geringe Rolle.
Kollege Obermeier, achten Sie bitte auf die Zeit.
Vielen Dank. Ich komme gleich zum Ende.
Ich will nur sagen: Vorhin wurde ausgeführt, dass es
in keinem europäischen Land eine derart gute soziale
Absicherung für Einkommensschwache gibt. Das ist uneingeschränkt zu unterstützen. Ihr Antrag ist ein Relikt
aus der DDR-Zeit, und die wollen wir nicht.
Vielen Dank.
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Markus Kurth das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn Herr Obermeier von der CDU/CSU-Fraktion
fragt, warum wir uns mit diesem Thema überhaupt beschäftigen, dann scheint mir notwendig zu sein, zunächst
einmal zwei oder drei Fakten zu präsentieren und sich
die Situation zu verdeutlichen.
Nach Berechnungen des Verbraucherzentrale Bundesverbandes werden zum Beispiel die gesamten Energiekosten eines Vierpersonenhaushaltes, also Strom-,
Wärme- und Treibstoffkosten, im Jahr 2008 im Vergleich zum Vorjahr um rund 1 000 Euro auf 4 640 Euro
gestiegen sein. Es handelt sich folglich um einen erheblichen Anstieg. Im Vergleich zum Jahr 2000 beträgt der
Anstieg weitere 1 000 Euro. Innerhalb von acht Jahren
haben sich diese Kosten fast verdoppelt. Das heißt, die
Geschwindigkeit des Energiepreisanstiegs erfordert natürlich, insbesondere für die einkommensschwächeren
Haushalte, eine Antwort. Insofern ist diese Debatte vollständig berechtigt.
({0})
Wenn Sie von der Union das in Abrede stellen, dann haben Sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt.
Insbesondere für die einkommensschwächeren Haushalte wird die Situation unter Einbeziehung der Mietkosten geradewegs bedrohlich. Wir haben nach Berechnungen des Deutschen Mieterbundes bei den
Niedrigeinkommenshaushalten Belastungen durch die
Warmmiete von insgesamt 50 Prozent. Das heißt, man
gibt die Hälfte seines Einkommens für diesen Bereich
aus. Wenn wir das in die Zukunft projizieren, dann zeigt
das die Dringlichkeit unseres Handelns.
Das hat natürlich Konsequenzen für die Volkswirtschaft und für die öffentlichen Haushalte; Frau Höhn hat
darauf hingewiesen. Bei den angesichts der drohenden
weltwirtschaftlichen Rezession bzw. der Abschwächung
des Wachstums erwartbaren Exportrückgängen fehlt jeder Euro, der für Energieimporte ausgegeben werden
muss, zur Stärkung der Binnennachfrage, die jetzt so
wichtig wäre. Wenn wir auf die öffentlichen Haushalte
schauen, dann sollten wir die Kommunen in den Blick
nehmen: Sie müssen in diesem Jahr voraussichtlich
1 Milliarde Euro mehr für die Kosten der Unterkunft der
Arbeitslosengeld-II-Beziehenden ausgeben - allein wegen der gestiegenen Heizkostenanteile. Das heißt, die
Notwendigkeit des Handelns ist überhaupt nicht abzustreiten.
({1})
Am meisten betroffen sind natürlich Hartz-IV-Beziehende; denn während der Regelsatz von der Großen
Koalition seit seiner Einführung 2005 um insgesamt
ganze 2 Prozent erhöht wurde, sind im gleichen Zeitraum die Preise für Strom allein um 19 Prozent und die
Nahrungsmittelpreise, die mit den Energiepreisen zusammenhängen, um 13 Prozent gestiegen. Herr Duin,
streuen Sie den Leuten doch keinen Sand in die Augen,
indem Sie sagen: Wir werden uns mit dem Regelsatz beschäftigen. Ich bin im Sozialausschuss, und ich höre,
was der Arbeitsminister sagt. Während Sie noch regieren, macht er überhaupt keine Anstalten, am Regelsatz
irgendetwas zu ändern. Das ist die Wahrheit, die man sagen muss. Sie sollten hier keinen Nebel verbreiten.
({2})
Wir wollen die soziale Frage mit der ökologischen
Frage verbinden. Ich kann angesichts der knappen Zeit
hier nur auf den Bereich Stromtarife eingehen; Frau
Höhn hat zum Bereich Wärme schon einiges gesagt. Wir
meinen nicht, dass es eine sinnvolle Lösung ist, Ihrem
simplen Modell - Motto „Freibier für alle“ - zu folgen
und Sozialtarife unbeschränkt um 50 Prozent zu subventionieren. Mir liegen die DDR-Vergleiche mit Ihrer
Fraktion normalerweise überhaupt nicht. Dennoch ziehe
ich einen solchen Vergleich jetzt zum ersten Mal, weil
das wirklich an die Zeiten erinnert, in denen die Raumtemperatur noch über das Fenster reguliert worden ist.
Das kann nicht funktionieren.
({3})
Wir wollen vielmehr einen gestaffelten, einen progressiven Stromtarif. Wir diskutieren das. Wir sind der
Ansicht, dass das auf jeden Fall in die Überlegungen der
Bundesregierung einbezogen werden muss. Wir brauchen Tarifmodelle, wie sie von den Verbraucher- und
Umweltverbänden zur Diskussion gestellt werden: Tarifmodelle ohne Grundgebühren, mit vergünstigten Grundkontingenten und einem progressiven Tarifverlauf. Es
kann nicht sein, dass Mehrverbrauch mit einem niedrigeren Preis belohnt wird, während diejenigen, die geringe
Verbräuche haben, hohe Grundkosten zahlen müssen.
({4})
Wir diskutieren diesen Tarif. Ich würde mir wünschen, dass auch die SPD da weiterkäme. Aber sie tut es
nicht. Herr Kelber - hören Sie einmal zu! Sie sind gleich
dran! Dann können Sie diesen Widerspruch vielleicht erläutern! -, Sie haben in der SPD-Arbeitsgruppe Energie
noch am 24. Januar 2008 ganz dicke Backen gemacht
und vollmundig gesagt: Die Bundesregierung wird aufgefordert, unverzüglich mit der Energieindustrie in Verhandlungen über die Einführung eines Sozialtarifs zu
treten.
({5})
- Das habe ich hier schwarz auf weiß.
Im letzten September gab es einen Zwischenbericht
der Energiearbeitsgruppe der SPD. In dem heißt es: Wir
verzichten jedoch auf sogenannte Sozialtarife für Energie. Wir schlagen daher vor, Geringverdiener durch das
Vorziehen der Wohngeldnovelle zusätzlich zu entlasten. Die dicken Backen sind also zusammengefallen wie
nichts.
Gehen Sie mit uns einen Weg der Energieeinsparung,
der soziale Postulate und ökologische Postulate effektiv
miteinander verbindet, um das absehbar drohende Problem energiepreisbedingter Armut anzugehen.
Vielen Dank.
({6})
Von nahezu allen bisherigen Rednern in dieser Debatte angekündigt, hat nun tatsächlich der Kollege
Kelber für die SPD-Fraktion das Wort.
Dazu muss ich aber sagen: Ich habe dafür nichts bezahlt.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die in den letzten Wochen und Monaten gesunkenen Ölpreise verschaffen den Verbraucherinnen und
Verbrauchern eine Atempause, nicht weniger, aber auch
nicht mehr. Einige nutzen diese Atempause. Die Bestellungen von Heizöl sind in den letzten Wochen massiv
gestiegen. Es gibt schon fast Lieferengpässe. Manche
sind so schlau, sich die Preise garantieren zu lassen. Andere merken, dass es nur für einige und nur für einige
Zeit eine Atempause ist. Noch haben die Nutzerinnen
und Nutzer von Gas keinen Vorteil. Auch bei den Strompreisen hat es keine Erholung gegeben. Das sind zwei
Punkte, wo Politik klar sagen muss: Wer Gaspreise unter Bezug auf die Kopplung an den Ölpreis auf den Weltmärkten erhöht, der muss sie jetzt auch senken.
({1})
Im November stehen die Entscheidungen für die
Phase ab Januar an. Im November müssen die Stadtwerke und die Regionalversorger der Großen die Entscheidung treffen, dass zum 1. Januar, noch mitten in der
Heizperiode, die Preise für Erdgas in Deutschland in
dem Maß sinken, wie das die Ölnotierungen auf den
Märkten hergeben.
Auch beim Strom gilt: Wer Strompreise unter Verweis
auf Öl-, Gas- und Kohlepreise erhöht, muss sie in dem
Augenblick, in dem Öl, Gas und Kohle auf den Weltmärkten billiger werden, ebenfalls senken. Es kann nicht
immer nur in eine Richtung gehen. Ich hoffe, dass das
Kartellamt und die Bundesnetzagentur auch auf diesen
Bereich schauen, um festzustellen, ob es hier Machtmissbrauch gibt.
Eine Atempause zeichnet sich auch dadurch aus, dass
sie zu Ende geht. Das heißt, dass jetzt die Phase ist, Vorsorge für den Fall zu treffen, dass die Preise wieder anziehen. Wir haben es beim Öl nach wie vor mit einem
Verkäufermarkt zu tun. Es sind wenige Regionen. Das
Gleiche gilt beim Gas. Wir haben einen nach wie vor
steigenden Verbrauch bei sinkenden Ressourcen und sinkenden Fördermöglichkeiten. Das heißt, die Preise werden wieder steigen. Deswegen muss die Atempause genutzt werden, um jetzt vorzusorgen.
Es gibt drei Schritte:
Erstens mehr Effizienz, das heißt weniger verbrauchen. Einsparen und Energieproduktivität erhöhen sind
die Möglichkeiten.
Zweitens umstellen auf preisstabile erneuerbare Energien, um als Land, aber auch als einzelne Verbraucherin
bzw. einzelner Verbraucher ein Stückchen Energieautonomie zurückzugewinnen.
Drittens. Wir werden soziale Härten dieses Prozesses
abfedern müssen.
Was nicht funktioniert - das sage ich sowohl in Richtung der linken Seite im Plenum, zur Linkspartei, als
auch in Richtung der rechten Seite im Plenum, zur FDP -,
sind die verschiedenen Vorschläge, gegen steigende
Weltmarktpreise anzusubventionieren. Ich meine sowohl
direkte Überweisungen en masse als auch das Versprechen, beliebige Steuern und Abgaben zu senken, wobei
gleichzeitig behauptet wird, dass man den Haushalt konsolidieren will. Das sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Es sind unrealistische populistische Versprechungen, die nicht funktionieren können. Es ist nicht möglich,
gegen Weltmarktpreise national anzusubventionieren.
({2})
Kommen wir zum ersten Punkt: Erhöhung der Effizienz. Schauen wir uns eine Familie an - zwei Erwachsene, zwei Kinder -, die in einem Einfamilienhaus
wohnt. - Man könnte die gleiche Berechnung für eine
Familie anstellen, die in einer Etagenwohnung lebt. Diese Familie zahlt heute in etwa 3 500 Euro an Energiekosten im Jahr. Dass die Menschen Angst haben,
wenn die Grundpreise jeder dieser Energieeinheiten, die
sie verbrauchen, weiter steigen, kann man sich gut vorstellen. 300 Euro netto pro Monat ist eine Menge Geld
und muss erst einmal aufgebracht werden. Mit den vorhandenen wirtschaftlichen Technologien kann die Familie ihre Energiekosten auf 350 Euro im Jahr, auf ein
Zehntel, reduzieren.
Jetzt ist die entscheidende Frage: Wie geht das? Dazu
sind Investitionen notwendig. Wir sollten einmal über
Investitionen und nicht immer nur über - angebliche Kosten sprechen. Sich lohnende Investitionen sind keine
Kosten, sondern sind ein Gewinn.
Deswegen wird Politik sagen müssen: Im Kampf gegen steigende Energiepreise werden die Bürgerinnen
und Bürger sowie die Unternehmen in diesem Land investieren müssen. Es lohnt sich. Denen, die diese Investition nicht aus eigener Kraft bewältigen können, müssen
wir ganz besonders helfen. Wir brauchen noch gezielter
ausgerichtete Förderprogramme als in der Vergangenheit. Dies ist nicht nur für die Menschen gut, die mit dieser Investition ihre laufenden Kosten senken und sich
gegen künftig steigende Kosten absichern können - Investitionen sind eine Lebensversicherung gegen steigende Energiepreise, seien es Weltmarktpreise oder
überzogene Renditen von Monopolisten oder Oligopolisten im eigenen Land -, sondern auch für das eigene
Land, weil jeder Euro, der nicht für einen Energieträger,
sondern für einen Handwerker, der ein Haus dämmt,
oder für ein neu hergestelltes Gerät, das weniger Energie
braucht, ausgegeben wird, sehr viel mehr neue Jobs als
der Import von Energieträgern schafft.
Diese Investitionen sind auch die beste Rückgabe der
Einnahmen aus den Emissionszertifikaten. Es ist falsch,
über eine direkte Rückgabe oder einen Ökobonus das
Geld zu verjubeln. Wenn man den Menschen hilft, die
richtigen Investitionen zu tätigen, werden sie ab dem
zweiten oder dritten Jahr Kumulationsgewinne, Zinseszinseffekte aus den Investitionen erzielen. Den Bürgerinnen und Bürgern Investitionen in Energieeffizienz zu ermöglichen, ist die beste Rückgabe. Damit wird auch den
Unternehmen geholfen, weil sie mit den besten Produkten und effizientesten Produktionsprozessen auf den
Weltmarkt gehen können. Wir sollten den Schwerpunkt
auf die Investitionen legen; das ist gut für das Land und
gut für die Menschen.
({3})
Ich nenne ein paar Beispiele dafür. Bei den Wohnungen können wir viel erreichen. Die Förderung ist bereits
massiv ausgebaut und muss weiter steigen. Ich halte es
für sehr wichtig, dass beide Koalitionsfraktionen das
klare politische Signal in ihre energiepolitischen Papiere
aufgenommen haben, dass wir das Wohnraumsanierungsprogramm durchfinanzieren. Jede Maßnahme,
die 2008 und 2009 beantragt wird, wird bezuschusst
werden. Beide, CDU/CSU und SPD, wollen dieses Programm bis 2015 mindestens auf dieser Höhe fortsetzen.
Das ist ein klares Signal an den Markt: zum Ersten an
die Verbraucherinnen und Verbraucher, ihre Wohnungen
zu sanieren, zum Zweiten an die Hersteller der entsprechenden Materialien, in neue Fertigungsanlagen zu investieren, damit mehr und preisgünstigere Materialien
vorhanden sind, und zum Dritten an das Handwerk, Mitarbeiter und Auszubildende einzustellen, damit diese
wichtigen Maßnahmen von noch mehr Menschen umgesetzt werden können.
Mit Contracting werden wir dafür sorgen, dass auch
die kleinen Vermieterinnen und Vermieter, die heute den
hohen Aufwand scheuen, die Möglichkeit haben, sich
daran zu beteiligen. Sie werden dann Dritte beauftragen
können, die Maßnahmen für sie durchzuführen.
Natürlich müssen wir auch über Vorschriften sprechen. Es ist richtig, dass wir die Energieeinsparverordnung für Neubauten verschärfen. Aus meiner Sicht sollten wir 2020 bereits beim Passivhausstandard
angekommen sein. Ferner sollten wir in Ruhe noch einmal darüber sprechen, ob wir zusätzlich zu den bestehenden Programmen auch beim Altbaubestand einfordern, dass bestimmte Dinge zum Schutz der Mieterinnen
und Mieter passieren, die nicht der Entscheidung des
Vermieters ausgeliefert bleiben dürfen, ob er ihnen hilft
oder nicht.
({4})
Wir können bei den Geräten vorangehen. Ich bin ein
Anhänger des Top-Runner-Prinzips. Wir haben es noch
als rot-grüne Koalition im Juli 2005 beschlossen, und es
steht im Koalitionsvertrag. In Brüssel fällt im Rahmen
der Öko-Design-Richtlinie der Europäischen Union die
Entscheidung, ob wir zumindest Elemente des Top-Runner-Prinzips dort hineinbekommen. Ich weiß, dass im
Moment die Möglichkeit besteht, zumindest wichtige
Elemente in dieser Richtlinie zu verankern: erstens eine
klare Kennzeichnung, die auf den ersten Blick erkennen
lässt, ob ein Gerät im Betrieb teurer als ein besseres Gerät ist, und zweitens eine dynamische Verbesserung der
Standards, etwa einen Standard A++, damit niemand,
der ein Gerät mit dem Standard A kauft, mehr elektronischen Schrott bekommt. Auch sollten wir uns überlegen,
was wir auf der nationalen Ebene tun können. Wir können kein Top-Runner-Programm eins zu eins umsetzen;
dies tangierte den EU-Binnenmarkt. Aber wir könnten
den Blauen Engel auf den Bereich Energieeffizienz ausweiten; ihn bekämen nur die 10 Prozent energieeffizientesten Geräte einer Kategorie. Dann sähen die Bürgerinnen und Bürger auch in Deutschland auf einen Blick, ob
das Gerät eines der besten ist oder ob es bessere gibt,
nach denen sie sich noch umschauen müssen. So muss
man den Verbraucherinnen und Verbrauchern im Ge19458
schäft helfen, damit sie energieeffiziente Geräte kaufen
können.
({5})
In der Tat müssen manche Menschen, wenn sie ein
Gerät ersetzen oder ein neues beschaffen müssen, sehr
auf den Geldbeutel achten. Für sie besteht im Augenblick des Kaufs eine Investitionshürde, die dazu führt,
dass sie das billigere Gerät selbst dann kaufen, wenn es
nach drei Jahren aufgrund des höheren Stromverbrauchs
im Betrieb teurer ist. Über diese Hürde müssen wir uns
unterhalten. Niemand sollte das Copyright auf einen bestimmten Vorschlag haben. Ich gehöre zu denjenigen,
die befürchten, dass ein reiner Zuschuss etwa über einen
Klimascheck zur Verteuerung dieser Geräte in den Geschäften um genau diesen Zuschussbetrag führen wird.
Aber ich lasse mich gern vom Gegenteil überzeugen.
Eine Alternative sind zinslose Minikredite oder ein
zinsloses Mini-Contracting. Damit wird Geld für die Anschaffung des besseren Gerätes gegeben, das dann aufgrund der eingesparten Stromentgelte zurückgezahlt
werden kann. Der Geldbeutel wird also nicht belastet.
Das würde helfen. Es würde die erreichen, die diese
Hilfe dringend benötigen. Darüber hinaus würde es Mitnahmeeffekte und eine Verteuerung der Geräte in den
Geschäften verhindern.
({6})
Mit Blick auf die intelligenten Stromzähler - wir
haben dafür gesorgt, dass ab 2010 bei einem neuen
Stromzähler ein Rechtsanspruch besteht - hoffe ich, dass
viele der Wettbewerber im Strommarkt dafür sorgen
werden, dass diese schneller auf den Markt kommen.
Kollege Kelber, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Reinke?
Ja, selbstverständlich.
Vielleicht ist Ihnen ja der Regelsatz für Energie für
Hartz-IV-Beziehende bekannt. Es sind 26,24 Euro; aber
darin sind auch Instandhaltung und Wohnen enthalten,
nicht nur die Energiekosten. Ich denke, die Energiekosten, die entstehen, sind weit mehr als doppelt so hoch.
Ich habe jetzt einen Lösungsvorschlag von den Sozialdemokraten erwartet. Uns wurde vorgeworfen, wir würden
uns um die Hartz-IV-Beziehenden kümmern. Leider
müssen wir uns auch um diese kümmern; denn Sie tun es
nicht. Ich erwarte jetzt wirklich einen Vorschlag von Ihnen, wie wir den Menschen helfen können. Das ist nur
über den Sozialtarif möglich. Energieeffizienz und
Kennzeichnungen an Kühlschränken, von denen Sie
sprechen, sind gut und schön; aber diese Menschen haben im Regelsatz gerade einmal 1,40 Euro für die Ansparung einer neuen Waschmaschine. Das heißt, sie
brauchen neun Jahre für die Ansparung. Ich warte auf
Vorschläge, mit denen den Menschen schnell geholfen
werden kann, damit sie nicht vom Zugang zu Energie
ausgeschlossen werden und nicht im Dunkeln sitzen
müssen.
Danke schön.
({0})
Wenn Sie den dritten Teil meiner Rede abgewartet
hätten, hätten Sie die Antwort bekommen. Meine Rede
ist in drei Teile gegliedert: mehr Effizienz, erneuerbare
Energien und die Abfederung sozialer Härten. Aber
ich ziehe den dritten Punkt für Sie gerne vor.
({0})
Dazu zwei Punkte. Erstens. Zum einen muss genau
betrachtet werden, wie jemand eine bestimmte Investition tätigen kann. Dass man sich mit den bisherigen Regelsätzen für die Ansparung, vor allem, wenn man das
Pech hat, dass ein Gerät zu Beginn der Ansparungszeit
kaputtgeht, kein energieeffizientes Haushaltsgerät leisten kann, ist offensichtlich. Deswegen muss auf der
Grundlage des Existenzminimumsberichts ganz genau
geklärt werden: Wie hoch ist die Kilowattstundenzahl eines ALG-II-Empfänger-Haushalts, und wie groß muss
bei den heutigen Marktpreisen dafür der Anteil in der
Pauschale sein? Ich glaube, er wird deutlich höher als
heute liegen. Zum anderen müssen wir uns darüber unterhalten, wie solche Investitionen getätigt werden können. Müssen wir Einmalleistungen einführen, oder ist so
etwas wie ein zinsloses Mini-Contracting sinnvoll, wobei zum Beispiel die Stadtwerke das Gerät stellen und
eine Verrechnung über die Einsparungen im Laufe der
zehn oder zwölf Jahre, die das Gerät benötigt wird, erfolgt? Auch das könnte funktionieren. Ich glaube, es ist
besser, sich darüber zu unterhalten, als das Geld sofort
zu verteilen, nicht wissend, was damit eigentlich passiert.
({1})
Der zweite Punkt. Sie können diesen Haushalten auch
- ich bin Ihnen, Herr Hill, sehr dankbar, dass Sie das
vorhin angesprochen haben - mit einer gezielten Energieberatung helfen. Das haben wir übrigens in meiner
Heimatstadt Bonn in den Stadtwerken auf meinen Antrag hin getan. Die örtliche Linkspartei hat dies abgelehnt mit der Begründung, es sei eine Verhöhnung der
Menschen, wenn wir ihnen eine kostenlose Energieberatung mit einem Energiestarterpaket anböten. Ich glaube,
wir sollten da den Populismus und die Hetze ablegen.
Denn diese Menschen und alle Menschen in diesem
Land brauchen mehrere Ansätze, um mit den Energiepreisen klarzukommen. Es darf nicht der Einzelne diskreditiert werden, nur weil es gerade in die parteipolitische Linie passt. - Vielen Dank.
({2})
Der zweite Bereich, mit dem ich mich in meiner Rede
befassen will, sind die erneuerbaren Energien. Sie sind
preisstabiler - ich lasse jetzt bei den Bioenergien bestimmte Dinge außen vor -, und sie werden im Verhältnis bereits jetzt jedes Jahr preisgünstiger. Zu bestimmten
Zeiten stabilisieren sie bereits die Märkte an der Börse.
Vielleicht ein kleiner Einschub, Frau Kopp von der
FDP; denn Sie haben davon gesprochen, dass die Scheuklappen abgelegt werden müssten, und Sie haben den
Begriff „Stromlücke“ verwendet. Ich gestehe dem Begriff „Stromlücke“ zu, dass er PR-technisch hervorragend ausgedacht ist. Aber ich nenne Ihnen jetzt sieben
Studien zu diesem Thema und bitte Sie, eine davon zu
lesen. Das sind zunächst die drei Studien aus dem Energiegipfel bei Angela Merkel. Sie tragen die Unterschrift
von Angela Merkel, Michael Glos und Sigmar Gabriel.
Alle drei Studien ergeben, dass es keine Stromlücke gibt.
Dann gibt es die Studie von dena, bei der sich Herr
Kohler, der Chef der dena, dagegen verwahrt, dass diese
Studie in dem Sinne herangezogen wird, er hätte eine
Stromlücke festgestellt. Ferner gibt es die Studie des
Bundeswirtschaftsministers aus diesem Jahr, aus der klar
hervorgeht, dass es keine Stromlücke gibt. Die Studie
des Umweltbundesamtes bringt ebenfalls zum Ausdruck, dass es keine Stromlücke gibt. Frau Kopp und
Herr Pfeiffer, den Jahresbericht der Bundesnetzagentur
hätten Sie vor unserem Treffen vor ein paar Wochen lesen müssen. Auch in diesem steht, dass es keine Stromlücke gibt. Sie hätten sich doch auf die Sitzung vorbereiten und das lesen müssen. Dann hätten Sie nicht wieder
das Gegenteil behauptet. Ich erwarte, dass Sie das wenigstens lesen, bevor Sie sagen, dass Sie keine ideologischen Debatten wollen.
({3})
Wir müssen die erneuerbaren Energien noch verstärkter einführen. Wir haben einen sehr großen Erfolg im
Bereich Strom zu verzeichnen: 14,2 Prozent. Im vergangenen Jahr sind fast drei Prozentpunkte hinzugekommen. Wenn übrigens die Geschwindigkeit des letzten
Jahres eingehalten würde, dann hätten wir im Jahr 2010
eine so große Strommenge aus erneuerbaren Energien,
wie es die zuvor zitierte Studie des Wirtschaftsministers
für das Jahr 2020 einschätzt und zudem davon spricht,
dass es keine Stromlücke gibt. Wir haben dann aber immer noch zehn Jahre der Einführung vor uns, in denen
wir einen Anteil erneuerbarer Energien von 30 Prozent,
40 Prozent bzw. 45 Prozent erreichen können.
Nicht so gut sind wir im Bereich Wärme; nicht so gut
sind wir im Bereich der Kraftstoffe. In diesem Bereich
müssen wir noch einiges tun, um es allen Menschen zu
ermöglichen, zu investieren. Ich finde es gut, dass wir im
Bereich des Erneuerbare-Energien-Wärmegesetzes so
weit gekommen sind, dass wir zwar nur für die Altbauten Vorschriften gemacht haben, für Neubauten aber eine
starke Förderung von 500 Millionen Euro pro Jahr bis
zum Jahr 2012 festgelegt haben. Die energiepolitischen
Papiere sagen, dass diese Programme bis mindestens
2015 so weiterlaufen sollen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Pfeiffer? Herr Kollege Hill hat sich außerdem gemeldet.
({0})
Sowohl Koalition als auch Opposition sind herzlich
willkommen.
Dann hat zunächst Herr Kollege Dr. Pfeiffer das Wort.
Lieber Herr Kelber, ich bin etwas erstaunt über Ihre
Zitierung der Gutachten. Sie haben beispielsweise Herrn
Kohler zitiert. Ich bin Vorsitzender des Beirates für Energie der Gesellschaft zum Studium strukturpolitischer
Fragen, Frau Kollegin Kopp ist dort stellvertretende Vorsitzende. Wir hatten kürzlich Herrn Kohler zu diesem
Thema zu Gast, der uns anhand eines Power-Point-Vortrages basierend auf dieser Studie dargelegt hat, dass es
eine Stromlücke geben wird, wenn wir die Dinge nicht
ändern.
Insofern bin ich etwas verwirrt über diese Aussage.
Meine Informationen sind in der Tat differenzierter. Ich
glaube, da müssen wir ein bisschen nacharbeiten. Ich
weiß nicht, ob Sie Herrn Kohler richtig zitieren.
({0})
Herr Pfeiffer, zwei Dinge: Erstens möchte ich allen
Zuhörerinnen und Zuhörern empfehlen, eine Website
aufzurufen, auf der etwas über die Gesellschaft nachzulesen ist, in deren Beirat Sie sind. Dann werden sie sehen, dass sie nicht so ganz pluralistisch aufgestellt ist
und nicht die ganze Bandbreite der Diskussion abgedeckt wird.
Zweitens zurück zu den Themen Herr Kohler, dena
und Studie. Wenn Sie die Begriffe „Kohler“, „Stromlücke“ und „dena“ bei Google oder bei einer anderen
Suchmaschine eingeben, dann werden Sie die Stellen
sehr schnell finden. Herr Kohler hat ganz klar gesagt:
Daraus eine Stromlücke per se abzuleiten, ist falsch. Er
hat gesagt: Es gibt dann eine Stromlücke, wenn wir
keine neuen Kraftwerke mehr in diesem Land bauen.
({0})
Das ist eine Binsenweisheit.
({1})
Wenn in den nächsten zwölf Jahren kein abgeschaltetes Kraftwerk durch ein neues ersetzt wird, dann entsteht
ein Defizit. Frau Kopp hingegen hat versucht, zu erzählen: Wenn keine Atomkraftwerke mehr weiterbetrieben
werden, dann entsteht eine Stromlücke. Herr Kohler sagt
hierzu, dass dies eindeutig falsch ist.
({2})
Er weist in der Studie nach: Atomausstieg plus Neubau
von ausfallenden Kraftwerken gewährt einen vollen Ersatz. Es gibt keine Stromlücke. Wir können ihn gern zur
nächsten Sitzung des Umwelt- oder des Wirtschaftsausschusses einladen. Dann wird er Ihnen sagen, dass genau
das darin steht.
Jetzt stellt Herr Kollege Hill seine Frage. Ich mache
darauf aufmerksam, dass ich ab jetzt so verfahren werde,
wie es der Präsident bereits beim ersten Tagesordnungspunkt getan hat, dass ich restriktiv bei denjenigen das
Fragerecht ein Stück weit einschränken werde, die schon
geredet und sich in die Debatte eingemischt haben.
Hierzu haben wir heute Morgen eine Verabredung getroffen.
Herr Kelber, ich erwarte von Ihnen eine Aussage zu
einem Artikel, den ich heute in der Saarbrücker Zeitung
gelesen habe. Dort wird berichtet, Mieter sollen Heizkosten kürzen dürfen. Dabei geht Herr Gabriel mit seinem Kollegen Glos ein bisschen strenger ins Gericht.
Wenn ich diese Forderung als Überschrift lese - ich gehe
davon aus, dass dies zitatfähig ist -, dann stellt sich für
mich die Frage, ob vor der Heizperiode damit zu rechnen
ist.
Da die Saarbrücker Zeitung leider, obwohl meine
Frau in dieser Stadt geboren worden ist, nicht zu meiner
täglichen Lektüre gehört, kenne ich den Artikel nicht
exakt. Aber das, was Sie zitieren, hat Sigmar Gabriel
nicht das erste Mal gesagt. Übrigens, auch ich habe mich
mehrfach dafür ausgesprochen. Deswegen habe ich gerade gesagt: Wir sollten darüber gemeinsam diskutieren.
Ich bin der Meinung, dass auch für den Altbaubestand eine Energieeinsparverordnung gelten muss. Wir
haben ja heute bereits zwei Vorschriften: Die oberste Geschossfläche muss gedämmt werden, und bestimmte alte
Heizungssysteme müssen ausgetauscht werden. Ich bin
der Meinung, dass wir Stück für Stück - aber nie so wie
beim Neubau - zusätzliche Vorschriften einführen müssen. Für den Fall, dass Vermieterinnen und Vermieter
trotz aller Förderung diesen Vorschriften nicht nachkommen, bin ich der Meinung, dass die Mieterinnen und
Mieter ihre Heizkosten auf das maximale Niveau, das
bei Einhaltung der Vorschriften bestünde, kappen können. Dafür setze ich mich ein - sowohl innerhalb der eigenen Partei, in der es sehr viele gibt, die das unterstützen, als auch innerhalb der Koalition, wobei vom
Koalitionspartner schon angekündigt wurde, dies nicht
mitzutragen. Sie kennen das ja aus Koalitionen, in denen
Sie beteiligt sind - sei es in Berlin mit der SPD, sei es in
anderen ostdeutschen Städten mit der CDU -: Auch dort
dürfen Sie nicht all das, was Sie sich vorgenommen haben, in den Stadtrat einbringen.
Ich hatte schon davon gesprochen, dass soziale Härten abgefedert werden müssen. Ein Beispiel ist erwähnt
worden: das Wohngeld. 800 000 Haushalte werden davon profitieren, dass in diese Pauschale ein Heizkostenelement eingerechnet worden ist; Herr Obermeier hat
schon darauf hingewiesen, um wie viel die entsprechenden Zahlen steigen. Das ist ein hoher Anstieg für den
durchschnittlichen Haushalt. Dieses Geld wird Anfang
des Jahres 2009 fließen. Genau dann, wenn aufgrund der
im Vergleich zu den vorherigen Wintern deutlich gestiegenen Heizkosten eine hohe Nachforderung auf viele
Mieterinnen- und Mieterhaushalte zukommt, aber auch
viele höhere Nachzahlungen von ihrem Gasversorger für
die Heizung in ihrem Einfamilienhaus erhalten werden,
werden 800 000 Haushalte zusätzliches Geld in der
Hand haben, um diese Nachforderung zu bezahlen.
Wir werden die Mobilität sichern müssen. Deswegen
muss der Bund zusammen mit den Ländern und Kommunen den ÖPNV-Ausbau angehen. Wer sich die Situation in den Kommunen anschaut, weiß: Der ÖPNV ist in
den letzten Jahren nicht zurückgebaut worden, aber die
Defizite sind verringert worden. Aus dieser Kraft heraus,
dass der ÖPNV eine wesentlich bessere Deckung seiner
Ausgaben über seine Einnahmen erzielt, muss es jetzt
ein Ausbauprogramm geben.
Als letzten Punkt spreche ich die Effizienztarife an.
Ich danke dem Kollegen von den Grünen, dass er noch
einmal darauf verwiesen hat, dass die SPD in 2007 und
2008 die erste Partei war, die darüber gesprochen hat.
Aber es ging nie um einen Sozialtarif; es ging immer um
einen sozialen Effizienztarif. Wir haben heute in
Deutschland die Situation, dass die Kilowattstunde
Strom umso teurer ist, umso weniger ich verbrauche.
Das muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden - sei
es freiwillig, sei es gesetzlich.
Sozialtarife sind falsch. Wir haben nichts zu verschenken, auch nicht Strom. Aber wir müssen die Dinge
so gestalten, dass wir erstens einen fairen Wettbewerb
haben. Das fehlt mir manchmal. Ich möchte nicht, dass
die Stadtwerke gezwungen sind, soziale Effizienztarife
anzubieten, und die Eon-Tochter die lukrativen Kunden
übernehmen kann. Dies muss zweitens natürlich pro
Kopf ausgestaltet sein; denn ich will keine Bevorteilung
des Singles gegenüber der Familie. Das kann man tun,
ohne bürokratische Hürden aufzurichten. Dann haben
wir etwas erreicht, was allen hilft. Wir haben die Chance
der Atempause genutzt, indem wir uns auf in Zukunft
wieder steigende Energiepreise vorbereitet haben.
Vielen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Kopp das
Wort.
Vielen Dank. - Herr Kollege Kelber, wir sollten uns
nicht gegenseitig vorwerfen, bestimmte Gutachten gelesen oder nicht gelesen zu haben. Ich glaube, das ist unter
Niveau.
({0})
Ich danke dem Kollegen Pfeiffer sehr herzlich für die
Richtigstellung. Ich habe die Ausführungen von Herrn
Kohler zu seinem Gutachten, das übrigens von der Bundesregierung bei ihm in Auftrag gegeben wurde,
({1})
zweimal gehört. Er hat gesagt: Wenn es dabei bleibt,
dass der Ausstieg aus der Kernenergie vollzogen wird,
und wenn wir beim Neubau von konventionellen Kraftwerken nicht nennenswert weiterkommen - er hat nicht
gesagt: „wenn keine weiteren neuen gebaut werden“,
sondern: „wenn keine neuen Kohlekraftwerke gebaut
werden, wie es eigentlich nötig wäre; leider sind es meist
Kohlekraftwerke, aber so ist es“ - und wenn wir beim
Netzausbau nicht vorankommen, dann haben wir ein
Problem, und dann ist die Stromlücke eine reale Gefahr,
die wir sehen müssen. Da hat es überhaupt keinen
Zweck, das vertuschen zu wollen.
Sie haben zwar eben etwas differenzierter in Ihrer
Antwort auf eine Nachfrage argumentiert. Aber ich bitte
Sie wirklich, mit solcherlei Totschlagargumenten wie
„nicht gelesen“, „nicht zur Kenntnis genommen“ vorsichtiger zu sein. Die Fakten sind andere. Die werden Sie
auch durch Verdrängung nicht umdrehen. Ich bitte Sie,
das einfach zur Kenntnis zu nehmen.
({2})
Kollege Kelber, Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Sie haben mehrere Sachen miteinander vermischt.
({0})
Das eine war die Aussage, dass Sie als Mitglied des Beirats der Bundesnetzagentur eigentlich die Pflicht gehabt
hätten, den Entwurf des Jahresberichts der Bundesnetzagentur zu lesen, in dem steht: Die Versorgung in Deutschland ist gesichert.
({1})
Die Bundesnetzagentur ist die staatliche Einrichtung.
Die andere ist die Deutsche Energie-Agentur. Sie wissen, dass die dena-Studie nicht von der Bundesregierung
in Auftrag gegeben wurde, sondern von anderen. Herr
Kohler hat auf Nachfrage mehrfach gesagt: Deutschland
kann die Versorgung mit einem Ausstieg aus der Atomenergie dann sicherstellen, wenn es nicht einen organisierten politischen Widerstand gegen den Neubau der
damit verbundenen Ersatzkraftwerke für ausscheidende
Kohlekraftwerke gibt. Er hat nicht gesagt - das ist ein
ganz wichtiger Punkt -, dass es Ersatzkohlekraftwerke
für ausscheidende Atomkraftwerke geben muss, sondern, dass die ausscheidenden Kohlekraftwerke ersetzt
werden müssen, sei es durch Kohle-, sei es durch Gaskraftwerke.
({2})
In diesem Abschnitt des Gutachtens steht ganz klar:
Wenn man beides macht, die Atomkraftwerke abschaltet
und alle fossilen Kraftwerke, die ausscheiden, nicht ersetzt, dann sieht er keine gesicherte Versorgung,
({3})
und damit ist er auf der Linie der SPD-Bundestagsfraktion.
Sie können nicht erst über Atomenergie sprechen - danach setzen Sie vielleicht für sich ein geistiges Komma und anschließend über eine Stromlücke, womit Sie beides
in einen Zusammenhang stellen.
({4})
Dieser Zusammenhang ist falsch. Das ist unfair. Die
Aussage von Herrn Kohler, die Sie zitiert haben, haben
Sie entweder nicht richtig verstanden oder hier unrichtig
dargestellt.
({5})
Nun hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die
Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wird
Sie vielleicht überraschen, wenn ich einleitend sage: Die
Kollegin Höhn hat recht mit ihrer Problembeschreibung,
dass wir mittlerweile bis in die Mittelschicht hinein ein
Einkommensproblem haben. Deshalb sagen wir: Im
Zentrum unserer Politik muss die Frage stehen, wie die
Leute in diesem Land wieder zu einem höheren Nettoeinkommen kommen.
({0})
Meine Damen und Herren von der Linken, dieses Problem kann man nicht durch billigen oder, wie ein Kollege gesagt hat, „aufgewärmten“ Populismus lösen. Der
Kollege Pfeiffer hat das anschaulich mit dem Satz „Freibier für alle!“ beschrieben. Wenn es das wenigstens
wäre, hätte ich als Bayer eine gewisse Sympathie dafür.
Sie sagen aber nur: Freibier für unsere Klientel!
({1})
Das ist die Problematik, über die wir hier reden. Sozialtarife beim Strom; warum nicht auch Sozialtarife für den
täglichen Bedarf? Das ist heute schon gefragt worden.
Ich kann die Frage beantworten: Weil Sie den Sozialismus im Hinterkopf haben, weil Sie staatliche Preisfestsetzungen in den Bereichen Strom, Arbeit - Stichwort
Mindestlohn - usw. wollen und weil Sie natürlich die
Verstaatlichung der Energieversorger im Kopf haben.
({2})
Auch deshalb kommen solche Anträge zustande.
({3})
Das ist falsch. Das ist der falsche Weg. Wir gehen einen
anderen. Ich bin davon überzeugt, dass er besser ist. Wir
setzen auf mehr Wettbewerb und mehr Dynamik.
Stichwort Sozialpolitik. Der Kollege Obermeier hat
gesagt: Der soziale Ausgleich erfolgt in diesem Land
über Sozialtransfers, über das Steuersystem, nicht über
einzelne Güter. Ich möchte hinzufügen: Der soziale Ausgleich erfolgt über den Staat, nicht über die Unternehmen. Ich sage auch, warum Sie etwas anderes fordern:
Sie wissen, dass unser Haushalt mittlerweile zu 50 Prozent aus einem Sozialhaushalt besteht. Da gibt es natürlich keine zusätzlichen Spielräume. Also müssen Sie
sich für Ihre Klientel etwas Neues einfallen lassen, möglichst etwas, was man nicht sieht, was man vertuschen
kann, weil die Übersichtlichkeit fehlt. Da fallen Ihnen
halt solche Dinge ein.
({4})
Ich stelle Ihnen die Frage: Wo bleiben die Bürger, die
mit harter Arbeit jeden Tag das Überleben ihrer Familie
sichern? Wo bleiben die?
({5})
Herr Hill, da Sie sich hier so lautstark zu Wort melden: Ich habe Ihren Vorschlag vernommen. Sie fordern
Energieschecks und damit einen neuen Fernseher für
die, die nicht arbeiten; die, die arbeiten, brauchen keinen, weil sie keine Zeit zum Schauen haben.
({6})
- Sie haben doch einen neuen Fernseher gefordert.
({7})
- Sie haben das vorhin gesagt. - Auch beim Thema Umverteilung haben Sie ein Rezept. Sie schreiben in Ihrem
Antrag: Diese Umverteilung findet zulasten der Gewinne der Energieversorger statt. - Wenn Sie es realistisch betrachten, würde die Umsetzung dieses Vorschlags eine Umverteilung zulasten derjenigen bedeuten,
die nicht begünstigt sind, die keine Sozialtarife bekommen und als Verbraucher wieder einmal die Zeche zahlen.
({8})
Der Kollege Kurth von den Grünen sagt, dass die
Grünen die soziale Frage mit der ökologischen verbinden wollen. Das haben sie schon einmal im negativen
Sinne getan. Damals, als der Benzinpreis noch relativ
niedrig war, haben Sie gefordert, dass der Staat ihn auf
5 DM heraufsetzen solle. Daran sieht man, was Sie unter
der sozialen Frage verstehen und was Sie mit dieser Verknüpfung meinen.
({9})
- Sie sprechen die Mehrwertsteuer an. Ein Strompreistreiber ist natürlich auch in einem nicht zu unterschätzenden Umfang mit 40 Prozent der Staat. Aber wer Senkungen fordert, der muss natürlich auch sagen, wo denn
die Einsparungen stattfinden sollen. Von den Linken
habe ich, seit sie wieder im Bundestag sitzen, von Einsparungen nie etwas gehört, sondern nur zur Frage, wo
es noch Möglichkeiten gibt, Geld auszugeben.
({10})
Wenn man über das Thema Strompreistreiber redet,
muss man aus meiner Sicht auch dringend über das
Thema Emissionshandel sprechen. Wenn wir hier etwas
falsch machen, dann kann das eine gigantische Deindustrialisierungsstrategie für Deutschland bedeuten.
({11})
Ich kann jedem nur sagen: Wir müssen genau hinschauen, was da letztlich abläuft. Wir können doch nicht
die energieintensiven Branchen einfach so zusätzlich belasten und glauben, wir würden einen Beitrag zum Klimaschutz dadurch leisten, dass man diese Branchen aus
der Europäischen Union treibt.
Was mich an dieser Stelle auch wurmt, ist die Industriepolitik, die in Europa betrieben wird. Die Franzosen
lehnen sich zurück und sagen: 80 Prozent unseres
Strombedarfs decken wir mit Kernenergie. Die Deutschen sollen einmal sehen, wie sie mit dem Emissionshandel klarkommen und wie sie ihre Emissionen zurückfahren. - Gleichzeitig werden in Frankreich zum
Beispiel die Chemieunternehmen durch einen Staatskonzern - die Liberalisierung ist da nicht angekommen - mit
billigem Strom subventioniert. Über diese Dinge müssen
wir reden. Ich bin dem Bundeswirtschaftsminister dankbar, dass er das auch offen und klar tut.
({12})
- Lieber Herr Kollege, wenn das der Herr Bundesumweltminister auch macht, dann ist das eine feine Sache;
denn dann haben wir die doppelte Durchschlagskraft und
können zeigen, wie handlungsfähig die Große Koalition
an dieser Stelle ist. Ich hoffe nur, dass er das tatsächlich
tut.
Lassen Sie mich kurz etwas zum Energiemix sagen.
Ich glaube nicht, dass dann, wenn man eine Energieform, mit der billig produziert wird, aus unserem
Energiemix herausnimmt und durch eine offenkundig
teurere ersetzt, in diesem Land die Energiepreise sinken
werden. Diese Rechnung muss mir erst einmal irgendjemand hier erklären. Ich habe vorhin erst wieder gehört,
die Atomenergie sei wie ein Flieger ohne Landebahn,
weil wir noch kein Endlager hätten. Dazu muss ich sagen: Die Große Koalition hat in der Tat keinen Beitrag
dazu geleistet, dass wir an dieser Stelle vorankommen.
Das liegt nicht an der Union.
({13})
Ich sage aus meiner Sicht ganz klar: Wir müssen das
Moratorium für Gorleben aufheben, weil uns niemand
glaubt, dass wir uns ernsthaft mit diesem Thema beschäftigen, wenn man gleichzeitig ein Moratorium aufrechterhält.
({14})
Was aus meiner Sicht auch entscheidend ist, ist, dass
wir bei alledem, was wir energiepolitisch machen,
schauen müssen, dass die Wertschöpfung in unserem
Land bleibt. Das gilt für die erneuerbaren Energien. Das
gilt aber ganz genauso auch für die Energieversorgung.
Ich möchte, dass bei uns Kraftwerke gebaut und bei uns
betrieben werden, dass hier Arbeitsplätze entstehen und
dass wir unabhängig und sicher Energie produzieren
können. Das muss gerade auch in einer Finanzkrise, in
der man wieder einmal merkt, wie wichtig und wie zentral der Schirm der Nation ist, ein Anliegen sein.
Vielen herzlichen Dank.
({15})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kollege Andreas Lämmel für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Abschließend bleibt festzuhalten, Herr Hill: Der Antrag der
Linken ist einfach scheinheilig. Ich will Ihnen das ganz
klar nachweisen.
({0})
Wir wollen kein VEB Energiekombinat mehr; Herr Hill,
das wollen Sie ja wieder einführen. Denn die Lasten des
VEB Energiekombinats müssen wir noch heute abbezahlen. Sie wissen, die ökologische Sanierung der alten
Braunkohletagebau- und Kraftwerkslandschaften in
Ostdeutschland hat den Steuerzahler in Deutschland
Milliarden gekostet.
({1})
Das müssen Sie bei dieser Politik zu einem Energiekombinat hin berücksichtigen.
Sie wollen nun einen Sozialtarif einführen, erklären
aber den Verbrauchern nicht, woher die hohen Strompreise zum großen Teil kommen. 40 Prozent - Kollege
Nüßlein hat es gesagt - sind staatlich verursacht. Sie haben da überall mitgemacht. Sie haben überall zugestimmt, zum Beispiel beim Erneuerbare-Energien-Gesetz.
({2})
- Ich habe nicht zugestimmt; tut mir leid.
Nun sagen Sie den Verbrauchern auch ganz deutlich,
Herr Hill, dass das Milliarden kostet.
({3})
Das kostet in den nächsten Jahren regelmäßig Milliarden
zusätzlich auf den Strompreis.
({4})
Herr Hill, Sie kämpfen vor Ort gegen den Energiemix in Deutschland. Sie kämpfen gegen die Braunkohle,
obwohl Sie ganz genau wissen, dass die Braunkohle der
einzige subventionsfreie Energieträger in Deutschland
ist.
({5})
Sie kämpfen gegen die Steinkohle. 25 Prozent des Stroms
in Deutschland kommen aus der Steinkohle; 25 Prozent
kommen aus der Braunkohle. Wenn Sie das alles bekämpfen, müssen Sie dazu sagen, woher der Strom kommen soll.
({6})
Sie kämpfen gegen den Atomstrom.
({7})
Auch das sind 25 Prozent. Herr Hill, insgesamt bekämpfen Sie 75 Prozent der deutschen Stromproduktion. Sagen Sie doch bitte schön, woher dann bezahlbarer Strom
kommen soll.
({8})
Sie kämpfen gegen Freileitungen. Sie wollen den
Großteil der Kabel in die Erde vergraben. Das kostet
Geld und würde den Strompreis belasten. Kollege
Nüßlein hat zur Versteigerung der CO2-Zertifikate gesprochen. Auch das wird nach Ansicht aller Experten zu
einem weiteren Schub bei den Preisen führen. Über all
diese Maßnahmen diskutieren Sie nicht mit den Verbrauchern. Das ist scheinheilig und kann einfach nicht die
Politik sein, die Unterstützung findet.
({9})
Jetzt noch zu dem Thema, wie wir weiterhin bezahlbare Strompreise ermöglichen können. Ich plädiere weiterhin für eine Verlängerung der Restlaufzeiten. Denn
aus der gewonnenen Strommenge, die durch die Verlängerung entstehen würde, könnte man einen Fonds bilden,
aus dem Energieeffizienzmaßnahmen oder andere Maßnahmen, die verschiedentlich vorgeschlagen worden
sind, finanziert werden.
({10})
Der Strom, der aus einer Verlängerung der Restlaufzeiten der Atomkraftwerke resultieren würde, ist der
preiswerteste, der im Moment in Deutschland hergestellt
werden kann.
({11})
Wir müssten doch verrückt sein, wenn wir uns diese
Quelle - vorausgesetzt natürlich, die Sicherheit der
Kraftwerke ist gegeben - abschneiden würden.
({12})
Noch zwei Argumente, Herr Hill, die zeigen, dass Sie
Nebelkerzen werfen, dass Sie den Leuten die Augen verkleistern wollen. Zum Thema Energieberatung: Wenn
Sie einen Blick in den Haushaltsplan 2009 des Wirtschaftsministeriums werfen, sehen Sie, dass die Bereiche
Energieberatung und Energieeffizienz doppelt so hoch
ausgestattet sind wie im letzten Jahr. Das hätte Ihnen
auffallen müssen. Damit werden zum Beispiel Energieberatungen bei den Verbraucherzentralen finanziert. Das
heißt, wer Energieberatung wünscht, kann überall flächendeckend in Deutschland Energieberatung bekommen. Er bekommt, mit staatlichen Mitteln unterstützt,
eine Beratung vor Ort geboten.
Kollege Lämmel, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Bulling-Schröter?
Bitte.
Danke schön, Kollege Lämmel. Sie haben uns unterstellt, dass wir die Strom- und Energiepreise erhöhen
wollen. Jetzt würde ich Sie gerne fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass für die Energieunternehmen von 2008 bis
2012 durch die Nichtversteigerung von 90 Prozent der
Zertifikate ein Sonderprofit in Höhe von 35 Milliarden
Euro entsteht. Das ist keine Berechnung der Linken, sondern eine des Öko-Instituts, das ja nicht in der Gefahr
steht, so sehr links zu sein.
({0})
- Darüber können wir später diskutieren.
Meine zweite Frage an Sie ist: Kennen Sie den Bericht des Öko-Instituts zum EU-Emissionshandel? Sie
haben vorhin gesagt: Wenn es nicht weiterhin kostenlose
Zertifikate gibt, dann wird die Industrie wegbrechen; das
hat auch Ihr Vorredner gesagt.
({1})
Hierzu gibt es eine Studie, in der man zu dem Ergebnis
gekommen ist, dass die Kostensteigerung in diesem Bereich 1 Prozent beträgt. Diese vom WWF in Auftrag gegebene Studie ist sehr neu. Ich würde Ihnen empfehlen,
sie einmal zu lesen.
Ja. Vielleicht schicken Sie mir einmal ein Exemplar
vorbei. Ich habe sie nämlich noch nicht gelesen.
({0})
Trotzdem bleibt es dabei: Eine 100-prozentige Versteigerung ab 2013, wie sie jetzt angelegt ist, wird zu einem großen Strompreisschub führen;
({1})
das ist unbestritten.
({2})
Zur ersten Frage, die Sie gestellt haben: Kein Redner
der Union hat gesagt, dass die unentgeltliche Zuteilung
von Zertifikaten fortgeführt werden soll. Es ist ein großes Ärgernis, dass die Energiekonzerne die unentgeltlich
ausgeteilten Zertifikate in den Strompreis eingepreist haben. Was das angeht, sind wir nicht unterschiedlicher
Meinung.
({3})
- Dass Sie immer wieder Ideen haben, wie der Staat höhere Steuereinnahmen erzielen kann, wissen wir; das ist
uns klar. Ihre Anträge werden aber nicht besser, wenn
Sie Ihre Forderungen ständig wiederholen.
Ich möchte noch ganz kurz auf Folgendes hinweisen:
Wenn Sie sich den Haushaltsplan ansehen, stellen Sie
fest, dass die Mittel für die Energieforschung in allen
betreffenden Haushalten, im Umweltministerium, im
Wissenschaftsministerium und im Wirtschaftsministerium, enorm erhöht worden sind. Auch die Mittel für
Energieeffizienz in der Wirtschaft sind enorm erhöht
worden. Der Staat stellt für alle Bereiche der Energieeinsparung sehr viel Steuergeld zur Verfügung,
({4})
um auf diesem Gebiet in Deutschland voranzukommen.
({5})
Ich komme zum Schluss. Sie betreiben Vernebelungspolitik. Auf der einen Seite jammern Sie.
({6})
Auf der anderen Seite sagen Sie aber nicht, dass Sie den
Maßnahmen, die letztlich bedauerlicherweise zu hohen
Energiekosten geführt haben, selbst zugestimmt haben.
Herr Hill, ich kann nur das wiederholen, was meine Kollegen bereits gesagt haben: Familien mit Kindern, deren
Haushaltseinkommen nur knapp über der Grenze der Sozialhilfe liegt, haben Sie in Ihrem Antrag überhaupt
nicht berücksichtigt;
({7})
diesen Familien fällt es noch viel schwerer, diese hohen
Kosten zu tragen. Daher können wir Ihrem Antrag nicht
zustimmen.
Danke schön.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/10510 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Die Vorlage auf Drucksache 16/10585 soll ebenfalls
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
überwiesen werden, jedoch ist die Federführung strittig.
Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen
Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Tech-
nologie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht
Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das heißt Federfüh-
rung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Re-
aktorsicherheit, abstimmen. Wer stimmt für diesen Über-
weisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Dann ist der Überweisungsvorschlag
gegen die Stimmen der Antragsteller abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, das heißt Feder-
führung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technolo-
gie, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungs-
vorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist der
Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen von den übrigen Fraktionen an-
genommen.
lch rufe die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 l sowie
die Zusatzpunkte 4 a bis 4 h auf:
39 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Autobahnmautgesetzes für
schwere Nutzfahrzeuge
- Drucksache 16/10388 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Abkommen vom 26. Mai 2006 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Sonderverwaltungsregion
Hongkong der Volksrepublik China über die
gegenseitige Rechtshilfe in Strafsachen und
über die Überstellung flüchtiger Straftäter
- Drucksache 16/10390 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher
Vorschriften ({2})
- Drucksache 16/10493 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 26. Februar 2008 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und der Republik
Polen über den Bau und die Instandhaltung
von Grenzbrücken in der Bundesrepublik
Deutschland im Zuge von Schienenwegen des
Bundes, in der Republik Polen im Zuge von
Eisenbahnstrecken mit staatlicher Bedeutung
- Drucksache 16/10533 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Straßenverkehrsgesetzes und zur Än-
derung des Gesetzes zur Änderung der
Anlagen 1 und 3 des ATP-Übereinkommens
- Drucksachen 16/10534, 16/10583 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 28. April und 5. Mai 2008 des
Übereinkommens über den Internationalen
Währungsfonds ({4})
- Drucksache 16/10535 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Beteiligungsrichtlinie
- Drucksache 16/10536 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Rechtsausschuss
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den
Zugang zu digitalen Geodaten ({6})
- Drucksachen 16/10530, 16/10580 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7})
Vizepräsidentin Petra Pau
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Meinhardt, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Potential von eLearning nutzen - Schulen bei
der Umsetzung unterstützen
- Drucksache 16/8904 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Dr. Kirsten Tackmann, Cornelia Hirsch,
Volker Schneider ({9}) und der Fraktion
DIE LINKE
Perspektiven für den wissenschaftlichen Mittelbau öffnen - Karrierewege absichern Gleichstellung durchsetzen - Selbständigkeit
fördern
- Drucksache 16/10592 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({10})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lothar Bisky, Dr. Petra Sitte, Cornelia Hirsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Finanzierung zur Bewahrung des deutschen
Filmerbes sicherstellen
- Drucksache 16/10509 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({11})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Ulrike Höfken, Marieluise Beck ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Überschüssige Mittel aus EU-Agrarhaushalt
für Bekämpfung der Hungerkrise nutzen
- Drucksache 16/10591 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({13})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Straßenverkehrsgesetzes
- Drucksache 16/10175 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({14})
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Weingesetzes
- Drucksache 16/10552 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Volker Beck ({15}), Kai Gehring, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur … Änderung des Urheberrechtsgesetzes
- Drucksache 16/10566 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Sechsten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
- Drucksache 16/10569 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({17})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
e) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ent-
lastung der Rechtspflege
- Drucksache 16/10570 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
f) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Deutsches Historisches Museum“
- Drucksache 16/10571 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({18})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Vizepräsidentin Petra Pau
g) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung der Strafprozessordnung - Erweiterung des Beschlagnahmeschutzes bei Abgeordneten
- Drucksache 16/10572 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({19})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Blank, Dirk Fischer ({20}), Dr. Klaus W.
Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette
Faße, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Infrastruktur und Marketing für den Wassertourismus in Deutschland verbessern
- Drucksache 16/10593 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({21})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Es handelt sich hier um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 16/10566
und 16/10569 sollen zusätzlich an den Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie überwiesen werden. Zu den
Gesetzentwürfen der Bundesregierung auf Drucksache
16/10534 - das ist der Tagesordnungspunkt 39 e - sowie
auf Drucksache 16/10530 - das betrifft den Tagesordnungspunkt 39 h - liegen inzwischen die Gegenäußerungen der Bundesregierung zu den Stellungnahmen des Bundesrates auf den Drucksachen 16/10583 und 16/10580 vor,
die wie der jeweilige Gesetzentwurf überwiesen werden
sollen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 40 a bis
40 g sowie 40 i bis 40 w. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 40 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Albanien
andererseits
- Drucksache 16/9395 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({22})
- Drucksache 16/10354 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Markus Meckel
Harald Leibrecht
Monika Knoche
Marieluise Beck ({23})
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10354, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9395
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion,
der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung von Vorschriften über das
Deutsche Rote Kreuz
- Drucksache 16/9396 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({24})
- Drucksache 16/10433 Berichterstattung:
Abgeordnete Daniela Raab
Dr. Carl-Christian Dressel
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10433, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9396 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 c:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Zusammenführung der Regelungen über befriedete Bezirke
für Verfassungsorgane des Bundes
- Drucksache 16/9741 19468
Vizepräsidentin Petra Pau
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({25})
- Drucksache 16/10551 Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Freiherr von Stetten
Christine Lambrecht
Jörg van Essen
Dr. Dagmar Enkelmann
Volker Beck ({26})
Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10551, den Gesetzentwurf der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache
16/9741 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion bei Enthaltung
der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit dem Ergebnis der Abstimmung in zweiter
Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung der Vorschriften des Internationalen Privatrechts an die Verordnung ({27})
Nr. 864/2007
- Drucksache 16/9995 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({28})
- Drucksache 16/10606 Berichterstattung:
Abgeordnete Daniela Raab
Dirk Manzewski
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10606, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9995 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Meldungen über Marktordnungswaren
- Drucksache 16/10033 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({29})
- Drucksache 16/10597 Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10597, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/10033 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen aller Fraktionen des Hauses
angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 f:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchführung des Übereinkommens vom
30. Oktober 2007 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
- Drucksache 16/10119 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({30})
- Drucksache 16/10607 Berichterstattung:
Abgeordnete Daniela Raab
Dirk Manzewski
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10607, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/10119 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Vizepräsidentin Petra Pau
Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung mit den Stimmen aller
Fraktionen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 g:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchführung gemeinschaftlicher Vorschriften über das Verbot der Einfuhr, der
Ausfuhr und des Inverkehrbringens von Katzen- und Hundefellen ({31})
- Drucksache 16/10122 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({32})
- Drucksache 16/10598 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Jahr
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Kirsten Tackmann
Undine Kurth ({33})
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10598, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/10122 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung von allen Fraktionen des Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 i:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes
- Drucksache 16/10297 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({34})
- Drucksache 16/10573 Berichterstattung:
Abgeordneter Winfried Hermann
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/10573, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/10297 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung durch die Unionsfraktion, die SPD-Fraktion, die
FDP-Fraktion, die Fraktion Die Linke und die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 j:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({35}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Rates über
die Förderung sauberer und energieeffizienter
Straßenfahrzeuge
KOM ({36}) 817 endg.; Ratsdok. 5113/08
- Drucksachen 16/8135 Nr. 2.52, 16/10273 Berichterstattung:
Abgeordnete Rita Schwarzelühr-Sutter
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 k:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({37}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Der Fall des afghanischen Journalisten Perwiz
Kambakhsh
Entschließung des Europäischen Parlaments
vom 13. März 2008 zum Fall des afghanischen
Journalisten Perwiz Kambakhsh
EuB-EP 1687; P6_TA-PROV({38})0106
- Drucksachen 16/9169 A.13, 16/10395 Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Karl
Angelika Graf ({39})
Michael Leutert
Volker Beck ({40})
Vizepräsidentin Petra Pau
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 40 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({41})
Sammelübersicht 452 zu Petitionen
- Drucksache 16/10342 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 452 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({42})
Sammelübersicht 453 zu Petitionen
- Drucksache 16/10343 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 453 ist mit den Stimmen aller
Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({43})
Sammelübersicht 454 zu Petitionen
- Drucksache 16/10344 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 454 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({44})
Sammelübersicht 455 zu Petitionen
- Drucksache 16/10345 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 455 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDPFraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({45})
Sammelübersicht 456 zu Petitionen
- Drucksache 16/10346 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 456 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 q:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({46})
Sammelübersicht 457 zu Petitionen
- Drucksache 16/10347 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 457 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDPFraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 r:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({47})
Sammelübersicht 458 zu Petitionen
- Drucksache 16/10348 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 458 ist mit den Stimmen
der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion
und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 s:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({48})
Sammelübersicht 459 zu Petitionen
- Drucksache 16/10349 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 459 ist bei Ablehnung
der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übrigen
Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 t:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({49})
Sammelübersicht 460 zu Petitionen
- Drucksache 16/10350 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 460 ist gegen die
Stimmen der FDP-Fraktion bei Zustimmung aller übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 u:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({50})
Sammelübersicht 461 zu Petitionen
- Drucksache 16/10351 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 461 ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 v:
Vizepräsidentin Petra Pau
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({51})
Sammelübersicht 462 zu Petitionen
- Drucksache 16/10352 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 462 ist gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei
Zustimmung der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 w:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({52})
Sammelübersicht 463 zu Petitionen
- Drucksache 16/10353 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die
Sammelübersicht 463 ist gegen die Stimmen der FDPFraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der Unionsfraktion
und der SPD-Fraktion angenommen.
Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Geduld und Unterstützung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({53})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 i auf:
a) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Bildungsbericht 2008 - Bildung in
Deutschland und Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksache 16/10206 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({54})
Sportausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Bodo Ramelow, Volker
Schneider ({55}) und der Fraktion DIE
LINKE
Bildungsgipfel nutzen - Bessere Bildung für
alle - Bildung als Gemeinschaftsaufgabe von
Bund und Ländern
- Drucksache 16/9808 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({56})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Ulrike Flach, Cornelia Pieper, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Solide Grundlage für Hochschulpakt - Beitrag
zur systematischen Verbesserung der Hochschullehre
- Drucksache 16/10327 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({57})
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Patrick Meinhardt, Ulrike Flach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Aufbau von privatem Bildungskapital fördern Grundlage für Bildungsinvestitionen schaffen
- Drucksache 16/10328 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({58})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Kai Gehring, Priska Hinz ({59}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die finanziellen Grundlagen für den Bildungsaufbruch schaffen
- Drucksache 16/10587 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({60})
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({61}), Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bildungsgipfel muss Ergebnisgipfel werden Für ein gerechtes und besseres Bildungswesen
- Drucksache 16/10586 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({62})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
g) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Fünften Vermögensbildungsgesetzes
- Drucksache 16/9560 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({63})
- Drucksache 16/10604 -
Abgeordnete Dr. Thea Dückert
h) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager,
Kai Gehring, Priska Hinz ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Für eine starke Wissenschaftsinfrastruktur im
gemeinsamen Interesse von Bund und Ländern
- Drucksachen 16/1643, 16/10560 Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg
Thomas Oppermann
Volker Schneider ({2})
Krista Sager
i) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Dr. Lukrezia Jochimsen,
Volker Schneider ({4}) und der Fraktion DIE LINKE
Studienfinanzierung ausbauen - Soziale Hürden abbauen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Priska Hinz ({5}), Krista Sager, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Auswirkungen von Studiengebühren evaluieren - Monitoringsystem umgehend aufbauen
- Drucksachen 16/8741, 16/8749, 16/10584 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Renate Schmidt ({6})
Cornelia Hirsch
Kai Gehring
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Dr. Annette Schavan.
({7})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die Bildungspolitik ist in der
Mitte der Politik angekommen. Das wird am großen Interesse im Vorfeld des Bildungsgipfels deutlich. Das
wird an den neuen Instrumenten deutlich, die Bund und
Länder vereinbart haben; dazu gehört der Nationale Bildungsbericht. Das wird nicht zuletzt an der Qualifizierungsinitiative der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen deutlich. Diese Initiative konzentriert
sich auf die Schnittstellen im Bildungssystem, die wiederum den Schwerpunkt im 2. Nationalen Bildungsbericht bilden. Er widmet sich nicht diesem oder jenem
Ausschnitt des Bildungssystems, sondern der Frage nach
Bildung im Lebenslauf und listet im Vergleich zu früheren Jahren auch Defizite und positive Veränderungen
auf.
Zu den positiven Veränderungen gehört eine bessere
Bewertung der frühkindlichen Bildung. Angebote der
frühkindlichen Bildung werden heute verstärkt angenommen. Zu den positiven Nachrichten gehört: Mehr
Kinder gehen auf das Gymnasium. Das Leistungsniveau
der 15-Jährigen in Mathematik und den Naturwissenschaften steigt. Seit dem Jahr 2000, der ersten Vorlage
einer PISA-Studie, wird die Koppelung von sozioökonomischer Herkunft und erworbenen Kompetenzen schwächer. Das gehört, finde ich, zu den Hauptthemen. Wir
müssen im Bildungssystem in Deutschland diese Koppelung, die Gott sei Dank schon schwächer geworden ist,
weiter abschwächen, weil nicht Herkunft über Zukunft
entscheiden darf.
({0})
Wer das erreichen will, braucht Bildung früher, braucht
Bildung mit besserer Qualität, braucht mehr Durchlässigkeit und braucht ein Bildungssystem, in dem, egal welche
Schule ein Kind besucht, klar sein muss: Die Entscheidung für eine bestimmte Schulart ist nicht die Entscheidung für einen bestimmten Schulabschluss. Auf jeden
Abschluss muss die Möglichkeit zum Anschluss folgen.
Das heißt: Hauptgebot, um die Entkoppelung zu schaffen
und um zu einer stimmigeren Bildungsbiografie zu kommen, ist ein höheres Maß an Durchlässigkeit und mehr
Akzeptanz von beruflicher und allgemeiner Bildung in
Deutschland.
({1})
Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Nein. - Zu den bedenkenswerten Nachrichten gehört,
dass wir einen Anstieg der Zahl der Studienanfänger haben. Er ist übrigens in diesem Semester erfreulicherweise
besonders hoch in den Natur- und Technikwissenschaften. Wir haben einen Zuwachs von 5 Prozent generell,
von 11 Prozent im Bereich der Naturwissenschaften und
von 16 Prozent in Teilen der Technikwissenschaften. Da
ist etwas erreicht worden. Fest steht aber auch: Damit
sind wir noch nicht zufrieden. Wir wollen auf 40 Prozent.
Das heißt nicht nur, dass es einen weiteren Anstieg der
Zahl der Studienanfänger geben soll; was wir mindestens
so sehr brauchen, ist ein deutlich höherer Prozentsatz derer, die nicht nur ein Studium beginnen, sondern es auch
erfolgreich abschließen.
({0})
Gleiches gilt für die Gruppe derer, die ohne Schulabschluss bzw. ohne Ausbildungsabschluss bleiben. Auch
hier gilt im Bereich der Schule: frühere Intervention,
Prävention statt Reparatur. Für die Ausbildung, übrigens
auch für das Studium, heißt das, dass wir neben manchen
Maßnahmen, die auf dem Weg sind, eine bessere Beratung junger Leute brauchen, weil erwiesenermaßen ein
Teil der Abbrecherquote sowohl im Bereich der beruflichen Bildung als auch im Bereich der akademischen Studiengänge darauf zurückzuführen ist, dass zu viele ohne
Beratung das falsche Studium bzw. die falsche Ausbildung aufgenommen haben. Eine bessere Begleitung,
Prävention und Beratung werden in den nächsten Jahren
zu Verbesserungen führen können.
({1})
Mit Blick auf die Vorbereitung des Bildungsgipfels
sage ich: Zum Bildungsgipfel gehört das klare Signal,
dass die Schnittstellen und damit verbundene Schwächen nicht nur erkannt sind, sondern auch alle Akteure
im Bildungssystem eine klare Perspektive und eine klare
Vorstellung davon haben, wie wir in den nächsten Jahren
zu mehr Qualität im Bildungssystem kommen, wie wir
zu mehr Prävention kommen und wie wir Sorge dafür
tragen können, dass kein Jugendlicher verloren geht und
jeder zu einer Qualifikation kommt, die kulturelle Teilhabe, Selbstständigkeit und individuelle Lebenschancen
ermöglicht. Das muss die Botschaft sein, die vom Bildungsgipfel ausgeht.
({2})
Zur Frage der Bildungsrepublik und zu dem, was wir
auf der Grundlage nicht zuletzt des empirischen Materials
des Nationalen Bildungsberichts entwickeln wollen, kann
ich nur sagen: Der Bildungsbericht enthält eine Menge
hochinteressanter Zahlen und auch Perspektiven, was die
Entwicklungen in den letzten Jahren angeht. Zu den Konzepten und Ideen, die entwickelt werden, gehört aber
auch die Bildungsfinanzierung. Die Bundesregierung hat
wichtige Schritte mit der Schaffung des Aufstiegsstipendiums, mit der Weiterentwicklung des Meister-BAföG
und des BAföG generell getan. Auf diesem Weg muss
fortgefahren werden.
({3})
- Da können Sie ruhig klatschen. Denn dafür haben Sie
sich besonders eingesetzt.
({4})
- Wenn es Ihnen jetzt guttut, dann sagen Sie es ruhig.
({5})
Herr Rossmann, was Ihnen guttut, soll mich nicht stören.
(Beifall des Abg. Jörg Tauss ({6})
Entscheidend sind die Ergebnisse.
Wir wissen: Das alles ist noch kein vollständiges
Konzept für Bildungsfinanzierung. Dazu gehört Weiteres, das, was international üblich ist: Stipendiensystem,
Kreditwesen und Studienkredite. Heute Morgen hat in
meinem Haus ein Gespräch zwischen Herrn Staatssekretär Storm und der Leitung der KfW stattgefunden. Ich
möchte Ihnen im Anschluss an dieses Gespräch das Ergebnis mitteilen:
Erstens. Es ist festgestellt worden, dass zwischen
KfW und BMBF Einigkeit über die hohe Priorität, Studienbereitschaft zu erhöhen, besteht.
Zweitens. Es besteht ebenfalls Einvernehmen darüber, dass Studienkredite auch in Zukunft ein attraktives Angebot neben anderen Finanzierungsinstrumenten
sein müssen.
Drittens. Deshalb haben sich KfW und BMBF auf
eine künftige strukturelle Veränderung der Studienkredite unter Einbeziehung sämtlicher Bildungskredite des
Bundes und der KfW verständigt. Ziel ist, eine dauerhaft
vertretbare Obergrenze der Zinsbelastung für die Studierenden zu sichern und bei der Rückzahlung die individuelle Leistungsfähigkeit noch stärker zu berücksichtigen.
Viertens. Im Vorgriff auf die geplanten Anpassungen
wird die KfW rückwirkend zum 1. Oktober 2008 den
Zinssatz für den Studienkredit von jetzt 7 Prozent auf
nominal 6,5 Prozent reduzieren.
({7})
Ich sage in diesem Zusammenhang das, was ich auch
gestern gesagt habe: Studienkredit im Kontext der KfW
ist ein - das zeigt übrigens die Nachfrage - attraktives
Instrument und muss es bleiben. Zu einem guten Bildungsfinanzierungskonzept in Deutschland gehören
viele Akteure.
Ich gehe auf ein zweites Instrument ein. Auch hier
kann auf den Nationalen Bildungsbericht verwiesen werden, der eine - auch hier oft besprochene - Schwachstelle in der Quote der Beteiligung an Weiterbildung
sieht. Wir kommen aus einer Phase, in der im Zweifelsfall Frühverrentung an die Stelle von Weiterbildung trat.
Es ist wichtig, dass wir im ersten Schritt auf eine Weiterbildungsquote von 50 Prozent kommen. Entsprechend
wird im Zuge der Bildungsprämie - auch darüber wird
heute beraten - eine Änderung des Fünften Vermögensbildungsgesetzes vorgenommen. Das heißt, mit der Bildungsprämie gibt es ein an der Nachfrage orientiertes Instrument zur Finanzierung individueller beruflicher
Weiterbildung. Spargeld aus den vermögenswirksamen
Leistungen kann in Weiterbildung investiert werden,
ohne dass die Sparprämie verloren geht. Zusammen mit
dem Prämiengutschein ist das ein echter Anreiz, verstärkt in die eigene Weiterbildung zu investieren. Das ist
ein weiterer Baustein zur Stärkung lebenslangen Lernens.
({8})
Ich denke, das ist der richtige Ansatz, staatliche Investitionen in die Bildung weiterzuentwickeln und damit
auch zu erhöhen. Allein die Beschlüsse der Qualifizierungsinitiative belaufen sich auf Mehrinvestitionen in
Höhe von 6 Milliarden Euro bis zum Jahre 2012. Dies ist
mit attraktiven Möglichkeiten zur individuellen Bildungsfinanzierung verbunden.
Schließlich möchte ich den Blick noch einmal auf den
Nationalen Bildungsbericht richten. Es sind im Wesentlichen die Übergänge: vom Kindergarten in die Grundschule, von der Schule in die Ausbildung, von der Ausbildung in, wo gewünscht, die akademische Bildung.
Das ist und bleibt der Schwerpunkt unserer Gespräche
mit den Ländern, mit der Wirtschaft, mit den Städten und
Gemeinden. Ich bin davon überzeugt: Wir werden in der
nächsten Woche wichtige Eckdaten, wichtige Perspektiven für die nächsten Jahre auf dem Weg zur Bildungsrepublik präsentieren. Eine gute Grundlage dazu war die
Verabschiedung der Qualifizierungsinitiative.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Dr. Seifert.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Die Ministerin hat
gerade eine „große“ Rede gehalten
({0})
- manchmal ist so etwas auch ironisch gemeint -, in der
kein Wort über Lernende mit Behinderungen gesagt
wurde. Ich finde das schon ziemlich auffällig. Auch in
Ihrem Bildungsbericht kommt das kaum vor. Im „richtigen Leben“ aber - das sollte vielleicht der Maßstab für
unsere politische Arbeit sein - ist es so, dass inzwischen
fast 5 Prozent aller Kinder, die in die Schule gehen, in
Sonderschulen ausgesondert werden.
Man redet immer von dem dreigliedrigen Schulsystem. Dass unter dem angeblich dreigliedrigen Schulsystem noch acht Sonderschulformen existieren, kommt bei
Ihnen gar nicht vor. Soweit ich informiert bin, ist auch
nicht vorgesehen, darüber auf dem Bildungsgipfel zu
diskutieren.
Wo bleibt denn die Inklusion der Kinder, denen ein
Förderschwerpunkt attestiert wird? Wie kommt es, dass
immer mehr Kindern ein Förderschwerpunkt attestiert
werden muss? Weil das Aussondern das Prinzip ist und
nicht das Einbeziehen, die Inklusion. Deshalb wehren
Sie - Sie und die Bildungsminister der Länder - sich
auch so vehement dagegen, dass zum Beispiel in der
UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen, die wir im nächsten Monat behandeln
werden, das englische Wort „inclusion“ mit „Inklusion“
übersetzt wird; Sie bestehen auf „Integration“. Sie wollen offensichtlich gar nicht, dass Kinder mit Behinderungen Teil der Gesellschaft sind. Sie sondern erst aus und
stellen sich dann hin und sagen: Dann wollen wir mal so
gnädig sein, sie einzubeziehen, also zu integrieren.
Liebe Frau Ministerin, wenn Sie nicht endlich einen
Arbeitsschwerpunkt auf die Förderschwerpunkte legen,
dann werden wir nie vorankommen. Ich finde, es wird
höchste Zeit.
({1})
Frau Minister, bitte sehr.
Herr Dr. Seifert, wir brauchen überhaupt nicht darüber zu streiten, dass zur Leistungsfähigkeit des Bildungssystems leistungsfähige Sonderpädagogik gehört mit dem ganzen Spektrum dessen, was in Deutschland
darunterfällt. Sie wissen, dass wir in Deutschland eine
hohe Qualität in der Sonderpädagogik haben - bis hin zu
sonderpädagogischen Fakultäten -; international erwiesenermaßen anerkannt. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt. Wenn ich sage: „Kein Jugendlicher
darf verloren gehen“, dann bezieht sich das auf jeden.
Ich habe über viele Schülergruppen nicht geredet, weil
ich nicht über Schule gesprochen habe, sondern über einen Nationalen Bildungsbericht. Für diesen Bericht haben Bund und Länder in Auftrag gegeben, sich speziell
mit den Übergängen und mit der Frage lebenslanger Bildungsbiografie zu befassen. Es gibt viele Initiativen, übrigens auch im Bereich der Bildungsforschung, die sich
detailliert mit der Sonderpädagogik beschäftigen und an
der Weiterentwicklung arbeiten, etwa wenn es um Modelle der integrativen Beschulung und um intensive Zusammenarbeit von allgemeinbildenden und sonderpädagogischen Einrichtungen geht.
Da gibt es überhaupt kein Vertun: Die Frage, wie leistungsfähig ein Bildungssystem ist, entscheidet sich gerade mit Blick auf Extremsituationen, auch solchen in
der Pädagogik.
({0})
Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Cornelia
Pieper für die FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Sehr verehrte Ministerin, in der Tat bleiben vor
dem Bildungsgipfel sehr viele Fragen offen. Aber ich
will grundsätzlich erst einmal Folgendes sagen - so haben es in dieser Woche auch die Arbeitgeberverbände
und die Industrie formuliert -: Bildung ist für unser
Land die Schlüsselfrage und gehört auf Platz eins der
politischen Agenda.
