Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, gibt es
wieder einige Mitteilungen und Veränderungen. Ich
beginne mit dem Hinweis, dass die Kollegin Ilse Falk
am vergangenen Sonntag ihren 65. Geburtstag gefeiert
hat. Wir alle übermitteln ihr auf diesem Weg gute Wünsche.
({0})
Nicht ganz so erfreulich ist, dass die SPD-Fraktion
mitgeteilt hat, dass die Kollegin Gabriele Groneberg ihr
Amt als Schriftführerin niedergelegt hat. Als Nachfolgerin wird die Kollegin Marianne Schieder vorgeschlagen. Auch die Fraktion Die Linke bittet um einen Wechsel bei den Schriftführerinnen und Schriftführern. Für
die Kollegin Sabine Zimmermann soll die Kollegin
Karin Binder das Amt der Schriftführerin übernehmen.
Ich stelle fest, dass wir außer dem allgemeinen Bedauern
über das Ausscheiden der Kolleginnen mit den vorgeschlagenen Veränderungen einverstanden sind. - Das ist
offenkundig der Fall. Dann sind die Kolleginnen
Marianne Schieder und Karin Binder zu Schriftführerinnen gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste
aufgeführten Punkte erweitert werden soll:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Pakistan stabilisieren - Völkerrecht beachten
({1})
ZP 2 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister der Finanzen
zur Lage der Finanzmärkte
ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Hartfrid Wolff ({2}), Gisela Piltz,
Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur
Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung
und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern
({3})
- Drucksache 16/9091 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid
Wolff ({5}), Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk
Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit sofort und unbeschränkt in der Bundesrepublik Deutschland gewähren
- Drucksache 16/10310 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({7})
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Jens Ackermann,
Dr. Karl Addicks, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Steuerautonomie in den Ländern ({8})
- Drucksache 16/10309 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({9})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Kerstin Müller ({10}), Winfried
Nachtwei, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kontraproduktive US-Operationen in Pakistan sofort einstellen - Umfassende Strategie
zur Stabilisierung Pakistans entwickeln
- Drucksache 16/10333 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({11})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 6 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({12})
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({13})
Übersicht 12
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 16/10321 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Martin Zeil, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Novellierung des Vergaberechts für Bürokratieabbau nutzen - Bundesweit einheitliches
Präqualifizierungssystem für Leistungen einführen
- Drucksache 16/9092 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14})
Rechtsausschuss
Aufgrund der Aufsetzung der Regierungserklärung
zur Lage der Finanzmärkte verschieben sich die übrigen
Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen jeweils
nach hinten. Zusätzlich werden die Tagesordnungspunkte 6 und 7 getauscht. Die Tagesordnungspunkte 14 b
und 35 werden abgesetzt. Von der Frist für den Beginn
der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen
werden.
Ich mache außerdem auf die nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 172. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre
Hilfe ({15}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Joachim Stünker, Michael Kauch, Dr. Lukrezia
Jochimsen und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Betreuungsrechts
- Drucksache 16/8442 überwiesen:
Rechtsausschuss ({16})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Sind Sie mit diesen vorgeschlagenen Änderungen einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister der Finanzen
zur Lage der Finanzmärkte
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Darüber besteht offenkundig Einvernehmen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung erhält nun der Bundesminister der Finanzen, Peer
Steinbrück.
({17})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Immer mehr Unsicherheiten, ja
Ängste machen sich bei den Menschen breit, nicht nur in
unserem Land, sondern fast weltweit. Viele fragen sich:
Stehen wir vor dem Kollaps des Finanzsystems? Folgt
aus der Krise an den Finanzmärkten eine globale Wirtschaftkrise nach einigen guten Jahren? Was heißt das für
mich persönlich? Deshalb will ich am Anfang meiner
Regierungserklärung zwei wichtige Feststellungen treffen: Erstens. Bislang hat das internationale Krisenmanagement funktioniert. Es ist nicht zu einem Kollaps des
Weltfinanzsystems gekommen - und das, obwohl wir in
den letzten Wochen an den Finanzmärkten eine weitere
Zuspitzung der schlimmsten Bankenkrise seit Jahrzehnten erleben. Zweitens. Die Bürgerinnen und Bürger müssen keine Angst um ihr Erspartes haben.
Ich möchte feststellen: Was wir erleben, ist ein Erdbeben in der internationalen Finanzarchitektur mit unvorstellbaren Wertberichtigungen bei einer ganzen Reihe
von Banken. Schätzungen gehen davon aus, dass bisher
Wertberichtigungen oder Abschreibungen in der Dimension von über 550 Milliarden US-Dollar erfolgt sind.
Diesen steht eine Kapitalzufuhr von ungefähr 350 Milliarden US-Dollar gegenüber. Einzelne Banken sind darüber in den Abgrund oder an den Rand des Abgrunds
geraten. Bei einigen Banken wird schonungslos aufgedeckt, dass sie keine tragfähigen Geschäftsmodelle haben.
Ich habe in einer Regierungserklärung zur Lage auf
den Finanzmärkten am 15. Februar 2008 etwas gesagt,
was ich gerne wiederholen möchte:
Es ist richtig, dass wir es in weiten Teilen der Welt
und zulasten weiter Teile der Welt mit einer ernsthaften … Finanzmarktkrise zu tun haben … Sie
wird uns das ganze Jahr 2008 beschäftigen. Sie ist
kein deutsches Spezifikum. Sie birgt weitere, noch
nicht behobene Risiken. Infektionsgefahren für die
weltweite Konjunktur und die weltweite Wachstumsentwicklung sind nicht zu übersehen.
Leider sind diese von mir damals beschriebenen Risiken eingetreten. Diese ernste globale Finanzmarktkrise
wird tiefe Spuren hinterlassen. Sie wird das Weltfinanzsystem tiefgreifend umwälzen. Niemand sollte sich täuschen: Die Welt wird nicht wieder so werden wie vor
dieser Krise. Wir müssen uns in nächster Zeit weltweit
auf niedrigere Wachstumsraten und - zeitlich verschoben - auch auf eine ungünstige Entwicklung auf den Arbeitsmärkten einstellen. Die Fernwirkungen dieser Krise
sind derzeit nicht absehbar, aber eines scheint mir
höchstwahrscheinlich: Die USA werden ihren Status als
Supermacht des Weltfinanzsystems verlieren, nicht abrupt, nicht plötzlich, aber erodierend. Das Weltfinanzsystem wird multipolarer. In der neuen Finanzmarktwelt
werden Handelsbanken und Staatsfonds aus Asien, insbesondere aus der Golfregion, ebenso ihren Anteil haben
wie europäische Banken mit ihrem Universalbankenmodell - übrigens ein Modell, das sich derzeit gegenüber
dem amerikanischen Trennbankenmodell als sehr überlegen erwiesen hat.
({0})
Seit dem Platzen der Immobilienblase - Sie erinnern
sich an den Sommer letzten Jahres - sind vier Erschütterungswellen buchstäblich durch das Weltfinanzsystem
gerollt. Im Juli/August 2007 kam es ausgehend von der
US-Subprime-Krise zu massiven Verlusten bei Bear
Stearns und der britischen Bank Northern Rock. Gleichzeitig mussten in Deutschland Rettungsaktionen für die
IKB und die Sachsen LB mit dem Ziel organisiert werden, einen weitergehenden Schaden auch für den Finanzplatz Deutschland zu vermeiden. Das ist uns gelungen.
Ende 2007 meldeten US-Banken Milliardenabschreibungen. Zugleich ergaben sich ernste Liquiditätsengpässe für Banken, worauf Staatsfonds als Kapitalgeber
einspringen mussten. Wir stellen plötzlich fest, dass sich
die Debatte über die Aktivitäten von Staatsfonds innerhalb von zwölf Monaten ziemlich geändert hat.
({1})
Ohne die Bereitschaft dieser Staatsfonds, insbesondere
Schweizer und amerikanische Banken zu rekapitalisieren, hätten wir es nicht mit einem Rand des Abgrunds zu
tun, sondern wir wären tief drin.
Im März 2008 rettet die amerikanische Zentralbank,
die Fed, Bear Stearns - nach den größten Marktpreisverlusten, die es je in einem Monat gab -, und in diesem
- ich nenne es so - schwarzen September 2008 geht
schließlich die viertgrößte amerikanische Investmentbank, die über 150 Jahre alte Bank Lehman Brothers, in
die Insolvenz. Wenige Tage später wird der zweitgrößte
Versicherer der Welt, die US-amerikanische AIG, mit
85 Milliarden US-Dollar ebenso quasi verstaatlicht wie
zuvor die beiden US-Hypothekenfinanziers Fannie Mae
und Freddie Mac mit 200 Milliarden US-Dollar. Als das
alles nicht ausreicht, legt die US-Regierung mit dem unglaublichen Volumen von 700 Milliarden US-Dollar das
größte Rettungsprogramm in der Geschichte der internationalen Finanzmärkte auf. Wir alle schauen gespannt in
die USA, um zu erfahren, wie die beiden Häuser des
Kongresses mit diesem Vorschlag der amerikanischen
Regierung umgehen. Die steht unter einem erheblichen
Zeitdruck. Das letzte Mal in der laufenden Legislaturperiode werden beide Häuser morgen tagen.
Insgesamt tritt die US-Regierung mit über 1 Billion
US-Dollar ein, um die Finanzmarktkrise zu bewältigen.
Vieles habe ich noch gar nicht mitgezählt, nämlich wenn
die amerikanische Regierung Hypotheken von FannieMae- und Freddie-Mac-Kunden aufkaufen sollte. Ich
will darauf hinweisen, dass das ein ungeheures Ausmaß
ist, auch wenn Sie daran denken, dass es vor ungefähr
zwölf Monaten noch 24 Institute in den USA gab, die inzwischen entweder pleitegegangen sind, aufgekauft worden sind, verheiratet worden sind oder schlicht und einfach verschwunden sind - 24 Finanzdienstleister. Bis vor
einem halben Jahr gab es an der Wall Street fünf, vielleicht sechs große Investmentbanken; heute gibt es da
keine mehr.
Der Blick darauf, was die Amerikaner an Steuergeld
bereitstellen, darf gelegentlich auch einen Vergleich mit
dem erlauben, was wir in Deutschland gemacht haben.
Wenn wir die 1 Billion Dollar, die der Steuerzahler in
den USA aufbringen muss, in Bezug setzen zu den
1,2 Milliarden Euro Steuergeldern aus dem Bundesetat
für die IKB, dann gerät vielleicht manche Debatte, die
wir in den letzten Monaten geführt haben, in eine größere Balance.
({2})
Ich darf auch daran erinnern, dass es die britische Regierung im Fall von Northern Rock wahrscheinlich mit Belastungen in der Größenordnung von 80 bis 100 Milliarden Pfund zu tun haben wird.
Trotz aller Vorhersagen, dass die Krise nicht rasch
vorüber sein werde, war ein solcher Reigen von Notübernahmen und Quasiverstaatlichungen - und das in
den USA, dem Hort der Marktwirtschaft und einer lautstark vorgetragenen neoliberalen Grundüberzeugung oder Insolvenzen nicht zu erwarten. Die USA - darauf
lege ich gesteigerten Wert - sind der Ursprung der Krise,
und sie sind der Schwerpunkt der Krise. Es ist nicht
Europa, und es ist nicht die Bundesrepublik Deutschland.
({3})
Dort wurden Hypothekenkredite an nicht kreditwürdige Kreditnehmer ohne jegliche Sicherheiten vergeben.
Dort wurden die immensen Kreditrisiken anschließend
durch Verbriefungsgeschäfte unkenntlich gemacht. Dort
nahm das Rennen nach Rendite seinen Anfang. Von dort
aus hat sich die Finanzmarktkrise wie ein giftiger Ölteppich weltweit ausgebreitet, zunehmend auch in Richtung
Europa, wenngleich das Volumen der bislang bekannten
Verluste in Europa in keiner Weise mit den Zahlen vergleichbar ist, die ich, bezogen auf die USA, nur andeutungsweise schon genannt habe.
Dennoch: Auch namhafte europäische Banken
mussten milliardenschwere Wertberichtigungen vornehmen, nicht nur in Deutschland, zum Beispiel Crédit
Agricole in Frankreich, Société Générale in Frankreich
und - sehr stark getroffen - UBS in der Schweiz mit Verlusten von sage und schreibe 44 Milliarden US-Dollar.
Damit hat die UBS europaweit mit Abstand die größten
Verluste.
Die Krise hat inzwischen Finanzdienstleister in ganz
Europa erfasst. Das zeigen weitere Beispiele, die ich
jetzt gar nicht benennen will.
Was heißt das alles für Deutschland? Der deutsche
Bankensektor wird von den krisenhaften Entwicklungen nicht verschont. Viele Institute sind betroffen, nicht
nur die IKB, sondern auch eine Reihe von Landesbanken. Aber es wäre ein Fehler, anzunehmen, dass ausschließlich oder vornehmlich öffentlich-rechtliche Banken von dieser Entwicklung betroffen sind. Es sind alle
drei Säulen betroffen, allerdings mit einem großen Unterschied, nämlich dass es eine ganze Reihe privater Geschäftsbanken und auch anderer Banken, gerade unter
den Genossenschaftsbanken, gibt, die mit Blick auf ihre
Ertragskraft und ihre Eigenkapitalbasis die Entwicklung
sehr viel besser verkraften können als die von mir zuvor
genannten Institute.
({4})
Zum Glück halten sich die Engagements deutscher
Banken bei Lehman Brothers in einem überschaubaren
Rahmen und sind nach Aussage der BaFin und auch
nach Aussage der Bundesbank verkraftbar. Ich füge allerdings hinzu: Wenn der zweitgrößte Versicherer in den
USA, den ich schon genannt habe, die AIG, von der
amerikanischen Regierung und der amerikanischen Zentralbank nicht stabilisiert worden wäre, dann hätten wir
sehr viel düstere Zeiten, weil sich auch viele deutsche
und europäische Institute dort versichert haben.
Insgesamt zeigt sich, dass das deutsche Dreisäulensystem im internationalen Vergleich relativ robust ist.
Die deutsche Aufsichtsbehörde, die BaFin, ist sich sicher, dass die in den letzten Jahren gesteigerte Risikotragfähigkeit der deutschen Institute ausreicht, Verluste
auszugleichen und die Sicherheit der privaten Ersparnisse zu gewährleisten. Deshalb sollten wir in diesem
Bereich nicht durch eine falsche Wortwahl eine Panik
auslösen.
({5})
Mit Blick auf die Realwirtschaft sind wir in Deutschland in der vorteilhaften Lage, dass sich unsere Unternehmen, insbesondere der auf Kreditfinanzierungen angewiesene Mittelstand, trotz Abschwungs und sich
verschärfender Kreditkonditionen bisher nicht einer Kreditklemme gegenübersehen. Das denke ich mir nicht aus.
Wenn Sie den Eindruck haben, das sei die Passage, die
meine Abteilung für Agitation und Propaganda aufgeschrieben hat, sage ich Ihnen: Dies ist die Einschätzung
des Bundesbankpräsidenten, und dies ist auch die Einschätzung des BDI-Präsidenten. Zumindest die beiden
Koalitionsfraktionen konnten dies vor wenigen Tagen im
Originalton vom Bundesbankpräsidenten, Herrn Weber,
hören.
({6})
Dass es in Deutschland nicht zu einer Kreditklemme
gekommen ist, haben wir - das will ich unterstreichen wesentlich dem Sparkassensektor zu verdanken.
({7})
Dieser Sparkassensektor hat im ersten Halbjahr 2008
mehr Kredite vornehmlich an den Mittelstand gegeben
als im ersten Halbjahr 2007.
In dieser größten Krise seit Jahrzehnten zeigt sich,
dass das zu unserem Wirtschaftsmodell der sozialen
Marktwirtschaft passende Universalbankensystem mit
seinen drei Säulen der privaten Geschäftsbanken, der
kommunalen Sparkassen und der regionalen Genossenschaftsinstitute wesentlich robuster ist, als es das angloamerikanische Trennbankensystem mit seiner überzogenen Renditefixierung war und ist.
({8})
Die vergleichsweise breite geschäftspolitische Aufstellung bewährt sich in der Krise. Vor allem bewährt es
sich, dass wir in Deutschland nicht nur auf die kurzfristige Rendite geschaut haben. Wir haben uns der ausschließlichen Fixierung auf kurzfristige Renditen und
auf immer weiter gesteigerte Quartalsgewinne in weiten
Teilen unseres Bankensystems entzogen.
Gerade dies ist einer der Gründe, meine Damen und
Herren, warum wir auch gegenüber der Brüsseler Kommission dieses Dreisäulensystem für den Fall verteidigen
sollten, dass es dort andere ordnungspolitische Vorstellungen gibt.
({9})
Gelegentlich habe ich die Befürchtung, dass eines Tages
im Fokus dieser Brüsseler Kommission und der dortigen
ordnungspolitischen Vorstellungen nicht nur das öffentlich-rechtliche Bankensystem, sondern auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk und die Sozial- und Wohlfahrtsverbände stehen könnten.
({10})
Wenn nach den Ursachen der Krise gefragt wird, dann
lautet die Standardantwort, die US-HypothekenmarktBundesminister Peer Steinbrück
krise, wie ich sie weiterhin nennen möchte, sei der klare
Ursprung der gesamten Entwicklung. Einige weisen
auch darauf hin, dass es nach den fürchterlichen Anschlägen vom 11. September 2001 eine Überversorgung
mit Liquidität aufgrund der Zentralbankpolitik in den
USA gegeben habe. Vordergründig ist dies alles richtig.
Ich will aber darauf hinaus, dass die eigentlichen Ursachen tiefer liegen: in einer aus meiner Sicht unverantwortlichen Überhöhung des Laisser-faire-Prinzips gerade im angloamerikanischen Bereich.