Die Kanzlerin spricht von einer Bildungsrepublik und
ruft die Ministerpräsidenten zu einem Bildungsgipfel zusammen. Sie macht das Thema zur Chefsache. Ich sage
ausdrücklich: Ich halte das für richtig. Bildung muss in
unserem Land einen viel höheren Stellenwert bekommen, als sie ihn bisher hatte.
({0})
Ich sage das nicht ohne Grund. Wir alle wissen:
Deutschland braucht dringend eine Fitnesskur. Trotz aller positiven Anzeichen im Nationalen Bildungsbericht
gilt - das will ich festhalten -: 20 bis 25 Prozent der Jugendlichen sind weder in Ausbildung noch in Arbeit
- der Durchschnitt in Europa liegt bei 19 Prozent -, und
fast jeder vierte 15-Jährige ist designierter Analphabet.
Diese dramatischen Zahlen müssen uns beunruhigen.
Um es in einem Satz zusammenzufassen: Die Leistungselite ist in Deutschland zu klein, die Zahl der Leistungsschwachen und Benachteiligten zu groß. Rund
90 000 Schulabbrecher jährlich sind einfach zu viel. Uns
sollte hier eigentlich jedes einzelne menschliche Schicksal beschäftigen; das sind die sozialen Härtefälle von
morgen.
Nach einer Emnid-Umfrage ist jeder zweite Deutsche
mit dem Bildungssystem unzufrieden und hält es sogar
für ungerecht. Dies ist aus meiner Sicht ein dramatischer
Tiefpunkt für ein Land, in dem Chancengleichheit zu
den in unserer Verfassung verbrieften Grundrechten gehört.
({1})
Wenn es der Kanzlerin auf dem bevorstehenden Bildungsgipfel nicht gelingt, die Weichen grundsätzlich neu
zu stellen, dann bleibt die „Bildungsrepublik Deutschland“ eine Illusion. Dann ist aber auch die Kultusministerkonferenz gescheitert, auf der sich die 16 Bundesländer auf eine nationale Bildungsstrategie zu einigen
haben. Im Falle ihres Scheiterns muss man darüber
nachdenken, wie man zwischen Bund und Ländern verbindliche nationale Bildungsstandards formulieren kann von der frühkindlichen Bildung bis hin zu einer Weiterbildungsoffensive. Nach Auffassung von uns Liberalen
brauchen wir dann ein effizienteres Gremium aus Bund
und Ländern, eine deutsche Bildungskonferenz, die
grundgesetzlich verankert sein muss. Wir brauchen klare
Zielvorgaben und klare Vergleichsgrößen für einen Bildungsaufschwung in Deutschland, für eine gemeinsame
Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Wirtschaft.
({2})
Es kann nicht sein, meine Damen und Herren, dass
die Länder, jedenfalls einige, auf dem bevorstehenden
Bildungsgipfel Geld einfordern, aber keine klaren Zielvorgaben formuliert werden. Wir alle wissen, dass der
Anteil der öffentlichen Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt seit Jahren rückläufig ist. Gemessen am
Bruttoinlandsprodukt investieren Portugal, Polen und
Ungarn prozentual inzwischen mehr in die Bildung als
Deutschland. Herr Bundespräsident Köhler hat gerade
zu Recht formuliert: Wer an der Bildung spart, spart an
der falschen Stelle.
({3})
Das Institut der deutschen Wirtschaft hat jüngst ausgerechnet, dass die mangelhafte Integration junger Menschen
in der Arbeitswelt ganz erhebliche gesellschaftliche Folgekosten verursacht. Das heißt, durch grundlegende bildungspolitische Weichenstellung könnten wir bis 2015
sogar 13,4 Milliarden Euro allein an direkten Kosten einsparen.
Wir brauchen mehr Investitionen in Bildung, Frau
Ministerin. Ich habe mich zunächst über die Ankündigung gefreut, Sie wollten in Vorbereitung auf den Bildungsgipfel 6 Milliarden Euro mehr investieren. Als ich
genau hinschaute, stellte ich aber fest, dass all diese Mittel schon in den Haushalten der Bundesbildungsministerin, des Bundesarbeitsministers und der Bundesfamilienministerin stehen. Wir brauchen keine Luftbuchungen,
meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,
wir brauchen neue frische Bildungsinvestitionen zusätzlich, die erkennbar einen Aufschwung nach sich ziehen.
({4})
Das Ziel, das Sie sich gestellt haben, künftig
10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Bildung und
Forschung zu investieren, ist sehr ehrenwert. Wenn Sie
dieses Ziel erreichen wollen, müssen Sie aber bis 2015
- jedenfalls nach Ihren Berechnungen, Frau Ministerin 25 Milliarden Euro mehr ausgeben. Das bedeutet schon
für das nächste Jahr, dass von Bund, Ländern und der
Wirtschaft mindestens 3,5 Milliarden Euro zusätzlich
aufgebracht werden müssen. Dies kann ich nicht erkennen. Die Menschen draußen haben genug von leeren
Versprechungen; sie wollen eine ehrliche Politik, auch
was die haushaltspolitische Untersetzung anbelangt.
({5})
Für uns ist Bildung die Schlüsselfrage im Hinblick auf
die Zukunft Deutschlands. Wir müssen den wichtigsten
Rohstoff, der uns zur Verfügung steht, besser erschließen: das Gold in den Köpfen der Kinder und der Menschen. Machen Sie dies zum Thema, Frau Bundesministerin! Wir brauchen dringend eine Allianz von Familienund Bildungspolitik. Geben Sie Betreuungsgutscheine
für Krippen- und Kindergartenplätze als familienpolitische Leistung des Bundes an die Eltern heraus! Das wäre
der beste Einstieg in eine kostenfreie vorschulische Bildung und ein klares Signal für gute Bildungsinvestitionen.
Vielen Dank.
({6})
Nun hat die Kollegin Ulla Burchardt für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zum zweiten Mal über den Nationalen Bildungsbericht. Er ist ein wahres Wunderwerk der Statistik, wörtlich zitiert: „die summative Bewertung des
gesamten Bildungsgeschehens“.
Was technisch klingt, ist politisch hoch brisant. Der
Bericht übt scharfe Kritik an der mangelnden Durchlässigkeit und der starken sozialen Selektivität des deutschen Bildungssystems. Noch immer verlassen 8 Prozent eines Altersjahrgangs die Schule ohne Abschluss,
haben 40 Prozent der ehemaligen Hauptschüler nach
zwei Jahren keine Berufsausbildung und verschwenden
wertvolle Lebenszeit in Warteschleifen. Noch immer benachteiligt das dreigliedrige Schulsystem Kinder von
Migranten und aus sozial schwächeren Familien. Die
Durchlässigkeit, so der empirische Beleg, hat sich weiter
verschlechtert. Noch immer gibt es zu wenig Studierende. Die Hochschultüren sind für viele verriegelt durch flächendeckende NCs, Studiengebühren und unüberschaubare Bewerbungsverfahren. Die Weiterbildungsbeteiligung stagniert. Die soziale Selektivität setzt
sich auch hier fort. Wer einmal den Anschluss verpasst
hat, findet nur mit Glück oder durch Zufall eine zweite
oder dritte Chance für den Aufstieg. Und schließlich:
Noch immer liegen die Bildungsinvestitionen in Deutschland unter dem Schnitt aller westlichen Industrieländer
der OECD; ihr Anteil ist sogar rückläufig.
Das ist die nüchterne Bilanz, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Es ist die Eröffnungsbilanz und
zugleich das Pflichtenheft für das Treffen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten in der nächsten
Woche.
({0})
Die SPD hat den Bildungsgipfel einhellig begrüßt.
Wir halten ihn für notwendig und finden es richtig, dass
Bildung zur Chefsache gemacht wird. Die Zeit ist reif
für einen nationalen Bildungspakt.
({1})
Natürlich haben wir kein Geheimnis daraus gemacht,
dass sich Frau Merkel das populäre Thema Bildung ein
Jahr vor der Bundestagswahl auch aus wahltaktischen
Gründen zu eigen gemacht hat.
({2})
Wir sind auf diesem Feld ja alle nicht ganz unschuldig.
Aber das ist an sich nicht schädlich. Es ist gut, dass Bildung auf diese Art und Weise zum Topthema auf der politischen Agenda geworden ist
({3})
und sich die politische Auseinandersetzung im Wettbewerb der bildungspolitischen Konzepte zuspitzt. Ich will
das, was da aufgeworfen worden ist, gleich gern noch
einmal aufgreifen.
Die Erwartungen an den Bildungsgipfel sind hoch,
nicht zuletzt geweckt durch die Kanzlerin selbst. Sie
kann sich bei niemandem beschweren. Deswegen muss
der Gipfel statt schönen Worten Substanz bringen und
mehr als die von der Koalition bereits beschlossenen und
wirklich sinnvollen und richtigen Maßnahmen der Qualifizierungsinitiative.
({4})
Zu Recht fordert Handwerkspräsident Schleyer genauso wie nahezu alle Wirtschafts-, Lehrer- und Elternvertreter die Vereinbarung von konkreten, verbindlichen,
nachprüfbaren Zielen und die entsprechenden notwendigen Entscheidungen. Sie alle haben als Bildungspolitiker
in den letzten Tagen darüber hinaus den Brief von BDA
und BDI erhalten, der betont, dass der bildungspolitische
Fortschritt messbar sein muss.
({5})
Nun wissen wir alle, dass sich in den letzten Tagen
Vertreter des Bundeskanzleramtes und die Chefs der
Staatskanzleien zusammengesetzt haben. Was in Bezug
auf die Vorbereitungen für die Abschlusserklärung
durchdringt, gibt Anlass zu großer Sorge. Selbst die wenigen vagen Konkretisierungen, die Sie, Frau Schavan,
mit Ihren Länderkollegen abgestimmt haben, sollen
weitgehend verschwinden. Lediglich die Halbierung der
Schulabbrecherzahl ist gerettet worden; weitere konkrete
Zahlen - nicht Bekenntnisse - sind in der Erklärung offensichtlich nicht unterzubringen. Das einzig Konkrete,
was die Ministerpräsidenten fordern, ist mehr Geld vom
Bund ohne jede Zweckbindung. Das ist vor dem Hintergrund des Unionsländerkampfes gegen den angeblich
„goldenen Zügel“ des Geldes vom Bund im Rahmen der
Föderalismusreform I schon fast ein Stück aus dem Tollhaus, muss ich ganz ehrlich sagen.
({6})
Damit wird wenige Tage vor dem Schwur deutlich,
dass Welten klaffen zwischen der neuen bildungspolitischen Sozialreformrhetorik der Union, mit der sie sozialdemokratische Begriffe und Forderungen aufgenommen
hat, zum Beispiel das 7- bzw. 10-Prozent-Ziel - Zeitungsarchive belegen eindeutig, dass Professor Zöllner
die Bildungsrepublik schon vor drei Jahren eingefordert
hat; aber das ist ja alles nicht schlimm -, und der noch
immer virulenten Ideologie der Bestenauslese.
Gelegentlich hilft ein Blick zurück in die Geschichte,
um die Gegenwart zu erklären und zu verstehen. Es gibt
noch viele - zumindest in meinem Alter -, die sich noch
gut daran erinnern können, wie mit der Regierungsübernahme im Jahre 1982 mit der sogenannten geistig-moralischen Wende das Rad der Bildungsexpansion der 70erJahre zurückgedreht werden sollte.
Das Streben nach mehr Bildung sowie nach mehr
Abiturienten und Studierenden aus Arbeiterfamilien
wurde verantwortlich gemacht für die sogenannten Verwerfungen der 68er- und der 70er-Jahre. CDU-Politiker
wetterten gegen die gigantische Fehlsteuerung durch die
Öffnung der Gymnasien und Universitäten. Ein CDUUlla Burchardt
Staatssekretär im Bundesbildungsministerium empfahl
den Bundesländern dringend, doch nicht mehr als
16,5 Prozent eines Jahrgangs zum Abitur zuzulassen.
In der konkreten Politik hatte dieses konservative
Denken über 16 Jahre hinweg reale Folgen.
({7})
Dem BAföG-Kahlschlag der Kohl-Regierung mit der
Streichung der Schülerförderung und der Umstellung der
Studierendenförderung ausschließlich auf Volldarlehen
sowie den Einschränkungen beim Hochschulausbau
folgten zugleich Schritte in den Ländern, den Zustrom
der Schüler an den Gymnasien zu drosseln. Das damals
konservativ regierte Rheinland-Pfalz war vorne mit dabei und auch das Land Baden-Württemberg.
Die Warnung vor der vermeintlichen Akademikerschwemme hatte bis weit in die 90er-Jahre hinein Konjunktur. In manchen konservativen Kreisen wird das
auch heute noch weiter betrieben.
({8})
Diese Politik zeigt tatsächlich Folgen, die wir heute im
Hinblick auf die Bildungsbeteiligung sowie auf den Mangel an Hochqualifizierten beklagen. Ohne die BAföG-Reform unter Rot-Grün und den Einsatz der SPD für den
Erhalt und Ausbau des BAföGs in dieser Koalition wären die Ergebnisse des Nationalen Bildungsberichts noch
deutlich schlechter ausgefallen.
({9})
Schauen wir uns einmal an, was aus der Vergangenheit und den nicht gerade guten Ergebnissen, die eine
solche Politik mit sich gebracht hat, gelernt wurde.
Wenn man sich die neuere Beschlusslage anschaut, dann
stellt man fest, dass Sie sich noch immer zu einem dreigliedrigen Schulsystem bekennen, das der Ständegesellschaft des vorletzten Jahrhunderts entstammt. Anders
kann man das doch nicht mehr bezeichnen, was da passiert.
({10})
Bezeichnenderweise hat die damalige hessische Kultusministerin Wolff festgestellt, das dreigliedrige Schulsystem sei doch ganz in Ordnung; denn - das muss man
sich einmal auf der Zunge zergehen lassen - das sei die
begabungsgerechte Chancenzuweisung. An dieser Stelle
wird doch völlig klar, was dahintersteht, wenn man so
etwas heute noch will, oder man weiß nicht, was man
sagt und was man tut.
Wer sich in diesen Zeiten trotz seiner sozialen Herkunft bis zum Abitur durchgekämpft hat - das sind Gott
sei Dank viele -, trifft beim Hochschulzugang auf eine
neue soziale Hürde, die die unionsgeführten Länder errichtet haben, nämlich die Studiengebühren. So kann
man Bildungsmobilität, Durchlässigkeit und Aufstieg
für alle doch überhaupt nicht fördern. Ich weiß nicht, wie
man das überhaupt noch darstellen will.
Meine Damen und Herren, mit diesem Denken und
mit einem politischen Instrumentenkasten, der im Wesentlichen besteht aus Wettbewerben, Modellprogrammen, Bestenauswahlstipendien und dem Outsourcen von
politischer Verantwortung an Stiftungen lassen sich die
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht bewältigen.
({11})
Wir als Sozialdemokraten haben ein Konzept auf den
Tisch gelegt, das solide und stimmig ist. Das Wesentliche ist: Wenn man über die notwendigen Strategien redet, dann muss man berücksichtigen, dass die staatlichen
Handlungsinstrumente Recht, Geld und Infrastruktur
voll zum Einsatz kommen müssen, um Durchlässigkeit
und Aufstieg durch Bildung zu gewährleisten und um
das Fachkräfteproblem zu lösen.
({12})
Rechtsansprüche wie das Recht auf den nachholenden
Schulabschluss spielen eine Rolle. Außerdem ist ein
bundeseinheitlicher Hochschulzugang wichtig. Zeitgemäße Infrastruktur heißt längeres gemeinsames Lernen,
flächendeckender Ausbau der Ganztagsschule sowie
200 000 neue Studienplätze.
Wir brauchen mehr Geld für Bildung, erstens um das
formale und verfassungsmäßige Recht der Bürger auf
freien Zugang zur Bildung materiell abzusichern. Es
nützt nämlich nichts, ein Recht zu haben, wenn man es
sich nicht leisten kann, es in Anspruch zu nehmen. Deshalb sind Gebührenfreiheit von der Kita bis zum Masterstudium, die Wiedereinführung des Schüler-BAföGs und
ein Erwachsenenbildungsförderungsgesetz unverzichtbar.
({13})
Frau Kollegin, darf ich Sie an die Redezeit erinnern?
Letzter Satz: Mehr Geld ins System muss sein. Die
demografische Rendite muss verbindlich gesichert werden. Frau Schavan, das ist doch das Mindeste, was Sie
Ihren Unionsministerpräsidenten abhandeln müssen.
({0})
Diese haben sich gestern Abend noch immer geweigert,
dies verbindlich festzulegen.
Frau Kollegin, das waren schon mehrere Sätze.
Zweitens. Wenn man das 7-Prozent-Ziel für Bildungsausgaben erreichen will, dann muss man sich
ernsthaft fragen, wie man auf 4 Milliarden Euro Einnahmen aus der Erbschaftsteuer verzichten kann. Es reicht
doch das kleine Einmaleins, um festzustellen, dass diese
Rechnung überhaupt nicht aufgehen kann. Wer das
7-Prozent-Ziel will, muss zur Erbschaftsteuer Ja sagen.
Das ist in diesen Tagen der Lackmustest für die bildungspolitische Glaubwürdigkeit.
({0})
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die
Kollegin Cornelia Hirsch.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Bildung für alle - das hat uns Frau Merkel hier vor wenigen Wochen in der Haushaltsdebatte versprochen. Bildung für alle - leider merken wir, sehr geehrte Frau Ministerin, bisher noch nicht sehr viel davon, dass Sie in
der Bundesregierung dieses Versprechen auch ernsthaft
umsetzen wollen. Denn Bildung für alle erreicht man
eben nicht, indem man die Bildungsrepublik ausruft.
Man erreicht es auch nicht, wenn man sich auf Bildungsreise begibt, aber dabei von vornherein nur die prämierten und preisgekrönten Einrichtungen besucht und um
die im Bildungswesen viel häufiger anzutreffenden Probleme einen weiten Bogen macht. Man erreicht es erst
recht nicht, wenn man einen Bildungsgipfel konzipiert,
der eigentlich nichts anderes als ein Marketinggipfel für
die Bundesregierung ist, auf dem nur alle ohnehin schon
beschlossenen bildungspolitischen Maßnahmen noch
einmal hervorgekramt und neu promotet werden.
({0})
Die Linke sagt: Bildung für alle darf kein leeres Versprechen bleiben. Bildung für alle muss endlich umgesetzt werden. Darum richten wir drei ganz konkrete Forderungen an den bevorstehenden Bildungsgipfel:
Erster Punkt. Bildung für alle muss heißen: mehr
Geld für Bildung. Frau Schavan, ich meine mit „mehr
Geld für Bildung“ nicht Ihre ohnehin schon in den Haushaltsplan eingestellten pillepalle 6 Milliarden Euro.
({1})
- Sie brauchen sich gar nicht so aufzuregen. - Alle, auch
jene, die jetzt auf der Tribüne sitzen und zuhören, bekommen mit, dass der Bundestag in dieser Woche ein
Rettungspaket über mehrere Hundert Milliarden Euro
verabschieden wird. Zu Recht versteht niemand, der uns
zusieht, dass gleichzeitig für die Bildung gerade einmal
6 Milliarden Euro mehr für mehrere Jahre zur Verfügung
gestellt werden sollen und dass das alles sein soll.
({2})
Wenn Sie eine bessere Bildung haben wollen, dann
müssten Sie zumindest auf den europäischen Durchschnitt kommen. Das würde pro Jahr 18 Milliarden Euro
mehr bedeuten. Dann hätten wir wirklich die Möglichkeit, offene Hochschulen anzubieten und den Numerus
clausus zu beseitigen. Dann hätten wir einen ausgebauten Kitabereich, eine bessere Ausstattung an den Schulen und eine bessere Ganztagsschulbetreuung. Dafür
setzt sich die Linke ein.
({3})
Zweiter Punkt. Bildung für alle muss heißen: mehr
Gerechtigkeit. Frau Schavan, Sie haben gerade in Ihrer
Rede gesagt: Herkunft darf nicht über Zukunft, Herkunft
darf nicht über Bildung entscheiden. - Sehr richtig! Aber
wenn Sie das ernst meinen, dann müssen Sie und mit Ihnen Ihre Partei sich endlich vom Irrweg des gegliederten
Schulsystems verabschieden. Es kann doch nicht angehen, dass bei Kindern im Alter von zehn Jahren darüber
entschieden wird, welche Bildungs- und damit auch Lebenschancen ihnen zugeteilt werden, und zwar je nachdem, aus welcher sozialen Schicht sie kommen und welche kulturelle Herkunft sie haben. Dazu sagt die Linke:
Das werden wir nicht mitmachen. Wir streiten für ein
längeres gemeinsames Lernen. Wir brauchen endlich
bundesweit die Einführung von Gemeinschaftsschulen
und die Abschaffung des gegliederten Schulsystems.
({4})
Mehr Gerechtigkeit muss dann auch heißen, dass endlich der Zugang an die Hochschulen geöffnet wird und
Durchlässigkeit vorhanden ist. Das erreicht man eben
nicht, so wie Sie es jetzt vorschlagen, mit einzelnen Aufstiegsstipendien oder einem Modellprojekt des Bundes
„Offene Universität“, sondern notwendig ist - dafür hätten Sie in der Bundesregierung die Kompetenz -, den
Zugang an die Hochschulen flächendeckend für Menschen mit einem Berufsabschluss zu öffnen.
Dritter Punkt. Bildung für alle muss auch heißen: Gebührenfreiheit. Denn das, was wir zurzeit erleben - angefangen in der Kita über die Schule, wo Eltern zur
Finanzierung der Schulbücher, der Schülerbeförderung
usw. und immer mehr über private Nachhilfe zur Kasse
gebeten werden, bis zu den Hochschulen; in vielen Bundesländern sind Studiengebühren und übrigens auch die
von der SPD eingeführten Studienkonten Realität -,
zeigt, dass wir Bildung für alle so nicht erreichen. Denn
wenn es Gebühren gibt, dann entscheidet der Geldbeutel
über die Teilhabe an Bildung, und das steht im Widerspruch zum Ziel „Bildung für alle“.
({5})
Die Linke sagt deshalb: Für den Bildungsgipfel ist die
klare, verbindliche Vereinbarung zwischen Bund und
Ländern notwendig: Gebührenfreiheit von der Kita bis
zur Weiterbildung.
Ich fasse zusammen: Wenn Sie es ernst meinen mit
Bildung für alle, dann muss die Messlatte für die Ergebnisse des Bildungsgipfels sein: erstens ein Bildungspakt
für eine bessere Finanzierung - der erste Schritt wäre:
weg mit dem unsinnigen Kooperationsverbot im Schulbereich -, zweitens längeres gemeinsames Lernen statt
unsozialem Aussortieren und drittens die Gebührenfreiheit von der Kita bis zur Weiterbildung.
Besten Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Ministerin, ich muss ehrlich sagen: Bei Ihrem Redebeitrag zur Bildungspolitik kam ich mir schon beim ersten
Satz veräppelt vor. Sie haben sich hier hingestellt und
gesagt: „Die Bildungspolitik ist in der Mitte der Politik
angekommen.“ - Wir sind nur dankbar dafür, dass wir
nicht nachts um 3 Uhr, sondern schon am frühen Nachmittag über Bildungspolitik diskutieren. Wir können eigentlich nur dankbar dafür sein, dass die CDU/CSU und
die Kanzlerin endlich gemerkt haben, dass das ein Marketingpunkt ist. Aus der Tatsache, dass Sie jetzt erst gemerkt haben, dass das ein Zukunfts- oder Marketingpunkt ist, dürfen Sie aber nicht schließen, dass dieser
Punkt erst jetzt in der Mitte der Politik oder der Gesellschaft angekommen ist. Da war er schon lange.
({0})
Wahr ist etwas ganz anderes: Diese Legislaturperiode
hat mit einem Desaster begonnen, mit der Tatsache, dass
sich der Bund bei der Bildungspolitik quasi enthauptet
hat. Wenn es so ist, dass die Bildung eine der zentralen
Zukunftsaufgaben und eine der zentralen Gerechtigkeitsfragen ist - und es ist so, weil sich jedes Kind und jeder
Erwachsene darüber Chancen im Leben erarbeiten
kann -, dann war es einer der schlimmsten Fehler zu Beginn dieser Legislaturperiode, dass wir zugelassen haben, dass sich der Bund bei der Föderalismusreform bildungspolitisch enthauptet hat. Darunter leiden heute alle.
({1})
Ich muss ehrlich sagen: Ich habe ein Stück weit gelitten, als Sie sich mit dem Satz, dass immer mehr Kinder
den Weg ins Gymnasium finden, selbst entlarvt haben.
Ich sage Ihnen ganz klar: Das ist ein unchristlicher Satz.
Warum? Den Weg ins Gymnasium zu finden ist kein
Suchauftrag für die Kinder, sondern der zentrale Gerechtigkeitsauftrag des Landes.
({2})
Deshalb reicht es auch nicht, dass Sie jetzt die Marketingebene des Ganzen entdeckt haben. Wir Grünen erwarten von Ihnen, dass auf dem Bildungsgipfel zwischen Bund und Ländern belastbare Vereinbarungen
getroffen werden, dass es zu einem gesamtstaatlichen
Kraftakt kommt, um unser Bildungssystem endlich gerecht und durchlässig zu machen, und zwar vom Kindergarten bis zur beruflichen Weiterbildung.
({3})
Zu dem, was Sie hier mit so warmen Worten erzählt
haben - immer mehr Kinder finden den Weg ins Gymnasium -, sage ich Ihnen: In diesem Land gibt es viele
Menschen, die Veränderungen erwarten. Ich muss Ihnen
Beispiele nennen: Was sollen die alleinerziehenden Mütter, die erwerbstätig sein wollen und müssen, aber quer
durchs Land keine gute und verlässliche Betreuung für
ihre Kinder finden, aus Ihrer Rede schließen? Was sollen
die Lehrerinnen und Lehrer, die 30 oder mehr Kinder mit
immer mehr sozialen Problemen - gerade auch in sozialen Brennpunkten - in einer Klasse unterrichten, aus Ihrer Rede schließen? Was sollen die Jugendlichen, die
sich in diesem Land trotz Realschulabschluss weiterhin
in einer Warteschleife statt in einer Ausbildung befinden,
denken? Alle reden über Integration, aber was sollen die
Migrantenkinder denken, die die gleiche Leistung wie
ihre Mitschülerinnen und Mitschüler bringen, aber trotzdem keine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen?
Was sollen eigentlich die denken, die meinen: „Ich
könnte doch vielleicht …“, die für ein Studium aber Studienkredite aufnehmen müssten und, weil sie noch nicht
genug Zutrauen haben, Angst und Sorge haben, sich auf
dem Weg der Bildung zu verschulden? Was sollen eigentlich hoch motivierte Frauen denken, die sich im Beruf bewiesen haben und jetzt ihren Uni-Abschluss nachholen wollen, aber mit Verweis auf ein fehlendes Abitur
nicht genommen werden? Was sollen mittelständische
Unternehmen denken, die händeringend Azubis suchen,
die ordentlich lesen, schreiben und rechnen können?
Was sollen Eltern denken - das ist schon angesprochen
worden -, die ein Kind mit Behinderung haben und es
auf die Schule für alle geben wollen, aber mit fadenscheinigen Begründungen daran gehindert werden? All
diesen Menschen mit ihren Fragen haben Sie mit Ihren
warmen Worten keine Antwort gegeben.
({4})
Unser Bildungssystem leistet immer noch viel zu wenig, wenn ein Fünftel der Jugendlichen nach jahrelangem Schulbesuch nicht richtig lesen und schreiben kann.
Was heißt das? Wir können wirklich sagen: Teilhabechancen gibt es in diesem Land nicht. Es ist eher noch so
wie in Preußen: Die einen gehen aufs Gymnasium, der
Mittelbau geht in die Mittelschule, und der Rest wird im
wahrsten Sinne des Wortes in die Volksschule abgeschoben. Wir müssen sagen: Wir brauchen endlich Chancengleichheit. Wir brauchen einheitliche Standards statt
Länderegoismen.
Ich will Ihnen in drei Leitsätzen sagen, was das heißt.
Diese drei Dinge müssen wir verwirklichen, aber nicht
irgendwann, sondern jetzt: Erstens. In diesem Land muss
jedes Kind lernen können. Zweitens. In diesem Land
muss jeder und jede in jedem Alter Zugang zu Bildung
haben. Drittens. Wir alle - das ganze Land -, egal ob wir
Kinder haben oder nicht, sind für die Bildung verantwortlich. Das ist Aufgabe des ganzen Staates.
({5})
Gehen wir einmal zu dem ersten Punkt: Jedes Kind
soll lernen können, und zwar von Anfang an, egal ob in
Wedding oder Blankenese. Die Koalition lobt sich dafür,
dass bis 2013 der Anteil der Kindertagespflege auf bis zu
30 Prozent erhöht werden soll. Was ist eigentlich mit denen, Frau Schavan, die schon heute keinen Platz in einer
Kita bekommen haben? Die Union hält am System der
Auslese fest. Wir sagen: Wir brauchen den Rechtsanspruch auf den Kitaplatz ab dem ersten Lebensjahr. Wir
brauchen eine Qualitätsoffensive. Wir brauchen ein Qualitätssiegel, damit es wirklich Wettbewerb um gute Kindergärten gibt und die Eltern wissen, wo sie ihre Kinder
hinschicken können.
Wir brauchen längeres gemeinsames Lernen. Wir
brauchen die individuelle Förderung eines jeden Kindes.
Das müssen wir leisten und bieten. Wir dürfen nicht erwarten, dass sich die Kinder dies suchen. Wir brauchen
flächendeckend echte Ganztagsschulen mit einem kostengünstigen Mittagessen.
({6})
Zum zweiten Punkt. Ich habe gesagt: Jeder und jede
muss in jedem Alter Zugang zu Bildung haben. Wissen
Sie, was wir heute erleben? Zwei von drei Hauptschülern sind noch anderthalb Jahre nach ihrem Abschluss
nicht in einer Ausbildung. Wir wissen, was es für junge
Leuten bedeuten kann, wenn sie anderthalb Jahre auf der
Straße stehen. Das ist eine richtige Desozialisierung oder
Fehlsozialisierung. Wir brauchen ein anderes Ausbildungssystem, weil die Haupt- und Realschüler gar nicht
mehr integriert werden. Wir sind doch mittlerweile in
dem ganzen Bereich so weit, dass eine 30-jährige Mutter
kein BAföG bekommt, wenn sie ihr Studium nach einer
Pause für das Kind beenden will. Wir sind in einem
Land, in dem selbst jemand wie Erwin Teufel Schwierigkeiten hat, einen Studienplatz zu bekommen, obwohl er
doch eine gewisse Vorqualifizierung vorzuweisen hat.
({7})
- Na ja, er musste nachher an eine kirchliche Hochschule gehen, weil ihn eine staatliche nicht nahm. Das ist
doch ein Armutszeugnis, abgesehen davon, dass er das
Studium am Ende doch aufgegeben hat; aber bitte.
Wir müssen an dieser Stelle feststellen: Sie loben sich
für mehr Ausbildungsplätze, dabei ist dieser Zuwachs
nur konjunkturbedingt. Dieses Eigenlob stinkt. Wir alle
wissen: Die Zahl der Ausbildungsplätze wird infolge der
Finanzkrise und der Rezession zurückgehen. Wir brauchen ein Ausbildungssystem, das tatsächlich mit Modulen arbeitet, sodass es allen, auch den Migranten ermöglicht wird, trotz der fehlenden Vorbildung ihrer Väter
und Mütter einen Bildungsabschluss zu machen.
Überbetriebliche Ausbildungsstätten und ein Erwachsenen-BAföG sind die Antwort statt der Kredite, die
auch bei Ihrem Modell, Frau Schavan, immer noch teurer sind, als sie früher einmal waren. Der Zinssatz von
6,5 Prozent, den Sie gerade angekündigt haben, liegt immer noch über dem alten Satz. Die bisherigen Zinsobergrenzen müssen abgesenkt werden; auch dazu haben Sie
nichts gesagt. Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Statt Krediten brauchen wir eine staatliche Studienfinanzierung.
({8})
Wir brauchen einen Hochschulpakt, der wirklich garantiert, dass bis 2020 jeder und jede, der bzw. die studieren kann und will, einen Studienplatz bekommt. Wir
brauchen den Zugang zur Uni für beruflich Qualifizierte.
Darüber hinaus - das ist der dritte Punkt - brauchen
wir Geld. Die gesamte Gesellschaft ist für diese Aufgabe
zuständig. Weg und Schluss mit den Schwarzer-PeterSpielchen.
({9})
Wir als Grüne wollen eines ganz klar: den Bildungssoli. Wir müssen die Hälfte der nicht verplanten Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag - das sind etwa
23 Milliarden Euro - in Bildung investieren, und zwar
definitiv nicht weniger.
({10})
Wir müssen auch Bildung als Investition begreifen. Es
kann doch nicht sein, dass nur der Bau von Straßen als
Investition gerechnet wird, obwohl der Bau von Bildungsinstitutionen oder die Bereitstellung von Bildungsund Qualifizierungsangeboten eigentlich die zentralen
Investitionen im internationalen Wettbewerb sind. Dies
ist nötig, wenn man Gerechtigkeit herstellen will.
Ich kann also nur sagen: Schluss mit der Trickserei!
Schluss mit den warmen Worten! Frau Schavan, wir erwarten, dass nicht am Anfang der Legislaturperiode
steht, dass sich der Bund bei der Bildungspolitik enthauptet, und am Ende der Legislaturperiode eine gute
Marketingaktion mit einem Bildungsgipfel steht. Wir
wollen, dass Geld in die Hand genommen wird - mindestens 23 Milliarden Euro brauchen wir - und das System für alle Kinder und alle Erwachsenen geöffnet wird.
Alles andere wäre am Ende nur PR. Da werden wir Sie
entlarven.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Alexander Dobrindt
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Künast, ich glaube, dass das, was Sie hier machen,
hoch fahrlässig ist. Sie stellen sich hier hin und wollen
den Menschen draußen erzählen, dass das, was am Ausbildungsmarkt und bei der Fortbildung der Menschen erreicht wurde, alles nichts wert ist. Sie behaupten nicht
nur, dass es nichts wert ist, Sie streiten sogar ab, dass es
das überhaupt gibt.
({0})
Ich sage Ihnen: Das ist der blanke Hohn gegenüber den
vielen jugendlichen Menschen, die Hoffnung brauchen,
weil sie einen Ausbildungsplatz wollen, und denen wir
heute sagen können, dass zum ersten Mal seit 2001 - Sie
erinnern sich, wer damals mitregiert hat - wieder mehr
Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen, als Bewerber
da sind.
({1})
Das betrifft 540 000 junge Menschen, die heute einen
Arbeitsplatz finden können; das war früher nicht möglich. Ich glaube, dass es wichtig ist, festzustellen, was es
für einen jungen Menschen bedeutet, nach der Schule zu
versuchen, seinen Lebensmittelpunkt in der Gesellschaft
zu finden, und dies nicht zu schaffen, weil diese Gesellschaft unter Umständen keinen Arbeitsplatz für ihn zur
Verfügung hat. All das konnten wir deutlich verbessern.
All das haben wir in den letzten Jahren gemeinsam geschafft. Ich glaube, dass dies es wert ist, dies hier in aller
Deutlichkeit zu erwähnen.
Wir haben vieles verbessert. Wir haben erst vor kurzem im Gespräch mit den Kultusministern klargestellt,
dass es entscheidend ist, dass die jungen Menschen den
Übergang von ihrer schulischen Ausbildung in die Arbeitsausbildung leichter schaffen, orientierter sind und
schon mit einer bestimmten Vorstellung an die Ausbildung herangehen. Ich glaube, dass dies Früchte trägt.
Die Kultusministerkonferenz hat zugesagt, dass sie mit
uns ein Konzept erstellen wird, durch das die Berufsorientierung schon in den Schulen deutlicher ausgeprägt
werden soll. Das wäre ein Riesenvorteil für die Ausbildung der jungen Menschen.
({2})
Wenn wir schon dabei sind, lassen Sie mich an dieser
Stelle sagen, dass der Ausbildungspakt ein wesentlicher
Bestandteil des enormen Kraftaktes war, mehr Ausbildungsstellen zur Verfügung zu stellen, als Bewerber da
sind.
({3})
Da haben alle mitgewirkt, nicht nur die Politik. In erster
Linie haben die Unternehmen, die Mittelständler und die
Verbände mitgewirkt, die sich auch in der Nachvermittlung engagiert haben, sodass man jedem etwas anbieten
kann. Ich sage an dieser Stelle mit Bedauern, dass sich
die Gewerkschaften dem Ausbildungspakt immer noch
verweigern und nicht mitgeholfen haben, junge Menschen in Arbeit zu bringen.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Hirsch?
Gerne.
Besten Dank. Wenn Sie hier den Ausbildungspakt loben und die Gewerkschaften dafür verdammen, dass sie
nicht mitmachen - aus meiner Sicht zu Recht -, lautet
meine Frage an Sie: Ist Ihnen klar, dass der Ausbildungspakt unter anderem auch das Ergebnis hatte, dass, wie
Sie im Bildungsbericht, über den wir heute diskutieren,
nachlesen können - vielleicht haben Sie ihn ja sogar gelesen -, 385 000 Jugendliche schon mindestens ein Jahr,
viele sogar länger, auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz sind? Halten Sie es wirklich für einen Erfolg,
wenn ein Pakt dazu beiträgt, dass fast 400 000 Jugendliche in diesem Land um ihre Zukunft betrogen werden?
Frau Kollegin Hirsch, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass durch den Ausbildungspakt erreicht wurde,
dass in diesem Jahr erstmals wieder jedem Jugendlichen
ein Angebot gemacht werden kann! Wer nicht in eine
Ausbildung kommt, hat die Chance darauf, in einem Betrieb eine Zusatzqualifikation, eine Einstiegsqualifikation oder eine weitere Qualifikation finanziert durch
Wirtschaft und Politik zu erwerben. Ich denke, das sollten Sie als Ziel und Ergebnis des Ausbildungspakts zur
Kenntnis nehmen.
({0})
Liebe Kollegin Burchardt - ich bin mir nicht ganz sicher; aber ich glaube, wir sind gemeinsam noch in einer
Koalition -,
({1})
ich habe mich ein wenig wie in einer Zeitschleife gefangen gefühlt, wobei ich mir nicht sicher war, ob Sie in der
Zeitschleife sind oder ich. Auf jeden Fall hat das, was
Sie über die Bildungspolitik alter Zeiten berichtet haben,
nicht ganz gepasst.
Ich will Sie an dieser Stelle korrigieren. Es sich einfach zu machen und zu sagen, dass man den Menschen
durch die Erbschaftsteuer nur genug Geld abnehmen
muss
({2})
und dann alle Kosten für die Ausbildung in Deutschland
finanzieren kann, ist der grundfalsche Weg. Wir müssen
den Unternehmen, die von einer Generation an die
nächste vererbt werden, die finanziellen Mittel lassen,
damit sie weitergeführt werden können, damit die Arbeitsplätze gesichert werden können und damit die Unternehmen nicht kaputtgehen. Derjenige, der in diesem
Land Arbeitsplätze sichert, schafft auch die Gelder heran, damit wir die Bildungspolitik bezahlen können.
({3})
Wir stimmen heute in zweiter und dritter Lesung über
Änderungen im Vermögensbildungsgesetz ab. In diesem
Vermögensbildungsgesetz haben wir eine Bildungsprämie und ein Weiterbildungsdarlehen vorgesehen. Ich
möchte zur Weiterbildungsprämie drei Grundthesen formulieren.
Erstens. Wir haben in Zeiten der Globalisierung die
Pflicht, die Qualifikation der Menschen deutlich zu stärken. Bildung ist zur Maßeinheit einer modernen Gesellschaft geworden. Deswegen gilt: Wenn die Konkurrenz
zwischen den Arbeitnehmern weltweit größer wird, dann
muss dieses Kapital besser ausgebildet sein.
Zweitens. Es findet ein demografischer Wandel statt,
der dazu führt, dass es immer mehr ältere Arbeitnehmer
gibt. Die Altersgruppe der über 50-Jährigen beschäftigt
sich am allerwenigsten mit Weiterbildung. Statistisch gesehen nutzen die über 50-Jährigen die Möglichkeiten zusätzlicher Ausbildung von allen Altersgruppen am wenigsten. Genau diese Altersgruppe wird aber in Zukunft
einen immer größeren Beitrag im Arbeitsleben leisten.
Bis zum Jahre 2020 wird der Anteil der über 50-Jährigen
an der gesamten Arbeitsbevölkerung auf 50 Prozent steigen. Dann kann man nicht mehr sagen: Gelernt ist gelernt. Das, was man kann, reicht noch für die restlichen
Jahre bis zur Rente. - Zukünftig muss man sich auch im
Alter weiterbilden können.
Der dritte Punkt. Die Unternehmen haben in der Zwischenzeit Gott sei Dank erkannt, dass das Wissenspotenzial der Mitarbeiter ein viel größeres Betriebsvermögen
ist, als es alle anderen Werte oftmals sein können.
({4})
Deswegen ist es unser Ziel, die Teilhabe der Menschen
an der Weiterbildung zusätzlich zu fördern. Die Kernbotschaft lautet: Wer bereit ist, sich an seiner Weiterbildung
finanziell ein Stück weit zu beteiligen, der wird vom
Staat stärker gefördert. Das geschieht durch die Bildungsprämie, die wir heute beschließen.
Die Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen, die eine Fortbildung machen, können durch den
Gutschein, den wir einführen, in Zukunft 50 Prozent der
Weiterbildungskosten - insgesamt zahlt der Staat bis zu
154 Euro dazu - sparen; ich glaube, das ist ein richtiger
Ansatz. Wer dieses Geld nimmt, etwas drauflegt und
eine Weiterbildung macht, hat die Chance, in seinem Beruf zukünftig mehr Einkommen zu generieren und seinen Arbeitsplatz zu sichern. Deswegen ist es wichtig,
dass wir heute diese Entscheidung treffen.
({5})
Darüber hinaus haben wir in diesem Gesetz die Möglichkeit zinsgünstiger Weiterbildungskredite geschaffen.
Ich gebe Ihnen recht, dass auch die Studienkredite überdacht werden müssen. Ich bin dankbar, dass das Ministerium Gespräche mit der KfW geführt hat und dabei etwas heraushandeln konnte. Ich hoffe sehr, dass wir beim
Weiterbildungskredit eine Lösung finden, die in ähnlicher Art und Weise die Möglichkeit eröffnet, den Menschen durch günstigere Darlehen eine Weiterbildung zu
finanzieren.
Wir haben ein neues Instrument geschaffen. Wir eröffnen jetzt im Rahmen der vermögenswirksamen Leistungen, die ohnehin schon viele im Betrieb nutzen, die
Chance, aus diesen vermögenswirksamen Leistungen,
die eigentlich eine Bindungsfrist von sieben Jahren haben, für Weiterbildungsmaßnahmen auch schon vorfällig
Geld herauszunehmen, ohne dass dies prämienschädlich
wird. Ich glaube, dass es der Schlüsselsatz ist, den Leuten die Chance zu geben, während ihrer Arbeit Geld anzusparen - eben die vermögenswirksamen Leistungen und dieses nicht nach sieben Jahren für irgendetwas zu
verwenden, sondern bereits vorher für eine Ausbildung
oder ein Weiterbildungsprogramm einzusetzen. Dies geschieht prämienunschädlich, sodass sie die Chance haben, vom Staat auch weiterhin die Prämie auf vermögenswirksame Leistungen zu bekommen.
Das ist ein neuer Einstieg in Ansparen auf Fort- und
Weiterbildung. Dieses Konzept müssen wir umsetzen,
und wenn wir dies heute beschließen, dann ist es ein großer Tag für die Weiterbildung in Deutschland.
Danke schön.
({6})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Uwe Barth
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben in diesen Tagen eine Inszenierung eine Inszenierung mit dem Titel „Bildungsrepublik“.
Wie bei Inszenierungen üblich gilt auch hier: Kostüm
und Bühne sind wichtiger als der Inhalt. So ist die heutige Debatte offenbar auch in der Dramaturgie ihrer Inszenierung das geeignete Sprungbrett hin zum großen
Finale, dem Bildungsgipfel nächste Woche in Dresden.
({0})
Auch die Reihenfolge ist kein Zufall. Denn es ist allemal einfacher, sich nach der Parlamentsdebatte nächste
Woche im Blitzlichtgewitter ablichten zu lassen, als nach
dem Gipfel hier im Parlament vielleicht darüber berichten zu müssen, dass die Blitzlichter der Fotografen das
einzige Licht waren, welches die Szenerie beleuchtet
hat, und Geistesblitze oder gar ein intellektueller Flächenbrand zur tatsächlichen Verbesserung der Bildungssituation in unserem Land bedauerlicherweise - es war
aber nicht anders zu erwarten - ausgeblieben sind.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wird denn beim
Bildungsgipfel herauskommen? - Eine strahlende Kanzlerin, altbekannte Worthülsen, unverbindliche Vereinbarungen, die Betonung der überragenden Bedeutung der
Bildung für alles und für jeden und natürlich das Jonglieren mit großen Zahlen.
Die Ministerin spricht von 6 Milliarden Euro. Meine
Kollegin Pieper hat hier schon darauf hingewiesen: Das
Problem bei diesen 6 Milliarden Euro ist, dass es sie im
Bildungshaushalt überhaupt nicht gibt.
Liebe Frau Ministerin, ich möchte Ihnen wirklich
nicht vorschnell Etikettenschwindel vorwerfen, aber zumindest fragwürdig scheint das Ganze zu sein. Nein,
liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Bildungsgipfel
wird mit Sicherheit keinen Anlass bieten, die Inthronisierung einer Bildungskanzlerin zu feiern.
Vor die heutigen Debatte haben in der Inszenierung
die Dramaturgen die sogenannte Bildungsreise gesetzt:
die Kanzlerin vor Ort in Kindertagesstätten und in Schulen bei Betreuern und bei Lehrern.
({2})
Gerhard Schröder hat Lehrer einmal als „faule Säcke“
bezeichnet. Dieses Bild geradezurücken und die Wertschätzung der Politik für die Leistung unserer Pädagogen einmal deutlich zu machen, war richtig. Sich einen
Überblick zu verschaffen, tatsächlich Erkenntnisse zu
gewinnen und diese im Bildungsgipfel in greifbare Politik zu übersetzen, war doch wohl das eigentliche Ziel
dieser Bildungsreise, sofern ich es richtig verstanden
habe.
Nun stellen sich alle die Frage: Was hat die Kanzlerin
gelernt? Auch wir haben uns diese Frage gestellt. Die
wesentliche Erkenntnis - diese teilt uns die Bundesregierung mit - aus der Bildungsreise lautet: Das Bildungssystem soll jeden Einzelnen in die Lage versetzen, seine
Fähigkeiten und Talente bestmöglich auszuschöpfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe in meinem
Büro keinen Hubschrauberlandeplatz. Aber wenn sich
die Kanzlerin zu Fuß bemüht hätte, dann hätte ich ihr das
auch bei einer Tasse Kaffee erzählen können.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bildungsgipfel
muss konkrete Punkte aufgreifen und verbindliche Vereinbarungen treffen; einige sind hier schon genannt worden. In der vorschulischen Bildung und Betreuung brauchen wir eine deutliche Entlastung der Eltern und ein
stärkeres Engagement des Staates. Unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit zählen hierzu natürlich
auch und gerade integrative Angebote.
Weiterführende Angebote in der akademischen Bildung und in der Weiterbildung müssen attraktiver werden. Hier ist nicht nur staatliche Unterstützung nötig,
hier ist auch jeder Einzelne gefragt. Der Staat muss aber
das Ansparen bzw. den Aufbau von privatem Bildungskapital deutlich unterstützen. Daneben müssen wir auch
den Hochschulpakt auf solide Füße stellen. Die Hochschulrektorenkonferenz hält eine Erhöhung von
25 Prozent für nötig. Wir teilen dies. Ich hoffe, dass wir
hier im Hohen Hause eine breite Unterstützung dafür erhalten.
({4})
Wenn der Bildungsgipfel zum Flop oder gar zum
Fiasko wird, dann liegt das mit Sicherheit nicht an der
Opposition. Wenn es nach der bemerkenswerten Rede
der Kollegin Burchardt hier noch eines weiteren Kronzeugen bedarf, dann bringe ich ihn mit dem verehrten
Kollegen Thomas Oppermann, seines Zeichens kein Geringerer als der Parlamentarische Geschäftsführer der
SPD-Fraktion,
({5})
der es auf den Punkt gebracht hat. Er hat gesagt: Wenn
es nicht gelingt, die Länder verbindlich in die Pflicht zu
nehmen, das Geld vom Bund zielgerichtet einzusetzen
und zweckgebunden auszugeben und auch mehr eigene
Mittel in die politische Priorität Bildung zu investieren,
dann bleibt das Ziel, Deutschland zur Bildungsrepublik
zu machen, eine zugegebenermaßen rhetorisch schöne,
aber eben sinn- und inhaltslose Floskel, eine Inszenierung. Das haben unsere Kinder aber nicht verdient.
({6})
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Gestatten
Sie auch mir einige letzte Sätze.
({7})
Herr Kollege, Sie können davon ausgehen, dass ich
bei jedem auf die Redezeit achte.
Nachdem uns die Ministerin hier in ihrer Rede von
den harten Verhandlungen des Staatssekretärs mit der
KfW berichtet und uns einen Zinssatz von 6,5 Prozent
für einen Studienkredit verkündet hatte, habe ich mein
Büro einmal gebeten, schnell im Internet zu recherchieren, zu welchen Konditionen man Konsumkredite erhalten kann. Das war eine Sache von wenigen Minuten. Die
Frau Ministerin war gerade mit ihrer Rede fertig, als das
Fax schon hier war. Es ist überhaupt kein Problem, am
freien Markt einen Kredit von 10 000 Euro für deutlich
unter 5 Prozent zu bekommen.
Frau Ministerin, mit Verlaub: Es muss doch möglich
sein, dass die Quasi-Staatsbank KfW in diesem Bereich
Kredite anbietet, mit denen sie im Wettbewerb an der
Spitze mithalten kann, und dass sie den Studentinnen
und Studenten Angebote macht, mit denen sie sie wirklich nicht überfordert.
Herzlichen Dank.
({0})
Nun hat der Kollege Swen Schulz für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Nationale Bildungsbericht 2008 stellt dem deutschen Bildungswesen kein gutes Zeugnis aus. Wir sind
gewissermaßen versetzungsgefährdet.
Ein massives Problem liegt darin, dass wir keine gleichen Chancen bieten. Wir kennen das schon von den
PISA-Ergebnissen für die Schulen: Die Kinder und Jugendlichen, deren Eltern keine höhere Bildung haben,
deren Eltern nicht so viel Geld haben und deren Eltern
nicht aus Deutschland stammen, schneiden in den Schulen meist schlechter ab, und zwar nicht weil sie dümmer
sind, sondern weil sie in der Schule nicht ausreichend
gefördert werden.
Das setzt sich nach der Schule fort und verstärkt sich
sogar. Nur zwei Zahlen aus dem Bildungsbericht:
95 Prozent der Kinder aus Beamtenfamilien, bei denen
der Vater einen Hochschulabschluss hat, studieren. Das
sind fast alle. Dagegen finden nur 17 Prozent der Arbeiterkinder den Weg an die Hochschulen. Noch nicht einmal jedes fünfte Kind aus Arbeiterfamilien studiert also.
Ich sage es noch einmal: Das liegt nicht an vererbten Begabungen, sondern dadurch wird gezeigt, dass unser Bildungswesen eklatant versagt.
({0})
Bildung ist von zentraler Bedeutung dafür, dass die
Menschen ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. Verbaute Bildungschancen sind für jeden Einzelnen eine
Katastrophe und für die Gesellschaft ein Skandal.
({1})
Wir müssen energische Maßnahmen ergreifen, um Chancengleichheit zu erreichen. Nur so erreichen wir dann
tatsächlich auch soziale Gerechtigkeit.
({2})
Die SPD hat nicht erst gestern Vorschläge dafür auf
den Tisch gelegt.
({3})
Wir wollen die vorschulische Bildung verbessern, Ganztagsangebote, ein ordentliches Schüler-BAföG, eine individuelle Förderung, zweite und dritte Chancen und
eine verbesserte berufliche Ausbildung und Weiterbildung.
Wir wollen die offenen Hochschulen bundesweit, damit auch beruflich Qualifizierte studieren können. Wir
wollen einen Hochschulpakt II mit einem ordentlichen
Ausbau der Studienplätze, und wir wollen einen Pakt für
gute Lehre, damit die Qualität verbessert wird, und zwar
ohne Studiengebühren. Wir wollen gute Bildung für alle
von Anfang an.
({4})
Um das zu erreichen, müssen Bund und Länder zusammenarbeiten. Darum begrüßen wir es, dass die Bundeskanzlerin die Ministerpräsidenten zu einem Bildungsgipfel eingeladen hat. Es hätte aber auch völlig
ausgereicht, wenn unser Koalitionspartner CDU/CSU
die Vorschläge der SPD-Bundestagsfraktion aufgenommen hätte. Dann hätten wir ein Gesetz verabschiedet und
in die Bundesratsberatung eingebracht. Aber wir sind für
jeden Fortschritt dankbar.
({5})
Doch bei einem solchen Gipfel muss auch tatsächlich
etwas herauskommen. Vor uns liegt sozusagen der
Mount Everest und nicht etwa der Rodelberg um die
Ecke.
({6})
Wir fordern klare Botschaften und Absprachen. Das
Ganze muss auch finanziert werden. Was man sonntags
für wichtig hält, muss man unter der Woche auch tatsächlich umsetzen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben in der Vergangenheit bereits bewiesen, dass wir von Bundesseite aus Investitionen in
die Bildung vornehmen wollen. Das kann und muss auch
mehr sein. Ich bin etwa dafür, dass wir den Solidarpakt
Ost in einen Bildungspakt für ganz Deutschland umwandeln.
({7})
Wir müssen einen Gang zulegen. Es reicht nicht, sich für
das Erreichte selber auf die Schulter zu klopfen; es ist
mehr nötig.
Eines will ich noch anmerken: Mir gehen die Länder
zunehmend auf die Nerven.
({8})
Die Bundesländer beten ständig ihr Mantra runter, dass
einzig und allein sie für die Bildung zuständig sind.
({9})
Gleichzeitig halten sie ohne jedes schlechte Gewissen
und geradezu schamlos beide Hände auf,
({10})
damit der Bund ihnen die Ausübung ihrer Kompetenzen
finanziert. So geht es nicht. Wir werden den Ländern
keine Blankoschecks ausstellen.
({11})
Wir sollten vereinbaren, wer was wo machen kann.
Dann stellen wir das zusätzliche Geld in den Bundeshaushalt ein und nehmen die Kontrolle im Deutschen
Swen Schulz ({12})
Bundestag auch ordentlich wahr, wie sich das für eine
parlamentarische Demokratie gehört.
({13})
Schließlich möchte ich noch etwas zur Finanzmarktkrise sagen, die uns alle in diesen Tagen erheblich beschäftigt. Wir stellen jetzt sehr viel Geld zur Bewältigung dieser Krise zur Verfügung - das muss sein -, aber
dadurch dürfen die Zukunftsinvestitionen nicht heruntergefahren werden. Ich glaube, dass es wichtig ist, dies zu
betonen.
({14})
Im Gegenteil: Wir sollten aktiv Maßnahmen gegen den
drohenden Abschwung ergreifen. Dafür bietet sich der
Bildungsbereich geradezu an.
({15})
Allein die bauliche Situation an vielen Schulen und
Hochschulen und deren Infrastruktur zeigen, dass in diesem Bereich sehr viel erreicht werden kann. Wir könnten
gemeinsam mit den Ländern ein wunderbares Investitionsprogramm ins Leben rufen, das schnell positive
Auswirkungen auf die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt
hätte und auch der Bildung helfen würde. Auch das ist
ein klarer Auftrag für den Bildungsgipfel.
Herzlichen Dank.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Volker Schneider für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ diese Weisheit aus Kindertagen ist durch die Wissenschaft Gott sei Dank widerlegt. Dass aber Hans aus
Deutschland im Erwachsenenalter noch einmal die
Schulbank drückt, ist leider sehr viel unwahrscheinlicher, als es bei Jean aus Frankreich oder John aus England der Fall ist. Ist Hans zudem nicht auf der Sonnenseite des Lebens in dieser Gesellschaft geboren, sinkt die
Wahrscheinlichkeit einer Teilnahme an einer Weiterbildung nochmals deutlich. Im internationalen Vergleich
gibt es kaum ein anderes Land, in dem die soziale Herkunft so stark die Chancen bestimmt, an einer Weiterbildung teilzunehmen.
Man muss kein Linker sein, um sich darüber zu
empören, dass diejenigen, die in der „falschen“ gesellschaftlichen Schicht geboren wurden, seltener weiterführende Schulen besuchen, seltener eine Hochschulzugangsberechtigung erwerben, seltener studieren und sich
seltener weiterbilden. Man muss kein Linker sein, um
sich darüber zu empören, dass die Chancen dieses Personenkreises ungleich höher sind, keinen Schulabschluss
zu erwerben, auch nach vielen Warteschleifen keinen
Ausbildungsplatz zu bekommen und als Erwachsener
keinen beruflichen Aufstieg durch Weiterbildung zu
schaffen. Man muss vielleicht ein Linker sein, um sich
darüber zu empören, dass dieser Sachverhalt in eklatanter Weise das Recht auf Bildung und den Grundsatz der
Chancengerechtigkeit verletzt. Aber auch bei CDU/CSU
und FDP muss man sich zumindest darüber empören,
dass wir es uns aus wirtschaftlichen Grünen und angesichts des Fachkräftemangels nicht erlauben können,
nicht die Ressourcen aller Personen in dieser Gesellschaft, egal aus welcher Schicht sie kommen, optimal zu
nutzen.
({0})
Nun verkündet die Bundesregierung, dass man zumindest im Bereich der Weiterbildung die Probleme
nachhaltig angehen werde. Konkret beschließen wir
heute über drei Maßnahmen: Erstens soll Weiterbildungswilligen eine Weiterbildungsprämie in Höhe von
bis zu 154 Euro gezahlt werden, wenn diese einen gleich
hohen Eigenanteil aufbringen. Das sind also insgesamt
308 Euro. Ich habe mir in einem Programm der Volkshochschule einmal angeschaut, was ich für dieses Geld
bekomme: kommunikativer Kochkurs für Singles für
65 Euro, Keyboard für Anfänger und Anfängerinnen für
79 Euro, ein Weinseminar über drei Abende für 20 Euro
pro Abend. Nichts gegen solche Angebote! Im Gegenteil: Auch Bildung darf Spaß machen, darf Hobby sein
und darf der Erholung dienen. Wenn ich aber etwas für
meine berufliche Bildung tun möchte, sieht es etwas anders aus. Im selben Programm steht: Fachkraft Kleinstkindpädagogik für 1 060 Euro, Kochen nicht als Hobby,
sondern als berufliche Weiterbildung aus dem Kursnet
der Bundesagentur für Arbeit - diätische Küche - für
1 272 Euro, Verkaufstraining für 670 Euro, historische
Maurertechniken für 546 Euro. Ich frage mich, was Sie
tatsächlich und überwiegend fördern möchten.
Zweite Errungenschaft Ihres Gesetzes ist angeblich
die Verwendung vermögenswirksamer Leistungen für
die Weiterbildung. Ich muss mich fragen, in welcher
Welt Sie leben. Die betreffenden Personen schließen solche Verträge zum überwiegenden Teil zum Ansparen auf
höherwertige und langlebige Konsumgüter ab. Wenn Sie
diesen Menschen sagen: „Wie wär es denn mit einer Verwendung für die Weiterbildung?“, dann schauen Sie
überwiegend in ungläubige Augen. Es wäre auch falsch,
den betreffenden Personen einen Vorwurf zu machen;
denn es gibt eine weitere soziale Ungerechtigkeit im
System der Weiterbildung. Für diejenigen, die schon etwas haben, lohnt sich Weiterbildung ungleich mehr als
für diejenigen, die nichts haben. Während der Manager
auf satte Lohnsteigerungen hoffen darf, müssen sich
manche Arbeitnehmer weiterbilden, nur damit sie ihren
Arbeitsplatz nicht verlieren. Lohnerhöhung? - Pustekuchen!
Dritter Meilenstein sind angeblich die Weiterbildungskredite. Ob diese Zielgruppe die Bonitätsprüfung
überhaupt übersteht? Frau Schavan, auch 6,5 Prozent
Zinsen wären für diese Personengruppe alles andere als
Volker Schneider ({1})
attraktiv. Wenn sich Weiterbildung für diese Personengruppe nicht auszahlt, warum sollte sie sich dann überhaupt in Schulden stürzen?
Fazit: Das ist kein Meilenstein, wie wir es oft gehört
haben. Das ist vielleicht ein großer Schritt für die Bundesregierung, aber allenfalls ein kleiner für die Menschen in diesem Land. Wir als Linke bleiben dabei: Wir
brauchen keine Geldscheine als Trostpflästerchen hier
und da - und das fast immer an den falschen Stellen -,
sondern ein umfassendes Erwachsenenbildungsförderungsgesetz.
Besten Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Marcus Weinberg für
die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist Zeit, das eine oder andere aufzuarbeiten. Herr Schneider, ich weiß, dass Sie
zum Ältestenrat müssen. Deswegen werde ich auf Ihre
Rede nicht mehr so ausführlich eingehen. Aber es bleibt
noch Frau Hirsch. Es macht immer riesigen Spaß, nach
Frau Hirsch zu reden.
Erster Punkt. Sie monieren, dass die Eltern nicht
überall von den Kitagebühren freigestellt werden. Wer
legt eigentlich die Kitagebühren fest? Das ist das Land.
Wie ist es um die Kitagebühren in Berlin bestellt? Sind
sie hoch oder niedrig? Sie haben hier in Berlin die Verantwortung für die Kitagebühren und werfen anderen
vor, dass sie die Gebühren nicht senken. Das ist Thema
in Berlin.
({0})
Mein zweiter Punkt betrifft die Kinderpolitik in Berlin. Das geht auch den Kollegen der SPD an. Ich beziehe
mich auf den Weltkindertag und verweise auf die Berliner Morgenpost vom 20. September 2008: „Bei Kinderarmut steht Berlin oben auf der Liste.“ Ich zitiere:
„Berlin steht ganz oben auf der Liste von Kinderarmut …“, sagt Alex Jakob, Sprecherin des Deutschen Kinderschutzbundes, Landesverband Berlin.
Jedes dritte Kind sei bereits arm oder von Armut
bedroht.
Das ist die Realität Ihrer Politik hier in Berlin. Deswegen sollten Sie sich mit schlauen Bemerkungen zurückhalten.
({1})
- Der Kollege aus Berlin fragt, wie es in Hamburg aussieht. - Dann wollen wir die Situation in Hamburg einmal aufarbeiten. Frau Künast ist leider nicht mehr da.
Auch sie hat angemahnt, mehr für die Kitas zu tun. Als
die CDU 2001 in Hamburg an die Regierung gekommen
ist, hat sie den Kita-Etat um 16 Prozent gesteigert. Das
war die „böse, konservative“ CDU, die angeblich mit
Kindertagesbetreuung nichts am Hut hat. Wir mussten
aber auch den Kita-Etat um 16 Prozent steigern, weil die
rot-grüne Koalition den Kita-Etat vorher um 24 Millionen DM gesenkt hat. Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel, an welcher Stelle gesenkt wurde: im Bereich der
Weiterbildung von Erzieherinnen mit Migrationshintergrund - 1 Million DM damals. Das war die Realität von
Rot-Grün. Als die CDU an die Regierung kam, hat sie
den Etat um 16 Prozent erhöht. So unterscheiden sich die
Reden und die tatsächliche Politik auch in den Ländern.
({2})
Frau Burchardt, ich habe mit Interesse und Faszination Ihrer Rede gelauscht.
({3})
Aber da muss auch das eine oder das andere in die historische Reihe gebracht werden. Sie haben den Vorwurf
erhoben, dass hier Wahlkampf betrieben wird.
({4})
Die Objektivität Ihrer Rede fand ich übrigens relativ begrenzt. Fangen wir einmal mit dem ersten Vorwurf an,
dass ausgerechnet jetzt, ein Jahr vor der Wahl, der Bildungsgipfel ausgerufen werde. Der Bildungsgipfel
wurde Ende Dezember 2007 von den Regierungschefs
und der Bundeskanzlerin beschlossen, also nachdem wir
zwei Jahre in der Regierung waren, quasi in der Mitte
der Regierungszeit der Großen Koalition.
({5})
Entschuldigen Sie bitte, das hat doch nichts mit Wahlkampf zu tun. Das ist ein Vorwurf von Ihnen, um gegen
den Bildungsgipfel zu argumentieren.
({6})
Ich will auf einen weiteren Punkt hinaus. Ich möchte
mich auf den Nationalen Bildungsbericht und auf die
Frage konzentrieren, was dieser ergeben hat. In Ihrer
Rhetorik, Mimik und Gestik kam ausschließlich eine negative Darstellung des Bildungsgipfels zum Ausdruck.
Sie haben der Ministerin Vorwürfe gemacht. Dazu muss
man Folgendes wissen: Die Datensätze stammen hauptsächlich aus den Jahren 2005 und 2006. Ich frage mich,
wer denn zuvor sieben Jahre im Bund regiert hat. Das
war Rot-Grün. Das sind die Ergebnisse Ihrer Politik. Die
können Sie der Ministerin nicht vorwerfen.
({7})
Frau Burchardt, gestatten Sie mir eine persönliche
Bemerkung, weil ich die geistig-moralische Wende, die
Sie in der historischen Betrachtung angesprochen haben,
als jemand verfolgen konnte, der betroffen war. Ich war
nämlich in dieser Zeit Schüler in einem Gymnasium, das
in einer Arbeitergegend lag. Wir Arbeiterkinder waren
stolz, ein Gymnasium in einer Großstadt wie Hamburg
besuchen zu können. Das war für uns Bildungsaufstieg.
Das Problem war nur, dass dieses Gymnasium gegen den
Willen der Eltern, der Schüler und auch der Lehrer damals von Sozialdemokraten geschlossen und die Gesamtschule eingeführt wurde. Wir wurden nicht gefragt,
und unser Bildungsaufstieg wurde damals zwangsweise
durch Sozialdemokraten behindert.
({8})
Dazu muss ich ganz deutlich sagen: So verhält es sich
mit der Gemeinschaftsschule.
Im Übrigen möchte ich auf den Antrag der Linken
eingehen. Frau Hirsch, Sie sprechen von der Bildung als
Gemeinschaftsaufgabe. Ich zitiere aus Ihrem Antrag, in
dem die Bundesregierung aufgefordert wird,
5. im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Bildung
zu vereinbaren, dass das selektive mehrgliedrige
Schulsystem abgeschafft wird. Stattdessen werden
gut ausgestattete Gemeinschaftsschulen eingerichtet, …
({9})
Nun will ich gar nicht über den Inhalt diskutieren.
Aber Sie stellen sich hierhin und sagen, Sie wollten die
Kooperation von Bund und Ländern vertiefen. Das ist
keine Vertiefung von Kooperation. Sie wollen den Ländern die Verantwortung aus der Hand schlagen. Das hat
mit Kooperation nichts zu tun, das ist zwanghafter Zentralismus, den Sie hier in Deutschland einführen wollen.
Im Übrigen könnten ich und die Grünen dem Antrag gar
nicht zustimmen, weil die Kollegin Sager und ich in
Hamburg mittlerweile eine Reform im Schulbereich
durchführen. Es wäre fatal, wenn die Grünen einem solchen Antrag zustimmen würden und dann die Reform,
die sie in eigener Verantwortung in einem Land - in diesem Fall in Hamburg - durchführen, nicht durchführen
könnten.
({10})
Lassen Sie mich noch ganz kurz auf zwei, drei Aspekte eingehen. Die Ministerin hat dargestellt, der Bildungsbericht hat nicht nur negative Ergebnisse - Sie haben das richtigerweise relativiert -, sondern auch
positive Ergebnisse.
Angesprochen wurde die zunehmende Nutzung frühkindlicher Bildung. Das Kompetenzniveau der 15-Jährigen ist gestiegen. Es gibt mehr Abschlüsse im
Sekundarbereich II. Auch der Anteil der Studienberechtigten steigt.
Trotzdem gibt es - das macht der Bildungsbericht
deutlich - Herausforderungen. Es stellt sich die Frage,
wie wir, Bund und Länder, diese Herausforderungen gemeinsam meistern. Ich finde gewisse Ansätze in der Kooperation durchaus sinnvoll. Im Übrigen ist das föderative System natürlich kompliziert, schwierig und mit
einem hohen Abstimmungsbedarf verbunden; aber es
lohnt sich, dafür einzutreten. Ich glaube, föderative Systeme sind aufgrund ihrer größeren Vielfalt wesentlich
besser als zentralistische Systeme, in denen Dinge einfach bestimmt werden. Bei dem, was wir in den nächsten
Monaten aufarbeiten werden, geht es natürlich um
Punkte, die kritisiert worden sind; aufgrund meiner Redezeit kann ich jetzt nicht auf alle eingehen.
Angesichts der aktuellen Entwicklungen möchte ich
noch auf das eingehen, was die Bundesregierung leistet.
Als Beispiel möchte ich das Programm zur Berufsorientierung nennen - es wurde herausgearbeitet, Stichwort
„Durchlässigkeit“, Stichwort „Übergang“, dass viele
junge Menschen nach der Schule nicht den Weg in den
Beruf finden -: Mittlerweile haben sich 26 000 Schüler
für dieses Programm angemeldet. Stichwort „Kita“: Es
ist bekannt, dass der Bund zum Ausbau der Kinderbetreuung 4 Milliarden Euro zur Verfügung stellt. Stichwort „berufliche Aufstiegsmöglichkeit“: Hier werden
vom Bund 570 Millionen Euro investiert. Ich nenne weitere Stichwörter: Aufstiegsstipendien, Meister-BAföG,
Studium, Hochschulpakt. Zur Weiterbildungsförderung
- das wurde auch von Ihnen sehr kritisch angesprochen -:
Hierfür werden vom Bund demnächst 265 Millionen
Euro zur Verfügung gestellt. Das heißt, die Reformen,
die jetzt wirken, werden - das bestätigt auch der Bildungsbericht - durch die Bundesregierung fortgeführt.
Mit der Qualifizierungsinitiative „Aufstieg durch Bildung“ hat die Bundesregierung die Grundlagen geschaffen, um die Kräfte zur Gestaltung künftigen Wohlstands
für alle und zur Eröffnung individueller Lebenschancen
für alle zu bündeln. Bündeln bedeutet in diesem Zusammenhang auch, alle Akteure einzubinden und auf dasselbe Ziel einzuschwören. Mit dem Bildungsgipfel werden wir diesen Weg in einem nächsten Schritt
konsequent beschreiten.
Herzlichen Dank.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Berg für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Weinberg, Sie haben einen großen Teil Ihrer Redezeit verbraucht, um auf das föderale System hinzuweisen, um Ihre Länder zu unterstützen und um zu zeigen,
welche CDU-Landesregierungen Ihrer Meinung nach
eine hervorragende Politik machen etc. Ich möchte mich
jetzt stärker auf die Bundespolitik konzentrieren; denn
dafür sind wir letztendlich verantwortlich. Wenn wir
schon in die Historie gehen, dann sollten wir doch einmal auf den Bundesbildungsminister Rüttgers verweisen, der vor der rot-grünen Regierung an der Macht war
und der, soviel ich weiß, als einziger Bildungsminister
seinen Etat zweimal zurückgeschraubt hat. So viel zu der
Verantwortung der Bildungspolitiker des Bundes.
({0})
Swen Schulz hat eben zu Recht gesagt: Wir wollen
gute Bildung von Anfang an. Viele Bildungspolitikerinnen und -politiker haben die Bildungsverläufe und die
wichtigen Punkte, an denen man ansetzen muss, dargestellt. Ich möchte mich als Wirtschaftspolitikerin jetzt
auf einen Bereich beschränken, wohl wissend, dass es
natürlich wichtig ist, das große Ganze im Kopf zu haben.
Ich möchte mich heute auf die Weiterbildung konzentrieren, auf die Finanzierung von Weiterbildung in einem
ganz bestimmten Segment durch das Vermögensbildungsgesetz. Herr Schneider, ehrlich gesagt, was Sie
dazu aufgeführt haben, ist für meine Begriffe sehr einseitig. Darauf komme ich aber gleich noch zu sprechen.
Die lineare Berufsbiografie „Ausbildung, Einstellung,
Rente“ wird immer seltener. Für die Zukunft prognostizieren Berufsforscher, dass Arbeitnehmer durchschnittlich in fünf Berufsfeldern arbeiten werden, und zwar bei
unterschiedlichen Arbeitgebern. Hinzu kommen Phasen
der Weiterbildung, der Familienarbeit und unter Umständen - auch damit muss man hin und wieder rechnen kurze Phasen auch ohne Arbeit. In einer Zeit, in der von
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sehr viel
Flexibilität verlangt wird und in der die technologische
Entwicklung zudem immer schneller voranschreitet, ist
Lernen für die berufliche Weiterentwicklung von herausragender Bedeutung. Unter Umständen ist es für das berufliche Überleben sogar notwendig.
Zurzeit liegt die Weiterbildungsquote bei 43 Prozent.
Das reicht uns nicht. Wir wollen deutlich mehr. Wir hoffen, dass wir es hinbekommen, bis 2015 10 Prozent
mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Weiterbildungsangeboten zu haben. Das wäre für uns zumindest
ein guter, kräftiger Schritt in die richtige Richtung.
Was wollen wir damit erreichen? Wir wollen damit
erreichen, dass Geringqualifizierte bessere Chancen haben, einen Job zu finden. So können wir Arbeitslosigkeit
abbauen und Armutsrisiken verhindern. Wir wollen,
dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer regelmäßig
ihr Wissen auffrischen und ihre Fähigkeiten erweitern,
damit sie in der Lage sind, neue Herausforderungen zu
meistern. Wir wollen, dass Arbeitgeber, die nach Fachkräften suchen, auch qualifizierte Leute finden; denn das
ist die Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg und
Wachstum. Wir wollen, dass Eltern nach der Erziehungszeit einfacher und besser vorbereitet wieder in den Beruf
einsteigen können, damit Beruf und Familie leichter vereinbar werden und auch mehr Frauen berufstätig sein
können. Wir wollen, dass die Menschen die Chance bekommen, selbst für sich zu sorgen, und damit nicht auf
die Hilfe anderer angewiesen sind.
Das sind die Ziele, die wir erreichen wollen, und dafür brauchen wir ein breitgefächertes Weiterbildungsangebot.
Fakt ist aber: Die Weiterbildungsbeteiligung ist laut
Nationalem Bildungsbericht insgesamt zu niedrig, und
sie stagniert obendrein. Vor allem gering qualifizierte
und ältere Menschen sind noch zu wenig beteiligt. Dabei
sind diejenigen, die sich nicht weiterbilden, nicht per se
faul oder unmotiviert; viele haben schlicht und ergreifend das nötige Geld dafür nicht übrig.
Deshalb beschließen wir heute auch eine Änderung
des Vermögensbildungsgesetzes. Wir wollen - ich sage
es noch einmal ganz dezidiert - Personen mit einem zu
versteuernden Einkommen von bis zu 17 900 Euro - bei
Verheirateten sind es 35 000 Euro - eine Weiterbildungsprämie in Höhe von 154 Euro geben. Sie müssen dann
einen Eigenanteil dazu leisten. Das ist ein zusätzlicher
Anreiz zur individuellen beruflichen Weiterbildung.
Wir wissen sehr wohl, dass das noch nicht genug ist.
Wir wollen peu à peu auch mehr erreichen. Wir können
nicht nach dem Motto „I like Genuss, aber sofort“ verfahren, sondern wir müssen peu à peu in die richtige
Richtung gehen. Wir erreichen mit dieser Änderung zusätzlich, dass die Zulage nicht verloren geht; auch das
haben wir eben schon herausgestellt.
Frau Kollegin, ich muss Sie auf die Redezeit aufmerksam machen.
Ich sehe das gerade. Dadurch, dass ich für den Anfang viel mehr Zeit verbraucht habe als geplant, kann ich
jetzt das, was noch zu sagen so wichtig wäre, heute nicht
unterbringen.
Es hilft nichts.
Ich weiß. Deshalb mein letzter Satz: Das Gesetz, das
der Bildung von Vermögen dient, wollen wir zu einem
Gesetz weiterentwickeln, das aus dem Vermögen heraus
auch Geld für Bildung mobilisiert. Letztlich soll die Prämie nach unseren Vorstellungen auf 300 Euro erhöht
werden. Aber das schaffen wir nicht sofort.
Vielen Dank.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Dr. Ernst Dieter Rossmann für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Willy Brandt hatte in den 70er-Jahren nicht unrecht, als
er einen Bildungsgesamtplan als Ausdruck der gemeinsamen Verantwortung von Bund und Ländern für Bildungsangelegenheiten in Deutschland propagiert hat.
Das soll jetzt etwa in der Form des Bildungsgipfels eine
neue Form bekommen. Hauptsache, es wird ein Erfolg!
({0})
Es muss deshalb ein Erfolg werden, weil es von der
Priorität Bildung her notwendig ist,
({1})
weil es auch von den aktuellen Problemlagen her notwendig ist und weil es in der Logik der Bildungsberichterstattung liegt. Wenn man Bildungsberichterstattung
ernst nimmt, dann muss etwas daraus folgen.
Nun hat die FDP eine nationale Bildungskonferenz
vorgeschlagen. Wir sind da etwas bescheidener und sagen: Alle zwei Jahre wird ein Nationaler Bildungsbericht
vorgelegt, der sowohl im Bundestag wie auch in den
Landesparlamenten zu diskutieren ist. Es ist gut - es
wird auch weiter gut sein -, wenn die jeweilige Kanzlerin bzw. der jeweilige Kanzler dies zum Anlass nimmt,
in dem Zeitraum, für den Bericht erstattet worden ist, einen Gipfel mit den Ministerpräsidenten einzuberufen,
um nach zwei Jahren Rückschau zu halten: „Was ist aus
den Empfehlungen und Schwerpunkten des ersten Gipfels geworden?“ und gleichzeitig eine gemeinsame Planung zu verabreden, also das, was man in den nächsten
vier Jahren, mit einer Überprüfung wiederum in zwei
Jahren, tun will. Dies muss so sein, damit man am Ende
nicht mit einem Basar von Spiegelstrichen, sondern mit
wichtigen Projekten dasteht.
Ein nationaler Bildungsgipfel gewinnt nur dann eine
Ausstrahlung und erzeugt Dynamik, wenn es wichtige
Projekte gibt. Für die sozialdemokratische Seite im
Bund wie in den Ländern stelle ich unsere Vorstellungen
für solche wichtigen Leuchtturmprojekte dar. Bis zur
letzten Minute werden wir dafür werben, dass die CDU/
CSU und die Ministerin unsere Vorstellungen in den Bildungsgipfel einbringen.
Der erste Leuchtturm: Wir haben gelernt - das ist
breit akzeptiert -, dass Kindertagesstätten Bildungseinrichtungen sind. Dazu gehören die Gewinnung und Qualifizierung möglichst aller Kinder sowie der kostenlose
Zugang für alle, die in diese Einrichtung hinein wollen.
({2})
Das Leuchtturmprojekt für den nationalen Bildungsgipfel sollte ein zwischen Bund und Ländern verabredeter
Stufenplan sein, wie man zum kostenlosen Besuch der
Kindertagesstätte für alle Kinder kommt. Es geht um ein
Grundrecht auf kostenlose Bildung für alle.