({11})
Mit dem Laisser-faire-Prinzip meine ich im Hinblick auf das Finanzmarktsystem ein von staatlichen Regulierungen möglichst vollständig befreites Spiel der
Marktkräfte. Die Argumentation der Laisser-faire-Vertreter war genauso falsch wie gefährlich: Lasst den
Markt mal machen; er ist am effizientesten, wenn sich
der Staat heraushält und auf Regulierungen vollständig
verzichtet. - Der kurzfristige - vielleicht sollte ich besser sagen: kurzsichtige - Erfolg in Form zweistelliger
Renditen und milliardenschwerer Boni für Investmentbanker und -manager schien ihnen recht zu geben. Darauf wollte man weder in New York noch in London verzichten.
Kritische Hinterfragungen dieses Systems sowie Lösungsvorschläge, wie sie die Bundesregierung maßgeblich unter ihrer G-7-Präsidentschaft angestellt hat, wurden während dieser Präsidentschaft, aber auch während
unserer EU-Präsidentschaft gelegentlich müde belächelt,
wenn wir Glück hatten, ansonsten aber als typisch deutsche Regulierungswut abgetan.
Von angloamerikanischer Seite wurde das dortige
System mit einer Art Absolutheitsanspruch vertreten.
Noch vor kurzer Zeit wurde ziemlich vehement auf die
möglichst globale Übernahme dieses Modells gedrängt.
Verhängnisvolle Folge war, dass die USA bei der Implementierung der stabilisierenden Basel-II-Bankenregeln
sehr zögerlich vorgegangen sind, obwohl sie eigentlich
das Copyright darauf hatten.
({12})
Die USA haben dies bis heute noch nicht umgesetzt,
während die europäischen Banken es zum 1. Januar dieses Jahres taten.
Eine weitere Folge war, dass die USA wegen ihrer
langen Weigerung erst zehn Jahre nach Einführung der
Financial-Stability-Assessment-Programme beim IWF
eine Untersuchung ihres Finanzsystems haben wollten.
Des Weiteren war die Folge, dass die USA anders als
zum Beispiel Deutschland bislang die Investmentbanken
nicht ausreichend reguliert und beaufsichtigt haben. Dies
ändert sich jetzt gerade.
({13})
Schließlich war die Folge, dass, anders als in den meisten europäischen Ländern, in den USA keine Allfinanzaufsicht, sondern eine sehr stark zersplitterte Finanzaufsicht besteht, die jetzt von meinem amerikanischen
Kollegen seit wenigen Monaten Gegenstand von sehr
ambitionierten Reformanstrengungen ist.
Dieses in weiten Teilen unzureichend regulierte System bricht gerade zusammen - nicht nur mit weitreichenden Folgen für den US-Finanzmarkt, sondern auch
mit erheblichen Ansteckungseffekten für die übrige
Welt. Einmal mehr scheint es in der Geschichte so zu
sein, meine Damen und Herren, dass sich ein System,
das maßlose Übertreibungen ermöglicht und geduldet
hat, letztlich seine eigene Antithese schafft.
({14})
Wie bei einem Patienten, der unter akuten Kreislaufproblemen leidet, kommt es auch bei einer Finanzmarktkrise im Rahmen des akuten Krisenmanagements zuallererst darauf an, einen Kollaps zu verhindern. Dazu
müssen lebenserhaltende Prozesse und Funktionen stabilisiert werden, die in Stresssituationen nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr ablaufen. Angesichts der in
den letzten Tagen zugespitzten Situation in den USA hat
die US-Regierung eine Reihe von Stabilisierungsmaßnahmen beschlossen, die ich ausdrücklich begrüße jenseits meines kritischen Blicks zurück, was in der Vergangenheit versäumt worden ist. Diese waren richtig, da
sie das Ziel verfolgten, den Kollaps des US-Finanzmarktes und damit Schlimmeres auch für andere Länder und
Regionen zu verhindern.
An oberster Stelle steht das bereits von mir erwähnte
700 Milliarden Dollar schwere staatliche Rettungsprogramm. Es dient zum Aufkauf illiquider hypothekenbezogener Aktiva der Finanzinstitute. Wenn Sie so wollen,
ist das eine riesige nationale „Bad Bank“, die dort in den
USA eingerichtet worden ist. Jetzt muss allerdings der
amerikanische Steuerzahler dafür zahlen, dass das Finanzmarktsystem trotz immer undurchsichtigerer Innovationen nicht ausreichend reguliert wurde. Ich bin sehr
froh, dass der deutsche Steuerzahler bisher deutlich
niedriger belastet worden ist und auch belastet wird. Die
Kosten, die bisher bei der Stabilisierung der in Schwierigkeiten geratenen Banken entstanden sind, sind weitaus niedriger als die Kosten, die für unsere Wirtschaft
entstanden wären,
({15})
wenn wir diese Stabilisierung nicht vorgenommen hätten.
({16})
Wie groß die Probleme in den USA aktuell sind, zeigt
ein Vergleich mit dem Programm zur Beilegung der seinerzeitigen sogenannten Savings-and-Loans-Krise.
Diese war Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre. Das
damalige Rettungsprogramm der amerikanischen Regierung hatte einen Umfang von 3 Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsproduktes. Das, was die jetzt machen, verursachte bereits Kosten in Höhe von 5 Prozent
des amerikanischen Bruttoinlandsproduktes.
Ich habe darauf hingewiesen: Die Wall Street wird nie
wieder so sein, wie sie war. Bis vor wenigen Tagen gab
es noch diese zwei Mohikaner unter den Banken: die Investmentbanken Goldman Sachs und Morgan Stanley.
Beide haben sich gerade zu Instituten gewandelt, die wir
als Universalbank bezeichnen würden.
Meine Damen und Herren, die Entwicklungen bei den
US-Investmentbanken Bear Stearns, Lehman Brothers,
bei den beiden großen Hypothekenfinanzierern Fannie
Mae und Freddie Mac und zuletzt bei dem Versicherungsunternehmen AIG spiegeln ein schwieriges Abwägungsproblem wider, das auch wir in Deutschland kennen. Vor allem die staatlichen Autoritäten stehen vor der
schwierigen Abwägung zwischen dem Erhalt der Funktionsfähigkeit des Finanzmarktes auf der einen Seite und
der Vermeidung einer Ausnutzung staatlicher Unterstützung durch Marktteilnehmer auf der anderen Seite.
({17})
Für Anhänger der sozialen Marktwirtschaft ist es
selbstverständlich, dass der Marktmechanismus in beide
Richtungen greifen muss: den Tüchtigen und denjenigen, die schnell Innovationen umsetzen, ihre Pioniergewinne zu überlassen und eine gute Entwicklung zu ermöglichen, aber diejenigen, die sich verzockt haben,
auch zu bestrafen. Die Abwägung beginnt dann, wenn
diejenigen, die man gerne durch den Marktmechanismus
bestraft sehen möchte, eventuell so laut umfallen, dass
andere in Mitleidenschaft gezogen werden. Staatliche
Autoritäten müssen immer abwägen, und zwar unter Ungewissheit und bei unvollständiger Informationsbasis.
Es ist etwas anderes, ob man ein halbes Jahr später
schlau vom Rathaus herunterkommt oder ob man teilweise innerhalb von 24 oder 36 Stunden, wie ich es erlebt habe, zwischen der Gefahr systemischer Krisen für
den gesamten Finanzmarkt und der Gefahr, von Marktteilnehmern ausgenutzt zu werden, abwägen muss - von
solchen Marktteilnehmern, die darauf spekulieren, dass
der Staat mit Steuergeldern oder die Notenbanken mit
frischem Geld schon bereitstehen und intervenieren
- will sagen: das Schlimmste verhindern - und somit das
riskante Geschäftsgebaren dieser Marktteilnehmer quasi
im Nachhinein noch belohnen.
({18})
Ich kritisiere die staatlichen Stellen in den USA für
ihr spätes Vorgehen, aber ich begrüße ihr differenziertes
Vorgehen. Staatliche Autoritäten in den USA haben
nicht jedes Institut gerettet, aber sie haben dann eingegriffen, wenn es nicht nur im US-Interesse notwendig
war, sondern auch um die Wahrnehmung von Verantwortung für das weltweite Finanzsystem ging.
Dabei entbehren die Diskussionen um Rettungsaktionen diesseits und jenseits des Atlantiks nicht einer gewissen Pikanterie; ich könnte auch sagen: Scheinheiligkeit.
({19})
Da werden im Fall der USA die milliarden- und billionenschweren Rettungsaktivitäten der Regierung als Beleg für Tatkraft, tüchtiges Regierungsmanagement und
Handlungsfähigkeit der Regierung gelobt. In Deutschland werden dagegen die eingesetzten Steuergelder und
die Aktivitäten von Landesregierungen und der Bundesregierung als Versagen des Staates beklagt.
({20})
Das ist eine gewisse Beliebigkeit.
({21})
Da wird mein amerikanischer Kollege „Hank“ Paulson
als „King Henry“ - ich gönne ihm das von Herzen - auf
dem Titelblatt des Magazins Newsweek dargestellt. Damit möchte ich nicht suggerieren, mir müsse Gleiches
widerfahren.
({22})
- Ich würde es auch nicht ablehnen.
({23})
Herr Minister, vielleicht kann ich Ihnen zwischenzeitlich mit einer Sonderausgabe der Zeitschrift Das Parlament weiterhelfen.
({0})
Dann müssten wir darüber diskutieren, Herr Präsident, wie viel von der Auflage ich aufkaufen dürfte.
({0})
Verstehen Sie mich jenseits dieses ironischen Ausfluges nicht falsch: Wir brauchen in der Tat keine Titelbilder. Was ich aber einfordere oder - das ist etwas bescheidener - erbitte, sind etwas mehr Ausgewogenheit und
etwas weniger Beliebigkeit in der politischen Diskussion.
({1})
Das, was die Amerikaner im Großen machen, haben
wir, bezogen auf die Banken, die in Deutschland in Verlegenheit gekommen sind, im Kleinen gemacht: die Landesregierungen in ihren Verantwortungen, was die Landesbanken betrifft, der Bund mit Blick auf seine
indirekte, aber bestehende Verantwortung über die KfW
bei der IKB. Deshalb und weil die Verhältnisse bei uns
anders sind, ist ein Programm, das dem ähnlich ist, das
die Amerikaner aufgelegt haben, in Deutschland oder in
Europa nicht sinnvoll und auch nicht notwendig. Das ist
der Grund dafür gewesen, warum wir im Namen der
Bundesregierung über dieses Wochenende - bis hin zu
einer großen Telefonkonferenz der G-7-Finanzminister
und Notenbankgouverneure - für Deutschland die Übernahme eines solchen Programms und die Beteiligung abgelehnt haben.
({2})
Das bedeutet nicht, dass die deutsche Politik untätig
ist. Im Gegenteil: Das Bundesfinanzministerium, die
Aufsichtsbehörde BaFin und die Deutsche Bundesbank
stehen in einem sehr engen Kontakt mit ihren jeweiligen
internationalen Partnerbehörden und den Spitzen der
deutschen Kreditwirtschaft. Das Krisenmanagement in
Deutschland hat bisher funktioniert. Ich wiederhole das,
was ich in einer meiner beiden Haushaltsreden gesagt
habe: Ich bedanke mich namentlich bei der Deutschen
Bundesbank und der BaFin - an ihrer jeweiligen Spitze
bei Herrn Weber und Herrn Sanio - für das bisher entwickelte Krisenmanagement.
({3})
Für den heutigen Nachmittag habe ich die wichtigsten
Vertreter der deutschen Finanzwirtschaft zu einem Meinungsaustausch eingeladen. Ich möchte nicht, dass dies
zu einem Krisengipfel hochstilisiert - mein Sohn würde
„hochsterilisiert“ sagen - wird. Vielmehr ist es ein ganz
normales Gespräch, in dem es darum geht, wie die Lage
ist und welche Schlussfolgerungen wir zu ziehen haben.
Ich möchte mich in diesem Gespräch mit den Vertretern
von Banken und Versicherungen insbesondere auf meinen wichtigen Termin am 10. und 11. Oktober in Washington vorbereiten; dann werden nämlich im Rahmen
des G-7-Finanzministertreffens und des IMFs all diese
Themen auf der Tagesordnung stehen.
Zum wirksamen aktuellen Krisenmanagement gehört auch, dass die BaFin ein Veräußerungs- und Zahlungsverbot zur Sicherung der Vermögenswerte gegenüber der Lehman Brothers Bankhaus AG hier in
Deutschland erlassen hat. Das ist konkretes Krisenmanagement. Außerdem hat die BaFin in Abstimmung mit
anderen Aufsichtsbehörden einen sehr wichtigen Schritt
vollzogen: Sie hat am vergangenen Freitag ein sofortiges
Verbot von Leerverkäufen von Aktien führender Unternehmen der Finanzbranche erlassen.
({4})
In meinem Schlussteil, in dem es darum geht, wie das
zukünftige Krisenmanagement aussieht, werde ich
meine Position dahin gehend erläutern, ob wir nicht generell ein solches Verbot von Leerverkäufen verabreden
sollten.
({5})
Eines scheint mir völlig klar zu sein: Um das in den
und gegenüber den Finanzmärkten und ihren Akteuren
massiv verloren gegangene Vertrauen wieder zurückzugewinnen, wird es bei weitem nicht ausreichen, nur ein
Krisenmanagement zu entwickeln.
({6})
Krise bewältigen und dann wieder zur Tagesordnung
übergehen - das wird nicht reichen.
Es geht um zwei Seiten einer Medaille: Zum einen
müssen wir jetzt Krisenmanagement betreiben. Zum anderen geht es darum, wie wir eine Wiederkehr einer ähnlich oder sogar gleichgearteten Krise vermeiden - ohne
genau zu wissen, wie diese aussieht.
Es geht um nicht mehr und nicht weniger, als die Finanzmärkte sozusagen neu zu zivilisieren und auf diesem Wege vergleichbare Krisen in Zukunft möglichst zu
verhindern oder zumindest in ihrer Schärfe zu begrenzen. Wie können wir das erreichen? Sicherlich nicht
allein durch moralische Appelle gegen exzessive Übertreibungen und eine spekulative Zügellosigkeit. Eine
wirksame mittel- bis langfristige Antwort auf die Krise
kann deshalb nicht allein in erneuten Selbstverpflichtungserklärungen oder Selbstregulierungen der Finanzmarktindustrie liegen. Das reicht nicht.
({7})
Die mir wichtige Antwort ist eine stärkere Regulierung
auf internationaler Ebene, weil sie sich weitgehend der
nationalstaatlichen Reichweite entzieht.
({8})
Dabei müssen wir - das ist eine weitere häufig in Vergessenheit geratene Nachricht - keineswegs bei Null anfangen, sondern wir können auf bereits erreichten Fortschritten aufbauen. Dies ist nicht zuletzt - das sei mit
einem gewissen Stolz, aber auch im Brustton der Überzeugung gesagt - das Verdienst dieser Bundesregierung.
({9})
Ich will dabei nicht unerwähnt lassen, dass Bundeskanzler Schröder damals bei dem Weltwirtschaftsgipfel in
Gleneagles dieses Thema mit auf die Tagesordnung gesetzt hat.
({10})
Aber wir waren es, unter unserer G-7- und EU-Präsidentschaft, die im ersten Halbjahr 2007 das Thema einer
stärkeren Regulierung der Finanzmärkte auf die internationale Agenda gesetzt haben, immerhin mit dem Erfolg,
dass in einem mühsamen Lernprozess internationale
Gremien jetzt - natürlich in dem Entsetzen über die Finanzmarktkrise - weitreichenden Maßnahmen zur Krisenprävention zugestimmt haben und sehr zielstrebig
auch die Umsetzung dieser Maßnahmen betreiben, um
Krisen dieser Art zukünftig zu vermeiden.
Weil das so ist, macht es überhaupt keinen Sinn, wenn
Experten oder diejenigen, die sich dafür halten, nun täglich eine Kakofonie an zusätzlichen Vorschlägen darüber
anstimmen. Es kommt auf die Umsetzung der Maßnahmen an, die wir beschlossen haben. Das ist die Herausforderung.
({11})
Ich höre jetzt, ich müsste mit Blick auf die Bewältigung
der derzeitigen Krise so schnell wie möglich die Eigenkapitalregeln verschärfen. Das kann jedoch absolut kontraproduktiv sein, weil ich damit noch weitere Institute
in den Orkus werfen würde.
({12})
Sauber wird die Treppe natürlich nur dann, wenn wir
sie mit dem regulatorischen Besen von oben nach unten
kehren. Das heißt, zuallererst sind regulierende Maßnahmen notwendig, die weltweit gelten. Auf der nächsten
Ebene brauchen wir ein gemeinsames Spielfeld in Europa. Dann erst steht an, dass wir das auf nationalstaatlicher Ebene, kompatibel mit dem, was auf internationaler
Ebene verabredet worden ist, auch in Rechtsetzungsschritten vollziehen müssen.
Bereits kurz nach Beginn der Finanzmarktturbulenzen hat Deutschland im September 2007 das Forum für
Finanzmarktstabilität - das ist das Financial Stability
Forum - gebeten, nicht nur eine Analyse vorzunehmen,
sondern Empfehlungen an uns zu adressieren, wie ähnliche Krisen in Zukunft verhindert werden können. Mir
war wichtig, dass es zu einer Stärkung der Eigenkapitalanforderungen, einer Verbesserung des Liquiditätsund Risikomanagements, einer Erhöhung der Transparenz sowie zu Reformen bei den Ratingagenturen
kommt, die bei der Entstehung dieser Krise nun wahrlich
eine wenig rühmliche Rolle gespielt haben.
({13})
In meinem Schreiben an meinen japanischen Amtskollegen, der den Vorsitz der G-7-Finanzminister Anfang dieses Jahres von uns übernahm, habe ich diese Bereiche, in denen wir Verbesserungen brauchen, weiter
ausgeführt. Vor allem habe ich mehr generelle Eigenkapitalpuffer als Stoßdämpfer für das Finanzmarktsystem
vorgeschlagen. In der Tat war ich angenehm überrascht,
dass im April 2008 unter dem Vorsitz des italienischen
Notenbankpräsidenten Mario Draghi das Financial Stability Forum bemerkenswerte Empfehlungen nicht nur
vorgelegt hat, sondern sie anschließend auch beschlossen worden sind, unter Einbeziehung der angloamerikanischen Freunde.
Inzwischen hat die Umsetzung der Empfehlungen
gute Fortschritte gemacht. Die Bundeskanzlerin hat dies
während des Weltwirtschaftsgipfels in Heiligendamm
weiter mit vorangebracht. Das ist eine Abfolge von Terminen gewesen. Die vom Financial Stability Forum ausgearbeiteten 100-Tage-Prioritäten sind weitgehend umgesetzt. Sie umfassen wichtige Maßnahmen wie zum
Beispiel die Offenlegung der Risiken durch die Banken,
die Vorlage einer überarbeiteten Leitlinie für das Liquiditätsmanagement durch den Baseler Bankenausschuss
sowie die Überarbeitung des Verhaltenskodex für Ratingagenturen durch eine Einrichtung, die IOSCO heißt.
Aber die Umsetzung dieses Verhaltenskodex wird von
Externen zu überprüfen sein, nicht von ihr selber.
({14})
Auch mit der Umsetzung der übrigen Empfehlungen
geht es planmäßig voran. So hat beispielsweise der Baseler Bankenausschuss ein Konsultationspapier zur Berechnung des spezifischen Risikos im Handelsbuch der
Banken vorgelegt. Der Ausschuss hat zudem angekündigt, noch in diesem Jahr eine Leitlinie für eine Stärkung
der Eigenkapitalanforderungen für bestimmte strukturierte Finanzprodukte und Liquiditätslinien an Zweckgesellschaften vorzulegen. Eine überarbeitete europäische
Bankenrichtlinie wird eines Tages von Ihnen beraten
werden müssen bei der Übertragung in nationalstaatliches Recht.
Verständlicher ausgedrückt: Was wir bisher erlebt haben, ist, dass es viele Banken gibt, die sehr komplizierte
Produkte außerhalb der Bilanzen geführt haben. Die
Hauptanstrengung geht dahin - ganz banal ausgedrückt -,
ihnen dies nicht mehr zu erlauben, sondern dieses
Engagement in die Bilanzen zurückzuholen
({15})
mit der Anforderung, dass dann Eigenkapitalunterlegungen notwendig sind. Das ist die disziplinierende
Klammer für Bankmanager, mit dem Geld vorsichtiger
umzugehen.
({16})
Bei dem schon erwähnten nächsten Treffen in Washington Mitte Oktober werden wir einen umfangreichen
Bericht über den Stand der Umsetzung der Empfehlung
des Financial Stability Forums erhalten, und gleichzeitig
werden wir beraten, welche weiteren Maßnahmen ergriffen werden müssen, unter anderem durch eine verbesserte Zusammenarbeit des Internationalen Währungsfonds und des Financial Stability Forums im Sinne einer
Art Frühwarnsystem, wie wir es jüngst vorgeschlagen
haben. Größe und Tiefe der Krise verlangen, nicht bei
dem stehen zu bleiben, was wir bereits im Frühjahr richtig erkannt und beschlossen haben.
Auch in der Europäischen Union setzt sich Deutschland schon seit einigen Monaten energisch und erfolgreich für eine Stärkung der Finanzstabilität ein. Nach
Ausbruch der Krise im Bankensektor vor einem Jahr hat
der ECOFIN-Rat am 9. Oktober 2007 ein Arbeitsprogramm zur Stärkung der Effizienz und zur Stabilität beschlossen. Diese sogenannte ECOFIN-Roadmap enthält zahlreiche Maßnahmen, um Schwachstellen der
internationalen Finanzmärkte zu beseitigen. Bei diesen
Maßnahmen geht es darum, die Aufsicht über die Finanzmärkte und das grenzüberschreitende Krisenmanagement
zu stärken, die Transparenz an den Finanzmärkten zu erhöhen, Aufsichtsregeln zu Kapitalanforderungen und das
Risikomanagement zu stärken. Ich werde gerne über den
Finanzausschuss und den Haushaltsausschuss eine Vorlage liefern, damit alle Parlamentarier in der Lage sind,
diesen Maßnahmenkatalog im Einzelnen nachzuvollziehen.
Auch bei der Umsetzung dieser Roadmap gibt es
Fortschritte. Einige grenzüberschreitende Gruppen der
Aufsichtsbehörden sind bereits eingerichtet. Ein Memorandum of Understanding zwischen den europäischen
Aufsichtsbehörden, Zentralbanken und Finanzministerien ist bereits unter der slowenischen Präsidentschaft
beschlossen worden.
In Deutschland - um jetzt auf die nationale Ebene zu
kommen - hat das dreisäulige Universalbankensystem
wichtige Stabilisierungsfunktionen übernommen; ich
sagte es bereits. Je fragiler die Situation auf den internationalen Finanzmärkten wird, desto mehr sollten wir
dankbar sein, dass wir im dreigliedrigen deutschen
Bankensystem Sparkassen haben, die eben nicht, wie es
Mark Twain einmal formuliert hat, bei schönem Wetter
Regenschirme ausgeben, die sie bei den ersten Regentropfen wieder zurückhaben wollen.
({17})
Auch und gerade vor dem Hintergrund dieser wichtigen realwirtschaftlichen Funktion der Sparkassen und
auch der Genossenschaftsbanken, die ich in diesem Zusammenhang nicht vergessen will, als Stabilitätsanker
und angesichts der extremen Nervosität auf den Märkten
kann ich der EU-Kommission nur dringend raten, das
laufende Beihilfeverfahren mit einer solchen Verantwortung zu führen, die die derzeitigen Schwierigkeiten auf
den Finanzmärkten insgesamt berücksichtigt.
({18})
Das heißt nicht, dass bei den Landesbanken alles
beim Alten bleiben soll. Ich will das deutlich sagen. Wer
es bis heute noch nicht wahrhaben wollte, dem hat spätestens die Finanzmarktkrise mit aller Wucht gezeigt,
dass das traditionelle Geschäftsmodell der Landesbanken nicht mehr den Anforderungen der heutigen Zeit
entspricht.
Deshalb muss es jetzt darum gehen, für einen konsolidierten Landesbankensektor neue Geschäftsmodelle zu
definieren, mit denen die Landesbanken übermäßig hohe
Risiken von hoch volatilen Kapitalmarktgeschäften vermeiden - ich habe nie verstanden, warum das ihr eigentliches Geschäft sein sollte -, nachhaltig angemessene
Erträge erwirtschaften und die Sparkassen in ihrem Leistungsspektrum für die Kunden wirksam unterstützen
können.
({19})
Dazu bedarf es nicht sieben selbstständiger Landesbanken in Deutschland.
Schon seit langem sind hier die Bundesländer gefordert. Sie müssen regionale politische Egoismen überwinden und sich endlich überregionalen Zusammenschlüssen
öffnen, um den Verbund der Sparkassen-Finanzgruppe
und damit das deutsche Bankensystem insgesamt nachhaltig zu stärken.
({20})
Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Ich warne alle
Beteiligten vor Planspielen mit falschen Annahmen.
Vom Bund ist bei der Bereinigung der Probleme im Landesbankenbereich keine finanzielle Unterstützung zu erwarten.
({21})
Die Hausaufgaben müssen diejenigen machen, die Anteilseigner oder - als Großväter - immer noch die Gewährträger dieser Institute sind.
Um mehr Rationalität in den Finanzmarkt zu bringen
und um den Risiken entgegenzuwirken, die mit Finanzinvestitionen für Unternehmen und die Gesamtwirtschaft
einhergehen, meine Damen und Herren, hat die Bundesregierung vor einigen Monaten das sogenannte Risikobegrenzungsgesetz eingeführt. Ich erinnere daran: Dies
ist eine Reaktion auf das gewesen, was wir seit dem letzten Sommer erleben. Ich will das nicht im Einzelnen ausführen, weil mir die Zeit davonläuft, aber ich wäre sehr
dankbar, wenn mit Ihrer Unterstützung die wesentlichen
inhaltlichen Bestandteile dieses Risikobegrenzungsgesetzes noch einmal, und zwar im Sinne des Konsumentenschutzes und übrigens auch des Arbeitnehmerschutzes
sowie einer erhöhten Transparenz, an die Beschäftigten
und ihre Arbeitnehmervertreter in Form von Daten und
Informationen weitergegeben werden, die ihnen mehr
Sicherheit für ihren Arbeitsplatz geben.
({22})
Meine Damen und Herren, es gibt nichts zu beschönigen: Wir befinden uns mitten in der schwersten Finanzkrise seit Jahrzehnten, in der wir allerdings den SuperGAU, den Kollaps des Weltfinanzsystems bisher verhindern konnten. Niemand - kein Ökonom, kein Finanzminister, kein Zentralbankchef dieser Welt - wird Ihnen
mit Bestimmtheit sagen können, wie lange wir noch mit
dieser Krise und ihren Begleiterscheinungen leben müssen. Wenn jemand behauptet, er sehe Licht am Ende des
Tunnels, dann kann es ihm passieren, dass es die Lichter
des entgegenkommenden Zuges sind.
({23})
Ich appelliere, auch angesichts des bislang erfolgreichen Krisenmanagements, an alle Verantwortlichen in
der Politik und in den drei Säulen des deutschen Bankensystems: Dies ist nicht der Zeitpunkt für kleinliche Diskussionen und kleinteilige Hakeleien, mit denen man
versucht, auf Kosten des vermeintlichen Wettbewerbers
kurzfristige Geländegewinne zu erzielen.
Ich bin sehr an einer geschlossenen Aufstellung des
deutschen Finanzsektors in Brüssel interessiert.
({24})
Es ist der Zeitpunkt, um gemeinsam, mit vereinten Kräften durch die Krise durchzukommen und gleichzeitig das
globale Finanzsystem stabiler zu machen, nicht nur im
Interesse der Finanzwirtschaft, sondern viel mehr noch
im Interesse der Verbraucher, der Wirtschaft, aller Menschen in unserem Land.
Eine Erkenntnis aus der Krise lässt sich jetzt ziehen:
Die Wall Street, das Epizentrum dieser Krise, wird nicht
mehr das sein, was sie in den letzten Jahrzehnten war.
Eine weitere Erkenntnis ist, dass wir nach der Bankrotterklärung des in weiten Teilen des Finanzmarktes in den
letzten Jahrzehnten dominierenden Laisser-faire-Kapitalismus neue „Verkehrsregeln“ brauchen, wie Helmut
Schmidt es jüngst formuliert hat. Er macht darauf aufmerksam, dass wir für den internationalen Luftverkehr
Verkehrsregeln haben, aber für die internationalen Finanzmärkte nicht.
({25})
Diese neuen „Verkehrsregeln“, an denen wir im G-7wie auch im europäischen Bereich intensiv arbeiten,
können nur handlungsfähige staatliche Institutionen
schaffen und durchsetzen, die sich international koordinieren, und zwar zum Wohle aller, der strauchelnden Finanzinstitutionen genauso wie der Privatanleger, die sich
zu Recht nach mehr staatlicher Sicherheit auf den Finanzmärkten sehnen.
Ich teile deshalb dezidiert die Auffassung von Herrn
Röttgen, dass die Finanzmarktkrise die Idee der sozialen
Marktwirtschaft auf lange Sicht weltweit stärken
könnte.
({26})
Auch ich sehe in den Turbulenzen auf den Finanzmärkten nicht das Ende der marktwirtschaftlichen Ordnung,
aber die Krise zeigt eindeutig die Notwendigkeit und
Aktualität von staatlichem Handeln, das den Märkten
Spielregeln geben und damit auch Grenzen setzen muss.
({27})
In den vergangenen Jahren wurde viel über Staatsversagen geredet und geschrieben, manches zu Recht. Ich
weiß aus eigenem Erleben, dass staatliches Handeln keineswegs immer effizient abläuft. Aber es wurde zu wenig über Marktversagen geredet.
({28})
Dass es dies real gibt, und zwar mit gravierenden Auswirkungen auf das Leben aller, erleben wir gerade.
Weder der bloße Ruf nach mehr Staat noch der simple
Glaube an den wettbewerblichen Markt wird der Aufgabe gerecht, vor der wir stehen, nämlich Wirtschaft so
zu gestalten, dass alle an einem stabilen, möglichst krisenfreien Wachstum teilhaben können.
Staatliche Institutionen müssen im internationalen
Verbund Rahmen setzen, Regeln definieren und für ihre
Einhaltung sorgen. Die Marktteilnehmer müssen diesen
Rahmen kreativ ausfüllen, nicht getrieben von Gier und
Kurzatmigkeit, sondern von Verantwortung für die Gesellschaft.
({29})
Das ist unser, das ist mein Verständnis von sozialer
Marktwirtschaft. Das grenzt sich ab von jedem Neoliberalismus und jedem Neoetatismus.
Neue „Verkehrsregeln“ für den Finanzmarkt sind
notwendig. Was heißt das konkret? Damit will ich mit
einigen Punkten zum Schluss kommen.
Erstens. Wir müssen zukünftig verhindern, dass Risiken durch Finanzinnovationen außerhalb der Bilanz
platziert werden können; davon sprach ich schon.
({30})
Wir wollen, dass die Banken Risiken eingehen können
- das ist prägend für das Bankengeschäft -, aber nur solche, die sie mit ausreichend Eigenkapital unterlegt und
in der Bilanz aufgeführt haben. Nur solche Transparenz
schützt vor Krisen wie der gegenwärtigen. Das bedeutet
nicht, in Zukunft Finanzinnovation zu verhindern, aber
es bedeutet, sie transparent zu machen, und zwar auch
den Prozess ihrer Entstehung.
Zweitens. Wir brauchen höhere Liquiditätsvorsorge
bei den Banken. Eines der Hauptprobleme ist der Mangel an Liquidität gewesen. Diejenigen, die Liquidität haben, sitzen darauf wie eine Glucke, und diejenigen, die
keine haben, japsen und kriegen kaum noch Luft, weil
ihnen im Interbankenverkehr diese Liquidität nicht gegeben wird.
Drittens. Es muss internationale Standards für eine
stärkere persönliche Haftung der verantwortlichen Finanzmarktakteure geben.
({31})
Viertens. Wir müssen wieder zu einem engeren Zusammenhang zwischen Risiko und Rendite kommen.
Das heißt auch, es muss endlich Schluss sein mit dem
wahnsinnigen Streben nach immer höheren Renditen ein Quartal nach dem anderen. Allen Beteiligten muss
klar sein, dass sich Renditen von 25 Prozent nicht erzielen lassen, wenn nicht unverhältnismäßig hohe Risiken
eingegangen oder andere Marktteilnehmer vorsätzlich
beschädigt werden.
({32})
Ein solches Renditerennen führt früher oder später zum
Zusammenbruch der Märkte, weil es nur auf Kosten anderer geht. Es ist schizophren,
({33})
wenn die Anreiz- und Vergütungssysteme der Banken
die Jagd nach Umsatzvolumen und Renditen befeuern,
ohne die dabei eingegangenen Risiken zu berücksichtigen. Das wollen wir ändern. Das ist auch eine Aufgabe
der Beteiligten selbst. Solange weiterhin zunehmend
variable Gehaltsbestandteile in Wirklichkeit das Volumen der Vergütung von Bankmanagern ausmachen, so
lange wird die Jagd weitergehen, so lange werden sie
weiter versuchen, so viel Volumen wie möglich zu akquirieren, weil davon ihre Boni, ihre variablen Vergütungsbestandteile, abhängig sind, so lange werden sie
den Blick nicht darauf lenken, welche Risiken sie sich
damit gleichzeitig an den Hals ziehen.
({34})
Fünftens. Wir brauchen eine deutlich engere Zusammenarbeit zwischen dem Financial Stability Forum und
dem Internationalen Währungsfonds. In meinen Augen
sollte der IWF - er ist neben der Weltbank die letzte Institution, die vom Bretton-Woods-System übrig geblieben ist - die Kontrollinstanz für die Einhaltung weltweiter Finanzmarktstandards werden. Wir haben diese
Institution. Vor dem Hintergrund des Rückgangs ihrer
traditionellen Aufgaben läuft sie zunehmend ein bisschen ins Leere. Die Überwachung, die Kontrolle weltBundesminister Peer Steinbrück
weiter Finanzmarktstandards wäre eine neue Aufgabe
für diese bestehende, geachtete Institution.
({35})
Sechstens. Im Sinne von mehr Transparenz und Stabilität auf den Finanzmärkten müssen wir gemeinsam auf
internationaler Ebene zu einem Verbot rein spekulativer
Leerverkäufe kommen.
({36})
Siebtens. Um wieder ein nachhaltiges Risikobewusstsein bei den Banken zu erreichen, werde ich mich bei
dem bevorstehenden G-7-Treffen in Washington dafür
einsetzen, dass Kreditrisiken, die die Banken eingehen,
von diesen nicht mehr zu 100 Prozent verbrieft und damit weitergereicht werden können.
({37})
Das ist eine Maßnahme, die schwer zu erklären ist, die
aber ihre Auswirkungen hat. Aus meiner Sicht sollte das
veräußernde Institut verpflichtet werden, zukünftig immer bis zu 20 Prozent der eingegangenen Kreditrisiken
in den eigenen Büchern zu führen, und nicht berechtigt
sein, sie in Form von irgendwelchen Derivaten weiterzureichen.