Der zweite Leuchtturm: Die Schule kann man in vielen Facetten neu gestalten; die Ministerin hat manche davon angesprochen. Man kann sich aber auch darauf konzentrieren, dass sich die Schule dann neu gestaltet, wenn
dort mehr Zeit für Pädagogik zur Verfügung steht und so
mehr Durchlässigkeit und mehr soziale Integration erreicht werden. Ein gemeinsames Leuchtturmprojekt ist
hier die Ganztagsbeschulung in Form gemeinsamer Beschulung. Der Wunsch der Sozialdemokraten geht dahin,
dass Sie nach der 4-Milliarden-Investition, die Gerhard
Schröder und Edelgard Bulmahn und am Ende auch wir
alle - ich will jetzt nicht beckmessern - gemeinsam in
die Schulen hineingetragen haben, bei diesem Bildungsgipfel mit von Bund und Ländern finanzierter Schulsozialarbeit den nächsten Schritt tun. Damit hätten wir
nicht nur 6 000 Ganztagsschulen, sondern auch solche,
die von Bund und Ländern gemeinsam personell ausgestattet werden.
Der dritte Leuchtturm: In der beruflichen Bildung
müssen sämtliche Bildungsmöglichkeiten für alle gleichermaßen ausgeschöpft werden. Aus dem ersten Bildungsbericht haben wir lernen müssen, dass Deutschland noch nicht das erreicht hat, was andere Länder
bereits erreicht haben: die Förderung der Bildungspotenziale von zugewanderten Kindern und Jugendlichen.
Hier haben wir - das müssen wir leider ehrlich sagen noch erheblichen Nachholbedarf. Es ist anzuerkennen,
dass über den Integrationsgipfel Vorschläge entwickelt
worden sind. Das Leuchtturmprojekt besteht hier darin,
Maßnahmen so zu bündeln, dass nicht nur ein Viertel der
zugewanderten Jugendlichen einen Ausbildungsplatz hat
und nur wenige von ihnen einen gymnasialen Schulabschluss erlangen. Auf der anderen Seite sind 500 000
Menschen mit einem akademischen Abschluss zugewandert, der bei uns nicht anerkannt wird. Hier geht es also
darum, ein Bündel von Maßnahmen so zu verwirklichen,
dass Integration durch Bildung möglich wird.
({3})
Der vierte Leuchtturm: Zwischen dem ersten und dem
zweiten Bildungsbericht hat uns der Wissenschaftsrat
damit konfrontiert, gute Lehre an Hochschulen ins Zentrum zu stellen. Wir streben an, dass gute Lehre, Offene
Hochschule und ein vernünftiger, solide durchfinanzierter Hochschulpakt für 200 000 zusätzliche Studienplätze
in den Blickpunkt dieses Bildungsgipfels gerückt werden.
Der fünfte Leuchtturm: Ein Rechtsanspruch auf Weiterbildung ist nötig. Die Länder und der Bund sollten
vereinbaren, dass dieser Rechtsanspruch jedes Einzelnen
und der Rechtsrahmen für gute Weiterbildung auf Bundesebene durch ein Gesetz ausgestaltet werden können.
({4})
Diese fünf Leuchttürme, Kindertagesstätten als kostenlose Bildungseinrichtungen, Schule als gemeinsame
Ganztagsschule mit Schulsozialarbeit, Integration von
Migrantinnen und Migranten durch berufliche Bildung
und Qualifizierung, gute Lehre, Offene Hochschule und
mehr Hochschulbildung sowie Weiterbildung als
Rechtsanspruch, sind die Wünsche der Sozialdemokraten. Wir hoffen, dass sich der Bildungsgipfel mit diesen
Leuchttürmen als eine Wegmarke für die „Bildungsrepublik Deutschland“ beschäftigen wird.
({5})
Dazu bedarf es finanzieller Mittel. Die Kolleginnen
und Kollegen von CDU/CSU mögen meinen Appell verzeihen. Wir wollen Sie dazu gewinnen, dass Sie alles
mobilisieren, damit nicht folgende Schizophrenie eintritt: Die Länder brauchen dafür Geld, und die Erbschaftsteuer ist eine Landessteuer. Sie ist nicht die wichtigste
Steuer. Aber in ihrem Rahmen leisten Hochvermögende
- das sind 5 Prozent - im Erbschaftsfall einen Beitrag
für die Allgemeinheit. Ob die Länder über diese
4 Milliarden Euro verfügen oder nicht, ist eine Frage der
Glaubwürdigkeit, wenn es darum geht, dass sie den Bildungsgipfel auch finanziell mit unterfüttern können.
({6})
Ganz konkret entsprechen Einnahmen für die Länder in
Höhe von 4 Milliarden Euro Jahr für Jahr 60 000 bis
70 000 Erzieherinnen und Sozialarbeiter oder 40 000
Lehrerinnen und Lehrer oder 30 000 Professorinnen und
Professoren und andere Hochschulkräfte, die wir haben
oder nicht mehr haben.
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Es geht nicht, dass wir uns da in eine Schizophrenie
hineinbegeben. Deshalb noch einmal die Bitte an unsere
Ministerin mit einem dringenden Wort: Sorgen Sie dafür,
dass das auch die Thurn-und-Taxis-Partei CSU in Bayern begreift;
({0})
denn es sind auch dort 8 000 Lehrerinnen und Lehrer
oder 6 000 Professorinnen und Professoren.
Herr Kollege, bevor Sie noch weitere Rechenbeispiele bringen, muss ich Sie endgültig auf die Redezeit
hinweisen.
Die Glaubwürdigkeit der Kanzlerin hängt daran, dass
sie das mit nach vorne bringen kann, und wir wollen der
Kanzlerin helfen, dass sie an der Stelle keine schizophrene Politik machen muss.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Zu den Tagesordnungspunkten 5 a bis 5 f wird inter-
fraktionell Überweisung der Vorlagen auf den Druck-
sachen 16/10206, 16/9808, 16/10327, 16/10328, 16/10587
und 16/10586 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 5 g. Wir kommen zur Abstim-
mung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf zur Änderung des Fünften Vermögensbil-
dungsgesetzes. Der Ausschuss für Wirtschaft und Tech-
nologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/10604, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 16/9560 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? -
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke sowie Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit
dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Be-
ratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 h. Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Für eine starke Wissenschafts-
infrastruktur im gemeinsamen Interesse von Bund und
Ländern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/10560, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1643
abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? -
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und die Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 i. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung auf Drucksache 16/10584. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/8741 mit dem Titel „Studienfinanzierung
ausbauen - Soziale Hürden abbauen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8749 mit
dem Titel „Auswirkungen von Studiengebühren evaluie-
ren - Monitoringsystem umgehend aufbauen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dage-
gen? - Enthaltung? - Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-
Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke an-
genommen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b
auf:
a) - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan ({1}) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolution 1386 ({2}) und
folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
1833 ({3}) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen
- Drucksachen 16/10473, 16/10567 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Gert Weisskirchen ({4})
Dr. Werner Hoyer
Kerstin Müller ({5})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({6})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/10620 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Lothar Mark
Jürgen Koppelin
Roland Claus
Omid Nouripour
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({7}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Paul Schäfer ({8}), Monika Knoche,
Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE zu dem Antrag der
Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan ({9}) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolution 1386 ({10}) und
folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
1833 ({11}) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen
- Drucksachen 16/10473, 16/10479, 16/10568 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Gert Weisskirchen ({12})
Dr. Werner Hoyer
Kerstin Müller ({13})
Zu dem Antrag der Bundesregierung liegen weiterhin
je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung zum Antrag der Bundesregierung
werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
sehe dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Walter Kolbow für die SPD-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir wissen alle, dass dieser Tagesordnungspunkt nicht
nur in dieser Woche, sondern auch im Weiteren im Mittelpunkt unserer parlamentarischen Erörterungen und
Beratungen steht, auch wenn entschuldigt die Frau Bundeskanzlerin und der Herr Außenminister heute nicht anwesend sein können.
Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt der Verlängerung des ISAF-Mandates mit sehr großer Mehrheit zu.
Diese Entscheidung ist eindeutig, spiegelt den schwierigen Abwägungs- und Entscheidungsprozess - das versteht sich - aber nur unzureichend wider. Auch die siebte
Verlängerung dieses Mandates hat sich meine Fraktion
mit unserer Taskforce Afghanistan und durch intensive
Fraktions-, Arbeitsgruppen- und Ausschusstätigkeit im
wahrsten Sinne des Wortes erarbeitet.
({0})
Zwingendes Argument für eine weitere Verlängerung
ist zunächst sicherlich die mangelnde Alternative zur
Fortführung des Engagements. Der sofortige Abzug der
Bundeswehr - wie es der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke verlangt - stellt keine wirkliche Alternative dar. Dies wäre ein Wortbruch gegenüber unseren afghanischen Partnern und die Flucht aus einer gemeinsam
übernommenen internationalen Verantwortung.
({1})
Wenn wir gingen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dann wäre dies eine Verletzung der Solidarität all denen
gegenüber, die bleiben. Wir würden das Ziel aufgeben,
für das wir sieben Jahre lang in Afghanistan gearbeitet
haben, nämlich dem Land eine gute Zukunft zu sichern
und dabei für unsere eigene Sicherheit zu sorgen.
({2})
Das geht nicht ohne den weiteren Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Wir wissen, dass wir unseren Soldatinnen und Soldaten weiter viel zumuten müssen. Namens meiner Fraktion danke ich allen herzlich, die sich
in Afghanistan bemühen und dort für uns sehr wichtige
Aufgaben erfüllen. Dies gilt auch heute wieder besonders für die Bundeswehrangehörigen, für die das Parlament mit seiner Entsendungsentscheidung wieder und
weiter große Verantwortung übernimmt. Nehmen Sie auf
der Tribüne und Sie, Herr Bundesminister der Verteidigung, das bitte für unsere Fraktion mit.
({3})
Ich denke, dass aber auch all die anderen Frauen und
Männer, die mit ihrer hohen fachlichen und sozialen
Kompetenz unter Entbehrungen und Risiken Hoffnungsanker und Mutmacher für die Überwindung der Gewalt
und für den friedlichen Aufbau sind, diesen Dank verdienen. Über die Tätigkeit beim Wiederaufbau wird Frau
Ministerin Wieczorek-Zeul berichten.
({4})
Unser Ziel ist es, die Lebensbedingungen in Afghanistan zu verbessern, die afghanische Eigenverantwortung zu stärken und lokale Kapazitäten sowie Strukturen
aufzubauen. Sicherheit, Good Governance und Entwicklung sind die Pfeiler, auf denen der erfolgreiche Wiederaufbau in Afghanistan ruhen muss. Wir wissen von unseren afghanischen Partnern, dass sie Vorsorge für ihre
eigene Sicherheit zwar leisten wollen und können. Aber
sie brauchen noch die Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft, also unsere Hilfe. Dabei müssen sie sich
darauf verlassen können, dass diese Hilfe in nächster
Zeit weiter geleistet wird. Es geht um Verlässlichkeit
und um Vertrauen. Deswegen ist es richtig, die ISAFMandatierung heute zu verlängern.
({5})
Meine Damen und Herren, meine Fraktion verbindet
mit der Zustimmung Erwartungen auf Fortsetzung und
sukzessive Anpassung der strategischen Zielsetzungen
der internationalen Gemeinschaft und der afghanischen
Regierung. Dies spiegelt sich, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, in
Ihrem Entschließungsantrag wider. Auch wir erwarten,
dass wir vor dem Hintergrund der Auffassung, dass dies
ein dynamisches Mandat ist, stets eine ehrliche und
selbstkritische Bilanz der Leistungen, der Defizite und
der Fehler sowie des internationalen und auch des deutschen Engagements vornehmen. Dass wir dazu fähig
sind, beweisen der Afghanistan-Bericht der Bundesregierung und seine Fortschreibung, der Fortschrittsbericht
der Taskforce meiner Fraktion unter Leitung von Detlef
Dzembritzki, aber auch die Berichte der zuständigen
Ressorts sowie die weitere Bereitschaft der Bundesregierung zur Evaluierung und zu künftigen Benchmarks.
Dazu gehört, dass wir den Kampf gegen Korruption,
Ineffizienz und Missmanagement nicht nur auf der afghanischen Seite, sondern auch aufseiten der internationalen Gemeinschaft fortführen. Dazu gehört die Klärung
von strategischem Dissens und, dass die Verpflichtung
aller internationalen Truppen auf den Unterstützungsansatz gerichtet ist und wir den dezentralen GovernanceAnsatz intensivieren. Das heißt, wir wollen eine nachhaltige Förderung lokaler Strukturen vornehmen, ohne
die Zentralregierung zu vernachlässigen. Dazu gehören
eine regionale Einbettung des Konfliktes in Afghanistan
mit allen Nachbarstaaten unter besonderer Berücksichtigung des Schlüssellandes Pakistan und die weitere intensive Bekämpfung des Drogenanbaus; dies werden weitere Redner meiner Fraktion ansprechen.
Ich will abschließend in Respekt vor der Arbeit der
Menschenrechtspolitiker in diesem Hause und in meiner
Fraktion einen Blick auf die Situation der Menschenrechte werfen. Nach internationalem Rechtsverständnis
ist es völlig unverständlich, dass dem inhaftierten Journalisten Pervez Kambakhsh die Todesstrafe droht, weil
er einen Artikel über die Rechte der Frauen im Islam aus
dem Internet heruntergeladen und verbreitet hat.
({6})
Ich sage - sicherlich in Übereinstimmung mit allen hier
im Hause -, dass es unverständlich ist, dass Präsident
Karzai dessen mögliche Begnadigung wegen angeblich
drohender Straßenrevolten immer noch ablehnt. Dies erwarten wir nicht vom Staatspräsidenten Afghanistans.
Wir erwarten hier die Anwendung selbstverständlicher
Menschenrechte. Diese Forderungen dürfen und müssen
wir stellen.
({7})
Ich denke, dass die Verlängerung des ISAF-Mandates
auch angesichts dieses Hinweises kein Weiter-so bedeuten kann. Sie ist, wie die Bundesregierung schlüssig dargelegt hat, auf die Bedürfnisse der nächsten 14 Monate
zugeschnitten. Mit all dem sorgen wir dafür, dass die
Menschen - in erster Linie die Afghanen selbst - die Entwicklung in Afghanistan tatsächlich spüren, sehen und
am eigenen Leib erfahren.
Der Antrag der Bundesregierung verdient die Zustimmung des Deutschen Bundestages, so wie es die SPDFraktion mit großer Mehrheit tun wird.
Ich danke.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die FDP-Bundestagsfraktion wird mit großer Mehrheit
der Verlängerung des ISAF-Mandats zustimmen. Für
uns sind dafür vier Gründe ausschlaggebend. Wir sind
auf Bitten der afghanischen Regierung zur Unterstützung und zum Aufbau in Afghanistan. Dabei hat es in
den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gegeben. Dies
gilt zunächst für den Bereich der Sicherheit.
Ich denke daran, dass beispielsweise im Bezirk Kabul
Ende August die Übergabe an einheimische Kräfte stattgefunden hat, sodass dort jetzt afghanische Kräfte allein
und selbstständig für Sicherheit sorgen. Es gibt aber
auch erhebliche Fortschritte im zivilen Bereich: 75 Prozent der Jungen und 35 Prozent der Mädchen gehen mittlerweile in die Schule. Wenn man weiß, dass 45 Prozent
der Bevölkerung Afghanistans unter 14 Jahre alt sind,
dann erkennt man, wie wichtig der Bildungsaspekt ist.
Es gibt Fortschritte in Afghanistan. Es gibt eine
Chance auf ein besseres Leben. Das wollen die Menschen dort. Der Fortschritt bringt Stabilität, und die StaBirgit Homburger
bilität Afghanistans liegt im Sicherheitsinteresse
Deutschlands. Wir hören immer wieder: Wir wollen den
Aufbau, aber ohne Militär. - Das ist eine Illusion.
({0})
Bei der Instandsetzung des Kajaki-Staudamms, der im
Frühjahr 2009 ans Netz gehen und weite Teile des Landes mit Strom versorgen soll, gibt es häufig Widerstand,
vor allem durch Aufständische. Weil diese Stromversorgung für große Teile des Landes wichtig ist und dieser
Staudamm ein Symbol für Fortschritt und Entwicklung
ist, wird dagegen vorgegangen. Deshalb gab es beim
Einbau der Turbinen eine große Schießerei. Das zeigt:
Aufbau in Afghanistan ist ohne militärische Absicherung derzeit nicht möglich. Auch deshalb stimmen wir
dem Antrag zu.
({1})
Die terroristischen Aktivitäten sind zurückgedrängt
worden. Natürlich gibt es immer noch terroristische Aktivitäten; es gibt immer noch Ausbildungscamps in der
Grenzregion zu Pakistan. Die FDP-Bundestagsfraktion
ist überzeugt: Wenn wir das Land jetzt verlassen, bedeutet das, dass wir zurückgeworfen werden. Bei einem Besuch ist uns nicht nur von der afghanischen Regierung,
sondern auch von der Opposition sehr klar gesagt worden: Wenn die internationale Gemeinschaft Afghanistan
jetzt verlässt, dann ist Kabul morgen die Hauptstadt des
Terrors. - Und das wollen wir nicht.
({2})
Der Abzug - jetzt - würde alles gefährden, was bisher
erreicht wurde. Diejenigen, die im Einsatz in Afghanistan ihr Leben ließen, wären umsonst gestorben. Der Abzug würde sofort zu einer Destabilisierung Afghanistans,
zu einer Destabilisierung Pakistans und der ganzen Region führen und damit unmittelbar eine Verschlechterung der Sicherheitslage mit sich bringen. Deshalb sagen
wir sehr deutlich: Dieser Einsatz erfolgt nicht nur, weil
wir den Afghanen helfen wollen, sondern er erfolgt auch
- wir stimmen dem Antrag zu -, weil er im Interesse unserer eigenen Sicherheit, weil er im Interesse der Sicherheit Deutschlands ist.
({3})
Die Haltung der FDP-Bundestagsfraktion ist klar. Die
Grünen sind hier ohne Linie. Herr Trittin, ich möchte Sie
ganz bewusst ansprechen: Sie haben hier, in diesem
Haus, meine Fraktion für eine einmütig getroffene Entscheidung in anderer Sache kritisiert, weil sie nicht Ihrer
Meinung entsprach.
({4})
Ich kann dazu nur sagen: Wir brauchen keine Vorträge
von Ihnen über außenpolitische Handlungsfähigkeit. Die
FDP ist außenpolitisch handlungsfähig. Kümmern Sie
sich um Ihre eigene Fraktion! Da haben Sie genug zu
tun!
({5})
Wenn wir mit Bürgerinnen und Bürgern sprechen, hören wir immer wieder die Frage: Haben die Afghanen eigentlich ein Interesse am Wiederaufbau? Wie sieht es in
der Bevölkerung aus? Ich möchte an dieser Stelle sagen:
Ja, sie engagieren sich, und zwar trotz erheblicher Bedrohungen, denen sie ausgesetzt sind. Immer wieder
kommen Stammesfürsten aus entlegenen Winkeln des
Landes zur Bundeswehr und bitten um Unterstützung,
beispielsweise beim Aufbau einer Schule. Je öfter das
passiert, desto schlechter ist das für die Taliban und die
Aufständischen. Die eigentliche Bedrohung der Taliban
ist nämlich nicht das Militär, die eigentliche Bedrohung
sind die Schulen, ist die Bildung.
({6})
Deshalb werden Lehrer eingeschüchtert und bedroht; es
kommt sogar zu Erschießungen. Je mehr der Aufbau
voranschreitet, desto größer wird die Bedrohung, und
zwar nicht nur für Lehrer, sondern auch für Sprachmittler, für Landarbeiter und für Polizisten. Den höchsten
Blutzoll in der Auseinandersetzung mit den Aufständischen zahlt die afghanische Polizei. Das zeigt, dass viele
Afghanen bereit sind, zum Aufbau ihres eigenen Landes
beizutragen. Dabei verdienen sie unsere Unterstützung.
({7})
Wir verbinden mit unserer Zustimmung die Erwartung an die Bundesregierung, dass das Konzept des vernetzten Ansatzes endlich umgesetzt wird. Dabei geht es
um den Wiederaufbau, nicht nur um mehr Geld, sondern
um eine bessere Koordination; es geht um den Aufbau
von Sicherheitsstrukturen in Afghanistan. An dieser
Stelle sagen wir der Bundesregierung sehr deutlich: Wir
erwarten, dass über die Polizeiausbildung nicht nur geredet wird, sondern dass Sie wirklich etwas tun. Es nützt
überhaupt nichts, wenn Sie in dieser Woche bereits zum
vierten Mal öffentlich erklären, dass in Masar-i-Scharif
eine Polizeiausbildungsschule eröffnet wird. Den Worten müssen Taten folgen. Es ist entscheidend wichtig,
dass es jetzt beim Aufbau der Sicherheitsstrukturen besser und schneller vorangeht.
({8})
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Ich
möchte an dieser Stelle allen Dank sagen, die sich engagieren: den Entwicklungshelfern, den Diplomaten, den
Polizisten und den Soldatinnen und Soldaten. Sie machen im Einsatz für die Sicherheit Deutschlands eine
exzellente Arbeit unter Gefahr für Leib und Leben. Das
verdient Dank und Anerkennung aller in diesem Haus.
Vielen Dank.
({9})
Ich gebe dem Kollegen Dr. Andreas Schockenhoff,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt den Antrag der Bundesregierung zur Verlängerung des ISAF-Mandats. Aber
von der Mammutaufgabe, Afghanistan zu stabilisieren,
kann das Militär, also auch die Bundeswehr, nur
20 Prozent übernehmen. Die restlichen 80 Prozent müssen durch zivile Anstrengungen erreicht werden. Gerade
beim zivilen Teil, beim Aufbau des Landes, müssen wir
viele Rückschläge hinnehmen. Zudem hat die Korruption ein enormes Ausmaß erreicht. Die Drogenwirtschaft
floriert. Das wiederum stärkt die Aufständischen und erschwert die Stabilisierung.
Wir hören zwar immer mehr Erfolgsmeldungen: Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser, Strom und
Krankenhäusern; Kinder, vor allem Mädchen, in den
Schulen; Studentinnen an den Universitäten. Aber die
guten Nachrichten wechseln sich mit Meldungen über
wiedererstarkende Taliban ab, über hinterhältige Anschläge nicht nur gegen unsere Soldaten, sondern auch
gegen Helfer von internationalen Organisationen und
- wir haben es gerade gehört - gegen die Afghanen, die
mit dem Westen zusammenarbeiten, zum Beispiel afghanische Lehrer oder Polizisten. Es gibt Warnungen vor einer Abwärtsspirale oder gar vor einem Scheitern.
Das hat bei vielen Zweifel an unserem Einsatz in
Afghanistan ausgelöst. 70 Prozent der Bevölkerung lehnen den Einsatz ab, das ist eine katastrophale Zahl. Sie
macht deutlich, wie schwierig es ist, die Bevölkerung
von der Notwendigkeit des Einsatzes zu überzeugen und
ihr die Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung zu
vermitteln. Dennoch werden wir das ISAF-Mandat heute
verlängern und wohl noch einige Jahre verlängern müssen. Unsere Soldaten, die sich dieser gefährlichen Aufgabe stellen, verdienen dabei unsere besondere Würdigung; der Dank gilt ebenso ihren Familien.
({0})
Angesichts der Zweifel und Widerstände ist es bequem, aber in keinster Weise verantwortungsvoll, den
Einsatz abzulehnen oder sich, wie die meisten Grünen,
zu enthalten, erst recht nicht gegenüber unseren Soldaten
im Einsatz, die Sie noch in der letzten Wahlperiode in
Ihrer eigenen Regierungszeit dorthin entsandt haben. Ihr
Auftrag von damals hat sich doch heute nicht verändert.
Der Einsatz unserer Soldaten darf nicht von den Stimmungsschwankungen der grünen Basis abhängen. Die
Bundeswehr ist keine Parteitagsarmee.
Ich anerkenne deshalb umso mehr, dass sich die
Mehrheit hier im Hause darin einig ist, dass erstens die
deutsche Sicherheitspolitik die Probleme vor Ort zu lösen versucht, bevor sie unser Land erreichen, und dass
zweitens die Reaktion auf die schlechten Nachrichten
aus Afghanistan nicht etwa ein Rückzug sein kann. Vielmehr können wir den Rückschlägen nur entgegensteuern, wenn alle Beteiligten ihre Anstrengungen verstärken, noch zielgerechter anpassen und das Konzept der
vernetzten Sicherheit, wie wir es in unserer Sicherheitsstrategie vorgeschlagen haben, konsequent umsetzen.
Es ist richtig, dass die Bundesregierung in ihrem aktualisierten Afghanistan-Konzept ankündigt, auch ihr ziviles Engagement zu verstärken. Wir sollten uns dabei vorrangig auf drei Probleme fokussieren: Wir sollten erstens
Alternativen zum Schlafmohnanbau schaffen, um die
Drogenwirtschaft und die Drogenkriminalität abzubauen, zweitens die Korruption eindämmen und die Regierungsführung verbessern und drittens Pakistan stärker
in die Bekämpfung der Aufständischen einbinden.
Ich hoffe, dass die zusätzlichen 70 Millionen Euro für
Entwicklungsprojekte helfen, die Wiederaufbauerfolge
für die Menschen in Afghanistan schneller sichtbar zu
machen und Alternativen zum Opiumanbau zu schaffen.
Die Bekämpfung der Drogenwirtschaft ist und bleibt primär die Aufgabe der afghanischen Sicherheitskräfte. Dabei müssen wir sie unterstützen. Im Norden gibt es bereits viele drogenfreie Gebiete; am größten ist das
Problem im Süden. Wenn die dort eingesetzten NATOPartner von mehr Rauschgifttransporten, Laboren oder
Aktivitäten von Drogenbaronen wissen, als die neu ausgebildeten afghanischen Sicherheitskräfte bekämpfen
können, dann ist es richtig, wenn sie zusätzlich einige
Operationen selbst durchführen. Dabei müssen sie den
schwierigen Balanceakt vollbringen, die afghanische Eigenverantwortung trotzdem weiter zu fördern und mit
ihren Aktivitäten nicht die Bevölkerung gegen sich aufzubringen.
Zugleich möchte ich daran erinnern, dass wir die unterstützende Rolle der Bundeswehr bei der Drogenbekämpfung im Mandat detailliert definiert haben. Erstens:
Unterstützung der afghanischen Streitkräfte durch
Bereitstellung und Austausch von Informationen über
Drogenaktivitäten, die bei Routineoperationen gewonnen werden; zweitens: Unterstützung durch logistische
und medizinische Hilfe; drittens: Unterstützung bei Zufallsfunden der Drogenkriminalität. Hier kann die Bundeswehr im Zusammenwirken mit den afghanischen
Behörden auch unter Einsatz von Zwang Sicherungsmaßnahmen vornehmen.
Wir unterstützen, dass die Bundesregierung beim
Aufbau der afghanischen Justiz mehr tun will. Ein funktionierendes Rechtssystem ist der Schlüssel zur Drogenbekämpfung. Das Gleiche gilt für die Bekämpfung der
Korruption.
({1})
Bei der Reform des Sicherheitssektors sind die Steigerung der Qualität der landesweiten Regierungsführung
und der Aufbau eines Rechtsstaats die zentralen Ziele,
auf die wir alle Anstrengungen konzentrieren müssen.
Wir unterstützen ebenfalls, dass die Bundesregierung sowohl für die EU-Mission als auch bilateral mehr Polizeiausbilder nach Afghanistan entsendet. Ich wünsche mir,
dass wir nicht nur beim Polizeiaufbau, sondern bei alDr. Andreas Schockenhoff
lem, was wir zum Aufbau Afghanistans beitragen, noch
schneller, unbürokratischer und beherzter handeln.
({2})
In Afghanistan läuft uns die Zeit weg. Deswegen ist
jeder zusätzliche Helfer, ob Polizist oder Experte für
Rechtsstaat, Landwirtschaft, Gesundheitswesen oder Erziehung, höchst willkommen. Wenn wir militärisch nicht
mehr machen können, müssen wir mehr Softpower zur
Verfügung stellen. Ich sage das in Kenntnis unserer begrenzten Kapazitäten. Deshalb muss es doch als Erstes
darum gehen, die vorhandenen Fähigkeiten noch gezielter einzusetzen und die vorhandenen Reibungsverluste
auszuräumen. Hier kann noch einiges verbessert werden!
Zu mehr Konsequenz gehört auch, dass wir den regionalen Ansatz weiterverfolgen. Wir haben Afghanistan zu
lange isoliert betrachtet. Dabei ist Pakistan in seinem
Grenzgebiet durch die dort agierenden Taliban und alQaida genauso bedroht wie Afghanistan. Mit der neuen
Regierung Zardari besteht die Möglichkeit, die Kooperation bei der Bekämpfung der Aufständischen zu verstärken und damit die Grenzregion sicherer für Entwicklungsprojekte zu machen.
Wenn wir also gemeinsam mit den über 40 Bündnispartnern in den Vereinten Nationen, in der EU, in der
NATO und mit der afghanischen Regierung selbst in
Afghanistan koordinierter, lernfähiger, unbürokratischer,
konsequenter und beherzter handeln, dann erhöht das
nicht nur die Aussichten auf Erfolg, sondern auch die
Akzeptanz für diesen Einsatz.
({3})
In diesem Sinne möchte ich zum Schluss ein Vorhaben des Afghanistan-Konzepts der Bundesregierung besonders betonen, nämlich dass die Bundesregierung - so
wörtlich - der Öffentlichkeit die Notwendigkeit des Einsatzes aktiv vermitteln wird. Wir Parlamentarier stellen
uns der schwierigen Aufgabe, der Bevölkerung den
Afghanistan-Einsatz zu erklären, nicht nur in unseren
Wahlkreisen. Dabei können wir die Unterstützung der
gesamten Bundesregierung sehr gut gebrauchen.
Vielen Dank.
({4})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Paul Schäfer, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
NATO steht in Afghanistan nicht vor dem Scheitern. Sehen wir uns die Lage an: Sieben Jahre nach Kriegsbeginn hat sich die Sicherheitslage immer weiter verschärft. An circa 27 von 31 Tagen wehen die Fahnen im
Camp Marmal, dem Bundeswehrcamp, auf Halbmast,
weil ISAF wieder Leute verloren hat. Inzwischen beurteilt eine Mehrheit der Bevölkerung Afghanistans die Sicherheitslage, wie die NATO selber ermittelt hat, als
eher schlecht bis schlecht, was auch damit zu tun hat,
dass die Zahl der zivilen Opfer weiter steigt. Die Entfremdung zwischen einem wachsenden Teil der Bevölkerung und einer Regierung, die sich in Kabul buchstäblich eingemauert hat - ich habe es gesehen -, wächst.
Wenn man sich das klarmacht, dann muss man zum
Schluss kommen: Die NATO-Mission am Hindukusch
ist gescheitert.
({0})
Zur ungeschminkten Wahrheit gehört: Die Zahl der
NATO/ISAF-Truppen ist von 32 000 Soldaten am Ende
des Jahres 2006 auf inzwischen 53 000 Soldaten gestiegen. Die Gewalt hat aber nicht ab-, sondern zugenommen. Die Zahl der Luftwaffeneinsätze mit Bombenabwurf im Rahmen von OEF ist - hören Sie jetzt gut zu von 176 im Jahre 2005 auf 1 770 im Jahre 2006 und auf
3 247 im Jahre 2007 gestiegen; die Air Force hat darüber
berichtet.
Vielleicht ist auch das ein Grund, weshalb die Kommandeure und Soldaten vor Ort mit unserer abstrakten
Diskussion, ob in Afghanistan ein Krieg stattfindet bzw.
ob sich die NATO in einem Kriegseinsatz befindet,
nichts anfangen können. Bei ihnen hat sich längst der
Begriff „Insurgenten“, Aufständische, durchgesetzt. Sie
wissen, dass sie mitten in einer militärischen Aufstandsbekämpfung sind. Dabei hat man aber verdammt
schlechte Karten, weil die Aufständischen nicht gewinnen müssen und die NATO nicht gewinnen kann. Die
Frage ist nicht: Sollten wir gehen, wenn es schwierig
wird?
Die Linke war von vornherein gegen diesen Einsatz.
Aber selbst nach Ihrer Logik muss doch jetzt gelten:
Wenn man sich in einer solchen Sackgasse befindet,
dann muss man umkehren und einen neuen Weg einschlagen.
({1})
Nun wird gesagt: Wir sind dabei. Es gibt ja kein
„Weiter so“. Wir haben eine neue Strategie. - Die Grünen und die FDP setzen darauf ihre Hoffnung. Es
stimmt, dass die Mittel für den Polizeiaufbau und für den
Zivilaufbau in nicht unbeträchtlichem Umfang aufgestockt werden; das habe auch ich gesehen. Dennoch bezweifle ich, dass ein grundlegender Strategiewechsel
stattfindet. Als ein britischer General gesagt hat, man
könne militärisch nicht gewinnen, hat sich prompt der
kommandierende US-General zu Wort gemeldet und gesagt: Nein, wir können sehr wohl obsiegen. - Das ist
nicht nur Rhetorik. Das zeigt sich an der Tatsache, dass
die USA eine Aufstockung ihrer Truppen um
20 000 Soldaten in den nächsten zwei Jahren planen. Die
Ausweitung der Kampfzone nach Pakistan ist ein weiteres Indiz.
Paul Schäfer ({2})
Ich ziehe das Fazit: Der Militäreinsatz wird erheblich
intensiviert, in der vagen Hoffnung, dadurch das Blatt
wenden zu können. Das gilt leider auch für die Bundeswehr. Selbst wenn man unterstellt, dass der Einsatz im
Norden bisher einen ganz anderen Charakter als die harten Kämpfe im Süden und im Osten hatte, ist festzustellen: Die Intensität des deutschen Militäreinsatzes nimmt
immer weiter zu: Tornados, schnelle Eingreiftruppen,
Anhebung der Obergrenze und jetzt AWACS. Wir sind
genauso auf der Rutschbahn gelandet wie die anderen.
Aber ein Mehr an Falschem kann nicht zu Richtigem
führen.
({3})
Ich sage Ihnen noch eines: Diese Doppelstrategie
wird nicht funktionieren. Mehr Entwicklungshilfe und
mehr Infanterie bzw. Luftwaffe, das passt nicht zusammen.
Der Schlüssel zum Erfolg liegt bei den Afghaninnen
und Afghanen. Das klingt zwar platt, ist aber so. In diesem Zusammenhang muss leider auch gesagt werden,
dass Sie die Sünden der Vergangenheit nicht loswerden.
Wenn man eine Art Protektorat aufbaut und auf eine zentralistische Staatsführung setzt - Hauptsache loyal -,
dann hat das in der Regel zwei Konsequenzen: Erstens
züchtet man die Korruption auf diese Art und Weise erst
richtig - Kai Eide hat bei unserem Gespräch in Kabul
keinen Zweifel daran gelassen, dass es damit zu tun hat -,
und zweitens blockiert man den langwierigeren, aber
nachhaltigen Staatsaufbau von unten, bei dem die Menschen Staatlichkeit vor Ort positiv erfahren können. Das
ist genau die Fehlentwicklung, mit der wir zu tun haben.
Nun scheint zum Glück die Anzahl der Afghaninnen
und Afghanen zu wachsen, die sagen: Wir haben genug
vom Krieg, und wir müssen jetzt unser Schicksal in die
eigenen Hände nehmen. - Davon zeugt die FriedensJirga-Bewegung, die von paschtunischen Stammesführern ausgegangen ist und die versucht, mit den Menschen in den Dörfern zu reden. Das ist der Ansatz der
Selbstbestimmung, den wir nachdrücklich fördern müssen. Eine andere Perspektive gibt es nicht.
({4})
Meine Damen und Herren, der britische General
Carleton-Smith hat etwas sehr Richtiges gesagt: Wir
müssen davon wegkommen, die Dinge mit den Gewehrläufen zu regeln, die durch Verhandlungen geregelt werden müssen. - Der Mann hat recht. Die Sprache der Gewehre muss jetzt durch die Sprache der Diplomatie
ersetzt werden. Das heißt, alle Kräfte müssen auf eine
politische Konfliktlösung konzentriert werden, und man
muss diesen Prozess - man sagt ja, dass in Mekka lediglich Smalltalk-Gespräche stattfinden, aber es ist doch
mehr - von außen fördern und Wege zu einem nationalen Aussöhnungsprozess öffnen.
Dabei steht für uns eines fest: Der Abzug der NATOTruppen wird nicht am Ende eines solchen Prozesses
stehen. Er ist eine Vorbedingung dafür. Darüber müssen
Sie nachdenken.
({5})
Ohne den unverzüglichen Beginn eines geordneten
Rückzugs und ohne eine konkrete Abzugsperspektive
wird der Frieden nicht zu erreichen sein. Wir können damit beginnen, indem wir den Antrag, das Mandat für den
Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan zu verlängern, ablehnen. Und das sollten wir dann auch tun.
Danke.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Paul Schäfer, es ist ein Irrtum, zu glauben: Wenn man
die von den Vereinten Nationen beauftragten Truppen
zur Unterstützung der gewählten afghanischen Regierung - über das diskutieren wir hier - sofort abzieht,
dann führt dies zu mehr Frieden. - Ein Abzug würde ein
Wiederaufleben genau jenes blutigen Bürgerkrieges bedeuten, der Afghanistan seit über 30 Jahren heimsucht.
({0})
Liebe Frau Homburger, ich empfehle Ihnen, sich einmal das Abstimmungsverhalten der FDP zu ISAF von
2001 bis heute anzuschauen. Dann werden Sie eine ganz
gerade Linie entdecken - aber nur, wenn Sie so viel Promille im Blut haben, wie Herr Haider sie hatte.
({1})
Es sollte allen zu denken geben ({2})
- ich weiß nicht, was daran pietätlos ist, wenn man darauf hinweist, dass man sich mit 1,8 Promille nicht hinters Steuer setzen sollte -, die hier für einen sofortigen
Abzug plädieren und dafür sogar demonstrieren, dass
gerade die, die dort Hilfe leisten - die Welthungerhilfe,
Medica Mondiale oder die Malteser -, in einer Stellungnahme eines ganz klar gefordert haben: Sie wollen einen
Vorrang für zivile Hilfe, und sie wollen eine andere Militärstrategie. Sie wollen aber, wie auch jene bei uns in der
Fraktion, die mit Nein stimmen - nachzulesen ist dies in
der Stellungnahme von VENRO vom 6. Oktober dieses
Jahres -, keinen Abzug. Und sie haben recht damit.
({3})
Meine Damen und Herren, genauso, wie es auf der einen Seite naiv und verantwortungslos ist, jetzt sofort die
deutschen Truppen aus Afghanistan abzuziehen, so ist es
auf der anderen Seite fahrlässig und verantwortungslos,
sich immer noch um die Beantwortung der Frage zu
drücken, mit welcher Perspektive wir in Afghanistan
präsent bleiben.
Peter Ramsauer hat dieser Tage gesagt, er fordere von
seiner Kanzlerin eine klare Perspektive für die Beendigung dieser Militäraktion in absehbarer Zeit. Ich stimme
ja nicht oft mit CSUlern überein, aber in diesem Punkt
hat Peter Ramsauer recht. Die Bundeswehrsoldaten, die
zivilen Helfer und die Polizisten in Afghanistan haben
ein Recht darauf, zu wissen, welche Ziele sich die Bundesrepublik Deutschland in Afghanistan setzt. Man kann
sich dabei nicht mit dem allgemeinen Satz begnügen,
dass man so lange dort bleiben wolle, bis - ich zitiere
aus dem Afghanistan-Konzept der Bundesregierung die afghanische Regierung selbst für ein sicheres
Umfeld sorgen kann, das Wiederaufbau und nachhaltige Entwicklung erlaubt.
Das ist Ihre Zeitperspektive. Was machen Sie aber mit
dieser Ansage, wenn die Niederländer im Jahre 2010 ihren Auftrag in Uruzgan beenden? Das wollen sie ja; dazu
gibt es einen Kabinettsbeschluss. Was machen Sie 2011,
wenn die Kanadier aus Kandahar abziehen und wenn zu
dem Zeitpunkt genau dieses sichere Umfeld, das Sie angesprochen haben, nicht erreicht ist? Wollen Sie dann
den Abzug der anderen durch weitere Aufstockungen
ausgleichen, oder wollen Sie dem Deutschen Bundestag
und der deutschen Öffentlichkeit nicht vielmehr endlich
einmal verbindliche und überprüfbare, das heißt auch
mit Zeitangaben versehene, Zielvereinbarungen darüber
vorlegen, was Deutschland in Afghanistan erreichen
will? Daran fehlt es doch.
({4})
Wir wollen keine Durchhalteparolen. Wir erwarten
von Ihnen lediglich ein realistisches Lagebild und einen
Stufenplan dafür, in welchen Schritten die Verantwortung an die Afghanen übergeben werden soll. Ich sage
Ihnen auch: Die Zögerlichkeiten im zivilen Aufbau müssen endlich beseitigt werden.
Es stimmt: Es kommt jetzt zu einer Aufstockung. Ich
sage übrigens, dass diese Aufstockung des Militärs richtig ist. Ich habe kein Problem damit. Ich füge aber hinzu,
dass sie in den nächsten 14 Monaten 200 Millionen Euro
kosten wird. Wenn Sie die Zahlen vergleichen - ich
weiß, dass militärische Kräfte teurer als zivile sind -,
dann kommen Sie zu der Feststellung, dass wir es geschafft haben - von 80 Millionen Euro im Jahre 2006
über 100 Millionen Euro im Jahre 2007 bis zu
140 Millionen Euro im nächsten Jahr -, außerordentlich
„bescheidene“ Steigerungsraten zu erreichen.
Nun kann man sagen, dass mehr vielleicht gar nicht
nötig ist. Sie belegen aber selber, dass mehr nötig ist;
denn für das nächste Jahr stellen Sie zusätzlich zu diesen
Beträgen 30 Millionen Euro für Soforthilfe zur Verfügung, um eine sich abzeichnende Hungerkatastrophe abzuwenden. Auch das ist richtig. Aber was heißt das? Das
heißt, dass die Situation nach sieben Jahren so ist, dass
wir akut zusätzlich Geld in die Hand nehmen müssen,
um eine Hungerkatastrophe abzuwenden, und dass der
Aufbau nicht in dem Ausmaß im Lande angekommen
ist, wie wir alle uns das gewünscht und gemeinsam vorgenommen haben. Daraus muss man an einem solchen
Tag doch einmal eine Konsequenz ziehen.
({5})
Das ist der Grund dafür, dass die Akzeptanz der internationalen Präsenz vom letzten bis zu diesem Jahr geringer
geworden ist.
Ich kann Ihnen ein anderes Beispiel nennen, den Polizeiaufbau. In diesem Bereich hat Deutschland die Führung. Schauen Sie sich die Zahlen an: Die USA geben
für den Polizeiaufbau 800 Millionen Dollar aus, während Deutschland 36 Millionen Euro zur Verfügung
stellt. Zählen wir die 9,9 Millionen Euro hinzu, die in
das EU-Projekt fließen, dann ist das gegenüber dem, was
die USA tun, noch immer vergleichsweise wenig.
Selbst den eigenen Ansprüchen werden Sie nicht gerecht. Sie haben 60 Polizisten für EUPOL zugesagt; es
sind 33 vor Ort. Sie haben 100 Kurzzeittrainer zugesagt;
es sind 40 vor Ort. Das größte Kontingent für die Polizeiausbildung stellen noch immer die Soldaten, nämlich
45 Feldjäger. Ich kann mich bei diesen Soldaten nur bedanken, weil sie das Versagen von Herrn Schäuble an
dieser Stelle ausgleichen.
({6})
Sie gleichen im Übrigen - diese Bemerkung sei mir erlaubt - auch das Versagen Bayerns aus, das es bis heute
nicht geschafft hat, einen einzigen Polizisten nach
Afghanistan zu schicken. Ich finde, auch damit sollte
sich der Freistaat beschäftigen.
({7})
Schließlich müssen wir uns sehr ernsthaft mit der Sicherheitslage beschäftigen. Seit zwei Jahren diskutieren
wir in diesem Hause darüber, wie wir den Schutz der
Zivilbevölkerung endlich sicherstellen können. Sie, Herr
Jung, haben uns in der Debatte um den letzten Einsatz
erklärt, dass es neue Einsatzrichtlinien gebe, die für
ISAF verbindlich und von OEF übernommen worden
seien. Das Problem ist, Herr Jung - Sie haben zwar
recht; für Ihren unmittelbaren Verantwortungsbereich
stimmt das auch -, dass man aber in Afghanistan im
Ganzen gesehen von dieser Änderung der Einsatztaktik
nichts gemerkt hat.
Es ist eine Tatsache, dass die Zahl der Toten in Afghanistan in 2007 so hoch war wie seit sieben Jahren nicht.
Es ist eine Tatsache, dass die Zahl der zivilen Opfer in
diesem Jahr gegenüber 2007 um 40 Prozent gestiegen
ist. Es ist auch eine Tatsache, dass dieser Anstieg der
Zahl ziviler Opfer zur Hälfte auf Militäraktionen von
ISAF, OEF und den afghanischen Sicherheitskräften zurückgeht. Es ist mittlerweile eine Tatsache, dass die
Hälfte der Provinzen für zivile Hilfsorganisationen nicht
mehr zugänglich ist. Das ist keine Polemik von Herrn
Schäfer oder sonst wem. Das belegen die offiziellen
Zahlen der Vereinten Nationen.
Herr Jung, ich weise darauf hin, dass auch die andere
Feststellung von VENRO richtig ist - Sie haben vorhin
dazu applaudiert -, die besagt, „dass ein Strategie- und
Prioritätenwechsel beim deutschen und internationalen
Afghanistan-Engagement nicht erfolgt ist“. Sie sind dafür. Sie haben ihn programmiert, und Sie stimmen uns in
dieser Hinsicht zu. Aber tatsächlich ist dieser Strategiewechsel in Afghanistan bis heute nicht erfolgt. Das ist
das Problem.
({8})
Jetzt droht etwas anderes. Die verfehlte Strategie der
Luftschläge und offensiven Militäraktionen droht sich
auf Pakistan auszuweiten. Ich betone das ausdrücklich,
obwohl und weil die Bundeswehr im Norden einen exzellenten Job macht. Sie führen dort keinen Krieg, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, sondern
sie sichern dort den Aufbau ab. Das ist eine Tatsache.
Dafür haben wir uns bei ihnen zu bedanken.
({9})
Die andere Seite der Wahrheit ist aber, dass die Stabilisierung scheitern wird, wenn beim Aufbau weiterhin
gekleckert wird, statt endlich zu klotzen, liebe Heidi
Wieczorek-Zeul. Sie wird auch scheitern, wenn das Desaster beim Polizeiaufbau weitere zwei Jahre anhält. Stabilisierung wird aber vor allen Dingen nur dann gelingen, wenn Afghanistan nicht weiter durch offensive
Kriegsführung in der Form, wie wir sie zuletzt in
Shindand - übrigens wie vor zwei Jahren - erlebt haben,
destabilisiert wird. Wer erst militärisch siegen will, um
dann aufzubauen, zerstört die Grundlagen für einen Aufbau und den Stabilisierungsansatz, wie ihn Deutschland
über Jahre hinweg praktiziert hat. Dieser Wahrheit haben
Sie sich nie gestellt.
Die Verschlechterung der Sicherheitslage zeigt, dass
die Kriegsstrategie, wie sie im Süden praktiziert wird,
dabei ist, die Aufbauerfolge im Norden existenziell zu
gefährden. Weil es diesen Strategiewechsel nicht gegeben hat, wird die Mehrheit meiner Fraktion der in Ihrem
Antrag vorgesehenen Mandatsverlängerung nicht zustimmen können. Das wird der Verantwortung nicht gerecht.
Aber umgekehrt sagen Ihnen auch diejenigen, die
heute zustimmen werden, in aller Deutlichkeit: So, wie
Sie es bisher praktiziert haben, können Sie im zivilen
Aufbau und in der Feigheit, sich mit der verfehlten Strategie auseinanderzusetzen, nicht weitermachen.
({10})
Ich gebe das Wort der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung,
Heidemarie Wieczorek-Zeul.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Bürgerkrieg in Afghanistan hat 2001 geendet. Das
ist sieben Jahre her; das ist eine lange Zeit. Es ist aber
auch wahr, dass dies in der Entwicklung eines solchen
Landes eine Zeit ist, in der man dranbleiben muss; denn
der Prozess bedarf der Nachhaltigkeit.
Jürgen Trittin, wir haben einer Regierung angehört.
Wir sind im Jahr 2001 gemeinsam eine Verpflichtung
gegenüber der afghanischen Bevölkerung eingegangen.
Wir haben gesagt: Wir stehen an eurer Seite. - Es ist
schwieriger geworden; das ist richtig. Aber wir können
uns nicht auf einmal zurückziehen; das geht nicht.
({0})
Die Konsequenz eines Rückzugs wäre - das hat Jürgen
Trittin schon gesagt; das sage ich auch an die Adresse der
Linkspartei - ein Bürgerkrieg, in dem auch Frauen massakriert würden. Ich habe 2001 versprochen, dass wir an
der Seite der afghanischen Frauen stehen werden und es
auch bleiben. Ich stehe zu dieser Verpflichtung und fühle
mich daran gebunden.
({1})
Wenn ich das sagen darf: Links bedeutet aus meiner
Sicht, dazu beizutragen, die Freiheitsrechte der Menschen auszuweiten, wo auch immer sie leben. Wenn das
in Afghanistan geschehen soll, bedeutet das, dazu beizutragen, dass niemand, auch Frauen nicht, die entrechtet
sind, massakriert wird. Links bedeutet nicht, sich herauszuhalten, sondern an der Seite der Menschen zu stehen.
Das ist meine feste Überzeugung.
({2})
Ich weiß, dass die Situation schwieriger geworden ist.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch sagen: Es hat
große Fortschritte gegeben. Ich erinnere daran, dass die
Kindersterblichkeit zurückgegangen ist und dass 85 Prozent der Menschen in Afghanistan Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Wir, das Entwicklungsministerium, zeigen Ihnen auf - das liegt Ihnen vor; das werden
wir künftig für die ISAF-Mandatsdauer von einem Jahr
bzw. 14 Monaten immer machen -, welche Erfolge beim
Aufbau und welche entwicklungspolitischen Fortschritte
durch die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in
Afghanistan erzielt wurden. Die Bilanz kann sich sehen
lassen.
({3})
Ich nenne nur ein paar Punkte. Mit unserer Unterstützung ist die erste Mikrofinanzbank Afghanistans aufgebaut worden. Sie hat 13 Filialen und hat 70 000 Kredite
vergeben. Das bedeutet, 70 000 Existenzen zu schaffen
und zu unterstützen. Das ist wichtig und eine wunderbare Leistung.
({4})
Mithilfe des nationalen Solidaritätsprogramms sind über
20 000 Projekte fertiggestellt worden. 18 000 laufen
noch. Diese Projekte werden von 21 000 gewählten Gemeinderäten im gesamten Land gesteuert. Die Wasserkraftwerke Mahipar und Sarobi funktionieren und geben
800 000 Menschen wieder Zugang zu stabiler Stromversorgung. Mithilfe der Provinz- und Distriktentwicklungsfonds sind allein in diesem Jahr einkommenschaffende Maßnahmen für über eine Million Menschen in
den Provinzen Kunduz, Takhar und Badakhshan durchgeführt worden. Das sind reale Fortschritte.
Jürgen Trittin, du selber weißt das doch viel besser. Es
gibt 30 Geberländer für Afghanistan. Deutschland muss
den Aufbau dort doch nicht allein stemmen. Es handelt
sich vielmehr um eine große Gemeinschaftsaufgabe.
Deshalb müssen sowohl der Wiederaufbau als auch die
militärischen Aktionen im Zusammenhang gesehen werden.
({5})
Seit fast einem Jahr unterstützt die GTZ International
Services auf Bitten der Niederlande - Sie haben es angesprochen - den zivilen Wiederaufbau im Süden und versucht, Alternativen zum Mohnanbau anzubieten. Es geht
um einen Beitrag zur ländlichen Entwicklung in einem
Gesamtrahmen von bis zu 34 Millionen Euro. Diese Erfolge schaffen den Boden, auf dem Eigenverantwortung
Wurzeln schlagen kann.
Wir haben allen Anlass, den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern, die dort Wiederaufbau leisten, seien sie aus
den staatlichen Institutionen, seien sie aus Nichtregierungsorganisationen, ein herzliches Dankeschön für die
Arbeit zu sagen, die sie dort leisten.
({6})
Wir haben aber auch allen Anlass, den deutschen Soldatinnen und Soldaten zu danken, die in der Region, in der
sie stationiert sind, ein Klima der Sicherheit schaffen
sollen. Der zivile Wiederaufbau ist Voraussetzung für
den Erfolg Afghanistans. Die ISAF ist die Voraussetzung für den Erfolg des Wiederaufbaus und für die politische Stabilisierung.
({7})
Die deutschen Soldaten werden von der Bevölkerung in
Afghanistan als Helfer verstanden, und ihnen wird für
ihre Unterstützung von der Bevölkerung außerordentlich
gedankt. Das kann jeder, der selbst im Land war, bestätigen.
Notwendig sind Fortschritte bei der Regierungsführung, im Kampf gegen Korruption und Drogenhandel
und bei der Ablösung korrupter Regierungsvertreter und
korrupter Polizisten. In diesem Zusammenhang möchte
ich meine große Erwartung und meine Hoffnung auf den
Innenminister, Herrn Athmar, setzen. Der hat einen
klasse Job als Bildungsminister gemacht. Wir setzen alle
Erwartungen und Hoffnungen auf ihn, dass seine Amtsführung im Sinne dessen, was ich gesagt habe, erfolgreich sein möge.
({8})
Eines, was Herr Kollege Schockenhoff vorhin angesprochen hat, ist wichtig: Im Jahr 2008 sind 18 von 34 Provinzen in Afghanistan ohne Schlafmohnanbau, und zwar
in der Region, in der Deutsche Wiederaufbauhilfe leisten
und die deutschen ISAF-Soldaten stationiert sind. Das
ist doch ein Erfolg, zu dem man weiterhin beitragen
muss.
({9})
Noch ein Wort - Jürgen Trittin, du hast das angesprochen - zu den Finanzen. Wir haben 30 Millionen Euro
zusätzlich für die Bekämpfung von Hunger und Unterernährung zur Verfügung gestellt. Was sind die Ursachen
dafür? Dürre und hohe Nahrungsmittelpreise. Das ist
auch in anderen Ländern so. Das hat doch nichts damit
zu tun, dass wir in diesem Bereich bisher zu wenig Mittel investiert hätten. Ich will ausdrücklich sagen: Wir haben diese zusätzlichen 30 Millionen Euro dem Welternährungsprogramm zur Verfügung gestellt, und wir
werden auf bilateraler Ebene Nothilfemaßnahmen in
Nord- und Südostafghanistan durchführen, damit die
Nahrungsmittelkrise bekämpft wird und auf lokaler
Ebene Beschäftigung geschaffen wird. 10 Millionen
Euro werden in den Bereich der Energieversorgung und
der beruflichen Bildung gehen. Das heißt, die Bundesregierung stellt allein im Bereich des zivilen Wiederaufbaus 170,7 Millionen Euro zur Verfügung. Hinzu kommen humanitäre Hilfe, Nothilfe und Sondermittel des
Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz. Im Übrigen darf man nicht nur die
bilateralen Mittel sehen. Wir sind Mitglied der Weltbank, die ihrerseits zusammen mit der Asiatischen Entwicklungsbank tätig ist.
Für die Zukunft Afghanistans - das haben viele von
Ihnen angesprochen; diese Ansicht teile ich - ist die Stabilisierung der Nachbarregionen von besonderer Bedeutung. Dieser Stabilisierung dient es nicht, wenn US-Militär unterschiedslos Raketenangriffe auf die sogenannten
FATAs, also die Stammesgebiete an der Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan, durchführt und mutmaßlich Militante erschießt. Dies ist falsch und kontraproduktiv.
({10})
Der pakistanische Finanzminister, mit dem ich am
Rande der Weltbanktagung ein längeres Gespräch hatte,
hat deutlich gesagt, er halte das für eine völlig falsche
Strategie der USA. Er hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich gerade dadurch die Bevölkerungsgruppen
in den FATAs mit den Taliban solidarisieren, obwohl sie
in keiner Position miteinander verbunden sind.
Wir sind im Übrigen bemüht, unser Engagement in
der Northwest Frontier Province auszudehnen. Das ist
unter den jetzigen Bedingungen - auch für die Durchführung - sehr schwierig. Ich will ausdrücklich sagen:
Wir haben das auch der pakistanischen Seite angeboten,
damit die Menschen in diesen Regionen die Chance haben, zu sehen, dass der Wiederaufbau auch in ihrem
Sinne vorankommt.
Ich komme zum Schluss. Ich habe der Verlängerung
dieses Einsatzes im Kabinett zugestimmt, und ich tue
das auch als Abgeordnete. Das Ziel ist, die Eigenverantwortung der afghanischen Seite und damit der Menschen
zu stärken und ihnen Hoffnung zu geben. Dafür arbeiten
wir. Ich bitte Sie, das zu unterstützen.
Ich bedanke mich.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Hellmut Königshaus,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt
Fortschritte - das haben wir jetzt mehrfach gehört -,
aber leider nicht genug. Wer wirklich Fortschritt will,
der muss nicht nur schön reden, sondern auch entschlossen handeln, und er muss auch zurückschauen, damit er
für die Zukunft weiß, wie man das Ganze vernünftig angeht. Man sollte zum Beispiel betrachten, was in der
Vergangenheit versäumt wurde.
Als die Lage noch ruhig war - darüber waren wir damals alle sehr froh -, ist es versäumt worden, wirklich
schnell für einen spürbaren Aufschwung und Aufbau zu
sorgen. Jetzt wird es natürlich immer schwieriger. Das
gilt für den Polizeiaufbau, das gilt für ein funktionierendes Justizsystem. Wir wurden und werden unserer besonderen Verantwortung dort bisher nicht gerecht. Denken Sie nur an die bereits angesprochenen Fälle wie
Korruption und Drogenanbau. Der Drogenanbau geht in
einigen Bereichen zurück; das ist wahr. Er geht übrigens
überall dort zurück, wo sich die zuständigen Gouverneure dafür verantwortlich fühlen; aber insgesamt gibt es
eben noch keinen signifikanten Rückgang. Das ist leider
traurige Wahrheit.
({0})
Es wird jetzt immer schwieriger, Aufbauarbeit zu
leisten. Dabei ist das die zentrale Frage, auch bei der Lösung der Sicherheitsprobleme, die wir dort leider immer
noch haben. Oberst Gertz vom Deutschen BundeswehrVerband hat das noch einmal deutlich gemacht: Ohne
Aufbau wird sich die Sicherheitslage dauerhaft nicht
verbessern lassen. Wir müssen den Teufelskreis dort
endlich durchbrechen. Wir müssen mit dem Wiederaufbau endlich ernst machen. Lieber Kollege Trittin - auch
ich habe mir das aufgeschrieben -, wir müssen endlich
aufhören zu kleckern, wir müssen endlich klotzen.
({1})
Das gilt, trotz eines Aufwuchses im Entwicklungshaushalt, auch für Afghanistan. Die Koalition tut derzeit viel
zu wenig.
Wir haben im Rahmen der Haushaltsberatungen versucht, an verschiedenen Stellen etwas voranzubringen.
Im Auswärtigen Ausschuss wurde ein Antrag der FDP,
zusätzlich 10 Millionen Euro für den Polizeiaufbau zur
Verfügung zu stellen - immerhin sind wir dort eine der
entscheidenden Kräfte; wir haben dort Verantwortung
übernommen -, abgelehnt. Im Entwicklungsausschuss
haben wir gefordert - im Übrigen in Übereinstimmung
mit der grundsätzlichen Zielsetzung der Grünen und
auch der Linken, wenn ich das recht verstanden habe -,
dass wir für den Aufbau in Afghanistan 50 Millionen
Euro draufsatteln. Auch das wurde abgelehnt. Wenn wir
diesen Auftrag in Afghanistan wirklich ernst nehmen,
wenn wir den Zusammenhang zwischen Aufbau und militärischer Sicherheit ernst nehmen, wenn wir unsere
Kräfte dort baldmöglichst wieder abziehen wollen, dann
müssen wir den Aufbau voranbringen und dann müssen
wir eben auch im finanziellen Bereich nicht so zurückhaltend sein, sondern noch etwas dazulegen.
Es gibt nach wie vor ein groteskes Missverhältnis
zwischen den Kosten für den Militäreinsatz und den tatsächlich erbrachten Aufbauleistungen. Wir sind dort militärisch engagiert, weil wir aufbauen wollen, weil es
rückwärtsgewandte Kräfte gibt, die den Aufbau verhindern wollen, und nicht umgekehrt. Deshalb gilt der alte
Grundsatz, den wir Ihnen schon seit Jahren nahelegen:
Je schleppender der Aufbau ist, desto länger müssen wir
dort bleiben.
({2})
Bedarf ist vorhanden. Die Aufbauhelfer, mit denen
wir dort gesprochen haben, haben uns ganz dezidiert erklärt, dass sie in der Lage wären, deutlich mehr in ihren
konkreten Projekten zu tun, aber auch jederzeit zusätzliche Projekte zu übernehmen. Als wir mit dem Außenminister da waren - ich habe das vor kurzem schon einmal
in anderem Zusammenhang gesagt -, war mit Leichtigkeit festzustellen, welche zusätzlichen Projekte sich dort
unmittelbar anbieten und auch erforderlich sind.
Die Ministerin hat eben völlig zu Recht die Dürre und
die katastrophalen Folgen für die Ernährungslage angesprochen. Pläne für Staudammprojekte sind fertig, man
könnte anfangen, es fehlt am Geld - im Norden, in unserem eigenen Zuständigkeitsbereich! Es gäbe Möglichkeiten, Stromverbindungen zu schaffen, um so im Westen den Großraum Herat besser zu versorgen. Viele
andere Dinge mehr, Straßenbau zum Beispiel, wären
noch zu nennen. Lassen Sie uns doch hier nun endlich
Nägel mit Köpfen machen und die Mittel für einen entsprechenden Beitrag zur Verfügung stellen!
({3})
Eine positive Veränderung möchte ich ansprechen,
nämlich die Sicherung unserer Aufbauhelfer. Dazu gibt
es endlich ein, soweit man das beurteilen kann, wirklich
tragfähiges Konzept. Anders als das bisher der Fall war,
werden die Mittel für die Sicherheitskosten nunmehr getragen und müssen nicht mehr aus den eigentlichen Projektmitteln bestritten werden. Dafür vielen Dank! Das ist
richtig. Das ist etwas, was unsere Aufbauhelfer dort verdient haben. Wirkliche Hilfe ist viel wichtiger als der
Dank an die Aufbauhelfer, der natürlich auch sein muss
und den ich hier für meine Fraktion ebenfalls gern ausspreche.
({4})
Nicht nur beim Aufbau haben wir bisher zu zurückhaltend agiert. Auch beim Militäreinsatz haben wir nach
wie vor die alten Probleme. Die Ausrüstung ist nicht
ausreichend. Fahrzeuge fehlen. Ich nenne die Frage der
Hubschrauber. Herr Verteidigungsminister, das ist doch
nach wie vor eine Katastrophe. Während die Chinesen in
der Zeit, in der wir dort engagiert sind, ein Weltraumprogramm aus dem Boden gestampft haben und Taikonauten in den Weltraum schicken, waren der Verteidigungsminister und seine Vorgänger hier nicht in der Lage,
noch zwei oder drei zusätzliche Hubschrauber dahinzuschicken. Was wir dort erleben, ist eine Katastrophe.
({5})
- Wir wollen nicht abrüsten. Da irren Sie sich gewaltig,
Herr von Klaeden. Was für einen Quatsch erzählen Sie
denn da?
({6})
Es gilt, jetzt wirklich ein bisschen mehr Druck zu machen. Wenn es an der Industrie liegen sollte, muss man
eben deutlich machen, dass man das auf Dauer nicht akzeptieren kann.
Ich muss leider zum Ende kommen - ich sehe das
Zeichen, Frau Präsidentin -, und deshalb möchte ich nur
noch sagen: Es sollte aufhören, dass Leute der Bundesregierung, die dafür nicht zuständig sind, insbesondere der
Außenminister, hier über die Rolle des KSK schwafeln.
Das KSK hat mit dem heute zur Abstimmung stehenden
Antrag nichts zu tun. Das ist eine andere Frage. Aber
wenn wir schon über das KSK reden, dann müssen wir
uns doch darüber im Klaren sein, dass das eine Truppe
mit besonderen Fähigkeiten ist, die wir möglicherweise
einmal brauchen.
Herr Kollege Königshaus.
Ich komme zum Schluss. - So etwas ohne Not zur
Disposition zu stellen, ist schlichtweg unverantwortlich.
Das sollten Sie hier wirklich klarstellen, Herr Verteidigungsminister; denn Sie sind dafür zuständig und auch
verantwortlich.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion gebe ich das Wort dem
Kollegen Manfred Grund.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Unsere Afghanistan-Verantwortung geht weit
über die Beseitigung humanitärer Notlagen oder die militärische Absicherung der gewählten Regierung Karzai
hinaus. Es ist schlichtweg die Handlungsfähigkeit der internationalen Staatengemeinschaft, die Handlungsfähigkeit der NATO und des Westens gegenüber Extremisten
und Terroristen, die hier auf dem Prüfstand steht. Ein
Versagen unsererseits hätte unabsehbare Folgen, Folgen,
die sich bis vor unsere Haustür erstrecken würden.
({0})
Richtig ist auch - dies wurde bereits gesagt -, dass die
Taliban nicht allein mit militärischen Mitteln zu verdrängen sind. Weil wir wissen, dass es auf absehbare Zeit
keinen Wiederaufbau und keine Entwicklung ohne Sicherheit gibt, ist die heutige Mandatsverlängerung für
die Sicherheit und damit die Zukunft Afghanistans von
so großer Bedeutung. Um unsere Soldaten aus Afghanistan wieder abziehen zu können, müssen wir an einen
Punkt gelangen, an dem sich die Afghanen selber gegen
die Taliban wehren, für ihre innere Sicherheit sorgen und
die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den Griff
bekommen können.
Ein zentraler Punkt auf dem Weg dorthin ist die Entwicklungszusammenarbeit, die wirtschaftliche Zusammenarbeit. So hat allein die deutsche Entwicklungsarbeit
über die Investitionsagentur dazu beigetragen, dass bis
Ende dieses Jahres etwa 19 000 Unternehmen mit nahezu
550 000 neuen Arbeitsplätzen entstehen können. Über
Mikrofinanzierung - die Ministerin hat es bereits ausgeführt - wurden 56 Millionen Euro an 52 000 Handwerker, Gewerbetreibende, Privatpersonen und Dienstleister
vergeben. Mit Darlehen zwischen 130 und 1 300 Euro
wurde ihnen der Aufbau einer Existenz erleichtert. Insgesamt sind rund ein Viertel der 34 000 Kilometer ländlicher Straßen wiederhergestellt. Es können 7 Millionen
junger Menschen - viele davon Mädchen - wieder in die
Schule gehen. Es hat sich vieles getan, und dies wird von
den Afghanen auch geschätzt.
Wir wissen um einige grundsätzliche und strukturelle
Probleme, etwa den Mangel an qualifiziertem Personal
in der afghanischen Verwaltung, Defizite in der Verwaltung, die den wirkungsvollen Staatsaufbau behindern,
die landesweite Korruption und die Verwicklung offizieller Mandatsträger in Drogenanbau und -handel. Wir
wissen auch um Probleme bei der inhaltlichen und organisatorischen Abstimmung der vielen internationalen
Geber mit der afghanischen Regierung. Deshalb ist Folgendes zu tun:
Erstens. Die Kapazitäten zur Selbsthilfe sind auf afghanischer Seite auszubauen.
Zweitens. Die internationale Zusammenarbeit und
Arbeitsteilung mit den afghanischen Regierungsstellen
ist deutlich zu verbessern. Dazu gehören klare Zielvorgaben für die internationalen Geldgeber, aber auch für
die Regierung Karzai. Auch könnte und sollte die Zusammenarbeit unserer deutschen Regierungsstellen enger werden.
Drittens. Wir müssen - das ist beim Kampf um die
Herzen ein zentraler Punkt - unsere Mittel im zivilen
Bereich noch unmittelbarer der Bevölkerung und damit
den Bedürftigen zukommen lassen. Wir fangen da nicht
bei null an. Es gibt sehr erfolgreiche Arbeiten und gute
Ansätze, die weiterzuführen und zu stärken sind. So erhalten beim arbeitsintensiven Straßenausbau in unserem
Verantwortungsbereich im Norden des Landes Arbeiter
circa zwei Euro am Tag, was dort relativ viel Geld ist,
für ihre sehr verantwortungsvolle Arbeit. Mit diesen Arbeiten werden bisherige Trampelpfade in entlegene Dörfer befahrbar gemacht. Damit wird den örtlichen Händlern die Möglichkeit gegeben, Zugang zu den lokalen
Märkten und Dienstleistungsmärkten zu finden.
({1})
Wir haben unsere finanziellen Ansätze für die Entwicklungszusammenarbeit mehrfach aufgestockt. Es ist
richtig, dass wir für das nächste Jahr wieder einen bilateralen Verpflichtungsspielraum in Höhe von 70 Millionen
Euro vorsehen. Diese Mittel sind so einzusetzen, dass
die Bevölkerung unmittelbar etwas davon hat, also im
Straßenausbau, in der Wasserversorgung und in der Energieversorgung. Diese Leistungen kommen der afghanischen Bevölkerung direkt zugute; sie werden von ihr anerkannt. Es sind Leistungen, die die Taliban nicht
erbringen können und nicht erbringen wollen.
Bei der Drogenbekämpfung sind wir dann am erfolgreichsten, wenn wir die afghanischen Bauern in die Lage
versetzen, ihren Lebensunterhalt ohne Drogenanbau zu
bestreiten, etwa durch die Instandsetzung der alten Bewässerungssysteme. Die entwicklungsorientierte Drogenbekämpfung muss durch Maßnahmen der aktiven
Drogenbekämpfung flankiert werden. Erfolge zeigen sich
- auch dies wurde zweimal gesagt - in dem von uns betreuten Norden, wo der Drogenanbau praktisch zum Erliegen gekommen ist.
Meine Damen und Herren, ohne ein stabiles Pakistan
ist - das ist eben schon gesagt worden - auch nicht an
ein stabiles Afghanistan zu denken. Doch angesichts der
angespannten Sicherheitslage in den Grenzgebieten zu
Pakistan sind Entwicklungsmaßnahmen dort schwerer
umzusetzen. Wir sollten dennoch auf die dortige Lage
reagieren. Wir sollten unser Engagement, auch unser
ziviles, auf das benachbarte Pakistan und die dort vorhandenen sensiblen Armutsregionen ausweiten.
({2})
Auch hier geht es um Mikrofinanzierung, um Gesundheit und Bildung. Grenzüberschreitende Pilotprojekte
zwischen Pakistan und Afghanistan könnten so die regionale Stabilität erhöhen. Wir können mit unserer Entwicklungszusammenarbeit auch zur Stärkung der inneren Stabilität beitragen. Dazu sollten wir den Aufbau
verantwortungsvoller staatlicher Strukturen fördern. Es
gilt, die bisherige Arbeit im Sozialsektor voranzubringen
und durch die Arbeit von Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes die Zivilgesellschaft zu stärken.
Lassen Sie uns gemeinsam einen Ansatz für eine konzertierte, im besten Sinne grenzüberschreitende Zusammenarbeit finden! Vielen Dank allen, die kooperativ daran mitwirken.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Gehrcke,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
wundere mich über die große Verdrängungsleistung in
dieser Debatte; denn viele Tatsachen werden einfach
ausgeblendet. Ich wundere mich, dass man nicht bereit
ist, einen anderen politischen Grundansatz, der nicht auf
militärische Lösungen setzt, ernsthaft zu durchdenken.
Ich unternehme noch einmal den Versuch, Ihnen die
Friedensvorschläge der Linken darzustellen, und erwarte, dass diese Vorschläge ernsthaft diskutiert werden.
({0})
Ich nenne Ihnen auch die Bedingungen dafür.
Es ist doch auffällig, dass in der ganzen Debatte nur
von der Linken der Begriff „Selbstbestimmung“ in Bezug auf das afghanische Volk verwandt wird.
({1})
Ich möchte, dass die Afghaninnen und Afghanen endlich
selber bestimmen. Es ist unerträglich, dass der afghanische Präsident und die Regierung nicht einmal darüber
entscheiden können, wo welche Bomben in Afghanistan
abgeworfen werden.
({2})
All das wird in Washington bzw. von den Militärs entschieden. Es ist unerträglich, dass der Präsident von Pakistan nicht darüber entscheiden kann, ob sein Land
bombardiert wird oder nicht. Wir fordern Selbstbestimmung. Das ist der erste Ansatz.
Zweitens möchte ich, dass von der deutschen Politik
der Prozess einer nationalen Versöhnung in Afghanistan
gefördert wird. Auf diesen Prozess muss man bauen. Ich
halte die Friedens-Jirga für einen ganz bedeutenden
Fortschritt; denn so versuchen die Afghaninnen und
Afghanen, ihre Probleme selber zu lösen. Ich denke, es
wäre sinnvoll, eine Politik zu machen, die bereits im
nächsten Jahr Waffenstillstandsvereinbarungen ermöglicht, damit die Waffen in Afghanistan endlich schweigen. Darüber muss ernsthaft verhandelt werden.
({3})
Waffenstillstand wäre ein denkbarer nächster Schritt,
wenn man ernsthaft in dieser Richtung vorgehen will.
({4})
Interessant war, dass niemand von Ihnen den MekkaProzess hier erwähnt hat. Auch der Außenminister
spricht nicht darüber. Im Ausschuss sagte er, er müsse
telefonieren, um zu erfahren, was dort los sei. Sie sind in
keinem Friedensprozess richtig verankert und täuschen
das Parlament mit Ihren Aussagen.
({5})
- Das beweise ich Ihnen.
In das Waffenstillstandspaket gehört, dass Fortschritte
in Afghanistan festgeschrieben und gesichert werden.
Dazu gehören Bildung, Frauenrechte, Rechtstaatlichkeit
und Polizeiaufbau, der Aufbau einer nicht korrupten Polizei, die dann auch besser bezahlt werden kann. Es ist
Unsinn, wenn Sie hier behaupten, dass zur Absicherung
der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen Militär
unbedingt notwendig sei. Indien hat 3 000 Entwicklungshelfer nach Afghanistan entsandt, aber keinen einzigen Militär. Die indische Regierung hat uns immer gesagt, dass der Einsatz von Militär den Einsatz der
Entwicklungshelfer eher gefährdet als erleichtert.
({6})
Also, Bildung, Frauenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Polizeiaufbau.
Wenn man diese Wege geht, muss drittens eine Hilfe
für eine andere Ökonomie in Afghanistan dazugehören.
In Afghanistan braucht man Infrastrukturhilfe. Die
Afghaninnen und Afghanen sagen aber immer auch,
dass sie gern selbst darüber entscheiden möchten, welches Projekt umgesetzt und welches Projekt nicht umgesetzt wird. Auch in diesem Fall entsteht der Eindruck,
dass die eigentlichen Entscheidungen im Ausland, aber
nicht in Afghanistan selbst fallen. Deshalb muss man
eine andere Ökonomie durchsetzen, die wegführt von
der Drogenökonomie. Wenn erst einmal ein Krieg gegen
Drogen geführt wird, wenn Sie glauben, das Problem
durch das Abbrennen der Drogenfelder zu lösen, dann
schaffen Sie sich noch ganz andere Probleme an den
Hals.
Dieser Prozess muss in eine regionale Sicherheitskonferenz und in regionale Sicherheitsstrukturen eingebaut
werden. Es ist notwendig, dass man in der UNO dafür
wirbt. Es wäre interessant - Sie haben diese Idee ebenfalls vertreten, Kollege Erler -, zu erfahren, was
Deutschland in diese Richtung unternehmen will. Ohne
die Zusammenarbeit mit Pakistan - die Destabilisierung
Pakistans geht auch vom Krieg in Afghanistan aus -,
ohne eine Stabilisierung Pakistans, ohne Krieg und
Bombenangriffe, ohne eine Kooperation mit Indien,
ohne eine Kooperation mit Iran - der Iran ist wichtig für
diese Zusammenarbeit -, ohne dass man die SchanghaiGruppe mit China und Russland in diesen Prozess einbezieht, schafft man keine Stabilisierung in der Region.
Das ist Politik. Politik ist aber nicht gleichzusetzen mit
Militär.
({7})
Das sind die Wege, die gegangen werden können.
Wenn Sie aber aus der Logik des Militärischen nicht herauskommen, dann wird eine andere Logik Raum greifen.
Die Spirale ist doch: mehr Militär, mehr der Eindruck
der Besatzung in Afghanistan, mehr Widerstand, und
dann kommen Sie wieder mit der Forderung nach mehr
Militär.
Deutschland stellt einen Teil der NATO-Truppen in
Afghanistan. Somit verantwortet Deutschland auch die
Gesamtpolitik der NATO in Afghanistan. Diese Spirale
muss man durchbrechen. Das kann man nur mit Politik,
aber nicht dadurch, dass man immer mehr Soldaten
schickt. Das ist das, was jetzt getan werden kann.
Schönen Dank.
({8})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Rainer Arnold von
der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Herr Gehrcke, während Ihrer Rede musste ich manchmal
auf die Uhr schauen, weil ich das Gefühl hatte, dass es
nicht 16 Uhr, sondern dass es schon Geisterstunde ist.
({0})
Sie zeichnen ein Bild, das mit der Wirklichkeit nichts
zu tun hat. Als ob wir nicht wüssten, dass Bildung und
Aufbau zentral sind. Wir bemühen uns doch jeden Tag
darum. Zudem lügen Sie, wenn Sie sagen, Frank-Walter
Steinmeier hätte nichts zu den Verhandlungen gesagt.
Von hier aus hat er in seiner letzten Rede zu diesem
Thema gesprochen.
({1})
Lesen Sie doch einmal das ISAF-Mandat. Dort heißt
es, dass wir in Afghanistan sind, um die Afghanen zu
unterstützen. Das ist alles festgeschrieben, und so verstehen wir diesen Auftrag.
Der Unterschied besteht darin, dass Sie versuchen,
den Menschen einzureden, dass in Afghanistan einfach
alles gut wird, wenn die europäischen und amerikani19504
schen Soldaten gehen. Das ist naiv. Sie könnten als
Linke genauso gut beschließen, dass der Himmel grün
sei. Der Himmel wird aber nicht grün, wenn Sie das beschließen. Die Welt ist nun einmal anders.
Es lohnt sich, die Art und Weise zu betrachten, wie
Ihre Partei mit diesem Thema umgeht. In diesem Hohen
Hause sitzen viele Kolleginnen und Kollegen, die in
Afghanistan waren. Ich glaube, alle führenden Politiker
der Parteien haben sich dieser Mühe unterzogen. Die
beiden politischen „Vorderlader“ Ihrer Fraktion jedoch
waren nie in Afghanistan. Dies zeigt, dass Ihnen die
Menschen in Afghanistan, um die es geht, ziemlich egal
sind.
({2})
Das zeigt auch, dass es sehr bequem ist, am warmen
Schreibtisch in Deutschland Anträge zu Afghanistan zu
schreiben, während man die Wirklichkeit in Afghanistan
gar nicht kennenlernen will. Es könnte ja sein, dass man
dabei etwas lernt.
({3})
Das zeigt außerdem, welches Bild Sie von den Soldaten
haben. Die Soldaten verstehen das Signal, das Sie ihnen
senden, dass Sie sich nicht um ihren Einsatz kümmern.