Achtens. Ich werde mich bei den europäischen Partnern für eine weitere europäische Harmonisierung der
Aufsicht stark machen. Ich warne aber davor, zu glauben, dass man mit einem riesigen Wurf, quasi mit einem
Urknall eine europäische Aufsichtsbehörde schaffen
könnte, nach dem Motto: Wenn wir ein Problem haben,
gründen wir einen neuen Club. Das wird ein eher evolutionärer Vorgang sein müssen: ausgehend von dem, was
wir schon in Gang gesetzt haben, über die Colleges of
Supervisors und die Gruppenaufsicht. Dass vielleicht in
zehn Jahren eine gemeinsame europäische Institution
ähnlich der EZB steht, will ich nicht ausschließen. Einige in diesem Saal kommen vielleicht zu dem Ergebnis:
Es ist die EZB.
({38})
Das könnte sein. Ich bitte aber darum, in dieser Situation
nicht gleich wieder mit Vorschlägen zu kommen, die erkennbar übers Knie gebrochen wurden.
Ich bin zuversichtlich, dass diese acht erwähnten
Punkte, die im Wesentlichen „Verkehrsregeln“ enthalten,
dazu führen können, dass zukünftige Finanzkrisen nicht
die Sprengkraft entwickeln, wie das aktuell der Fall ist.
Lassen Sie mich abschließend einige Bemerkungen
bezogen auf die deutsche Wirtschaft und die öffentlichen
Haushalte machen. In Übereinstimmung mit dem Bundesbankpräsidenten sehe ich keine Kreditklemme, aber
ich sehe eine Verschärfung von Kreditkonditionen, die
sich natürlich auch auf die Realwirtschaft auswirken
werden. Die Bürger müssen keine Angst um ihr Erspartes haben. Unsere Realwirtschaft wird in Mitleidenschaft
gezogen. Die Abwärtsrisiken für die Konjunktur sind
nicht zu ignorieren.
In welchem Ausmaß die öffentlichen Haushalte davon betroffen sind, liegt allerdings an mehreren Faktoren. Es liegt weniger an der realen Wachstumsrate und
sehr viel mehr an der nominalen Wachstumsrate. Es liegt
vornehmlich auch an der Entwicklung des Arbeitsmarktes. Davon ist abhängig, wie die tatsächlichen Steuereinnahmen sind. Ich darf Ihnen berichten: Bisher - jedenfalls im laufenden Jahr - sind diese Steuereinnahmen
von diesen Abwärtsrisiken für die Konjunktur nicht berührt. Es ist auch davon abhängig, wie die Elastizitäten
sind. Es geht um die Effekte einer abnehmenden Wachstumsrate auf die staatlichen Einnahmen und auf die Arbeitsmärkte. Wir sind dort als Volkswirtschaft in den
letzten Jahren besser geworden. Es liegt auch daran, wie
flexibel wir sind, wieder Fahrt aufzunehmen, wenn sich
die Rahmendaten wieder etwas verbessern.
Wir sind immer noch, aber immer weniger von der
Entwicklung in den USA abhängig. Andere dynamische
Weltregionen tragen mehr und mehr dazu bei, dass die
deutschen Exportaktivitäten sehr viel differenzierter in
der Welt laufen und wir deshalb gegenüber den Einschlägen, die über den Atlantik kommen, unabhängiger
sind.
Die neue Wachstumsprojektion der Bundesregierung
erfolgt Mitte Oktober. Die Steuerschätzung kommt Anfang November. Ich sage: Diese bleiben abzuwarten, ehe
jemand versucht, mit eigenen Schätzungen Schlagzeilen
zu machen. Die Bundesregierung wird ihren Kurs beibehalten, ihren Planungen keine zweckoptimistischen Eckpunkte zugrunde zu legen. Damit sind wir in den letzten
drei Jahren gut gefahren.
({39})
Das wird natürlich Einfluss auf die Haushaltsberatungen haben und auch manche Wunschzettel oder eilfertige Versprechen aushebeln. Der Kurs der Bundesregierung, die Konsolidierung fortzusetzen, die
automatischen Stabilisatoren zur Geltung zu bringen, gegenfinanzierte Entlastungen für die Bürgerinnen und
Bürger zu finanzieren und Zukunftsinvestitionen zu tätigen, bleibt richtig.
Die Tugenden, die Max Weber vor hundert Jahren für
einen Politiker beschrieben hat, sind aktueller denn je:
Leidenschaft, Verantwortungsbewusstsein und Augenmaß.
Vielen Dank für Ihr Zuhören.
({40})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder wird für angemessen halten, dass ich bei der außerordentlich komplizierten und gleichzeitig besonders wichtigen Materie
erst gar nicht den Versuch unternommen habe, auf die
Differenz zwischen der angemeldeten und der tatsächlichen Redezeit aufmerksam zu machen. Ich will darauf
hinweisen, dass ich das für die erste Runde der jeweiligen Fraktionsredner ähnlich halten möchte, mit der aus18978
Präsident Dr. Norbert Lammert
drücklichen Bitte, das jetzt nicht als Generalgenehmigung für beliebige Festansprachen misszuverstehen.
({0})
Nun eröffne ich die Aussprache und erteile als Erstes
das Wort dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms für die
FDP-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Ich glaube, das Thema gibt keinen
Anlass zu Festansprachen; dazu ist es zu ernst. Deswegen möchte ich sagen, Herr Bundesfinanzminister
Steinbrück: Ihrer Analyse insbesondere im ersten Teil
der Rede, aber auch Ihren Bemühungen, zu internationalen Standards der Regulierung im Finanzmarkt zu kommen, stimmt die FDP-Opposition ausdrücklich zu. Daran
ist keine Kritik zu äußern.
({0})
Enttäuscht sind wir allerdings, dass Sie kein Wort der
Selbstkritik dazu geäußert haben, dass es auch hier Fehlverhalten und Staatshaftung gibt.
({1})
Die spannende Frage, ob das nun eigentlich Staatsversagen oder Marktversagen ist, beantworte ich völlig anders als Sie. Wenn Sie Ihre Analyse noch einmal
durchlesen würden, kämen Sie zu demselben Ergebnis
wie ich. Denn Sie haben gesagt, dass es gerade in den
Vereinigten Staaten ein völlig unzureichendes Regulierungssystem gegeben hat. Das ist ein Fehler des Staates
und nicht des Marktes.
({2})
Wenn Sie sich anschauen, was die Ursache dieser
Krise in den Vereinigten Staaten - da liegt die Ursache war, dann erkennen Sie: Es war eindeutig Staatsversagen. Das Wichtigste war, dass die amerikanische Zentralbank unter Greenspan zu lange zu viel zu billiges
Geld zur Verfügung gestellt hat, sodass diese spekulativen Blasen finanziell überhaupt erst möglich geworden
sind.
({3})
Ein Weiteres war, dass das Programm der amerikanischen Bundesregierung unter Bush, Häuser für jedermann erschwinglich zu machen - es wurde angekurbelt
durch Subventionen, durch Steuerbegünstigungen und
durch den Zwang, Freddie Mac und Fannie Mae zu großen Finanzierungskartellen zusammenzuschließen - erst
dazu geführt hat, dass diese verrückte Finanzierungssituation in den USA entstehen konnte: Menschen, die niemals in der Lage waren, auch nur 1 Dollar für ein Haus
zu bezahlen, geschweige denn Zinsen zu tilgen, wurden
Häuser übereignet. Das wäre in Deutschland, auch rechtlich, überhaupt nicht möglich gewesen. Was in den Vereinigten Staaten geschehen ist, war eindeutig Staatsversagen.
({4})
Was hat uns dann in diese Probleme hineingezogen?
Man hat schöne Pakete, in denen schlechte Kredite mit
guten Krediten vermischt worden sind, geschnürt. Die
amerikanischen Ratingagenturen - wir haben leider nur
amerikanische Ratingagenturen - haben darauf
„Triple A“ gestempelt. Dann sind diese Pakete den Anlegern in der ganzen Welt angeboten worden, und die haben natürlich zugegriffen. Wenn das im privaten Bereich
geschehen ist, dann müssen sie dafür eben geradestehen.
So ist das in Deutschland auch. Damit bin ich schon bei
der deutschen Situation.
Wenn aber deutsche Staatsbanken dieses Geschäft betreiben, dann haben wir als Opposition die Aufgabe, uns
vor den Steuerzahler zu stellen, der da in Haftung genommen wird.
({5})
Herr Finanzminister, Sie betonen immer wieder, Ihr
Haushalt sei bis jetzt nur um 1,2 Milliarden Euro belastet worden. Das ist zwar rechnerisch und buchhalterisch
richtig; aber in Wirklichkeit haben Sie - das geben Sie
auch zu - einen Schutzschirm von mindestens
10 Milliarden Euro aufgespannt, wofür der Steuerzahler
geradestehen muss.
({6})
Weil Sie das nicht Ihrem Haushalt entnehmen wollen,
haben Sie mittlerweile buchhalterische Kunstgriffe vorgenommen: Bei der KfW haben Sie etwas getan, was
nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Bilanzierung in
Deutschland überhaupt nicht zulässig wäre. Wenn ich
bei meiner Kaufmannsgehilfenprüfung als Bankkaufmann 1964 das geraten hätte, wäre ich mit Pauken und
Trompeten durchgefallen. Sie haben nämlich gesagt: Die
jetzt eingetretenen Verluste werden mit möglichen Gewinnen in der Zukunft verrechnet. Das widerspricht dem
Vorsichtsprinzip total. Das ist nicht zulässig. Das ist ein
Buchhaltertrick, den Sie anwenden, damit Sie das alles
vorerst aus Ihrem Haushalt heraushalten können.
({7})
Nun will ich noch einmal auf die Punkte zu sprechen
kommen, bei denen die Bundesregierung in der Haftung
ist. Angefangen hat es damit, dass sie die Beteiligung an
der IKB überhaupt eingegangen ist. Das ist 2001 unter
Hans Eichel, Ihrem Vorgänger, geschehen. Damals geschah dies mit der interessanten Begründung, man wolle
abwehren, dass eine ausländische Bank die IKB in Besitz nehmen könne. Damals ging es um die Royal Bank
of Scotland, immerhin eine europäische Bank. Im Endeffekt haben Sie doch - auch auf Druck aus dem Parlament hin - die IKB verkaufen, das heißt quasi verschenken müssen, und zwar an wen? An Lone Star, an eine
amerikanische Heuschrecke, und das, obwohl Sie nur
eine Woche vorher ein Gesetz erlassen haben, durch das
die Beteiligung an solchen Fonds eingeschränkt werden
soll. Auch das ist ein Widerspruch, den der Betrachter
überhaupt nicht auflösen kann.
({8})
2005 hätten Sie die Chance gehabt, die IKB zu verkaufen. Wir haben es Ihnen empfohlen. Sie hätten einen
Milliardengewinn einstreichen können. Nun haben Sie
10 Milliarden Euro Verlust gemacht.
({9})
Herr Präsident, ich bitte darum, dass diese Privatgespräche auf der Regierungsbank aufhören. Wenn das
Parteipräsidium der SPD tagen will, dann kann es das
außerhalb des Parlaments machen.
({10})
Das ist hier ein Haus für alle Parteien.
({11})
Was haben Sie seitdem getan? Die Krise ist nicht erst
im Juni/Juli letzten Jahres aufgeschienen, sondern die
ersten Anzeichen dafür gab es schon im Februar 2007,
als die HSBC-Bank - für die, die sie nicht kennen:
Hongkong and Shanghai Banking Corporation - die ersten Gewinnwarnungen herausgegeben hat. Es folgten jeden Monat weitere Warnungen. Ein vorsichtiger Banker
und eine vorsichtige Aufsicht hätten natürlich schon in
diesem Moment geschaut: Können auch wir betroffen
sein? - Erst im Juli 2007, als die Bude bereits gebrannt
hat, sind Sie aufgewacht.
Danach hat es verschiedene Abschirmungsrunden gegeben. Nach jeder Runde war klar, dass man nicht
wusste, wie hoch das Risiko wirklich ist. Selbst bis heute
weiß man das nicht richtig, sonst hätte nicht das eintreten können, was jetzt gerade in diesem Monat eingetreten ist, nämlich die Überweisung an Lehman Brothers in
Höhe von 350 Millionen Euro, obwohl sie schon pleite
waren. Das sind doch ein drastisches Versäumnis und ein
Fehler der Aufsicht.
({12})
Ich habe bewusst den Bericht des Rechnungshofes
nicht eingesehen, den wir Abgeordnete nur unter Aufsicht lesen dürfen. Ich möchte mir nicht vorwerfen lassen, aus einem geheimen Bericht zu zitieren, und ich
wusste: Am nächsten Tag steht es sowieso in der Zeitung. Schauen Sie heute in die Zeitung, da steht alles
drin. Der Rechnungshof hat schon im Jahre 2003 auf die
Organisations- und Aufsichtsprobleme bei der KfW hingewiesen. Diese Vorwürfe wiederholt er jetzt. Seit seiner
Warnung 2003 hat sich nichts geändert. Was aber viel
schlimmer ist: Seit dem Eintreten der Krise - spätestens
im Juli 2007 - hat sich ebenfalls nichts geändert. Die
Aufsicht ist weiterhin so dilettantisch wie zuvor betrieben worden.
({13})
Es sind immer dieselben Personen, die das machen.
Auch darauf weist der Rechnungshof hin. Da heißt es
ganz klar: Gibt es keine Interessenkonflikte, wenn für
die Aufsicht der KfW und für die Aufsicht der BaFin
dieselbe Person aus dem Finanzministerium zuständig
ist, die auch im Aufsichtsrat der IKB sitzt? Das kann
doch nicht gut gehen. Diese Person überwacht sich ja
selbst. Sie kann ja gar nichts aufdecken. Wie soll sie das
machen? Das müsste dann ein Wunderkind sein.
Die Frage ist: Was haben Sie in dieser Zeit getan? Ich
habe darauf hingewiesen: Sie haben die IKB verkauft.
Sie haben nicht gesagt, was Sie mit der IPEX machen,
mit der Sie die gleichen Probleme haben. Auch diese
müsste privatisiert werden.
({14})
Sie haben bis heute nicht gesagt, was Sie mit der KfW
machen. Bleibt das eine Behörde, oder wird das eine
Bank, die der Bankenaufsicht - das wäre dringend notwendig -, insbesondere der unabhängigen Aufsicht der
Deutschen Bundesbank unterstellt wird? Wie werden die
Aufsichtsstrukturen verändert? Die Antworten auf all
diese Fragen sind Sie schuldig geblieben. Aber auch das
gehört zur Abrechnung und zur Analyse. Deswegen sage
ich: Da sind Fehler passiert, die nicht hätten passieren
dürfen und längst hätten korrigiert sein müssen.
({15})
In der heutigen Ausgabe der FAZ schreibt Bettina
Schulz aus London:
Aber die Kritik muss an der Aufsicht ansetzen. Das
ist für Politiker freilich ein brenzliges Thema: Die
Banken- und Marktaufsicht hat an jedem einzelnen
Finanzplatz katastrophal versagt. Weder die deutsche Bafin noch die britische FSA, die amerikanische Federal Reserve oder die SEC haben erkannt,
dass es Geschäftsmodelle gab, die gefährliche
Schneeballeffekte auslösen könnten.
Ich kann dem nur zustimmen. Das ist das Staatsversagen
der Bundesregierung und des Bundesfinanzministers,
der nach KfW-Gesetz im Benehmen mit dem Bundeswirtschaftsminister für die Aufsicht der KfW zuständig
ist.
({16})
- § 12 des KfW-Gesetzes - ich zitiere -:
Das Bundesministerium der Finanzen übt die Aufsicht über die Anstalt im Benehmen mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie aus.
({17})
Dies sind Sie bei Ihrer Arbeit schuldig geblieben.
Ich will zum Abschluss noch etwas zur Verantwortung sagen. Einige Landesbanken und die dazugehörigen
Regierungen haben in diesem Bereich drastisch versagt.
Sachsen hat dadurch einen Schaden von um die 5 Milliarden Euro verursacht. Als Folge sind immerhin der
Finanzminister und schließlich auch der Ministerpräsident Milbradt zurückgetreten, nicht nur deshalb, aber
auch deshalb. Ein anderes Beispiel ist die Bayerische
Landesbank. In der Bayerischen Landesbank setzt sich
die Hälfte des Verwaltungsrates aus Mitgliedern der
bayerischen Landesregierung zusammen. Der Kohortenführer ist Finanzminister Erwin Huber. Vor der Kommu18980
nalwahl hat er versucht, zu vertuschen, welcher Schaden
im März dieses Jahres entstanden ist;
({18})
bei der Kommunalwahl hat er natürlich eine Niederlage
erlitten. Jetzt, vor der Landtagswahl, wird wieder nicht
klar gesagt, welche zusätzlichen Belastungen durch die
Beteiligung an Lehman Brothers auf die Bayerische
Landesbank zukommen werden.
({19})
Am kommenden Sonntag muss er sich erneut dem Wähler stellen. Warten wir einmal ab, welches Urteil die
bayerischen Wähler sprechen werden.
({20})
Schließlich frage ich die Bundesregierung: Wie stehen Sie zu Ihrer Verantwortung? Was sagen Sie dazu?
Zumindest ein Wort der Entschuldigung beim Steuerzahler wäre angemessen gewesen. Das erwarten wir von Ihnen.
({21})
Dr. Michael Meister ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte für die Unionsfraktion zunächst einmal sagen:
Ich halte es für richtig und begrüße es ausdrücklich, dass
der Bundesfinanzminister heute Morgen für die Bundesregierung eine Regierungserklärung zu diesem Thema
abgegeben hat und dass wir die Gelegenheit haben, über
diese wichtigen und bewegenden Ereignisse eine Aussprache zu führen. Ich halte es auch für richtig, dass wir
das an diesem Ort und sehr zeitnah tun.