Nein, in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik
darf eine Opposition selbstverständlich die Regierung
kritisieren und anderer Meinung sein.
({4})
Aber in der Geschichte unseres Landes hat sich eine Opposition in einer ernsten und schwierigen Situation nie
so billig und schändlich aus einem Minimum an Verantwortung, die wir alle als Demokraten spüren sollten, gestohlen, wie es die Linken bei diesem Thema tun.
({5})
Lassen Sie mich zu Wichtigerem kommen, zu Fragen
der Strategie; dazu wurde schon sehr viel gesagt. Natürlich wird die Strategie in vielen Konferenzen ständig
nachjustiert. Natürlich braucht man sie nicht neu zu erfinden. Es wurde schon deutlich, was konsequenter gemacht werden muss. Man muss das, was man in Afghanistan erkannt hat, entschlossen tun. Das ist eines der
Probleme.
Ich möchte zwei Bereiche ansprechen, von denen ich
glaube, dass man weiterdenken muss. Wir reden zum einen davon, dass der zivile Aufbau zu schleppend ist. Ich
habe manchmal den Eindruck, dass wir da einen falschen Maßstab anlegen. In Deutschland kann sich niemand mehr vorstellen, dass in Afghanistan der Brunnen
für die Familie, das Dach und die Heizung für eine
Schule oder eine Hebamme, die das Leben eines Kindes
rettet, ein ungeheurer Fortschritt sind. Wir sollten dieses
Land nicht an uns messen, sondern an anderen bettelarmen Ländern. Im Vergleich zum Sudan, zum Kongo, zu
Somalia und vielen anderen geht es in Afghanistan
voran. Dies ist die Orientierung.
({6})
Wir sollten zum anderen daran denken, dass es vor
wenigen Monaten einen sozialdemokratischen Spitzenpolitiker gab, der, als er aus Afghanistan zurückgekommen ist, gesagt hat: Man muss natürlich auch verhandeln, und zwar an der Spitze der Regierung, aber auch
draußen, dezentral, bei den PRTs. - Über ihn ist Häme
und Spott ausgeschüttet worden. Heute, vor einer
Stunde, hat der amerikanische General Petraeus genau
dies gefordert. Dies ist natürlich ein notwendiger und
richtiger Weg. Um auf diese Idee zu kommen, brauchen
wir überhaupt keine Linke in diesem Bereich.
({7})
Ich bekenne mich dazu, dass ich nicht alles über
Afghanistan weiß und in zwei Punkten immer wieder
mit mir ringe. Ich glaube, das geht vielen so. Die erste
Frage ist: Haben wir noch die richtige Antwort auf diese
ernste Situation im Norden, in der Provinz Kunduz? Das
ist ein Thema, das uns beschäftigen muss. Ich weiß
nicht, ob die deutsche Vorgehensweise ausreichend ist.
Ich bin sehr dafür, dass die deutschen Soldaten vorsichtig und besonnen sind. Das macht sie stark. Aber ich
habe manchmal die Sorge, dass wir zu oft fragen: Was
wollen wir, was dürfen wir? Ich glaube, wir müssten
häufiger fragen: Was hilft in dieser Situation? Ich wünsche mir - das sage ich mit Blick auf die militärische
Führung -, dass die Soldaten, die Erfahrungen vor Ort
haben, die besonnen sind und ihre Einschätzungen nach
Deutschland tragen, von der militärischen Führung ernst
genommen werden und ihr Rat abgewogen wird und in
die weitere Strategie einfließt.
Das Zweite, wovon ich meine, dass wir darüber nachdenken müssen, ist ein Thema, das hier schon angesprochen worden ist: der Faktor Zeit. Wir alle sagen: Wir
brauchen Geduld. Gleichzeitig spüren wir in der deutschen Debatte ebenso wie in Afghanistan: Die Zeit läuft
uns in Afghanistan davon. Wenn dies so ist, ist es schlüssig, dass wir jetzt mehr tun müssen - dies gilt auch für
die 1 000 Soldaten -, damit wir dieses Mandat eines Tages so verändern können, dass die deutschen Soldaten
nicht in erster Linie draußen für Stabilität sorgen müssen, sondern dass sie zunehmend, Schritt für Schritt, in
eine Assistentenfunktion für die afghanischen Sicherheitsorgane kommen. Das ist etwas ganz Wichtiges.
Herr Kollege Trittin, an einem Punkt machen Sie einen Fehler. Den Faktor Zeit sozusagen einem Gleis
gleichzusetzen und einen Bahnhof zu definieren, an dem
man anhalten muss, kann nicht funktionieren. Ich glaube
schon, dass es richtig ist, ein grobes Ziel zu definieren.
Es lautet, Stabilität zu schaffen, Terror zurückzudrängen
und gleichzeitig afghanische Sicherheitsorgane aufzubauen, damit sie selbst damit umgehen können. Es ist
richtig: Die Regierung wird Evaluierungsberichte vorlegen.
({8})
- Die Regierung hat zugesagt, dass zukünftig jedes Jahr
ein solcher Bericht erstellt wird. Das begrüßen wir ausdrücklich.
({9})
Die einzelnen Etappen muss man prüfen. Man kann
sie aber nicht mit einem Datum versehen.
Herr Trittin, ich möchte an die drei Länder Norwegen,
Kanada und Niederlande erinnern.
Herr Kollege Arnold, darf ich Sie an Ihre Zeit erinnern?
- Ich komme sofort zum Ende. - Die Niederländer
zum Beispiel, die eine Armee von 46 000 Soldaten haben, sind mit 1 700 Soldaten in Afghanistan. Das halten
sie nicht auf Dauer durch. Ich glaube, Deutschland muss
sich an Frankreich und Großbritannien orientieren, aber
da wird die Sache eben kompliziert.
Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Wir alle
wissen, dass es um deutsche Interessen der Stabilität und
der Sicherheit geht.
Herr Kollege Arnold!
Ich bin fertig.
Danke schön.
Es geht auch um die Menschen in Afghanistan.
Herr Kollege Arnold!
({0})
Wir sehen, dass der Erfolg die Mühen und Anstrengungen der Soldatinnen und Soldaten sowie der zivilen
Aufbauhelfer, die hohe Risiken eingehen, wert ist. Wir
unterstützen sie auch in Zukunft.
Danke schön.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst-Reinhard
Beck, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Auf der Tribüne sitzen Soldaten der Luftlandeaufklärungskompanie 260 aus Zweibrücken, die in
Afghanistan im Einsatz waren und diese Debatte sicher
mit großem Interesse verfolgen.
({0})
Das ISAF-Mandat, wie es heute zur Abstimmung
steht, unterscheidet sich in mehreren Punkten von dem
bisherigen: Es ist auf 14 statt auf 12 Monate angelegt;
das Kontingent umfasst 4 500 statt wie bisher 3 500 Soldatinnen und Soldaten, darunter auch Kräfte, die im Süden Afghanistans eingesetzt sind, nämlich unsere Fernmelder in Kandahar.
Es ist schon oft gesagt worden, dass es auch im siebten Jahr des Afghanistan-Einsatzes Licht und Schatten
gibt. Es ist nicht entscheidend, ob wir den Einsatz als
Stabilisierungs- oder als Kampfeinsatz bezeichnen.
Wichtig ist, wie der Einsatz von der afghanischen Bevölkerung, von unseren Bürgerinnen und Bürgern hier im
Land, aber auch von den Soldatinnen und Soldaten in
Afghanistan wahrgenommen und erlebt wird. Zu einem
realistischen Umgang gehört - daran muss man auch
hier erinnern; es ist bereits gesagt worden -, dass Probleme, Gefahren und Risiken angesprochen werden:
schleppender Aufbau, Korruption, Drogen, nichtkooperative Nachbarländer. Es geht darum, Chancen und Risiken beim Namen zu nennen, aber auch darum, bereits erzielte Erfolge nicht kleinzureden.
Ich glaube, dass wir uns manchmal fragen müssen:
Führen wir hier in Deutschland, auch hier im Parlament,
die richtigen Diskussionen, die richtigen Debatten, wenn
wir operative Details des Einsatzes in den Mittelpunkt
stellen? Wir erwarten und fordern regelmäßig, wie ich
meine, zu Recht eine verantwortliche militärische Führung vor Ort. Dann müssen wir aber auch darauf vertrauen, dass diese Führung die richtigen Entscheidungen
trifft. Das haben unsere Soldaten und ihre verantwortlichen militärischen Führer verdient. Solidarität und nicht
Distanzierung ist gefragt, auch wenn einmal Fehler gemacht werden.
({1})
Der Erfolg des Einsatzes hängt letztlich von vielen
Faktoren ab, ganz entscheidend ist aber die Motivation
unserer Soldaten vor Ort. Das sind nicht nur die Stäbe,
sondern auch die Feldwebel und Mannschaften, die in
Afghanistan auf Patrouille und an Checkpoints unterwegs sind. Sie wissen, wofür sie stehen. Sie genießen bei
der afghanischen Bevölkerung Vertrauen, ein Vertrauen,
das der afghanischen Regierung vielerorts abgeht, um
das sie sich, wie ich meine, viel stärker bemühen muss.
Ernst-Reinhard Beck ({2})
Verunsichert werden unsere Soldaten weniger durch
den Gegner als durch Diskussionen, wie sie hier bei uns
regelmäßig nach Anschlägen oder aus Anlass von zivilen Opfern ausbrechen. Jedes Mal, wenn Zivilisten bei
militärischen Einsätzen verletzt oder gar getötet werden
- das sage ich ganz klar -, ist das eine Tragödie und
schmälert zudem die Sicherheit unserer Soldatinnen und
Soldaten vor Ort. Dennoch - das gehört zur Realität wird das auch in Zukunft nicht völlig zu vermeiden sein.
Potenzielle Attentäter sind äußerlich von Zivilisten nicht
zu unterscheiden. Genau das nützen die Taliban und die
Aufständischen ja aus. Gerade das macht den Einsatz so
gefährlich und so unberechenbar. Wir, die wir uns hier,
im tiefen Frieden, die außerordentliche nervliche Anspannung unserer Soldaten vorstellen, die im Grunde
hinter jedem Abfalleimer, hinter jedem Baum, an jeder
Ecke und in jedem Auto einen Selbstmordattentäter oder
eine Sprengfalle vermuten müssen, wir müssen auch sagen, dass das die Realität des Einsatzes unserer Soldaten
ist.
Als Ende August dieses Jahres drei afghanische Zivilisten bei einem Zwischenfall in Kunduz starben, war
erst klar, dass es sich um Unschuldige handelte, nachdem die Schüsse gefallen waren. Dass dieser Vorfall untersucht wird, ist notwendig und richtig. Ich erinnere
aber auch daran, dass der örtliche paschtunische Stammesführer Otmansei für die betroffene Familie erklärte:
Nicht die deutschen Soldaten waren schuld, sondern der
afghanische Fahrer, der sich falsch verhalten hat.
Als Folge dieses Vorfalls soll nun der Rechtsschutz
für Soldatinnen und Soldaten verbessert werden. Ich
halte diesen Schritt für überfällig und begrüße ihn ausdrücklich.
({3})
Es kann nicht sein, dass gegen einen Soldaten, der im
Einsatz von seiner Schusswaffe Gebrauch macht und dabei jemanden tötet, die Staatsanwaltschaft ermittelt und
ihm der Dienstherr keinen Rechtsbeistand zur Verfügung
stellt.
({4})
Wir stimmen der Aufstockung des Mandats um
1 000 Soldaten zu, weil wir durch die Aufstockung mehr
Flexibilität im Kontingentwechsel erreichen, weil wir
dadurch besser auf eine veränderte Sicherheitslage reagieren können, weil wir seit dem 1. Juli dieses Jahres die
schnelle Eingreiftruppe für das Regionalkommando
Nord stellen, weil wir unsere Unterstützung bei der Ausbildung der afghanischen Armee verstärken und nicht
zuletzt die Absicherung der afghanischen Wahlen im
Herbst 2009 unterstützen wollen.
Ich möchte an dieser Stelle allen Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan unter Einsatz ihres Lebens einen wertvollen und wichtigen Dienst leisten oder geleistet haben - dies tun sie unter anderem für unsere
Interessen und unsere Sicherheit -, herzlich danken. Ich
werbe deshalb für eine breite Unterstützung in diesem
Haus. Denn unsere Soldatinnen und Soldaten haben
diese Unterstützung nötig. Sie haben sie auch verdient.
({5})
Ich freue mich sehr über die Stiftung des Ehrenkreuzes der Bundeswehr für Tapferkeit. Ich danke dem Bundespräsidenten und dem Verteidigungsminister für diese
Entscheidung. Die Soldatinnen und Soldaten können
fortan für besonders herausragende Leistungen im Einsatz ausgezeichnet werden. Angesichts der neuen Anforderungen in den Einsätzen ist dies ein wichtiges Zeichen
unserer Wertschätzung und unserer Anerkennung.
Unser Einsatz in Afghanistan wird nicht einfacher.
Uns stehen schwierige Monate bevor. Wir sind aber der
festen Überzeugung, dass dieser Einsatz richtig und derzeit ohne Alternative ist. Deshalb stimmen wir der Verlängerung des Mandats zu.
Vielen Dank.
({6})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Henry Nitzsche.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit
mittlerweile sechs Jahren kämpft die Bundeswehr in
Afghanistan. Dieser Einsatz kostete den deutschen Steuerzahler bisher rund 3 Milliarden Euro. Jetzt sollen weitere 700 Millionen Euro draufgesattelt werden.
Eine Sache wiegt aber noch schwerer: Mindestens
22 deutsche Soldaten verloren bisher in Afghanistan ihr
Leben. Die meisten von ihnen starben durch Feindeinwirkung. Wir können also getrost von gefallenen Soldaten sprechen, auch wenn sich die Bundesregierung
krampfhaft bemüht, diese Bezeichnung zu vermeiden.
Was haben all diese Opfer gebracht? Was haben wir
in diesen sechs Jahren erreicht? Ich zitiere aus einem
Text, der auf der Internetseite der Bundesregierung zu
finden ist:
Zunehmend kann die afghanische Regierung Verantwortung für den Wiederaufbau und die Sicherheit übernehmen. Dies zeigt die Übernahme der
Sicherheitsverantwortung für das Stadtgebiet von
Kabul …
Ist das alles? Derzeit sind fast 53 000 Soldaten aus
40 Staaten im Einsatz. Insgesamt 900 Soldaten verloren
bisher ihr Leben. Und wofür? Damit Kabul halbwegs
kontrolliert werden kann.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Bundesregierung, die afghanische Regierung, die Sie uns
hier als Erfolgsmeldung verkaufen, existiert überhaupt
nicht. Es gibt vielleicht einen Bürgermeister von Kabul
namens Hamid Karzai, aber selbst er ist zum Erhalt seiner Macht auf ausländische Soldaten angewiesen. So
sieht die Wahrheit aus.
Zu dieser Wahrheit gehört auch, dass wir von der
Mehrheit der Afghanen nicht als Befreier, sondern als
Besatzer angesehen werden, die diesem Land ein politisches System überstülpen wollen, das dort vehement abgelehnt wird. Woher nehmen wir eigentlich die Arroganz, zu glauben, dass dieses an simple Hierarchien
gewöhnte Bergvolk nach dem strebt, was wir als Demokratie bezeichnen? Dort zählen ganz andere Werte. Die
Afghanen mögen sich heutzutage für ihr Drogengeld
westliche Musik und Kaugummi kaufen können. Der
Verkaufsschlager ist aber nach wir vor die Kalaschnikow. „Waffen für Drogen“ heißt die Devise. Wer die
meisten Waffen hat, hat die meiste Macht. Das ist das
wahre afghanische Staatsmodell.
Seit dem Sturz der Taliban blüht der Mohnanbau in
Afghanistan. Betrug die afghanische Opiumproduktion
im Jahre 2001 noch 185 Tonnen, liegt sie heute bei fast
8 000 Tonnen.
({0})
Das sind mittlerweile 90 Prozent der weltweiten Opiumproduktion. Die Ankündigungen der afghanischen Regierung, den Drogenhandel zu bekämpfen, sind nicht
mehr als Lippenbekenntnisse. Niemand, weder die afghanische Regierung noch die internationale Schutztruppe, wagt es, sich mit den Drogenbaronen anzulegen.
Verteidigungsminister Jung wusste schon, warum er sich
vergangene Woche gegen eine Bekämpfung des Opiumhandels durch deutsche Soldaten aussprach.
({1})
Man muss das einmal klarmachen: Wir lassen unsere
Soldaten bei ihrer Vereidigung schwören, dass sie der
Bundesrepublik Deutschland treu dienen und das Recht
und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer verteidigen.
Dann schicken wir sie ins afghanische Bergland, um dort
Opiumplantagen zu beschützen. Das ist eine unglaubliche Schande.
({2})
Deutschland setzt dem Ganzen zudem mit 10 Millionen
Euro für die afghanischen Polizeigehälter die Krone auf.
Es ist an der Zeit, dass wir diesen sinnlosen Einsatz endlich beenden. Für Deutschland gibt es keinen Grund,
sich in Afghanistan zu engagieren. Auch das Gerede,
dass der internationale Terrorismus von irgendwelchen
Berghöhlen in Afghanistan aus gelenkt wird, glaubt
doch niemand mehr. Die Mehrheit der Deutschen lehnt
diesen Einsatz ab.
Unsere Soldaten haben ein Recht darauf, dass wir unsere Entscheidung sorgfältig und gewissenhaft treffen.
Dabei sollten allein der Sinn des Einsatzes und der
Schutz unserer Soldaten ausschlaggebend sein und nicht
die Fraktionsdisziplin oder parteitaktische Überlegungen. Das gilt vor allem auch für Sie, meine Damen und
Herren von der Linken.
({3})
Ihre „Soldaten sind Mörder“-Fraktion schreit immer am
lautesten, dass die Bundeswehr aus Afghanistan gehen
soll. In Wahrheit scheren Sie sich einen Dreck um unsere
Soldaten. Sie nutzen das Thema nur zu Ihrer Profilierung. Sie haben von allen hier die geringsten Skrupel,
unsere Soldaten in Afghanistan zu verheizen. Sie begrüßen doch insgeheim deren Tod.
({4})
Wer mit einer Gruppe zusammenarbeitet, die den Tod
deutscher Soldaten als Schritt zur Abrüstung feiert,
sollte hier und heute besser schweigen.
({5})
Der ranghöchste Befehlshaber in Afghanistan, Mark
Carleton-Smith, hat vor kurzem gesagt: „Wir werden
diesen Krieg nicht gewinnen.“ Recht hat er. Wir sollten
diese Realität akzeptieren. Wir haben heute die Möglichkeit, einen schwerwiegenden Fehler, den wir vor sechs
Jahren begangen haben, zu korrigieren.
Diejenigen von Ihnen, denen Afghanistan wirklich so
sehr am Herzen liegt, können sich als Erntehelfer auf
den Opiumplantagen melden. Die Bundeswehr jedenfalls hat nichts in diesem Land verloren. Jeder weitere
Euro, den wir für diesen sinnlosen Einsatz vergeuden, ist
einer zu viel.
Herr Kollege Nitzsche, ich muss Sie an Ihre Redezeit
erinnern.
Ich komme zum letzten Satz, Frau Präsidentin. Wenn Ihnen also schon unsere Soldaten egal sind, dann
tun Sie wenigstens etwas für die Haushaltskonsolidierung, und stimmen Sie gegen den Antrag der Bundesregierung.
Ich gebe das Wort zu einer Kurzintervention dem
Kollegen Gehrcke.
Ich war ja schon froh, dass am Ende der Rede, die
hier gehalten worden ist - eine, wie ich finde, rechtsextreme Rede -, eine deutliche Distanz zur Fraktion Die
Linke dargelegt worden ist.
({0})
In dieser Nachbarschaft möchte ich mich nicht einmal
im Dunkeln bewegen. Wir möchten auf keinen Fall, dass
unsere Position mit dieser verwechselt wird. Hier gibt es
ganz klare und deutliche Trennungsstriche, die verständlich sein müssen. Man weiß ja, was woher kommt. Ich
möchte mich dagegen verwahren und finde es empörend, wenn irgendjemand behauptet, dass es in der Fraktion Die Linke Freude darüber gäbe, dass Soldatinnen
und Soldaten in Afghanistan umkommen.
({1})
Ganz im Gegenteil: Jeder Zivilist, der umkommt, und jeder Soldat, der umkommt, ist entschieden zu viel. Ich
möchte, dass endlich eine Politik gemacht wird, die dazu
beiträgt, dass niemand in Afghanistan aufgrund von
Krieg bzw. Kriegseinwirkung sein Leben lassen muss,
ob Zivilist oder Soldat.
({2})
Hier müssen, wie gesagt, klare Trennungsstriche gezogen werden. So kann man keinen Frieden schaffen. Die
Art und Weise, in der hier gerade gesprochen wurde,
muss man bekämpfen.
Danke sehr.
({3})
Herr Kollege Nitzsche, Sie können antworten.
({0})
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie unterstützen eine Organisation, die ein Plakat veröffentlicht
hat, auf dem es heißt: „Die Bundeswehr auf dem richtigen Weg“, „Schritt zur Abrüstung“ und „Wieder einer
weniger“. Diese Organisation wird von Ihnen unterstützt. Sie geben ihr Ihre Stimme. Das war der Grund,
warum ich Sie so genannt habe.
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Gert Weisskirchen,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Ich erinnere an Malalai Kakar.
Malalai Kakar ist vor 18 Tagen erschossen worden. Sie
war die bekannteste Polizistin Afghanistans. Ein Sprecher der Taliban hat den Mord an ihr wie folgt kommentiert: Sie war unser Ziel, und wir haben unser Ziel eliminiert. - Das ist die Sprache von Hinrichtern. Das ist die
Sprache der Taliban. Genau dagegen müssen wir uns
wenden. Wer sich bei der Abstimmung über die Fortsetzung des Mandats, die die Bundesregierung heute vorschlägt, der Stimme verweigert oder der Stimme enthält,
stärkt die Taliban
({0})
und jene Exekutoren; das muss hier ganz deutlich gesagt
werden.
({1})
- Lieber Winni, es tut mir leid.
({2})
Ich gehöre zu denen, die vor vielen Jahren, vor über
einem Jahrzehnt, der Meinung waren, dass die rot-grüne
Koalition die Perspektive hat, unser Land zu verwandeln
und zu verbessern. Ich beklage, dass die Grünen nicht in
der Lage sind, sich in der jetzigen Situation klar zu bekennen und entweder Ja oder Nein zu sagen. Durch eine
Enthaltung sorgt man auch dafür, dass diese Unsicherheit übertragen wird. Winni, diejenigen, die eine andere
Perspektive für Afghanistan für richtig und sinnvoll erachten, bitte ich darum, sich darüber klar zu werden,
dass eine Enthaltung in dieser Situation auch bedeutet,
die Taliban zu stärken. Ich bitte euch, darüber noch einmal neu nachzudenken.
({3})
- Das gilt auch für alle anderen, die nicht den Mut haben, sich deutlich für das Mandat der Bundesregierung
auszusprechen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Argument, dass
es für die Region eine andere Perspektive geben muss
- dieses Argument ist vorgetragen worden -, ist richtig
und zutreffend. Aber wer hat denn dafür gesorgt, dass
die beiden Außenminister Afghanistans und Pakistans
zum G-8-Gipfel nach Potsdam eingeladen werden? Wer
hat dafür gesorgt, dass ein Prozess eingeleitet wurde, der
in der Region dazu führen wird, dass die Kooperationsbeziehungen zwischen Indien, Pakistan, Afghanistan
und Iran vorangebracht werden? - Es war Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, der dafür gesorgt hat,
dass sich diese Beziehungen entwickeln, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Ein Zweites. Wer sagt, dass die Peace Jirga richtig
und sinnvoll ist, der hat recht. Sie ist ein richtiges Konzept. Dann muss allerdings auch hinzugefügt werden,
dass sich der pakistanische Ministerpräsident und Präsident Karzai kürzlich getroffen und die Peace Jirga einbeGert Weisskirchen ({6})
rufen haben. Dann muss man auch dafür sorgen, dass
demnächst ein weiteres Treffen der Peace Jirga stattfindet. Es hat im letzten Jahr bereits mehrere lokale Konferenzen der Peace Jirga gegeben. Das ist richtig. Aber wer
so tut, als ob die Bundesregierung beziehungsweise der
Außenminister nicht dafür sorgen werde, dass diese Bemühungen unterstützt werden, der führt die Öffentlichkeit hier in Deutschland in die Irre. Wir unterstützen diesen Prozess, und wir sorgen dafür, dass die Peace Jirga
lokal, regional und auf der nationalen Ebene vorangebracht wird.
Ein Letztes. Es gibt ein neues Buch - es ist gerade erst
erschienen - von Rashid mit dem Titel „Descent into
Chaos“, also „Abstieg ins Chaos“. Der Autor kommt aus
Pakistan und ist einer der besten Kenner der Region. Er
hat am Schluss dieses Buches darauf aufmerksam gemacht, dass sich Afghanistan gegenwärtig auf einer
schiefen Ebene befindet, und es bestehe die Gefahr, dass
Afghanistan abrutsche. Leider ist dies zutreffend.
Jetzt kommt es darauf an, dass wir unsere Kräfte mobilisieren, dass wir also zum Beispiel dafür sorgen, dass
die Ergebnisse der Konferenz von Paris - dort waren
80 Nationen dieser Erde vertreten - umgesetzt werden.
Es müssen 21 Milliarden Dollar in die Hand genommen
werden, damit der zivile Aufbau gelingt. Darauf müssen
wir hinwirken, damit die Schieflage in Afghanistan in
Balance gebracht wird.
Das ist die Aufgabe, und sie kann nur gelingen, wenn
wir dem Antrag der Bundesregierung zustimmen. Denn
nur wenn gewährleistet ist, dass der zivile Aufbau vorankommt, wird auch Afghanistan eine Chance haben, sich
in eine Zukunft zu entwickeln, die am Ende hoffentlich
von Frieden geprägt sein wird.
Aus diesen Gründen stimmen wir dem Antrag der
Bundesregierung zu.
({7})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Winfried Nachtwei.
Lieber Kollege Gert Weisskirchen, dir geht es in Sachen Afghanistan so wie mir. Wir sind mit dem Herzen
dabei. Aber wenn man mit dem Herzen dabei ist, muss
man aufpassen, in der Argumentation nicht grob fahrlässig zu werden. Insofern muss ich Folgendes deutlich zurückweisen: Diejenigen, die hier mit Nein stimmen oder
sich enthalten, zu bezichtigen, sie würden dadurch die
Taliban unterstützen, ist ungerechtfertigt, falsch und eine
Holzhammermethode.
({0})
Diese Methode kennen wir noch aus der Zeit des Kalten
Krieges, als allen möglichen Kritikern der etablierten
Sicherheitspolitik vorgeworfen wurde, sie würden die
Geschäfte der anderen Seite unterstützen. Das weißt du
selbst. Du hast dich damals selbst gegen solche Vorwürfe gewehrt. Insofern waren deine Ausführungen
wirklich völliger Schwachsinn.
({1})
Was sollen wir und auch ich persönlich tun? - Seit
zwei Jahren mahne ich drängend in konstruktiver Kritik
an: Bitte, Bundesregierung, strengt euch in der Sache
mehr an. - Das sage ich am wenigsten in Richtung Bundeswehr. Denn ich bekomme mit, wie sich die Bundeswehr anstrengt. Das ist kein persönlicher Vorwurf, sondern betrifft meiner Meinung nach eher ein
Organisationsversagen. Schließlich hängen wir mit dem
Aufbau aus vielerlei Gründen schlimm zurück.
Einerseits haben wir seit dem letzten Herbst zehn Anträge gestellt und seitens der Großen Koalition zustimmendes Nicken vernommen. Andererseits laufen wir gegen die Wand. Sollen wir vor diesem Hintergrund nun
sagen, unsere Kritik sei gar nicht so gemeint gewesen
und wir würden nun immer mit zustimmen? Was sollen
wir als Opposition da machen? Das muss man sich doch
fragen.
Außerdem: Bei der ersten Lesung zum ISAF-Antrag
habe ich hier geredet. Ich habe mitbekommen, wie viel
Beifall ich für meine Kritik an der halbherzigen Politik
der Bundesregierung aus euren Reihen, den Reihen der
CDU/CSU und der SPD, als Reaktion erhalten habe; sie
ist im Protokoll nachzulesen. Ich habe das Gefühl, dass
wir Grünen damit, dass wir dazu sprechen und unsere
konstruktive Kritik für einen vernünftigen und energischen Aufbau in Afghanistan äußern, vielen Kolleginnen
und Kollegen aus der Koalition aus dem Herzen sprechen. Ihr könnt nur aus Koalitionsloyalität einfach nicht
immer so abstimmen, wie ihr es eigentlich möchtet.
({2})
Jetzt hat der Kollege Weisskirchen das Wort.
Lieber Winni, wir kennen uns gut und lange genug.
Ich sage: Wenn du den Eindruck hast, dass ich mit dem,
was ich gesagt habe, das Ziel, das uns gemeinsam verbindet, infrage gestellt habe, dann sage ich: Das war
nicht meine Absicht, und das würde ich auch niemals gesagt haben wollen.
(Dr. Peter Ramsauer ({0})
Ich kann nur dem zustimmen, was du gesagt hast. Ich
zitiere Winni Nachtwei:
({1})
Gert Weisskirchen ({2})
Ich sage ausdrücklich: Die Verlängerung des ISAFMandats ist richtig und unverzichtbar.
Das hast du hier am 7. Oktober 2008, also vor wenigen
Tagen, gesagt.
Ich hoffe, dass die Sorge, die du hast und die viele
von uns auch haben, dass nämlich mit dem Mandat, das
wir heute verabschieden, die Situation in Afghanistan
gefährdet werden könnte, nicht Wirklichkeit wird. Deswegen stimme ich dem zu. Damit möchte ich kein Gewissen von irgendeinem anderen Kollegen in Gefahr
bringen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Gert Winkelmeier.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Mit Genugtuung beobachte ich, dass die Zustimmung zu
den Einsätzen der Bundeswehr in Afghanistan hier im
Deutschen Bundestag mehr und mehr bröckelt. Wenn
der Druck der Parteibasis zum richtigen Abstimmungsverhalten führt, dann finde ich das gut, und die überwältigende Mehrheit der Deutschen findet das ebenfalls gut.
Vielleicht hat ja auch das eine oder andere Argument
von unserer Seite dazu beigetragen; denn wir erleben gerade im Zeitraffer, wie die anderen Parteien, nachdem
die ganze Welt ins Finanzdebakel gestürzt wurde, Positionen der Linken übernehmen. Und das ist auch gut so.
Goethe hatte offensichtlich recht. Zum wiederholten
Male zitiere ich:
Man muss das Wahre immer wieder wiederholen,
weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird ...
Der Irrtum, der an dieser Stelle seit sieben Jahren gepredigt wurde und auch heute wieder gepredigt wird, heißt:
Mehr Truppen werden Afghanistan befrieden und ihm
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bildung und wirtschaftlichen Aufschwung bringen. - Wäre die Realität
für die afghanische Bevölkerung nicht so entsetzlich und
grauenvoll, dann müsste man angesichts einer derart verfehlten Vorgehensweise eigentlich in ein Höllengelächter ausbrechen.
Zur Rechtsstaatlichkeit will ich nur ein Beispiel nennen, mit dem die Wirklichkeit wie in einem Brennglas
gespiegelt wird. Noch immer wartet der unter Verletzung
der elementarsten rechtsstaatlichen Regeln zum Tode
verurteilte und in Masar-i-Scharif, also im deutschen
Verantwortungsbereich, festgenommene JournalistikStudent Kambakhsh in seiner Kabuler Zelle auf sein Berufungsverfahren. Sein sogenanntes Verbrechen war das
Herunterladen korankritischer Seiten aus dem Internet.
Können Sie sich bitte ein einziges Mal vorstellen,
welche Qualen der Ungewissheit dieser 23-jährige junge
Mann seit seiner Verhaftung im Oktober 2007 erlitten
hat? Offensichtlich hat niemand die objektiv vorhandenen Möglichkeiten gegenüber dem afghanischen Präsidenten ausgeschöpft. Hier könnte man einem Menschen
ohne Militär konkret helfen.
Beim Thema Bildung sieht die Realität so aus, dass die
Alphabetisierungsrate unter Erwachsenen von 36 Prozent im Jahr 1999 auf heute 23,5 Prozent gefallen ist.
Für die sozialistische Regierung nach dem Umsturz von
1978 war die Alphabetisierung der Bevölkerung noch
ein Hauptanliegen auf dem Weg einer nachholenden
Modernisierung des Landes. Es war völlig normal, dass
Frauen und Mädchen dort in die Schule gehen konnten.
Dass dies scheiterte, haben wir unter anderem dem
damaligen US-Sicherheitsberater Brzezinski zu verdanken, der darauf heute noch stolz ist. Hat man denn im
Dezember 2001 auf dem Petersberg tatsächlich erwartet,
dass sich die vom Westen erkorenen korrupten, reaktionären afghanischen Politiker und Warlords für Bildung
einsetzen würden? Diese Auswahl war doch der entscheidende Geburtsfehler, der der gesamten Negativentwicklung seit 2001 zugrunde liegt.
Die Bundesregierung sollte sich endlich eingestehen,
dass sie sich auf dem Weg in ein Desaster befindet. Sie
sollte die Konsequenzen ziehen, wenn die amerikanischen Geheimdienste wie kürzlich zu dem Schluss kommen, dass sich die USA in Afghanistan in einer Abwärtsspirale befinden. Im Leitartikel des Boston Globe
hieß es gestern: „Mehr Truppen werden diesen höchst
gefährlichen Krieg intensivieren“.
({0})
Nach den Erfahrungen der letzten drei Jahre und angesichts der Stimmen aus den USA ist mir völlig unverständlich, dass Sie heute dem Druck der US-Regierung
nachgeben. Wir erleben doch seit 2005, dass der Widerstand der Afghanen ständig wächst, weil USA und
NATO den Krieg immer mehr ausweiten. Jetzt ist sogar
Pakistan dran: Der Krieg wird nach Pakistan getragen.
Wann wird endlich begriffen, dass das der falsche Weg
ist?
({1})
Wann wird begriffen und zugegeben, dass dies nicht
unser Krieg ist? Der ehemalige Vizefinanzminister von
Ronald Reagan, Paul Craig Roberts, schreibt in seiner
Kolumne am 6. Oktober - ich zitiere -: „Europäer sterben in Afghanistan für die amerikanische Hegemonie“.
Was aber macht die Bundesregierung? Sie nötigt den
deutschen ISAF-General Domröse zu einem PR-Interview in der gestrigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung, in dem er das Wort „Krieg“ zum „fight“ - also
wohl zu einer Art sportlichen Wettkampf - umdefiniert.
Solche Spielchen mit der Öffentlichkeit werden Sie
sich und uns allerdings sehr bald ersparen können. Denn
die globale Finanzkrise wird dazu führen, dass der Rest
der Welt - besonders Asien - nicht mehr bereit ist, die
Kriege der USA mit seinen Exporterlösen zu finanzieren.
Herr Kollege Winkelmeier, Ihre Redezeit ist abgelaufen, und Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Schon allein deswegen
muss der Rückzug der Bundeswehr unverzüglich erfolgen. Handeln Sie jetzt! Denn jetzt haben Sie noch die
Entscheidungsfreiheit. Wenn die Folgen der Finanzkrise
erst einmal durchschlagen, wird das nicht mehr der Fall
sein.
Danke.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Holger Haibach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde, es lohnt sich am Ende dieser Debatte, einen
Moment darüber nachzudenken, worüber wir eigentlich
sprechen. Wir sprechen über eine Mitverantwortung, die
wir beim Wiederaufbau und bei der Befriedung Afghanistans übernommen haben. Wir sprechen über 4 500
deutsche Soldatinnen und Soldaten, die wir - wenn wir
die Mandatsverlängerung heute beschließen - in einen
nicht ganz ungefährlichen Einsatz schicken. Wir reden
über sehr viele freiwillige Helfer von Nichtregierungsorganisationen, die jeden Tag unter sehr schwierigen Bedingungen ihrer Arbeit nachgehen.
Unter diesen Bedingungen finde ich das Niveau dieser Debatte ehrlich gesagt mehr als bedauerlich. Wenn
von „Schwachsinn“ geredet wird und historisch falsche
Zitate in den Mund genommen werden, dann ist das, wie
ich finde, dieser Debatte nicht würdig und dem deutschen Engagement in Afghanistan nicht angemessen.
({0})
Es ist auch nicht angemessen, alles gutzureden oder
alles schlechtzureden. Wenn man der einen Seite zugehört hat, hätte man meinen können, alles sei wunderbar.
Wenn man der anderen Seite zugehört hat, hätte man
meinen können, alles sei ganz furchtbar und schrecklich.
Eines ist auf jeden Fall richtig: Es kann keine Entwicklung ohne Sicherheit geben, genauso wie es keine Sicherheit ohne Entwicklung geben kann. Insofern gehören die beiden Komponenten zusammen. Dass die
Bundeswehr in ihrem Verantwortungsbereich einiges erreicht hat, ist unbestritten. Wenn Sie mir nicht glauben,
dann empfehle ich Ihnen einen Blick in die Presse in der
letzten Woche. Ich zitiere als Beispiel den Stern: Man
mag es Kunduz nicht ansehen, aber es ist eine prosperierende Stadt. Die Märkte sind voll, und in der ganzen Provinz gehen mehr als 200 000 Kinder zur Schule im Vergleich zu 15 000 im Jahr 2001. Eins greift in das andere.
Gibt es Kleinkredite, können Bauern neues Land urbar
machen. Gibt es Straßen, können sie ihre Produkte zu
den Märkten bringen. - Das heißt nicht, dass dort alles in
Ordnung wäre. Aber eines steht fest: Es gibt andere Gegenden in Afghanistan, über die man das nicht sagen
kann. Insofern ist der Einsatz der Bundeswehr und der
vielen zivilen Helfer erfolgreich gewesen. Das sollten
wir nicht kleinreden.
({1})
Zum Thema ziviler Aufbau möchte ich gerne sagen:
Es ist richtig, dass wir dafür finanzielle Mittel einstellen
müssen. Aber die finanziellen Mittel können nur dann
greifen, wenn wir die entsprechenden Strukturen vor Ort
haben. Was nutzen uns mehr Mittel für den Aufbau von
Polizei, Armee und Rechtsstaatlichkeit, wenn wir dafür
keine Strukturen haben? Beides muss Hand in Hand gehen.
Natürlich ist es auch richtig, die Nachbarstaaten einzubinden. Es kann keine Befriedung Afghanistans ohne
Pakistan geben. Es ist ein gutes Zeichen, dass die Verantwortung in der Region gewachsen ist. Aber ich will an
dieser Stelle klar sagen: Das ist nichts, was der deutsche
Außenminister verantworten und von sich aus verordnen
kann; das geht nicht. Wir müssen ein Bewusstsein dafür
schaffen, dass internationale und regionale Kooperationen notwendig sind. Dass dieses Bewusstsein wächst, ist
trotz allem Negativen sicherlich ein gutes Zeichen. Das
ist nicht zuletzt auf das Engagement der Bundesregierung zurückzuführen.
({2})
Diejenigen, die heute - aus welchen Gründen auch
immer - der Fortsetzung des Engagements nicht ihre Zustimmung geben, müssen eine Alternative aufzeigen. Ich
erkenne, dass das keine ganz einfache Sache ist. Ich erkenne auch ausdrücklich an, dass sich jeder von uns
große Gedanken darüber macht, ob er dieses Engagement weiterhin unterstützen will oder nicht. Aber eines
ist klar - ich habe eben versucht, das deutlich zu machen -: Es gibt eine gute deutsche Strategie. Dass die
deutsche Strategie nicht nur in Deutschland, sondern inzwischen auch anderswo Früchte trägt, kann man daran
erkennen, dass zum Beispiel der US-amerikanische Generalstabschef Michael Mullen gesagt hat: Ohne einen
„breiteren Ansatz“ zur Bekämpfung der Probleme und
eine stärkere Zusammenarbeit mit dem Nachbarland Pakistan würden „die Feinde immer nur weiterkommen“.
Nach der Auffassung Admiral Mullens sind größere ausländische Investitionen in Afghanistan und erheblich
verstärkte Bemühungen beim Aufbau politischer Institutionen und der Entwicklung wirtschaftlicher Stabilität
notwendig. Ein amerikanischer Generalstabschef sagt
dies vor zwei Monaten! Wenn das nicht auch ein Umdenken bei anderen Verbündeten bewirkt, die das vielleicht bis vor kurzem nicht so gesehen haben, weiß ich
nicht, worin der Fortschritt bestehen soll.
Ich plädiere insofern für einen nüchternen Blick auf
die Dinge. Es ist nicht alles schwarz. Es ist bei weitem
nicht alles weiß. Aber eines ist klar: Wenn wir heute
Afghanistan verlassen und dort kein Engagement mehr
zeigen, wird dieses Land im Terror versinken und unre19512
gierbar werden. All die Erfolge, die erzielt wurden - die
Schulbildung wurde verbessert; junge Frauen können
Schulen und Universitäten besuchen; die Rechtsstaatlichkeit wurde verbessert -, werden in dem Moment verschwunden sein, in dem wir unser Engagement ohne
eine vernünftige Lösung einstellen. Insofern gibt es gute
Gründe, nicht im Sinne von „Weiter so“, sondern im
Sinne einer Neujustierung und Prüfung - was muss anders gemacht werden? - das Engagement auszurichten,
heute der Fortsetzung des Mandats zuzustimmen und
weiterhin daran zu arbeiten, dass diese für uns wichtige
Region befriedet und stabilisiert werden kann.
Danke sehr.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck-
sache 16/10567 zu dem Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-
kräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheit-
sunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der
NATO. Ich weise darauf hin, dass uns zu dieser Abstim-
mung viele persönliche Erklärungen nach § 31 unserer
Geschäftsordnung vorliegen.1)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung, den Antrag auf Drucksache 16/10473 anzuneh-
men. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte
alle Kolleginnen und Kollegen, bei der Stimmabgabe
darauf zu achten, dass die Stimmkarten, die sie verwen-
den, ihren Namen tragen. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzuneh-
men. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist
der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Ich weise die Kol-
leginnen und Kollegen darauf hin, dass wir danach noch
weitere Abstimmungen über dieses Thema haben.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.2)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, die Plätze
einzunehmen. Wir setzen die Abstimmungen fort.
Tagesordnungspunkt 6 b. Beschlussempfehlung des Aus-
wärtigen Ausschusses auf Drucksache 16/10568 zu dem
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke zu dem An-
trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte in Afghanistan. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Druck-
sache 16/10479 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
1) Anlagen 2 bis 6
2) Siehe Seite 19514 C
gen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen
der Linken mit den restlichen Stimmen des Hauses ange-
nommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die weiteren
Entschließungsanträge.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 16/10588? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD, CDU/CSU bei
Enthaltung der Grünen und bei Gegenstimmen der FDP
abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10589? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie-
ßungsantrag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit den restlichen Stimmen des
Hauses abgelehnt.
Bevor ich die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d auf-
rufe, weise ich Sie darauf hin, dass wir wegen der ge-
planten Fraktionssitzungen die Aussprache zum Tages-
ordnungspunkt 8 a und 8 b auf eine halbe Stunde
verkürzt haben. Ich gebe das nur zur Kenntnis, damit alle
Bescheid wissen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d
auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Bettina
Herlitzius, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherstellung
von Eisenbahninfrastrukturqualität und Fernverkehrsangebot
- Drucksache 16/9797 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherstellung von
Eisenbahninfrastrukturqualität und Fernverkehrsangebot
- Drucksache 16/9903 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fritz
Kuhn, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter,
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bahn-Börsengang angesichts der internationalen Finanzkrise verschieben
- Drucksache 16/10455 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothée Menzner, Dr. Gesine Lötzsch,
Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Veräußerung von Anteilen an der Deutschen
Bahn AG stoppen
- Drucksache 16/10525 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Brüche im Parlament sind manchmal hart:
Nachdem wir gerade noch über das Thema Afghanistan
gesprochen haben, kommen wir jetzt auf das Thema Eisenbahninfrastrukturqualität zu sprechen.
Der Börsengang musste - so haben wir in den letzten
Tagen vernommen - verschoben werden. Das war vermutlich die einzig positive Seite der globalen Finanzkrise. Wie ich finde, war es in der jetzigen Situation richtig, zu sagen: Wenn man mit den Aktien der Bahn jetzt
an die Börse gegangen wäre, wäre dies die Verschleuderung von öffentlichem Eigentum, ein Notverkauf zu einem zu niedrigen Preis. Die Verschiebung war also richtig.
Ich habe gehört, dass in Kreisen der Koalition, vor allen Dingen der CDU, gesagt wird: Wir wollen das aber
noch dieses Jahr über die Bühne bringen. Dazu kann ich
nur sagen: Es ist ziemlich naiv, zu glauben, dass sich die
Börse so schnell erholt und dass es wirklich relevant bessere Bedingungen für einen Börsengang geben wird.
({0})
Ich glaube, es ist gut, wenn wir jetzt die Zeit nutzen,
innezuhalten und zu fragen: Wenn der Börsengang in
dieser Art schon nicht zustande kommt - wir haben ihn
ja abgelehnt -, wie kann man die Sache dann anders angehen? Was ist zu regeln, bevor man privatisiert oder
wieder an einen Börsengang denkt?
Es ist offenkundig, dass vieles nicht geregelt ist - jedenfalls gesetzlich -, was dringend regelungsbedürftig
ist, wenn man diesen Weg beschreiten will. Was sind die
Gefahren, was sind die Risiken, wenn man das nicht tut?
Ich glaube, es ist eindeutig: Wenn man an die Börse
geht, wenn man es wagt, Rendite in dieses Geschäft zu
bringen, dann ist die Gefahr groß, dass das Netz renditeorientiert bedient wird, dass das Netz ausgedünnt wird,
dass sich die Bedienungsqualität verschlechtert, weil
sich eben nicht alles rechnet, was aus grundgesetzlichen
Gründen, aus Gründen der Gerechtigkeit und der Daseinsvorsorge aber sinnvoll und notwendig ist.
Dieser Gefährdung vor allem des Fernverkehrs wollen wir etwas entgegensetzen. Die Regierung und die
Koalition wollen das offenbar nicht. Wir haben dazu einen Vorstoß gewagt, übrigens nicht allein: Parallel dazu
hat der Bundesrat mit großer Mehrheit denselben Vorstoß gewagt. Wie Sie wissen, haben die Grünen dort
keine Mehrheit. - Frau Präsidentin, es ist irgendwie
ziemlich ärgerlich, dass hier sehr laut geredet wird, wenn
ich das einmal sagen darf. Es wäre nett, wenn die betreffenden Personen ihre Fraktionsverhandlungen draußen
führten.
Die Regierung hat jedenfalls nichts getan, um das
Parlament in die Behandlung all dieser Probleme, die
wir haben, ernsthaft einzubinden. Sie haben uns viel versprochen, was die Parlamentsbeteiligung anbelangt. Wir
als Parlament sind in all diesen Punkten, wenn überhaupt, nur informiert worden, aber wir haben nicht abgestimmt, weder beim Beteiligungsvertrag noch bei der
Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung. Es fehlt eine
Anreizregulierung. Das alles sind Punkte - erinnern Sie
sich einmal -, von denen Sie im Laufe der Debatte immer wieder gesagt haben: Das wird zwingend notwendig; da wollen wir das Parlament einbeziehen.
Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem
wir klare politische Ziele verfolgen: selbstverständlich
mehr Verkehr, Personen- wie Güterverkehr, auf die
Schiene. Wir wollen, dass das effizient geschieht. Wir
wollen, dass die Politik die Steuerungskompetenz behält.
Wir wollen eine gesetzliche Grundlage haben, auf der
beurteilt werden kann, wie sich die Sache entwickelt,
und auf der Regierungshandeln stattfindet und auch kontrollierbar sein muss.
({1})
Die zentralen Punkte unseres Gesetzentwurfs sind:
Wir wollen - das ist die Mindestvoraussetzung - einen
wirklich transparenten und informativen Infrastrukturbericht. Das ist mehr als der Netzzustandsbericht, den es
bisher gibt. Das ist nämlich nur eine Fülle von Daten
ohne Aussagekraft. Wir wollen einen Infrastrukturbericht, der etwas über die Leistungsfähigkeit des Netzes
aussagt.
Wir wollen eine Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung, die einer externen Kontrolle unterliegt, sodass
sich die Regierung nicht überlegen kann: kontrolliere
ich, oder kontrolliere ich nicht? Glaube ich der Bahn,
oder glaube ich ihr nicht? Was dazu bisher vorliegt, halten wir für ziemlich unzulänglich.
Wir wollen gerade den Fernverkehr sichern. Wir sehen nämlich, dass der gefährdet ist. Schon heute werden
Oberzentren abgehängt, gibt es interne Papiere der Bahn,
nach denen in den nächsten Jahren ein Oberzentrum
nach dem anderen abgehängt wird, wenn es sich nicht
rechnet; zum Beispiel in Baden-Württemberg ist das
Konstanz. In den neuen Bundesländern sind mittelgroße
Städte schon heute abgehängt. Die werden natürlich
keine Chance haben, dass das Angebot verbessert wird.
Unser Gesetzentwurf besagt: Der Bundesgesetzgeber
muss eine bestimmte Bedienungsqualität festlegen, zum
Beispiel Fernschnellverbindungen. Es muss klar sein,
dass es solche Verbindungen mehrfach am Tag gibt. Wir
als Grüne plädieren sogar für einen Deutschlandtakt, gerade im Fernverkehr.
({2})
Zu guter Letzt: Wir halten es auch für sinnvoll, dass
man Teile des Netzes, die nur regionale Bedeutung haben, den Ländern zur Bewirtschaftung und zur Sanierung übergeben kann, wenn die Länder ein Interesse daran haben. Den Einwand der Bundesregierung, das wäre
grundgesetzlich nicht abgesichert, finde ich ziemlich lächerlich. Wenn ich mir überlege, welche Konstrukte Sie
beim Eigentumssicherungsmodell angeboten haben, was
man mit dem Eigentum danach alles hätte machen können, muss ich sagen: Es ist erstaunlich, dass Sie so wenig findig sind, wenn es darum geht, den Ländern eine
bestimmte Verantwortung zu übertragen, ohne dass Sie
das Eigentum vollständig abgeben müssen.
Ich komme zum Schluss. Das Fazit lautet: Wir wollen
einen besseren Schienenverkehr. Wir wollen mehr
Schienenverkehr. Wer das will, wer auch den Grundgesetzauftrag im Fernverkehr und in der Fläche ernsthaft
und dauerhaft realisieren will, der muss einer gesetzlichen Grundlage zustimmen, die genau das alles regelt,
nämlich unserem Gesetzentwurf.
Vielen Dank.
({3})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe
ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt. Es ging um die Beschlussempfehlung
des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen
Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan … unter
Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386
({0}) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
1833 ({1}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen“, Drucksachen 16/10473 und 16/10567. Abgegebene Stimmen 570. Mit Ja haben gestimmt 442 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 96 Abgeordnete,
Enthaltungen 32. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 570;
davon
ja: 442
nein: 96
enthalten: 32
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
({2})
Veronika Bellmann
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer ({3})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({4})
Dirk Fischer ({5})
Axel E. Fischer ({6})
Dr. Maria Flachsbarth
Dr. Hans-Peter Friedrich
({7})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Ralf Göbel
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung ({8})
Dr. Franz Josef Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({9})
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({10})
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl Lamers ({11})
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Ingbert Liebing
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Thomas Mahlberg
Stephan Mayer ({12})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer ({13})
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Carsten Müller
({14})
Stefan Müller ({15})
Dr. Gerd Müller
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Albert Rupprecht ({16})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({17})
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({18})
Ingo Schmitt ({19})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Thomas Strobl ({20})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({21})
Gerald Weiß ({22})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Gerd Andres
Niels Annen
Ernst Bahr ({23})
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Klaus Uwe Benneter
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({24})
Volker Blumentritt
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({25})
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Graf ({26})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({27})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Barbara Hendricks
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Frank Hofmann ({28})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({29})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({30})
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel ({31})
Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({32})
Michael Müller ({33})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({34})
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
René Röspel
Karin Roth ({35})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({36})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({37})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Ulla Schmidt ({38})
Silvia Schmidt ({39})
Heinz Schmitt ({40})
Carsten Schneider ({41})
Reinhard Schultz
({42})
Swen Schulz ({43})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Ludwig Stiegler
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Jörn Thießen
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
({44})
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr ({45})
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Otto Fricke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Dr. Christel Happach-Kasan
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Gudrun Kopp
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Michael Link ({46})
Markus Löning
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Hans-Joachim Otto
({47})
Gisela Piltz
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({48})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({49})
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Dr. Uschi Eid
Hans Josef Fell
Priska Hinz ({50})
Fritz Kuhn
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Omid Nouripour
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Nein
CDU/CSU
Wolfgang Börnsen
({51})
Herbert Frankenhauser
Dr. Peter Gauweiler
Norbert Schindler
Willy Wimmer ({52})
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Ingrid Arndt-Brauer
Klaus Barthel
Dr. Axel Berg
Clemens Bollen
Marco Bülow
Dr. Peter Danckert
Renate Gradistanac
Dr. Reinhold Hemker
Petra Hinz ({53})
Ernst Kranz
Jürgen Kucharczyk
Helga Lopez
Lothar Mark
Sönke Rix
Dr. Margrit Spielmann
Dr. Rainer Tabillion
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
({54})
FDP
Dr. Edmund Peter Geisen
Joachim Günther ({55})
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Dr. Lothar Bisky
Heidrun Bluhm
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Monika Knoche
Jan Korte
Katrin Kunert
Oskar Lafontaine
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Paul Schäfer ({56})
({57})
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Bettina Herlitzius
Peter Hettlich
Dr. Anton Hofreiter
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Monika Lazar
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
fraktionslose
Abgeordnete
Gert Winkelmeier
Enthalten
CDU/CSU
Peter Albach
Dr. Wolf Bauer
Renate Blank
Manfred Kolbe
SPD
Iris Hoffmann ({58})
Christian Kleiminger
Dirk Manzewski
Dr. Wilhelm Priesmeier
Wolfgang Spanier
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Volker Beck ({59})
Ekin Deligöz
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Undine Kurth ({60})
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({61})
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({62})
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Grietje Staffelt
Rainder Steenblock
Jürgen Trittin
Josef Philip Winkler
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Enak
Ferlemann von der CDU/CSU-Fraktion.
({63})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich hätte eigentlich erwartet, dass Herr Hermann für
Bündnis 90/Die Grünen den Antrag zurückzieht, den
Börsengang der Bahn zu verschieben. Die Linken haben
von den Grünen, denke ich, abgeschrieben und das Gleiche beantragt. Der Börsengang ist aufgrund der derzeitigen Lage an den internationalen Börsen verschoben worden. Von daher sind die Anträge obsolet. Sie machen im
Moment überhaupt keinen Sinn.
An dieser Stelle merke ich an, dass die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen den Gesetzentwurf des Bundesrates eins zu eins übernommen hat. Es ist also nicht Ihr
Werk, sondern ausschließlich das des Bundesrates.
Wahrscheinlich wollen die Grünen hier besonders deutlich machen, für wie gut sie die Politik des Bundesrates
in dieser Frage halten und dass sie die Sorge teilen, die
Teilprivatisierung könnte möglicherweise dazu führen,
dass der Fernverkehr in Deutschland reduziert wird und
durch Regionalverkehre ersetzt werden müsste. Das ist
aber grundlegend falsch. Herr Hermann weiß es auch;
denn er ist einer der wenigen von den Grünen, die verstanden haben, wie die Bahnreform funktioniert. Dies
will er nach außen natürlich nicht darstellen, weil er es
mit der Ideologie der grünen Bahnpolitik nicht in Übereinstimmung bringen kann.
({0})
Wir haben ab 2010 einen europäischen Fernverkehrsmarkt auf der Schiene zu gewärtigen. Wie es heute schon
beim Güterfernverkehr der Fall ist, werden wir ihn auch
beim Personenfernverkehr auf der Schiene erhalten. Diesen Umstand ignorieren Sie ebenso wie der Bundesrat.
Sie malen das Abklemmen von Mittelzentren und von
Oberzentren an die Wand. Warum dies nicht eintreten
wird, kann man relativ einfach erklären: All die Verkehre, deren Betrieb für ein Wirtschaftsunternehmen einen Anreiz darstellen, werden ab 2010 auch durch andere Unternehmen realisiert werden können. Sie glauben
immer, dass Sie überall nur die weißen Züge mit dem roten Banner sehen werden, auf dem „DB“ steht. Das wird
sich ab 2010 radikal ändern. Viele andere Gesellschaften
werden in Deutschland Personenfernverkehr auf der
Schiene betreiben: SNCF, ÖBB, SBB, aber auch Regionalgesellschaften wie Veolia und Metronom, die nur
Nahverkehr betreiben, werden in diesen Markt einsteigen. Es ist im Rahmen der Bahnreform von der Koalition gewollt, dass es eine Konkurrenz gibt, damit ein gutes Angebot zu mehr Verkehr auf der Schiene führt.
({1})
Die zur Beratung anstehenden Gesetzentwürfe machen keinen Sinn, wenn man die Bahnreform richtig
durchdrungen hat und nicht immer von der Sorge getrieben ist, der Eisenbahnverkehr könnte nicht mehr funktionieren, wenn sich der Staat zurückzieht. Es wird funktionieren, wenn die Nachfrage da ist. Die Nachfrage ist
sofort da, wenn es ein gutes Angebot gibt. Das ist wie
mit dem Huhn und dem Ei. So wird es hier auch sein. Sie
können davon ausgehen, dass es findige Bahnmanager
vielleicht auch außerhalb der DB AG geben wird, die
diese Verkehre betreiben werden.
Außerdem glauben Sie, dass es ein spezielles Gesetz
geben müsse, um dies alles zu regeln. Hier kann ich Sie
beruhigen: Die Große Koalition befindet sich in der Endphase ihrer Beratungen über die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung. Wir werden diese Leistungs- und
Finanzierungsvereinbarung noch in diesem Jahr in den
Ausschüssen beraten und beschließen können, damit sie
nach Möglichkeit am 1. Januar 2009 in Kraft treten
kann, egal, ob die DB AG bis dahin teilprivatisiert ist
oder nicht. Die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung gibt uns eine Möglichkeit zur Steuerung unserer Infrastruktur, wie wir sie als Parlamentarier bisher noch
nie hatten. Alle von Ihnen vorgetragenen Sorgen werden
in der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung berücksichtigt.
({2})
- Herr Kollege Hofreiter, Sie haben doch noch nicht einmal gewusst, was eine Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung ist, als wir sie schon beraten haben.
({3})
Nun tun Sie doch nicht so, als verstünden Sie etwas davon. Warten Sie einmal ab, bis die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung vorliegt.
({4})
Sie kennen sie doch noch gar nicht. Sie pöbeln hier
schon gegen etwas herum, was Sie gar nicht kennen.
Bleiben Sie ganz ruhig! Sie werden das Papier schon
rechtzeitig zugeleitet bekommen. Ich warte dann auf
Ihre qualifizierten Einwendungen. Wir werden sie behandeln, aber wie immer wahrscheinlich auch ablehnen
müssen, weil Ihre Vorschläge einfach nicht substanziell
einzuarbeiten sind.
({5})
Auch bei einem anderen Thema, Herr Kollege
Hermann, unterscheiden wir uns, nämlich bei der Anreizregulierung. Sie gehören einem erlauchten Gremium
an, dem auch ich angehöre. Dort haben wir dieses
Thema sehr kontrovers diskutiert.
({6})
- Falls jemand es nicht weiß: Damit ist die Bundesnetzagentur gemeint. Dort ist auch klargelegt worden, dass
wir in 2009 keine Anreizregulierung bekommen werden,
weil es allein drei Jahre Zeit kostet, um dieses System zu
implementieren. Wir müssen uns auch Zeit nehmen, dies
richtig zu machen.
Da haben wir nicht mehrere Chancen; der erste Versuch muss gleich zum Erfolg führen. Deswegen wird die
Anreizregulierung nicht Bestandteil der Leistungs- und
Finanzierungsvereinbarung sein. So viel kann ich Ihnen
aus den internen Beratungen sagen.
Aber Ihr Infrastrukturzustandsbericht mit allem, was
Sie wünschen, wird in der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung enthalten sein. Sie werden damit
recht zufrieden sein können, wenn sie vom Ministerium
vorgelegt wird. Die Endberatungen sind abgeschlossen.
Ich glaube, wir sind da auf einem sehr guten Weg.
({7})
Sie kritisieren, dass es sein könne, dass durch die Privatisierung nicht genügend Geld hereinkommt. Da gebe
ich Ihnen sogar recht. Die Christdemokraten hätten sich
gewünscht, einen größeren Prozentsatz der DB ML zu
privatisieren.
({8})
Daraus machen wir keinen Hehl, weil wir es für sinnvoll
halten, bis zu 49,9 Prozent zu privatisieren. Aber in einer
Koalition muss man eben Kompromisse schließen. Unser Partner hat nur einer Privatisierung bis 24,9 Prozent
zugestimmt. Darauf haben wir Rücksicht genommen;
aber wir könnten uns auch mehr vorstellen. Bei einer
größeren Beteiligung könnte auch mehr Geld für den
Staatshaushalt generiert werden.
Die ewig gleiche Frage ist: Warum macht ihr das? Wir machen das nicht, um Menschen zu verärgern oder
um Unruhe in das System Bahn zu bringen. Vielmehr
braucht die DB AG ganz einfach Finanzkraft,
({9})
um den Wettbewerb der Eisenbahnunternehmen, wie ich
ihn Ihnen geschildert habe, in Europa ab 2010 im Fernverkehr zu bestehen. Das gilt heute bereits für den Güterfernverkehr. Dafür werden Lokomotiven, Züge, Infrastrukturen benötigt, und das muss finanziert werden. Der
Staat hat das Geld dafür nicht.
({10})
Deswegen ist die Teilprivatisierung notwendig. Wir
brauchen Geld für den Erwerb der Züge, für die Infrastruktur, für Schienenwege, für die Sanierung von Bahnhöfen, für den Lärmschutz. Lärmschutz ist angesichts
des steigenden Zugverkehrs auf den Strecken ein riesiges Thema für die Bürger, die dort leben. Die Bürger fragen händeringend, wann die Lärmschutzwand oder das
besonders überwachte Gleis und anderes mehr kommt.
Dafür brauchen wir Geld, das wir im Staatshaushalt
nicht bereitstellen können, also das Geld aus der Privatisierung. Last, but not least soll diese Privatisierung einen
Teil zur Haushaltskonsolidierung beitragen.
Wenn wir das Geld aus der Privatisierung nicht bekommen - ein Drittel aus den Erlösen soll in die Kapitalerhöhung fließen -, dann müsste dieses Geld vom Bundeshaushalt bereitgestellt werden. Da müssen Sie mir
einmal sagen, wo Sie dieses Geld im Verkehrsetat generieren wollen. Wir haben ohnehin zu wenig Geld für
Straßen, Schienen, Wasserwege. Da beißt die Maus keinen Faden ab, auch wenn Sie die Diskussion noch einmal vom Zaun brechen wollen: Wir werden die Bahn
teilprivatisieren. Welcher Zeitpunkt dafür günstig ist,
wird das Finanzministerium gemeinsam mit dem Vorstand entscheiden. Wir werden uns in den kommenden
Ausschusssitzungen leider Gottes mit Ihren Anträgen
und den Gesetzentwürfen beschäftigen müssen. Das
sieht das parlamentarische Verfahren so vor. Aber auf
unsere Unterstützung für diese Vorhaben brauchen Sie
nicht zu hoffen.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Diskussion über den Börsengang der Deutschen Bahn
AG führen wir hier nicht zum ersten Mal.
({0})
Die Finanzkrise war ein Anlass, darüber nachzudenken,
ob der jetzige Zeitpunkt tatsächlich klug gewesen wäre.
Ich glaube, allen Kolleginnen und Kollegen ist klar gewesen, dass dem nicht so gewesen wäre. Man kann sich
glücklich schätzen, dass auch der Vorstand der DB AG
das so gesehen hat.
Ich wundere mich allerdings, dass bereits heute über
einen Börsengang im November spekuliert wird. Ich
habe das Gefühl, manche können es nicht erwarten. Wer
die DAX-Entwicklung von Montag bis heute beobachtet
hat, kann keineswegs Entwarnung oder eine Verbesserung der Stimmung feststellen. Deshalb rate ich allen
sehr, auch dem weltbekannten Börsenexperten und geschätzten Kollegen Georg Brunnhuber, der sich dazu
verbreitet, keine neue Termindiskussion zu beginnen,
sondern abzuwarten.
({1})
Damit sind wir bei der Frage, was bis dahin geschehen wird. Ich nehme zum Beispiel den bereits fertig gestellten Emissionsprospekt mit Interesse zur Kenntnis.
Darin werden Dividendenzahlungen für private Investoren sowie die übrigen Aktionäre - das ist mittelbar dann
ja wohl der Bund - avisiert. Diese sind geradezu traumhaft. Im Geschäftsjahr 2010 - innerhalb eines Jahres soll fast eine Milliarde Euro an Dividende ausschüttbar
sein, so wird dem Investor versprochen. Vor diesem Hintergrund kann man fast nur sagen: Dieses Geld kann der
Bundeshaushalt gut gebrauchen - zumindest die
75 Prozent davon, die dem Bund zustehen würden - und
für sinnvolle Investitionen an der Schiene zusätzlich einsetzen. Allein mir fehlt der Glaube, dass es tatsächlich zu
solchen Ertragsentwicklungen in dem Unternehmen
kommt.
({2})
Das hat im Wesentlichen zwei Gründe. Einer davon
ist tatsächlich der Fernverkehr, zu dem ich gleich kommen werde. Ein anderer Grund ist natürlich, dass wir
ganz genau wissen, dass die Eigenkapitalsituation des
Unternehmens nicht so rosig ist. Das ist der wahre
Grund, weshalb es am Ende richtig ist, private Investoren zu suchen und zu finden. Man muss aber einen Wert
für das Unternehmen erzielen, der das widerspiegelt,
was die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler seit Bestehen der Republik in dieses Unternehmen investiert haben. Deshalb ist ein Verkauf unter Wert in dieser Phase
nicht möglich.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wird denn im
Fernverkehr passieren? Da bin ich ganz beim Kollegen
Ferlemann. Diese Gesetzentwürfe des Bundesrates und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sind vielleicht irgendwann einmal notwendig. Nun warten wir doch erst
einmal ab, was infolge des Wettbewerbs passiert. Warten
wir ab, was passiert, wenn alle anderen Eisenbahnunternehmen Fernverkehr auf der Schiene anbieten können.
Warten wir ab, ob es Interessenten gibt, die die Strecken,
die der Konzern am Potsdamer Platz nicht mehr fahren
will, fahren wollen, und das mit Gewinn, wenn sie entsprechend viele Fahrgäste finden.
Wenn es am Ende dieses wettbewerblichen Prozesses
dazu kommen sollte, dass breite Teile der Bevölkerung
- diese werden repräsentiert durch die direkt und über
Listen gewählten Abgeordneten dieses Hauses - das Gefühl haben, dass der grundgesetzliche Auftrag aus
Art. 87 e des Grundgesetzes nicht mehr gewährleistet ist,
dann allerdings müssen wir in der Tat darüber sprechen,
ob wir als Bund Fernverkehr bestellen müssen. Vorher
muss aber doch erst einmal Wettbewerb in das System.
Wir werden sehen, welche Strecken lukrativ durch die
DB AG oder andere Unternehmen fahrbar sind. Ich
denke, der Nahverkehr ist der Beweis dafür, dass Wettbewerb nicht weniger, sondern mehr und besseren Verkehr auf der Schiene organisiert.
({4})
Deshalb ist es natürlich geradezu notwendig, dass die
geschätzten Kollegen der Koalition dem Antrag der
FDP-Fraktion - wir werden dazu noch eine Anhörung
im Ausschuss durchführen -, auch für die Busse Wettbewerb auf den Fernverkehrsstrecken zuzulassen, zustimmen,
({5})
weil es nicht vernünftig sein kann, ein wettbewerbliches
System nur auf der Schiene zu wollen und zu sagen, dass
sich Parallelverkehre auf der Straße nicht entwickeln
dürfen. Es muss mehr Druck auf die Tube. Dann werden
die am Potsdamer Platz auch besser. Dafür müssen wir
uns einsetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Ich glaube, dass die Ausschussberatungen deutlich
machen werden, dass in diesem Jahr - das ist meine feste
Prognose - das Fenster für einen Börsengang geschlossen ist. Es wird auch geschlossen bleiben. Für die Beratung des Gesetzentwurfes aus dem Bundesrat ist es viel
zu früh. Warten wir zunächst ab. Wir werden einen guten, effizienten und besseren Fernverkehr auf der
Schiene bekommen, wenn es mehr Wettbewerber gibt.
Dafür wollen wir gemeinsam arbeiten.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Beckmeyer von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man den Redebeiträgen folgt, hat man den
Eindruck, es werden Phantomdebatten geführt. Wenn
man sich ein bisschen über das aktuelle Tagesgeschehen
informiert, dann wird man feststellen, dass der Bundesfinanzminister, nachdem er bereits in der vergangenen
Woche eine klare Haltung zum Börsengang eingenommen hat, heute erneut klargestellt hat, dass der BahnBörsengang zurzeit nicht auf der Tagesordnung steht,
weil die Märkte dies in keiner Weise hergeben.
Herr Hermann, bitte suggerieren Sie aber nicht, der
Deutsche Bundestag hätte noch keinen entsprechenden
Beschluss gefasst; er hat einen Beschluss gefasst. Der
Beschluss steht. Der Deutsche Bundestag hat einen eindeutigen Auftrag an die Bundesregierung formuliert. Insofern sollte man jetzt nicht erneut Handlungsbedarf einfordern. Dieser Handlungsbedarf ist bereits erledigt. Wir
haben am 30. Mai 2008 in diesem Haus klare Beschlüsse
im Zusammenhang mit dem Koalitionsantrag „Zukunft
der Bahn, Bahn der Zukunft - Die Bahnreform weiterentwickeln“ gefasst.
({0})
Der Deutsche Bundestag hat am 21. November 2006
Ziele zu der Leitidee formuliert, was mit der Bahn zukünftig passieren muss. Das war ebenfalls ein Auftrag an
die Bundesregierung bzw. an das Bundesverkehrsministerium.
Zu diesen Zielen stehen wir. Diese Ziele sind klar und
eindeutig. Wenn Sie jetzt so tun, als seien Sie die Erfinder der Ziele der Deutschen Bahn AG, kann ich nur sagen: Schauen Sie in unsere Papiere. Darin fordern wir
mehr Verkehr, eine Attraktivitätsverbesserung, gute
Bahnhöfe und Lärmschutz. All die einschlägig bekannten Dinge, die wir im Ausschuss sehr intensiv beraten
haben, sind dort fundamental niedergelegt. Wir haben
dazu eindeutige Beschlusslagen.
Wir haben heute etwas ganz anderes zu beraten: den
Gesetzentwurf des Bundesrates - die Bundesratsbank ist
leider komplett leer -, den Sie, wie Herr Ferlemann richtig erwähnt hat, eins zu eins abgekupfert haben; sogar
die Rechtschreibfehler haben Sie übernommen. Das
Thema ist eindeutig. Der Bundesrat hat die Haltung eingenommen, dass die Länder bzw. der Bundesrat bei der
Frage der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung
Mitwirkungsmöglichkeiten wollen.
Jetzt muss man aufpassen: Im Grundgesetz ist ziemlich klar dargelegt, wofür die Länder zuständig sind und
wofür der Bund zuständig ist. Der Bund ist eindeutig zuständig für die Schienenwege, für die Eisenbahnen des
Bundes, für die Infrastruktur, für den Nahverkehr, indem
er den Ländern Geld gibt, und für den Fernverkehr. Wir
haben 1993 nach der ersten Reform der Deutschen Bahn,
nach dem Zusammenschluss der Reichsbahn und der
Bundesbahn und den damit einhergehenden Reformbeschlüssen, festgestellt, dass es ein eigenwirtschaftlicher
Prozess sein soll, Fernverkehr anzubieten. Damit hat dieses Haus eine Richtung vorgegeben. Es wurde klargestellt, dass es im Fernverkehr keinen Bestellverkehr gibt,
wie es ihn im Nahverkehr gegeben hat und auch noch
heute gibt. Das ist der klassische Unterschied.
({1})
Weshalb ist das so? Um Flexibilität zu erzielen und zu
erhalten und dem Kunden gerecht zu werden. Ich denke,
dies ist einer der wesentlichen Aspekte in diesem Zusammenhang, den wir noch einmal herausarbeiten müssen.
({2})
Das Zweite ist: Immer wenn wir gewisse Anhörungen
durchführen, kommen einige Herren, die sich als Gutachter verkleiden, daher und erklären uns die Welt.
Diese Damen und Herren, die wir ja schon einschlägig
kennen, die uns mit irgendwelchen Vorgutachten irritieren wollen und deren Hauptgutachten bis zum heutigen
Tage, also seit fünf oder sechs Monaten, „pending“ sind,
also nicht vorhanden sind, erklären uns dann - dies wird
dann teilweise von den Medien gedruckt -, wie sich der
Fernverkehr in Deutschland zukünftig entwickelt. Ich
habe bisher keinen einzigen Beleg von einem gewissen
Herrn vorliegen, der noch nicht einmal Geschäftsführer
dieses Instituts mit den drei Buchstaben ist, sondern nur
Berater. Ich habe heute im Internet gelesen, dass man
dort eine Seniorberaterstelle vorsieht. Das brauchen sie
wahrscheinlich auch, damit dort endlich einmal Qualität
hineinkommt.
Ich kann nur feststellen: Es gibt noch ein großes Fragezeichen, ob tatsächlich belegt werden kann, was dort
behauptet wird. Ich habe ganz andere Informationen beispielsweise zu der Aussage: „Trier wird vom Fernverkehr abgehängt.“ Weshalb sollte man eigentlich eine Region wie die an der Mosel, in der der Tourismus wirklich
boomt, vom Fernverkehr abhängen? Die Leute von der
Bahn müssten ja dumm sein, wenn sie dort keinen Fernverkehr mehr anbieten würden. Das sind doch gute
Kaufleute.
({3})
Zur Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung. Kollege Ferlemann hat darauf hingewiesen, dass es sich hier
um einen Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DB AG handelt und nicht um ein Gesetz.
Der Vertrag beinhaltet ein ganz neues Element: Wir geben jährlich, wie auch in der Vergangenheit, 2,5 Milliarden Euro. Wir werden in diesem Vertrag minutiös festlegen, in welcher Form diese 2,5 Milliarden Euro zu
verwenden sind, was Pünktlichkeit, Qualität und all das
betrifft, was in diesem Bereich abgeklärt und festgelegt
werden muss.
Wir befinden uns - das ist bereits gesagt worden - in
den abschließenden Beratungen zwischen den Fraktionen und dem Hause. Wir werden demnächst eine Anhörung dazu beantragen. Zur Anhörung werden die entsprechenden Papiere vorliegen. Es ist wichtig, dass wir
darüber ausführlich beraten. Ich denke, die Forderung,
den Ländern Beteiligungs- und Mitspracherechte oder
sogar das Recht zur Übernahme von Verantwortung für
die Infrastruktur von Teilnetzen einzuräumen, ist mit
dem, was uns das Grundgesetz auferlegt, nicht vereinbar.
Zur gesetzlichen Gewährleistung des Schienenpersonenfernverkehrs habe ich bereits gesagt, dass der Deutsche Bundestag 1993 das Prinzip des Vorrangs für die
Eigenwirtschaftlichkeit des Personenfernverkehrs auf
dem Schienennetz festgelegt hat. Ich glaube, dabei sollten wir unbedingt bleiben.
Will man die Bilanz der Bahn eigentlich immer nur
schlechtreden und denen vom Potsdamer Platz, wie gesagt worden ist, eigentlich alles Schlechte an den Hals
wünschen oder möglicherweise auch unterstellen? Dazu
möchte ich sagen: So schlecht sind die gar nicht. Denen
muss zwar immer auf die Finger geschaut werden - das
ist richtig, und das tun wir pausenlos: bei Sicherheit, bei
Finanzierung, bei der Frage, wie viel Geld sie kriegen
und was sie dafür leisten -, aber: 1994 kostete ein Mitarbeiter der DB AG umgerechnet 31 000 Euro. Die Wertschöpfung pro Mitarbeiter lag damals bei nur 28 000
Euro. Das war also ein reines Zuschussgeschäft, wenn
man es ökonomisch betrachtet. 2006 lagen die Kosten
pro Mitarbeiter bei 43 000 Euro, die Wertschöpfung lag
aber schon bei 54 000 Euro. Daran erkennt man den Turnaround. Dieses Unternehmen hat plötzlich eine sehr viel
höhere Wertschöpfung erreicht. Dazu kann man als Eigentümer doch nur sagen: Hut ab! Das ist eine gute Leistung. Die muss man auch einmal benennen.
({4})
Herr Döring, Sie sprachen den Parallelverkehr mit
Bussen an. Weshalb stärken wir eigentlich den Bereich
Schiene? Weshalb wollen wir mehr Verkehr auf die
Schiene bringen? Wir führen doch nicht an dem einen
Tag Diskussionen über das Klima und an einem anderen
Tag Diskussionen über die DB und den Fernverkehr,
ohne dass wir von der jeweils anderen Diskussion etwas
wissen. Wenn wir den CO2-Ausstoß reduzieren wollen,
dann müssen wir damit doch bei der Schiene anfangen.
Wir müssen den Bereich Schiene stärken, die Schiene
quasi ertüchtigen, damit der CO2-Ausstoß auch im Fernverkehr in Deutschland reduziert wird. Herr Döring, ich
denke, das ist wichtig. Daran muss man auch denken,
wenn man solche Bocksprünge macht wie Sie heute
Nachmittag.
({5})
Wir Sozialdemokraten haben zur Thematik „Börse“
immer gesagt: Wir haben einen klaren Auftrag, aber wir
werden kein Eigentum des deutschen Volkes verscherbeln. Dabei bleibt es. Der Bundesfinanzminister hat
noch verantwortlich gehandelt, als er in der letzten Woche eine klare Position dazu eingenommen hat. Er hat sie
heute bestätigt. Diese klare Position ist: Es wird erst
dann wieder an einen Börsengang gedacht, wenn die
Märkte einen ordentlichen Preis hergeben. Das ist es,
was wir alle wollen. Wir wollen das Geld ja nicht einfach in einen Schrank legen, sondern wir haben eine Eigenkapitalerhöhung vor, wollen die Kapazität erhöhen,
die Schiene ertüchtigen, den Lärm vermeiden und das
Gesicht der Bahn verbessern, sprich: die Bahnhöfe. Mit
dem, was wir an der Börse an zusätzlicher Finanzkraft
bekommen, haben wir viel vor. Ich denke, das wird uns
gelingen - ich bin da ganz zuversichtlich -, wenn nicht
heute, dann in der Zukunft.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothée Menzner
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Bahnfahrerinnen und Bahnfahrer!
({0})
Wir diskutieren im Rahmen einer sehr ungewöhnlichen
Sitzungswoche, einer der ungewöhnlichsten der vergangenen Jahre, in einer Woche, in der nicht nur unsere
Arbeit, sondern auch die Ängste, Unsicherheiten und
Überlegungen der Menschen maßgeblich durch die Finanzkrise und die daraus möglicherweise resultierende
Wirtschaftskrise geprägt sind, über die Deutsche Bahn.