Wie wir heute Morgen gehört haben, haben wir es mit
Sicherheit mit einer der größten Finanzkrisen der Weltgeschichte zu tun. Wenn man sich andere Finanzkrisen
der vergangenen 400 Jahre vor Augen führt, wird allerdings deutlich, dass die Mechanismen, über die wir
heute verfügen, besser sind als in früheren Zeiten. Deshalb können wir mit dieser Diskussion auf einem ganz
anderen Niveau starten, als man es in den 30er-Jahren
- Stichwort: Schwarzer Freitag - oder in den 80er-Jahren hätte tun können. Das sollten wir zur Kenntnis nehmen, damit wir wissen, wovon wir bei dieser Diskussion
ausgehen.
Viele Menschen in unserem Land machen sich verständlicherweise Sorgen, was mit ihren Spareinlagen
geschieht. Ich glaube, wir haben in allen drei Säulen unseres Bankensystems Vorkehrungen getroffen, die gewährleisten, dass diese Sorgen unbegründet sind. Auch
das sollten wir klar und deutlich sagen, um nicht für Verunsicherung zu sorgen.
In der Realwirtschaft macht man sich im Hinblick auf
die Kreditfinanzierungen von Unternehmen Sorgen.
Ich stimme dem Finanzminister ausdrücklich zu, dass
sich die Kreditversorgung unserer mittelständischen
Wirtschaft trotz Krise verbessert hat.
({0})
An dieser Stelle möchte ich den Akteuren in diesem Bereich, die natürlich auch den Eigenkapitalvorschriften
Rechnung tragen müssen, dafür meinen Dank sagen.
Da mit AIG auch ein großer Versicherer von der Finanzkrise betroffen ist, will ich noch eine Bemerkung
zur Altersversorgung machen. Möglicherweise werden
nicht alle Renditeerwartungen erfüllt, die man in der
Vergangenheit hatte. Aber auch hier besteht kein Anlass
zur Sorge. Wir können den Menschen sagen: Neben der
gesetzlichen Rente gibt es sowohl im betrieblichen als
auch im privaten Bereich Altersvorsorgeinstrumente, die
auch in der Krise funktionieren. Diese Instrumente dürfen wir in der aktuellen Debatte nicht diskreditieren.
({1})
In der jetzigen Situation heißt es, wir müssten die
soziale Marktwirtschaft hinterfragen. Ich glaube, dass
die soziale Marktwirtschaft durch diese Krise bestätigt
wird. Wir treten für Märkte ein, auf denen klare Rahmenbedingungen und Regelwerke gelten. Was wir nicht
wollen, ist die Beseitigung der Märkte. Was wir auch
nicht wollen, ist die Beseitigung der Regeln.
({2})
Vielmehr müssen wir über die Fragen diskutieren: Wie
können wir diese Regeln vor dem Hintergrund der Probleme, mit denen wir es jetzt zu tun haben, neu adjustieren, und wie können wir die vorhandenen Regelwerke
internationalisieren? Denn als nationaler Gesetzgeber
würden wir uns überheben, wenn wir versuchen würden,
diese Probleme allein zu lösen.
({3})
Ich plädiere dafür, dass wir versuchen sollten, unser
Modell der sozialen Marktwirtschaft bzw. zumindest
seine Grundprinzipien in andere Länder und internationale Organisationen zu exportieren, um im Hinblick auf
die Herausforderungen auf den Märkten ein etwas größeres Sicherheitsnetz zu schaffen. Insofern glaube ich,
dass in dieser Krise auch eine Chance zu sehen ist.
({4})
Ich denke, heute diskutieren wir über die Herausforderungen der internationalen Finanzkrise unter wesentlich besseren Konditionen, als es zu Beginn der Amtszeit
dieser Bundesregierung möglich gewesen wäre. Wir haben ein deutlich größeres Wirtschaftswachstum als in
den Jahren zuvor. Wir haben eine deutliche Besserung
am Arbeitsmarkt zu verzeichnen. Wir haben eine viel
entspanntere Haushaltssituation, wenngleich sie noch
nicht in Ordnung ist. Und unsere Wirtschaft befindet
sich in struktureller Hinsicht in einer deutlich besseren
Verfassung, als es früher der Fall war.
Man muss sich einmal die Frage stellen, was geschehen wäre, wenn uns eine solche Krise im Jahre 2005 ereilt hätte, als die Konditionen unserer Wirtschafts- und
Arbeitsmarktverfassung noch anders aussahen. Ich
glaube, die Probleme und die Auswirkungen im Lande
wären wesentlich größer gewesen. An dieser Stelle sind
wir ein Stück weit besser geworden.
({5})
Ich möchte auch ausdrücklich unterstreichen, dass wir
nicht erst nach Auftreten der Krise damit begonnen haben, über die Krise zu diskutieren, sondern dass wir vorher gehandelt haben. Die Tagung in Heiligendamm und
die Vorbereitungen dafür lagen vor Beginn der Krise.
Wenn wir uns das Hauptphänomen der Krise anschauen, dann stellen wir fest, dass es eine Vertrauenskrise zwischen den Akteuren ist. Deshalb muss man
sich die Frage stellen, wie man neues Vertrauen erzeugen kann. Das kann man durch Offenheit und Transparenz erreichen. Deshalb ist der Ansatz, für mehr Transparenz in den Märkten zu werben - das war der Ansatz
der Bundesregierung, Herr Finanzminister und Frau
Bundeskanzlerin -, die zentrale Aussage, um neues Vertrauen in den Märkten zu erzeugen und damit die Akteure wieder handlungsfähig zu machen.
({6})
Ich hoffe, dass durch diese Krise auch die Chance eröffnet wird, die Reserviertheit, die wir in Großbritannien
und den USA damals verspürt haben, ein wenig zu verringern, damit wir damit vorankommen, das, womit damals begonnen wurde, dauerhaft zu implementieren und
damit mehr Transparenz und Vertrauen zu erreichen.
Ich will ausdrücklich sagen: Finanzmärkte sind für
sich genommen nichts Böses. Sie tragen wesentlich zum
Wohlstand unserer Gesellschaft bei: zum einen direkt
über diejenigen, die dort beschäftigt sind - wir reden immerhin über 1,5 Millionen Menschen in Deutschland,
die in diesem Sektor beschäftigt sind; diese Arbeitsplätze und den Anteil am Bruttoinlandsprodukt können
wir nicht einfach wegdiskutieren -, und zum anderen natürlich, indem dadurch Geschäfte in der Realwirtschaft
möglich sind und sich finanzieren lassen. Deshalb brauchen wir die Finanzmärkte, aber wir müssen aufpassen,
dass diese Finanzmärkte dauerhaft, nachhaltig und funktionsfähig sind. Darüber müssen wir diskutieren - und
nicht gegen die Finanzmärkte.
({7})
Eine Reihe von Schwächen sind erkennbar geworden.
Ich will ausdrücklich darauf hinweisen: Es gäbe das Problem mit der IKB nicht in dieser Weise, wenn Basel II
bei uns in Deutschland nicht erst zum 1. Januar 2008
umgesetzt worden wäre; denn das, was bei der IKB gemacht wurde und keinen Niederschlag in der Bilanz gefunden hat, wäre nicht möglich gewesen, wenn Basel II
schon gegolten hätte. Wir müssen uns dabei auch einmal
selbst fragen, ob wir dafür nicht ein paar Tage zu lang
gebraucht haben.
({8})
Vor diesem Hintergrund will ich aber auch sagen,
dass es eine ganze Reihe von Akteuren gibt - insbesondere in den USA -, die Basel II immer noch nicht umgesetzt haben. Deshalb ist es dringend notwendig, dass darauf gedrungen wird, diese Regeln hinsichtlich der
Anforderungen an das Eigenkapital umzusetzen und die
Möglichkeit aufzuheben, etwas zu tun, was sich nicht in
der Bilanz niederschlägt. Auch dafür müssen wir diesen
Anlass direkt nutzen.
({9})
Ich will die Rolle der Europäischen Zentralbank
ansprechen. Ich glaube, dass dort richtigerweise eine
Doppelstrategie verfolgt wird. Aus meiner Sicht blenden
wir die Inflation gegenwärtig zu stark aus. Damit liegt
auch eine weltweite Herausforderung vor uns, weil es sie
nicht nur in einigen Ländern, sondern insgesamt - um
den Globus herum - gibt und weil sie nicht mehr über
niedrige Lohnangebote in einigen Entwicklungs- oder
Schwellenländern bekämpft wird. Deshalb werden wir
uns mit der Herausforderung Inflation beschäftigen müssen. Es ist hochgradig gefährlich, das Ziel der Inflationsbekämpfung in der Krise aufzugeben.
Ich möchte ausdrücklich hervorheben: Die Europäische Zentralbank tut das nicht.
({10})
Sie versucht, die Inflation zu bekämpfen und die Märkte
gleichzeitig mit der notwendigen Liquidität zu versorgen. Diese Doppelstrategie - beide Ziele im Auge zu
haben und zu verfolgen - ist zu loben. Deshalb unterstützen wir diese Strategie unserer Zentralbank ausdrücklich.
({11})
Ich möchte an dieser Stelle sagen: Wir möchten uns
auch herzlich für den Rat und die Unterstützung unserer
beiden Aufsichtsinstitutionen - Notenbank und BaFin bedanken. Man kann sehr wohl die Frage stellen, ob dort
im Detail alles richtig gemacht wird. Meine Erfahrung
ist: In dieser Krisensituation waren sowohl der Rat als
auch die Handlungsfähigkeit wertvoll. Dadurch wurde
geholfen, die eine oder andere Verschlimmerung der
Krise zu vermeiden. Das sollte man bei aller Kritik, die
an der einen oder anderen Stelle vorgetragen wird, auch
einmal positiv hervorheben.
({12})
Lieber Kollege Solms, ich schätze Sie im Finanzausschuss sehr als Finanzfachmann. Ich rate aber sehr wohl
dazu, die Frage zu stellen, wie die Rolle der KfW in
Deutschland in Zukunft aussehen wird. Was ist die Aufgabe der KfW? Beschränkt sie sich auf das Fördergeschäft, oder gibt es noch weitere Aufgaben?
Wir müssen auch die Frage stellen, unter welchem
Aufsichtsregime die Aufgaben nach dem Kreditwesengesetz wahrgenommen werden. Wir müssen auch fragen,
ob die derzeitigen Regelungen im KfW-Gesetz dem entsprechen, was wir als künftige Rolle der KfW sehen. Das
ist aus meiner Sicht wichtig und richtig, und wir sollten
es in Ruhe bedenken. Weil daraus neue Erkenntnisse erwachsen, wird es Veränderungen geben müssen.
Ich rate aber dringend dazu, nicht so zu tun, als hätten
die internationale Finanzkrise und ihre Auswirkungen
nur mit der KfW zu tun. Wir werden dem Thema nicht
gerecht, wenn wir es nur auf diesen einzelnen Punkt verengen. Ich bitte deshalb darum, dass wir die Aufgaben
lösen, uns aber gleichzeitig auch darum kümmern, wie
wir die Finanzkrise insgesamt vernünftig aufarbeiten
können.
Ich bin der Meinung - darin teile ich ausdrücklich die
Position von Herrn Steinbrück -, dass uns die Auswirkungen auf das Einlagensicherungssystem, auf andere
Banken, die dort Einlagen hatten, und auf die Finanzierung der Realwirtschaft deutlich mehr Steuergelder für
die Rettungsaktion gekostet hätten, wenn wir die IKB
nicht in der jetzigen Form erhalten hätten.
({13})
Deshalb ist in der Gesamtabwägung vielleicht ein einzelner Detailschritt kritikfähig, aber die gesamte Richtung
ist aus meiner Sicht ausdrücklich zu unterstützen.
({14})
Das Thema Landesbanken ist bereits angesprochen
worden. Ich glaube, dass es für die Zukunft dringend
notwendig ist, nachhaltige und tragfähige Geschäftsmodelle zu entwickeln, und dass es dazu anderer Strukturen bedarf. Ich rate aber dazu, dass wir als Bundestagsabgeordnete und als Bund diesen Prozess dort, wo wir
gefordert sind, wohlwollend begleiten und unterstützen.
Ich weise aber darauf hin, dass diese Institute keine Bundesbanken, sondern Landesbanken sind. Deshalb sollten
bitteschön zunächst einmal die Eigentümer ihre Verantwortung wahrnehmen, bevor wir Fragen und Probleme
diskutieren, für deren Lösung wir gar nicht direkt zuständig sind, sondern bei denen wir höchstens Hilfestellung leisten können. Insofern sollten wir unsere Rolle an
dieser Stelle richtig verstehen.
({15})
- Dieser Zwischenruf mag ein guter Beitrag zum bayerischen Landtagswahlkampf sein. Ob er uns in der Krise
hilft, bezweifele ich.
Ich will noch einmal die Frage der Bankenaufsicht
aufgreifen. Ich glaube, dass es richtig ist, dass wir eine
engere Zusammenarbeit der nationalen Aufseher brauchen. An der Stelle müssen auch Vorkehrungen für Krisensituationen getroffen werden. Wenn freitagnachmittags eine Krisensituation eintritt, dann geht es nicht an,
dass man erst montagmorgens beginnt, zu recherchieren,
wer die zuständigen Gesprächspartner sind. Es muss
Pläne geben, wie man in solchen Krisenfällen vorzugehen hat.
Es sind auch Überlegungen notwendig - darin unterstütze ich Herrn Steinbrück ausdrücklich -, welche Rolle
die Europäische Zentralbank in der Finanzaufsicht auf
europäischer Ebene spielen kann. Auch diese Aufgabe
müssen wir lösen.
Ich unterstütze für meine Fraktion ausdrücklich, dass
wir beim Rating verbindliche Spielregeln brauchen. Es
geht nicht an, dass jemand Produkte kreiert und gleichzeitig in diesem Bereich die Bewertungen vornimmt.
({16})
Das ist nicht akzeptabel. Deswegen brauchen wir verbindliche und überwachbare Kontrollmechanismen.
Ich teile auch ausdrücklich die Auffassung in der
Frage der Eigenkapitalunterlegung: Es kann nicht sein,
dass Finanzprodukte risikofrei gehandelt werden können. Notwendig ist vielmehr eine Eigenkapitalunterlegung, durch die derjenige, der Finanzprodukte auf den
Markt bringt, ein Eigenrisiko trägt.
Insofern hoffe ich, dass wir heute die Chance nutzen,
unser System nicht kleinzureden. Wir sollten vielmehr
die Chance nutzen, die in dieser Krise liegt, Erkenntnisse
zu gewinnen, um die Märkte für die Zukunft weiter zu
stabilisieren. Ich würde mich freuen, wenn auch diese
Debatte dazu einen Beitrag leisten würde.
Vielen Dank.
({17})
Nächster Redner ist Oskar Lafontaine für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, dass mit dem Wort „Finanzmarktkrise“
die Krise, über die wir heute reden, nicht ausreichend beschrieben ist. Nach unserer Auffassung geht es nicht um
eine ökonomische Krise, sondern um eine Krise der
geistigen und moralischen Orientierung der westlichen
Industriegesellschaften.
({0})
Um verständlich zu machen, was ich damit meine, will
ich zuerst darlegen, wie das Ganze begonnen hat und
wie vor einigen Jahren die Auffassung der großen Mehrheit derjenigen, die an der Diskussion teilgenommen haben, war. Im Jahre 1996 hat der Bundesbankpräsident
Tietmeyer vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos gesprochen. Dort sagte er, gerichtet an die Politiker und
Wirtschaftsführer, die dort versammelt waren: Meine
Herren, Sie alle sind jetzt der Kontrolle der internationalen Finanzmärkte unterworfen. - Wenn heute ein
Bundesbankpräsident so etwas sagte, würde er wahrscheinlich gleich in eine Heilanstalt eingeliefert werden.
Aber damals wurde diese Aussage mit großem Beifall
von allen Versammelten aufgenommen. Sie fand auch
großen Anklang in der deutschen Öffentlichkeit. Man
sieht: Die damalige Überzeugung und Auffassung war
tatsächlich, dass die internationalen Finanzmärkte alles
richtig regeln, dass sie die richtigen Findungsprozesse in
Gang setzen werden, während die Politik nichts anderes
zu tun hat, als diesen Findungsprozessen Rechnung zu
tragen und ihnen zu folgen.
Wer ein Zeugnis von einem relativ kritischen Politiker
von der linken Seite haben will, dem möchte ich Joschka
Fischer zitieren, der in den damaligen Auseinandersetzungen gesagt hat: Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ihr
Politik gegen die internationalen Finanzmärkte machen
könnt! - Wenn Sie nur diese zwei Aussagen als Beispiel
nehmen, dann stellen Sie fest, in welchem Ausmaß man
sich damals geirrt hat und wie sehr die Fehlorientierung
der Politik durch die internationalen Finanzmärkte erzwungen wurde. Für uns war dies ein Prozess, den ich
wie folgt beschreiben möchte: Das war eine Verabschiedung von der Demokratie und vom Sozialstaat. Die
Folgen tragen wir alle heute.
({1})
Wenn ich von der Verabschiedung von der Demokratie durch die internationalen Finanzmärkte spreche, dann
will ich auf die Definition der Demokratie zurückkommen, die entscheidend ist, um das beurteilen zu können.
Demokratie ist nicht nur ein formaler Prozess. Viele
glauben, es sei Demokratie, wenn man regelmäßig zur
Wahlurne gehen könne. Ich wiederhole, dass die klassische Definition der Demokratie von den Ergebnissen her
kam. Wir bezeichnen eine gesellschaftliche Ordnung
dann als demokratisch, wenn die Entscheidungen so getroffen werden, dass die Interessen der Mehrheit bei den
Entscheidungen berücksichtigt werden. Genau dies ist
nicht eingetreten, sondern das glatte Gegenteil. Deshalb
ist die Demokratie nachweislich verabschiedet worden.