Die Große Koalition, die mit aller Macht und vielen
Tricks monatelang das Verscherbeln unserer Bahn, eines
in Jahrzehnten und über Generationen hinweg aufgebauten Volksvermögens, vorangetrieben hat, war angesichts
dieser Krise wenigstens schlau genug, den Börsengang
der DB AG erst einmal zu verschieben.
({1})
Verschieben reicht aber nicht. Die Bahn gehört nicht an
die Börse. Das haben wir von der Linken immer gesagt,
und dabei bleiben wir.
({2})
Unsere Bahn darf nicht Renditeinteressen unterworfen
werden. Der Bahn-Börsengang muss endlich vollständig
abgesagt werden. Darin liegt die Differenz zum Antrag
der Grünen.
({3})
Aktuell vertreten wir diese Forderung in diesem Haus
noch allein. Inzwischen teilen aber 90 Prozent der Menschen diese Ansicht. Das sind die Menschen, deren Interessen wir hier eigentlich zu vertreten haben.
Wir diskutieren heute aber auch über einen Gesetzentwurf des Bundesrates; das wurde bereits angesprochen.
Dieser hat den durchaus verräterischen Titel „Entwurf
eines Gesetzes zur Sicherstellung von Eisenbahninfrastrukturqualität und Fernverkehrsangebot“. Der Börsengang bedroht also die Infrastruktur und das Fernverkehrsangebot? Wen sollte das überraschen? In seinem
Gesetzentwurf benennt der Bundesrat auch gleich eine
Alternative. Wie alle wissen, ist der Bundesrat beileibe
nicht von den Linken dominiert. Als Alternative benennt
er den Verzicht auf die Kapitalprivatisierung der DB AG.
Genau das ist die Alternative.
({4})
Seit es darum geht, die Bahn kapitalmarktfähig zu
machen, erlebten wir in den letzten Jahren eine Ausdünnung des Fernverkehrsnetzes. Das muss durch den Einsatz von immer mehr Regionalzügen, die von den Ländern gestellt werden, kompensiert werden. Ganze
Regionen wurden und werden vom Fernverkehr abgeschnitten. Außerdem ist es zu zahlreichen und lauter
werdenden Klagen gekommen, unter anderem zu Klagen
der Verkehrsverbünde über den Zustand des Schienennetzes.
Daraus kann nur eine einzige Schlussfolgerung gezogen werden: Wo es um Rendite geht, bleibt die Mobilität
von Gütern und Menschen auf der Strecke.
({5})
Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen:
Der polnische Sejm beschloss kürzlich, Gelder für die
Verbesserung der Eisenbahnfernverkehrsverbindungen
Polen-Berlin und Polen-Dresden bereitzustellen. Die
DB AG sperrte sich aber, da mit diesen Fernzügen keine
Rendite von 14 Prozent erzielt werden kann. Eine Renditeerwartung von 14 Prozent ist eine Renditeerwartung an
sogenannte innovative Finanzprodukte: an Swaps, Futures
und all die Dinge, die die Mehrzahl von uns vor ein paar
Wochen wahrscheinlich noch gar nicht kannte.
({6})
Dies sind aber keine Renditen, die in der realen Wirtschaftswelt, in Industrie und Handel im Normalfall dauerhaft erzielt werden, schon gar nicht im Schienenpersonenfernverkehr.
({7})
Dies gilt auch im Hinblick auf die innovativen Finanzprodukte.
In diesen Tagen wird Folgendes deutlich - wenn wir
nicht aufpassen, wird sich das bei der Bahn wiederholen -: Die Zeche zahlt letztendlich der Steuerzahler und
zahlen damit alle Menschen im Land.
({8})
Genau deswegen fordern wir die endgültige Absage des
Bahn-Börsengangs, die Wiederherstellung des Einflusses des Eigentümers auf das Management der DB AG
und ihrer Tochterfirmen, ein flächendeckendes Verkehrsangebot, gerade in der Sparte Fernverkehr - das muss
gesetzlich verankert sein -,
({9})
und nicht zuletzt faire Arbeitsbedingungen und Beschäftigungssicherung für die Mitarbeiter der DB AG.
Danke.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 16/9797, 16/9903, 16/10455 und 16/10525
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b sowie
Zusatzpunkt 5 auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung der Mitarbeiterkapitalbeteiligung ({0})
- Drucksache 16/10531 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Margareta Wolf
({3}), Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Partnerschaftliche Unternehmenskultur stärken - Mitarbeiterbeteiligung fördern
- Drucksachen 16/2653, 16/4599 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Fuchs
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig
Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Mitarbeiterbeteiligung - Eigenverantwortliche Vorsorge stärken
- Drucksache 16/9337 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Aussprache ist verkürzt worden, damit wir anschließend die Sondersitzungen der Fraktionen durchführen können. Ich
bitte, diese halbe Stunde noch mitzumachen und die
Sondersitzungen dann etwas verspätet einzuleiten. - Es
gibt dagegen keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Franz Thönnes
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Teilhabe und Mitbestimmung sind wesentliche Elemente
unserer sozialen Marktwirtschaft. Deshalb wollen wir
die Beteiligung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern am Gewinn und am Kapital der Unternehmen in
Deutschland stärken. Hierzu haben die Koalitionsparteien ein gemeinsames Modell entwickelt, das wir jetzt
mit dem Mitarbeiterkapitalbeteiligungsgesetz umsetzen
wollen.
Es gibt gute Gründe, das genau jetzt zu tun. Denn
wir wollen erstens die Vermögensbeteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland verbessern. Wir wollen zweitens die Bindung zwischen den
Unternehmen und ihren Beschäftigten stärken. Das ist
zum Vorteil des Betriebes und zum Vorteil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aktuelle empirische Studien
zeigen uns deutlich, dass gerade Unternehmen, die innovativer und produktiver sind, auch einen höheren Anteil an qualifizierten Beschäftigten haben. Gerade angesichts des demografischen Wandels wird es immer
wichtiger, die kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Unternehmen zu halten und eine gewisse
Anziehungskraft für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu erwirken. So gesehen kann dies zum Unternehmenserfolg beitragen.
Ich will auch deutlich sagen: Die aktuelle Finanzmarktkrise ist kein Argument gegen dieses Vorhaben.
Ganz im Gegenteil: Schwierigkeiten auf den KapitalParl. Staatssekretär Franz Thönnes
märkten rufen geradezu danach, eine solide Beteiligung
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schaffen.
Mit diesem Gesetz wird dazu beigetragen, dass dies für
die Unternehmen sinnvoll und stabilisierend passiert.
Hier geht es nicht um kurzfristige Spekulationen, sondern darum, längerfristige, nachhaltige Anlagen in den
Unternehmen zu organisieren. Es geht um Nachhaltigkeit und nicht um den schnellen 5-Euro-Blick, dessen
Konsequenzen wir in den letzten Wochen leidvoll erlebt
haben.
({0})
Eine Herausforderung liegt darin, dass uns manche
Länder in Europa und anderswo weit voraus sind. Dort ist
die Unternehmensbeteiligung viel stärker verbreitet.
Quoten von 15 bis 30 Prozent der Betriebe, die diese
Form der Beteiligung anbieten, sind keine Seltenheit; in
Großbritannien sind es 30 Prozent der Betriebe. Deutschland hinkt da hinterher. Bei uns bieten bislang nur
2 Prozent der Betriebe ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Beteiligungen an. Das muss mehr werden. Aber
wir wissen auch, woran das gelegen hat. Die Zurückhaltung hat damit zu tun, dass es in anderen Ländern bessere
Beteiligungswerte gibt, die mit Vergünstigungen bei der
Besteuerung und bei den Abgaben einhergehen, und dass
es bislang gerade für die in Deutschland weit verbreitete
Form der Personenunternehmen manchmal schwierig
und mit hohem Verwaltungsaufwand verbunden gewesen
ist, eine vernünftige Mitarbeiterbeteiligung zu organisieren.
Hier setzen wir an. Wir wollen, dass die Mitarbeiterbeteiligung auch für kleine und mittlere Betriebe attraktiv wird und dass es unbürokratisch angegangen werden
kann. Deshalb machen wir erstens die vermögenswirksamen Leistungen mit Blick auf die Mitarbeiterbeteiligung
attraktiver, erhöhen die Sparzulage für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von 18 auf 20 Prozent und die
Einkommensgrenze von 7 900 Euro auf 35 800 Euro.
Zweitens bleiben Mitarbeiterbeteiligungen bis zu einer
Höhe von 360 Euro - bislang waren es nur 135 Euro künftig steuer- und abgabenfrei.
Neben der direkten Beteiligung werden zukünftig Beteiligungen an einem Mitarbeiterbeteiligungssondervermögen, einem speziellen Fonds, gefördert. Bei diesem
Fonds muss ein Rückfluss in die beteiligten Unternehmen in Höhe von 75 Prozent garantiert werden. Wir wollen natürlich Mitnahmeeffekte ausschließen. Vor diesem
Hintergrund wird die Begünstigung nur dann gewährt,
wenn die Beteiligung zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Arbeitslohn aus freiwilligen Leistungen des Arbeitgebers gewährt wird. Sie darf nicht auf bestehende oder
künftige Ansprüche angerechnet werden. Das heißt, Entgeltumwandlungen sind ausgeschlossen. Mit dieser Beschränkung vermeiden wir auch - das war ja immer ein
bisschen das befürchtete Risiko -, dass der Ausbau der
Mitarbeiterbeteiligung zu einer Konkurrenz für den Aufbau der privaten oder betrieblichen Altersvorsorge wird.
Das wird hiermit ausgeschlossen.
Unser Ziel ist es also, mit dem Gesetzentwurf zu erreichen, dass sich gut eine Million Menschen mehr in
Zukunft an ihren Unternehmen beteiligt. Beide Seiten
können davon profitieren. Das kann eine gute Win-winSituation sein: für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, weil sie neben dem Tariflohn eine Beteiligung
an ihrem Unternehmen haben und auch von den Unternehmensgewinnen profitieren können, und für die Unternehmen, weil sie von motivierten Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern sowie einer erhöhten Eigenkapitalausstattung profitieren können.
Lassen Sie uns gemeinsam die Entscheidung für einen weiteren Mosaikstein zur sozialen Marktwirtschaft,
für eine bessere Mitarbeiterinnen- und Mitarbeiterbeteiligung in den deutschen Unternehmen, treffen.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mitarbeiterbeteiligung kann eine gute Sache sein.
Das Vorhaben der Bundesregierung ist aber alles andere
als ein Meilenstein der sozialen Marktwirtschaft. Wieder
werden durch neue Subventionen Fehlanreize gesetzt,
und über Risiken wird hinweggetäuscht. Ihr Vorschlag
ist deshalb unsystematisch, widersprüchlich und letztlich
auch wirkungslos.
Sie wollen beispielsweise den steuer- und sozialversicherungsfreien Höchstbetrag für Kapitalbeteiligungen
anheben, obwohl die Entwicklung bei den Alterseinkünften in Deutschland hin zu einer nachgelagerten
Besteuerung geht. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass
die deutschen Arbeitnehmer zu einem Heer von Kapitalisten werden, nur weil der steuer- und sozialversicherungsfreie Höchstbetrag für Kapitalbeteiligungen - Herr
Staatssekretär, Sie haben das gerade selbst erwähnt - auf
360 Euro im Jahr angehoben wird. Außerdem werden
die staatlichen Zulagen im Zuge der Abgeltungsteuer ab
dem nächsten Jahr sowieso gekürzt.
({0})
Zudem ist der Förderweg falsch. Wenn Mitarbeiterbeteiligungen sowohl in der Ansparphase als auch in der
Entnahmephase steuer- und sozialversicherungsfrei gestellt werden, dann kommt es unweigerlich zur Kannibalisierung der klassischen Formen der betrieblichen Altersvorsorge;
({1})
denn sie müssen zumindest in der Entnahmephase versteuert werden.
Besser wäre es, die Mitarbeiterbeteiligung nicht isoliert zu betrachten, sondern sie mit dem Ziel der betrieblichen Altersvorsorge ordentlich abzustimmen; das fordern wir in unserem vorliegenden Antrag. Ein wirklicher
Meilenstein wäre es, die weitgehend künstliche Trennung zwischen betrieblicher Altersvorsorge und Mitarbeiterbeteiligung aufzuheben und für beide Formen gleiche Förderwege festzulegen.
({2})
Stattdessen bauen Sie den Gemischtwarenladen der
Förderwege immer weiter aus und nehmen zusätzlich
Änderungen bei den vermögenswirksamen Leistungen
und beim Kreis der Berechtigten vor. Auch dies geht an
der Wirklichkeit vorbei. Seit Jahren verliert die Förderung vermögenswirksamer Leistungen in den Betrieben
zunehmend an Bedeutung. Diese Leistung muss voll
versteuert und verbeitragt werden. Deshalb wäre es vernünftig, dieses Geld lieber zur Förderung der betrieblichen Altersvorsorge zu verwenden. Wir meinen, dass für
die betriebliche Altersvorsorge und für die Beteiligung
der Mitarbeiter am Produktivvermögen künftig die gleichen steuerlichen und sozialrechtlichen Förderungen
gelten sollten.
({3})
Wir wollen den Widerspruch, der aufgrund der unterschiedlichen Förderwege besteht, auflösen und das System verständlicher machen. Zu diesem Zweck schlagen
wir die Einführung eines Altersvorsorgekontos vor; unser Entwurf liegt Ihnen vor. Für die Einzahlungen auf
dieses Konto, das ein zertifizierter Sparvertrag zwischen
dem Altersvorsorgesparer und einem Produktanbieter
sein soll, haben wir eine Gewinnbeteiligung der Mitarbeiter, der Arbeitnehmer im Auge, die Sie in Ihrem Modell völlig außen vor lassen.
Eine echte Gewinnbeteiligung in Form von Erfolgsprämien ist deutlich vielversprechender als die
Zwangsjacke, die Sie den Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch die ausschließliche Förderung der Kapitalanteile anlegen wollen. Die Gewinne kann jeder im Rahmen eines Altersvorsorgekontos dort anlegen, wo er
entweder die höchste Rendite oder das niedrigste Risiko
sieht, wenn er will, auch im eigenen Unternehmen.
Nach unserem Konzept wäre die Förderung wie bei
den anderen Durchführungswegen der betrieblichen Altersvorsorge auf 4 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung beschränkt. Gespart würde aus unversteuertem, nicht mit
Sozialbeiträgen belastetem Einkommen. In der Auszahlungsphase wäre das dann zu versteuernde Kapital ab einem Alter von 60 Jahren frei verfügbar.
Dies scheint uns ein vernünftiger Weg zu sein, um die
Differenz zwischen der Mitarbeiterbeteiligung, dem,
was die betriebliche Altersvorsorge leistet, und dem Kapital, das der Arbeitnehmer für seine Altersvorsorge
langfristig aufbauen muss, zu verringern. Ich glaube, unser Weg ist für viele Arbeitnehmer der attraktivere, und
Ihr Weg führt eigentlich zu einer Altersarmut, die wir
alle hoffentlich nicht wollen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Klaus-Peter Flosbach von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der ersten Lesung beschäftigen wir uns heute mit einem
Gesetz, das die Beschäftigten von Unternehmen in eine
Lage versetzt, sich stärker am Kapital des Unternehmens
- möglichst am eigenen Unternehmen - zu beteiligen.
Ludwig Erhard hat einmal von einer „Gesellschaft von
Teilhabern“ gesprochen, und wir in der Koalition nehmen dieses Thema auf und wollen gerade das Angebot
der Mitarbeiterbeteiligung ausbauen.
Bisher sind es erst 2 Millionen Arbeitnehmer, die sich
an ihrem eigenen Unternehmen beteiligen können, obwohl es bereits viele Formen der Beteiligung gibt, so
beispielsweise Belegschaftsaktien, Genussscheine, Mitarbeiterdarlehen oder auch stille Beteiligungen. Wir wollen - und das ist der Unterschied zur FDP - diese Mitarbeiterbeteiligung weiter ausbauen,
({0})
sie aber nicht - und dies schreibt die FDP in ihrem Antrag - in die betriebliche Altersversorgung einbauen, und
zwar in Höhe von bis zu 4 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze. Wir nehmen 229 Millionen Euro in die
Hand, um die Arbeitnehmer zusätzlich an den Unternehmen zu beteiligen.
Lassen Sie mich kurz auf die geplanten Maßnahmen
eingehen. Ein wichtiger Schritt ist die Anhebung der
Höchstbeträge, die das Unternehmen den Arbeitnehmern
freiwillig und zusätzlich zum Gehalt überlassen kann.
Diese Beträge sind steuer- und sozialversicherungsfrei.
Wir heben diesen Betrag in der Tat deutlich von 135 auf
360 Euro jährlich an, und wir werden auch die bisherigen Anlageformen in den Bestandsschutz aufnehmen.
Jetzt möchten wir aber auch die Fördermöglichkeit
auf Beteiligungen über sogenannte Mitarbeiterbeteiligungsfonds ausdehnen. Was heißt das? - Wir kennen im
Grunde bisher die unmittelbare Beteiligung des Arbeitnehmers am Unternehmen. Wir haben allerdings die Erfahrung gemacht, dass bisher viele kleine und mittlere
Unternehmen kaum die Möglichkeit haben, ihre Mitarbeiter an ihrem Erfolg teilhaben zu lassen. Wir nutzen
jetzt die professionellen Anlagemöglichkeiten in diesen
Fonds, die auch für Mitarbeiter kleiner und mittlerer Unternehmen als Hilfsmittel zur Beteiligung angeboten
werden.
Für die Mitarbeiter hat diese Anlageform positive Aspekte, bietet sie doch eine höhere Risikostreuung gegenüber einer Direktanlage, und sie eröffnet gute Renditechancen. Nun mag man hier kritisieren, dass durch
eine eher indirekte Fondsbeteiligung die Bindung an das
Unternehmen beziehungsweise die Identifikation mit
dem eigenen Unternehmen eher gering ist. Dem kann
man jedoch entgegenhalten, dass die Vorteile durch eine
breitere Risikostreuung und eine professionelle Fondsverwaltung überwiegen.
Problematisch sehe ich allerdings die etwas starren
Anlagegrenzen, die dieses Gesetz vorgibt. Die Fonds
müssen garantieren, dass 75 Prozent der eingezahlten
Gelder der Arbeitnehmer wieder in die beteiligten Unternehmen zurückfließen. Die Frage ist erstens, ob der
Handlungsspielraum groß genug ist, um eine breite Risikostreuung vorzunehmen. Und zweitens ist zu prüfen, ob
die Anlageexperten überhaupt genügend Anlagemöglichkeiten finden. Wir müssen die Frage stellen: Benötigen die beteiligten Unternehmen überhaupt Kapital, und
fordern sie dieses Kapital überhaupt an?
Entscheidend ist auch die Frage, ob sich die Fonds
kleinen und mittleren Unternehmen zuwenden, sodass
auch mittlere Personengesellschaften in den Genuss des
neuen Eigenkapitals kommen können. Die 75-ProzentGrenze sollte meines Erachtens also etwas flexibler sein
und eher eine Richtschnur darstellen. Wir kennen das
von der Riester- und der Rürup-Rente: Auch hier brauchen wir eine Anlaufphase, und die Erfahrungen haben
gezeigt, dass die angepeilte Zweijahresfrist eher zu
knapp bemessen ist.
Wir werden auch die Forderung diskutieren - das
sage ich in Richtung der FDP -, ob das in die betriebliche Altersvorsorge integriert werden sollte. Schließlich
gibt es fünf Wege der betrieblichen Altersvorsorge. Wir
verzeichnen auch große Erfolge. Denn inzwischen nutzen 17 Millionen Mitarbeiter die betriebliche Altersvorsorge.
Die Beteiligung der Mitarbeiter am Unternehmenserfolg ist keine Wunderwaffe oder ein Allheilmittel, und
sie ist auch nicht ohne Risiken. Denn sie ist vom Erfolg
des Unternehmens abhängig, und dieser kann natürlich
schwanken. Außerdem gibt es natürlich immer noch ein
Kurs- und Insolvenzrisiko, wie es in der freien Wirtschaft auch üblich ist.
Wegen der verkürzten Redezeit möchte ich zum Abschluss kommen. Zusammenfassend sehe ich, dass wir
mit diesem Gesetzesvorhaben auf dem richtigen Weg in
die richtige Richtung sind. Ich wünsche uns allen ein gutes Gelingen bei den weiteren Verhandlungen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Herbert Schui von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Durch das
Gesetz sollen nicht nur die Leistungsbereitschaft und das
Verantwortungsbewusstsein der Arbeitnehmer gefördert
werden, sondern, mehr noch, die abhängig Beschäftigten
sollen auch einen fairen Anteil am Erfolg des Unternehmens erhalten. Die Mitarbeiterbeteiligung sei ein Gebot
der sozialen Gerechtigkeit. Die Beschäftigten sollen am
Ertrag der Volkswirtschaft gerecht und ausgewogen teilhaben. Das Ziel ist auch die soziale Sicherung der Arbeitnehmer.
({0})
- Das finde ich auch. Warten Sie ab.
Die Bundesregierung nimmt sich mit ihrem Gesetzentwurf natürlich eine ganze Menge vor. In der Begründung des Gesetzentwurfs wird zwar ausdrücklich gesagt,
dass der Lohnanteil am Volkseinkommen von 2000 bis
2007 sehr deutlich gefallen ist, nicht ausgedrückt wird
aber natürlich, dass 135 Milliarden Euro weniger Lohn
gezahlt werden, als dies der Fall wäre, wenn es die
Lohnquote aus dem Jahre 2000 gäbe.
({1})
Die Frage, die man nun stellen muss, lautet: Kann
man durch eine jährliche Sparzulage von 8 Euro und allerlei Möglichkeiten, die Unternehmer zu animieren, den
Mitarbeitern einen kleinen Aktienbetrag zu schenken,
die Verteilungsgerechtigkeit, die uns durch die fehlenden
135 Milliarden Euro verloren gegangen ist, wieder zurückgewinnen? Ich zweifele sehr daran.
Wie wollen Sie die soziale Gerechtigkeit durch ein
solches Gesetz fördern? Wie halten Sie es denn mit
Hartz IV? Ist das sozial gerecht? Wird das in irgendeiner
Weise durch diese geplante Gesetzgebung beeinflusst?
Wie sieht es mit dem Gesundheitsfonds aus? Wie steht
es mit der Rente mit 67? Dazu sagen Sie nichts, obwohl
mit dem Gesetz natürlich soziale Gerechtigkeit hergestellt werden soll.
Hier ist also ein Umdenken nötig, aber kein Umdenken in Ihrem Sinne. Eine andere Politik muss her. Wir,
die Linke, fordern das schon seit langem. Verteilungsgerechtigkeit wird man durch solche leichten kosmetischen
Maßnahmen nicht herstellen können.
({2})
Wenn wir schon über Mitarbeiterbeteiligung reden,
dann muss klar sein, dass die Mitarbeiterbeteiligung so
weit gehen muss, dass die Unternehmenspolitik beeinflusst und mitbestimmt werden kann, zumindest dann,
wenn es um Betriebsschließungen, Betriebsverlagerungen und vieles andere mehr geht.
({3})
Dann hätte eine Mitarbeiterbeteiligung in der Tat einen
Sinn. Das ist auch das, was von unserem Vorsitzenden
Oskar Lafontaine bereits wiederholt vorgetragen worden
ist.
({4})
Mit dem Mitarbeiterkapitalbeteiligungsgesetz wollen
Sie es nun richten. Die Unternehmen können Anteile in
Höhe von 350 Euro im Jahr steuer- und abgabenfrei verschenken. Dies soll also nicht versteuert und auch nicht
mit Abgaben belegt werden. Glauben Sie aber angesichts der Erfahrungen, die wir mit den Lohntarifverhandlungen gemacht haben, im Ernst, dass die Unternehmen solche Anteile in nennenswertem Umfang
verschenken werden? So etwas ist doch gar nicht zu erwarten.
Der Staat zahlt 8 Euro Sparzulage, wenn Unternehmensanteile von den abhängig Beschäftigten erworben
werden. Fragen Sie sich doch einmal, wer überhaupt
sparen kann. Gespart wird gegenwärtig dann, wenn ein
Haushalt ein Nettoeinkommen von mehr als rund 20 000
Euro im Jahr hat. Erst dann ist der Haushalt überhaupt in
der Lage, zu sparen. Ich habe diese Zahlen aus dem Mikrozensus von 2003 hochgerechnet. Neuere Zahlen liegen - wahrscheinlich aufgrund des Bürokratieabbaus nicht vor.
({5})
- Wo landen Sie? Bei 20 000 Euro?
({6})
Haben Sie sich angesichts der niedrigen Einkommen
schon einmal überlegt, wie viele Menschen in den Genuss dieser Prämie kommen können? Wenn wir das Sparen fördern wollen, dann setzt das zunächst ein Einkommen voraus, das hoch genug ist, um etwas sparen zu
können.
Herr Kollege Schui, kommen Sie bitte zum Schluss.
Gerne. - Sie können einige Signale setzen. Sie können vor allen Dingen endlich den gesetzlichen Mindestlohn in einer Höhe von rund 8,50 Euro beschließen.
({0})
Das wäre ein erstes Signal, um zu mehr Einkommen und
damit überhaupt zu der Möglichkeit zu kommen, zu sparen. Wir sind nicht gegen eine Sparzulage. Aber bevor
eine Sparzulage gezahlt wird, muss durch ein höheres
Einkommen die Möglichkeit bestehen, zu sparen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Thea Dückert vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Selbstverständlich macht es Sinn - wir Grüne sind Verfechter dieser Idee -, mehr Mitarbeiterbeteiligung in den Unternehmen durchzusetzen. Es ist ein Jammer, dass wir in
Deutschland nur bei etwa 2 Prozent Beteiligungsquote
liegen. Andere Länder haben das besser geregelt.
Das ist übrigens der Grund, warum wir schon vor
zwei Jahren einen entsprechenden Antrag im Bundestag
eingebracht haben. Er steht - anders als Ihr Antrag, der
heute zur ersten Beratung vorliegt - heute zur Abstimmung. Ich fordere Sie auf, unserem Antrag näherzutreten, weil wir damit sehr viel schneller und auch zielgenauer zu dem von uns allen angestrebten Ziel kommen:
zu mehr Mitarbeiterbeteiligung in Unternehmen.
({0})
Es geht nicht um ein Finanzanlageprodukt, als das Sie
es behandeln, sondern um eine andere Art von Unternehmenskultur. Ich halte es für ein sehr riskantes Vorgehen,
was Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
- auch noch mit Steuergeldern subventioniert - antragen. Ich werde das gleich an zwei Punkten verdeutlichen.
Vorab möchte ich eine Bemerkung an Herrn Thönnes
richten. Ich finde es in diesem Zusammenhang problematisch, wenn Sie in Ihrer Argumentation behaupten,
dass beispielsweise der von Ihnen vorgeschlagene Branchenfonds keine Konkurrenz zur privaten Altersvorsorge
darstellen soll. Das ist falsch. Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer können jeden Euro nur einmal ausgeben.
Gerade aus diesem Grunde steht das von Ihnen vorgestellte Produkt in definitiver Konkurrenz zur privaten
Altersvorsorge.
({1})
Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über die
Unsicherheit der Menschen und die Fehlinformationen
über Anlageprodukte konnten wir im Nachhinein froh
sein, dass wir beispielsweise mit der Riester-Rente oder
auch mit betrieblichen Altersvorsorgeformen Produkte
gefunden und mit Rahmenbedingungen versehen haben,
die einigermaßen sicher sind. Sie wollen jetzt einen anderen Weg in Konkurrenz dazu vorschlagen. Das finde
ich - milde ausgedrückt - hoch problematisch.
Sie schlagen zwei Wege vor. Der erste Weg ist die
direkte Beteiligung, zum Beispiel über Aktien. Dass das
eine direkte Beteiligung ist, ist richtig. Sie springen aber
an dieser Stelle zu kurz, weil Sie nicht thematisieren,
dass Menschen, die ihren Arbeitsplatz in einem Unternehmen haben, an dem sie sich dann auch noch beteiligen, ein doppeltes Risiko eingehen. Wenn nämlich die
Insolvenz ansteht, dann verlieren sie ihren Arbeitsplatz
und ihr eingesetztes Geld. Darauf müssen wir eine Antwort finden.
({2})
Wir schlagen in unserem Antrag beispielsweise eine Insolvenzsicherung vor. Da ist in Ihrem Antrag Fehlanzeige.
Als zweiten Weg schlagen Sie das neue Konstrukt des
Branchenfonds vor. Er ist in dreifacher Hinsicht zum
Scheitern verurteilt. Erstens ist er nicht sicher. Sie werden in einer Branche nur eine begrenzte Anzahl von Unternehmen finden, die dem Fonds beitritt. Dadurch entsteht eine Risikohäufung. Das Geld wird nur in den
Unternehmen in diesen Branchen eingesetzt. Ich finde,
Sie sollten sich zum aktuellen Zeitpunkt zu Gemüte führen, was der Zentrale Kreditausschuss dazu gesagt hat.
Er hat eindeutig festgestellt, dass diese Fondskategorie
definitiv ein weitaus größeres Kapitalmarktrisiko aufweist als herkömmliche Aktienfonds. Das muss man
sich gerade zum heutigen Zeitpunkt zu Gemüte führen.
Ich finde, es ist unredlich, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern so etwas vorzuschlagen.
({3})
Zweitens. Dieser Branchenfonds ist unrentabel. Zwei
Drittel des Geldes müssen in dem entsprechenden Bereich bleiben. Selbst wenn der Fondsmanager der Meinung ist, dass eine bestimmte Branche auf einem absteigenden Ast ist, wird das Geld weiterhin dort investiert.
Das ist eine dumme Anlageform. Ich würde niemandem
raten, sein Geld dort zu lassen.
Drittens. Wenn die Arbeitnehmer ihr Geld erst einmal
dort investiert haben, können sie es nicht schnell herausholen. Sie müssen sieben Jahre warten, um an das Geld
zu kommen. So lange ist es festgelegt. Es ist nicht redlich, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern so etwas
vorzuschlagen.
Ich komme zum Schluss. Ich möchte Ihnen ein Zitat
Ihres Kollegen Bartholomäus Kalb von der Union aus
der Finanzdebatte in der letzten Woche zu Gemüte führen. Er hat gesagt:
Man kann nur staunen, welche Finanzprodukte mit
welchen Kunstnamen von wem auf den Markt gebracht worden sind.
Ich kann nur staunen, dass die Bundesregierung jetzt
ein neues, riskantes Finanzprodukt mit dem Namen
„Mitarbeiterbeteiligungssondervermögen“ auf den
Markt bringen will. Nehmen Sie Abstand davon! Stimmen Sie unserem Antrag zu! Dann sind Sie auf der sicheren Seite.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg-Otto Spiller von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Kollegin Dückert, Sie haben vergessen, etwas über Ihren eigenen Antrag zu sagen.
({0})
In diesem steht leider gar nichts. Er enthält nur heiße
Luft.
({1})
Ihr Antrag besteht nur aus der Aufforderung, die Bundesregierung möge sich etwas einfallen lassen.
({2})
Sie solle fördern sowie bei Unternehmen und Sozialpartnern werben. Aber zu einer konkreten Ausgestaltung sagen Sie nichts. Es ist nur heiße Luft.
({3})
Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der auf den Eckpunkten basiert, den die Koalitionsfraktionen erarbeitet haben. Wir starten nach einer langen Pause wieder einen Vorstoß bei einem alten Thema.
Fast so lange wie die Bundesrepublik existiert, ist das
ein Thema. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivkapital in der Bundesrepublik
Deutschland eher bescheiden; darauf wurde schon hingewiesen. Die Beteiligung an den Unternehmensgewinnen ist etwas höher. Aber nach wie vor sind nur drei Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an dem
Produktivvermögen in der Bundesrepublik beteiligt.
Meistens handelt es sich dabei um relativ gut bezahlte
und qualifizierte Angestellte.
Mit unserem vorliegenden Gesetzentwurf unternehmen wir einen neuen Vorstoß. Ich unterstreiche: Es handelt sich dabei nicht um einen Ersatz leistungsgerechter
Bezahlung. Vielmehr soll es zusätzlich zu dem Lohn
bzw. dem Gehalt, auf das jeder Anspruch hat, eine Beteiligung am Unternehmenskapital oder an einem branchenspezifischen Fonds geben. Da es sich nicht um eine
Entgeltumwandlung handelt, gibt es keine Konkurrenz
zur Altersversorgung, Herr Schäffler. Diese Möglichkeit
soll allen Mitarbeitern eröffnet werden, nicht nur den besonders gut qualifizierten. Das geschieht am besten
durch eine Betriebsvereinbarung.
Wir haben in der Koalition lange beraten, wie wir damit umgehen, weil wir mehrere Motive und Zielrichtungen haben. Natürlich gibt es auch eine Reihe von guten
Beispielen in Deutschland, die zeigen, dass kleine und
mittlere Unternehmen es schaffen, ihre Mitarbeiter zu
beteiligen. Für die meisten Unternehmen ist das aber
kompliziert. Es ist auch verwaltungsmäßig und rechtlich
umständlich. Außerdem ist das Risiko für die Arbeitnehmer relativ hoch. Deswegen haben wir beide Wege geöffnet, nämlich die direkte Beteiligung an dem Unternehmen, in dem die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer beschäftigt sind, und den Fonds, bei dem
eine Risikostreuung möglich ist.
Herr Schäffler, Sie haben ganz ähnlich wie ängstliche
Funktionäre der Arbeitgeberverbände argumentiert. Die
haben das schon immer abgelehnt, weil sie Angst haben,
dass ihnen irgendjemand vielleicht hineinreden könnte.
Mit solchen Ängsten muss man leben können. Ich bin
überzeugt davon, dass das ein Vorstoß für erfolgreiche
Arbeitnehmer und für erfolgreiche Arbeitgeber sein
wird. Die Erfolge der beiden Seiten schließen einander
nicht aus. Alle können davon profitieren. Wir werden
noch Einzelheiten zu beraten haben, aber wir haben einen guten Gesetzentwurf.
({4})
Als letztem Redner vor der Unterbrechung der Sitzung erteile ich dem Kollegen Gerald Weiß von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Herr Schui von den Linken, wenn
Sie uns gelobt hätten, dann hätten wir etwas falsch gemacht. Die Linken können doch mit einem Ansatz, der
das persönliche Miteigentum der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer am Produktivkapital ein Stück weit
befördert, mit Privateigentum, persönlicher Unabhängigkeit und Autonomie durch Eigentum nichts anfangen.
Deshalb bin ich mit Ihnen jetzt schon fertig.
({0})
Mit der FDP will ich mich gleich auseinandersetzen.
Ich wende mich zuerst - der Beitrag verdient es, glaube
ich - Frau Dückert zu. Wenn Sie sagen, wir sollten Ihrem Antrag folgen, dann muss ich allerdings mit dem
Kollegen Spiller sagen, wobei ich den Antrag etwas positiver als er bewerte: Der Analyseteil, der Grundsatzteil
ist in Ordnung. Aber wenn man dann gespannt auf den
Handlungsteil schaut,
({1})
dann stellt man fest, dass außer Prüfbitten und Werben
nichts vorkommt. Es findet sich nichts Konkretes darin.
Da waren Sie vor Jahren schon einmal weiter. Die FDP
war übrigens viel weiter.
Ich will auf die drei Oppositionsredner eingehen, weil
sie als Problem die Konkurrenz zur betrieblichen Altersversorgung erwähnt haben. Eigentlich hat der Kollege
Spiller das eben schon abgearbeitet. Ich will es aber
- zum Mitschreiben - noch einmal sagen. Der Motor des
Erfolgs und der neuerlichen Blüte der betrieblichen Altersversorgung ist die Entgeltumwandlung, die wir fortgesetzt haben.
({2})
Das, was wir jetzt in der Vermögensbildung machen, ist
Förderung on top. Wenn ein Arbeitgeber etwas zusätzlich macht - dafür setzen wir Anreize -, fördern wir das
durch verbesserte Rahmenbedingungen. Wir wollen
mehr Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivkapital durch verbesserte Anreize.
Frau Dückert, was heißt doppeltes Risiko? Sie können
gesellschaftsrechtliche Beteiligungen in der Tat nicht absichern, aber Sie können schuldrechtliche Beteiligungsformen absichern. Arbeitnehmer und Arbeitgeber können sich dann - das müssen wir ihnen zutrauen entscheiden, ob sie mehr Risiko und mehr Rendite oder
mehr Sicherheit und weniger Rendite wählen, ob sie den
sicheren Weg gehen, der à la longue etwas mehr Ertrag
verspricht, oder nicht. Ich kann doch dem Arbeitnehmer
zutrauen, zwischen zwei Wegen wählen zu können.
Ich glaube, dass wir auf dem richtigen Weg sind und
dass wir die Einkommens- und Vermögensverteilung in
der Bundesrepublik dadurch, dass wir die Arbeitnehmerschaft stärker am Eigentum an Produktivkapital beteiligen, tatsächlich à la longue verbessern können. Wir müssen sie verbessern.
Eine Gesellschaft, in der sich die Einkommens- und
Vermögensverteilung immer mehr spreizen, wird Unfrieden ernten. Wir wollen eine Gesellschaft der Freiheit,
des friedvollen Umgangs und der Verteilungsgerechtigkeit. Deshalb ist der Ansatz, den die Regierung gewählt
hat, richtig. Vielleicht können wir diesen Gesetzentwurf,
den wir für gut erachten, in der parlamentarischen Beratung an der einen oder anderen Stelle noch verbessern.
Er ist jedenfalls eine sehr gute Grundlage.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/10531 und 16/9337 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Partnerschaftliche Unternehmenskultur stärken - Mitarbeiterbeteiligung fördern“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4599,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/2653 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Sitzung zu
unterbrechen. Der Wiederbeginn der Sitzung wird rechtzeitig durch Klingelsignal angekündigt. Die Unterbrechung dürfte etwa eine Stunde dauern. Die Fraktionen
werden sich verständigen, wann wir hier wieder zusammentreten werden.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Arbeitsmarktinstrumente auf effiziente Maßnahmen konzentrieren
- Drucksache 16/9093 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Zu diesem Punkt war eine Debatte von einer halben
Stunde vorgesehen. Inzwischen haben wir uns darauf
verständigt, dass der Kollege Dirk Niebel für die FDP-
Fraktion, der Kollege Stefan Müller für die Unionsfrak-
tion1), die Kollegin Kornelia Möller für die Fraktion DIE
LINKE, die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller für die
SPD-Fraktion und die Kollegin Brigitte Pothmer für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ihre Reden zu Proto-
koll geben.2) - Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9093 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie den
Zusatzpunkt 6 auf:
10 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze
- Drucksache 16/10491 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJosef Fell, Kerstin Andreae, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stromnetze zukunftsfähig ausbauen
- Drucksache 16/10590 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
1) Der Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor und wird
im Plenarprotokoll der 184. Sitzung abgedruckt.
2) Anlage 7
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Peter Hintze.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland braucht leistungsfähige, moderne und
effiziente Stromnetze. Dabei ist das Höchstspannungsübertragungsnetz das Rückgrat unserer Elektrizitätsversorgung. Dieses Netz steht vor besonderen Herausforderungen. Die erneuerbaren Energien werden massiv ausgebaut - dies gilt insbesondere für die Windenergie -, und
neue konventionelle Kraftwerke werden gebaut. Der
Großteil der Windenergieanlagen und der neuen konventionellen Kraftwerke wird im Norden Deutschlands errichtet; der Strom wird allerdings im Wesentlichen im
Westen und im Süden verbraucht. Deshalb ist dem Land
Niedersachsen ein klarer Dank für die Bereitschaft auszusprechen, einen so großen Anteil an der nationalen
Aufgabe Energieversorgung zu übernehmen.
({0})
Ich bitte Herrn Ministerpräsidenten Wulff, der heute zu
meiner Freude hier auf der Bundesratsbank anwesend
ist, diesen Dank mit nach Niedersachsen zu nehmen.
Uns ist klar, dass das für das Land eine Belastung ist und
regional immer wieder zu Diskussionen führt. Auf der
anderen Seite macht es den Bund aus, dass man Lasten
gemeinsam trägt, Aufgaben gemeinsam schultert und
zusammen nach einem Weg sucht, der von allen akzeptiert werden kann.
Allein für die Integration der Windenergie brauchen
wir nach den Berechnungen der Deutschen EnergieAgentur 850 Kilometer neue Leitungen, und zwar vergleichsweise schnell, nämlich bis zum Jahr 2015. Auch
die Europäische Union hat in ihren Leitlinien für die
transeuropäischen Energienetze einen erheblichen und
dringenden Ausbaubedarf ermittelt.
Heute dauert es von der Planung bis zur Errichtung
einer Höchstspannungsleitung oft zehn Jahre. Das ist
eindeutig zu lang. Wir wollen und müssen das abkürzen.
({1})
Zentrales Ziel des Regierungsentwurfs ist deshalb die
Beschleunigung der Planungs- und Genehmigungsverfahren für den Bau wichtiger Höchstspannungsleitungen.
Kernstück des Gesetzentwurfs ist ein Energieleitungsausbaugesetz. Darin wird die energiewirtschaftliche Notwendigkeit für 24 vordringliche Leitungsbauvorhaben
verbindlich festgestellt. Damit steht das Ob dieser Vorhaben fest, und die Planungs- und Genehmigungsbehörden
dürfen die energiewirtschaftliche Notwendigkeit nicht
mehr prüfen. Durch den Wegfall des damit verbundenen
Zeitaufwands gewinnen wir wertvolle Zeit. Für die vordringlichen Vorhaben gilt ferner ein beschleunigtes Planfeststellungsverfahren. Wichtig ist auch, dass bei den
vordringlichen Vorhaben der Rechtsweg auf eine Instanz
verkürzt wird. Das Bundesverwaltungsgericht wird als
erste und letzte Instanz zuständig sein.
({2})
Es gibt einen Punkt, der die Diskussion lange bestimmt hat, auch in Niedersachsen, nämlich die Frage
der Erdkabel. Ich sage für die Bundesregierung ausdrücklich, dass ich Verständnis für den Wunsch habe,
neue Höchstspannungsleitungen möglichst unterirdisch
zu verlegen, da der sichtbare Eingriff in die Landschaft
bei Erdkabeln eindeutig geringer ist. Auch bei der Erdverkabelung gibt es Schneisen und ökologische Belastungen, aber sie sind geringer als bei einer Freilandverkabelung.
({3})
Gleichwohl müssen wir, als Sachwalter des gesamten
Themas, bedenken, dass Erdkabel mit Problemen verbunden sind. Zum einen muss das technische Risiko
gründlich geprüft werden; denn in einer solchen Vielzahl
und Dichte gibt es bisher nirgendwo auf der Welt eine
Erdverkabelung. Zum anderen stellen die thermischen
Probleme gewaltige Herausforderungen dar. Bei der
Erdverkabelung müssen in relativ geringen Abständen,
alle 30 Kilometer, entsprechende technische Vorrichtungen vorgesehen werden. Hinzu kommen die Frage der
Kühlung und Ähnliches. Das sind technische Probleme,
die beträchtlich sind. Außerdem wissen wir, dass die
Erdverkabelung fünf- bis zehnmal so teuer und der Nutzungszeitraum halb so lang wie bei der Freilandverkabelung ist. Die Kostenfragen und die technischen Fragen
müssen also durchaus geprüft werden.
Aber das Bundesministerium für Wirtschaft und
Technologie ist ja dafür bekannt, dass es Mut bei der Erprobung neuer Technologien beweist. Mit dem hauptbetroffenen Land Niedersachsen haben wir uns - das ist
auch Gegenstand des Gesetzentwurfes - gut und einvernehmlich darauf verständigt, dass diese neuen Technologien in vier Pilotprojekten - drei der Anlagen starten in
Niedersachsen, eine endet auch dort - überprüft werden,
und zwar auf technisch und wirtschaftlich effizienten
Teilabschnitten. Dem ist ein langer Diskussionsprozess
vorausgegangen. Auch im Bundesrat hat man sich
schließlich darauf geeinigt, dass das die richtigen Projekte sind. Anträge auf Erweiterung oder Änderung der
Verkabelungskriterien wurden mit breiter Mehrheit abgelehnt.
Ich glaube, wir haben jetzt einen guten Kompromiss
gefunden zwischen dem Bedürfnis nach einem möglichst schonenden Eingriff in die Landschaft und dem
verständlichen Wunsch, die Kosten im Griff zu behalten
und die technischen Probleme zu lösen. Mit einer derartigen Höchstspannung von über 380 Kilovolt unter die
Erde zu gehen, muss erst erprobt werden, damit man in
Zukunft die Entscheidung treffen kann, ob das der richtige Weg ist oder ob wir nicht mit der Freilandverkabelung auf der sicheren Seite sind.
Meine Damen und Herren, aufgrund des allgemeinen
Wunsches nach Kürze will ich nun mit Dank für Ihre
Aufmerksamkeit schließen. Mein Dank geht vor allem
an das Land Niedersachsen und seinen Ministerpräsidenten dafür,
({4})
dass sie diesen schwierigen Weg mitgegangen sind. Ich
freue mich, dass auch die FDP mit zustimmenden Worten die Sache begleitet, was wir bei einer konstruktiven
Opposition immer erwarten, aber nicht immer erleben.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Gudrun
Kopp das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!
Wir brauchen dringend eine Beschleunigung des Netzausbaus in Deutschland. Es wird Sie vielleicht überraschen, Herr Hintze - Sie haben das vorhin so angemerkt -,
aber wir halten diesen Gesetzentwurf für akzeptabel und
werden ihm auch zustimmen,
({0})
weil auch wir die Verantwortung sehen. Egal, welchen
Energieträger wir bevorzugen, welchen Energieträger
die Fraktionen für notwendig halten, wir brauchen in jedem Fall Netze. Wir brauchen zuverlässige Netze. Wir
müssen schnellstens mit dem Bau beginnen.
Dieser Gesetzentwurf kommt zwar spät - wir hätten
ihn uns schon sehr viel früher gewünscht -, aber besser
spät als niemals. Wir finden es besonders gut und unterstützenswert, dass darin die Rede von einem gesetzlichen Bedarfsplan analog zum Fernstraßen- und Schienennetzausbau ist. Das ist sehr hilfreich. Wir werden
alles tun, um das Gesetzgebungsverfahren durch unser
positives Votum mit zu beschleunigen.
({1})
Leider kann ich nicht nur Positives sehen. Wir stimmen den vier Pilotprojekten zur Erdverkabelung, die dieser Gesetzentwurf enthält, zu, obgleich ich ausdrücklich
darauf hinweisen möchte, dass die FDP-Bundestagsfraktion der Erdverkabelung grundsätzlich skeptisch gegenübersteht. Man muss anhand dieser vier Pilotprojekte
ausloten, wie sich das in der Praxis darstellt. Insgesamt
ist es aber nicht ganz so unproblematisch, wie manch einer denken mag. Ich lese einmal vor, welche Eingriffe es
geben kann. Bei einer 10-systemigen Kabeltrasse beispielsweise wird durch den Aushub eine Schneise von
1,50 Meter Tiefe und von bis zu 40 Meter Breite geschaffen, die nicht bewirtschaftet werden darf, eine
Schneise durch das Land, die natürlich einen Eingriff in
die Landschaft und damit in den Naturschutz bedeutet.
Wir müssen auch sehen, dass an einer solchen Trasse
kein Baumbewuchs erlaubt ist, dass sie stets zugänglich
sein muss und dass an bestimmten Stellen, insbesondere
bei Steigungen ab 20 Prozent, eine solche Trasse sogar
komplett betoniert werden müsste. Das schließt ein tiefes Betonbett ein. Das ist nicht ganz unproblematisch.
Was uns aber besonders stört, ist Folgendes: Wir bemühen uns mit der Bundesnetzagentur und mit dem Energiewirtschaftsgesetz schon über Jahre hinweg, die Netzkosten niedrig zu halten. Wir werden sehen, dass es
einen Schneeballeffekt gibt, wenn mit einer Erdverkabelung im Norden begonnen wird. Auch in anderen Bundesländern bzw. Regionen werden Freileitungen immer
weniger durchsetzbar sein, weil die Bürger auf die Barrikaden gehen und sagen: Im Norden gibt es Erdverkabelungen, dann können wir auch bei uns eine Erdverkabelung erwarten. - Das hat zur Folge, dass sich die gerade
nach unten regulierten Netzgebühren durch die Erdverkabelung wiederum erhöhen, weil nämlich die Kosten
für diese Erdverkabelung zwei bis zehn Mal so hoch sind
und auf die Verbraucher umgeschlagen werden. Das
heißt, wir werden wieder höhere Netzentgelte bekommen.
Das ist eigentlich nicht das, was wir wollen. Insofern
sind wir hier im Widerspruch zu dem, was wir im politischen Handeln mit großen Mühen versucht haben. Ich
führe das nur als kritischen Merkposten an, um zu zeigen, dass wir uns an dieser Stelle sehr schwertun. Wir
werden aber diese Pilotprojekte konstruktiv begleiten
und uns anschauen, wie groß der Landschaftseinschlag
sein wird und wie sich die Mehrkosten entwickeln. Zu
gegebener Zeit werden wir evaluieren, was dabei herausgekommen ist.
({2})
Insgesamt ist uns daran gelegen, dass wir mit dem
Netzausbau schnellstens vorankommen. Deshalb tun wir
unseren Part und werden wir unsere Stimmen dafür geben, dass diese Beschleunigung jetzt auch vonstattengehen kann.
Herzlichen Dank.
({3})
Den Beitrag des Kollegen Engelbert Wistuba für die
SPD-Fraktion nehmen wir zu Protokoll.1)
Das Wort hat der Kollege Bodo Ramelow für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Schon mit dem Verkehrswegeplanungsrecht in
den neuen Bundesländern sind die Beteiligungsrechte
der Bürger, der Kommunen und der Gebietskörperschaf-
ten massiv beschnitten worden. Jetzt erleben wir, dass
1) Anlage 8
mit einem Beschleunigungsgesetz die Rechte der Bürger
bei der Beteiligung am Ausbau von Leitungen - es gibt
in diesem Zusammenhang massive Auseinandersetzungen mit den Bürgern - beschleunigt abgebaut werden
sollen.
Als ich die Bundesregierung, sehr geehrter Herr
Hintze, gefragt habe - ich habe wegen der 380-kV-Leitungen durch den Thüringer Wald gefragt -, wie die fossile Kraftwerksleistung von 20 000 Megawatt, die aus
dem Norden kommt und genau dem Volumen entspricht,
mit dem auch Strom aus Offshorewind durchgeleitet
werden soll, durch das neue Höchstspannungsnetz geleitet werden soll, ist sie mir die Antwort schuldig geblieben. Wir haben den Eindruck - das macht mich stutzig -,
dass man fossile Energie, bei deren Produktion CO2
emittiert wird, durchleitet und als Begründung dafür die
Windkraft angibt. Das scheint mir ein falscher Weg zu
sein.
({0})
Ich möchte darauf hinweisen, dass die Eingriffe in die
Natur beachtlich sind. Durch den Naturpark Thüringer
Wald und durch das Biosphärenreservat SchorfheideChorin soll eine 100 Meter breite und 100 Meter hohe
Schneise gebrochen werden. Es wird behauptet, dies sei
notwendig, um Windstrom zu verteilen. Es wäre zwar
sinnvoll und richtig, den Windstrom zu verteilen. Die
Frage ist nur, ob man dabei das Beteiligungsrecht abbauen und sagen kann: „Das muss beschleunigt werden“, gleichzeitig aber keine Netzertüchtigung vornimmt und auch nicht die Weichen für eine regenerative
Energieproduktion stellt, die nahe am Menschen stattfindet.
Ich will darauf hinweisen, dass wir schon jetzt erleben, dass, sobald der Wind in Sachsen-Anhalt stark
weht, die KWK-Anlagen in Thüringen heruntergefahren
werden müssen; denn die Großkraftwerksbetreiber haben überhaupt kein Interesse, die Grundlast herunterzufahren. Wenn man aber regenerative Energie will, dann
muss man auch die Voraussetzung dafür schaffen, dass
nicht gleichzeitig an den Koppelstellen des Netzes, das
Sie jetzt durchpeitschen wollen, große Kohlekraftwerke
errichtet werden. Das halten wir für den falschen Weg.
({1})
Wir können uns gerne über den Netzausbau unterhalten, wenn er mit folgender Zielstellung verbunden wird:
regenerative dezentrale Energiewirtschaft, die ein viel
höheres Maß an Effizienz hat als die Großkraftwerke,
die zurzeit überall errichtet werden.
Erlauben Sie mir die Frage, wie man den Strom aus
Offshorewind an den Kraftwerken vorbeileitet, mit denen man anschließend in Süddeutschland oder vielleicht
über die deutschen Grenzen hinaus in der EU Sonderprofite machen will. Sie müssen sich entscheiden, ob Sie
nur für die großen Vier in der Energiewirtschaft oder ob
Sie für die Bürger tätig werden wollen.
({2})
Ich bin sehr wohl dafür, dass man das Stromnetz den
vier Energieriesen abnimmt, unter öffentliche Kontrolle
stellt und eine Zielstellung vornimmt, nämlich dass die
bestehenden Stromkreise zügig auf neueste Technik umgestellt werden, dass ein Temperaturmonitoring eingeführt wird, dass im Hinblick auf das Übertragungsnetz
die gesetzliche Vorschrift existiert, dass ein Temperaturmonitoring stattfinden kann, dass der Verbundbetrieb
von Anlagen für erneuerbare Energien über das Leitungsnetz, also die sogenannten virtuellen Kraftwerke,
bei den Netzgebühren bevorzugt wird oder er - das wäre
am besten - seine Leistung ohne Netzgebühren einspeisen kann, dass dezentrale Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen bei der Netznutzung deutlich bessergestellt sein
müssen als Großkraftwerke und dass bei 110-kV-Leitungen der Netzausbau ausschließlich über Erdkabel durchgeführt wird.
Ich finde es schon seltsam, dass alle Pilotprojekte der
Erdverkabelung - bei aller berechtigten Kritik an der
Erdverkabelung an sich - im Heimatland unseres Herrn
Umweltministers stattfinden. Ich hätte gerne die gleiche
Prüfung einer möglichen Errichtung von Pilotanlagen in
der Schorfheide und im Thüringer Wald.
({3})
Wir sagen ganz klar: Es gibt Alternativen zu dieser
Form des Durchpeitschens von Interessen. Die Alternativen sind: die Netze neu aufstellen; die Netze verbinden und modernisieren. Die Netze müssen so gestaltet
sein - das muss die Zielstellung sein -, dass sie für eine
dezentrale Energiewirtschaft genutzt werden können.
Das, was Sie im Moment vorhaben, bedeutet nur, das Eigentum der großen Stromkonzerne zu schützen und die
Bürger zu entrechten. Das halten wir für den falschen
Weg.
Wir fordern Sie auf: Ziehen Sie das Gesetz zurück!
Debattieren Sie mit uns, mit dem ganzen Haus über Alternativen, wie man das bestehende Stromnetz optimieren und verbessern kann! Helfen Sie mit, dafür zu sorgen, dass die Bürger nicht das Gefühl haben, Opfer einer
Politik zu werden, die ausschließlich die Interessen der
vier großen Stromkonzerne im Blick hat! Die Bürger in
Südthüringen, aber auch die Bürger in Brandenburg werden Ihnen dankbar sein, wenn sie von den riesigen Masten
verschont werden und viele Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen an die Stelle der gigantischen Strommaschinen gesetzt werden. Näher am Menschen dran, das wäre ein
Ziel.
Vielen Dank.
({4})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Joachim
Pfeiffer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In der Tat stehen wir vor den größten Strukturveränderungen, die es in der Energiewirtschaft und der
Netzwirtschaft in den letzten 50 Jahren gegeben hat. Die
Stichworte sind zum Teil bereits genannt worden.
Die Kraftwerksstruktur wird sich verändern, nicht nur
bezogen auf die Energieträger, sondern vor allem auch
bezogen auf die geografische Dislozierung. In Zukunft
wird nicht mehr nur im Bereich der erneuerbaren Energien verbrauchsnah Strom erzeugt - ich meine zum Beispiel die Onshore- bzw. Offshorewindanlagen, die im Süden logischerweise relativ schwierig zu betreiben sind
sondern auch im Bereich der klassischen Energieträger.
Steinkohlekraftwerke wurden in den vergangenen
50 Jahren immer verbrauchsnah oder dort gebaut, woSteinkohle vorhanden war. Das ändert sich gerade. Mit
dem Ausstieg aus der Steinkohlesubventionierung wird
bei der Steinkohleverstromung zukünftig fast ausschließlich auf Importkohle zurückgegriffen. Gewichtige
Veränderungen sind im Gange. Wenn der Kernkraftausstieg, den wir nicht wollen, wirklich wahrgemacht wird,
wird sich diese Dramatik noch verschärfen. Vor allem
wird es aufgrund der erneuerbaren Energien zu Herausforderungen kommen.
Auch durch den europäischen Binnenmarkt, den wir
alle wollen und an dem wir arbeiten, indem wir uns um
Marktkopplungen, einheitliche Regelzonen, grenzüberschreitende Interkonnektoren und anderes kümmern,
wird Deutschland als heute bereits größtes Energie- und
Stromtransitland in Europa weiter gefordert. Deshalb
müssen wir unsere Netzstrukturen anpassen.
Ich sehe mehrere Einsatzfelder. Gerade im Bereich der
erneuerbaren Energien müssen wir, was die Systemintegration, was Speichertechnologien und anderes anbelangt,
neue Wege gehen. Mit dem, was wir mit der Novellierung
des Erneuerbare-Energien-Gesetzes beschlossen haben,
sind wir auf einem guten Weg. Auch die Änderung des
Wälzungsmechanismus, die Direktvermarktung und andere Dinge mehr, die in diesem Bereich anstehen, können eine tragende Säule sein.
Trotz aller Entwicklungen in diesem Bereich werden
wir nicht umhinkommen, den Netzausbau zu beschleunigen.
({0})
Bisher war es leider so, dass alle Beschleunigungen von
Infrastrukturmaßnahmen fehlgeschlagen sind und unsere
Bemühungen nicht den notwendigen Erfolg gebracht haben. Deshalb begrüßen wir als Unionsfraktion es außerordentlich, dass die jetzt vorgeschlagenen Elemente - ich
will das nicht noch einmal wiederholen -, insbesondere
der Bedarfsplan, in dem der vordringliche Bedarf festgelegt wird - das gibt es zum Beispiel im Verkehrsbereich
schon -, und die erst- und letztinstanzliche Zuständigkeit
des Bundesverwaltungsgerichts, für eine wirkliche Beschleunigung sorgen werden. Vorhin war von zehn Jahren die Rede. Das ist schon eine optimistische Sicht der
Dinge. Es gibt genug Bereiche - ich kann Ihnen Beispiele nennen -, wo es 40 Jahre gedauert hat, 110-kVRingleitungen, die dringend notwendig sind, zu errichten. Bei den Herausforderungen, vor denen wir stehen,
wird ein solches Tempo mit Sicherheit nicht ausreichend
sein.
Es ist auch die Einführung eines Planfeststellungsverfahrens für Anbindungsleitungen von Offshorewindanlagen sehr zu begrüßen. Es wird eine Konzentrationswirkung haben und so die in diesem Bereich bisher
notwendigen vielen Einzelgenehmigungen ersetzen bzw.
zusammenfassen. - So weit, so gut.
Es gibt aber aus Sicht der Unionsfraktion einige
Dinge, über die noch diskutiert werden muss. Auch ich
sehe noch Nachbesserungsbedarf. Zunächst einmal muss
sichergestellt werden, dass die Pilotprojekte zur Erdverkabelung tatsächlich Testcharakter besitzen und von den
Genehmigungsbehörden nicht automatisch als Standard
aufgefasst werden.
Ich kann mir ersparen, etwas zu den Kostenentwicklungen zu sagen. Die Kollegin Kopp hat bereits darauf
hingewiesen, welche positiven Ergebnisse wir bei der
Regulierung der Netze erzielt haben - darüber haben wir
heute Morgen schon diskutiert -: eine um 22 Prozent geringere Strompreiserhöhung allein durch die Senkung
der Netznutzungsentgelte, 1,6 Milliarden Euro im letzten Jahr, 2,6 Milliarden Euro im Jahr zuvor. Das macht
für jeden Haushalt einen dreistelligen Betrag aus.
Aus diesem Grund bitten wir die Bundesregierung, zu
prüfen, ob die Möglichkeit besteht, ein Veranlasserprinzip einzuführen, ähnlich wie in § 7 a Bundesfernstraßengesetz. Dies würde bedeuten, dass neben den Pilotprojekten den Ländern die Entscheidung überlassen wird,
ob sie Erdkabel möchten oder nicht. Wenn sie sich für
Erdkabel entscheiden, müssen sie die Kosten dafür
selbst tragen.
Der zugrunde liegende Ansatz soll deshalb nicht nur
bei den Netzentgelten angewandt werden. Es soll in
technischer und wirtschaftlicher Hinsicht die effizienteste Lösung gewählt werden. Es bleibt also grundsätzlich bei Freileitungen. Wer eine teurere Ausführung will,
muss diese selbst bezahlen. Das kann er seinen Wählern
dann vermitteln und sich dafür entsprechend verantworten.
In Bezug auf den Bedarfsplan möchten wir wissen,
wie es zu den vorgesehenen Strecken kam. Aufgrund der
dena-I-Studie und der TEN-Projekte gemäß den Leitlinien der EU stellt sich nun die Frage, nach welchen Kriterien die Projekte in den Bedarfsplan aufgenommen
werden. Wir brauchen für zukünftige Bedarfspläne
transparente Kriterien. Ich bitte die Bundesregierung um
Klärung.
Weiteren Bedarf sehe ich bei den energieintensiven
Industrien. Ein Großteil des Ausbaus ist aufgrund des
starken Zubaus erneuerbarer Energien notwendig. Die
energieintensiven Industrien, beispielsweise die Aluminiumindustrie und die Stahlindustrie, leisten aufgrund
der kontinuierlichen Stromnachfrage in Höhe von 5 bzw.
10 Prozent, auch im Bereich der Grundlast, bereits heute
einen wesentlichen Beitrag zur System- und Netzintegration. Wir müssen darüber nachdenken, ob es nicht,
ähnlich wie bei der EEG-Härtefallregelung, auch im
Hinblick auf diese Industrien möglich ist, dann, wenn sie
einen Beitrag zur Netzstabilität leisten - Stichwort: Minutenreserve -, mit entsprechenden Härtefallklauseln noch
etwas zu erreichen.
Wir sollten genau überprüfen, welche Kabel und welche Techniken wir aufnehmen. Bisher werden Erdkabel
und normale Freileitungen einbezogen. Die HGÜ und
die Technologie der Hochleistungsleiterseile, die unter
Kosten- und Technologiegesichtspunkten sehr vielversprechend sind, werden im Moment noch nicht im notwendigen Umfang berücksichtigt. Darüber sollten wir
diskutieren.
Weiteren Klärungsbedarf sehe ich in Bezug auf folgende Frage: Was ist mit Projekten, die nicht im Bedarfsplan stehen? Ich denke dabei an Kraftwerksneuanschlüsse. Müssen auch Kraftwerksanschlüsse in den
Bedarfsplan, damit sie genehmigt werden können? Wenn
wir die Liquidität und das Angebot bei der Stromerzeugung verbessern wollen, sind dies zentrale Fragen für die
weitere Entwicklung des Wettbewerbs.
Insgesamt stelle ich fest: Es ist eine gelungene Vorlage, mit der wirklich Hand anlegt wird, die Infrastrukturbeschleunigung nach vorne gebracht wird
Herr Kollege Pfeiffer, achten Sie bitte auf das Zeichen
vor Ihnen.
- und die den Grundstein für eine Beschleunigung des
Netzausbaus legt. Es bedarf noch einiger Debatten und
Ergänzungen, die wir in der Anhörung und in der Diskussion im Ausschuss ansprechen werden. Darauf freue
ich mich.
Vielen Dank.
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Hans-Josef Fell das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Ausbau des Höchstspannungsnetzes ist in der
Tat notwendig und muss schnell erfolgen. Die Wachstumsgeschwindigkeiten der erneuerbaren Energien sind
sehr hoch. Der Bundesverband Erneuerbare Energie hat
in diesen Tagen verkündet, er erwarte bis 2020 über
40 Prozent Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien.
Dies deckt sich übrigens sehr gut mit den Berechnungen
aus dem grünen Energiekonzept 2.0. Damit wird auch
klar: Laufzeitverlängerungen von Atomkraftwerken und
der Neubau von Kohlekraftwerken sind überflüssig.
({0})
Sie würden sogar den Ausbau der erneuerbaren Energien
bremsen. Wir sind uns sicher: Die Lichter werden ohne
neue Kohlekraftwerke weiter leuchten, auch wenn Kohleminister Gabriel unentwegt das Gegenteil behauptet.
({1})
Allerdings muss die Netzinfrastruktur auf einen
Strommix mit erneuerbaren Energien schnell vorbereitet
werden. Natürlich wird der dezentrale Charakter der erneuerbaren Energien die Ausbaunotwendigkeit des
Höchstspannungsnetzes verringern. Mit einem Monitoring der Leitungstemperatur und einer Messung der Wetterdaten kann die Kapazität bestehender Freileitungen
sogar um 100 Prozent gesteigert werden.
Doch trotz dieser Maßnahmen, die die Netzausbaukosten drastisch reduzieren können, wird es noch die
Notwendigkeit für den Neubau von Höchstspannungsleitungen geben. Windstrom aus der Nord- und Ostsee
muss über das Land verteilt werden, auch Solarstrom aus
Nordafrika braucht neue Leitungen. Ein Gesetz zur Beschleunigung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze ist
in der Tat erforderlich, wenn der schnelle Ausbau der erneuerbaren Energien nicht gebremst werden soll.
Leider setzt die Bundesregierung in ihrem Gesetzesvorschlag aber die falschen Akzente. So sollen Bürgerbeteiligungen und Klagemöglichkeiten für betroffene
Bürger entlang der Neubautrasse eingeschränkt werden,
statt in der Bevölkerung die Akzeptanz für Erdverkabelung zu erhöhen. Erdverkabelung soll nur möglich sein,
wenn die Kabeltrassen sehr nah an Wohngebieten und an
Siedlungen vorbeigehen. Lediglich in vier Modellregionen können Erdverkabelungen auch in anderen sensiblen
ökologischen Bereichen realisiert werden.
Damit fällt die Bundesregierung klar hinter die Regelung im Lande Niedersachsen zurück, wo Ministerpräsident Wulff und Umweltminister Gabriel sich vor der
letzten Wahl auf Erdkabel in allen sensiblen Bereich verständigt hatten. Als Bundesminister will Herr Gabriel
davon nichts mehr wissen. Er musste wohl erneut Wirtschaftsminister Glos nachgeben. Ausblockiert wurde sogar der Wunsch der CDU-SPD-Landesregierung Brandenburg, in der Uckermark eine fünfte Modellregion für
Erdkabel zu schaffen. Die Bundesregierung fällt ihren
eigenen Parteifreunden voll in den Rücken.
Dabei haben Erdverkabelungen gegenüber Freileitungen bestechende Umweltvorteile. Diese sind weniger Flächenverbrauch, kaum Beeinträchtigung des Landschaftsbildes und der Habitate, der von Bäumen freizuhaltende
Streifen ist deutlich schmaler als bei Freileitungen, es gibt
weniger Elektrosmog, es gibt im Normalbetrieb keine signifikante Erwärmung der Erd-oberfläche und Vogelschlag wird völlig vermieden. Die Kampagne der Energiekonzerne zu den angeblichen ökologischen Nachteilen
von Erdkabeln ist genauso unverständlich wie durchsichtig.
Auch technologische und wirtschaftliche Vorteile
sprechen für Erdkabel. Im 110-kV-Bereich sind sie seit
25 Jahren bestens erprobt. Weltweit steigt die Nachfrage
im 380-kV-Bereich, was deren Kosten schnell senken
wird. Neue Technologien wie HGÜ-Leitungen oder gar
Supraleitungen stehen vor dem Durchbruch.
({2})
Erdkabel sind weniger störanfällig und haben daher geringere Betriebskosten. Der tagelange flächendeckende
Stromausfall wegen Schneebruchs im Münsterland ist
uns doch noch in guter Erinnerung. Er wäre mit Erdkabel nie passiert.
({3})
Die Mehrkosten für die Investitionen im Höchstspannungsbereich können häufig durch geringere Betriebskosten und einen beschleunigten Bauprozess sowie
durch höhere Sicherheit wettgemacht werden, vor allem
wenn eine volle Kostenrechnung über Verlegekosten,
Kabelkosten, Betriebskosten, Übertragungsverluste und
Nutzungsdauer gemacht wird.
Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,
wir fordern Sie auf, den Gesetzentwurf der Bundesregierung im Laufe des parlamentarischen Verfahrens entsprechend unserer grünen Vorschläge, die wir heute vorlegen, zu verbessern.
({4})
Sie sollten nicht nur einseitig auf die Interessen der großen Stromerzeuger hören. Hören Sie zum Beispiel auch
einmal auf den Verband der europäischen Kabelhersteller. Sie machen ganz andere Aussagen und bestätigen
unsere Thesen von geringeren Kosten, die Frau Kopp
und Herr Pfeiffer als Schreckgespenst hinstellen.
Wenn man eine Vollkostenrechnung macht, kommt
man zu dem Ergebnis, dass Erdkabel keine höheren Kosten verursachen. Machen Sie sich endlich frei von den
Interessen der Energiekonzerne
({5})
und entscheiden Sie sich für mehr Umweltschutz,
({6})
für mehr Akzeptanz in der Bevölkerung und für mehr
Versorgungssicherheit. Dann wird aus dem Gesetz zur
Beschleunigung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze
ein gutes Gesetz.
({7})
Die Rede von Marko Mühlstein, SPD-Fraktion, wird
zu Protokoll gegeben.1) Ich schließe deshalb die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/10491 und 16/10590 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
1) Anlage 8
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Herbert Schui, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Bundesverantwortung für den Steuervollzug
wahrnehmen
- Drucksache 16/9479 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
folgende Kolleginnen und Kollegen: Antje Tillmann,
CDU/CSU, Lydia Westrich, SPD, Dr. Volker Wissing,
FDP, Dr. Herbert Schui, Die Linke, und Christine
Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9479 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Überführung der
Anteilsrechte an der Volkswagenwerk Gesellschaft mit beschränkter Haftung in private
Hand
- Drucksache 16/10389 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-
ministerin der Justiz, Brigitte Zypries.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Vor zwölf Monaten hat der Europäische Gerichts-
hof entschieden, dass einzelne Vorschriften des VW-Ge-
setzes gegen europäisches Recht verstoßen. Dieses
Urteil war eine Entscheidung in letzter Instanz. Wir ak-
zeptieren dieses Urteil. Wir müssen es umsetzen, und
wir tun das mit diesem Gesetzentwurf.
Was wir allerdings nicht tun müssen, ist ebenso klar:
Es gibt weder rechtlich noch politisch einen Anlass, das
gesamte VW-Gesetz infrage zu stellen.
1) Anlage 9
({0})
Für den Erhalt des VW-Gesetzes gibt es sowohl wirtschaftspolitisch als auch historisch gute Gründe, und
- das ist letztlich entscheidend - es gibt keine europarechtliche Verpflichtung, dieses Gesetz preiszugeben.
Liberale Ordnungspolitiker glauben, der Staat solle
sich aus dem Wirtschaftsleben völlig heraushalten, der
Markt werde es schon richten. Dass das nicht stimmt,
müssen wir gerade leidvoll erfahren.
({1})
Eine Marktwirtschaft kann nur dann sozial und erfolgreich sein, wenn sie klare Regeln hat, Regeln wie zum
Beispiel das VW-Gesetz. Volkswagen ist mit diesem Gesetz bestens gefahren. Das Unternehmen steht heute
wirtschaftlich blendend da. Wer unter diesen Umständen
immer noch das Hohelied der Deregulierung singt, hat
nichts begriffen.
({2})
Der zweite gute Grund für das VW-Gesetz liegt in
seiner Geschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren
die Eigentumsverhältnisse bei VW völlig unklar. Erst
1960 sind sie in einem historischen Kompromiss geordnet und im VW-Gesetz verankert worden. Im Hinblick
auf die Machtbalance zwischen den Eigentümern wurde
geregelt, dass keiner allein eine beherrschende Stellung
erringen konnte. Außerdem wurde festgelegt, dass die
Beschäftigten einen maßgeblichen Einfluss auf die Unternehmensentscheidungen bekommen.
Auch dafür gab es gute Gründe. Wichtige Teile des
VW-Werks sind nämlich mit Geld aufgebaut worden,
das die Nazis den Gewerkschaften geraubt hatten, indem
sie sie enteignet hatten. Außerdem hat gerade der
enorme Einsatz der Arbeitnehmer dazu geführt, dass der
Aufschwung von VW in den 50er-Jahren so großartig
verlief. Diese historische Verpflichtung wirkt fort. Ich
meine, der Bundestag sollte sie bewahren, und Brüssel
sollte sie respektieren.
Das dritte und letztlich entscheidende Argument für
diesen Gesetzentwurf ist allerdings rechtlicher Natur.
Die Bundesregierung ist davon überzeugt, dass wir mit
diesem Entwurf die europäischen Vorgaben zu 100 Prozent umsetzen. Der Tenor der Entscheidung hat einen
klaren Wortlaut. Ich zitiere ihn:
Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch, dass
sie § 4 Abs. 1 sowie § 2 Abs. 1 in Verbindung
- das sind die Worte, auf die es ankommt mit § 4 Abs. 3 des VW-Gesetzes beibehalten hat,
gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 56 Abs. 1 EGVertrag verstoßen.
Wenn aber zwei Vorschriften nur in Verbindung miteinander europarechtswidrig sind, dann kann man eine
wegnehmen und die Europarechtswidrigkeit entfällt.
Nichts anderes sieht der Gesetzentwurf vor.
({3})
Zwei der im Tenor genannten Vorschriften heben wir
auf, die dritte behalten wir bei. Der ganze Streit mit der
EU-Kommission geht also nur um eine einzelne Vorschrift, und zwar um die Bestimmung, wonach für wichtige Entscheidungen der Hauptversammlung eine Mehrheit von über 80 Prozent der anwesenden Stimmen nötig
ist. Das ist eine andere Regelung, als sie das Aktiengesetz normalerweise vorsieht. Da reichen nämlich
75 Prozent der Stimmen. Das hat natürlich wichtige
Konsequenzen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist
davon überzeugt, dass wir diese Entscheidung richtig interpretieren. Unsere Rechtsansicht ist von der EU-Kommission bislang auch nicht widerlegt worden. Die Tatsache, dass die EU-Kommission heute nicht - wie
angekündigt - beschlossen hat, dass sie nunmehr in die
zweite Stufe des Verfahrens eintritt, und Deutschland
nicht noch einmal eine Aufforderung schickt, innerhalb
von zwei Monaten seine Rechtsansichten darzulegen,
spricht dafür, dass auch in Brüssel klar geworden ist,
dass die EU-Kommission etwas genauer prüfen muss, ob
die Rechtsauffassung, die sie bisher vertreten hat, wirklich so eindeutig ist oder ob es nicht so ist, dass „in Verbindung mit“ - das sagen wir - bedeutet, dass zwar zwei
Vorschriften in Verbindung miteinander EU-rechtswidrig sind, nicht aber jede einzelne für sich.
Sollte die EU-Kommission dennoch entscheiden, das
Verfahren weiterzuführen, werden wir nach ihrer Aufforderung zwei Monate Zeit haben. Wir werden dann zum
wiederholten Male die Gelegenheit nutzen, unsere
Rechtspositionen deutlich zu machen. Um es auf den
Punkt zu bringen: Wir akzeptieren das Urteil des EuGH.
Wir setzen es zu 100 Prozent um, aber wir gehen nicht
darüber hinaus.
({4})
Ich gebe das Wort der Kollegin Dorothée Menzner,
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Dass wir die Novellierung des VW-Gesetzes zu einer Zeit diskutieren, die durch die aktuelle
Finanzkrise geprägt ist, ist ein Zufall. Es besteht aber
durchaus ein Zusammenhang zwischen VW-Gesetz und
Finanzkrise.
({0})
Diesen müssen wir uns bewusst machen. Schließlich
bieten Krisen die Chance, aus Fehlern zu lernen. Die
Finanzkrise ist verursacht durch Profitgier und Deregulierung, durch mangelnden Einfluss der arbeitenden
Menschen und durch das Fehlen demokratischer Kontrolle durch den Staat.
Das alte VW-Gesetz begründete für das Unternehmen
eine besondere sozialstaatlich geprägte Unternehmensverfassung. Die VW-Beschäftigten und der Staat erhielten durch das Gesetz größere Einflussmöglichkeiten, um
willkürliche Betriebsverlagerungen gegen den Willen
der Belegschaft und eine Übernahme durch Spekulanten
zu verhindern. Viereinhalb Jahrzehnte kam niemand auf
die Idee, dass diese Festlegungen einmal gegen das
Recht der Europäischen Gemeinschaft verstoßen könnten, bis die EU-Kommission 2005 vor dem Europäischen Gerichtshof geltend machte, das Gesetz schränke
die Kapitalverkehrsfreiheit unzulässig ein. Der EuGH
gab dem in einigen, nicht allen Punkten statt.
Wir von der Linken haben schon im März dieses Jahres einen Gesetzentwurf eingebracht, um das VW-Gesetz so zu verändern, dass es nicht im Widerspruch zu
dem Urteil des EuGH stehen würde. Wir hatten zum einen vorgeschlagen, die Stimmrechtsbeschränkung auf
maximal ein Viertel der Stimmen zu streichen, aber eine
qualifizierte Mehrheit von vier Fünfteln für bestimmte
Beschlüsse der Hauptversammlung bestehen zu lassen.
Dem ist die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf
gefolgt.
Zum anderen hatten wir vorgeschlagen, die Stimmrechtsdelegation durch öffentliche Anteilseigner im Hinblick auf das EuGH-Urteil zu modifizieren. Die Bundesregierung will im Gegensatz dazu diese Möglichkeit
ersatzlos streichen. Das ginge zulasten des demokratischen Einflusses der Allgemeinheit, und zwar, wie wir
meinen, ohne dass dies durch das EuGH-Urteil gefordert
würde. Darüber werden wir im Laufe der Beratungen
kontrovers diskutieren müssen.
Darüber hinaus müssen wir aber ganz grundsätzlich
der profitorientierten und deregulierten marktradikalen
Rechtsprechung des EuGH entgegentreten. Diese Rechtsprechung finden wir auch in aktuellen Urteilen zur Einschränkung des Streikrechts, zum Grundsatz der Tariftreue im niedersächsischen Landesvergabegesetz und
gegen wichtige soziale Elemente des luxemburgischen
Arbeitsrechts. Dadurch wird den Marktfreiheiten des
Kapitals, der Niederlassungsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit Vorrang
vor den Grundrechten und dem Sozialstaatsprinzip gegeben. Diese EuGH-Rechtsprechung hat nichts mit den ursprünglichen Intentionen der Verträge und auch nichts
mit einem sozialen Europa zu tun.
({1})
Wir brauchen nicht ein VW-Gesetz, sondern wir brauchen insgesamt Unternehmensverfassungen, durch die
Mitbestimmungsrechte gesichert werden und die Unterordnung von Unternehmen unter bloßes Spekulantentum
verhindert wird. Um das auch europarechtlich gegenüber
dem EuGH abzusichern, benötigen wir Klarstellungen
im Primärrecht der EU. Deshalb haben wir gemeinsam
mit dem DGB die Aufnahme eines sozialen Fortschrittsprotokolls in die Verträge gefordert. Kurzfristig geht es
aber darum, das VW-Gesetz möglichst weitgehend zu
erhalten. Über den besten Weg dazu werden wir in den
Beratungen zu streiten haben.
Ich danke.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Michael GrosseBrömer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns schon im April dieses Jahres mit dem VW-Gesetz beschäftigt. Damals ging
es um den etwas populistischen und wenig sachgerechten Schnellschuss der Linksfraktion. Am Ende meiner
damaligen Rede habe ich gesagt, dass ich froher Hoffnung bin, dass irgendwann ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vorliegt. So weit sind wir heute. Nach sorgfältiger Prüfung haben wir einen ordentlichen Entwurf
zur ersten Lesung vor uns liegen.
Bevor ich auf die rechtlichen Details eingehe, erlauben Sie mir den Hinweis auf zwei Punkte, die meiner
Ansicht nach besonders bemerkenswert sind.
Zum einen werden durch den Entwurf einmal mehr
die große Dynamik des Europarechts und dessen Einfluss auf unsere Rechtsprechung und unsere parlamentarischen Beratungen verdeutlicht. Es war ja schon erstaunlich, dass der Binnenmarktkommissar Charlie
McCreevy bereits inmitten unserer damaligen Gesetzgebungsarbeit ein erneutes Vertragsverletzungsverfahren
angekündigt hatte. Wir alle haben uns darüber ein bisschen gewundert. Am gestrigen Mittwoch aber - die Frau
Ministerin hat darauf hingewiesen - wurde der Punkt
VW von der Tagesordnung der Kommissionssitzung genommen. Dabei sollte eigentlich der Fortgang des Vertragsverletzungsverfahrens beschlossen werden. Für
mich ist das jedenfalls ein großes Hoffnungszeichen dafür, dass umgedacht wird und dass vielleicht auch die
Argumente des niedersächsischen Ministerpräsidenten,
der Mehrheit dieses Parlaments und des Bundesjustizministeriums auf fruchtbaren Boden gefallen sind.
({0})
Für die Kommission ist jetzt vielleicht auch ein
schlechter Zeitpunkt, über ein Gesetz nachzudenken und
zu beanstanden, dass es in irgendeiner Form zu große
staatliche Interventionen gibt; denn gerade wurde auf
EU-Ebene eine staatliche Intervention im Bankenwesen
für durchaus sinnvoll erachtet; das wurde von der Ministerin schon kurz angesprochen. Es wäre ja fast paradox,
wollte man gleichzeitig eine ganz dezente Beteiligung
eines Bundeslandes an einem Traditionsunternehmen für
europarechtswidrig halten.
Zum anderen finde ich, dass eine besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit auch allen im Zusammenhang mit VW stehenden Fragen gebührt, und das nicht
nur wegen des Aktienkurses, der uns ja auch fast täglich
überrascht. Wie bei kaum einer anderen Institution wird
die geringste Neuigkeit nicht nur von der VW-Belegschaft, sondern auch von großen Teilen unserer Bevölkerung mit Interesse aufgenommen. Deswegen muss, finde
ich, allen klar sein, dass es sich bei Volkswagen nicht um
irgendein beliebiges Großunternehmen handelt, dessen
Wert man allein an der Aktienperformance bemisst. Die
meisten Anwesenden werden so wie ich zunächst die
Käferflut der 60er- und 70er-Jahre miterlebt haben. Anschließend folgten der Polo, der Golf und der Passat,
also weitere Volkswagen im eigentlichen Sinne des Wortes. Viele von Ihnen haben sicherlich eines der Modelle
zu irgendeinem Zeitpunkt gefahren.
({1})
- Ich sehe schon an den persönlichen Stellungnahmen,
dass Sie an diese Fahrzeuge mehr oder weniger gute Erinnerungen haben - welche genau, will ich gar nicht hinterfragen.
({2})
Wichtiger als der millionenfache Verkauf der Autos
ist, glaube ich, dass VW zu einem Symbol für Stabilität,
Kontinuität und vielleicht sogar für ein Stück deutsche
Identität geworden ist. Unsere Kanzlerin hat in ihrer
Rede auf der Betriebsversammlung von VW über VW
von einem „tollen Stück Deutschland“ gesprochen, „das
Milliarden von Menschen mit Deutschland verbinden“.
Insofern ist VW sogar ein Botschafter für unser Land.
Deshalb ist das Schicksal von VW für viele - nicht nur
für die Beschäftigten, sondern für sehr viele Deutsche
und insbesondere die Niedersachsen - eine Herzensangelegenheit.
({3})
Zwar klatscht jetzt nur die unendlich beeindruckende
Anzahl der niedersächsischen CDU-Abgeordneten, aber
eigentlich hätte ich das auch von anderen erwartet. Es
gibt auch bei der SPD gute Ansätze, Herr Duin.
({4})
- Ich habe Ihren Plenardienst nicht eingeteilt, da hätten
Sie Einfluss nehmen müssen.
Dieser Hintergrund erklärt vielleicht, dass das Urteil
des sonst eher selten wahrgenommenen Europäischen
Gerichtshofs vom 23. Oktober 2007 große Aufmerksamkeit erlangte. Ich habe schon im April ausführlich dazu
Stellung genommen - wie die Frau Ministerin eben auch und nenne deshalb nur kurz die Eckdaten. Der Gerichtshof hat erklärt, dass die Stimmrechtsbeschränkung aus
§ 2 Abs. 1 in Verbindung - und zwar nur in Verbindung
- mit den besonderen Mehrheitserfordernissen des
§ 4 Abs. 3 VW-Gesetz mit der Kapitalverkehrsfreiheit,
wohl geregelt in Art. 56 EG-Vertrag, unvereinbar ist.
Ferner wurden die Entsenderechte in den Aufsichtsrat
beanstandet.
Ich bin weit davon entfernt, Gerichtsschelte zu betreiben. Das brauchen wir auch nicht. Wir sollten die Rechtsprechung des EuGH sehr ernst nehmen. Das ist ein Hinweis an die Linke. Es bringt nichts, später die Urteile
umzudeuten. Darum geht es auch nicht. Vielmehr hat die
Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
genau das getan, was angezeigt war.
({5})
- Herr Dehm, bleiben Sie locker! Sie haben doch sonst
ein bisschen Rhythmus im Blut. Darauf müssen wir jetzt
nicht eingehen.
Ich begrüße es, dass es der Bundesregierung gelungen
ist, die europarechtlichen Verpflichtungen mit den berechtigten und schützenswerten Interessen von VW zu
vereinbaren. Das war keine einfache Aufgabe, aber sie
ist geglückt. Mit dem VW-Gesetz in der nun angepassten
Form bleibt es dabei: Für wichtige Unternehmensentscheidungen ist eine Mehrheit von 80 Prozent plus einer
Aktie notwendig. Die sich daraus ergebene Sperrminorität von 20 Prozent wird also auch künftig das Mitspracherecht des Landes Niedersachsen sicherstellen und somit wie bislang Garant für die Stabilität bei VW sein.
Weiterhin muss der Aufsichtsrat auch künftig mit Zweidrittelmehrheit entscheiden. Aufgrund der paritätischen
Besetzung heißt dies, dass gegen den Willen der Arbeitnehmervertreter keine Entscheidungen über Einrichtung
oder Verlegung von Produktionsstätten getroffen werden
können.
Die globale Finanzkrise, die uns in den letzten Tagen
und Wochen so intensiv beschäftigt hat, hat verdeutlicht,
dass Wettbewerb und marktwirtschaftliche Freiheit ohne
Stabilität und Sicherheit für die Menschen nicht viel
Wert haben.
({6})
Vor diesem Hintergrund ist die Stabilität von VW erst
recht ein erstrebenswertes Gut, das aufrechterhalten werden muss. Die über 350 000 Menschen zählende VWBelegschaft weltweit, deren Familien und auch die in der
Zulieferindustrie Beschäftigten werden das ebenso sehen.
Das VW-Gesetz hat sich in den fast 50 Jahren seiner
Existenz übrigens niemals gegen Großaktionäre gerichtet. Das ist eine völlig falsche Interpretation. Man wollte
1960 lediglich sicherstellen, dass es keinen alles dominierenden Großaktionär gibt. Eine Vielfalt von Aktionären sollte sich beteiligen. Man sprach von einer Volksaktie. Deswegen wäre es schlicht zu kurz gegriffen, zu
behaupten - das richte ich an die Adresse der SPD-Kollegin aus Stuttgart -, man wolle mithilfe des VW-Gesetzes ein Engagement von Porsche grundsätzlich bekämpfen. Im Gegenteil: Porsche ist ein toller Partner für VW;
darin bin ich mir ganz sicher.
Nach all dem geht es beim VW-Gesetz nicht darum,
von heute auf morgen und ohne Zusammenhang ein Unternehmen zu privilegieren. Vielmehr geht es darum, die
berechtigterweise für VW jahrzehntelang erfolgreich bestehende Regelung europarechtskonform auszugestalten.
Ich hätte mir gewünscht, dass der Industriekommissar
Verheugen auf europäischer Ebene frühzeitig tätig geworden wäre.
({7})
Nun ist das nicht der Fall. Aber die Bundesregierung hat
dieses Manko aufgegriffen und zuverlässig gearbeitet.
Ich bin sicher: Selbst wenn sich noch etwas veränderte
und Herr McCreevy bei seiner Auffassung bleiben
sollte, wäre Deutschland in einem erneuten Verfahren
vor dem EuGH nicht chancenlos. Vielleicht kommen wir
aber auch darum herum. Eine begründete Einlassung der
Kommission liegt bekanntlich noch nicht vor. Vielleicht
will man sich sinnvollerweise nicht verkämpfen. Vor
dem Hintergrund der Finanzkrise und der wahrscheinlichen Renaissance von staatlichen Beteiligungen und
Kontrollen sollten EU und Mitgliedstaaten gemeinsam
darüber nachdenken, wie sich künftige Gefahrenlagen
für den Binnenmarkt nachhaltig abwenden lassen. Was
hilft uns die bis in die letzte Konsequenz durchgesetzte
Kapitalverkehrsfreiheit, wenn letztendlich das innere
Gerüst der EU, der Binnenmarkt, wegen anderer Schwächen ruiniert ist?
Die Ereignisse der letzten Tage und Wochen sollten
uns an Ludwig Erhard erinnern: Der ungebändigte Markt
ist keine soziale Marktwirtschaft. Im Gegenteil: Soziale
Marktwirtschaft hat immer Spielregeln vorausgesetzt.
Der Markt muss gestaltet werden, damit er ein Mindestmaß an Transparenz und Berechenbarkeit behält. Das
VW-Gesetz ist ein Element einer solchen Gestaltung des
Marktes, so ein Zitat unserer Kanzlerin in Wolfsburg.
Frau Zypries, insoweit halte ich den vorliegenden Gesetzentwurf für die optimale Lösung eines schwierigen
Problems, nämlich eines Ausgleichs zwischen europarechtlicher Harmonie und einer beeindruckenden deutschen Erfolgsgeschichte.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Der Kollege Paul Friedhoff, FDP-Fraktion, hat seine
Rede zu Protokoll gegeben.1)
Ich gebe nun Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist unglaublich wichtig, jedes Mal, wenn wir über das
VW-Gesetz diskutieren, an die besondere Geschichte
von VW zu erinnern, wie es die Ministerin eben getan
hat; denn ohne Kenntnis dieser Geschichte ist die aktu-
elle Debatte nicht zu verstehen. Die Nazis bauten VW
mit beschlagnahmtem Gewerkschaftsvermögen auf.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte niemand die Reste
dieses Werkes haben, weder Ford noch GM noch briti-
sche Industrielle. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
1) Anlage 10
nehmer haben dann das Werk wiederaufgebaut. Diese
Geschichte wird durch das VW-Gesetz gewürdigt. Das
begründet, warum so viele trotz der Einwendungen der
EU-Kommission - diese muss man respektieren - versuchen, einen Kompromiss zu finden, der VW und seiner
Geschichte gerecht wird. Ich denke, was die Ministerin
vorgeschlagen hat, ist ein solcher Kompromiss.
({0})
Es ist allerdings schade und schädlich, dass die Bundesregierung insgesamt nicht immer mit einer Stimme
gesprochen hat. Der Wirtschaftsminister, der für diesen
Themenbereich in erster Linie verantwortlich ist, hat
seine Zweifel in einer Protokollnotiz formuliert und dokumentiert. Es gibt zudem Querschüsse von Ihrem Kollegen Ministerpräsidenten Oettinger.
({1})
Manchmal hat man den Eindruck, dass er schon seine
Nach-Ministerpräsidenten-Karriere als Lobbyist für Porsche vorbereitet. Ich weiß nicht, was da los ist. Diese
Doppelzüngigkeit - ich will eher von Vielstimmigkeit
reden - ist schädlich in dieser Debatte
({2})
und hilft uns nicht, diesen Konflikt in Brüssel durchzustehen.
({3})
Ich gönne Frau Bundeskanzlerin Merkel wirklich diesen Auftritt als Jeanne d’Arc in Wolfsburg, aber - das
gehört eben auch dazu - dann muss sie auch dafür sorgen, dass die Bundesregierung insgesamt, und auch die
CDU-Ministerpräsidenten mit einer Stimme sprechen.
Wir haben bei VW eine besonders schwierige Situation.
Es gibt Unruhe, es gibt Machtkämpfe zwischen dem Management von VW und Porsche, es gibt ein Hin und Her
auch auf Betriebsratsebene, und es gibt Unruhe im Porsche-Clan selber.
({4})
Wenn wir angesichts einer sich abzeichnenden Automobilkrise wollen,
({5})
dass sich VW gut aufstellt und die Arbeitsplätze weiterhin gesichert werden, dann ist es wichtig, dass Ruhe in
dieses Durcheinander kommt. Auch ist es wichtig, dass
auf die Frage, wie es mit dem VW-Gesetz weitergeht,
sehr schnell klare Antworten gegeben werden und eine
Lösung gefunden wird.
({6})
VW hat eine schwierige Zukunft, auch vor dem Hintergrund der Entwicklung der Automobilbranche. Ich
denke, dass diese Entwicklung viel weniger, wie jetzt
häufig gesagt wird, mit der Finanzkrise zu tun hat, sondern eher mit einer rückwärtsgewandten und verfehlten
Produktpolitik der gesamten Branche. Wir tun gut daran,
darüber zu diskutieren; wir sollten aber nicht, wie es die
Kanzlerin angedeutet hat, in einen milliardenschweren
Subventionswettlauf eintreten, der Ausmaße wie in den
USA annimmt. VW braucht Ruhe. Die Automobilbranche in Deutschland braucht die Chance, neue Produktlinien zu entwickeln, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Frau Kollegin Dückert.
Vor dem Hintergrund ist es wichtig, dass wir schnell
zum Schluss kommen, Frau Präsidentin, ({0})
Das ist richtig.
- auch mit dem VW-Gesetz. Wir müssen es schaffen,
dass die Europäische Kommission unsere Vorschläge akzeptiert. Ich wünsche hier weiterhin fröhliche Beratungen.
Danke schön.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Garrelt Duin, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich freue mich, dass wir diese Debatte, wenn
auch leider zu später Stunde, heute doch noch führen
und nicht alle Reden zu Protokoll geben, insbesondere
deswegen, weil wir uns hier der Anwesenheit eines Aufsichtsratsmitglieds von VW erfreuen, das in erfreulicher
Weise, was das VW-Gesetz angeht, Seite an Seite mit
der Justizministerin gekämpft hat und hoffentlich auch
weiter kämpft.
({0})
Ich möchte der Justizministerin hier ausdrücklich für
ihre Standfestigkeit danken, die sie in den letzten Monaten - inzwischen sind es Jahre - in dieser Frage bewiesen hat, und zwar Standfestigkeit nicht nur gegenüber
den europäischen Widerständen, die wir zu beklagen
hatten und nach wie vor zu beklagen haben, sondern
auch gegenüber den Widerständen innerhalb der Bundesrepublik und zum Teil sogar - ich fand das sehr bedauerlich - innerhalb der Bundesregierung. Es ist aber
durch gute Unterstützung aus den Koalitionsfraktionen
gelungen,
({1})
das, was die Justizministerin ohnehin vorhatte, in dem
Gesetzentwurf zu verankern. Wir sollten uns bei ihr bedanken, dass sie zwischendurch nicht gewackelt hat,
sondern dass wir das so durchsetzen konnten.
({2})
Ich möchte auch darauf hinweisen - Herr GrosseBrömer, bei Ihnen klang das eben etwas anders -, dass
wir uns in dieser Frage auf den Industriekommissar in
der EU-Kommission, Herrn Günter Verheugen, in den
vergangenen Jahren immer haben verlassen können. Er
ist immer ein verlässlicher Partner gewesen.
({3})
Die beiden werden das sicherlich bestätigen können.
Wir wissen, VW ist einer der größten Automobilhersteller der Welt. Auf diese Erfolge ist in den Vorreden
zum Teil schon hingewiesen worden. Ich will aber deutlich machen, dass das insbesondere ein Erfolg der dort
beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist
({4})
und ihrer dort erkämpften Mitbestimmungs- und Mitspracherechte. Ohne diese Mitbestimmungsrechte, die
bei VW nach wie vor in einer besonderen Form gewährleistet sind, wäre dieser Erfolg des Unternehmens nicht
möglich gewesen.
({5})
Wer an diese Mitbestimmungsrechte über das Vehikel
Kapitalmarktfreiheit und Ähnliches Hand anlegt, der
muss in dieser Bundesregierung und in diesem Parlament einen entschiedenen Gegner finden.
({6})
Im Laufe der Jahre haben sich in Abstimmung mit
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sehr zukunftsfähige und auch von anderen Marktteilnehmern
sehr aufmerksam beobachtete Arbeits- und Tarifmodelle
entwickelt, ohne die eine beständige Zukunftssicherung
nicht möglich gewesen wäre. Gerade in Zeiten wie diesen, in denen wir damit rechnen müssen, dass auch dieses Unternehmen von der Situation, die wir auf dem Binnenmarkt, aber auch weltweit erleben, in Mitleidenschaft
gezogen wird, ist es wichtig, auch zukünftig mit der Flexibilität, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort an
den Tag legen, reagieren zu können. Ich hoffe, dass wir
mit diesem VW-Gesetz - so wie Frau Dückert es gerade
gesagt hat - Ruhe bekommen. Ich bin davon überzeugt,
dass das, was wir jetzt vorlegen, EU-rechtskonform ist
und dass wir, sollte es noch einmal zu einer Auseinandersetzung kommen, diese gewinnen werden.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, ich setze sehr
darauf, dass Sie und die anderen Anteilseigner an Volkswagen in den nächsten Monaten so viel Vernunft zeigen
- das sage ich auch meiner Parlamentarischen Geschäftsführerin aus Stuttgart -, dass dieser Konzern eine
gute Zukunft hat und dass wir nicht weiter erleben müssen, dass es - wenn wir die Baustelle VW-Gesetz ordentlich abgeräumt haben - an anderer Stelle zu Konflikten kommt, die den Beschäftigten bei Volkswagen
schaden könnten. Wir müssen das so organisieren - gerade in den dafür zuständigen Gremien -, dass es für
alle, die dort jetzt beschäftigt sind - hoffentlich werden
es in der Zukunft noch mehr sein -, eine gute Zukunft
gibt.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/10389 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Eingliederungshilfe für Menschen mit
Behinderungen weiterentwickeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gesetz zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile vorlegen ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg Rohde,
Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wettbewerb in der Eingliederungshilfe stär-
ken - Wahlfreiheit und Selbstbestimmung
der Menschen mit Behinderung erhöhen
- Drucksachen 16/7748, 16/3698, 16/9451,
16/10601 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hubert Hüppe
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hubert
Hüppe, CDU/CSU, Silvia Schmidt, SPD, Heinz-Peter
Haustein, FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke, Markus
Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/10601.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7748
mit dem Titel „Die Eingliederungshilfe für Menschen
mit Behinderungen weiterentwickeln“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Fraktion FDP
und bei Ablehnung der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3698 mit dem Titel „Gesetz zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile vorlegen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen und bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke angenommen. Schließlich empfiehlt
der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung
die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/9451 mit dem Titel „Wettbewerb in der
Eingliederungshilfe stärken - Wahlfreiheit und Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung erhöhen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP mit
den restlichen Stimmen des Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Personalausweise und den elektronischen Identitätsnachweis sowie zur Änderung weiterer
Vorschriften
- Drucksache 16/10489 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Clemens Binninger, CDU/CSU, Frank Hofmann, SPD,
Gisela Piltz, FDP, Jan Korte, Die Linke, Wolfgang
Wieland, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/10489 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
1) Anlage 11
1) Anlage 12
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael
Goldmann, Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Biotechnologische Innovationen im Interesse
von Verbrauchern und Landwirten weltweit
nutzen - Biotechnologie ein Instrument zur
Bekämpfung von Armut und Hunger in den
Entwicklungsländern
- Drucksache 16/6714 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({3})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Johannes Röring, CDU/CSU, Elvira Drobinski-Weiß
und Dr. Sascha Raabe, SPD, Dr. Christel Happach-
Kasan, FDP, Hüseyin-Kenan Aydin, Fraktion Die Linke,
Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6714 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über genetische Untersuchungen bei Menschen ({4})
- Drucksachen 16/10532, 16/10582 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hubert
Hüppe, CDU/CSU, Dr. Carola Reimann, SPD, Heinz
Lanfermann, FDP, Monika Knoche, Die Linke, Birgitt
Bender, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentari-
schen Staatssekretärs Rolf Schwanitz.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 16/10532 und 16/10582 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
2) Anlage 13
3) Anlage 14
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wohnungslosigkeit vermeiden - Wohnungslose unterstützen - SGB II überarbeiten
- Drucksache 16/9487 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Karl
Schiewerling, CDU/CSU, Gabriele Lösekrug-Möller,
SPD,1) Heinz-Peter Haustein, FDP, Katja Kipping, Die
Linke, Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
In den letzten Jahren konnte Wohnungslosigkeit reduziert werden. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe ({0}) lag die Zahl der
wohnungslosen Personen im Jahr 2006 bei 254 000 und
damit bei weniger als der Hälfte gegenüber 1998, als
etwa 530 000 Menschen wohnungslos waren. Laut Drit-
tem Armuts- und Reichtumsbericht profitieren von dem
Rückgang insbesondere Familien. Gegenüber Schätzun-
gen von 2003 hat sich die Zahl der wohnungslosen Kinder
und Jugendlichen halbiert.
Das sind erfreuliche Entwicklungen. Dennoch halten
wir die Vermeidung und den Abbau von Obdach- bzw.
Wohnungslosigkeit für sehr wichtig. Wir nehmen unsere
Verantwortung gegenüber dem betroffenen Personen-
kreis im Rahmen unserer gesetzgeberischen Zuständig-
keiten wahr - auch im SGB II, der Grundsicherung für
Arbeitsuchende. Denn der weit überwiegende Teil der ob-
dach- und wohnungslosen Menschen ist wegen ihrer Er-
werbsfähigkeit dem SGB-II-Bereich zuzurechnen. Viel-
fältige Rechte und Schutzvorschriften stehen den
Betroffenen zur Seite.
Erstens. Zu den Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende nach dem SGB II gehören auch die tat-
sächlich anfallenden, angemessenen Kosten für Unter-
kunft und Heizung sowie Erstausstattungen für die Woh-
nung einschließlich Haushaltsgeräte. Damit ist im
Rahmen des SGB II sichergestellt, dass es einem erwerbs-
fähigen Hilfebedürftigen nicht an den erforderlichen Mit-
teln fehlen muss, damit er mit den zu seiner Bedarfsge-
meinschaft gehörenden Personen in einer angemessenen
und mit den notwendigen Einrichtungsgegenständen aus-
gestatteten Wohnung leben kann.
1) Die Rede lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird deshalb im
Plenarprotokoll der 184. Sitzung veröffentlicht.
Zweitens. Wohnbeschaffungs- und Umzugskosten sowie eine Mietkaution können bei entsprechender Zusicherung des Grundsicherungsträgers übernommen werden,
wobei eine Mietkaution in der Regel in Form eines Darlehens erbracht wird.
Drittens. Die Leistungen zur Sicherung der Unterkunft
erhält der Empfänger grundsätzlich in Form von Geldleistungen. Um das Mietverhältnis durch ausbleibende
Mietzahlungen nicht zu gefährden, soll jedoch der zuständige Träger die Kosten für Unterkunft und Heizung ausnahmsweise direkt an den Vermieter oder andere Empfangsberechtigte zahlen, wenn die zweckentsprechende
Verwendung der Leistungen für Unterkunft und Heizung
durch den Hilfebedürftigen nicht gewährleistet werden
kann.
Sofern Kosten der Unterkunft und Heizung nicht unmittelbar an den Vermieter gezahlt werden, können bei
nicht zweckgerechter Verwendung der Leistungen Schulden auflaufen, die das Mietverhältnis bzw. die Versorgung
mit Wärme und Wasser bedrohen. Um in diesen Fällen
Obdachlosigkeit oder eine vergleichbare Notlage abzuwenden, ist sogar die Möglichkeit einer Schuldenübernahme vorgesehen.
Auch das Wohngeld leistet einen wichtigen Beitrag zur
sozialen Absicherung des angemessenen und familiengerechten Wohnens. Zum 1. Januar 2009 tritt die Wohngeldnovelle in Kraft. Die Wohngeld-Tabellenwerte werden um
8 Prozent und die Miethöchstbeträge um 10 Prozent erhöht. Dafür werden insgesamt 520 Millionen Euro aufgewandt. Zukünftig werden erstmals die Heizkosten in pauschalierter Form einbezogen. Mit dem Wohngeld wird in
Verbindung mit dem reformierten Kinderzuschlag eine
spürbare Entlastung für etwa 70 000 einkommensschwache Haushalte außerhalb des Sozialgesetzbuches erreicht.
Wohnungslosigkeit ist nicht immer eine Frage des Angebots von Wohnungen sondern manchmal auch Ergebnis von persönlichen Entscheidungen von Wohnungslosen. Sie haben sich, aus welchen Gründen auch immer, zu
diesem Leben entschieden. Hier gibt es viele Lebensschicksale. Aber auch diesen Menschen zu helfen, dass
sie Anlaufpunkte haben und Versorgung bekommen, ist
eine öffentliche Aufgabe insbesondere der Städte, Gemeinden und Länder.
Die rückläufigen Zahlen belegen, dass die verstärkte
Präventionsarbeit der Kommunen zur Verhinderung von
Wohnungsverlust sowie die Integrationsarbeit der Wohnungslosenhilfe ihre Wirkung zeigen. Um Wohnungslosigkeit zu vermeiden, werden wir auch weiterhin die Arbeit der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe
unterstützen. Allein im Haushaltsjahr 2008 wurden Mittel
in Höhe von 243 000 Euro zur Verfügung gestellt.
Durch die hier erwähnten Maßnahmen wird Wohnungslosigkeit vorgebeugt. Es gibt bereits Instrumente,
die gut funktionieren. Deshalb lehnen wir eine Überarbeitung des SGB II ab.
Niemand möchte, dass Menschen wohnungslos werden. Wir müssen alles dafür tun, dass den Betroffenen die
notwendige Unterstützung zuteil wird. Deswegen heißt es
auch im Sozialgesetzbuch:
Leistungen für Unterkunft und Heizung werden in
der Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind.
§ 22 ({0}) SGB II.
Das gilt es zuallererst festzustellen, wenn wir hier über
das Problem der Wohnungslosigkeit reden. Das heißt,
dass es Wohnungslosigkeit, wie die Fraktion Die Linke sie
mit dem vorliegenden Antrag thematisiert, eigentlich gar
nicht geben dürfte. Denn der Staat trägt ja über diese Vorschrift bereits heute die Kosten der Unterkunft, und zwar
nicht in begrenzter Höhe in Form bestimmter Sätze, sondern vollumfänglich in der Höhe der tatsächlich entstandenen Kosten, sofern diese angemessenen sind.
Der Staat wird in dieser Vorschrift des SGB II seiner
Fürsorgepflicht gerecht. Dass damit auch Pflichten des
Leistungsempfängers verbunden sind, muss selbstverständlich sein.
Die Linke fordert in ihrem Antrag eine Reihe von Maßnahmen, auf die ich gerne im Einzelnen eingehen möchte:
Erstens. Zunächst soll im SGB II die Möglichkeit geschaffen werden, dass der Staat bestehende Mietschulden
eines Leistungsbeziehers übernimmt. Dies soll künftig als
Beihilfe geschehen. Der Antrag argumentiert, Mietschulden seien der dominierende Grund für den Wohnungsverlust und die Vermeidung von Wohnungslosigkeit sei nicht
nur sozialer und effektiver, sondern auch günstiger als die
Reintegration von Wohnungslosen. Es ist richtig, dass
Mietschulden die Hauptursache für den Verlust der Wohnung und Wohnungslosigkeit sind. Ebenso richtig ist,
dass es ökonomisch sinnvoll ist, Wohnungslosigkeit von
Anbeginn zu vermeiden, anstatt die Folgen zu bekämpfen.
Natürlich ist Prävention günstiger als Heilung. Richtig
ist aber auch, dass Mietschulden bereits nach heutiger
Rechtslage keine Auslöser für Wohnungslosigkeit sein
müssen. Laut § 23 Abs. 4 Satz 3 sollen Mietschulden sogar explizit vom Leistungsträger übernommen werden,
um drohende Wohnungslosigkeit zu vermeiden. Dass dies
als Darlehen geschieht, schmälert nicht die Wirksamkeit
dieses Instruments zur Vermeidung des Wohnungsverlustes.
Zweitens. Der Antrag greift die Regelung des § 7
Abs. 4 SGB II auf, nach der Personen von der Leistung
ausgeschlossen sind, die sich länger als sechs Monate in
einem stationären Aufenthalt befinden. Die Regelung soll
gestrichen werden.
Tatsächlich sind für den Leistungsausschluss des § 7
die Art der Einrichtung und der Umfang der Unterbringung entscheidend. Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung vom 6. September 2007, auf die sich die
Antragsteller hier beziehen, neue Kriterien für die Prüfung aufgestellt, ob es sich im Einzelfall um eine stationäre Einrichtung handelt. Eine stationäre Einrichtung im
Sinne des SGB II liegt nach Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit vor, wenn diese so strukturiert und gestaltet
ist, dass es dem dort Untergebrachten nicht möglich ist,
aus der Einrichtung heraus mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Der Untergebrachte, so die Argumentation, ist dann derart zeitlich und räumlich fremdbestimmt, dass er der Integration in den Arbeitsmarkt
nicht zur Verfügung steht, wie es das SGB II verlangt.
Drittens. Ferner thematisiert der Antrag die Wohnungslosigkeit junger Menschen, die droht, wenn unter
25-jährige Leistungsbezieher von zu Hause ausziehen. In
dem Fall ist laut § 22 Abs. 2 a SGB II zuvor eine Genehmigung des Trägers einzuholen, sofern weiterhin Leistungen bezogen werden wollen. Dass Die Linke hier abermals erklärt, die Einholung der Genehmigung sei den
betroffenen jungen Menschen nicht zuzumuten und es sei
abzulehnen, dass erwachsene Menschen nicht aus freien
Stücken einen eigenen Hausstand gründen dürfen, ist
nichts Neues. Diese Haltung ist jedoch gleichermaßen
bekannt und falsch.
Denn worüber reden wir hier? Diejenigen unter 25-Jährigen, die eine eigene Wohnung brauchen und die Entsprechendes rechtzeitig beantragen, werden selbstverständlich Unterstützung erfahren. Dass sie dies zuvor
beantragen müssen, ist eine Selbstverständlichkeit. Von
dem Minimum an Eigenverantwortung dürfen wir die
Menschen nicht entbinden. Sich als unter 25-Jähriger
ohne Einkommen vor dem Abschluss eines Mietvertrages
zu fragen, wer die Kosten für die neue Wohnung trägt, ist
eine Selbstverständlichkeit. Falls schwerwiegende soziale Gründe oder aber die Eingliederung in den Arbeitsmarkt eine eigene Wohnung erforderlich machen, wird
der Träger auf Antrag selbstverständlich die Kostenübernahme erklären. Dies zuvor zu beantragen ist allerdings
nicht nur zumutbar. Es entspricht dem Maß an Eigenverantwortung, das unerlässlich ist, nämlich sich rechtzeitig
um seine finanziellen Angelegenheiten selbst zu kümmern, wenn Bedürftigkeit droht oder naht.
Viertens. Auch wendet sich die Linke gegen die bestehende Regelung des § 31 Abs. 5 SGB II, der die Möglichkeit vorsieht, auch die Kosten der Unterkunft vollständig
zu streichen, weil dies zu Wohnungslosigkeit führe. Es ist
klar, dass Wohnungslosigkeit droht, wenn die Kosten
nicht länger getragen werden. Doch über die Ursache für
die Kürzung der Leistungen geht man leichtfüßig hinweg.
Denn erstens gilt die Möglichkeit, die Leistungen einzuschränken, als Ultima Ratio. Und sie gilt nur für den Fall,
dass der Betroffene mehrfach seine Pflichten gegenüber
dem Leistungsträger verletzt hat. Zweitens erlauben auch
dann noch die Durchführungsbestimmungen der Bundesagentur für Arbeit, nach Ermessen zu entscheiden und
die Leistungen wieder zu gewähren, wenn der Betroffene
sich nachträglich bereit erklärt, seinen Pflichten nachzukommen. Bis hierhin hat es der Leistungsbezieher also
selbst in der Hand, die Wohnungslosigkeit abzuwenden.
Allerdings muss darüber hinaus auch gesehen werden,
dass die Ultima Ratio der Leistungsstreichung ihre Berechtigung hat. Der Staat kann nicht jemanden, der wiederholt gezeigt hat, dass er nicht mit dem Leistungsträger
kooperiert, dauerhaft weiterhin unterstützen. Das kann
nicht die Lösung sein. Es muss doch jedem verständlich
und klar sein, dass auch der größtmögliche UnterstütZu Protokoll gegebene Reden
zungswille irgendwann seine Grenzen findet, wenn nicht
ein Minimum an Kooperation erfolgt. Dass mit fehlender
Kooperation die Wohnungslosigkeit quasi in Kauf genommen wird, ist eine traurige Erkenntnis. Aber den
Staat hier der Sanktionsmöglichkeit zu berauben, ihn
gleichsam wehrlos zu machen, ist der falsche Weg.
Fünftens. Schließlich erklärt Die Linke, dass für Wohnungslose spezielle Beschäftigungs-, Aus- und Fortbildungsangebote vorzuhalten seien. Das ist richtig, insofern man hierbei oftmals mit komplexen Problem- und
Härtefällen zu tun hat, die einer maßgeschneiderten und
persönlichen Hilfe bedürfen. Allerdings zieht der Antragsteller hieraus die Folgerung, es müsse auf Sanktionsmaßnahmen und repressive Angebote verzichtet werden.
Die FDP hält dies für falsch, wie ich oben bereits ausgeführt habe. Wo der Staat Leistungen erbringt, muss er in
letzter Konsequenz auch das Recht haben, diese zu kürzen, wenn der Betroffene nicht kooperiert.
Es bleibt die zentrale Aufgabe des Sozialstaates, sich
um die Bedürftigen zu kümmern. Dieser Aufgabe werden
die bestehenden Regelungen gerecht. Mit der Übernahme
der Mietkosten durch den Leistungsträger ist eine Absicherung ausreichend gegeben. Auch darf nicht vergessen
werden, dass das Hauptaugenmerk auf dem Ziel der Integration in den Arbeitsmarkt liegen muss.
Mit einem herzlichen Glückauf aus dem Erzgebirge.
Die Zahl der Wohnungslosen ist in den letzten Jahren
erfreulicherweise zurückgegangen. Allerdings besagen
Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe - die mangels offizieller Erhebungen die verlässlichste Datengrundlage bieten -, dass im Jahr 2006
weiterhin etwa 250 000 Menschen wohnungslos waren.
Weitere 60 000 bis 120 000 Haushalte mit circa 120 000
bis 235 000 Menschen sind von Wohnungsverlust bedroht. Der Anteil der jungen Menschen daran steigt erheblich an. Es besteht damit also ein massiver politischer
Handlungsbedarf, wohnungslosen Menschen die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen sowie Wohnungslosigkeit zu überwinden und präventiv zu vermeiden.
Viele der wohnungslosen Menschen sind längere Zeit
erwerbslos. Mit der Einführung von Hartz IV wurde daher auch die Zuständigkeit für die Wohnungslosenhilfe
weitgehend dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ({0})
übertragen. Die Grundsicherung für Arbeitssuchende ist
aber nicht ausreichend auf die speziellen Bedürfnisse der
Wohnungslosen bzw. von Wohnungslosigkeit bedrohten
Menschen ausgerichtet. Sie nimmt wenig Rücksicht auf
die besonderen Probleme von Wohnungslosen. Die geschaffenen Institutionen sind weder administrativ geeignet noch personell so ausgestattet, eine erfolgreiche
Prävention von Wohnungsverlusten und den damit verbundenen sozialen Folgeproblemen zu leisten.
Einzelne Regelungen im Sozialgesetzbuch II mit besonderer Relevanz für diese Personengruppe haben sich
nicht bewährt. Andere Regelungen im SGB II sind sogar
geeignet, das Problem der Wohnungslosigkeit zu verschärfen. Das Sozialgesetzbuch II bedarf daher dringend
der Überarbeitung.
Erstens ist die Möglichkeit einzuräumen, Mietschulden bei drohendem Wohnungsverlust nicht nur als Darlehen, sondern in der Regel auch als Beihilfe zu übernehmen. Warum? Die erst 1996 ins Bundessozialhilfegesetz
eingeführte Regelung zur Mietschuldenübernahme zur
Vermeidung von Wohnungslosigkeit wurde im SGB II erheblich eingeschränkt. Mietschulden sind aber nach den
Informationen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe „der dominierende Grund für den Wohnungsverlust“. Die Vermeidung von Wohnungslosigkeit
ist regelmäßig sozialer, effektiver und günstiger als die
({1})Integration von Wohnungslosen. Auch daher ist
Mietschuldenübernahme für alle betroffenen Personen zu
garantieren, und zwar in Form eines Zuschusses; denn
die betroffenen Haushalte sind in der Regel bereits überschuldet. Eine zusätzliche Verschuldung konterkariert
das Ziel der sozialen Stabilisierung und der beruflichen
Integration der betroffenen Personen. Insofern ist auch
eine Rückzahlung nach der Phase des Leistungsbezugs
kaum sinnvoll und nur selten möglich. Die bestehende
Darlehensregelung verschlechtert dagegen die Chancen
eines nachhaltigen und dauerhaften Abgangs aus dem
Leistungsbezug.
Zweitens ist die Regelung zu streichen, dass Menschen
in stationären Einrichtungen maximal sechs Monate
Leistungen beziehen können. Nach § 7 Abs. 4 SGB II
sind Personen, die für länger als sechs Monate in einer
stationären Einrichtung untergebracht sind, von dem Bezug von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.
Diese Regelung geht offenbar davon aus, dass ein stationärer Aufenthalt eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließt. Dies ist aber nicht der Fall.
Es wird übersehen, dass bei der Organisation und Ausgestaltung der Leistungen in stationären Einrichtungen
vielfach ein Konzept verfolgt wird, nach dem zwar in einer Einrichtung gelebt, eine Integration in das Leben der
Gemeinschaft außerhalb der Einrichtung aber angestrebt
wird. Dazu gehört auch eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Diese Konzepte finden sich im besonderen Maße bei den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe. Durch den Ausschluss von den Leistungen werden
die Vermittlungschancen der Menschen in diesen Einrichtungen erheblich beeinträchtigt; das Grundanliegen
des SGB II - Integration in Erwerbsarbeit - wird in nicht
nachvollziehbarer Weise konterkariert.
Drittens ist die Übernahme von Kosten der Unterkunft
beim Umzug von Leistungsberechtigten, die jünger als
25 Jahre sind, so zu ändern, dass aus der Ermessensentscheidung der kommunalen Träger ein Rechtsanspruch
der Betroffenen wird. Die Wohnungslosigkeit von jungen
Menschen ist in den letzten Jahren zu einer der größten
Herausforderungen geworden. Relevant ist in diesem Zusammenhang, dass jüngere Wohnungslose häufig direkt
aus der Herkunftsfamilie in die Wohnungslosigkeit geraten sind. Die bisherigen Regelungen des SGB II sind geeignet, dieses Problem zu verschärfen. Denn § 22
Abs. 2 a SGB II fordert von Leistungsberechtigten, die
noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben, dass sie
sich vor einem Umzug eine Genehmigung des kommunaZu Protokoll gegebene Reden
len Trägers einholen müssen, wenn sie weiter Leistungen
beziehen wollen. Dies ist prinzipiell abzulehnen, weil
nicht nachvollziehbar ist, warum erwachsene Menschen
nicht aus freien Stücken einen eigenen Hausstand gründen dürfen. Darüber hinaus folgt aus dieser Regelung
aber „mit hoher Wahrscheinlichkeit eine spürbare Zunahme von wohnungslosen jungen Volljährigen“ - so die
BAG Wohnungslosenhilfe -, weil diese teilweise die benötigte Zustimmung des Trägers vor dem Umzug nicht einholen oder an dem Nachweis eines „sonstigen, ähnlich
schwerwiegenden Grund({2})“ scheitern.
Viertens ist die Sanktionsmöglichkeit der Kürzung der
Kosten der Unterkunft sofort abzuschaffen. Die Möglichkeit, dass durch den kompletten Entzug der Leistungen
einschließlich der Kosten der Unterkunft Wohnungslosigkeit entstehen kann, wird sogar in den Durchführungshinweisen der Bundesagentur eingeräumt. Notwendig ist
eine gesetzliche Klarstellung, dass bei leistungsbedürftigen Personen keine Kosten der Unterkunft gekürzt oder
gar gestrichen werden dürfen, da diese Sanktion dem Ziel
der Vermeidung von Wohnungslosigkeit diametral zuwiderläuft.
Fünftens ist durch die Bereitstellung einer flächendeckenden Hilfe- und Beratungsinfrastruktur für von Gewalt betroffene Frauen präventiv gegen Wohnungsverlust
vorzugehen. Denn zum Beispiel sind die wichtigsten Auslöser des Wohnungsverlustes bei Frauen die Trennung
von einem Partner, der Auszug aus dem Elternhaus sowie
die akute Gewalt des Partners. Diese spezifischen
Gründe müssen beachtet werden. So ist eine ausreichende
Infrastruktur an Hilfeangeboten und Hilfe leistenden Einrichtungen wie Frauenhäusern zur Verfügung zu stellen
sowie bei den Hilfeleistungen im Rahmen des SGB II auf
die spezifischen Bedürfnisse und Probleme dieser Frauen
einzugehen.
Sechstens sind basierend auf dem Prinzip der Freiwilligkeit gezielte Beschäftigungsangebote für Wohnungslose vorzuhalten. Die Angebote müssen den konkreten Lebensumständen der Betroffenen angepasst werden. Für
das Ziel der sozialen Stabilisierung sowie der Integration
in den Arbeitsmarkt sind Sanktionen für die Gruppe der
Wohnungslosen in besonderer Weise kontraproduktiv und
daher abzuschaffen. Niedrigschwellige und nicht repressive Angebote sind zu unterbreiten.
Siebtens sind bei den Trägern der Grundsicherung für
Arbeitssuchende ausgebildetes Fachpersonal für die spezifischen Belange und Anliegen von Wohnungslosen einzustellen und die Erfahrungen für die Prävention von
Wohnungsverlusten in ein Konzept für die administrativen Strukturen der SGB-II-Träger einzubauen. Das Personal bei den Trägern des SGB II ist bislang nicht auf die
besonderen Bedürfnisse und Anliegen von Wohnungslosen bzw. von Wohnungslosigkeit bedrohten Personen vorbereitet. Die Erfahrungen, die in den Kommunen seit den
späten 80er-Jahren mit dem Konzept der Zentralen Fachstelle gemacht wurden, müssen in eine analoge Praxis in
die Strukturen des SGB II integriert werden. So empfiehlt
es der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge und fordert es die BAG Wohnungslosenhilfe. In
diesem Zusammenhang ist auch sicherzustellen, dass
Meldungen der Amtsgerichte über Räumungsklagen unverzüglich bei den zuständigen Stellen ankommen und
Wohnungslosigkeit vermeidende Aktivitäten auslösen.
Alle diese Maßnahmen sollen einer besonderen
Gruppe von betroffenen Menschen zugutekommen. Darüber hinaus lehnen wir aber prinzipiell Hartz IV ab und
fordern eine soziale, repressionsfreie Grundsicherung.
Um Armut und Ausgrenzung in Deutschland zu beseitigen, dürfte genug Geld da sein.
Wohnungslosigkeit ist oftmals die erschreckendste und
sichtbarste Form von sozialer Ausgrenzung. Die Betroffenen sind in vielfacher Hinsicht vom gesellschaftlichen
Leben ausgeschlossen. Ihnen fehlt nicht nur eine Wohnung, sie haben häufig auch kein Girokonto, und ihnen
sind die Zugänge zu medizinischer Versorgung eingeschränkt. Ganz zu schweigen von ihren geringen Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Nur jeder fünfte Obdachlose
geht einer regelmäßigen Erwerbsarbeit nach. 18 Prozent
der Obdachlosen verfügen über keinerlei Einkommen,
nehmen also auch keine Sozialleistungen in Anspruch.
Die Wohnungslosigkeit ist zwar im Jahre 2006 auf
254 000 Menschen zurückgegangen, so die Schätzungen
der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslose. Dies sind
im Vergleich zu 2005 - dem Jahr, in dem das
Arbeitslosengeld II eingeführt wurde - nur 2,7 Prozent.
Die Bundesarbeitarbeitsgemeinschaft Wohnungslose
geht aber davon aus, dass im Arbeitslosengeld II weitere
235 000 Menschen akut von Wohnungslosigkeit bedroht
sind. Diese latente Bedrohung für viele Arbeitslosengeld-II-Beziehende ist zu einem großen Teil auf neue, verschärfende Regelungen der schwarz-roten Koalition zurückzuführen. Es gibt also keinen Grund, sich bei diesem,
für viele Obdachlose auch lebensbedrohlichen Problem
entspannt zurückzulehnen. Wir teilen nicht die Auffassung von Bundesarbeitsminister Olaf Scholz, der sich in
seinem Dritten Armuts- und Reichtumsbericht über den
Rückgang der Wohnungslosigkeit freut und offenbar keinen weiteren Handlungsbedarf sieht.
Unterbelichtet bleibt im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, dass sich die Altersstruktur
der Wohnungslosen deutlich verändert hat. Unerwähnt
bleibt, dass der Anteil junger Erwachsener - insbesondere junger Erwachsener bis 24 Jahre - überproportional zunimmt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslose sieht die Ursache hierfür in der zunehmenden
Verdrängung der Jugendlichen aus der Jugendhilfe in die
Wohnungshilfe sowie in der Zunahme der Armut von Kindern und Jugendlichen. Dieser Trend wurde zusätzlich
durch das SGB-II-Fortentwicklungsgesetz der Bundesregierung verschärft. Denn mit diesem Gesetz wurden nicht
nur die Sanktionsregelungen im Arbeitslosengeld II, sondern auch die Bedingungen für unter 25-Jährige zur
Gründung eines eigenen Haushalts verschärft. Denn
viele von Obdachlosigkeit betroffene Jugendliche leben
leider in so zerrütteten Familien, dass sie das Leben auf
der Straße oder in ungesicherten Wohnverhältnissen dem
Leben in der Familie vorziehen. Hier fehlt der von der
Idee des Sozialmissbrauchs beherrschten rot-schwarzen
Zu Protokoll gegebene Reden
Koalition jedwedes Gespür für die Lebenswirklichkeit
von benachteiligten jungen Erwachsenen.
Das Zustimmungserfordernis des kommunalen Trägers für alle Umzüge von Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 25 Jahre, das von der großen Koalition
mit dem SGB-II-Änderungsgesetz als § 22 Abs. 2 a eingefügt wurde, bedeutet einen Rückschritt gegenüber dem
von Rot-Grün auf den Weg gebrachten Hartz-IV-Gesetz.
Hier gehen wir Grüne über die Forderung der Fraktion
Die Linke hinaus, die diese Regelung lediglich modifizieren möchte: Wir fordern, dass junge Erwachsene auf eigenen Beinen stehen können müssen und bei Hilfebedürftigkeit grundsätzlich nicht wieder auf ihr Elternhaus
zurückverwiesen werden dürfen. Sie müssen - wie im
ursprünglich von Rot-Grün eingeführten Arbeitslosengeld II vorgesehen - einen Anspruch darauf haben, einen
eigenen Haushalt zu gründen.
Für die Politik muss die Maxime gelten: Jeder Obdachlose ist einer zu viel. Die Linke schlägt in dem hier
zur Debatte stehenden Antrag auch im Ansatz richtige
Maßnahmen vor, wenn es um die Schnittstelle Job-Center
und Kommune geht. Die Job-Center - die primär auf die
Integration in den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet
sind - müssen sich fachlich und organisatorisch auf die
besonderen Bedürfnisse von Obdachlosen einstellen.
Richtig und wichtig ist auch die Einrichtung von „zentralen Fachstellen“ für die Belange von Wohnungslosen.
Anders als die Fraktion Die Linke es fordert, sollten diese
jedoch nicht nur für Arbeitslosengeld-II -, sondern auch
für Sozialhilfe-Beziehende rechtskreisübergreifend eingerichtet werden. Um Menschen in dieser besonderen Lebenslage wirklich zu helfen, bedarf es einer besonderen
Organisationsform. Es wird in der Regel nicht ausreichen, Obdachlose von einem speziell geschulten Sachbearbeiter zu betreuen zu lassen. Nach dem Vorbild des Kölner Modells der Obdachlosenhilfe sollte in Großstädten
eine besonders spezialisierte Organisationseinheit für
das Fallmanagement von Obdachlosen und von Obdachlosigkeit bedrohter Menschen Pflicht sein. Diese speziellen trägerübergreifenden Einheiten für Wohnungslose
sollten sowohl für präventive Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit als auch für die akute Hilfe zuständig sein.
Die Fraktion Die Linke schlägt viele sinnvolle Maßnahmen vor, die auch bereits Bündnis 90/Die Grünen in
ihrem Antrag vom 4. April 2006 „Hartz IV weiterentwickeln - Existenzsichernd, individuell, passgenau“,
Drucksache 16/1124, gefordert haben. Insbesondere
müssen die Sanktionen des SGB II für Jugendliche und
junge Erwachsene bis 25 Jahre mindestens flexibilisiert
werden. Die jetzige Regelung, die den sofortigen Wegfall
der Regelleistung für die Dauer von drei Monaten vorsieht, ist zu starr und wird jugendlicher Entwicklung nicht
gerecht. Sie muss in eine Ermessensvorschrift umgeändert werden, die die Rücknahme der Sanktion bei Verhaltensänderung und deren zeitliche Flexibilisierung erlaubt. Keinesfalls darf der Grundbedarf, der zum Leben
notwendig ist, angetastet werden. Notwendig ist auch
eine Befreiung der Obdachlosen von der Praxisgebühr.
Auch insoweit ist der Antrag der Linken ergänzungsbedürftig.
Doch auch die Kommunen sind mit Blick auf die Gewährung sicherer Unterkünfte gefragt. Immer wieder
müssen Obdachlose im Winter ihr Leben lassen. So sind
beispielsweise im letzten Winter drei wohnungslose Männer in Thüringen und Sachsen erfroren, die in Abrisshäusern oder verlassenen Fabriken Unterschlupf gesucht haben. Während größere Städte über eine relativ gute
Infrastruktur verfügen, gibt es im ländlichen Raum und
besonders in den neuen Bundesländern Defizite in der
Versorgung von Wohnungslosen. Die Kommunen als Träger der Kosten für Unterkunft und Heizung sind ebenfalls
gefordert, angemessene und dem örtlichen Wohnungsmarkt entsprechende Mietobergrenzen festzusetzen. So
sieht die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe
das Hauptübel in den zu niedrig angesetzten Mietobergrenzen für Arbeitslosengeld-II-Beziehende. Unrealistische Mietobergrenzen treiben die Sozialleistungsbeziehenden in die Verschuldung und führen über kurz oder
lang in die Obdachlosigkeit.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9487 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksache 16/10488 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Peter
Rauen, CDU/CSU, Andreas Steppuhn, SPD, Dr. Heinrich
Kolb, FDP, Werner Dreibus, Die Linke, Brigitte
Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentari-
schen Staatssekretärs Franz Thönnes.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/10488 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({1}) zu dem
Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
1) Anlage 15
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
EU-Übersetzungsstrategie überarbeiten - Nationalen Parlamenten die umfassende Mitwirkung in EU-Angelegenheiten ermöglichen
- Drucksachen 16/9596, 16/10556 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Peter Thul
Michael Roth ({2})
Michael Link ({3})
Dr. Diether Dehm
Rainder Steenblock
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hans
Peter Thul, CDU/CSU, Michael Roth, SPD, Michael
Link, FDP, Dr. Diether Dehm, Die Linke, Rainder
Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10556,
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP
und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache
16/9596 anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung Unterstützter Beschäftigung
- Drucksache 16/10487 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hubert
Hüppe, CDU/CSU, Gabriele Lösekrug-Möller, SPD,2)
Jörg Rohde, FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke, Markus
Kurth, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentari-
schen Staatssekretärs Franz Thönnes.3)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/10487 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung von Vorschriften auf dem Ge-
1) Anlage 16
2) Die Rede lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird deshalb im
Plenarprotokoll der 184. Sitzung veröffentlicht.
3) Anlage 17
biet des ökologischen Landbaus an die Verordnung ({5}) Nr. 834/2007 des Rates vom
28. Juni 2007 über die ökologische/biologische
Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen und zur
Aufhebung der Verordnung ({6}) Nr. 2092/91
- Drucksache 16/10174 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({7})
- Drucksache 16/10595 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({8}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,
Ulrike Höfken, Nicole Maisch, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Forschung für den ökologischen Landbau aus-
bauen
- Drucksachen 16/9345, 16/10603 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen vor.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Marlene
Mortler, CDU/CSU, Gustav Herzog, SPD, Hans-
Michael Goldmann, FDP, Dr. Kirsten Tackmann, Die
Linke, Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.4)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/10595, den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung zur Anpassung von Vorschriften auf dem Gebiet
des ökologischen Landbaus an europarechtliche Rege-
lungen auf Drucksache 16/10174 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
4) Anlage 18
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetz zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit demselben Stimmenergebnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/10627. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Fraktionen von SPD, CDU/CSU und Die Linke bei
Gegenstimmen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und Enthaltung der Fraktion der FDP abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 23 b. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/
10603, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/9345 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Fraktionen die Linke und Bündnis 90/Die Grünen sowie Enthaltung der Fraktion der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zum
Abbau bürokratischer Hemmnisse insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft ({9})
- Drucksache 16/10490 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Michael
Fuchs, CDU/CSU, Garrelt Duin, SPD, Paul K. Friedhoff,
FDP, Sabine Zimmermann, Die Linke, Kerstin Andreae,
Bündnis 90/Die Grünen.
Wir beraten heute in erster Lesung das Dritte Mittelstandsentlastungsgesetz. Ich möchte Sie bei dieser Gelegenheit einmal auf den genauen Titel dieses Gesetzentwurfs aufmerksam machen, der da lautet: Gesetz zum
Abbau bürokratischer Hemmnisse in der mittelständischen Wirtschaft. Meiner Auffassung nach ist dies genau
der Punkt: Bürokratie hemmt die Entwicklung und das
Wachstum unserer Wirtschaft, und darum ist und bleibt es
eines unserer wichtigsten Ziele, diese Bürokratielasten
über Bord zu werfen.
Bürokratie verhindert Erneuerung, sie bremst Wachstum und Innovation. Bürokratie kostet Zeit und damit
Geld, und das ist insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen eine große Belastung. Die Beseitigung dieser Wachstumshemmnisse ist daher ein
wesentliches Element der Mittelstandspolitik dieser Bundesregierung. Im Rahmen des Programms für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung hat die Bundesregierung
bereits eine Menge erreicht.
Mit der vollständigen Umsetzung des Regierungsprogramms wird die Wirtschaft jährlich um 4,4 Milliarden
Euro entlastet. Das ist die erfreuliche Bilanz des Zwischenberichts zur Umsetzung des Regierungsprogramms
gewesen, den wir im Frühjahr erhalten haben. Das ist
eine sehr stolze Bilanz; sie zeigt uns vor allem zwei
Dinge: Deregulierung ist dringend notwendig. Bürokratieabbau ist aber auch eine positive Ausnahme in der Politik; denn je mehr wir hier erreichen, umso weniger kostet es uns.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden Regelungen abgeschafft, die schlicht und einfach genau den Papierkrieg verursachen, den wir alle selber kennen aus der
Korrespondenz mit Ämtern und Behörden und der einfach
nur eine Menge Zeit kostet. Was werden wir im Einzelnen
ändern? Das MEG III umfasst 25 Einzelmaßnahmen wie
zum Beispiel eine Vereinfachung der Handwerkszählung.
Diese betrifft die rund 460 000 selbstständigen Unternehmen des zulassungspflichtigen Handwerks. Statt die Betriebe mit dieser Meldepflicht zu belasten, werden wir zukünftig auf bereits vorhandene Verwaltungsdaten aus den
Vor-Ort-Erhebungen zurückgreifen und somit die Firmen
gezielt entlasten. Diese Kleinigkeit, die auf den ersten
Blick vielleicht nicht viel Arbeit zu machen scheint, verursacht Bürokratiekosten in Höhe von rund 24 Millionen
Euro. Diese hübsche Summe können wir jetzt also sparen.
Da die Handwerkszählung nur alle acht bis zehn Jahre
durchgeführt wird, beträgt die Entlastung für die Folgejahre „nur noch“ etwa 2,7 Millionen Euro. Dennoch bin
ich der Ansicht, dass wir diese Entlastungswirkung mit
keiner Silbe kleinreden sollten.
Mit dem MEG wollen wir gezielt kleine und mittelständische Unternehmen entlasten. Das wird uns mit dem
Dritten MEG auch gelingen, davon bin ich überzeugt. Wir
sollten deshalb auch sehen, dass wir oftmals viele kleine
Einzelmaßnahmen im Programm haben, die für sich genommen den einen oder andern vielleicht eher zum
Schmunzeln anregen. Davor kann ich nur warnen; denn
wir helfen Handwerksmeistern und Fachbetrieben und
mittelständischen Unternehmen damit, wirtschaftlicher
zu arbeiten und ihr Personal gezielter für Aufgaben einsetzen zu können, statt sich um drohende Statistiken, Meldepflichten und Behördengänge sorgen zu müssen. Das
ist doch die Wirklichkeit vor Ort, und genau das ist es
auch, was wir mit diesen Gesetzen erreichen wollen.
Darüber hinaus ist eine Reihe von gewerberechtlichen
Erleichterungen im Dritten MEG vorgesehen, mit denen
wir ein Entlastungsvolumen von rund 72 Millionen Euro
erzielen. Alle diese Maßnahmen zusammengenommen,
erreichen wir mit dem Dritten MEG nach dem derzeitigen
Stand eine Bürokratiekostenentlastung von rund 100 MilDr. Michael Fuchs
lionen Euro für die Unternehmen. Für die Verwaltungen
können wir zugleich eine Entlastungswirkung von mindestens 8,6 Millionen Euro erreichen. Auch das ist ein
großartiger Erfolg.
Darüber hinaus sammeln wir beharrlich weiter Vorschläge, und ich habe auch schon einige Zuschriften erhalten, die mich sehr optimistisch stimmen, dass wir hier
noch mehr erreichen können. Ich werde mich auf jeden
Fall in den Berichterstattergesprächen dafür einsetzen.
Beispielsweise gibt es im Handwerk noch viele Regelungen und Vorschriften, die wir gut und gerne ad acta legen
können.
Das Gesetz ist ein weiteres deutliches Signal an die Betriebe und Firmen in unserem Land, dass wir das Projekt
Bürokratieabbau sehr ernst nehmen. Wir machen uns dafür stark, dass mittelständische Unternehmen in Deutschland durch eine zeitgemäße Rechtsetzung und durch unbürokratische Vorschriften von der Flut der Regelungen
und Gesetze befreit werden. Wir wollen mehr Entlastung
und mehr Freiheit für die Betriebe, damit sie sich ihren eigentlichen Aufgaben gerade im Bereich Forschung und
Entwicklung widmen können.
Das im Jahr 2006 eingebrachte Erste Mittelstandsentlastungsgesetz umfasste 16 Einzelvorhaben zur Beseitigung bürokratischer Hemmnisse. Insgesamt wurden
mit dem Zweiten Mittelstandsentlastungsgesetz aus dem
Jahr 2007 weitere 17 Deregulierungsmaßnahmen auf
verschiedenen Rechtsgebieten in Kraft gesetzt. Ziel der
Gesetzentwürfe war es, unnötige bürokratische Regelungen abzuschaffen und so die Wirtschaft von unnötigen
bürokratischen Kosten zu befreien. Unnötige Bürokratie
und Überregulierung schränken insbesondere in kleinen
und mittleren Unternehmen sowie bei Existenzgründern
die Leistungsfähigkeit in oft nicht mehr vertretbarem
Umfang ein. Immerhin wendet die mittelständische Wirtschaft in Deutschland ganze 4 bis 6 Prozent ihres Umsatzes allein für Bürokratie auf.
Der Entwurf des Dritten Mittelstandsentlastungsgesetzes enthält nun insgesamt 23 Einzelmaßnahmen, mit
denen im Kern vor allem kleine und mittelständische Unternehmen in den Bereichen Statistik und Gewerberecht
von unnötiger Bürokratie entlastet werden sollen. Vorgesehen ist unter anderem eine Vereinfachung der Handwerkszählung, die rund 460 000 selbstständige Unternehmen des zulassungspflichtigen Handwerks durch
Rückgriff auf bereits vorhandene Verwaltungsdaten von
Vor-Ort-Erhebungen entlastet und der Wirtschaft im kommenden Jahr dadurch Bürokratiekosten von rund 24 Millionen Euro erspart. Daneben wird ein ganzes Bündel
gewerberechtlicher Erleichterungen mit einem Entlastungsvolumen von über 70 Millionen Euro umgesetzt.
Dazu zählt zum Beispiel die Streichung von Aufbewahrungspflichten in der Pfandleiherverordnung und in der
Makler- und Bauträgerverordnung, was den betroffenen
Unternehmen in schätzungsweise 100 000 Einzelfällen
bürokratische Aufwendungen erspart.
Mit dem Gesetz ist in 2009 insgesamt eine Bürokratiekostenentlastung in Höhe von mindestens 97 Millionen
Euro für die Unternehmen und mindestens 8,6 Millionen
Euro für die Verwaltung verbunden. Insgesamt werden
die unter Federführung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie verabschiedeten drei Mittelstandsentlastungsgesetze die Wirtschaft um rund 850 Millionen Euro entlasten.
Am 3. Juli 2008 hat der Nationale Normenkontrollrat
zum zweiten Mal seinen jährlichen Bericht mit dem Titel
„Entscheidungen jetzt treffen“ zum Fortschritt des Aktionsprogramms der Bundesregierung zum Bürokratieabbau überreicht. Insgesamt wurden laut Normenkontrollrat beim Abbau überflüssiger Bürokratie Fortschritte
gemacht. Der Normenkontrollrat kritisiert aber, dass die
Bundesregierung noch immer keinen „Fahrplan“ zum
Bürokratieabbau vorgelegt habe. Wir müssen jetzt weitere Prozessabschnitte zum Bürokratieabbau umsetzen,
um das Abbauziel von 25 Prozent zum Jahr 2011 zu erreichen.
Die Bundesministerien haben dem Nationalen Normenkontrollrat seit dem 1. Dezember 2006 insgesamt
641 Gesetz- und Verordnungsentwürfe vorgelegt. Von denen hat der Rat bisher 550 geprüft. Die geprüften Entwürfe enthielten insgesamt 509 neue und 290 modifizierte
Informationspflichten. Zudem wurden 107 Pflichten aufgehoben. Die Umsetzung dieser Regelungsentwürfe hätte
per Saldo eine deutliche Entlastung der Wirtschaft um
1,29 Milliarden Euro zur Folge.
Unser Ziel muss es sein, dass die Unternehmen in
Deutschland den Abbau an Bürokratie deutlich spüren.
Es hat zwar einige Verbesserungen durch die bisherigen
zwei Mittelstandsentlastungsgesetze gegeben. Ihre Wirkung wird aber durch den Aufbau neuer Bürokratie für
die Wirtschaft an anderer Stelle übertroffen. Als Beispiel
sei hier das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz genannt. Diesem Umstand wollen wir mit dem MEG III entgegenwirken.
Verbände wie der BDA, BDI, DIHK und ZDH schließen sich der Kritik des Normenkontrollrates an, dass die
Bürokratielasten für Unternehmen noch lange nicht vollständig erfasst sind. Sie unterstützen die Forderung, alle
auf Bundesrecht beruhenden Informationspflichten vollständig auszuweisen und in das Nettoabbauziel einfließen
zu lassen. Dazu gehören auch die Belastungen, die auf
Basis von EU-Richtlinien in nationales Recht umgewandelt wurden, oder die staatlich vorgegebenen Buchführungskosten. Hier müssen wir deutlich Fahrt aufnehmen
und die vorgesehenen Abbaumaßnahmen umsetzen. Das
Dritte Mittelstandsentlastungsgesetz, mit einem geschätzten Abbauvolumen von knapp 100 Millionen Euro,
leistet einen Beitrag hierzu. Wir müssen und werden an
diesem Punkt weiterhin eng mit der Wirtschaft zusammenarbeiten.
Die Verbände appellieren an die Bundesregierung,
dem Regierungsprogramm Bürokratieabbau durch einen
konkreten Zeitplan und überprüfbare Zwischenziele neue
Impulse zu geben. Der Nationale Normenkontrollrat
muss dabei weitere Kompetenzen erhalten. So sollte er
zukünftig auch für das unabhängige Monitoring der Bürokratiekosten verantwortlich sein.
Die Bundesregierung will zukünftig auch die Bürokratiebelastung von Bürgerinnen und Bürgern analysieren.
Sie will mit der Abschätzung der Belastung bei neuen Regelungsvorhaben für die Bürger beginnen. Wir müssen
erste Vereinfachungsmaßnahmen für besonders belastete
Bevölkerungsgruppen auf den Weg bringen.
Die laufenden Messungen der die Wirtschaft belastenden Informations- und Statistikpflichten müssen beschleunigt zu Ende geführt werden. Insgesamt wurden
10 500 die Wirtschaft betreffenden Informationspflichten
ermittelt, davon wurden mehr als 7 500 Informationspflichten gemessen. Insgesamt gibt die deutsche Wirtschaft 34 Milliarden Euro an standardisierten Bürokratiekosten aus.
Wir hatten uns in der Koalition verständigt, bis Ende
2011 25 Prozent der Bürokratiekosten abzubauen und bis
2009 etwa die Hälfte dieses Zieles zu erreichen. Wir werden dies auch erreichen.
Wie sehr eine Entlastung kleiner und mittelständischer
Unternehmen vonnöten ist, zeigt sich darin, dass wir
heute bereits das dritte sogenannte Mittelstandsentlastungsgesetz diskutieren.
Die FDP begrüßt ausdrücklich die Zielsetzung dieses
Gesetzesvorhabens, denn die auf den Unternehmen lastenden Kosten für zum Teil sinnlose, zum Teil zumindest
zweifelhafte Bürokratie sind immens.
Es ist hier zunächst klarzustellen, dass die Beweggründe dieses Gesetzes nicht auf dieses oder weitere Entlastungsgesetze beschränkt bleiben dürfen. Das Ziel einer
niedrigen Bürokratiebelastung für diejenigen im Land,
die Arbeitsplätze schaffen und erhalten, muss sich stattdessen durch sämtliche Gesetzgebungsverfahren ziehen.
Denn die schönsten Entlastungsgesetze nützen nichts,
wenn ständig an anderen Stellen bei der Bürokratie
draufgesattelt wird.
Während die derzeitige Koalition die Mittelstandsentlastungsgesetze I und II auf die Schiene brachte, hat sie
gleichzeitig mit Gesetzen wie dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz oder der U1-/U2-Umlage auf dem
Nachbargleis neue Bürokratie ins Rollen gebracht. So
kann Bürokratieabbau nicht funktionieren! Selbst wer
nach diesen Fehlern auf Lernwilligkeit von Schwarz-Rot
hofft, wird enttäuscht. Statt eines Netto-Abbaus stehen
neue Lasten schon in den Startlöchern. Schlimmstes Beispiel für neue Bürokratie ist neben dem unsäglichen Gesundheitsfonds, der morgen in diesem Haus zur Abstimmung steht, die geplante Erbschaftsteuerreform.
Bei dem hier vorgelegten Gesetzentwurf zeigt sich jedenfalls, dass es auch bei der konkreten Umsetzung des
wichtigen Zieles einer Unternehmensentlastung hapert.
Wenn die Bundesregierung sich rühmt, in Riesenschritten
voranzukommen, so müssen wir ihr vorhalten, am Bürokratieberg nur zu kratzen. Er muss aber beherzt abgebaut
werden. Ein Blick auf die Zahlen verdeutlicht dies: Die im
Regierungsentwurf als finanzielle Auswirkung für die
Wirtschaft veranschlagte jährliche Netto-Entlastung von
97 Millionen Euro klingt zunächst gut. Wenn man sich
aber in Erinnerung ruft, dass zum Beispiel die Berechnung und Abführung von Steuern und Sozialabgaben die
Unternehmen im Jahr über 6 Milliarden Euro kostet, zeigt
sich, wie gering die Entlastungswirkung real ist.
Die prognostizierte Entlastungssumme wird noch weiter relativiert, wenn man sich ihre Zusammensetzung ansieht: Von der veranschlagten Netto-Entlastung entfallen
über zwei Drittel auf eine einzige Informationspflicht,
nämlich den Wegfall der Pflicht zur Namensangabe an offenen Verkaufsstellen. Hinzu kommt, dass nun gerade
diese Informationspflicht vom Unternehmer meist schon
aus eigenem Interesse erfüllt wird - ob sie nun in der Gewerbeordnung steht oder nicht.
Angesichts dieses recht dürftigen Deregulierungs-Erfolges frage ich die Bundesregierung, warum sie mit ihrem Vorhaben denn nicht mutig etwas weiter gegangen
ist. Sollen dringend notwendige weitere Entlastungen für
das nächste Dutzend Mittelstandsentlastungsgesetze aufgehoben werden, nur damit die Regierungskoalition jedes
Jahr ein bisschen Bürokratieabbau verkünden kann?
Die sich in diesem Gesetzentwurf zeigende fehlende
Konsequenz ist sehr ärgerlich, da genug Vorschläge für
weiteren vernünftigen Abbau bürokratischer Lasten seit
langem vorliegen. So hat der Industrie- und Handelskammertag noch im Februar dieses Jahres eine Auflistung diverser bürokratischer Missstände vorgelegt; leider wurden diese im Gesetzgebungsverfahren sämtlich nicht
beachtet. Lassen Sie mich mehrere Punkte herausgreifen,
um klarzumachen, wo Erleichterungspotenziale bislang
ungenutzt blieben.
Große Kosten verursachen zum Beispiel immer wieder
die Nachweise von Eignung und Fachkunde in öffentlichen Ausschreibungsverfahren. Diese Kosten treffen kleinere Unternehmen mit dünnerer Personaldecke besonders. Abhilfe können hier Systeme der Präqualifikation
schaffen, mit deren Hilfe potenzielle Ausschreibungsteilnehmer ihre Eignung nicht stets aufs Neue nachweisen
müssen. Wenn die bestehenden Präqualifizierungssysteme bundesweit vereinheitlicht und vernetzt würden
- wie in einem Antrag der FDP-Bundestagsfraktion gefordert -, fielen große Kostenlasten von den Unternehmen.
Besonders ärgerlich für Unternehmen sind zudem
Mehrfachzuständigkeiten von Kontrollinstanzen. Im Arbeitsschutzrecht kommt es regelmäßig zu nicht abgestimmten Doppelprüfungen von Gewerbeaufsichtsämtern
einerseits und Berufsgenossenschaften andererseits. Die
hier sinnlos entstehenden Verwaltungskosten in den Betrieben sind im Rahmen des Bürokratieabbaus zu vermeiden.
Viele Problempunkte im Bereich der Bürokratie sind
zudem von der derzeitigen Regierungskoalition hausgemacht. Dazu zählen die Vorverlegung des Stichtags zur
Abführung der Sozialversicherungsbeiträge und die
Zwangsversicherung zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Die veränderte Meldung zur Sozialversicherung
hat bei den Unternehmen Doppelabrechnungen nötig gemacht. Zwar wurde nach Protesten seitens der Wirtschaft
und der FDP wenigstens eine Schätzung auf Basis des
Zu Protokoll gegebene Reden
Vormonats zugelassen. Aber dennoch sind häufig Nachberechnungen nötig geworden.
Auch die verfehlte Reform des Umlageverfahrens U1
zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurde von meiner
Fraktion von Beginn an scharf kritisiert. Anfang 2006
wurde der Kreis der Betriebe ausgeweitet, die sich gegen
das Risiko einer Lohnfortzahlung für krankgemeldete Arbeitnehmer versichern müssen. Nicht nur, dass dadurch
die Sozialversicherungskosten weiter nach oben getrieben wurden, auch ein starker Aufwuchs von Bürokratie in
den Betrieben war hiermit verbunden. Für jeden Mitarbeiter muss der Unternehmer im Krankheitsfall eine gesonderte Mitteilung an die jeweilige Krankenkasse statt
an eine zentrale Stelle abgeben. Durch solche unnötigen
Verkomplizierungen werden die Ziele der Mittelstandsentlastungsgesetze konterkariert.
Wir raten der Bundesregierung dringend, mit dem so
oft angekündigten Vorantreiben des Bürokratieabbaus
ernst zu machen. Die Ansätze hierzu dürfen nicht so zaghaft bleiben, wie es dieses Mittelstandsentlastungsgesetz
ist. Ansonsten wird die Bundesregierung ihr selbst gestecktes Ziel einer Bürokratiekostensenkung um 25 Prozent bis 2011 ganz sicher nicht erreichen können.
Die FDP steht für einen wirksamen und ernst gemeinten Bürokratieabbau bereit.
Bei ihrem Vorhaben, den Mittelstand durch Bürokratieabbau zu entlasten, unternimmt die Bundesregierung
mit dem hier vorliegenden Gesetz einen dritten Anlauf.
Leider trifft das Sprichwort „Aller guten Dinge sind drei“
hier nicht zu. Zum dritten Mal täuscht die Bundesregierung es als eine große wirtschaftspolitische Maßnahme
vor, wenn sie für kleine und mittlere Unternehmen bestimmte Meldepflichten oder Vorschriften abschafft. Zum
dritten Mal ignoriert sie, dass die wirtschaftlichen Probleme des Mittelstandes ganz woanders liegen. Und zum
dritten Mal redet die Bundesregierung die negativen Auswirkungen klein, die bestimmte Maßnahmen ihres Bürokratieabbaus haben.
Zur Sache: Keiner hat etwas dagegen, überflüssige
oder doppelte Meldepflichten abzuschaffen. Die Linke
hat schon Ja gesagt, wenn es darum ging, Gesetze abzuschaffen, die nicht mehr angewendet werden konnten,
oder wenn es darum ging, die Handwerksstatistik zu modernisieren, etwa mit der Nutzung amtlicher Statistik,
durch die sich bestimmte Handwerksbefragungen erübrigten. Aber der Bundesregierung geht es bei dem vorliegenden Gesetz um etwas anderes. Zum einen versucht sie,
ihre Maßnahmen als großen wirtschaftspolitischen Wurf
darzustellen. Das entbehrt aber jeder Realität. Dem
Handwerker und Gewerbetreibenden vor Ort fehlen ausreichend und fair bezahlte Aufträge. Gerade in der heutigen Zeit der Finanzkrise und Wirtschaftsturbulenzen
müsste der Staat mit einem Konjunkturprogramm die Binnennachfrage ankurbeln. Nichts dazu von der Bundesregierung.
Es ist gut, wenn Handwerksbetriebe bei der Handwerkszählung entlastet werden und stattdessen aktuellere
und umfassendere Daten zur Verfügung stehen. Diese
brauchen wir für eine Politik, die sich über die Lage des
Handwerks genau informieren will. Aber die Bundesregierung täuscht die Öffentlichkeit und kleinen Handwerker,
wenn sie behauptet, damit verbessern sich die Chancen für
mehr Investitionen, Innovationen und Beschäftigung.
Schließlich bringt diese „Erleichterung“ dem einzelnen
Handwerker im Schnitt und mittelfristig aufs Jahr gerechnet 6 Euro.
CDU/CSU und SPD können doch nicht allen Ernstes
behaupten, dies bringe dem Handwerk einen Aufschwung schon gar nicht angesichts der derzeitigen Finanzkrise.
Ich komme auf einen weiteren Aspekt Ihres Bürokratieabbaus zu sprechen. Bei den zwei vorhergehenden Gesetzen hat Die Linke kritisiert, gesellschaftlich sinnvolle und
notwendige Regelungen würden abgeschafft. Leider ist
das auch diesmal der Fall. Die Bundesregierung will die
Schwellen für die Fusionskontrolle absenken. Was bedeutet das? Beim Bundeskartellamt müssten etwa ein Drittel
weniger Fusionen angemeldet werden. Diese Maßnahme
geht in die völlig falsche Richtung angesichts der Tatsache, dass zunehmend wenige große Konzerne das Wirtschaftsgeschehen bestimmen ohne demokratische Kontrolle.
Sicher, die ganz großen Fusionen würden nach wie vor
dem Kartellamt gemeldet werden müssen. Aber auf der
Stufe darunter könnte eine Marktkonzentration schlechter beobachtet werden. Die Bundesregierung räumt das
selbst ein, bezeichnet dieses Problem aber als „marginal“. Wenn wirtschaftliche Macht zunimmt, sollte das
Kartellamt lieber einen Blick mehr statt weniger darauf
werfen.
Ich komme zum Schluss: Das dritte Mittelstandsentlastungsgesetz geht an den wichtigen Fragen des Mittelstandes vorbei. Angesichts einer drohenden Wirtschaftskrise
muss die Politik ein staatliches Konjunkturprogramm
auflegen und auf die Stärkung der Binnennachfrage setzen. Die Linke bringt dazu einen Antrag ein, und hier
kann die Koalition beweisen, ob sie für den Bäcker, Dachdecker oder Einzelhändler vor Ort ernsthaft etwas tun
will.
Um es gleich zu Anfang festzuhalten: Es steht ja nichts
Falsches im Gesetzentwurf. Den weiteren Abbau bürokratischer Hemmnisse begrüßen wir. Es ist ja gut, wenn
die Handwerkszählung durch den Rückgriff auf vorhandene Verwaltungsdaten vereinfacht wird, Schausteller in
Zukunft kein Umsatzsteuerheft mehr führen müssen oder
die Anzeigepflicht bei der Aufstellung von Automaten abgeschafft wird.
Wir stimmen Ihnen auch zu, wenn Sie gleich am Anfang im Gesetzestext feststellen: „Um die Wettbewerbsfähigkeit des heimischen Mittelstandes und die Attraktivität
des Standortes insgesamt zu stärken, müssen Überregulierungen abgebaut und bürokratische Lasten verringert
werden.“ Gut, richtig. Aber diese Wettbewerbsfähigkeit
entscheidet sich nicht an der Abschaffung von einigen wenigen für bestimmte Unternehmer nervigen kleinteiligen
Zu Protokoll gegebene Reden
Normen. Wir brauchen einen entschiedenen Plan für einen umfassenden Bürokratieabbau. Und den bleiben Sie
uns schuldig. Die Bundesregierung handelt beim Bürokratieabbau nach dem Motto „Nicht klotzen, sondern lieber kleckern“. Darum können wir Sie für die kleinen sinnvollen Maßnahmen, die Sie hier vorlegen, auch nicht
überschwänglich loben.