({2})
Das glatte Gegenteil besteht in dem, was Sie, Herr
Bundesfinanzminister, offensichtlich nicht zur Kenntnis
nehmen wollen, nämlich dass die Reallöhne, die Renten
und die sozialen Leistungen - das ist ein einmaliger Vorgang - trotz einer wachsenden Wirtschaft und der Prozesse, die ich hier nur kurz ansprechen kann, fallen. Genau das ist eingetreten. Inhaltlich wird die große
Mehrheit der Menschen nicht mehr an der wachsenden
Wirtschaft beteiligt. Wir haben aufgrund des Regimes
der internationalen Finanzmärkte keine soziale Marktwirtschaft mehr.
({3})
- Jemand hat gerade „dummes Zeug“ dazwischengerufen. Am Schluss seiner Ausführungen hat der Bundesfinanzminister genau das, was ich beschrieben habe,
gesagt. Das sei seine Vorstellung von sozialer Marktwirtschaft. Wenn das aber seine Vorstellung von sozialer
Marktwirtschaft ist, dann müsste er zumindest zur
Kenntnis nehmen, dass es ihm bisher nicht gelungen ist,
diese zu realisieren.
Nun stellt sich die Frage, wie man die geistig-moralische Umorientierung der Gesellschaft - das ist immer
ein ganz schwieriger Prozess - überhaupt in Gang setzen
kann. Niemand wird darauf eine Antwort geben können,
die weiter trägt als von hier bis zur nächsten Festveranstaltung. Aber im Grunde genommen muss man zuerst
die Frage aufwerfen: Ist beispielsweise die Forderung
nach Transparenz geeignet, den Prozessen zu begegnen?
Ich sage: Transparenz hat nur dann einen Sinn, wenn aus
ihr irgendwelche Konsequenzen abgeleitet werden.
({4})
Wenn man feststellt, dass alles ganz schlimm sei,
dann mag Transparenz herrschen. Aber dann macht
Transparenz keinen Sinn. Man muss auch nicht die großartigen Finanzinnovationen verstehen, um zu erkennen,
was eigentlich los war.
Ganz zum Schluss haben Sie leise etwas zu den Renditeerwartungen gesagt. Aber wir alle wussten seit vielen Jahren das, was fast täglich auf den Wirtschaftsseiten
der Zeitungen stand: Wir, der Betrieb oder die Bank,
wollen eine Kapitalrendite von 25 Prozent. - Sie haben
das jetzt als schizophren bezeichnet. Herr Bundesfinanzminister, Sie hätten früher sagen müssen: Das ist verrückt.
({5})
Das einfache Beherrschen der Prozentrechnung hätte
zu der Überlegung führen können, dass dann, wenn der
ganze Kuchen nur um 2 bis 3 Prozent größer wird, nicht
manche Kuchenstücke um 25 Prozent größer werden
können. ({6})
Dies ist das, was ich als geistig-moralische Dimension
bezeichne und was hier eben sichtbar geworden ist. Dass
man eine Elite hatte, die völlig durchdrehte, kann man
sich an folgendem Beispiel klarmachen: Stellen Sie sich
vor, ein älterer Mann oder eine ältere Frau wäre zu einer
Bank oder Sparkasse gegangen, hätte gesagt, er bzw. sie
habe 2 000, 3 000 Euro gespart und wolle jetzt 25 Prozent Zinsen. Die Bankangestellten hätten einen Knopf
gedrückt und irgendeinen hilfreichen Geist aus dem
Hause gebeten, diesem Mann bzw. dieser Frau zu helfen,
weil er bzw. sie geistig verwirrt sei und nach Hause oder
in ein Altersheim gebracht werden müsse. Wenn aber
Herr Ackermann oder sonst jemand so etwas sagt, dann
wird Beifall gespendet. Dies ist Ausdruck der moralischen Verwerfung unserer Gesellschaft.
({7})
Diese Verwerfung ist aber nicht nur festzustellen, sondern sie hatte auch erhebliche Implikationen für die gesellschaftliche Entwicklung in den letzten Jahren. Die
gesellschaftliche Entwicklung in den letzten Jahren habe
ich doch beschrieben. Was bedeutete denn die Aussage
„Sie sind alle der Kontrolle der internationalen Finanzmärkte unterworfen, und wir haben keine Möglichkeit,
irgendetwas dagegen zu tun“? Es wurde doch auch hier
in diesem Parlament immer wieder gesagt: Wer nicht so
oder so handelt, den bestrafen die Märkte. - Man müsste
einmal googlen, um herauszufinden, wie viele von Ihnen
oder wie viele frühere Kolleginnen und Kollegen immer
wieder gesagt haben: Wer nicht Sozialabbau betreibt,
den bestrafen die internationalen Finanzmärkte. - Das
war die ständige Rede in vielen Parlamenten, auch im
Deutschen Bundestag.
({8})
Deshalb gibt es nicht nur Folgen für die Sicherheit
der Einlagen der Bankkundinnen und Bankkunden - ich
will gar nicht von der Immobilienentwicklung sprechen,
übrigens auch der hier in Berlin -, von denen hier gesprochen wird; vielmehr sind die Hauptbetroffenen die
Bürgerinnen und Bürger, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Rentnerinnen und Rentner und die Empfänger sozialer Leistungen, die aufgrund dieser Unterwerfung unter die internationalen Finanzmärkte mit
fallenden Löhnen, fallenden Renten und sinkenden sozialen Leistungen bezahlen müssen. Das ist der gesellschaftliche Zusammenhang.
({9})
Dass Sie, Herr Bundesfinanzminister, immer noch
keine Lehren daraus gezogen haben, haben Sie in Ihrer
Haushaltsrede zu Protokoll gegeben. Dort reden Sie in
einer Situation - man fasst es nicht -, in der der amerikanische Finanzminister - Sie haben das richtig dargestellt 5 Prozent des Sozialproduktes einsetzen muss, um die
Märkte zu stabilisieren, von einer weiter sinkenden
Staatsquote. Man fasst es manchmal nicht!
({10})
- Das Lachen wird Ihnen noch vergehen, Herr Bundesfinanzminister. Sie werden sich mit dieser Prognose lächerlich machen. Das bitte ich zu Protokoll zu nehmen
und dick zu unterstreichen.
({11})
Eine weiter sinkende Staatsquote - das ist die Sprache
der internationalen Finanzmärkte, die Sie in Ihrer Haushaltsrede gebrauchten; denn deren Credo ist: Je weiter
die Staatsquote sinkt, umso besser geht es den internationalen Finanzmärkten. ({12})
Das haben Sie jetzt selbst zu Protokoll gegeben. Sie haben zu Protokoll gegeben, dass dann, wenn wir eine
Staatsquote wie vor einigen Jahren hätten, die jährlichen
Ausgaben 114 Milliarden Euro höher wären. Wissen Sie
jetzt, warum wir andere Leistungen für Sozialhilfeempfänger haben, warum die Renten nicht steigen und warum wir keine Investitionen in die öffentliche Infrastruktur tätigen?
({13})
Genau diese fehlerhafte Philosophie ist die Ursache für
diese schlimme Fehlentwicklung.
({14})
Das Hauptproblem ist aufgrund des Imperativs der internationalen Finanzmärkte die Privatisierung der Sozialversicherungssysteme. Ich wiederhole hier: Privare
heißt berauben. Die Privatisierung der Sozialversicherungssysteme hat dazu geführt, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Rentnerinnen und Rentner erhebliche Verluste in Kauf nehmen müssen. Wie
man auf so etwas stolz sein kann, entzieht sich unserer
Kenntnis.
({15})
In dem gleichen Zuge hat man dann die Sicherheit, nach
der jetzt wieder gerufen wird, nämlich die staatlich garantierte Rente immer mehr in Misskredit gebracht und
erzählt: Nur dann, liebe Rentnerinnen und Rentner,
wenn ihr den internationalen Finanzmärkten vertraut und
wenn ihr euch privat versichert, werdet ihr die Kapitalrenditen haben, mit denen ihr euren Lebensabend gestalten könnt. - Das war doch die Philosophie, nach der hier
die Rentengesetzgebung erfolgt ist. Sie wollen alles das
heute nicht mehr wahrhaben, aber es ist eine Tatsache.
({16})
Wenn Sie das nicht wahrhaben wollen, dann schauen Sie
sich die Ergebnisse Ihrer Rentenformel an. Die Ergebnisse Ihrer Rentenformel werden wir hier immer wieder
vortragen, bis Sie irgendwann einmal akzeptieren, dass
die Ergebnisse zum Handeln zwingen. Die Ergebnisse
der Rentenformel sind, dass jemand, der 1 000 Euro im
Monat verdient, also im Niedriglohnsektor beschäftigt
ist - dieser wird aufgrund der Unterwerfung unter die internationalen Finanzmärkte in Deutschland immer größer; er ist mittlerweile der größte aller Industriestaaten -,
eine Rentenerwartung von 400 Euro hat. Das ist eine
Schande. Diese Rentenformel darf nicht bestehen bleiben, auch wegen der internationalen Finanzmärkte nicht.
({17})
Der OECD-Durchschnitt ist nicht 400 Euro, sondern
730 Euro. In unserem Nachbarstaat Dänemark, der auch
auf diesem Globus liegt, also ebenfalls den Zwängen der
Globalisierung unterworfen ist, sind es 1 200 Euro. Man
muss das dreimal lesen. Man glaubt es ja gar nicht.
({18})
- Der Zwischenruf war richtig. Lest es nach!
Die Frage ist, warum wir in Deutschland eine solche
Sonderentwicklung haben. Immer mehr Menschen merken, dass das Unterwerfen unter die internationalen
Finanzmärkte ein Fehler war. Sie, meine sehr geehrten
Damen und Herren, werden dafür bei den nächsten Wahlen die Quittung bekommen. Warten Sie nur ab!
({19})
Dasselbe gilt natürlich auch für die Lohnentwicklung. Sinkende Löhne bei steigendem Sozialprodukt,
das gab es noch nie. Die Unterwerfung unter die internationalen Finanzmärkte mit dem Imperativ „Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung“ führte dazu,
dass die Löhne immer weiter ins Rutschen kamen. Wir
haben jetzt Leiharbeit: Deregulierung. Wir haben jetzt
befristete Arbeitsverträge: Deregulierung. Wir haben
jetzt Minijobs und Midijobs: Deregulierung. Wir fummeln am Kündigungsschutz herum: Deregulierung. Wir
fummeln an den Tarifverträgen herum: Deregulierung.
Wir haben auch die Finanzmärkte dereguliert. Die Parole
der Zeit ist nicht mehr Deregulierung - der Irrglaube des
Neoliberalismus -, sondern ein Staat, der reguliert, im
Interesse der Menschen, der Bürgerinnen und Bürger.
({20})
- Ach Gott, wie erbärmlich! Ich muss das wiederholen.
Hier schreit ein Kollege, Herr Hinsken, glaube ich, dazwischen, das sei Kommunismus. Gerade hat der
Finanzminister doch gesagt, man müsse regulieren. Ja
sitzt denn ein Kommunist auf der Regierungsbank?
({21})
Machen Sie sich doch nicht lächerlich! Die ganze Welt
erkennt jetzt, dass Regulierung auf den internationalen
Finanzmärkten notwendig ist, und Sie diffamieren oder
diskreditieren die Forderung nach Regulierung als Kommunismus. Man fasst es wirklich nicht mehr.
Zu der Frage, was zu tun ist, möchte ich jetzt einige
Punkte ansprechen.
Erstens zu einem Punkt, von dem Sie, Herr Bundesfinanzminister, nicht gesprochen haben. Wir sind der
Überzeugung - das möchte ich hier für meine Fraktion
noch einmal erklären -, dass das Wechselkursregime
heute völlig falsch ist, da es zu Spekulation verleitet, und
dass daher ein seit 20 Jahren auf dem Tisch liegender
Vorschlag aufgegriffen werden muss, nämlich die Stabilisierung der Wechselkurse der Leitwährungen, wozu
mittlerweile auch die chinesische Währung gehört. Es
geht um Zielzonen, die international bereits seit vielen
Jahren gefordert werden. Der Nobelpreisträger Robert
Mundell hat sie kürzlich in einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wieder gefordert. Solange
Sie dazu nichts sagen, so lange werden Sie den ersten
Einbruch nach dem Zusammenbruch des BrettonWoods-System nicht in Angriff nehmen.
({22})
Das Zweite ist die Regulierung des internationalen
Kapitalverkehrs. Das hatte der Herr Schmidt gemeint,
Herr Bundesfinanzminister. Er hat schon vor 20 Jahren
gesagt, dass man wie im Autoverkehr, wie im Schiffsverkehr und wie im internationalen Flugverkehr Regeln
braucht. Oder nehmen Sie einen Spekulanten wie Soros,
der gesagt hat: Wenn schon das Kapital in wenigen Monaten in eine kleine Volkswirtschaft hineinfließen kann
- das war damals die Krise in Thailand -, dann muss
man zumindest Ventile haben, damit das flüchtige Kapital nicht von einem Tag auf den anderen wieder abfließt
und so die ganze Volkswirtschaft ruiniert. - Also, die
Kontrolle des internationalen Kapitals ist die zweite Forderung, die ich hier vortragen möchte.
({23})
Die dritte Forderung ist das Austrocknen der Steueroasen. Sie glauben doch nicht, dass Sie die Dinge in den
Griff bekommen, dass Sie Ordnung in die internationalen Finanzmärkte bekommen, wenn sich viele Industriestaaten augenzwinkernd weiter Steueroasen halten, in
denen Geld gewaschen wird und sich nicht versteuertes
Geld immer mehr anhäuft.
({24})
Zu begrüßen ist, dass jetzt endlich erkannt ist: Man
muss die Ratingagenturen zumindest kontrollieren. Wir
sagen: Die Ratingagenturen gehören in gesellschaftliche
Verantwortung. So wie es nicht sinnvoll wäre, die Zulassung von Medikamenten der Pharmaindustrie zu überlassen, so wenig ist es sinnvoll, die Zulassung von
Finanzprodukten der Finanzindustrie zu überlassen.
({25})
Das ist eine unmögliche Vorgehensweise. Es ist anerkennenswert, dass man das jetzt wenigstens erkannt hat.
Natürlich brauchen wir internationale Regeln der
Bankenaufsicht. Die sind schon seit Jahrzehnten in Arbeit. Es sind einige Verbesserungen erreicht worden.
Aber sie haben offensichtlich nicht ausgereicht; sonst
hätten wir die Fehlentwicklungen jetzt nicht. Solche Regeln haben nur dann Sinn, wenn sich alle daran halten;
davon - das muss ich fairerweise sagen - war schon die
Rede.
Kommen wir zu der eigenen Verantwortung. Es ist
immer wunderbar, dass man auf die internationale
Finanzregulierung zeigt und die eigene Verantwortung
nicht gelten lassen will. Da kann ich den Redner der
FDP unterstützen. Sie hätten einmal über Ihre eigene
Verantwortung sprechen müssen. Ich möchte anführen,
dass im Koalitionsvertrag genau das gefordert worden
ist, was Sie hier kritisieren. Ich lese Ihnen einmal vor,
was im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SDP unter
dem Stichwort Finanzmarktpolitik steht:
Produktinnovationen und neue Vertriebswege müssen nachdrücklich unterstützt werden.
Wenn man beim Geldhandel schon von Produktinnovationen spricht, dann ist höchste Vorsicht geboten.
Dazu wollen wir die Rahmenbedingungen für neue
Anlagenklassen in Deutschland schaffen. Hierzu
gehören … der Ausbau des Verbriefungsmarktes …
({26})
Das ist genau der Schrott, der bei der IKB gehandelt
wurde, wo auch noch ein Staatssekretär dabei saß. Sie
haben es doch ermöglicht, dass dieser Schrott gehandelt
wurde.
({27})
Das steht hier im Koalitionsvertrag. Wieso sagen Sie
dazu nichts? Sie stehen hier völlig mit in der Verantwortung.
Dasselbe gilt natürlich für die Hedgefonds, die allerdings unter der Vorgängerregierung zugelassen worden
sind. Nachdem Sie die Folgen von Hebelwirkungen erkannt haben, hätten Sie längst etwas unternehmen müssen, um dieses Treiben zu beenden, dass man sich zu
1 Euro 40 Euro hinzu leiht und damit Finanzmärkte oder
ganze Unternehmen in Unordnung bringt.
({28})
Warum haben Sie nichts unternommen? Es ist ja jetzt so
passend, auf die USA zu zeigen und zu sagen, dort sei
alles ganz schlimm gewesen. Nein, packen Sie sich an
die eigene Nase; dann haben Sie genug in der Hand,
Herr Bundesfinanzminister! Stellen Sie sich einmal Ihrer
eigenen Verantwortung!
({29})
Was die Zweckgesellschaften angeht, ist es ja gut,
dass über Basel irgendetwas gekommen ist. Sie saßen
die ganze Zeit über dabei, vertreten durch Ihren Staatssekretär, als die Risiken in den Zweckgesellschaften versteckt worden sind. Machen Sie deswegen hier nicht den
Clown, Herr Bundesfinanzminister. Sie tragen die Verantwortung für diese Fehlentwicklung und können nicht
immer so tun, als säßen Sie zwar dabei, hätten aber keine
Verantwortung. Ihr Name ist doch nicht Hase; so viel ich
weiß, ist er immer noch Steinbrück.
({30})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir stellen
jetzt fest, dass die Formel von der Überlegenheit freier
Märkte an die Wand gefahren wurde und dass wir jetzt
nicht mehr der Kontrolle der internationalen Finanzmärkte unterworfen sind, sondern dass die internationalen
Finanzmärkte uns zwingen, aufgrund der Fehlentwicklungen Entscheidungen zu treffen, die kontraproduktiv sind
und die wir gar nicht treffen wollten, weil sie mit großen
Verlusten verbunden sind, deren Ausmaß noch niemand
absehen kann. Wir haben jetzt gelernt, dass die Aussage,
wir könnten nicht gegen die internationalen Finanzmärkte regieren, umgedreht werden muss: Wir müssen
gegen die internationalen Finanzmärkte regieren, um
endlich wieder Ordnung in das System zu bringen.
({31})
Im Grunde genommen geht es bei dieser Fragestellung
zunächst natürlich um die Stabilisierung der internationalen Finanzmärkte. In Bezug darauf ist eine Reihe von
Entscheidungen der letzten Zeit richtig gewesen; nicht
alle, aus Zeitgründen kann ich darauf nicht weiter eingehen.
Das Thema, um das es hier geht, fasse ich in einem
Satz zusammen: Es geht hier um die Wiederherstellung
der Demokratie und des Sozialstaats.
({32})
Der nächste Redner ist Ludwig Stiegler für die SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir
jetzt diese Zelebration von Selbstgerechtigkeit erlebt haben,
({0})
habe ich mir im Stillen gedacht: Oh, Oskar!
({1})
Denn der Herr war einmal ein mächtiger Mann in dieser
Republik: Bundesfinanzminister und Parteivorsitzender
der SPD. Er hat damals schon Ansätze gehabt, sich um
die internationalen Märkte zu kümmern, und auch erste
robuste Gespräche geführt. Nachdem er nicht über Nacht
zum Erfolg kam, ist er abgehauen.
({2})
Peer Steinbrück hat an Max Weber erinnert. Max
Weber hat einmal gesagt, Politik ist das Bohren harter
Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich. Oskar
Lafontaine hat damals geglaubt, es sei ein Soufflé. Als er
dann auf Granit oder auf hartes Holz gestoßen ist, ist er
geflüchtet. Der alte Cicero hätte gesagt: effugit, evasit,
wie der alte Catilina, abgehauen. Aber hier jetzt selbstgerechte Reden halten! Er hätte der Sankt Michael eines
guten Finanzsystems werden können. Stattdessen ist er
der Luzifer der PDS geworden.
({3})
Das ist wirklich schade; denn nur wenige hier in diesem
Hause hatten jemals eine solche Chance wie er, in Regierungsverantwortung die Welt so zu korrigieren, wie es
dem eigenen Weltbild entspricht. Dazu gehören aber
Marathonqualitäten: Ausdauer, Geduld und die Fähigkeit, wieder aufzustehen, nachdem man, wie jetzt die
Amerikaner, ganz gewaltig auf die Nase gefallen ist. Wer
aus der Verantwortung, die er übernommen hat, flüchtet
- Gysi ist übrigens vom selben Typ -, sollte anderen
keine Predigten halten, meine Damen und Herren.
({4})
Natürlich stimmt es auch mich heiter, wenn ich sehe,
wie hier in Deutschland manche Liberale in und außerhalb der FDP
({5})
vom Deregulierer zum Regulierer werden, wie plötzlich
die Bremser der Regulierung, nachdem das Kind in den
Brunnen gefallen ist, vom Bremserhäuschen auf den
Führerstand der Lokomotive drängen. Das erinnert mich
direkt an Bond-Filme; das ist Bond-like. Es passt auch
zu den Geschehnissen auf den Finanzmärkten, auf welch
abenteuerliche Weise hier versucht wird, sich an die
Spitze zu setzen.
Es waren Gerhard Schröder, Hans Eichel, Peer
Steinbrück, die letzte und die derzeitige Bundesregierung,
die im internationalen Gespräch mit den Engländern und
den Amerikanern auf die Probleme hingewiesen haben.
Nachdem Peer Steinbrück in der Haushaltsdebatte noch
gemeint hat, ich hätte die Engländer vielleicht zu hart
angegangen, habe ich mich gefreut, dass er mir heute ein
Vorbild gegeben hat, wie heftig man auftreten und zugleich auf dem internationalen Parkett verkehren kann.
Das hielt ich schon für eine tolle Sache.
({6})
Meine Damen und Herren, die Marktteilnehmer haben versagt. Die Marktdisziplin war verschwunden.
Oskar Lafontaine hat wiederum nicht recht, wenn er
sagt, Transparenz alleine würde nicht helfen. Vielmehr
ist es so: Die Marktdisziplin hängt von der Transparenz
ab. Wenn die Leute wissen, welche faulen Eier jemand
im Nest hat, dann werden sie zögern, ihm noch Geld für
den Kauf zusätzlicher fauler Eier zu geben. Deshalb ist
Transparenz das Erste und das Notwendigste.
({7})
Nun zur Regulierung: Ich war mit dem Kollegen Poß
seit etwa zehn Jahren jährlich bei der amerikanischen
Community. Wenn ich mir überlege, was die uns erzählt
haben! Wenn wir schüchtern und diplomatisch zurückhaltend Regulierungsprobleme angesprochen haben,
dann wurde uns entgegnet: Alles sei bestens. Ich habe
mir nun gestern Nacht die Anhörung von Paulson und
Bernanke vor dem Senat angetan. Da sagte der Paulson
plötzlich: Wir haben ein völlig überaltertes, kaputtes, mit
vielen Löchern versehenes Regulierungssystem, das seiner Aufgabe nicht mehr gerecht geworden ist. Sie hatten
aber damals die Macht, all dies zu vertuschen. Jetzt,
nachdem sie auf die Nase gefallen sind, lassen sie endlich die Hosen herunter. Was man da sieht, ist nicht sehr
schön.
({8})
Meine Damen und Herren, diese Eingeständnisse sind
hilfreich, wenn wir mit den Amerikanern darüber reden,
in welcher Form die europäischen Banken, die in Amerika aktiv waren, an der Rettungsaktion, die da jetzt abläuft, beteiligt werden. Ich denke, eine Regierung, unter
deren Augen sich die Subprime-Krise bis 2007 entwickeln konnte und die zugeschaut hat, wie Betrüger Kredite ausgegeben und dann gebündelt weiterverkauft
haben, sollte darüber nachdenken, wie alle Marktteilnehmer in der Welt, die man so hinters Licht geführt hat,
entschädigt werden können. Das wäre die richtige Antwort und nicht die Behauptung, es sei eine Gnade, dass
die europäischen Banken mit Niederlassungen in Amerika an der Bewältigung der Krise teilhaben könnten.
Stichwort Ratingagenturen: Ich kann mich erinnern,
welche Aufregung von gewisser Seite kam, als Joachim
Poß und Jörg-Otto Spiller dieses Thema hier im Parlament zur Sprache gebracht haben, und wie viele sich als
Schirmherren für die Ratingagenturen aufspielten. Jetzt
ist endlich klar, dass diese Position unhaltbar ist.
Oskar Lafontaine hat die Verbriefung angegriffen.
Ich möchte ausdrücklich sagen, dass dies wieder so ein
Irrtum ist. Eine anständige Verbriefung wie zum Beispiel
der deutsche Pfandbrief oder die Standardisierung durch
die TSI in Frankfurt, die es auf dem deutschen Bankenplatz gibt, ist ein Segen für die Finanzindustrie, weil die
Menschen wissen, was sie einzahlen und zurückbekommen. Es geht also nicht um die Verbriefung als solche,
sondern um betrügerische Aktivitäten im Umfeld der
Verbriefung. Deshalb schlage ich vor, dass wir uns Gedanken über ein deutsches Verbriefungsgesetz und eine
DIN-Norm über die Verbriefung machen, damit wieder
Vertrauen in die Märkte zurückkehrt.
({9})
Dieses Originate to distribute Model ist in der jetzigen Phase gescheitert. Es ist übrigens bereits 2007 gescheitert. Denn wer die Indizes betrachtet, stellt fest,
dass erst die Vintage 2007 zu diesen Problemen geführt
hat.
Meine Damen und Herren, der Finanzminister hat die
Bilanzierungsregeln nicht angesprochen. Ich denke,
auch um die Bilanzierungsregeln werden wir uns zu
kümmern haben. Wenn die jetzige Situation unter dem
Bilanzregime des soliden HGB erfolgt wäre, dann hätte
die Beute in der Spitze nicht so groß und dann hätten die
Abschreibungen in der Flaute nicht so groß sein können.
Das jetzige sogenannte Fair Value Accounting ist weder fair noch beschreibt es einen Value. Es ist vielmehr
das Ergebnis derer, die in Quartalen denken und schnelle
Beute wegschaffen wollen. Darüber hinaus müssen wir
uns darum kümmern, dass nicht private Standardsetzer
die Buchführungsregeln bestimmen, sondern dass die
Staaten da wieder ein maßgebliches Wort mitreden.
Auch die Europäische Union darf sich ihre Bilanzregeln
nicht von der Wall Street diktieren lassen, sondern muss
eigene Bilanzregeln aufstellen.
({10})
Meine Damen und Herren, zum Stichwort Markt und
Staat. Hier haben wir eben gelernt, dass all die Heldinnen und Helden, die in guten Zeiten keinen Staat sehen
wollen, in schlechten Zeiten in die sicheren Häfen flüchten. Wenn bei ihnen die Angst die Gier verdrängt, dann
kaufen sie Dollaranleihen, selbst wenn diese nur Promillesätze an Rendite abwerfen. Deshalb haben wir aufgrund dieser Krise das moralische Recht, dass wir eine
klare Neuordnung auf den Märkten vornehmen. Schließlich hat bereits Kant gesagt, dass die Freiheit durch die
Grenze definiert wird. Diesen Auftrag lassen wir uns
nicht mehr nehmen. Uns steht in Amerika, in England
und überall da, wo die Deregulierer gesiegt haben, nun
ein Fenster der Gelegenheit offen; selbst unsere Liberalen und die Liberalen außerhalb der FDP sind regulierungsfromm geworden. Lasst uns dieses Fenster nutzen,
damit wir zu Finanzmärkten kommen, die der Realwirtschaft und nicht der Spekulation dienen!
({11})
Das Wort erhält nun Fritz Kuhn für die Fraktion von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Vorstellung, dass man ungezügelt Risiken eingehen
kann, um persönliche Gewinne zu erzielen und volkswirtschaftliches Wachstum zu erzeugen, also dieses vermeintliche Perpetuum mobile einer finanzmarktgetriebenen Ökonomie unendlicher Renditen, ist gescheitert. Ich
glaube, dass man das so nüchtern und klar sagen muss.
Es ist natürlich nicht nur - das ist mir wichtig - ein technisches Problem von Regeln, sondern es ist auch ein moralisches und grundlegendes Problem von Gesellschaften, die sich dieser Vorstellung und Ideologie
verschrieben haben.
({0})
Wenn Sie in der Realökonomie einer Industriegesellschaft zum Beispiel im Industriebereich im langjährigen
Schnitt Renditen zwischen 8 und 12 Prozent erreichen
können, dann ist die Vorstellung, dass Sie auf den
Finanzmärkten Renditen von 25 Prozent erreichen können, eine Illusion. Was geschehen wird, wenn man dies
glaubt, ist, dass die Risiken zurückschlagen, und das haben sie getan. Das eigentliche politische Problem besteht
allerdings darin, dass die Risiken nicht bei denen zurückschlagen, die sie eingegangen sind - jedenfalls nicht
in erster Linie -, sondern bei vielen Leuten, die mit den
Risiken gar nichts zu tun hatten, zum Beispiel bei uns,
den Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen, die die Zeche
zahlen müssen.
({1})
Ich nenne einmal Zahlen, die die Dimension deutlich
machen: Gerade wird in den Vereinten Nationen darüber
diskutiert, dass zur Erreichung der Millennium Development Goals 70 Milliarden US-Dollar für ganz Afrika
notwendig wären, also 10 Prozent von den 700 Milliarden US-Dollar, die jetzt zum Management der Finanzmarktkrise in den Vereinigten Staaten notwendig sind.
Ich glaube, dieses Verhältnis sagt alles: Wir bringen die
70 Milliarden US-Dollar für Afrika anscheinend nicht
auf - jedenfalls ist man nicht gewillt -, aber die 700 Milliarden US-Dollar bringt man auf; man muss sie aufbringen, weil sonst alles zusammenbricht. Über dieses moralische Missverhältnis müssen wir in der Tat reden.
({2})
Gescheitert ist eine neoliberale Konzeption einer
Marktwirtschaft, die staatliche Regeln als Wachstumsbremsen versteht. Ich finde es übrigens interessant, dass
sich zwei Parteien in Deutschland, nämlich die CDU und
die FDP, anschicken, die nächste Regierung zu bilden,
die sich genau dieser Ideologie immer verschrieben haben. Das muss an dieser Stelle auch einmal gesagt werden.
({3})
Früher war es, wenn es um Regeln oder gar Regulierungen für die Märkte ging, bei der CDU üblich, zu sagen, dies seien Fesseln für die Wirtschaft. Ich erinnere
an eine Situation im Jahr 2001, als die Riester-Rente
eingeführt wurde, und zwar mit strengen Kriterien - wir
haben damals darüber gestritten - in Bezug auf Riesterfähige Produkte, weil wir verhindern wollten - das hat
Lafontaine gerade vor lauter Aufregung übersehen -,
dass das Geld der Leute, die für das Alter ansparen, in
unregulierte, hochriskante Finanzanlagen gesteckt wird.
Walter Riester hat damals Regeln und die entsprechende
Zertifizierung gefordert, und wir haben das unterstützt.
({4})
Damals hat Frau Merkel, die jetzige Bundeskanzlerin,
die sich heute für Regulierungen einsetzt, im Bundestag
gesagt:
Wir werden durch Ihre Reform ein bürokratisches
Monstrum erleben mit einem zusätzlichen Zertifizierungsgesetz, mit Kriterien, von denen noch niemand weiß, wie sie erfüllt werden sollen, mit
Fondsstrukturen, über die das „Wall Street Journal“
gestern nur einen einzigen Satz schreibt: „Die Ausgestaltung dieser Fonds geht in die total falsche
Richtung.“ Das ist die Bewertung der internationalen Finanzwelt über das, was Sie hier vorgelegt haben.
Das war Frau Merkel 2001: gegen den Versuch, privat
für das Alter angespartes Geld in Deutschland durch
klare Regulierung und Regeln zu schützen. Ich finde,
Frau Merkel, da sollten Sie einmal einen Irrtum eingestehen, denn da lagen Sie völlig falsch. Heute reden Sie
von Regulierungen, wir haben sie schon damals notwendigerweise gefordert.
({5})
Ich finde aber, Herr Lafontaine, was Sie hier veranstaltet haben, ist ein starkes Stück. Sie werfen alles in eiFritz Kuhn
nen Topf. Das ist übrigens das Grundschema Ihrer politischen Rhetorik: Alles hängt mit allem zusammen, und
deswegen muss alles in einen Topf.
({6})
Sie sagen, weil die Finanzmärkte - da sind wir nicht auseinander - jetzt versagt haben, sind auch alle anderen sozialen Reformen einfach nicht richtig, und deswegen
muss man sie alle einkassieren. Was hat denn, bitte
schön, das Problem in unserem Rentensystem, das auch
ein Demografieproblem ist, da der Altersaufbau der Gesellschaft die Rentensysteme in der Zukunft instabil
macht, mit der Finanzmarktkrise zu tun? Es hat gar
nichts damit zu tun!
({7})
Deswegen werden wir die private Säule der Alterssicherung in Deutschland nicht zurücknehmen, nur damit Sie
Ihre billigen populistischen Reden halten können.
({8})
Wir haben in Bezug auf den demografischen Wandel - so der OECD-Bericht zur Rente, den Sie einmal
zur Kenntnis nehmen müssten - in Deutschland viel erreicht; aber was wir noch nicht erreicht haben, ist eine
Prävention gegen aufwachsende Altersarmut. Da muss
man tatsächlich etwas tun. Die richtige Antwort wäre gewesen, sich die Frage zu stellen, mit welcher weiteren
Rentenreform wir es schaffen können, Renten über das
Grundsicherungsniveau aufzuwerten; denn es kann in
der Tat nicht sein, dass jemand, der sein Leben lang voll
erwerbstätig war, nur das Grundsicherungsniveau der
Rente erreicht.
({9})
Herr Kollege Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schui?
Ja.
Herr Kollege Kuhn, ist Ihnen Folgendes bekannt:
Wenn man 25 Prozent Rendite einfährt, dann steigt der
Gewinnanteil am Volkseinkommen. Wenn der Gewinnanteil am Volkseinkommen steigt, muss notwendigerweise der Anteil sinken, der für soziale Zwecke ausgegeben wird, oder es müssen die Löhne sinken oder beides.
({0})
Infolgedessen muss man das eine mit dem anderen verbinden.
({1})
Würden Sie mir da recht geben?
({2})
Sie können sich wieder setzen; Ihre Frage ist schön,
aber sie hat mit meiner Rede und mit meiner Argumentation nichts zu tun.
({0})
Deswegen werde ich darauf nicht weiter eingehen.
({1})
Man muss natürlich die Frage stellen - da höre ich
von Herrn Steinbrück überhaupt nichts -, wer für die
Kosten, die im Zuge der Bewältigung der internationalen
Finanzmarktkrise auf uns zukommen, eigentlich aufkommt. Die Antwort „Es kann nur der Steuerzahler
sein“ - der Steuerzahler ist nämlich Leidtragender der
Bankabschreibungen, weil dadurch die Steuereinnahmen
des Staates zurückgehen - ist mir zu fatalistisch.
Deshalb sagen wir Grünen: Jetzt ist die Stunde der
Einführung einer Börsenumsatzsteuer oder Finanzumsatzsteuer,
({2})
weil wir die Finanzspekulationen damit begrenzen können und weil wir damit ein geeignetes Finanzinstrumentarium für notwendige Maßnahmen haben.
({3})
- Herr Dehm, für Ihr Leiden gibt es in jeder Apotheke
ein Zäpfchen mit Baldrian zur Beruhigung. Ich glaube,
die richtige Strategie für Sie wäre: Schicken Sie jemanden hin, oder gehen Sie selbst!