Ihr kleines schönes Maßnahmenpaket krankt an der
viel zu niedrigen Zielmarke, die sich die Bundesregierung
gesetzt hat. Der Normenkontrollrat erfasst allein bundesseitig um die 45 Milliarden Euro Bürokratielasten in
Deutschland. Was die Länder oder die Sozialversicherungsträger machen, ist da noch gar nicht reingerechnet.
Mit diesem Maßnahmenpaket schaffen sie eine Entlastung von 76 Millionen Euro. Das ist klein und fein, reicht
aber bei weitem nicht. Während zum Beispiel die Niederlande in einer Legislaturperiode die Bürokratielasten um
25 Prozent abgebaut haben, 2006 Vollzug meldeten und
jetzt schon an der nächsten Runde im Bürokratieabbau
arbeiten, will die deutsche Bundesregierung bis 2011 dieses Ziel erreichen. Und selbst das ist mit den Trippelschritten, die Sie hier vorlegen, noch nicht sicher.
Auch Österreich ist da schon viel weiter. In Österreich
werden wie in den Niederlanden die Bürokratieabbauziele in den Haushaltsplan integriert. Bei den Haushaltsberatungen geht es so immer auch um Bürokratieabbau.
In den Niederlanden lagen die Bürokratiekosten 2002 bei
16,4 Milliarden Euro - auf 16,5 Millionen Einwohner. Sie
haben dort um 4,1 Milliarden Euro entlastet. In Deutschland liegen die Bürokratielasten entsprechend hochgerechnet bei 80 Milliarden Euro. Insofern ist eine Gesamtentlastung, die unter 20 Milliarden Euro liegt, für
Deutschland zu klein. Und die werden Sie, auch mit den
beiden schon beschlossenen Maßnahmenpaketen, bei
weitem nicht erreichen.
Und was sind die Folgen? Diese Einsparung war einer
der Hauptfaktoren dafür, dass die Niederlande die Wirtschaftskrise Anfang des Jahrhunderts so gut überstanden
haben. Das Ziel, wiederum 25 Prozent einzusparen, haben sie wegen dieser guten Erfahrung gleich noch einmal
erneuert. Deutschland hat zwar unterdessen den Normenkontrollrat eingerichtet, der gute Arbeit macht. Der
hat aber keinen Rückenwind aus der Bundesregierung.
Während in den Niederlanden jeder Minister jährlich im
Parlament über die Zielerreichung beim Bürokratieabbau berichtet, gibt es in Deutschland lediglich Quartalstreffen des Normenkontrollrates mit der Kanzlerin. Termine mit dem Wirtschaftsminister gibt es nicht. Und jetzt,
in der Krise, werden die Versäumnisse beim Bürokratieabbau bei den Unternehmen doppelt durchschlagen - gerade auch im Grenzgebiet, wo die Unternehmen den Unterschied im Abstand von wenigen Kilometern spüren
können.
Und so prüfen, wie der Normenkontrollrat können
müsste, darf er nicht. Wenn die Gesetze ins Parlament
eingebracht werden, gibt es eine Bürokratiekosteneinschätzung des Normenkontrollrates. Dann ist er aber
draußen. Alles, was im parlamentarischen Verfahren in
die Gesetze geschrieben wird, kann er nicht mehr prüfen.
Wenn die Fraktionen Gesetze einbringen, gibt es keine
Stellungnahme des Normenkontrollrates. Das müsste der
Bundestag erst mit Mehrheit beschließen. Die gibt es
- leider - nicht. Und die Gesetze, die vor Januar 2007 ins
Parlament eingebracht worden sind, werden gar keiner
Bürokratielastenmessung unterzogen. Dafür hat der Normenkontrollrat keinen Auftrag bekommen. Ich lasse in
diesem Zusammenhang nur einmal das Wort Gesundheitsfonds fallen. Den hat sich niemand auf Bürokratielasten hin angesehen.
Wir brauchen jetzt eine ehrliche Durchsicht aller geltenden gesetzlichen Regelungen auf ihre Bürokratielasten
hin. Wir brauchen einen Normenkontrollrat, der dafür
auch die umfassende Zuständigkeit und Kompetenz zugesprochen bekommt. Und wir brauchen eine Regel, dass
nicht das, was ins Parlament reinkommt gemessen wird,
sondern das, was rauskommt und beschlossen ist, und
zwar auch, wenn es die Fraktionen einbringen.
All dessen nehmen Sie sich nicht an. Deswegen ist es
schon beschämend, wenn Sie sich mit diesem kleinen Gesetzentwurf als große Entbürokratisierer feiern wollen.
Darauf kann ich Ihnen nur mit den Worten antworten, die
der Normenkontrollrat bei der Vorstellung seines diesjährigen Jahresberichtes im Juli der Bundesregierung ins
Stammbuch geschrieben hat:
Kein Zweifel: Knapp zwei Jahre nach seinem Beginn befindet sich das Aktionsprogramm der Bundesregierung zum Abbau von Bürokratie an einem
entscheidenden Punkt. Nach beachtlichem Anfangstempo konnte das zur Mitte des vergangenen Jahres
erreichte Momentum zuletzt nicht gehalten werden.
Es besteht Entscheidungsbedarf. Die Bundesregierung muss so schnell wie möglich die Messung der
bestehenden Bürokratiekosten abschließen und spätestens bis zum Herbst ein Gesamtkonzept zum Bürokratieabbau auf den Tisch legen, das die Abbaumaßnahmen der einzelnen Bundesministerien
inhaltlich und zeitlich festlegt.
Auf dieses Gesamtkonzept sind wir nach wie vor gespannt.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/10490 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das
Verfahren des elektronischen Entgeltnachweises ({0})
- Drucksache 16/10492 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Kai
Wegner, CDU/CSU, Doris Barnett, SPD, Ulrike Flach,
FDP, Petra Pau, Die Linke,1) Silke Stokar von Neuforn,
Bündnis 90/Die Grünen.
Wenn wir bürokratische Belastungen abbauen, schaf-
fen wir Zeit für das Wesentliche. Ob Bürger oder Unter-
nehmer, der Kontakt mit staatlicher Bürokratie kostet
nicht nur Nerven, sondern letzten Endes Zeit und Geld.
Besonders ärgerlich ist es, wenn Regelungen dann noch
überflüssig, überkompliziert oder im schlimmsten Fall
sogar beides sind.
Die Große Koalition hat deshalb zu Recht das Thema
bessere Rechtsetzung und Bürokratieabbau in unserem
Land ganz oben auf die politische Agenda gesetzt und
- das ist das Entscheidende - auch entschlossen gehan-
delt. Denn mit der Einsetzung eines Normenkontrollrates
sowie der Einführung des Standard-Kosten-Modells sind
Bürokratiekosten nicht nur objektiv messbar geworden,
sondern ein festes und mittlerweile anerkanntes Krite-
rium der Gesetzgebungsdiskussion. Dank dieses in der
Geschichte der Bundesrepublik einzigartigen systemati-
schen Ansatzes konnten bisher Bürokratiekosten im Zu-
sammenhang mit gesetzlichen Informationspflichten in
einer Größenordnung von rund einer Milliarde Euro ein-
gespart werden. Das ist eine Leistung, die ohne das ent-
schlossene Handeln aller Beteiligten nicht hätte erreicht
werden können.
Der Gesetzentwurf über das Verfahren des elektroni-
schen Entgeltnachweises setzt die Bemühungen zum Bü-
rokratieabbau konsequent fort. Auch wenn durch den
elektronischen Entgeltnachweis - kurz ELENA - keine
unnützen Vorschriften gestrichen werden, bietet der vor-
liegende Gesetzentwurf ein riesiges Potenzial, Bürokratie
abzubauen. Denn das Verfahren revolutioniert die Art
und Weise, wie wir in unserem Land Verwaltung organi-
sieren. Dazu nutzt das ELENA-Verfahren bereits beste-
hende technische Möglichkeiten der elektronischen Da-
tenverarbeitung und -übermittlung, um den Staat und die
Verwaltung durch die Vermeidung unnötiger Bürokratie
bürgerfreundlicher zu gestalten.
Derzeit stellen die Arbeitgeber ihren Mitarbeitern
Jahr für Jahr rund 60 Millionen Bescheinigungen für Be-
hörden und Gerichte aus. Diese Bescheinigungen sind In-
formationen, die vom Arbeitgeber auszustellen und vom
Arbeitnehmer im Zusammenhang mit dem Bezug von So-
zialleistungen dem jeweiligen Amt vorzulegen sind. Kon-
kret bedeutet das: Wenn ich als Vater beispielsweise El-
terngeld beziehen möchte, benötigt das zuständige Amt
zur Berechnung der Höhe meines Anspruchs die notwen-
digen Informationen zu meinem Einkommen. Obwohl die
notwendigen Daten bei meinem Arbeitgeber elektronisch
vorliegen, werden sie mir derzeit in Papierform ausge-
stellt. Ich bin dann wiederum in der Pflicht, meine Ein-
kommensdaten der Behörde zu überbringen, die die Da-
1) Die Rede lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird deshalb im
Plenarprotokoll der 184. Sitzung veröffentlicht.
ten wiederum in ihre Datenbank eingibt, um meinen
Antrag zu bearbeiten.
Dieser unnötige Medienbruch bedeutet für alle am
Verfahren Beteiligten einen Arbeits- und Zeitaufwand,
der im Zeitalter der elektrischen Kommunikation und Datenverarbeitung vermeidbar und höchst kostspielig ist. So
schätzt der Normenkontrollrat, dass alleine durch die
circa 6,5 Millionen Arbeitsbescheinigungen, die für die
Beantragung und Berechnung des Arbeitslosengeldes I
erforderlich sind, den Arbeitgebern Bürokratiekosten in
Höhe von über 100 Millionen Euro pro Jahr entstehen.
Das bereits erfolgreich erprobte ELENA-Verfahren
soll diesen kostspieligen Medienbruch überwinden. Konkret sieht der Gesetzentwurf vor, die Ausstellung von Bescheinigungen durch eine monatliche Meldung der Bescheinigungsdaten an eine zentrale Speicherstelle zu
ersetzen. Dabei soll in einem ersten Schritt die notwendige Infrastruktur für das Verfahren aufgebaut und in einem zweiten Schritt sechs Informationspflichten der Arbeitgeber in das ELENA-Verfahren einbezogen werden.
In einer Übergangszeit von zwei Jahren soll dann das bereits im Modellversuch erprobte Verfahren seine Funktionsfähigkeit und Sicherheit beweisen.
In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig, auch auf
das Thema Datensicherheit zu sprechen zu kommen. Mir
ist durchaus bewusst, dass es infolge zahlreicher Fälle
von Datenmissbrauch, die uns hinlänglich aus der Presse
bekannt sind, zu einer tiefen Verunsicherung in der Bevölkerung in Bezug auf das Thema Datensicherheit gekommen ist. Deshalb ist es wichtig zu betonen, dass das
ELENA-Verfahren die höchsten Sicherheitsstandards erfüllt. Das gilt sowohl für die Verschlüsselung der Daten
als auch die Möglichkeit des Abrufs.
Das Verfahren wurde von Anfang an gemeinsam mit
dem Bundesbeauftragten für Datenschutz ausgearbeitet
und gewährleistet die volle Kontrolle des Bürgers über
seine gespeicherten persönlichen Daten. Mittels der Verwendung einer qualifizierten elektronischen Signatur
- im Rechtsverkehr heute schon gleichbedeutend mit einer real geleisteten Unterschrift - wird sichergestellt,
dass nur mit Einwilligung des Bürgers die notwendigen
Daten aus der Speicherstelle abgerufen werden können.
Niemand kann folglich eigenmächtig auf Daten aus der
zentralen Speicherstelle zugreifen. Der Bürger muss die
abrufende Stelle immer dazu autorisieren; anders ist ein
Datenabruf nicht möglich. Darüber hinaus hat der Bürger jederzeit das Recht, vom Arbeitgeber gemeldete Daten einzusehen.
Der Elektronische Einkommensnachweis ist ein wichtiger Beitrag zum Bürokratieabbau in dieser Legislaturperiode. Er bekräftigt den Willen der Großen Koalition zu
einer konsequenten und nachhaltigen Bürokratiekostenentlastung von Bürgern, Unternehmen und Verwaltungen. In diesem Sinne bitte ich um Unterstützung des Gesetzentwurfs. Ich freue mich auf die weitere Beratung.
ELENA - ein schöner Name, erinnert er doch an eine
schöne Frau aus längst vergangenen Zeiten. Helena war
so begehrenswert, dass sogar ein Krieg um sie ausbrach.
Nun, einen Krieg um unsere ELENA brauchen wir nicht
zu befürchten, und eigentlich können wir nur wünschen,
dass sie mindestens so begehrt wird wie die kretische Königstochter.
Ihre Geburtsstunde hatte ELENA, der Elektronische
Entgeltnachweis, im Sommer 2002, als die von Bundeskanzler Gerhard Schröder eingesetzte Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ tagte und Vorschläge zum Bürokratieabbau machte. Einer dieser
Vorschläge lautete „eine Versicherungskarte als Signatur- oder Schlüsselkarte zu entwickeln, die für den Abruf
von Verdienstbescheinigungen und Arbeitsbescheinigungen durch die jeweils zuständige Stelle nach Ermächtigung durch den Antragsteller zur Verfügung steht“. Das
Ziel war damals schon klar umrissen: Man wollte zu einer
erheblichen Kostensenkung im Bereich der Verwaltung
kommen und auch die Unternehmen entlasten. Durch die
schnelle Verfügbarkeit der für Leistungen benötigten Unterlagen sollten auch die Antragsberechtigten schneller
zu ihren Leistungen kommen.
Damals hieß die Schlüsselkarte noch Jobcard. Seither
wurde am eigentlichen Verfahren viel gearbeitet, und sie
durchlief auch drei Projektphasen. Im September 2003
wurde begonnen, ihre Projekttauglichkeit bezüglich einer
Arbeitsbescheinigung nach § 312 SGB III zu prüfen. In
der zweiten Phase wurde geprüft, ob das bisher entwickelte Verfahren auch auf andere Leistungen des Sozialgesetzbuches, zum Beispiel Sozialhilfe, Rente, Wohngeld,
übertragen werden kann. Während der dritten Phase
- jetzt heißt die Jobcard ELENA - wurde getestet, ob dieses Verfahren auch anwendbar ist, den berechtigten Behörden Informationen im Sozialverfahren hinsichtlich anzurechnender Entgeltersatzleistungen zur Verfügung zu
stellen.
In der Zwischenzeit sind diese ganzen Vorarbeiten, die
sich etwas länger hingezogen haben als erwartet, abgeschlossen, und wir können zur Tat schreiten. Heute legen
wir den zur Einführung des Elektronischen Entgeltnachweises erforderlichen Gesetzentwurf vor. Er dient dazu,
die jährlich etwa 60 Millionen Entgeltbescheinigungen in
Papierform durch elektronisch verwertbare Bescheinigungsdaten zu ersetzen und damit mehr als 100 Millionen
Euro Bürokratiekosten pro Jahr zu sparen.
Das jetzt vorliegende Gesetz ermöglicht den Abruf der
Bescheinigungsdaten für Arbeitslosen-, Wohn- und Elterngeld. Später kann eine Ausweitung auf weitere Sozialleistungen erfolgen.
Die Arbeitgeber speichern und übermitteln heute bereits Datensätze an die gesetzliche Krankenversicherung.
Diese werden vom Arbeitgeber zukünftig auch an die
Zentrale Speicherstelle ({0}) übermittelt, die durch modernste Sicherheitsvorkehrungen geschützt ist. Der Datenabfluss, also der Abruf, kann lediglich in Richtung der
abrufenden Behörde erfolgen. Und dieser Abruf braucht
zwei Schlüssel: einmal den der Behörde, die sich damit
identifiziert und somit den Abruf protokolliert, und zweitens den Bürger, der eine Bescheinigung braucht für eine
Sozialleistung. Dieser Schlüssel ist nichts anderes als die
digitale Signatur, die von einer Zertifizierungsstelle für
den Bürger erstellt wird. Diese digitale Signatur kann
sich der Bürger auf seine EC-Karte oder auf seine Gesundheitskarte oder auch auf eine ganz eigene Karte laden lassen. Die Signatur ist der manuellen Unterschrift
gleichgestellt und ermöglicht auch die Antragstellung im
Onlineverfahren. Ebenfalls wichtig ist, dass dabei aber
keinerlei inhaltliche Informationen wie zum Beispiel Entgeltdaten, Steuerklasse oder Beschäftigungsbetrieb auf
der Signaturkarte selbst gespeichert werden, sondern lediglich die nichtssagende Identitätsnummer des Zertifikates, die als Türschlüssel dient.
Aus den vorgenannten Gründen kann sich jeder eine
Signaturkarte bzw. eine digitale Signatur ausstellen lassen. Tatsächlich brauchen werden es die meisten Bürgerinnen und Bürger allerdings nur dann, wenn sie eine
staatliche Leistung beantragen möchten. Kosten wird die
Karte für drei Jahre 10 Euro, die an die Zertifizierungsstelle zu entrichten sind.
Diejenigen, die eine der oben genannten Bescheinigungen benötigen, aber aus Kostengründen sich die digitale Signatur nicht leisten können, bekommen auf Antrag
die Kosten durch die abrufende Behörde erstattet. Starten
wird ELENA für den Bürger ab dem 1. Januar 2012. Bis
dahin wird er regelmäßig noch den bisherigen Weg gehen
müssen, wenn er eine Entgeltbescheinigung braucht.
Die Bürgerinnen und Bürger bleiben erst recht bei dem
System des elektronischen Einkommensnachweises auch
immer Herr ihrer Daten. Mit Hilfe eines Kartenlesegerätes und mit einem Internetanschluss kann jede und jeder
nachsehen, welche Daten gespeichert sind. So kann festgestellt werden, ob und welche Angaben gespeichert sind.
Hier wird also nicht der oft beschworene gläserne Bürger produziert, sondern Kosten, Laufereien, Papierkram
gespart. Auch der Arbeitnehmer hat einen großen Vorteil:
Er braucht für eine Bescheinigung für die Arbeitsagentur
nicht mehr beim Arbeitgeber vorstellig zu werden,
braucht nicht mehr Wartezeiten in Kauf zu nehmen und
der Arbeitnehmer kann selbst besser bestimmen, wer Einsicht in seine persönlichen Daten bekommt.
Auch für die Behörden und die Unternehmer bringt
ELENA, wie vorhin schon erwähnt, erhebliche Einsparungen. Aber so, wie der Schweiß der Edlen vor dem Erfolg kommt, kommen auch hier zunächst Kosten vor der
Ersparnis.
Die Unternehmer übermitteln heute schon die notwendigen Daten an die GKV. Zukünftig braucht es noch einen
weiteren Klick, um sie auch an die ZSS zu übermitteln.
Der benötigte Transportweg ist also schon vorhanden,
und die hier zusätzlich entstehenden Kosten halten sich
in Grenzen. Die jährlichen Kosten für das Update der
Übermittlungsprogramme an die GKV tragen die Unternehmen schon heute selbst, sodass für eine Anpassung
der übertragenen Daten keine wirkliche Sonderbelastung
entsteht. Im Gegenteil, die entstehenden Kosten werden
durch die zu erwartenden Einsparungen aufgewogen.
Die abfragenden Behörden, also Bundesagentur für
Arbeit, Kreisverwaltungen und Städte, müssen eventuell
in Hardware investieren. Für die kommunalen Partner
entstehen zusätzliche Kosten für die Software. Da sie aber
Zu Protokoll gegebene Reden
zukünftig keine Dateneingaben manuell von Papierbescheinigungen mehr machen müssen, haben auch sie erhebliche Einsparungen. Deshalb sollen sie sich an den
Investitionskosten von 55 Millionen Euro durch den
Bund, die in den nächsten fünf Jahren für den Aufbau des
Systems entstehen, beteiligen.
Alles in allem werden wir mit ELENA einen weiteren
wichtigen Schritt hin zu einer schnellen, bürgerfreundlichen und vor allem sicheren und nachprüfbaren Verwaltung machen, die allen hilft und Kosten spart. Ich würde
mich freuen, wenn alle dazu beitragen könnten, diesen
Weg gemeinsam zu gehen.
Der elektronische Einkommensnachweis ELENA war
das zentrale Projekt zum Bürokratieabbau. Die Gesamtkosten für Unternehmen für die Erstellung von Einkommensbescheinigungen in Papierform werden auf 500 Millionen Euro jährlich gerechnet. Diese sowie die Wohnund Elterngeldbescheinigungen künftig elektronisch zu
bearbeiten, wäre eine höchst sinnvolle Sache. Die FDP
unterstützt das Vorhaben, denn Abbau von Bürokratiekosten ist auch für uns ein zentrales Anliegen.
Der gute Zweck wird allerdings von der Bundesregierung unzureichend umgesetzt. Es gibt zunächst einen ersten Schritt in der Anwendung bei der Bundesagentur für
Arbeit. Länder und Kommunen sind zwar eingebunden,
starten aber noch nicht ins ELENA-Zeitalter. BitkomChef Scheer kritisiert zu Recht, dass mit ELENA nur wenige Nachweisverfahren digitalisiert werden, nämlich
nur 8 von 45.
Zweitens: Es wird teuer. 55 Millionen Euro insgesamt
kostet die Anschubfinanzierung für den Aufbau und den
Betrieb der zentralen Speicherstelle; in den Haushalten
2009 bis 2013 jeweils 11 Millionen Euro, die dann ab
2019 mit einem Aufschlag auf den Datenabruf refinanziert werden sollen. Bürger und Unternehmen refinanzieren also die Datensammlung selbst, wenn sie die Daten
nutzen.
Die BA veranschlagt ihre Umstellungskosten auf
31 Millionen Euro, die Wirtschaft rechnet mit 17 Millionen Euro zusätzlichen Kosten. Auch auf die Bürger kommen Kosten zu, nämlich laut Bundesregierung nicht nur
die späteren Datenabrufgebühren, sondern immerhin pro
leistungsberechtigtem Bürger 10 Euro für drei Jahre für
die Freischaltung der elektronischen Signaturkarte. Die
Menschen müssen also zukünftig für eine Auskunft bezahlen, die sie bislang kostenlos erhalten. Das ist doch so, als
würde eine Bank Gebühren einführen für die Abfrage des
Kontostands mit der eigenen EC-Karte. So wird man wenig Akzeptanz für ELENA finden. Während sich bei der
BA und der Großindustrie Entlastungseffekte ergeben
dürften, ist das beim Bürger und bei den Kleinunternehmen nicht der Fall.
Die Hoffnung, schnellere Bearbeitungszeiten realisieren zu können, teilen wir nicht. Gerade Kleinunternehmen, die nicht über moderne Hard- und Software verfügen, werden zusätzliche Anschaffungskosten haben, die
sie mit Spareffekten erst einmal hereinholen müssen. Unklar ist auch, wie viele Arbeitnehmer sich auf die Härtefallregelung berufen werden. Angesichts der schlechten
Erfahrungen mit der elektronischen Gesundheitskarte
sind auch meine Hoffnungen auf Synergieeffekte mit ECKarte oder Personalausweis gering, die der Normenkontrollrat formuliert hat.
Gut gedacht, schlecht gemacht ist auch der Bereich
der Ausgestaltung des zentralen Registratur und der Vergabe der Identitätsnummern. Hier sehen wir Probleme
bei der Identitätsmeldung, der Verhinderung von Scheinidentitäten und einer falschen Zuordnung von Zertifikatsidentitätsnummern. Für den Bürger selbst ist nicht transparent, welche Identitäten im Rahmen seiner, wie Sie es
nennen, „Historie“ als Leistungsempfänger ihm zugeordnet werden. Und ELENA wird eine Datensammelstelle
gigantischen Ausmaßes werden, bei der wir als FDP befürchten, dass damit weitere Begehrlichkeiten geweckt
werden.
In der griechischen Mythologie wurde ein zehnjähriger Krieg um die schöne Helena begonnen. ELENA wird
keine Kriege heraufbeschwören, aber sie ist leider auch
nicht so attraktiv gestaltet, dass es sich lohnen würde, ihr
den Apfel des Paris zu verleihen. Hier muss noch einiges
im Laufe des Verfahrens verbessert und nachgearbeitet
werden.
Die Dame ELENA wirft aus der Sicht des Datenschutzes das Grundproblem auf, dass sie in ihrer Aussteuer ein
neues und umfassendes zentrales Register mitbringt. In
diesem Zentralregister sollen zukünftig Einkommensdaten der Beschäftigten in der Bundesrepublik gespeichert
werden. Das gilt auch für die Daten der Bürgerinnen und
Bürger, die nie Anträge auf staatliche Leistungen stellen
werden. Hier wird zu Recht der Vorwurf erhoben, dass mit
ELENA eine erneute Vorratsdatenspeicherung aufgebaut
wird. Diese Auffassung vertreten nicht nur die Datenschützer. Auch der Bundesrat hebt in seiner Stellungnahme vom 19. September zum Gesetzentwurf der Bundesregierung die hohe verfassungsrechtliche Brisanz von
ELENA hervor.
Von 35 bis 40 Millionen abhängig Beschäftigten sollen
sensible, einkommensrelevante Informationen gespeichert werden. Genau das ist aber das Problem der Vorratsdatenspeicherung, die losgelöst vom konkreten
Zweck der Erhebung Daten speichert, die möglicherweise einmal interessant werden könnten. Genau dieser
Vorbehalt findet sich unter Punkt 6 der Stellungnahme
des Bundesrates. Die Länderkammer bemängelt, dass ein
großer Teil der Beschäftigten voraussichtlich die Sozialleistungen gar nicht in Anspruch nehmen wird, für die
künftig die Daten gesammelt werden sollen. Wir werden
daher in den anstehenden Beratungen sehr genau darauf
zu achten haben, ob die genaue Zweckbindung der Datensammlung eingehalten wird und tatsächlich nur die
Daten Eingang in ELENA finden, die zur Erfüllung der
gesetzlichen Aufgaben unbedingt erforderlich sind.
Zu Protokoll gegebene Reden
Für die Gesamtbewertung des Regierungsprojekts ist
es über die schon angesprochenen Punkte hinaus von
großer Bedeutung, ob wir ELENA überhaupt benötigen,
ob der Eingriff in die informationellen Selbstbestimmungsrechte verhältnismäßig und erforderlich ist. Auch
wir sprechen uns für ein modernes E-Government aus.
Wir sehen den Aufwand für die Wirtschaft, die derzeit im
Jahr rund 60 Millionen Einkommensbescheinigungen auf
Papier ausfüllen muss. Wir wollen hier insbesondere den
Mittelstand von überflüssigen Bürokratielasten befreien.
Der erste Ansatz muss aber sein, die Informationspflichten zu reduzieren. Wir halten es für möglich und sinnvoll,
die gegenwärtig 45 Informationspflichten im Zusammenhang mit Einkommensnachweisen auf acht wirklich erforderliche zu reduzieren. Wir stellen hier auch die Forderung auf, dass es nicht zu einer Doppelspeicherung
kommt. Die an ELENA übermittelten Daten müssen nicht
zusätzlich im Betrieb gespeichert werden. Es ist an der
Zeit, dass die Speicherung von Arbeitnehmerdaten in einem modernen Arbeitnehmerdatenschutzgesetz geregelt
wird.
Wir werden die Vorteile eines elektronischen Verfahrens kritisch prüfen. Für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer erreichen wir durchaus auch mehr Datenschutz, weil die Arbeitgeber in Zukunft nicht mehr erfahren, wer welchen Antrag auf staatliche Sozialleistungen
stellt. Angesichts der zunehmenden sozialen Kontrolle in
einem Arbeitsverhältnis ist das nicht irrelevant. Eine Modernisierung des gesamten Verfahrens ist auch geeignet,
den Antragstellern das Leben zu erleichtern. Viele Betroffene sind beim Umgang mit Behörden mit den gegenwärtigen Antragsverfahren und seinen Papierfluten überfordert. Allerdings sehen wir hier in erster Linie den
Auftrag, nicht nur Bürokratie für die Wirtschaft abzubauen, sondern die Anträge so zu gestalten, dass wirklich
nur entscheidungsrelevante Informationen abgefragt
werden.
Die Datenschutzskandale haben alle sensibilisiert.
Gerade ELENA braucht Vertrauen, und dies ist nur zu erlangen, wenn durch technischen Datenschutz gesichert
ist, dass die enge Zweckbindung auf Dauer gewährleistet
ist. Die Daten müssen gegen Missbrauch genauso geschützt sein wie gegen die Begehrlichkeiten der Sicherheitsbehörden. Nur wenn die Freigabe in der Hand der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bleibt und wir ein
gesichertes Verfahren der elektronischen Signatur haben,
wäre der Aufbau von ELENA vertretbar.
Das Schutz- und Verschlüsselungskonzept spielt hier
eine herausragende Rolle. Wichtig ist es auch, den Vorschlag des Bundesrates aufzugreifen und bei den Zentralen Speicherstellen einen Verwaltungsausschuss zur Kontrolle zu bilden. Die Einbindung des Bundesbeauftragten
für den Datenschutz und die Informationsfreiheit sollte da
eine Selbstverständlichkeit sein. Sowohl dem Staat als
auch der Privatwirtschaft muss klar sein, dass es mit einfachen Versprechen nicht mehr getan ist. Vertrauen in
Datenschutz gibt es nur durch klare gesetzliche Regeln
und durch funktionierende Aufsicht und Kontrolle. Wir
werden im weiteren Gang des parlamentarischen Verfahrens genau darauf achten, dass rechtlich, aber eben auch
technisch diese Daten nur mit der persönlichen Signaturkarte des Betroffenen und der Signatur der Behörde abgerufen werden können, bei der ein Antrag gestellt wird.
Das „Zwei-Karten-Prinzip“ muss absolut verlässlich
sein und darf keine Schlupflöcher haben, auch nicht für
die Sicherheitsbehörden.
Im ELENA-Verfahren soll ein differenziertes Konzept
zur Löschung der jeweils nicht mehr benötigten personenbezogenen Daten eingesetzt werden. Der Punkt ist bedeutsam, weil bekanntlich einmal angedacht war, die
Rentenversicherungsnummer als Ordnungskriterium einzusetzen. Es ist gut, dass von diesem Vorhaben auf Druck
des Bundesdatenschutzbeauftragten Abstand genommen
wurde. Mit der Rentenversicherungsnummer wäre es
leicht gewesen, Persönlichkeitsprofile zu entwickeln. Ich
muss hier daran erinnern, dass derartige Personenkennzeichen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unzulässig sind.
Wir fordern die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen bei diesem schwierigen Vorhaben zu einer
gründlichen parlamentarischen Beratung auf. Gerade
die Frage der Erforderlichkeit der Speicherung bestimmter Daten und die Missbrauchsanfälligkeit des Systems
insgesamt muss das Parlament sehr genau unter die Lupe
nehmen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/10492 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
Menschenrechte in der ASEAN-Staatengemeinschaft stärken
- Drucksachen 16/7490, 16/10561 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Christel Riemann-Hanewinckel
Michael Leutert
Volker Beck ({1})
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen vor.
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll ge-
nommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolle-
ginnen und Kollegen: Holger Haibach, CDU/CSU,
Christel Riemann-Hanewinckel, SPD,1) Florian Toncar,
FDP, Michael Leutert, Die Linke, Volker Beck, Bündnis 90/
Die Grünen.
1) Die Rede lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird deshalb im
Plenarprotokoll der 184. Sitzung veröffentlicht.
Dem internationalen Menschenrechtsschutz kommt
eine immer größere Bedeutung zu, besonders in einer
Zeit, in der sich Konflikte asymmetrisch entwickeln und
die Zahl der Akteure sich erhöht, die an menschenrechtlichen Entwicklungen teilnehmen. Waren es früher Staaten untereinander oder Staaten mit ihren Bürgerinnen
und Bürgern, die in Auseinandersetzungen miteinander
traten, so sind es heute transnationale Unternehmen genauso wie etwa regionale und lokale Rebellengruppen.
Deshalb hat der von der Koalition eingebrachte Antrag zu den ASEAN-Staaten auch nichts von seiner Aktualität verloren, obwohl er schon elf Monate alt ist. Denn
gerade die ASEAN-Staaten haben, wenn es um die Einrichtung regionaler Mechanismen zum Menschenrechtsschutz geht, noch einigen Nachholbedarf. Die Verabschiedung der ASEAN-Charta hat nun den Weg zu der
Einrichtung einer Menschenrechtskommission für diesen
Staatenbund freigemacht. Darüber hinaus sind der
Schutz und die Einhaltung der Menschenrechte erstmals
als Ziel der zehn beteiligten Mitgliedstaaten festgeschrieben. So weit die positiven Aspekte.
Auf der Sollseite steht die Tatsache, dass die vorgesehenen Menschenrechtsmechanismen keinerlei Sanktionsmacht haben, dass auch ein negatives Ergebnis einer
Überprüfung in einem Mitgliedstaat keine Konsequenzen
haben muss.
Dass die Einrichtung von Mechanismen auf internationaler Ebene - nicht nur im Menschenrechtsbereich eines langen Atems bedarf, wissen auch wir in Europa.
Die Aufgabe nationaler Souveränitätsrechte und damit
auch die Akzeptanz von Einmischung in sogenannte innere Angelegenheiten sind nie einfach. Sie wird umso
schwieriger, wenn die an einer regionalen Organisation
beteiligten Mitgliedsstaaten unterschiedliche Auffassungen über den Stellenwert von Menschenrechten haben.
Gerade die ASEAN-Staaten haben hier mit besonderen
Herausforderungen zu kämpfen, gibt es doch in ihren Reihen Staaten, die die Menschenrechte weitgehend beachten, genauso wie solche, in denen schwere menschenrechtliche Defizite zu beklagen sind. Staaten mit
demokratischen Strukturen stehen solche mit diktatorischen oder autoritären Regimes gegenüber.
Darüber hinaus gibt es in einigen dieser Staaten regelmäßig zutage tretende Spannungen zwischen Ethnien und
Religionen, die die Herstellung stabiler und demokratischer Strukturen erschweren, ja zum Teil unmöglich zu
machen scheinen.
Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD begrüßen
ausdrücklich, dass die ASEAN-Staatengemeinschaft
durch die Verabschiedung ihrer Charta ein Zeichen für
einen höheren Stellenwert der Menschenrechte gesetzt
hat. Andererseits müssen wir aber auch feststellen, dass
gleich die erste Gelegenheit, in der dieser höhere Stellenwert seinen Ausdruck hätte finden können, ungenutzt
blieb: Als es im vergangenen Jahr zu dem gewaltsamen
Vorgehen der Militärjunta in Birma gegen protestierende
Mönche kam, wäre die Gelegenheit gewesen, seitens der
ASEAN-Staatengemeinschaft ein Zeichen zu setzen. Doch
das Zeichen blieb aus: Statt den UN-Sondergesandten für
Birma zu ihrem Gipfel einzuladen, wurde dieser auf
Druck der Machthaber in Rangun nicht zugelassen. Das
Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des jeweiligen anderen Staates hatte gesiegt.
Gerade der Fall Birma zeigt aber sehr deutlich, dass
es des Engagements der Nachbarn in einer Region
manchmal mehr bedarf als des Eingreifens westlicher
Staaten. Birma wird sich westlichem Druck kaum beugen,
da es ohnehin von der EU und auch den USA mit Sanktionen belegt ist. Seine Handels- und Sicherheitspartner
sind eben die Staaten der ASEAN-Staatengemeinschaft
und China. Ohne unsere eigene Verantwortung kleinreden oder gar negieren zu wollen, bin ich der Meinung,
dass es an diesen Staaten liegt, aufgrund ihrer engen Beziehungen und des Einflusses, den sie auf dieses Regime
haben, auf Verbesserungen für die Menschen vor Ort zu
dringen.
Besonders deutlich wurde dies bei der Unwetterkatastrophe, die das Land in diesem Jahr heimgesucht hat. Sicherlich war das Engagement der Bundesregierung entscheidend dafür, dass deutsche Hilfsdienste als erste
westliche ihre Tätigkeit in den Krisengebieten aufnehmen
konnten. Aber ohne den Druck Chinas und der ASEANStaaten hätten diese und andere Lösungen vielleicht noch
länger auf sich warten lassen, mit verheerenden Folgen
für die Bevölkerung, deren Not aufgrund der Weigerung
des Regimes, ausländische Hilfe anzunehmen, ohnehin
schon groß genug war.
Warum gehe ich so ausführlich auf dieses Beispiel ein?
Weil es exemplarisch zeigt, worauf es ankommt. Es ist
wichtig, internationale Übereinkommen zu unterzeichnen
und sich somit auf die Einhaltung menschenrechtlicher
Standards zu verpflichten. Es ist aber mindestens ebenso
wichtig, zuzulassen und zuzugestehen, dass diese Verpflichtungen auch Einmischung in sogenannte innere Angelegenheiten bedeuten. Für die internationale Staatengemeinschaft bedeuten sie wiederum die Notwendigkeit,
eben genau diese Einmischung vorzunehmen.
Dabei kommt auch uns wieder eine wichtige Rolle zu.
Wie bereits zu Anfang gesagt, fiel und fällt uns die Aufgabe nationaler Souveränität nicht leicht. Aber wir haben
aus der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges die Lehre
gezogen, dass es regionale und internationale Standards
geben muss, die uns zur Einhaltung von Menschenrechten
zwingen. Ein wichtiges Beispiel hierfür sind der Europarat und seine Organe, hier im Besonderen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. An seinem Beispiel
können wir auf der einen Seite erkennen, wie wichtig eine
solche regionale Instanz zur Wahrung der Menschenrechte ist. Auf der anderen Seite zeigt sich aber auch bei
der mangelnden Umsetzung der Urteile und der Reformdiskussion, wie schwer solch hehre Ziele in der Praxis
umzusetzen sind.
Insofern können wir an dieser Stelle unsere Erfahrungen mit unseren asiatischen Partnern teilen und gemeinsam nach Wegen suchen, Menschenrechte durchzusetzen
und zu wahren. Dass dazu die Frage der Einmischung
oder Nichteinmischung eine entscheidende Rolle spielt,
hat nicht zuletzt die Bundeskanzlerin bei ihrer Rede vor
Zu Protokoll gegebene Reden
der Parlamentarischen Versammlung des Europarats
deutlich gemacht, indem sie mit Bezug auf den Europarat
sagte: „Sie haben die Pflicht zur Einmischung!“
Am Ende ist es also mindestens genauso eine Frage
der Mentalität wie eine der Gesetze, die über den Erfolg
von Menschenrechtspolitik entscheidet. Das gilt für Europa genauso wie für die ASEAN-Staatengemeinschaft.
Der vorliegende Antrag lenkt den Blick auf die Menschenrechtslage in den ASEAN-Staaten, zu der die zehn
Länder Südostasiens zählen. Es gibt wohl keine andere
Region der Welt, in der die Unterschiede zwischen den
Nachbarn so grundlegend sind. Auch wegen dieser Heterogenität hat die ASEAN im Vergleich zur EU bisher nur
ein sehr geringes Maß an politischer Integration erreicht.
Die Institutionen der ASEAN tasten die Souveränität ihrer Mitgliedstaaten nicht an. Daher war es ein positiver
Schritt, dass die Mitgliedstaaten 40 Jahre nach Gründung der Organisation bei ihrem Gipfel am 22. November 2007 eine Charta für die ASEAN beschlossen haben.
Diese „ASEAN-Charta“ enthält insbesondere ein Bekenntnis der Mitglieder zu Demokratie, guter Regierungsführung, Ablehnung von verfassungswidrigem Regierungswechsel, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der
Menschenrechte. Bei Verstößen gegen die Charta soll die
Angelegenheit dem ASEAN-Gipfel zur Entscheidung vorgelegt werden. Damit beginnt ein Institutionalisierungsprozess, der dazu genutzt werden muss, bestehende Defizite bei der Achtung der Menschenrechte in den
Mitgliedstaaten zu beseitigen.
Vor diesem Hintergrund kommt der vorliegende Antrag zum richtigen Zeitpunkt. Der Antrag enthält eine zutreffende Beschreibung der menschenrechtlichen Situation in den Mitgliedstaaten. Dabei wird deutlich, dass es
in allen ASEAN-Staaten unterschiedlich gelagerte gravierende Menschenrechtsprobleme gibt. Einzige Ausnahme ist Brunei, wo trotz des seit 45 Jahren bestehenden
Ausnahmezustands die Menschenrechte Beachtung finden. Am schlimmsten ist das Verhalten der Militärregierung in Birma. Die dortige Menschenrechtslage muss als
dramatisch beschrieben werden. Das Regime, das seit
1962 mit harter Hand regiert, unterdrückt jegliche politische Opposition. So dauert der Hausarrest der Oppositionspolitikerin und Friedensnobelpreisträgerin Aun San
Suu Kyi an. Im September 2007 schlug die Junta eine von
Mönchen mitgetragene Protestbewegung gewaltsam nieder. Nach der Wirbelsturmkatastrophe im Mai 2008
stellte die Regierung Birmas ihre Rücksichtslosigkeit unter Beweis, als sie ausländischen Helfern über Wochen
den Zugang zu den Katastrophengebieten verwehrte und
so den Tod zahlreicher Zivilisten in Kauf nahm.
Mit Vietnam und Laos bestehen zwei sozialistische
Staaten in der Region, in denen die Regierungen trotz unterschiedlicher wirtschaftlicher Öffnungsschritte an ihrem Machtmonopol festhalten, indem sie systematisch demokratische Bestrebungen untergraben und zentrale
Menschenrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit unterdrücken. Vietnam hat seine politische Zensur insbesondere auf das Internet ausgeweitet. In Kambodscha behindert Ministerpräsident Hun Sen die Entwicklung der
Demokratie, während Korruption auch in höchsten Regierungs- und Justizkreisen an der Tagesordnung ist.
Singapur ist zum Sinnbild eines wirtschaftlich erfolgreichen, jedoch autoritär regierten Staates geworden, der
zwar die materiellen Bedürfnisse seiner Bürger befriedigen kann, ihnen aber politische Freiheiten vorenthält.
Ähnliches gilt in zunehmendem Maße für Malaysia.
Indonesien, das nach Jahrzehnten der Suharto-Diktatur 1990 die Demokratie einführte, hat große Fortschritte
hinsichtlich der Achtung bürgerlicher und politischer
Freiheitsrechte gemacht. Leider ist aktuell festzustellen,
dass das Tempo bei der Reform der Sicherheitsorgane
und der Justiz nachgelassen hat.
Auf den Philippinen sind neben zahlreichen Morden an
Journalisten, Gewerkschaftlern und Menschenrechtsverteidigern große Probleme hinsichtlich des Schutzes von
Kindern vor sexueller Ausbeutung zu beklagen. Ebenso
toben auf der Insel Mindanao zahlreiche ethnisch-religiöse
Konflikte, die zudem durch radikal-islamistische Gruppen angefacht werden.
Thailands regionale Vorreiterrolle bei der Achtung der
Menschenrechte, das neben wirtschaftlichem Wohlstand
bisher auch auf stabile demokratische Institutionen verweisen konnte, wurde durch den Putsch im September
2006 stark beschädigt. Seitdem hält die politische Unruhe im Land an. Bereits seit Wochen lähmen Demonstrationen das Land, bei denen Polizei und Regierungsgegner auch vor exzessiver Gewalt nicht zurückschrecken.
Thailand droht ins Chaos zu stürzen.
Angesichts dieser Bandbreite von Herausforderungen
zeigt der Antrag sinnvolle Maßnahmen zur Verbesserung
der Menschenrechtslage in den genannten Staaten auf. So
wird die Bundesregierung aufgefordert, im Rahmen des
EU-ASEAN-Dialogs dafür zu werben, dass alle ASEANStaaten grundlegende Menschenrechtsabkommen wie
den UN-Zivilpakt und den UN-Sozialpakt unterzeichnen
und ratifizieren. Bisher haben dies erst wenige ASEANStaaten getan.
Die Todesstrafe wird in vielen ASEAN-Staaten noch
angewandt. Dabei sind beispielsweise in Singapur auch
kleine Drogendelikte mit der Todesstrafe belegt. Hier
muss die Bundesregierung auf die Abschaffung dieser
grausamen und unmenschlichen Strafe drängen.
Bedauerlich ist, dass die Grünen ihren Änderungsantrag erst so spät ins Verfahren eingebracht haben. Doch
inhaltlich ist der Ergänzungsantrag der Grünen unterstützenswert. Der Kampf gegen die Diskriminierung und
Strafverfolgung von Menschen aufgrund ihrer Homosexualität gehört für uns Liberale zu einer aktiven und
umfassenden Menschenrechtspolitik. Es ist schädlich,
dass die Koalitionsfraktionen nicht dazu bereit waren,
dies in den Antrag aufzunehmen. Das Verschanzen hinter
Koalitionsvertrag und Verfahrensabläufen ändert daran
nichts.
Ich freue mich, dass der Deutsche Bundestag mit dem
vorliegenden Antrag ein konstruktives Signal für die Verbesserung der Menschenrechte in den ASEAN-Staaten
Zu Protokoll gegebene Reden
sendet. Angesichts der institutionellen Verdichtung der
ASEAN kommt er zum richtigen Zeitpunkt. Die FDP wird
den Antrag unterstützen. Wir werden aber genau darauf
achten, dass den Worten dann auch Taten folgen.
Der zu behandelnde Antrag der Koalitionsfraktionen
„Menschenrechte in der ASEAN-Staatengemeinschaft
stärken“ findet in meiner Fraktion keine Zustimmung.
Dies mag zunächst verwundern, wenn man sich den Katalog von Forderungen an die Bundesregierung anschaut, der viele richtige und wichtige Punkte enthält.
Aber aus zwei Gründen, die ich näher ausführen werde,
halten wir den Antrag für verfehlt. Zum einen halten wir
den Zeitpunkt der Einbringung für verfrüht, und zum anderen sind wir davon überzeugt, dass die Bundesregierung nicht die Glaubwürdigkeit besitzt, die Forderungen
des Antrages in Gesprächen mit Regierungsvertretern
der ASEAN-Staaten vorzubringen.
Warum halten wir die Einbringung des Antrages für
verfrüht? Die ASEAN-Staatengemeinschaft hat sich mit
ihrer Gründung vor 40 Jahren folgende Ziele gesetzt:
wirtschaftliche Integration, Zusammenarbeit und Sicherheit. Auf dem ASEAN-Gipfel 2004 in Laos haben sich die
Staaten ein weiteres Ziel ihrer politischen Bemühungen
gesetzt, nämlich die Förderung der Menschenrechte.
Schon vier Jahre später haben die Staaten dieses politische Ziel schriftlich fixiert und als „ASEAN-Charta“ auf
dem Gipfel in Singapur verabschiedet. Bereits bis Ende
2008 soll die Charta in den einzelnen Ländern ratifiziert
sein und in Kraft treten.
Wenn man bedenkt, dass die ASEAN-Staaten mehr als
500 Millionen Menschen höchst unterschiedlicher religiöser Prägung repräsentieren, dann erstaunt die Schnelligkeit der Umsetzung eines politischen Zieles in eine
Vereinbarung, die zukünftig als Maßstab für das menschenrechtspolitische Handeln herangezogen werden
kann. An deren Inhalt und Umsetzung müssen sich die
Staaten dann messen lassen.
Wie die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag dazu
richtig bemerken, markiert diese Vereinbarung ein neues
politisches Verständnis der Staatengemeinschaft, welches
Signalwirkung für den ganzen asiatischen Kontinent haben könnte.
Dass insgesamt akuter Handlungsbedarf bestand und
auch noch besteht, zeigen die Jahresberichte von Amnesty
International und Human Rights Watch.
Aber die ASEAN-Staaten haben sich mit der Verabschiedung der ASEAN-Charta angreifbar gemacht; ihr
Handeln kann nunmehr an den selbst festgeschriebenen
Maßstäben kritisiert werden. Dieser Fortschritt sollte
nicht gering bewertet werden.
Wir als westliche Wertegemeinschaft hinsichtlich unseres Menschenrechtsverständnisses und unserer europäischen Geschichte sollten diesen Staaten jetzt Gelegenheit und angemessene Zeit geben, diese Charta in ihren
Ländern zu implementieren und als erstrebenswerte Lebenswirklichkeit zu vermitteln. Ein solcher Prozess dauert seine Zeit und kann auch nicht als reiner Top-downProzess funktionieren und erfolgreich sein. Gerade vor
dem Hintergrund unserer europäischen Geschichte, welche auch eine Geschichte des Kolonialismus ist, welche
auch eine Geschichte des Kolonialismus in dieser Region
ist, sollten wir uns mit entsprechenden Ratschlägen einige Zeit zurückhalten.
Der zweite Punkt unserer Kritik betrifft die Frage der
Glaubwürdigkeit. Wenn die Bundesregierung auf dem
Gebiet der Menschenrechte anderen Staaten Ratschläge
erteilen soll, insbesondere wenn diese Staaten sich gerade auf den Weg machen, Menschenrechtsstandards
festzusetzen, aber selbst nur eine inkohärente Menschenrechtspolitik betreibt, halten wir dies für nicht angemessen.
Ich möchte dies an zwei Beispielen verdeutlichen. In
der Anhörung zum 8. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung kritisierten sieben NGOs, dass die Bundesrepublik hinsichtlich der Beachtung der sogenannten
WSK-Rechte deutliche Defizite hat. Natürlich ist der
Grundrechtsschutz in Deutschland hinsichtlich der sogenannten bürgerlichen Freiheitsrechte ausgesprochen gut
und hat sich über einen langen Zeitraum entwickelt. Wenn
nun aber die Bundesregierung ausgehend von diesem Zustand die ASEAN-Staaten kritisieren soll, dann muss sie
sich, ausgehend von diesem Zustand, hinsichtlich der
Nichtbeachtung der WSK-Rechte entsprechende Kritik
gefallen lassen. Diese Kritik wird jedoch mit fadenscheinigen Argumenten abgewiegelt. Hier sehen wir als
Fraktion ein Glaubwürdigkeitsproblem bei der internationalen Vermittlung von Menschenrechtsstandards.
Schließlich ist auf die skandalöse Asylpraxis gegenüber
Asylsuchenden aus Birma hinzuweisen. Im Antrag wird
die verheerende Lage in Birma benannt, aber eine entsprechende Veränderung der Asylpraxis unterblieb bis
heute.
Die ASEAN-Staatengemeinschaft hat im Jahr 2007
eine Menschenrechtscharta unterzeichnet, in die große
Erwartungen gesetzt wurden. Diese Erwartungen haben
sich leider bisher nicht erfüllt. Die in der Charta genannten Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zur Stärkung der
Demokratie, zu Rechtsstaatlichkeit und guter Regierungsführung sowie zur Achtung der Menschenrechte
bleiben in vielen ASEAN-Mitgliedstaaten fromme Wünsche. Durch die Betonung des Prinzips der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates
bleibt die Charta ein zahnloser Tiger. Mechanismen, die
gegen die Staaten in Kraft treten, die gegen die Charta
verstoßen, sind nicht vorhanden; Entscheidungen müssen
einstimmig getroffen werden. So wundert es kaum, dass
mittlerweile auch Birma die Menschenrechtscharta ratifiziert hat - ein Land, das weit entfernt ist von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Gewährleistung der Menschenrechte. Viel zu fürchten hat das Regime in Rangun
dadurch nicht.
Dennoch: Es ist gut und richtig, dass das Thema Menschenrechte durch die ASEAN-Staaten als Herausforderung angesehen wird. Jetzt müssen sie die Menschenrechtscharta auch mit Glaubwürdigkeit füllen. Ohne dass
Zu Protokoll gegebene Reden
Volker Beck ({0})
alle ASEAN-Staaten dem Zivilpakt und dem Sozialpakt
beitreten und die Todestrafe abschaffen, wird dies kaum
gelingen. Ohne wirksamen Schutz von Minderheiten, dem
Verbot von Zwangs- und Kinderarbeit und dem Bemühen
um Rechtsstaatlichkeit bleibt die Menschenrechtscharta
eine leere Hülle.
Wir sollten die Staaten in ihren Bemühungen um die
Verbesserung der Menschenrechtslage tatkräftig unterstützen, und ich hoffe, dass die Reise des Ausschusses für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe in diese Region
im Oktober/November hierzu beitragen kann. Dabei sollten wir auch von den guten Erfahrungen berichten, die
wir mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als supranationale und regionale Einrichtung in
dieser Hinsicht gemacht haben.
Was sicherlich nicht dazu beiträgt, den Druck auf Länder wie Birma zu erhöhen, ist, wenn wir selber offenbar
die Menschenrechtslage dort als in Ordnung ansehen.
Wie anders ist es sonst zu erklären, dass den wenigen
Flüchtlingen, die es aus Birma in die Bundesrepublik
schaffen - 2007 waren dies nur 78 Flüchtlinge -, der Zugang zum Asylverfahren in Deutschland dadurch verwehrt wird, dass nun selbst für die Zwischenlandung auf
deutschen Flughäfen ein Transitvisum verlangt wird, mit
der Begründung, dies solle die illegale Migration durch
missbräuchliche Asylantragstellung im Flughafentransitbereich verhindern. Die Anerkennungsquote bei Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bei Entscheidungen zu Birma liegt derzeit bei
73 Prozent. Dass hier in großem Umfang von Flüchtlingen missbräuchlich Asyl beantragt würde, davon kann
keine Rede sein. Die Lage in Birma ist leider schlecht genug. Ein entsprechender Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, diese Praxis wieder zu ändern, wurde abgelehnt.
Lassen Sie mich zum Schluss noch ein paar Sätze zu
unserem heutigen Änderungsantrag sagen. Leider wurde
in dem Antrag der Koalition eine Gruppe von Menschen
vergessen, die auch in den ASEAN-Staaten vielfältiger
Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt ist: Lesben
und Schwule. Unser Wunsch, den Antrag der Koalition
um die Forderung zu ergänzen, die Bundesregierung
möge sich für die Aufhebung strafrechtlicher Verbote der
Homosexualität in den ASEAN-Staaten einsetzen, wurde
im Ausschuss durch die CDU und leider auch die SPD abgelehnt mit der Ausrede, der Antrag sei von uns zu spät
eingebracht worden. Der Antrag wurde pünktlich zur ersten Behandlung des Antrages im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe als Tischvorlage von
uns eingebracht. Übrigens erinnere ich an dieser Stelle
an die vielen oft zentimeterdicken Tischvorlagen der Koalition, also durchaus ein übliches Verfahren. Danach
hatten Sie eine weitere Ausschusssitzung Zeit, zu einer
Meinung in der Sache zu kommen. Für das Plenum gilt
ihre Ausrede ohnehin nicht; denn ins Plenum wurde unser
Antrag zum frühestmöglichen Zeitpunkt eingebracht.
Wenn Sie also heute gegen diesen Antrag stimmen, dann
stimmen Sie aus inhaltlichen Gründen dagegen und nicht
aus Geschäftsordnungsgründen.
Dass hier menschenrechtliche Mindestforderungen
mit fadenscheinigen Begründungen abgelehnt werden, ist
beschämend. Es ist umso mehr beschämend, als in diesen
Fragen im Ausschuss eigentlich Konsens herrscht, abgesehen vielleicht von der Abgeordneten Steinbach, auf die
die Ablehnung wohl auch zurückgeht. Die menschenrechtliche Sprecherin Ihrer Fraktion hat ohnehin ein sehr
selektives Verständnis von Menschenrechten. Bei den
Menschenrechten für Homosexuelle hat Sie nur einmal
eine Ausnahme gemacht, als man unter Hinweis auf die
Behandlung der Homosexuellen die polnische Regierung
kritisieren konnte. Dies ist eine Selektivität, die Sie bei
der Linken oft zu Recht kritisieren.
Die Aufhebung der strafrechtlichen Verbote von
Homosexualität gehören nicht nur aufgrund der Rechtsprechung des EGMR zu den menschenrechtlichen Mindeststandards, sondern die Verbote verstoßen nach Feststellung des UN-Menschenrechtsausschusses - im Fall
Toonen gegen Australien 1994 - auch eindeutig gegen
den Zivilpakt. In einem Antrag zur Stärkung der Menschenrechte in dieser Region gehört dieser wichtige
Punkt deshalb unabdingbar hinzu, zumal alle anderen
wesentlichen menschenrechtlichen Aspekte genannt sind.
Die Nichtaufnahme dieser Forderung schwächt die Aussage des Antrages insgesamt. Sie stellen damit die Unteilbarkeit und Universalität der Menschenrechte infrage.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10561, den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/7490 anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor,
über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/10626? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist
mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der
Opposition abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10561? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 3. März 2008
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Zentralrat der Juden in Deutschland
- Körperschaft des öffentlichen Rechts - zur
Änderung des Vertrages vom 27. Januar 2003
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Zentralrat der Juden in Deutschland
- Körperschaft des öffentlichen Rechts - Drucksache 16/10296 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 16/10594 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Berichterstattung:
Abgeorndete Kristina Köhler ({1})
Dr. Max Stadler
Wolfgang Wieland
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/10621 Berichterstattung:
Abgeordnte Dr. Michael Luther
Bettina Hagedorn
Jürgen Koppelin
Roland Claus
Omid Nouripour
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Kristina Köhler, CDU/
CSU, Maik Reichel, SPD, Hans-Michael Goldmann, FDP,
Petra Pau, Die Linke, Wolfgang Wieland, Bündnis 90/
Die Grünen.
Heute ist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland
die drittgrößte in Europa, bedingt vor allem durch die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion
seit den 1990er-Jahren. Es gibt aktuell rund 110 jüdische
Gemeinden.
Diese Entwicklung hat die Bedeutung und die Aufgaben der jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik
erhöht und erfreulicherweise zu einer neuen Blüte des jüdischen Lebens und praktizierter jüdischer Religion geführt. Das Judentum besteht aus vielfältigen Strömungen
und Auffassungen. Es ist ein lebendiger, wichtiger Teil
unserer Gesellschaft, der uns bereichert, der uns inspiriert und der endlich wieder in unserer Gesellschaft verstärkt präsent ist.
Es ist verlockend, an dieser Stelle von einer Rückkehr
zur Normalität jüdischen Lebens wie vor dem Holocaust
zu sprechen. Ich werde mich jedoch hüten, das zu tun.
Dies lassen die vielen Menschenleben, die damals in so
unfassbarer Anzahl zerstört wurden, einfach nicht zu.
Und, dass es diese Normalität nicht gibt, davon zeugen
auch die vielen Sicherheitsvorkehrungen vor jüdischen
Einrichtungen.
Eine neue Blüte der jüdischen Gemeinschaft in der
Bundesrepublik jedoch, das ist ein zentrales Anliegen unserer Gesellschaft, das wir nicht müde werden sollten zu
unterstützen und zu befürworten. Darauf müssen wir gemeinsam hinwirken und die begonnene Zusammenarbeit
weiterführen.
Um die Entwicklung der hiesigen jüdischen Gemeinschaft von staatlicher Seite zu unterstützen, wurde am
Holocaust-Gedenktag, also am 27. Januar, im Jahr 2003
mit einhelliger Zustimmung des Parlaments der Staatsvertrag zwischen der Bundesregierung und dem Zentralrat der Juden in Deutschland geschlossen. Das Abkommen hat sich mittlerweile als gute und feste Grundlage
der Partnerschaft zwischen Bund und der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland bewährt. Es ist ein Zeichen,
dass wir um unsere historische Verantwortung wissen, ein
Zeichen, dass wir gemeinsam die Zukunft der jüdischen
Gemeinschaft in Deutschland gestalten wollen.
Jetzt geht es hier im Bundestag darum, dieses Zeichen
angemessen zu erneuern und neuen, aktuellen Anforderungen gerecht zu werden. Nach fünf Jahren, so sieht es
das Vertragswerk vor, dürfen die Vertragsparteien eine
Anpassung der Leistung des Bundes an den Zentralrat
der Juden vornehmen. Die Bundesregierung und der Zentralrat der Juden in Deutschland haben sich auf eine Aufstockung der Leistung von 3 Millionen auf 5 Millionen
Euro im Jahr, beginnend mit dem Haushaltsjahr 2008,
geeinigt. Diese Aufstockung bedarf der Form eines Bundesgesetzes; so ist es im Vertrag geregelt.
Wofür diese Erhöhung? Der Zentralrat der Juden steht
in Deutschland vor wachsenden Aufgaben und neuen Anforderungen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland.
Vor 1991/92 hatten die jüdischen Gemeinden in Deutschland weniger als 30 000 Mitglieder, für 2007 wurden
knapp 110 000 gezählt. Fast alle Neuzugänge, und zwar
rund 100 000 Gemeindemitglieder, stammen aus den
Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Damit ist seitens
der jüdischen Gemeinden eine großartige Integrationsleistung vollbracht worden.
Die gewachsene Zahl der Gemeinden hat die Nachfrage nach Dienstleistungen des Zentralrats erhöht.
Wichtig sind in diesem Zusammenhang die integrationspolitischen Maßnahmen des Zentralrats. Dazu zählen
insbesondere die sehr zahlreich angebotenen Sprachkurse, die die Grundlage für jede gelungene Integration
bilden. Eine weitere Aufgabe des Zentralrats ist die Betreuung der Gemeinden in Sicherheitsfragen. Außerdem
wird der Zentralrat die erhöhten Mittel für die Verstärkung seiner Kulturarbeit und seiner Öffentlichkeitsarbeit
einsetzen.
Hervorzuheben ist zudem, dass der Zentralrat sich in
Übereinkunft mit der Bundesregierung allen Strömungen
des jüdischen Lebens in Deutschland annimmt und für sie
offen ist. Daher wird der Zentralrat der Juden nun die
Ausbildung der Rabbiner bzw. die entsprechenden Rabbinerseminare der unterschiedlichen religiösen Strömungen institutionell - also auf Dauer - fördern. Zu nennen
ist hier beispielsweise das Abraham-Geiger-Kolleg in
Potsdam. Damit bringt der Zentralrat seine Offenheit für
alle Richtungen innerhalb des Judentums zum Ausdruck,
ein Punkt, der den Vertragsparteien besonders wichtig
ist.
Die jüdische Gemeinschaft ist in ihrer Entwicklung in
Deutschland auf einem guten Weg, und die Erhöhung der
Staatsleistung wird diesen Prozess unterstützen. In den
letzten Jahren sind neue Synagogen und Gemeindehäuser errichtet worden, und dies nicht nur in den großen
Zentren. Im September wurden in Krefeld und Bielefeld
neue Synagogen eingeweiht. Das sind Zeichen, die auch
über die Staatsgrenzen hinweg bemerkt werden.
In Deutschland werden wieder Rabbiner ausgebildet,
im Jahre 2006 fanden die ersten rabbinischen Ordinatio19562
Kristina Köhler ({0})
nen in Deutschland nach der Shoa statt. Jetzt, im Jahr
2008 wurde in Berlin mit einer in Westeuropa bislang einzigartigen Ausbildung für Kantoren begonnen. Diese
Entwicklung ist erfreulich und - so hat es Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble oftmals ausgedrückt - ein
Geschenk. Diesen eingeschlagenen Weg werden wir weitergehen.
Dieser Weg ist mit der Hoffnung verknüpft, dass in der
Zukunft Polizeisperren und Sicherheitsschleusen für jüdische Einrichtungen, aber auch alltägliche antisemitische
oder antizionistische Äußerungen in Deutschland ein Relikt der Vergangenheit sein werden. Die Anpassung der
Bundesmittel im Rahmen des Staatsvertrages ist daher
ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, und ich
freue mich, dass das hierfür notwendige Änderungsgesetz
auf Bundesebene heute verabschiedet wird.
Am 27. Januar 2003, dem Tag des Gedenkens an die
Opfer des Nationalsozialismus, wurde ein Vertrag geschlossen, der erstmals rechtlich verbindliche Festlegungen für die Zusammenarbeit zwischen der jüdischen Gemeinschaft und dem Staat traf. Dieser Vertrag gewährt
dem Zentralrat der Juden als größtem Dachverband der
jüdischen Gemeinden in Deutschland finanzielle Unterstützung in Form einer jährlichen Staatsleistung. Der
Vertrag legt auch fest, dass sich die Vertragspartner jeweils nach fünf Jahren hinsichtlich einer Anpassung der
Leistung verständigen werden. Dies haben wir nun heute
zu entscheiden.
Der neue Gesetzentwurf sieht vor, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre jährliche Staatsleistung von
3 auf 5 Millionen Euro erhöhen wird. Dies geschieht „vor
dem Hintergrund wachsender Aufgaben und neuer Anforderungen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland“,
wie es in der Begründung heißt. Dort wird auch betont,
dass sich der Vertrag „als tragfähige Grundlage für eine
kontinuierliche und partnerschaftliche Zusammenarbeit
der Vertragsparteien bewährt“ hat. Der erhöhte Betrag
wird bereits in diesem Jahr in voller Höhe gewährt; im
Bundeshaushalt 2008 ist dafür Vorsorge getroffen.
Die Staatsleistung der Bundesrepublik an den Zentralrat der Juden ist mehr als nur die Unterstützung für eine
Religionsgemeinschaft. Sie soll „zur Erhaltung und
Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes, zum Aufbau
einer jüdischen Gemeinschaft und den integrationspolitischen und sozialen Aufgaben des Zentralrats in Deutschland“ beitragen. Wir alle wissen, dass dies als Folge des
einschneidenden Zivilisationsbruchs in der deutschen
Geschichte während des Nationalsozialismus immer
noch besondere Anstrengungen erfordert.
Als der bekannte Vertreter des deutschen liberalen Judentums Leo Baeck 1945 aus dem Konzentrationslager
Theresienstadt befreit worden war, sah er keine Hoffnung
für jüdisches Leben in Deutschland mehr:
Für uns Juden in Deutschland ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen. Eine solche geht zu Ende,
wenn immer eine Hoffnung, ein Glaube, eine Zuversicht endgültig zu Grabe getragen werden muss.
Unser Glaube war es, dass deutscher und jüdischer
Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch
ihre Vermählung zum Segen werden könnten. Dies
war eine Illusion - die Epoche der Juden in
Deutschland ist ein für alle Mal vorbei.
Die Vorstellung, dass Juden in Deutschland je wieder
heimisch werden könnten, schien damals tatsächlich absurd zu sein. Deutschland hatte den Völkermord an den
europäischen Juden in grauenhafter Perfektion geplant
und ins Werk gesetzt. Es hatte sich damit gleichzeitig
selbst einen Aderlass zugefügt, hatte einen großen Teil
seiner Bevölkerung vertrieben und ermordet. Deutschland lag nicht nur materiell in Trümmern, sondern war
auch geistig und kulturell verödet und vergiftet. Insbesondere der Antisemitismus war nicht nur offizielle Propaganda, sondern auch vielfach persönliche Gesinnung geworden.Von mehr als 500 000 Mitgliedern jüdischer
Gemeinden, die 1933 noch in Deutschland mitten im gesellschaftlichen Leben ihren Platz gehabt hatten, waren
1945 nur noch 15 000 übriggeblieben. In den nächsten
Jahrzehnten des demokratischen Neuanfangs wuchs die
Zahl langsam wieder bis 1989 auf circa 30 000 an.
Heute haben die jüdischen Gemeinden in Deutschland
mehr als 100 000 Mitglieder. Vor allem ist dies der Zuwanderung aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion zu verdanken. Diese neuen Mitglieder aus dem
europäischen Osten haben die jüdischen Gemeinden in
eine ganz neue Situation gebracht; sie haben sie wiederbelebt und auch verjüngt. Verbunden waren damit natürlich auch ganz neue und nicht gerade kleine Probleme der
Selbstverständigung, des Zusammenfindens, der Integration verschiedenster sozialer, geistiger, kultureller Prägungen. So ist in Deutschland heute wieder eine sehr vitale und vielfältige neue jüdische Gemeinschaft zu Hause.
Gegenseitiges Vertrauen ist gewachsen, Vertrauen in die
gefestigte demokratische Basis unseres Landes. Dennoch
wissen wir alle, dass wir eine „Normalität“ des Zusammenlebens zwar erstreben, aber noch nicht erreicht haben. Immer noch müssen jüdische Einrichtungen geschützt werden, werden Straftaten mit antisemitischem
Hintergrund in relevanter Zahl registriert. Leider ist Antisemitismus immer noch und immer wieder ein Problem.
Das Problembewusstsein allerdings wächst erfreulicherweise in der Gesellschaft ebenfalls, und es bleibt nicht
nur passiv.
Der Staatsvertrag 2003 war durch den Zentralrat der
Juden initiiert worden, der seit seiner Gründung 1950
große Verdienste um den Wiederaufbau und die demokratische Kultur in Deutschland hat und ein verlässlicher
Partner der Bundesrepublik in vielen gesellschaftspolitischen Fragen geworden ist. Er bekennt sich dazu, dass er
die religiösen Interessen aller Juden in Deutschland vereinigt - von streng orthodoxen bis zu Reformgemeinden,
konservativen und liberalen Gemeinden. In diesem Sinne
hat er sich auch mit dem zweitgrößten Dachverband in
Deutschland, der Union progressiver Juden, verständigt.
So gehen wir davon aus, dass die erhöhten Bundesmittel
der gesamten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland mit
all ihren Gruppierungen zugutekommen werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Da wir uns heute, am dritten Tag des jüdischen Laubhüttenfestes Sukkot, noch mitten in den Hohen Feiertagen
zum jüdischen Neujahrsfest befinden, möchte ich zum Abschluss unseren jüdischen Mitbürgern - und uns allen ein gutes neues Jahr wünschen.
Vor fünf Jahren hat dieses Hohe Haus in einem sonst
seltenen Einvernehmen beschlossen, dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik und dem Zentralrat der Juden
in Deutschland zuzustimmen. Heute wollen wir diese
richtige und gute Entscheidung bekräftigen. Es gilt, die
Höhe der vertraglich vereinbarten finanziellen Zuwendung an die neuen Umstände und an die wachsenden
Funktionsbereiche des Zentralrates anzupassen.
Eine wichtige Messlatte bei der Berechnung der Leistungsanpassung ist die Entwicklung der vom Zentralrat
repräsentierten Gemeindemitglieder. Dabei sollten wir
uns nicht nur an diesem quantitativen Kriterium orientieren, sondern auch die Inhalte bedenken. Die Ziele, die wir
uns damals gemeinsam mit dem Zentralrat gesetzt haben,
sind langfristig und haben heute noch Bestand. Wir wollen nämlich zur Erhaltung und Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes, zum Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft und zu den integrationspolitischen und sozialen
Aufgaben des Zentralrats der Juden beitragen. Die Bundesregierung hat sich des Weiteren verpflichtet, den Zentralrat bei der Erfüllung seiner überregionalen Aufgaben
sowie den Kosten seiner Verwaltung finanziell zu unterstützen.
Der klare und positive Beschluss des Deutschen Bundestages von 2003 erwies sich als ein kluger Kompromiss, insbesondere vor dem Hintergrund der Ansprüche
seitens Vertreter liberaler jüdischer Strömungen. Damals
wie heute müssen wir uns im Klaren sein, wem wir finanzielle Unterstützung mit diesem Vertrag leisten. Bekanntlich ist der Zentralrat der Juden in Deutsland ein
Zusammenschluß von 102 jüdischen Gemeinden und
23 Landesverbänden, die insgesamt 95 Prozent aller organisierten deutschen Juden repräsentieren. Er fungiert
als Vermittler zwischen den Juden in Deutschland und der
Bundesregierung und verfügt wie alle anderen Religionsgemeinschaften über Selbstbestimmungsrecht und darf
allein über die eigenen Mitgliedskriterien entscheiden.
Wir als Vertreter eines weltanschaulich neutralen
Staates haben den Wunsch geäußert, dass die finanzelle
Förderung, insbesondere die integrations- und sozialpolitischen Leistungen, „allen jüdischen Bürgerinnen und
Bürger, gleich welcher Ausrichtung, zugutekommen“.
Wir wollten auch die verhältnismäßig wenigen Vertreter
des Judentums, die sich durch den Zentralrat nicht vertreten fühlen, einbeziehen. Der Zentralrat hat seinerseits
vertraglich bestätigt, im Rahmen seines Selbstverständnisses offen für alle Richtungen innerhalb des Judentums
zu sein, und diese Zusage in die Realität umgesetzt.
Ich freue mich sehr, dass jetzt, fünf Jahre später, der
Zentralrat als bedeutendste jüdische Institution in
Deutschland und die Union progressiver Juden als ein
kleinerer Partner den Weg zueinander gefunden haben
und dass somit tatsächlich die überwiegende Mehrheit
der Juden in unserem Land in die Gunst der finanziellen
Leistungen kommt. Mit der Kompromissbereitschaft beider Seiten hat sich manch eine Prophezeiung, der Vertrag
beziehe sich „auf eine ungewisse und konfliktträchtige
Zukunft“, als ungerechtfertigt erwiesen. Die Förderung
der ganzen jüdischen Gemeinschaft samt progressiven
Strömungen ist mir als liberalem Religionspolitiker besonders wichtig, hat doch das Judentum insgesamt viele
Facetten und seine liberale Strömung eine lange und reiche Tradition in unserem Land.
Von den 13 Millionen Juden weltweit leben heute etwa
110 000 in Deutschland. Wir haben immer noch eine der
größten jüdischen Gemeinschaften Europas. Als Gesetzgeber und höchstes Gremium der Legislative haben - neben den Ländern - auch wir auf Bundesebene dafür Sorge
zu tragen, dass jüdisches Leben in der Mitte der Gesellschaft bleibt. Deshalb ist dieses Vertragswerk kein Selbstzweck, sondern ein Instrument der Förderung der unterstützenswerten Arbeit des Zentralrats der Juden. In der
trockenen Juristensprache nennt sich dieses Instrument
„Staatsleistung“. In der Tat ist es eine finanzielle Grundlage für die anspruchsvolle und vielseitige Tätigkeit des
Zentralrates und ein Beitrag der Gesamtheit der Gesellschaft für die Aufrechterhaltung der einzigartigen
deutsch-jüdischen Kultur. Wir dürfen aber keinesfalls
meinen, dass wir mit der Auszahlung von Geldern - auch
der erhöhten Summe - unserer Verantwortung für die Unterstützung des jüdischen Lebens in unserem Land ledig
geworden sind. Die Politik soll die Rahmenkonditionen
dafür schaffen, und die finanzielle Komponente ist nur
eine notwendige Voraussetzung von vielen.
Bei der Verwirklichung der Ziele dieses Vertrages
spielen Eigeninitiative, persönliches Engagement und
das Interesse eines jeden von uns eine zentrale Rolle.
Denn das Zusammenleben bleibt auch in der modernen
und globalisierten Gesellschaft eine Herausforderung,
die den guten Willen und den Mut aller Beteiligten erfordert. Es geht dabei vor allem um den Mut, gegen Vorurteile vorzugehen. Leider wirkt das Gift des Antisemitismus immer noch im Körper unserer Gesellschaft. Es muss
nachhaltig mit dem Gegenmittel der Beseitigung von Vorurteilen und Unwissenheit behandelt werden. Die FDP
widmet dieser Problematik große Aufmerksamkeit und
bringt stets eigene Überlegungen in die Debatte ein. Wir
haben konkrete Maßnahmen gefordert, die auf die Bekämpfung von Antisemitismus abzielen. Wir sind aber
auch für weitere Vorschläge offen.
Es stimmt zwar, dass unsere Bemühungen um das jüdische Leben in Deutschland auf der geschichtlichen
Verantwortung fußen, eine Wiedergutmachung ist dieses
Vertragswerk und die mit ihm zusammenhängende
Staatsleistung jedoch nicht: Eine Wiedergutmachung des
unermesslichen Leides kann es nicht geben; darin sind
wir uns einig.
Ich schließe mich der prägnanten Metapher der
„FAZ“ an, dass der Staatsvertrag „neue Saatkörner enthält“, hoffe jedoch weiterhin, dass auch „der alte Flor“
wiederkehrt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Erstens. Es geht in dieser Debatte und mit der folgenden Abstimmung darum, einen Vertrag zwischen der Bundesregierung und dem Zentralrat in Kraft zu setzen. Mit
diesem Vertrag verpflichtet sich die Bundesregierung,
den Zentralrat der Juden in Deutschland auch finanziell
zu unterstützen. Konkret geht es um 5 Millionen Euro
jährlich, beginnend 2008 und mit einer Laufzeit von fünf
Jahren. Mit diesem Geld sollen jüdisches Leben, Kultur
und Religion in der Bundesrepublik Deutschland unterstützt werden. Die Fraktion Die Linke begrüßt das ausdrücklich.
Zweitens. Gleichwohl wiederhole ich einen Appell,
den ich bereits 2003 aus gleichem Anlass an den Zentralrat der Juden gerichtet habe, nämlich die Hoffnung, dass
alle jüdischen Einrichtungen und Richtungen von dem
Geld etwas haben, allemal von den 2 Millionen Euro
mehr pro Jahr. Damit meine ich auch jüdische Stätten und
Initiativen, die nicht unter dem Dach des Zentralrates der
Juden in Deutschland vereint sind. Auch sie gehören zur
kulturellen Vielfalt hierzulande und zum neuen jüdischen
Leben in Deutschland. Auch sie verdienen Unterstützung.
Drittens. Abschließend spreche ich ein konkretes Problem an, das nicht über diesen Vertrag - jedenfalls nicht
allein durch ihn - zu lösen ist. Das Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam ist eine von zwei anerkannten jüdischen
Ausbildungseinrichtungen, und es ist in Gefahr. Finanziert wird es aus verschiedenen Quellen. Eine davon besteht aus Spenden, insbesondere aus den USA. Und genau
diese brechen jetzt offenbar weg. Die weltweite Finanzkrise - so die akuten Anzeichen - lässt diese Quelle versiegen. Es fehlen aktuell rund 150 000 Euro pro Jahr.
Nach meinen Informationen war der Zentralrat der Juden
bisher nicht bereit, seine finanziellen Hilfen aufzustocken, und die Kultusministerkonferenz der Länder hat
sich bisher nicht auf Zuschüsse geeinigt. Beides wäre
aber nach Lage der Dinge bitter nötig.
Vor gut fünf Jahren wurde ein längst überfälliger
Schritt endlich in die Tat umgesetzt und ein Vertrag zwischen der Bundesrepublik und dem Zentralrat der Juden
in Deutschland geschlossen. Mit diesem Vertrag wurden
nach vielen Jahren die Rolle und die Arbeit des Zentralrates voll anerkannt. Seit seiner Gründung hat der Zentralrat große Leistungen zum Wideraufbau der jüdischen
Gemeinden in Deutschland und zur Integration nach
Deutschland zurückgekehrter und zugewanderter Juden
vollbracht. Mit dem Staatsvertrag hat die damalige rotgrüne Bundesregierung die Beziehungen zum Zentralrat
auf eine solide und belastbare Basis gestellt. Sie müssen
weiter gefestigt werden.
Die Aufgaben, die der Zentralrat in unserer Gesellschaft übernimmt, sind vielfältig: Sie reichen von der
Förderung der jüdischen Kultur und des jüdischen Gemeindelebens in all seinen lebendigen Ausprägungen bis
zum umfassenden Einsatz für das gegenseitige Verständnis von Juden und Nichtjuden. Auf all diesen Feldern sind
die zu bewältigenden Aufgaben in den letzten Jahren gewachsen. Das hat vor allem mit der höchst erfreulichen
Tatsache zu tun, dass die jüdischen Gemeinden in
Deutschland stetig mehr Mitglieder aufnehmen, insbesondere auch deshalb, weil seit dem Zusammenbruch der
Sowjetunion viele jüdische Migrantinnen und Migranten
aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind. Wir heißen sie willkommen. Sie bereichern
das gesellschaftliche Leben in unserem Land.
Wir freuen uns über die neue Vielfalt jüdischen Lebens
und darüber, dass neue Synagogen gebaut werden, gerade dort, wo vorher keine jüdischen Gemeinden existierten. Die dafür notwendigen Rabbiner und Kantoren erhalten ihre Ausbildung auch am Abraham-Geiger-Kolleg
hier ganz in der Nähe, in Potsdam. Das Geiger-Kolleg
leistet dafür einen weit über seine Möglichkeiten gehenden Beitrag. Ich würde mich freuen, wenn deshalb alle an
der Finanzierung des Kollegs Beteiligten nochmals ihren
Beitrag überprüfen könnten.
Die Aufgaben des Zentralrats weiten sich aus, und damit erhöht sich auch sein finanzieller Bedarf. Dieser Tatsache trägt der mit diesem Gesetz zu ratifizierende Vertrag Rechnung. Die bisher vereinbarte Summe von
3 Millionen Euro jährlich hat sich aufgrund gestiegener
Preise und Personalkosten und wegen des Anwachsens
ihrer Aufgabe als nicht mehr ausreichend erwiesen. Die
Erhöhung auf 5 Millionen Euro erscheint uns also eindeutig gerechtfertigt. Wir gehen davon aus, dass dem
Zentralrat damit die Mittel gegeben werden, die er zur
Bewältigung seiner Aufgaben benötigt.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10594, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/10296 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu
erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Peter Bleser, Julia
Klöckner, Uda Carmen Freia Heller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Gustav Herzog, Volker
Blumentritt, Dr. Gerhard Botz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schutz vor Pflanzenschutzmittelrückständen
in Lebensmitteln verstärken
- Drucksachen 16/6958, 16/8136 Berichterstattung:
Abgeordnete Julia Klöckner
Dr. Christel Happach-Kasan
Cornelia Behm
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Julia
Klöckner, CDU/CSU, Gustav Herzog, SPD, Dr. Christel
Happach-Kasan, FDP, Karin Binder, Die Linke, Cornelia
Behm, Bündnis 90/Die Grünen.
Die Schlagzeilen der vergangenen Wochen und Monate unterstreichen die Bedeutung des Themas und die
Wichtigkeit unseres Antrages: Pestizidbelastungen bei
Mandarinen, Äpfeln oder anderem Obst und Gemüse
oder verschiedene Gewürzmischungen mit überhöhten
Pestizidrückständen bestimmen leider viel zu oft unseren
Alltag.
Auch der Bericht des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit diese Woche hat leider
alarmierende Ergebnisse zu Tage gebracht: In Kopfsalat,
Äpfeln, Zuchtchampignons sowie Grün- und Wirsingkohl
wurden 2007 häufig die gesetzlichen Höchstmengen
überschritten. Bei einigen Proben von Kopfsalat, Grünkohl, Austernseitlingen und Tomaten lag die Belastung
laut Bundesamt so hoch, dass bei einmaligem Verzehr gesundheitliche Beeinträchtigungen nicht auszuschließen
sind. Ohne diese Warnhinweise zu verharmlosen: Bei
Grünkohl und Austernseitlingen findet kein Rohverzehr
statt, sodass die akute Toxizität nur für das verzehrfertige,
gekochte Erzeugnis bewertet werden sollte, nicht aber für
den ungekochten Zustand. Ebenfalls durchgefallen sind
sieben von zehn Salatköpfen - Kopfsalat oder Römersalat -, hier wurden gleich die Rückstände mehrerer
Wirkstoffe gefunden.
Diese Ergebnisse lassen uns aufschrecken und sind ein
Warnhinweis: Dennoch kann Schwarz-Weiß-Denken
nicht die Antwort sein. Dass der Leiter des Bundesamtes
die Folgerung zog, man sollte Bioprodukte kaufen, um
auf Nummer sicher zu gehen, diskreditiert konventionell
hergestellte Produkte. Im Gegenteil: Auch in Biowaren
sind erhebliche Belastungen bei Untersuchungen gefunden worden. Gesundheitsgefährdende Rückstände haben
nichts in Nahrungsmitteln zu suchen - ganz gleich ob Biooder Nichtbioprodukte. Übrigens: Dänische Forscher
haben Folgendes herausgefunden und veröffentlicht:
Ökoprodukte enthalten nicht mehr Vitamine als herkömmlich produzierte Produkte. Der Grund: Klimaeinflüsse wirken sich weit mehr auf das Wachstum aus als die
Form des Anbaus. Weder ist biologisch angebautes Obst
und Gemüse reicher an Nährstoffen und Spurenelementen, noch werden diese besser vom Körper aufgenommen.
Zwar haben laut Stiftung Warentest die wenigsten Produkte Pestizidrückstände, dafür bewirkt der Naturdünger
nur allzu oft Salmonellen oder die Gefahr vor Darmbakterien. Die Durchfallerreger sitzen nicht nur außen auf
Salat, Tomaten und Sprossen, sie dringen auch in die
Pflanzen ein. Bei Rückständen von Schimmelpilzgiften
zum Beispiel auf Getreide schneiden Bioprodukte auch
nicht generell besser ab. Es lohnt sich daher, immer wieder einmal die Testergebnisse von Stiftung Warentest anzusehen.
Bei aller angebrachter Kritik: Die in Deutschland erzeugten landwirtschaftlichen Produkte weisen einen hohen Sicherheits- und Qualitätsstandard auf. Hier werden
Lebensmittel so umfassend wie in keinem anderen europäischen Land auf Rückstände von Pflanzenschutzmitteln
überprüft. Das zeigt sich auch daran, dass laut Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittel bei importiertem Obst und Gemüse die Höchstgehalte weitaus häufiger als von deutschen Lebensmitteln überschritten
werden. Dies liegt nicht zuletzt an der unterschiedlichen
gesetzlichen Handhabung in den einzelnen Ländern. In
vielen Nachbarländern sind die gesetzlichen Höchstgehalte bestimmter Wirkstoffe höher als in Deutschland.
Hinzu kommt: Die gesetzlichen Höchstmengen sind
Handelsnormen. Sie geben wieder, ob ein Pflanzenschutzmittel vorschriftsmäßig angewandt wurde. Von einer gesundheitlichen Gefährdungsgrenze sind sie weit
entfernt. Denn Grenzwerte haben einen hohen Sicherheitspuffer, sodass auch bei geringfügigen Überschreitungen nicht mit gesundheitlichen Risiken zu rechnen ist.
Willkürliche Vorgaben bei Rückstandsdaten - wie bei einigen der Greenpeace-Untersuchungen - führen dagegen
nur zur Verunsicherung der Verbraucher: Hinweise auf
Gefahren ja, aber bitte keine Pauschalisierung! Gerade
bei hoch sensiblen Produkten wie Lebensmitteln gilt es,
mit Äußerungen vorsichtig umzugehen. Denn bei aller
kritischen Betrachtungsweise: Wir reden hier über ein
Restrisiko und die Verbesserung der Bewertungspraxis wir bewegen uns im Bereich der Vorsorge und nicht in Abwehr akuter Gefahren. Durch pauschale Aussagen wird
oft der Anschein erweckt, mit der konventionellen Nahrungsaufnahme würde der Verbraucher systematisch vergiftet - und den offiziellen Lebensmittelüberwachungsbehörden wird die Kontrollkompetenz aberkannt, zugunsten
eigener willkürlicher Stichprobenanalysen, die schon
aufgrund ihrer geringen Anzahl keiner wissenschaftlichen Prüfung standhalten.
Kurzum: Wer meint, möglichst viele Pflanzenschutzmittel vom europäischen Markt verbannen zu müssen,
sollte die Folgen für den Obstbau und die Landwirtschaft
bedenken. Wenn die 1,5 Milliarden Hektar Ackerflächen
auf der Welt ohne Dünger und Pflanzenschutz genutzt
würden, würden noch mehr Menschen als bisher verhungern. Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln ermöglicht
es heute, in der Landwirtschaft hohe und sichere Erträge
zu erzielen und damit die Versorgung mit hochwertigen
und erschwinglichen landwirtschaftlichen Produkten
auch für eine wachsende Bevölkerung sicherzustellen.
Gesunde Nahrungsmittel mit sicherem Pflanzenschutz
sind somit keine Vision, sondern praktisches Bekenntnis
für die nachhaltige Landwirtschaft, damit sie qualitativ
hochwertige, gesunde Lebensmittel erzeugen kann. Es
geht dabei nicht um die Quantität, sondern um die Qualität von Pflanzenschutzmitteln.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Dort, wo es angebracht ist und Pestizidrückstände den Grenzwert überschreiten, muss der Finger in die Wunde gelegt werden. In
längst nicht allen Ländern, aus denen wir für unseren
Markt Obst und Gemüse beziehen, wird unter den Vorgaben produziert, wie wir uns das vorstellen. Entsprechende
Grenzkontrollen und Kontrollen vor Ort sind deshalb zu
verstärken.
Denn in einem sind wir uns doch alle einig: Ein Überschreiten der Grenzwerte oder gar der Schwelle zur gesundheitlichen Bedenklichkeit ist dabei unter keinen
Umständen zu akzeptieren. Um das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher in die Sicherheit ihrer
Lebensmittel sicherzustellen, müssen diese Verstöße gegen das Lebensmittelrecht auf ein absolutes Minimum begrenzt werden. Schwarze Schafe wird es leider immer geben. Aber wir müssen es ihnen so schwer wie möglich
machen! Umso wichtiger ist es, unsere selbst gesetzten
Ziele im Bereich chemischer Pflanzenschutz zügig umzusetzen. Wichtig ist uns hierbei aber vor allem eines: Damit eine Reduzierung der Rückstände von Pflanzenschutzmitteln in allen Lebensmitteln erzielt wird, müssen
insbesondere die Importe aus den EU-Mitgliedsländern
und nicht EU-Ländern intensiv kontrolliert werden. Die
Reduzierung der Überschreitungsrate von Pflanzenschutzmittel-Rückstandshöchstmengen dürfen nicht nur
bei unseren heimischen Agrarprodukten auf unter ein
Prozent abgesenkt werden, sondern auch Importe aus anderen EU-Mitgliedstaaten und aus Drittstaaten. Denn
wir dürfen unseren eigenen Landwirten nicht mehr zumuten als ausländischen Importeuren aus Spanien, Italien
oder anderen Ländern. Hier müssen wir mit gleicherlei
Maß messen!
Auch eine Standardisierung der Kriterien bei der amtlichen Lebensmittelkontrolle muss weiterentwickelt und
vor allem innergemeinschaftlich harmonisiert werden.
Wichtig ist hier eine klare Definition von Summenhöchstwerten, um den Verbrauchern mit sachgemäßen Informationen bei ihrer Kaufentscheidung zu helfen. Eine
wichtige Hilfestellung gibt hier das Verbraucherinformationsgesetz. Seit Mai dieses Jahres haben die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland das Recht, sich
bei den Behörden gezielt über Lebensmittel, Futtermittel
und Gegenstände des täglichen Bedarfs zu informieren.
An dieser Stelle schließt sich der Kreis. Gerade im Bereich des Pflanzenschutzes gibt es bereits gesetzlich verankerte Aufzeichnungspflichten, die klar und einheitlich
geregelt sind. Wer einen landwirtschaftlichen oder gärtnerischen Betrieb leitet, ist verpflichtet, Aufzeichnungen
über die im Betrieb angewandten Pflanzenschutzmittel zu
führen. Und wer sich hier nicht an die Regeln hält, der
muss mit den entsprechenden Sanktionen rechnen. Die
Aufzeichnungspflichten und die Transparenz sind als
Chance zu sehen, die die Obstbauern schon heute beispielhaft nutzen.
Auch im Bereich der Kontrolle an den EU-Außengrenzen muss eine bessere und lückenfreiere Kontrolle geschaffen werden. Wir sieht es derzeit in Europa aus? Der
kontinuierliche Anstieg der Lebensmittel in Europa, bei
denen Rückstände von zwei oder mehr Pflanzenschutzmitteln gefunden werden, lässt sich nicht schönreden.
Umso wichtiger ist es hier, ein effektives Bewertungsmodell zu entwickeln, um eine umfassende Bewertung der
Gesundheitsrelevanz zu entwickeln. Um Schlupflöcher
bei den Importkontrollen von Lebensmitteln zu vermeiden, müssen die Zusammenarbeit zwischen den Lebensmittelüberwachungsbehörden und den Zollbehörden
noch besser koordiniert und präzisiert werden. Mit der
Forderung nach einer Harmonisierung des gesamten
Systems der Lebensmittelkontrolle innerhalb der EU
kann ein wirksamer Schutz der Verbraucher erzielt
werden. Einheitliche Standards der Kriterien der amtlichen Lebensmittelkontrolle ermöglichen eine bessere
Vergleichbarkeit der Daten, um bei Verstößen Rechtssicherheit bei der Festlegung des Strafmaßes zu haben.
Gleichzeitig müssen natürlich die zuständigen Überwachungseinrichtungen der Länder eine konsequente Ahndung und Verfolgung festgestellter Regelverletzungen
durchsetzen. Bisher werden leider von den Überwachungsbehörden kaum Sanktionen bei Verstößen gegen
Höchstmengenüberschreitungen für Pflanzenschutzmittel erlassen. Solange ein solches Verhalten keine ernsthaften Konsequenzen nach sich zieht, wird es immer wieder Schwarze Schafe geben.
Wir brauchen eine umfassende Strategie im Pflanzenschutzbereich, hierfür wird sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion weiter einsetzen. Die Kontrollen müssen verstärkt werden, das bestehende Kontrollsystem muss
kritisch auf Schwachstellen und Rückstände überprüft
werden. Wir erwarten, dass die Bundesregierung hierzu
ihren Beitrag weiterhin leistet und die Anstrengungen,
gemeinsam mit den Bundesländern ein neues Pflanzenschutzkontrollkonzept zu erarbeiten, weiter fortsetzt.
Erste Erfolge bei der verbindlichen Rückmeldung zwecks
Datenabgleichung zwischen Bund und Ländern konnten
im Gesetz zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes erreicht werden.
Auch der Verbraucher ist gefragt. Immer mehr Bürger
achten beim Kauf von Frischeprodukten bereits auf Lebensmittelsicherheit. Fast die Hälfte aller Konsumenten
hält Ausschau nach einer entsprechenden Herkunft bzw.
Zertifizierung. An dieser Stelle haben die Produzenten bereits ein hervorragendes Instrument geschaffen: Das QSSystem für frisches Obst und Gemüse bietet allen beteiligten Produktions- und Vermarktungsstufen eine große
Chance durch ein lückenloses Kontrollsystem vom Feld
bis zur Ladentheke. Hier hat die Fachgruppe Obstbau
auch eine beispielhafte Rolle eingenommen. Die Initiierung des NEPTUN-Projektes steht für hohe Transparenz. Der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und dem Bundeslandwirtschaftsminister Horst Seehofer sind bei der
Diskussion um gesundheits- und verbraucherschutzpolitische Aspekte die sachlich, wissenschaftlich fundierten
Argumente wichtig. Einseitige Ideologie ist wie immer
der falsche Ratgeber. Kampfbegriffe wie „Giftcocktail“
oder die Reduzierung von Pflanzenschutzmitteln auf Pestizide sind unangebracht. Wenn wir in Zukunft die Nahrungsmittelsicherheit und hochwertige Lebensmittel garantieren wollen, dann ist der verantwortungsvolle
Einsatz von Pflanzenschutzmitteln unerlässlich, ebenso
die stetige wissenschaftliche Begleitung!
Jede Überschreitung gesetzlicher Grenzwerte für
Pflanzenschutzmittel in Lebensmitteln ist eine zuviel.
Pflanzenschutzmittel haben grundsätzlich erst einmal
nichts im Lebensmittel zu suchen. Sie sollen, wie der
Name schon sagt, unsere Kulturpflanzen schützen vor
Zu Protokoll gegebene Reden
Krankheiten, Schädlingen, Unkräutern. Sie sollen unsere
Nahrungsgrundlage garantieren und den Landwirten den
Ertrag sichern. Nur die wenigsten Landwirte kommen
ohne chemischen Pflanzenschutz aus. Er ist also allgegenwärtig, und somit sind es auch die Wirkstoffe der
Pflanzenschutzmittel. Als gelernter Chemielaborant kann
ich Ihnen sagen, dass fast alles chemische Spuren hinterlässt und lange Zeit nachweisbar ist, wenn es einmal da
gewesen ist. Daher finden wir auch im geernteten Produkt Pflanzenschutzmittelrückstände. Das wundert mich
nicht im Geringsten, und es ist im Grunde auch kein Anlass zur Sorge.
Die Anwendungsbestimmungen für Pflanzenschutzmittel werden so erlassen, dass mögliche Rückstände zum
Erntezeitpunkt so gering sind, dass sie unterhalb der gesetzlichen Grenzwerte liegen. Im Umkehrschluss bedeutet es, dass Werte oberhalb der Höchstwerte auf einen
Verstoß gegen geltende Anwendungsbestimmungen hinweisen. Hier müssen gar nicht einmal gesundheitliche
Gefährdungen gegeben sein. Es reicht, dass irgendjemand in der Produktkette gegen geltendes Recht verstoßen hat und damit riskiert, dass mögliche Risiken für die
Verbraucher entstehen können. Grenzwerte müssen sicher sein, Grenzwertüberschreitungen müssen geahndet
werden, und Belastungen durch Vielfachrückstände müssen plausibel mit dem Anbauverfahren zu vereinbaren
sein. Ein, zwei, drei, vier, ja auch fünf verschiedene Pflanzenschutzmittel kann ich mir vielleicht noch erklären.
Wenn ich aber lese, dass mitunter zehn oder sogar 15 verschiedene Pflanzenschutzmittel in einem Produkt nachgewiesen werden, dann muss dem auf den Grund gegangen
werden.
Der vorliegende Antrag geht schon in das zweite Jahr
und ist daher teilweise überholt. Rückmeldungen der Genehmigungen nach § 18 Pflanzenschutzgesetz und der
Aufbau einer zentralen Datenbank sind bereits erfolgt,
genauso wie die Einführung harmonisierter Rückstandshöchstwerte in Europa oder die Prüfung der Altwirkstoffe. Ebenfalls sind die Zahlen zu Pestizidbelastungen
in Lebensmitteln aus dem Jahr 2005 und damit veraltet.
Doch leider sehen die 2007er Daten nicht so aus, als
könnte man die Hände in den Schoß legen. Ganz im Gegenteil, die Ergebnisse des jüngst vom BVL vorgelegten
Berichts zur Lebensmittelsicherheit geben keinen Grund
zur Entwarnung. Unser Antrag hat demnach in seiner Aktualität nichts eingebüßt, auch wenn das eine oder andere
überholt ist.
Wir müssen runter mit Grenzwertüberschreitungen
und Vielfachrückständen in Lebensmitteln, zum Schutz aller, aber vor allem zum Schutze besonderer Verbrauchergruppen wie Kindern oder älterer Menschen. Hierzu
müssen wir die Schwerpunkt- und Risikoüberwachung
durch die Länder besser strukturieren, Nachkontrollen
verstärken und vor allem die Ahndung der Verstöße verschärfen. Es handelt sich hier um kein Kavaliersdelikt,
sondern um eine potenzielle Gefährdung der Verbraucher. In erster Linie müssen wir Erzeuger und Handel in
die Pflicht nehmen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden, gesunde und einwandfreie Ware am Markt anzubieten. Der allergrößte Teil des Berufsstandes tut dies, doch
alle werden durch illegales Handeln mehr oder weniger
verunglimpft. Die schwarzen Schafe müssen auch im
Sinne der sauber arbeitenden Unternehmen zur Rechenschaft gezogen werden, unabhängig davon, wo sie produzieren oder wo der Geschäftssitz ist.
Wir fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit
den Ländern dafür zu sorgen, dass die Belastung durch
Pflanzenschutzmittelrückstände in Lebensmitteln minimiert wird.
Die Qualität der Lebensmittel in Deutschland ist hoch.
Obst und Gemüse sind gesund. Weder der von der
Unionsfraktion vorgelegte Antrag noch das Verhalten des
Bundesinstituts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit ({0}) bei der Vorstellung der Berichte zur Lebensmittelsicherheit 2007 hat diese gute Botschaft ausreichend klar zum Ausdruck gebracht.
In Reaktion auf einen Greenpeace-Bericht hat das
BVL völlig richtig festgestellt, dass laut Jahresbericht
2006 lediglich bei 14 von insgesamt 17 535 Proben ein
gesundheitliches Risiko für die Verbraucher nicht ausgeschlossen werden konnte. Beim jetzt vorgestellten Bericht
von 2007, in dem weitere Erfolge hinsichtlich der Minderung von Pflanzenschutzmittelrückständen festgestellt
worden sind, spricht das BVL davon, es seien erneut zu
hohe Rückstände festgestellt worden. Das ist widersprüchlich. Zu Recht bezeichnen die Obstbauern diese
Feststellung als skandalös. Diese Pressemitteilung des
BVL vermittelt einen völlig falschen Eindruck. Wir Liberale fordern den zuständigen Minister auf - auch wenn er
jetzt mit Koalitionsverhandlungen in Bayern beschäftigt
ist - dafür zu sorgen, dass Bundesbehörden innerhalb seines Verantwortungsbereichs die Bürgerinnen und Bürger
sachgerecht informieren und keine Panikmache betreiben.
Gute Fortschritte sind zum Beispiel bei den Äpfeln gemacht worden. Äpfel sind ein in Deutschland besonders
beliebtes Obst. Jährlich werden bei uns etwa eine Million
Tonnen Äpfel produziert. Das Lebensmittelmonitoring
2007 weist für in Deutschland produzierte Äpfel eine Halbierung der Pflanzenmittelrückstände im Vergleich zu
2004 auf. Das ist eine gute Nachricht.
Das Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt und
ländliche Räume in Schleswig-Holstein sieht in seinem
jüngst veröffentlichten Pflanzenschutzbericht die Belastung von Lebensmitteln mit Pestizidrückständen für das
vergangene Jahr als unproblematisch an. Das Resultat
der Untersuchungen im vergangenen Jahreszeitraum entspricht den Bilanzen der vorigen Jahre. Produkte aus
Deutschland und insbesondere aus Schleswig-Holstein
schnitten bei den Tests wieder etwas besser ab als der
Durchschnitt; die Belastung war hier noch niedriger.
Ein Problem bleibt jedoch bestehen: Nach Deutschland importierte Obst- und Gemüsesorten weisen auch
weiterhin erhöhte Pflanzenmittelrückstände auf. Oftmals
handelt es sich bei diesen Mitteln um bei uns nicht zugelassene Pflanzenschutzmittel, die ein erhebliches Gefährdungspotenzial für die menschliche Gesundheit besitzen.
So weisen beispielsweise Nektarinen und Pfirsiche erZu Protokoll gegebene Reden
höhte Rückstände von bis zu 12 Prozent der Proben auf.
Hiervon konnten nach Angaben des aktuellen Lebensmittelmonitorings 76 Prozent der Proben mit Mehrfachrückständen nachgewiesen werden. Diese Werte liegen deutlich zu hoch. Die Verwendung von nicht zugelassenen
Pflanzenschutzmitteln ist illegal und muss konsequent
verfolgt werden. Es muss daran gearbeitet werden, diese
Rückstände weiter zu vermindern.
Angesichts von nahezu 30 Schadpilzen, die bei uns
derzeit in landwirtschaftlichen und gartenbaulichen Kulturen vorkommen, die zum großen Teil hochkanzerogene
Pilzgifte produzieren, bedeutet der weitere Verzicht auf
den Einsatz von Fungiziden, wie er nach den Vorstellungen des EU-Parlaments erfolgen soll, eine Gefährdung
der menschlichen Gesundheit. Pflanzenschutzmittel zu
verbieten, wie dies derzeit auf EU-Ebene geplant ist, mag
populär sein, aber es dient nicht der Lebensmittelsicherheit; denn es mindert die Qualität unserer Nahrungsmittel.
Die derzeitige Situation im Landwirtschaftsbereich ist
dramatisch, da aufgrund von Resistenzbildungen bei
Schadpilzen gegenüber der Wirkstoffgruppe der Strobuline nur noch wenige Fungizide zur Schadpilzbekämpfung zur Verfügung stehen. Es ist dabei der Obst- und Gemüseanbau genauso betroffen wie der Anbau von Weizen.
Die Blattfleckenkrankheit Septoria hat sich inzwischen
bundesweit ausgebreitet.
Die einseitige Konzentrierung des Antrags der Großen
Koalition auf Rückstände von Pflanzenschutzmitteln lässt
die gesundheitliche Gefährdung durch Pilzgifte völlig außer Acht. Das ist nicht sachgerecht. Effiziente Landwirtschaft und effizienter Gartenbau brauchen auch weiterhin Pflanzenschutzmittel für gesunde Produkte und gute
Erträge. Belastungen mit hochkanzerogenen Pilzgiften
dürfen nicht toleriert werden, denn sie gefährden die Gesundheit von Tier und Mensch. Obst mit Fraßstellen oder
Schorf, Salat mit Blattläusen will niemand essen. Hohe
Ertragseinbußen vermindern die Wettbewerbsfähigkeit
der Betriebe.
Das bisherige Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel hat sich in der Praxis bewährt. Es folgte dem
risikobasierten Ansatz, der die Strategie verfolgt, Risiken
für Umwelt und Verbraucher durch die Anwendung von
Pflanzenschutzmitteln zu minimieren und den Anbau gesunder Pflanzen ohne übermäßigen Pilz- oder Schädlingsbefall zu gewährleisten. Werden die derzeitigen
Pläne der EU zur Änderung der Zulassung umgesetzt,
vermindert sich künftig die Zahl der zugelassenen Pflanzenschutzmittel drastisch.
Die Bundesregierung ist aufgefordert, die Verfahren
der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln so zu gestalten,
dass es auch für Obst- und Gemüsekulturen mit geringer
Bedeutung wirtschaftlich vertretbar ist, die Zulassung zu
beantragen. Andernfalls werden in absehbarer Zeit beliebte Beerenfrüchte wie Johannis- und Stachelbeeren
nicht mehr vom Handel angeboten werden können.
Die Widersprüche der schwarz-roten Agrarpolitik
werden im Bereich der Pflanzenschutzpolitik besonders
deutlich. Im Zusammenhang mit der Bekämpfung des
weltweiten Hungers möchte die Bundesregierung die
landwirtschaftliche Produktivität richtigerweise unter
Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln weiter
steigern. In der Diskussion um die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln wurde diese Fachlichkeit jedoch bisher
dem üblichen Populismus des Horst Seehofer geopfert.
Der neue Chef, die neue Chefin des Hauses muss dies beenden.
Wir lehnen den Antrag der Großen Koalition ab. Er
kann die Lebensmittelsicherheit nur marginal verbessern,
da die große Stoffgruppe der Pilzgifte unberücksichtigt
bleibt. In der gegenwärtigen Diskussion der Panikmache
durch das BVL, der Beschlussfassung über die Zulassungsverordnung für Pflanzenschutzmittel auf der EUEbene, die durch die Verminderung der Zahl der Pflanzenschutzmittel Landwirtschaft und Gartenbau in
Deutschland erschwert, bietet der Antrag keine Lösungsvorschläge.
Anfang dieser Woche hat das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit ({0}) die Ergebnisse des Lebensmittelmonitorings für 2007 vorgestellt.
Insgesamt ist die Sicherheit der Lebensmittel in Deutschland zwar recht hoch. Trotzdem hat das Bundesamt erneut
zu hohe Pestizidrückstände in Obst und Gemüse festgestellt. Insbesondere bei Kopfsalat, Äpfeln, Zuchtchampignons, in Grünkohl und Wirsing wurden die gesetzlichen Grenzwerte für Pestizide häufig überschritten. Bei
einigen Proben von Kopfsalat, Grünkohl, Austernseitlingen und Tomaten lag die Belastung sogar so hoch, dass
selbst bei einmaligem Verzehr gesundheitliche Beeinträchtigungen nicht ausgeschlossen werden können.
Besorgniserregend ist auch der Umstand, dass immer
häufiger Rückstände mehrerer Pestizide gefunden werden. Bei Kopfsalat zum Beispiel ist das in 80 Prozent der
Proben der Fall, bei Tomaten ist jede zweite Probe mehrfach belastet. Das ist nicht akzeptabel, zumal es noch gar
keine belastbaren Untersuchungsergebnisse gibt, ob oder
wie sich die verschiedenen Pestizidrückstände verstärken
und welche gesundheitlichen Auswirkungen daraus resultieren.
Die Koalition widmet sich nun in ihrem Antrag der
Problematik der Pestizide. Bis dato wurde vonseiten der
Bundesregierung ja meistens gemauert, dass Überschreitungen von Rückstandshöchstmengen nicht mit einer akuten Gefährdung der Gesundheit der Verbraucherinnen
und Verbraucher gleichzusetzen seien. Leider mündet der
im Antrag erkennbare Erkenntniszuwachs der Koalition
nicht in die erforderlichen Konsequenzen.
Weltweit sind laut einer Greenpeace-Studie vom Januar 2008 etwa 1 350 Pflanzenschutzmittelwirkstoffe bekannt. Davon konnten in den vergangenen Jahren in den
staatlichen Überwachungslaboratorien bzw. in den EUReferenzlaboratorien grade mal 400 bis 600 Wirkstoffe
analysiert werden. Das heißt im Klartext, dass mögliche
Belastungen von Lebensmitteln, Grundwasser und damit
auch der Verbraucherinnen und Verbraucher durch Pestizide nicht umfassend erkannt werden können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Da frage ich mich dann schon: Wie kann es denn sein,
dass Pestizide zum Gebrauch zugelassen werden, die aus
technischen Gründen oder mit dem üblicherweise angewendeten Prüfraster bei der Lebensmittelkontrolle nicht
nachgewiesen werden können? Diese Praxis setzt doch
völlig leichtfertig den gesundheitlichen Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher aufs Spiel. Pestizide, deren Rückstände nicht kontrollierbar sind, dürfen nicht auf
den Markt kommen und zum Gebrauch zugelassen werden. Falls sie bereits erlaubt sind, müssen sie aus dem
Verkehr gezogen und die Zulassungen widerrufen werden.
Die Koalition fordert in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, zusammen mit den Ländern die Anstrengungen zur Aufdeckung, Verfolgung und Rückführung von
nicht akzeptablen Belastungen der Lebensmittel mit
Pflanzenschutzmittelrückständen zu verstärken und die
selbst gesetzten Ziele im „Reduktionsprogramm chemischer Pflanzenschutz“ mit Nachdruck anzugehen. Diese
Forderung unterstützen wir voll und ganz. Ich frage mich
nur, warum die koalitionsgeführte Bundesregierung im
April 2008, also fünf Monate nachdem der heute behandelte Antrag eingebracht wurde, einen „Nationalen Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln“ auflegt, der keinerlei Vorgaben dazu
enthält, wie stark der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln
sinken soll. Von dem Ziel, den Einsatz von Pestiziden innerhalb von zehn Jahren um 15 Prozent zu senken und
Überschreitungen von Pestizidgrenzwerten in Lebensmitteln auf unter 1 Prozent zu drücken, ist in diesem „Aktionsplan“ gar keine Rede mehr. Ein Maßnahmepaket mit
verbindlichen Reduktionszielen und Instrumenten wäre
jedoch dringend erforderlich. Skandinavien hat es vorgemacht: Dort ist der Pestizideinsatz in der Landwirtschaft
deutlich gesunken, und damit verringert sich auch die
Gefahr von toxischen Rückständen in Lebensmitteln.
Gerne erzählt insbesondere die CDU/CSU das Märchen, dass importierte Ware das Problem sei und deutsche Ware sicher. Das ist ja auch in der vorliegenden Beschlussempfehlung dokumentiert. In Deutschland werden
jährlich rund 30 000 Tonnen Pestizide eingesetzt. Das
BVL hat im Lebensmittelmonitoring 2007 festgestellt,
dass mitnichten nur ausländisches Obst und Gemüse Pestizidrückstände enthalten. So ist zum Beispiel bei Kopfsalat aus Deutschland eine inakzeptable Belastung festgestellt worden.
Es muss klar und konkret festgelegt werden, wie stark
der Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel gesenkt
werden soll, wie stark nicht chemische Alternativen ansteigen und gefördert werden sollen und wie stark Pestizidrückstände in Lebensmitteln sinken sollen. Das wurde
im Nationalen Aktionsplan versäumt, und deshalb ist
auch der Antrag der Koalition nur halbherzig.
Wir behandeln hier heute einen verschleppten UraltAntrag der großen Koalition, den sie bereits vor einem
knappen Jahr vorlegte und im Februar - also vor fast einem dreiviertel Jahr im Ausschuss beraten ließ. Nun ja,
so dringend schienen die Anliegen des Antrags für die
Koalition nicht gewesen zu sein.
Interessant war übrigens, dass Union und SPD zwar
die Mitberatung im Wirtschaftsausschuss, nicht aber im
Umweltausschuss veranlasst haben. Eine Umweltrelevanz des Pflanzenschutzmitteleinsatzes erkennen Union
und SPD also nicht. Das ist sehr aufschlussreich und sehr
bezeichnend für die öffentliche Debatte über Pestizide,
wie sie in Deutschland derzeit geführt wird: Es geht meist
nur um die Frage, ob Pflanzenschutzmittelrückstände
eine Gefährdung für die Verbraucherinnen und Verbraucher darstellen. Das ist ohne Zweifel eine sehr wichtige
Frage. Eine ebenso wichtige Frage aber ist die Umweltwirkung der Pestizide. Und das scheint heutzutage für
große Teile der Öffentlichkeit, die Behörden und auch die
große Koalition kaum noch von Belang zu sein.
Wie fatal diese Herangehensweise ist, zeigt sich beim
Rückgang vieler Wildinsekten, den die Menschen wahrnehmen. So muss vermutlich der dramatische Rückgang
von Schmetterlingspopulationen mit dem alljährlichen,
regelmäßigen Einsatz von Pestiziden - insbesondere Insektiziden - auf nahezu der Hälfte der Fläche Deutschlands in Verbindung gebracht werden. Dies ist eine Entwicklung, der wir unbedingt Einhalt gebieten müssen.
Aber zurück zu Ihrem Antrag. Auch eine frühere Behandlung hätte trotz eines schönen Lyrikteils letztlich
nichts daran geändert, dass Ihr Antrag dem Rückgang
der Wildinsekten nur wenig entgegenzusetzen hat. Denn
er enthält vor allem Forderungen, deren Umsetzung entweder bereits läuft, wie die Forderung nach Abschluss
des Altwirkstoffprogramms, Hausaufgaben der EU sind
und die Bundesregierung zu nichts verpflichtet, wie die
Stärkung der Lebensmittelkontrollen an den EU-Außengrenzen, oder bereits abgeschlossen ist, wie die Einführung einer Meldepflicht zur Erfassung von Einzelgenehmigungen in das Pflanzenschutzgesetz. Die meisten
anderen Forderungen sind so vage, dass niemand weiß,
was er damit anfangen soll.
Einige wenige positive Ausnahmen enthält Ihr Antrag
aber doch. Zum Beispiel die Forderungen nach Entwicklung von Methoden zur Bewertung von Risiken durch
Mehrfachrückstände, nach Förderung der Forschung
und Entwicklung nichtchemischer Pflanzenschutzverfahren sowie das Ziel, die Überschreitung von Rückstandshöchstmengen bei Pestiziden auf unter 1 Prozent zu vermindern. Diese Forderungen unterstützen wir Grüne
nachdrücklich.
Es ist aber sehr zweifelhaft, ob die Bundesregierung
viel für die Umsetzung tun wird. Da braucht man sich
keinen Illusionen hinzugeben. Denn Bundesminister
Seehofer hat das 1-Prozent-Ziel für die Überschreitung
von Rückstandshöchstmengen gerade aus dem „Nationalen Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln“ ersatzlos gestrichen. Im Künast’schen
Vorläuferprogramm - dem Pestizidreduktionsprogramm war es noch enthalten. So sehen die Fakten aus, die die
große Koalition in der Pestizidpolitik schafft.
Zu Protokoll gegebene Reden
Über den mangelnden Umsetzungswillen hinaus fehlen andere wichtige Forderungen in ihrem Antrag gleich
völlig.
Das betrifft zum Beispiel ein grundsätzliches Verbot
des Ausbringens von Pestiziden aus der Luft. Das würde
in einzelnen Regionen erheblich dazu beitragen, die
Streuverluste und Einträge von Pestiziden in die Umwelt
zu vermindern. Dies ist bitter notwendig, wie die Entwicklung der Wildinsekten zeigt.
Darüber hinaus gilt es, den ermutigenden Beispielen
von Dänemark und Schweden zu folgen und eine Risikoabgabe auf Pflanzenschutzmittel zu erheben. Mit den Einnahmen könnten dann Investitionen und Betriebsausgaben im Vollzug des Pflanzenschutzrechtes finanziert
werden. Denn die Pestizidanalytik ist eine kostspielige
Angelegenheit. Es kann doch nicht richtig sein, diese Folgekosten des Pflanzenschutzeinsatzes weiter der Allgemeinheit aufzubürden.
Die Bundesregierung muss wieder quantitative Reduktionsziele in ihren Aktionsplan für nachhaltigen Pflanzenschutz aufnehmen. Es kommt zwar in der Tat auch auf die
Schädlichkeit der einzelnen Wirkstoffe an. Nichtsdestotrotz ist die Entwicklung der Aufwandmenge auch ein
wichtiger Indikator. Dies hat sich jüngst wieder gezeigt,
denn im Gleichklang mit den steigenden Agrarpreisen
wurde auch die Landwirtschaft intensiviert und sowohl
der Pestizideinsatz als auch die Umsätze der Hersteller
gesteigert.
Im biologischen Pflanzenschutz liegt übrigens ein erhebliches Potenzial zur Verminderung des Einsatzes chemisch-synthetischer Pestizide. Wichtig wäre es daher, die
Zulassung biologischer Pflanzenschutzmittel einfacher
und kostengünstiger zu gestalten, indem das Zulassungsverfahren an die spezifischen Anforderungen dieser Mittel angepasst wird. Dies hat nichts mit Bevorzugung oder
Absenkung von Standards zu tun, würde aber die Arbeit
der vorwiegend mittelständischen Unternehmen dieser
Branche erheblich erleichtern.
Von all dem ist im Antrag der großen Koalition nicht
die Rede. Zwar steht darin wenig Falsches, aber auch wenig Vorwärtsweisendes. Deswegen bleibt uns Grünen nur
die Enthaltung zu Ihrem Antrag. Ich appelliere an Sie,
liebe Mitglieder der Regierungsfraktionen: Bleiben Sie
bei Ihrem Antrag nicht stehen, sondern ergreifen Sie weitere Initiativen, damit der Pestizideinsatz und die Umweltgefährdung durch Pestizide in Deutschland wieder
sinken.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/8136, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
derS auf Drucksache 16/6958 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD und CDU/CSU
bei Enthaltung der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen
und FDP angenommen.
Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 29.
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0})
- zu der Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Vereinfachung des Deponie-
rechts
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grenzwerte bei Müllverbrennungsanlagen
dem technischen Fortschritt anpassen und
deutlich absenken
- Drucksachen 16/10330, 16/10398 Nr. 2,
16/5775, 16/10602 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Angelika Brunkhorst
Sylvia Kotting-Uhl
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden.
Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen
und Kollegen:
Michael Brand, CDU/CSU, Gerd Friedrich Bollmann,
SPD, Horst Meierhofer, FDP, Eva Bulling-Schröter, Die
Linke, Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf Drucksache 16/10602. Der Ausschuss empfiehlt un-
ter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, der Verordnung
der Bundesregierung zur Vereinfachung des Deponie-
rechts auf Drucksache 16/10330 zuzustimmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, FDP bei Ge-
genstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthal-
tung der Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5775 mit
dem Titel „Grenzwerte bei Müllverbrennungsanlagen
dem technischen Fortschritt anpassen und deutlich ab-
senken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU,
FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke angenommen.
1) Anlage 19
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes
- Drucksache 16/10528 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Wolfgang Nešković, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für die Abschaffung der Optionspflicht im
Staatsangehörigkeitsgesetz
- Drucksache 16/9165 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Ulla Jelpke, Dr. Hakki Keskin, Petra
Pau und der Fraktion DIE LINKE
Klare Grenzen für die Rücknahme und den
Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit ziehen
- Drucksache 16/9654 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Reinhard
Grindel, CDU/CSU, Dr. Michael Bürsch, SPD, Hartfried
Wolff, FDP, Sevim Dağdelen, Die Linke, Josef Philip
Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung
des Staatsangehörigkeitsgesetzes werden die notwendigen gesetzgeberischen Konsequenzen aus einer Reihe
von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zu den
Rechtsfolgen der Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung gezogen. Grundsätzlich hat unser höchstes
Gericht eine solche Rücknahme der Einbürgerung für
verfassungskonform erklärt, selbst wenn der Betroffene
staatenlos wird. Dementsprechend gilt in Zukunft nach
§ 35 des Staatsangehörigkeitsgesetzes, dass derjenige die
deutsche Staatsangehörigkeit verliert, der arglistig getäuscht, bedroht oder bestochen hat. Gleiches gilt, wenn
in den Antragsunterlagen bewusst unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht wurden. Die Karlsruher
Richter haben zur erschlichenen Einbürgerung klare
Worte gefunden: „Eine Rechtsordnung, die sich ernst
nimmt, darf nicht Prämien auf die Missachtung ihrer
selbst setzen. Sie schafft sonst Anreize zur Rechtsverletzung, diskriminiert rechtstreues Verhalten und untergräbt
damit die Voraussetzung ihrer eigenen Wirksamkeit.“
Dem kann nur voll und ganz zugestimmt werden.
Es ist ein Skandal, wenn uns die Linkspartei hier eine
Regelung vorschlägt, bei der im Ergebnis auch der, der
getäuscht hat, die Staatsbürgerschaft behalten soll. Das
zeigt ihr gebrochenes Verhältnis zu den Grundsätzen eines freiheitlichen und eben auch wehrhaften Rechtsstaates.
Handlungsbedarf haben uns die Verfassungsrichter
für die Frage der Wirkung einer solchen Rücknahmeentscheidung auf Dritte aufgegeben, die zwar nicht selbst
getäuscht haben, gleichwohl aber in Zusammenhang mit
der erschlichenen Einbürgerung ebenfalls die deutsche
Staatsbürgerschaft erworben haben. Hier werden seitens
der Bundesregierung ausgewogene Vorschläge unterbreitet. In Anlehnung an ein Verfassungsgerichtsurteil,
bei dem auf das eigene Bewusstsein eines Kindes für den
Tatbestand der Einbürgerung und einen entsprechenden
Vertrauensschutz abgestellt wurde, soll die Rücknahme
der Einbürgerung bis zum fünften Lebensjahr möglich
sein. Das halte ich für sachgerecht, zumal die absolute
Ausschlussfrist, bis zu der überhaupt die Einbürgerung
zurückgenommen werden kann, auch fünf Jahre betragen
soll. Allerdings werden wir zu prüfen haben, ob eine fünfjährige Ausschlussfrist ausreicht und nicht vielleicht
doch sieben Jahre notwendig sind, wenn man an langwierige Ermittlungen bei Doppelehen denkt.
In anderen Fällen, also bei älteren Kindern und Ehegatten, sieht die Neuregelung des Staatsangehörigkeitsgesetzes eine Ermessensentscheidung der zuständigen
Behörde vor. Dabei ist insbesondere zu prüfen, inwieweit
die dritte Person an der Täuschungshandlung selbst beteiligt war. Es wird auch zu berücksichtigen sein, ob die
mit eingebürgerten Personen inzwischen einen eigenständigen Einbürgerungsanspruch erworben haben oder
ob sie sich gut in die deutschen Lebensverhältnisse integriert haben. Die schutzwürdigen Belange Dritter sind
mit dem öffentlichen Interesse an der Herstellung gesetzmäßiger Zustände abzuwägen.
Der Bundesrat hat im Zusammenhang mit dem letzten
Punkt moniert, dass durch die Formulierung in § 35
Abs. 5 Satz 2 nicht der Eindruck entstehen dürfe, die zuständige Behörde habe kein Ermessen bei der Rücknahmeentscheidung mehr, wenn es an einer Tatbeteiligung
bei der Täuschungshandlung fehle. Insoweit regt der
Bundesrat an, diesen Satz zu streichen. Ich meine, dass
wir bei den Ausschussberatungen darüber intensiv reden
müssen, weil es in der Tat nur in ganz extremen Ausnahmefällen dazu kommen darf, dass eine dritte Person von
der Täuschung des Haupttäters profitiert. Das darf im
Grunde genommen nicht sein.
Ich will das Stichwort Haupttäter insoweit aufgreifen,
als der Bundesrat außerdem die Einführung einer Strafvorschrift wegen Täuschungshandlungen im Einbürgerungsverfahren vorschlägt. Er will dabei eine so hohe
Strafe ermöglichen, dass in besonders dreisten Fällen
auch eine Ausweisung möglich wäre. Ich sage ganz offen,
dass ich aus generalpräventiven Gründen diesen Vorschlag unterstütze. Das gilt auch deshalb, weil wir zum
Beispiel im Asylverfahren Strafvorschriften haben, wenn
mit unrichtigen Angaben getäuscht werden soll. Was im
Asylverfahren richtig ist, das kann im Einbürgerungsverfahren nicht falsch sein. Wir dürfen auch nicht übersehen,
dass die Einbürgerung gerade von ausländischen Extremisten für gefährliche Zwecke genutzt werden könnte.
Das sollten wir verhindern. Es handelt sich hier auch
nicht um wenige Einzelfälle. Der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann hat im Bundesrat vor wenigen
Wochen berichtet, dass die Ermittlungsbehörden zahlreiche Fälschungen in Einbürgerungsverfahren und auch
bei Echtheitsprüfungen von ausländischen Identitätspapieren aufgedeckt hätten, ohne dass es zu strafrechtlichen
Sanktionen gekommen sei. In fast allen Fällen kam es zu
Verfahrenseinstellungen.
Grundsätzlich gilt für die CDU/CSU: Die Einbürgerung ist der Abschluss eines erfolgreichen Integrationsprozesses und nicht die Eintrittskarte dafür. Deshalb
kommt für uns die Einführung einer generellen doppelten
Staatsbürgerschaft für in Deutschland geborene Kinder
ausländischer Eltern, wie sie von der Linkspartei beantragt wird, natürlich nicht in Betracht. Gleichwohl ist es
in der Tat so, dass die Zweifel am Sinn und der Praktikabilität der Optionsregelung ernst zu nehmen sind. Die
Frage ist schon berechtigt: Reicht allein die Geburt in
Deutschland als Anknüpfungspunkt für die Verleihung
der Staatsbürgerrechte aus? Soll wirklich auch der Deutscher werden können, der kein Wort Deutsch spricht, unsere Rechts- und Werteordnung ablehnt und stattdessen
beispielweise streng nach den Grundsätzen der Scharia
lebt? Ist es richtig, dass auch der noch für die deutsche
Staatsbürgerschaft optieren darf, der auf Dauer Deutschland verlässt? Sollen, und zwar per Abstammungsprinzip,
dessen Kinder dann auch die deutsche Staatsbürgerschaft
erhalten?
Es gibt auch integrationspolitisch für eine doppelte
Staatsbürgerschaft keinen Bedarf. Nach einer repräsentativen Umfrage des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge würden sich nur knapp 12 Prozent der Türken in unserem Land ausschließlich bei einer doppelten
Staatsbürgerschaft einbürgern lassen. 46 Prozent wollen
die deutsche Staatsangehörigkeit nicht und 29 Prozent
würden sich auch ohne Beibehaltung ihrer bisherigen
Staatsbürgerschaft einbürgern lassen. Es kann ja wohl
nicht sein, dass wir die deutsche Staatsangehörigkeit
quasi auf dem Wege der „aufgedrängten Bereicherung“
vergeben. Mit der Union ist das nicht zu machen.
Vor knapp zehn Jahren haben wir mit der Abkehr vom
veralteten Abstammungsrecht aus dem Jahr 1912 und der
Einführung eines Staatsangehörigkeitsrechts, das an den
Geburtsort anknüpft, einen lange überfälligen Paradigmenwechsel eingeleitet. Die damalige Diskussion, aber
auch das daraufhin beschlossene Zuwanderungsgesetz
haben endgültig den Status Deutschlands als Einwanderungsland bestätigt.
Teil der Debatte war auch damals schon die Diskussion über die doppelte Staatsbürgerschaft, die intensiv
und kontrovers geführt wurde. Schon damals hat sich die
SPD-Fraktion für die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft für in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern starkgemacht. Kinder ausländischer
Eltern sollten nach dem Abstammungsprinzip die ausländische Staatsangehörigkeit ihrer Eltern, nach dem Territorialprinzip zusätzlich aber auch die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben.
Allerdings musste damals aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat ein Kompromiss gefunden werden. Die sogenannte Optionslösung ist für die SPD - das
wissen Sie alle - nicht der Weisheit letzter Schluss.
Rechts- und integrationspolitische Gründe sprechen aus
unserer Sicht auch heute noch für die Aufhebung des Optionszwanges. Nach dem Optionsmodell erwerben Kinder, die in Deutschland geboren wurden und deren Eltern
ein langfristiges Aufenthaltsrecht haben, zunächst zwei
Staatsbürgerschaften. Mit Eintritt der Volljährigkeit, spätestens aber bis zu ihrem 23. Lebensjahr, müssen sie sich
zwischen der deutschen Staatsangehörigkeit und der ihrer Eltern entscheiden.
Das Optionsmodell stürzt viele Menschen in einen Loyalitätskonflikt, der einer Integration in die deutsche Gesellschaft abträglich ist. Viele der hier Geborenen finden
ihre Heimat und ihre Lebenswirklichkeit in Deutschland,
fühlen sich aber dennoch den kulturellen Traditionen ihres Herkunftslandes gegenüber verpflichtet. Könnten sie
die doppelte Staatsbürgerschaft behalten, müssten sie
sich nicht gegen ihren kulturellen Hintergrund stellen und
könnten zugleich Deutsche bleiben. Zudem würden sie
über das Wahlrecht an der politischen Gestaltung der Gesellschaft beteiligt.Das ist der Hintergrund, vor dem wir
die Debatte über die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts führen.
Wie ist nun die Situation durch den vorliegenden Gesetzentwurf? Nachdem das Bundesverfassungsgericht am
24. Mai 2006 zwar grundsätzlich entschieden hat, dass
eine durch Täuschung erwirkte Einbürgerung zurückgenommen werden kann, hat es in Bezug auf die zeitliche
Befristung dieser Rücknahmeentscheidung und die Betroffenheit der Staatsangehörigkeit unbeteiligter Dritter
noch Regelungsbedarf gesehen. Diesem Regelungsbedürfnis kommt der vorgelegte Gesetzentwurf nach. Die
Rücknahme einer Einbürgerung darf nach dem Entwurf
nicht mehr in einem unbegrenzt langen Zeitraum erfolgen. Vielmehr ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nur die „zeitnahe“ Rücknahme verfassungsgemäß.
Daher sieht das Gesetz eine Ausschlussfrist von fünf Jahren vor. Nach Ablauf dieser Frist soll eine Rücknahme
nicht mehr möglich sein. Das Prinzip der Rechtssicherheit hat in diesem Falle Vorrang vor dem Grundsatz der
Herstellung rechtmäßiger Zustände.
Zum anderen regelt das Gesetz, wie in den Fällen zu
entscheiden ist, in denen unbeteiligte Dritte von der
Rücknahmeentscheidung betroffen sind. Was geschieht
mit der Staatsangehörigkeit des Kindes, wenn den Eltern
durch eine Rücknahmeentscheidung die deutsche Staatsangehörigkeit - für die Vergangenheit - entzogen wird?
Nach dem Entwurf soll ein Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit bei unbeteiligten Dritten nicht mehr stattfinden, wenn diese Personen bereits fünf Jahre alt sind.
Bei Kindern unter fünf Jahren soll davon ausgegangen
Zu Protokoll gegebene Reden
werden, dass sie noch kein Bewusstsein von ihrer Staatsangehörigkeit haben, sodass der Schutzbereich von
Art. 16 Abs.1 Satz 1 GG nicht berührt wird.
Die Altersgrenze von fünf Jahren ist auch deswegen
sachgerecht, weil sie der Rücknahmefrist der Einbürgerung entspricht. Ein Kind, das nach dem Abstammungsprinzip die deutsche Staatsangehörigkeit von einem eingebürgerten Deutschen erhält, der die Einbürgerung
durch Täuschung erlangt hat, kann zum Zeitpunkt der
Rücknahme gar nicht älter als fünf Jahre sein. Insofern
liegt uns heute ein sinnvoller und praktikabler Entwurf
vor, der den Vorgaben des Verfassungsgerichts gerecht
wird.
Was dennoch in dem Entwurf fehlt - damit bin ich wieder beim Ausgangspunkt meiner Rede angelangt - ist die
Revision der starren Festlegung auf eine Staatsbürgerschaft. Das Optionsmodell ist nicht nur wegen der individuellen und psychologischen Konflikte für die Betroffenen problematisch. Darüber hinaus haben sich in der
Praxis auch weitere Schwächen des Modells gezeigt. Die
Folgen eines Statuswechsels sind vielfältig: Zum einen
kreisen sie um die Frage nach der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung, nachdem die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen wurde. Kann nach einem Statuswechsel
überhaupt noch eine zufriedenstellende aufenthaltsrechtliche Lösung gefunden werden? Ich sehe das sehr skeptisch. Zudem: Welche Folgen ergeben sich durch den Statuswechsel für das Namensrecht, das Kindschaftsrecht
und das Sorgerecht? Können bereits erworbene Rechtspositionen durch den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit tangiert werden? Für politische Ämter, die die
deutsche Staatsangehörigkeit voraussetzen, entfällt mit
dem Wegfall Staatsangehörigkeit zudem die Grundlage,
was kein gutes Signal für politische Teilhabe ist.
Schließlich will ich noch ein ganz praktisches Verwaltungsproblem nennen, das mit dem Optionsmodell verbunden ist. Jede betroffene Person muss von Amts wegen
aufgefordert werden, sich für eine Staatsbürgerschaft
- die deutsche oder die des Herkunftslandes ihrer Eltern zu entscheiden. Es ist aber bislang völlig unklar, was passiert, wenn der Betroffene nicht auffindbar ist, etwa weil
er sich nach einem Umzug nicht umgemeldet hat oder aus
sonstigen Gründen. Was auf keinen Fall sein kann ist,
dass jemand durch bloßen Zeitablauf seine deutsche
Staatsangehörigkeit verliert, wie in § 29 Abs. 2 S. 2
Staatsangehörigkeitsgesetz vorgesehen. Durch das Optionsmodell werden bürokratische Unmöglichkeiten geschaffen, die wir ohne es überhaupt nicht hätten.
Bereits jetzt gibt es Ausnahmen, in denen eine doppelte
Staatsangehörigkeit gestattet ist. Diese Ausnahmen bringen in der Praxis keine großen Konflikte mit sich, sondern
sind Ausdruck vielfältiger kultureller Identitäten in einer
globalisierten Welt. Daher wird die SPD über das hier zu
beschließende Gesetz hinaus weiter für die Abschaffung
des Optionsmodells und die generelle Möglichkeit einer
doppelten Staatsbürgerschaft eintreten.
Das Bundesverfassungsgericht hat der Bundesregierung eine Überarbeitung des Staatsangehörigkeitsrechts
aufgegeben. Die Rücknahme der deutschen Staatsangehörigkeit bedarf demnach, wenn sie durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erworben wurde,
eines eigenen Gesetzes. Die üblichen Verwaltungsvorschriften, die seit Gründung der Bundesrepublik dazu angewandt wurden, reichen demnach dazu nicht mehr aus.
Eine eigengesetzliche Regelung dient der Rechtssicherheit. Die FDP begrüßt daher ausdrücklich die Gesetzesinitiative der Bundesregierung. Das sensible und wichtige Thema Staatsangehörigkeit muss verlässlich und
durchschaubar ausgestaltet sein.
Es ist sinnvoll, Kindern ab fünf Jahren einen eigenen
Staatsangehörigkeitsrechtsschutz zu gewähren. Zwar ist
die Begründung, sie hätten ein eigenes Bewusstsein ihrer
Staatsangehörigkeit entwickelt, fragwürdig. Das Staatsbewußtsein von nicht schulpflichtigen Kindern scheint
mir nicht geeignet zu sein, darauf wesentliche Rechtsfolgen zu gründen. Was dennoch für die Regelung spricht,
ist, dass die betroffenen Kinder nicht unter den Rechtsvergehen ihrer Eltern leiden sollten.
Dagegen ist die Frist von fünf Jahren, die die Bundesregierung den Behörden zum Nachweis der unrechtmäßig
erworbenen Staatsangehörigkeit setzen will, sachwidrig.
Mit fünf Jahren ist die Frist, an der die Täuschung der
rechtsstaatlichen Behörden mit einer dauerhaften, rechtmäßigen Staatsbürgerschaft belohnt wird, entschieden zu
kurz. Lediglich mit deutlich längeren Fristen, vielleicht
angelehnt an die Verjährungsfristen in § 53 Abs. 2
VwVfG, kann wirksam verhindert werden, dass eine verlockende Ziellinie vom Gesetzgeber in Aussicht gestellt
wird, die die Betrüger oder Bestecher erreichen können.
Auch die Regelung betreffend Dritter ist problematisch. Eine Regelung, die synchron zu den anderen Fristen verläuft, erscheint hier vorzugwürdig.
Diskussionswürdig ist die Frage, ob, wie die Bundesregierung vorschlägt, die Regelung auch rückwirkend
geltend soll oder erst ab Inkrafttreten des Gesetzes. Da
das Bundesverfassungsgericht für zurückliegende Fälle
durchaus zur Bestätigung von solchen Rücknahmeentscheidungen gekommen ist, scheint es mir rechtsstaatlich
sauberer zu sein, dieses Verfahren so zu belassen und die
Wirkung des Gesetzes sich nur ex nunc entfalten zu lassen.
Die Linke, stets bemüht, den Erwerb der deutschen
Staatsangehörigkeit so billig wie möglich zu machen, fordert die Abschaffung des Optionsmodells. Die FDP hat
dieses Modell seinerzeit selbst vorgeschlagen. Aber nicht
nur deshalb lehnen wir den Linken-Vorstoß ab. Es hat
überhaupt keinen Sinn, ein Gesetz zu ändern, für dessen
Wirkung es noch keinerlei verwertbare Daten gibt. Statt
ideologisch an der Gesetzgebung herumzuschrauben,
wäre es sinnvoll, doch erst einmal Erfahrungsberichte
abzuwarten, wie sich diese Regelung ausgewirkt hat.
Für in Deutschland aufgewachsene junge Menschen
ist es nach Auffassung der Linken nicht zumutbar, sich bei
Volljährigkeit für die deutsche Staatsangehörigkeit zu
entscheiden. Sie halten auch die Mehrstaatigkeit für hinnehmbar. Emotionale Bindungen ans Herkunftsland eines
Migranten sollen in Form der Staatsangehörigkeit beibeZu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
halten werden können und zusätzlich die deutsche Staatsangehörigkeit möglich sein. Diese betonte Verknüpfung
von emotionalen Bindungen und Staatsangehörigkeit ist
nur bedingt nachvollziehbar. Vielmehr ist es notwendig,
dass sich auch Migranten der Realität stellen. Integration
in die deutsche Gesellschaft kann nur gelingen, wenn
man sich zu gleichen Rechten und Pflichten wie die anderen Staatsbürger in die deutsche Gesellschaft integriert
und dazu steht. Doppelstaatsangehörigkeit ist außer in
Sonderfällen, zum Beispiel bei Kindern aus binationalen
Ehen, durchaus nicht unproblematisch. Sie kann die Integration behindern, wenn Migranten mit Doppelstaatsangehörigkeit dem Irrtum verfallen, man könne gleichzeitig
politisch und kulturell zwei Nationen angehören. Migrantenschicksale zeigen oft, dass dies eben nicht möglich ist:
Wer weder ganz hier sein noch ganz dort bleiben will, ist
nirgendwo als gleichberechtigter Mitbürger akzeptiert,
ganz unabhängig vom formalrechtlichen Status. Die
Staatsangehörigkeit sollte für Migranten genauso eindeutig entschieden sein wie für geborene Mitbürger.
Die Linken halten die deutsche Staatsangehörigkeit
nicht für wertvoll. Sie ignorieren auch bewusst, dass erfolgreiche Zuwanderungsländer wie die USA sehr wohl
von ihren Neubürgern ein klares und ausschließliches Bekenntnis zu ihrem neuen Staat fordern. Die USA verlangen beispielsweise in ihrem Einbürgerungseid einen
unmißverständlichen und nachdrücklichen Loyalitätsschwur der Neubürger und zugleich eine Absage an bisherige staatsbürgerschaftliche Loyalitäten. Nur so kann
nach US-Auffassung sowohl dem Neubürger als auch den
Alteingesessenen das Gefühl vermittelt werden, jetzt zur
neuen Staatsgesellschaft wirklich dazuzugehören. Eine
Einbürgerungsregelung, die von weiten Teilen der Bevölkerung nicht akzeptiert wird, stärkt keinesfalls die Akzeptanz von Migranten. Das allerdings wäre kontraproduktiv
und hilft auf dem Weg zu wirklicher Integration von Migranten in unsere Gesellschaft nicht weiter.
Die Vorschläge der Linken würden den bisherigen
Grundfehler deutscher Zuwanderungs- und Integrationspolitik verschärfen. Dieser Fehler ist die Ignoranz, so zu
tun, als gäbe es keine Probleme bei der Integration und
als gäbe es keine Anforderungen und keine Werte in der
deutschen Gesellschaft, die zu bewältigen, zu beherzigen
oder abzuverlangen sind.
Deutschland hat sich in seiner Zuwanderungspolitik
bis heute den Luxus erlaubt, das Gegenteil von dem zu
tun, was die erfolgreichen Zuwanderungsländer praktizieren, nämlich Steuerung der Migration durch Berücksichtigung der Qualifikation von Zuwanderern, Berücksichtigung des eigenständigen Erwerb des
Lebensunterhalts; Überprüfung der sprachlichen Kompetenz und Verpflichtung auf den neuen Staat und seine
Verfassung.
Die Linken haben die Diskussion der letzten fünf Jahre
zum Thema „Toleranz durch Wegschauen“ verschlafen
und wollen blind den Weg forcieren, der überhaupt erst in
Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und anderswo die Integrationsprobleme verursacht hat. Die
FDP lehnt solche Anträge ab.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf reagiert die Bundesregierung auf Urteile des Bundesverfassungsgerichts
und des Bundesverwaltungsgerichts bezüglich einer fehlenden klaren spezialgesetzlichen Regelung zur Rücknahme der Staatsangehörigkeit. Letztlich geht es aber in
erster Linie darum, den Verwaltungsbehörden und Betroffenen Rechtssicherheit zu geben, indem der Willkür
und dem unbegrenzten Ermessen der Behörden Grenzen
gesetzt werden.
Insgesamt folgt die Bundesregierung mit den vorgeschlagenen Regelungen den Empfehlungen der Sachverständigen der Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages vom 10. Dezember 2007 zum Antrag
der Linksfraktion „Einbürgerungen erleichtern - Ausgrenzungen ausschließen“ mit der Drucksache 16/1770
und auch unseren diesbezüglichen Forderungen. Es ist zu
begrüßen, dass nunmehr eine Rücknahme der deutschen
Staatsangehörigkeit aufgrund falscher Angaben der Betroffenen im Einbürgerungsverfahren nach mehr als fünf
Jahren nach der Einbürgerung grundsätzlich unzulässig
ist. Auch, dass von der Rücknahme aus Gründen der Verhältnismäßigkeit oder des Einzelfalles nach Ermessen
abgesehen werden kann, begrüßen wir. Berücksichtigt
werden müssen aber noch die Folgen einer Rücknahme
für mitbetroffene Familienangehörige - insbesondere
minderjährige Kinder -, denen kein Täuschungsvorwurf
gemacht werden kann, aber auch eine drohende Staatenlosigkeit der Betroffenen.
Wir kritisieren also weniger, was in Ihrem Gesetzesentwurf drin steht, sondern vielmehr, was nicht in dem Gesetzesentwurf enthalten ist. Denn es besteht gerade im
Einbürgerungsrecht ein dringender Handlungsbedarf,
wie nicht zuletzt die dramatisch sinkende Entwicklung
der Einbürgerungszahlen und die Diskussionen in der
Anhörung des Innenausschusses zum Staatsangehörigkeitsrecht erbracht haben.
Denn zunehmend weniger Menschen lassen sich einbürgern, meine Damen und Herren. So wurde im Jahr
2000 mit 186 688 Einbürgerungen zwar ein Höchststand
erreicht; doch lässt sich dieser im Wesentlichen mit Sonderfaktoren der damaligen Gesetzesänderung erklären.
Seitdem sank die Zahl der jährlichen Einbürgerungen
kontinuierlich auf bis zu 127 153 im Jahr 2004 und nur
noch 113 030 im Jahr 2007 ab - und damit auf einen Wert
noch unterhalb der Zahl der Einbürgerungen vor der
Staatsangehörigkeitsreform. 1999 gab es immerhin noch
143 267 Einbürgerungen. Der Rückgang von 2000 bis
2007 beträgt zwischen 32 und 40 Prozent, je nachdem, ob
man Sonderfaktoren einbezieht oder nicht.
Für die Linke ist diese Entwicklung der Einbürgerungszahlen nicht akzeptabel. Es ist nicht hinnehmbar,
dass eine große Bevölkerungsgruppe auf Dauer von gleichen Rechten ausgeschlossen bleibt. Das demokratiepolitische Problem, dass viele Menschen in der Bundesrepublik nicht die deutsche Staatbürgerschaft haben und
damit trotz ihrer Pflichten von Wahlen und gleichen Rechten ausgeschlossen sind, wollen wir als die Linke nicht
hinnehmen. Statt wie die Bundesregierung die EinbürgeZu Protokoll gegebene Reden
rungshürden immer weiter zu erhöhen, wollen wir die
Einbürgerung grundlegend erleichtern.
Deshalb fordern wir in unserem Antrag nicht nur
klare Grenzen für die Rücknahme der Staatsangehörigkeit, sondern auch eine großzügige Regelung für den
Fall des Verlustes der Staatsangehörigkeit. Denn seit
Aufhebung der sogenannten Inlandsklausel in § 25
Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes zum 1. Januar
2000 durch die rot-grüne Bundesregierung führt der
({0})Erwerb einer anderen Staatangehörigkeit zum
unmittelbaren Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit.
Die Neuregelung wurde auch als „Lex Turka“ bezeichnet, weil sie insbesondere den gängigen und von türkischen Behörden geförderten Wiedererwerb der türkischen Staatsbürgerschaft nach einer Einbürgerung
unterbinden sollte. Einer breiteren Öffentlichkeit und
auch vielen Betroffenen wurde die Problematik erst nach
Presseberichten im Jahr 2005 bekannt. Seitdem haben
übrigens die damals verantwortlichen Vertreterinnen und
Vertreter der rot-grünen Bundesregierung keine Gelegenheit ausgelassen, sich als betroffen und mitfühlend zu zeigen.
In der Folge dieser Rechtslage lebt eine unbekannte
Zahl von Menschen in der Bundesrepublik, die als Deutsche gelten, die deutsche Staatsbürgerschaftsrechte in
Anspruch nehmen und die sich selbst als deutsche Staatsangehörige sehen - die aber streng juristisch betrachtet
längst keine mehr sind. Hieraus ergeben sich nicht nur
unzumutbare Belastungen für die Betroffenen und ihre
Familienangehörigen, sondern auch unübersehbare Folgeprobleme für die Gesamtgesellschaft wie zum Beispiel
die Frage der Gültigkeit von Wahlen. Ob Betroffene infolge des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit sogar ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland für immer verlieren, hängt vom Einzelfall und von der konkreten
Rechtsauslegung bzw. -anwendung ab.
Vor dem Hintergrund dieser drohenden Folgen kann
von den Betroffenen realistischerweise kaum eine „Selbstöffenbarung“ erwartet werden. Nicht zuletzt deshalb,
weil ihren Kindern möglicherweise gar die zwangsweise
Ausreise aus ihrem Geburtsland droht. Deshalb fordern
wir als Linksfraktion schon aus humanitären Gründen
eine Amnestieregelung.
Auch hinsichtlich der sogenannten Optionspflicht, bei
der Jugendliche zwischen 18 und 23 Jahren gezwungen
werden, sich zwischen der deutschen und der Staatsangehörigkeit ihrer Eltern zu entscheiden, sieht die Bundesregierung nach wie vor keinen Regelungsbedarf. Für uns ist
es auch eine Sache von Gerechtigkeit, dass alle in einem
Land geborenen Kinder, die alle gleichsam unschuldig
sind, die gleichen Grundvoraussetzungen haben sollen,
also etwa die Staatsbürgerschaft und die damit verbundenen Rechte und Pflichten.
Für Kinder bildet natürlich die Gesellschaft, in der sie
aufwachsen, den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen und
daher sollten sie nicht als Menschen behandelt werden,
über deren Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft später
noch einmal entschieden werden muss.
Schon gar nicht sollten Kinder ausländischer Eltern
zwischen der deutschen Staatsangehörigkeit oder der ihrer Eltern entscheiden müssen. Dieser Entscheidungszwang wird der Lebenssituation der mit mehreren Staatsangehörigkeiten aufgewachsenen jungen Erwachsenen
nicht gerecht.
Die Sachverständigen der Anhörung des Innenausschusses zum Staatsangehörigkeitsrecht äußerten deshalb
einstimmig erhebliche Zweifel an der Praktikabilität, Sinnhaftigkeit und sogar an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung. Sie gehört deshalb ersatzlos abgeschafft!
Die Bundesregierung hat in einer Pressemitteilung
vom 4. Juni 2008 die Zahl der Einbürgerungen als einen
Indikator für „Integrationserfolge“ im Rahmen des geplanten bundesweiten „Integrationsmonitorings“ benannt. Wenn dem so ist, dann ist es um die Integration in
diesem Lande allerdings schlecht bestellt.
Um diesen Missstand zu beheben, reichen aber eben
keine Sonntagsreden aus, wie sie die Bundesbeauftragte
der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Maria Böhmer immer wieder macht. Wenn erst
durch den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit Migrantinnen und Migranten die vollen staatsbürgerlichen
Rechte und Pflichten in diesem Land erhalten - wie Frau
Böhmer in ihrer Pressemitteilung vom 9. Juli 2008 - erklärt, dann soll sie endlich was tun, damit Menschen nicht
ständig neue Hürden zur Einbürgerung überwinden müssen.
Das Werben der Integrationsbeauftragten Böhmer für
mehr Einbürgerungen hinterlässt auch einen faden Nachgeschmack. Denn die jüngsten gesetzlichen Verschärfungen des Staatsangehörigkeitsgesetzes werden ausdrücklich
im „Siebten Bericht über die Lage der Ausländerinnen
und Ausländer in Deutschland“ befürwortet. Eine Einbürgerungskampagne kann - so begrüßenswert diese
auch sein mag - die restriktive Rechtslage nicht aufheben. Aber die Rechtslage und Realität wird ja inzwischen
auch verleugnet. In einer Pressemitteilung der Integrationsbeauftragten Böhmer vom 13. Oktober scheint sie
nämlich jeglichen Bezug zur Realität verloren zu haben.
In der Erklärung spricht sie von einer „erfreulichen Tendenz zu einer verstärkten Einbürgerung“, die „für eine
gelingende Integration in Ausbildung und Arbeitsmarkt
unabdingbar“ sei. Wie die von mir bereits genannten Einbürgerungszahlen der letzten Jahre zu einer erfreulichen
Tendenz zu mehr Einbürgerung uminterpretiert werden
können, bleibt das Rätsel der Bundesbeauftragten.
Recht hat sie damit, dass Migrantinnen und Migranten
mit deutscher Staatsangehörigkeit höhere Bildungsabschlüsse erreichen und mehr beruflichen Erfolg als nicht
eingebürgerte haben. Das ergibt die heute vorgelegte Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Mehr als die Hälfte der in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürger zwischen 26 und 35 Jahren hat nach der Studie keinen Berufsabschluss. Bei den
eingebürgerten Türken seien nur ein Drittel, so die Studie.
Ernst zu nehmen war das Gerede von Frau Böhmer
über das Ziel einer verstärkten Einbürgerung noch nie.
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Zu Protokoll gegebene Reden
Und nach wie vor lehnt sie alle Maßnahmen zur erleichterten Einbürgerung ab.
Eine erfreuliche Tendenz zur verstärkten Einbürgerung könnte sie erreichen, würde endlich die Optionspflicht abgeschafft und die Mehrstaatlichkeit endlich zugelassen. Die Zahl der Einbürgerungen könnte so rapide
erhöht werden. Wie auch Frau Böhmer im Working Paper 17
der Forschungsgruppe des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge nachlesen kann, verdoppeln sich die Einbürgerungsabsichten, wenn es die Möglichkeit gäbe, die
deutsche Staatsangehörigkeit zusätzlich zur aktuellen
Staatsangehörigkeit zu erwerben.
Die Erfahrungen in den Niederlanden aus den Jahren
der zeitweiligen Zulassung der Mehrfachstaatsangehörigkeit von 1992 bis 1997 stützen diese Annahme. In benanntem Zeitraum stieg die Einbürgerungsrate nämlich
auf bis zu 11,4 Prozent an - in Deutschland beträgt sie
demgegenüber derzeit jämmerliche 1,6 Prozent!
Statt also immer nur von Integration zu schwätzen und
zugleich neue Hürden und Gesetzesverschärfungen mit
ausgrenzender Wirkung zu beschließen, muss die Bundesregierung endlich die notwendigen Voraussetzungen für
erleichterte und vereinfachte Einbürgerungen schaffen.
Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, neue Wege
zu gehen - auch wenn es schwer fällt. Integration gelingt
nicht durch Ausgrenzung und durch den Aufbau immer
höherer Hürden!
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf möchte die Bundesregierung zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Rücknahme einer Einbürgerung bei arglistiger
Täuschung umsetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat
geurteilt, dass eine rechtswidrige Einbürgerung unter bestimmten Voraussetzungen zurückgenommen werden
kann. Allerdings wurde der Gesetzgeber aufgefordert,
hierbei auf die Rechtstellung von Kindern rechtswidrig
eingebürgerter Personen besondere Rücksicht zu nehmen.
Aus fachlicher Sicht bestehen gegen diesen Gesetzentwurf der Bundesregierung keine grundsätzlichen Bedenken. Einzelne Punkte sollten jedoch bürgernäher gefasst
werden. So will zum Beispiel die Bundesregierung nur
Kinder bis zum Alter von fünf Jahren von einer Rücknahme bewahren. Wir jedoch halten - im Einklang mit
dem Europäischen Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit vom 6. November 1997, auf das das Bundesverfassungsgerichts-Urteil 2 BvR 96/04 in Randziffer 25 Bezug nimmt - eine Altersgrenze von 18 Jahre für rechtlich
möglich und angemessen.
Integrationspolitisch ist dieser Gesetzentwurf allerdings zu kurz gegriffen, denn er regelt wirklich nur die
Umsetzung der Rücknahmeurteile des Bundesverfassungsgerichtes und keine weiteren, ebenfalls drängenden
Fragen im Bereich des Staatsangehörigkeitrechts. Dies
ist angesichts der dramatisch gesunkenen Einbürgerungszahlen völlig unzureichend. So fehlt zum Beispiel im
Gesetzentwurf eine Regelung zur Abschaffung des sogenannten Optionszwangs.
Außerdem hat die Bundesregierung die Chance versäumt, endlich eine Lösung für diejenigen Menschen vorzuschlagen, die durch die Annahme einer anderen Staatsangehörigkeit die deutsche Staatsangehörigkeit verloren
haben. Hier sollte nach dem Grundsatz verfahren werden, dass der aufenthaltsrechtliche Status vor der Einbürgerung - also in den allermeisten Fällen ein unbefristetes
Aufenthaltsrecht - wieder erteilt wird, sodass die Betroffenen schnellstmöglich wieder eingebürgert werden können. Es ist schlicht nicht nachvollziehbar, dass Menschen,
die schon einmal ein erfolgreiches Einbürgerungsverfahren durchlaufen hatten, jetzt sozusagen bei Adam und Eva
anfangen sollen. Es ist integrationspolitischer Nonsens,
wenn Menschen, die mit ihrer Einbürgerung gezeigt haben, dass sie in dieser Gesellschaft angekommen sind,
jetzt nicht nur rechtlich wieder als Ausländer behandelt
werden, sondern auch noch einen schlechteren Aufenthaltsstatus bekommen als vor der ursprünglichen Einbürgerung.
Wir werden abwarten müssen, ob und, wenn ja, welche
Verschärfungsvorschläge des Bundesrates zu diesem Gesetzentwurf die Große Koalition übernimmt. Die Länder
haben ja in den Ausschüssen das gesamte Arsenal ihrer
altbekannten Anträge aufgefahren, zum Beispiel die erschwerte Einbürgerung von Flüchtlingen im Widerrufbzw. Rücknahmeverfahren, die Rücknahme des Jus soli,
die Einfügung einer neuen Strafvorschrift für Täuschungsversuche im Einbürgerungsverfahren etc.
Eine demokratisch verfasste Gesellschaft kann auf
Dauer nur funktionieren, wenn nicht große Bevölkerungsteile von einer vollen Partizipation ausgeschlossen
werden. Eine volle politische Teilhabe der Eingewanderten bzw. hier geborenen Inländer mit ausländischem Pass
ist aber nur über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit möglich. Knapp 1,5 Millionen Migrantinnen
und Migranten haben sich in den letzten 25 Jahren einbürgern lassen. Im internationalen Vergleich ist die Einbürgerungsquote in Deutschland aber sehr niedrig. Dies
wollen wir ändern. Wir wollen, dass sich mehr Menschen
für die Einbürgerung entscheiden, weil sie sich mit dieser
Gesellschaft und diesem Staat identifizieren können.
Der jahrelange Rückgang der Einbürgerungszahlen
zeigt: Noch immer ist es in Deutschland zu schwierig, die
Staatsbürgerschaft zu erlangen, und zu einfach, sie zu
verlieren. Daher müssen die Einbürgerungsbedingungen
dringend verbessert werden, um dem Ziel der rechtlichen
Integration gerecht zu werden. Um dies zu ändern, haben
Bündnis 90/Die Grünen bereits im September 2006 einen
Gesetzentwurf zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes vorgelegt ({0}).
Es bleibt zu hoffen, dass die große Koalition, die sich
die Förderung der Integration ja groß auf die Fahne geschrieben hat, unseren Gesetzesvorschlägen doch noch
zustimmt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/10528, 16/9165 und 16/9654 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Vizepräsidentin Dr. h. c Susanne Kastner
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Veröffentlichung von Informationen über
die Zahlung von Mitteln aus den Europäischen Fonds für Landwirtschaft und Fischerei ({0})
- Drucksache 16/10299 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1})
- Drucksache 16/10596 Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Waltraud Wolff ({2})
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
folgende Kolleginnen und Kollegen: Marlene Mortler,
CDU/CSU, Waltraud Wolff, SPD, Hans-Michael
Goldmann, FDP, Dr. Kirsten Tackmann, Die Linke,
Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.1)
1) Anlage 20
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/10596, den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Agrar- und Fischereifonds-InformationenGesetzes auf Drucksache 16/10299 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen
des Hauses im Übrigen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 17. Oktober 2008, 8 Uhr, ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen sowie allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen schönen
Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.