Es wird hier streitig darüber diskutiert, ob es Marktversagen oder Politikversagen ist. Ich finde diesen Streit,
mit Verlaub gesagt, müßig. Marktversagen ist immer
auch eine Form von Politikversagen,
({4})
weil in einer funktionierenden Marktwirtschaft die Politik die Aufgabe hat, den Rahmen so zu setzen, dass die
Finanzmärkte nicht so leicht versagen können, wie dies
heute der Fall ist.
Im Unterschied zu Herrn Lafontaine sagen wir: Da
wir solide Finanzmärkte brauchen - ohne Finanzmärkte
sind keine Investitionen möglich; dieser Aspekt kam bei
Ihnen nicht vor und das scheint Ihnen schnurzpiepegal
zu sein -, brauchen wir ein neues System klarer Regeln
für diese Finanzmärkte, um ein Versagen, wie wir es
jetzt erlebt haben, in der Zukunft ausschließen zu können.
({5})
Ich will es kurz machen. Dazu gehören eine effektive
Rahmenordnung für die Ratingagenturen, eine europäische Finanzkontrolle, die Unterlegung von Risiken bei
Verbriefungen mit ausreichendem Eigenkapital sowie
die aufsichtsrechtlich und handelsrechtlich adäquate Erfassung von Zweckgesellschaften, was heute noch nicht
der Fall ist, und schließlich die Begrenzung der Anzahl
der Aufsichtsratsmandate. Angesichts der Situation bei
der KfW und bei anderen haben wir schon den Eindruck,
dass zu einer Aufsichtsratkultur eine größere Qualifikation, ein besserer Überblick und mehr Zeit für die Ausübung des Mandates, als dies heute der Fall ist, gehören.
({6})
Die Bundesregierung hat zwar wichtige Themen international auf die Tagesordnung gesetzt - Herr
Steinbrück, das wollen wir nicht bestreiten -, aber mit
Blick auf KfW, IKB und die Landesbanken muss man
sagen, dass sie auf nationaler Ebene die Finanzkontrolle
nicht richtig koordiniert hat. Angesichts der Tatsache,
dass im Zusammenhang mit der IKB insgesamt
10,7 Milliarden Euro in den Sand gesetzt wurden, werden Sie, Herr Finanzminister, verstehen, dass meine
Fraktion genau untersuchen will, woran dies lag, wer dafür die Verantwortung trägt und wie die Verantwortlichkeiten zwischen KfW, IKB, Wirtschaftsministerium,
Finanzministerium, BaFin und Bundesbank hin- und
hergeschoben worden sind. Denn es ist kein normaler
Vorgang in einer Demokratie wie der unsrigen, dass einfach 10,7 Milliarden Euro in den Sand gesetzt werden
und dann nur gesagt wird, dass dies Gegenstand einer
Diskussion auf einem G-7-Treffen ist.
({7})
Herr Finanzminister, da der Leiter der Abteilung 7 Ihres Hauses Mitglied im Verwaltungsrat der BaFin und im
Aufsichtsrat der IKB ist und er für die Rechtsaufsicht
über die BaFin, die Bundesbank und die KfW zuständig
ist - er bereitet auch die Sitzungen des Verwaltungsrates
der KfW vor -, müssen wir uns fragen, ob da nicht eine
systematische und organisierte Unverantwortlichkeit
statt notwendiger Verantwortung vorliegt.
({8})
Obwohl die IKB ihre außerbilanzlichen Aktivitäten
im Geschäftsbericht dargelegt hat, haben weder BaFin
noch Bundesbank noch BMF das davon ausgehende
Risikopotenzial adäquat eingeschätzt. Ich stelle die
Frage, ob sich diese Bundesregierung unter Ihrer Verantwortung und auch unter der von Herrn Glos, der sich bei
diesen Fragen immer verdrückt, der Verantwortung beim
Beteiligungscontrolling überhaupt bewusst war. Diese
Frage werden und müssen wir stellen. Wir hoffen darauf,
dass die FDP sich besinnt und einem Untersuchungsausschuss zustimmt.
({9})
Ich will zum Abschluss noch etwas zu der Rolle der
Landesbanken sagen. Es ist völlig klar, dass wir nach
der bayerischen Landtagswahl erneute Diskussionsrunden und wahrscheinlich auch die entsprechenden Finanzprobleme bei einigen Landesbanken, vor allem bei
der bayerischen und bei der WestLB, erfahren werden.
Ich finde, dass es notwendig ist, dass in diesen beiden
Bundesländern dann die Verantwortung, zum Beispiel
auch für unterlassene Reformen bei den Landesbanken,
offen auf den Tisch gelegt wird.
({10})
Die Landesbanken haben im Zusammenhang mit
hoch spekulativen Finanzmarktprodukten ein viel zu
großes Rad gedreht. Ich finde, dass dies klar auf den
Tisch muss, weil darin Risiken, übrigens auch für die
Sparkassenwelt, die jetzt zu Recht so gelobt worden ist,
verborgen sind.
Ein oder zwei Landesbanken sind nach unserer Überzeugung für die Bundesrepublik Deutschland ausreichend. Sie haben die Aufgabe, passgenaue Finanzprodukte zu entwickeln, sodass die dezentrale Struktur der
Sparkassen ihnen im internationalen Finanzmarkt nicht
zum Nachteil wird. Außerdem haben sie eine Zentralinstitutsfunktion sowie eine Refinanzierungsfunktion,
und sie müssen gerade für den Mittelstand Währungsrisiken absichern können. Das entscheidende Problem,
das wir haben, ist doch, dass mittelständische Unternehmen nicht ungeschützt in die Exporte und in die Globalisierung gehen können.
Die sächsische Landesregierung, Herr Finanzminister, hat sich bei der Aufklärung im Untersuchungsausschuss und während der Krise bei der sächsischen
Landesbank darauf berufen, dass sie selbst nur die
Rechtsaufsicht habe, aber die Fachaufsicht bei der BaFin
und beim Bundesfinanzministerium liege. Diese Rechtsauffassung ist zwar umstritten, aber ich möchte schon
die Frage stellen: Warum hat eigentlich, als die BaFin in
der Kritik an der sächsischen Landesbank nicht weiterkam, niemand vom Bundesfinanzministerium eingegriffen und klargemacht, dass das Gebaren der sächsischen
Landesbank nicht funktioniert?
({11})
Ich will damit sagen: Die Finanzmarktkontrolle in
Deutschland ist insgesamt ein Problem, und deswegen
erwarten wir als produktives Ergebnis eines Untersuchungsausschusses auch, dass danach ein klares Bild
entsteht, wie die Instrumente zu schärfen sind und eine
kluge Aufteilung der Finanzaufsicht in Deutschland
stattfindet, die wir bislang nicht haben.
({12})
Damit komme ich zum Schluss, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Es ist ein schwieriges Thema, es ist ein
wichtiges Thema. Man darf durch die internationale Diskussion nicht von den Hausaufgaben ablenken, die man
in Deutschland machen muss. Deswegen werden wir das
Ganze untersuchen. Ich hoffe, die FDP kann sich noch
dazu durchringen. Den Entwurf des Rechnungshofsberichts werden Sie inzwischen gelesen haben. Auch dieser macht deutlich, dass es ein Finanzaufsichtsproblem
in Deutschland gab.
Deswegen sollte jetzt jeder an seiner Stelle die Hausaufgaben machen, und dann wird es in der Zukunft mit
mehr Regeln eine Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft geben können, aber nicht - das sage ich Ihnen voraus -, wenn wir jetzt zwei Monate diskutieren. Dann interessiert dieses Thema niemanden mehr. Es ist ein
Problem, das wir oft in Deutschland haben, dass die Themen hochgehypt werden, und wenn es um neue Regeln
geht, dann schwindet das Interesse. Arbeiten Sie desweFritz Kuhn
gen alle daran mit, dass wir bessere Regeln bekommen,
als wir sie in der Vergangenheit hatten.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Diether Dehm von der Fraktion Die Linke.
Herr Kuhn, Sie haben eben gesagt, es sei jetzt an der
Zeit, zur Devisenumsatzsteuer zu kommen. Das ist sicher richtig, aber Sie hatten diese Devisenumsatzsteuer
- genannt Tobin-Tax, nach dem Nobelpreisträger James
Tobin - vor Ihrer rot-grünen Koalition bereits gefordert,
und Sie haben, als Sie in der Koalition waren, nicht das
Mindeste dafür getan, dass eine solche Tobin-Tax, wie
von SPD und Grünen vor der vorletzten Bundestagswahl
gefordert, eingeführt und umgesetzt wird.
({0})
Hätten wir die Tobin-Tax, wäre diese Krise nicht mit solcher Schwere über uns hereingebrochen. Es ist jetzt auch
an der Zeit. Nachdem James Tobin die Devisenumsatzsteuer gefordert hat, wäre es aber schon damals und
immer an der Zeit gewesen. Sie haben versagt und versuchen, mit wohlfeilen Phrasen darüber hinwegzutäuschen.
({1})
Kollege Kuhn, bitte.
Ich will es ganz kurz machen. Selbstverständlich haben wir in der Koalition über die Tobin-Tax, die es inzwischen übrigens in 25 Varianten in der internationalen
Diskussion gibt, gesprochen.
({0})
- Sie haben doch eine Frage gestellt, Herr Dehm.
({1})
Haben Sie ein Cholerikerproblem, oder was ist hier los?
Hören Sie doch zu. Kurzinterventionen haben doch nur
einen Sinn, wenn einen auch die Gegenmeinung interessiert.
Wir haben uns mit der Tobin-Tax beschäftigt. Ich will
Ihnen aber eine Illusion nehmen: Zu glauben, mit der
Einführung einer Börsenumsatzsteuer oder einer TobinTax, egal nach welchem Modell, wäre die jetzige Finanzmarktkrise zu verhindern gewesen, ist einfach dummes Zeug und zeigt, dass Sie das Instrument, das Sie fordern, selbst überhaupt nicht verstehen. Sie sollten sich
noch einmal darüber informieren.
({2})
Das Wort hat nun Kollege Hans-Peter Friedrich,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Was Sie, Herr Lafontaine, hier abgeliefert haben, war ein Beweis für Ihre große rhetorische Fähigkeit,
mit der Sie die Wahrheit konsequent verbiegen.
({0})
Sie haben vor allem bewiesen, dass Sie sich Ihrer Verantwortung entziehen und das hinterher verschleiern
können. Ich finde es schäbig, dass Sie 1999 nach sechs
Monaten Amtszeit aus dem Amt geflohen sind und gesagt haben: Das ist mir alles zu schwierig.
({1})
Ich will aber auch etwas Inhaltliches sagen. Die Sachverständigen sind sich heute einig, dass der Auslöser für
die Finanzmarktkrise die seit 2003 in den USA betriebene Politik der niedrigen Zinsen ist. Ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie als Bundesfinanzminister damals
in mindestens jeder zweiten Rede nach einer Politik des
billigen Geldes gerufen haben. Sie haben gesagt: Die
Zinsen müssen gesenkt werden. - Wären wir Ihnen gefolgt, wären wir heute arm dran.
({2})
Die Finanzmarktkrise macht zwei Dinge deutlich:
Erstens. Finanzmärkte brauchen Spielregeln, um ihre
dienende Funktion für die Marktwirtschaft zuverlässig
ausfüllen zu können. Damit ist noch nicht gesagt, wer
diese Spielregeln aufstellt. Damit ist auch noch nicht gesagt, wie flexibel diese Spielregeln sind. Damit ist nur
gesagt, dass sie gelten müssen und eingehalten werden
müssen.
Herr Kuhn, ich sage Ihnen eines: Völlig sinnlos ist es,
die eigenen, die nationalen Akteure auf den Finanzmärkten mit Fesseln zu belegen, sodass sie ihre internationale
Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Was wir in der Vergangenheit wollten und in der Gegenwart wollen, sind
Spielregeln für den internationalen Bereich. Mit Basel II
hat sozusagen eine Ausweitung auf die globalen Finanzmärkte begonnen. Wir wollen aber auch verhindern
- das wollten wir in der Vergangenheit, das wollen wir in
der Gegenwart und in der Zukunft -, dass unsere nationalen Finanzmarktakteure gegenüber den Wettbewerbern in anderen Ländern benachteiligt werden. Dazu stehen wir.
({3})
Dr. Hans-Peter Friedrich ({4})
Ich denke, wir sollten der Bundesbank bei der Frage,
wer die Einhaltung der Spielregeln überwacht, eine besondere Bedeutung beimessen. Die Bundesbank hat in
der schwierigen Situation der letzten zwölf Monate immer wieder bewiesen, dass sie die Dinge mit sehr viel
Sachverstand und Expertise in den Griff bekommen
kann. Ich denke, wir sollten unbedingt über eine Stärkung der Rolle der Bundesbank nachdenken.
Das Zweite, was die Finanzmarktkrise deutlich
macht, ist, dass die deutsche Bankenlandschaft, die oft
als renditeschwach, verstaubt und altmodisch verspottet
wurde - der Minister hat das heute Morgen sehr deutlich
ausgeführt -, viel besser ist als ihr Ruf. Sie trägt dazu
bei, dass wir heute, in dieser schwierigen Situation, besser dastehen als andere Länder. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Finanzmarktkrise aufgrund ihres Ausmaßes Auswirkungen auf die Wirtschaft,
auf die Konjunktur, auf die Situation in Deutschland insgesamt haben wird, und zwar in erster Linie über das
Nachlassen der Nachfrage aus dem Ausland, also über
den außenwirtschaftlichen Kanal. Denn diejenigen Immobilienbesitzer in den USA, in Spanien und in Großbritannien, die noch vor wenigen Monaten glaubten, sie
seien reich, weil sie eine teure Immobilie haben, und
jetzt wissen, dass sie es nicht sind, fragen auch nicht
deutsche Produkte nach. Insofern werden wir natürlich
eine Nachfragedelle bekommen.
In dieser Situation ist es wichtig, dass die deutsche
Wirtschaft in den letzten drei Jahren, in der Zeit der Großen Koalition, gegen externe Schocks und gegen nachlassende Konjunktur widerstandsfähiger geworden ist.
Die Unternehmen haben zusammen mit den Arbeitnehmern ihre Hausaufgaben gemacht. Zum Teil waren
schmerzhafte Anpassungsprozesse notwendig, die jetzt
von der Linken genutzt werden, um gegen die Marktwirtschaft zu agitieren. Ich sage aber: Diese Anpassungsprozesse haben dazu beigetragen, dass die soziale
Marktwirtschaft gestärkt wird und dass unsere Wirtschaft heute diesen Herausforderungen der internationalen Krise wettbewerbsfähig und stark begegnen kann.
Insgesamt hat die gute Ertragslage in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, dass die Eigenkapitalausstattung der Unternehmen, die notwendig ist, bis heute
verbessert wurde, dass eine gewisse Innenfinanzierung
der Unternehmen möglich wird und dass sie weniger auf
Kredite angewiesen sind als Unternehmen in Volkswirtschaften anderer Länder. Dennoch bleiben Kredite in einer Wirtschaft wichtig. Es ist erfreulich und erstaunlich
zugleich, wie attraktiv die Kreditbedingungen für die
Kreditnehmer trotz alledem in der aktuellen Situation
geblieben sind. Der Grund ist - auch ich möchte das
wiederholen, weil es wahr ist und nicht oft genug gesagt
werden kann -, dass wir ein Sparkassen- und Genossenschaftssystem haben, das stabil und gesund ist und
sich über Privateinlagen relativ leicht finanzieren kann.
Die drei Säulen - private, öffentliche und genossenschaftliche Banken - haben sich auch in turbulenten Zeiten bewährt. Herr Minister, ich sage Ihnen unsere Unterstützung zu, wenn es darum geht, in Brüssel bei der
Europäischen Kommission für diese drei Säulen der Stabilität unseres Finanzwesens zu kämpfen.
({5})
Das deutsche System der Universalbanken zeigt, dass
in der Krise am Ende die Solidität entscheidend ist. Die
Moden, die hin und wieder zu unsolidem Handeln verlocken mögen, wurden von dieser Bundesregierung in den
letzten drei Jahren richtigerweise zurückgewiesen. Das
gilt im Übrigen auch, wenn ich das sagen darf, für das
deutsche Versicherungswesen. Die deutschen Versicherer haben traditionell einen Anlageanteil, der sehr wenig
risikoreich ist. Insofern haben wir auch hier einen stabilen Anker für die Finanzsituation in Deutschland.
Dennoch hat die Eigenkapitalausstattung der deutschen Banken in den letzten Monaten gelitten. Mancher
Banker in Deutschland hat sich von der Euphorie anstecken lassen und ist Risiken eingegangen, die er selber
nicht überblickt. Aber auch hier gilt: In jeder Krise liegt
eine Chance. Diese Finanzkrise bietet die Chance, dass
sich Banken in Deutschland auf die heimischen Kreditmärkte besinnen, auf die Märkte, die man überblicken
kann und denen die solide Substanz des deutschen Mittelstandes zugrunde liegt. Jeder von uns hat in seiner
Praxis als Abgeordneter schon erlebt, dass deutsche
Banken bzw. Kreditinstitute Mittelständlern Kredite verweigert haben, weil sie nicht genügend Sicherheiten bieten konnten. Dieselben Kreditinstitute haben sich nicht
abhalten lassen, internationale Finanzprodukte zu kaufen, deren Risiko sie aufgrund der Komplexität überhaupt nicht überblicken konnten. Der schnelle Gewinn
auf den anonymen Finanzmärkten war verlockender als
die mühsamen Kreditverhandlungen mit den mittelständischen Unternehmen. Das sollte Warnung und Lehre für
unsere Banken in Deutschland sein.
({6})
Der Direktor des Instituts für Wirtschaft, Professor
Michael Hüther, hat dazu am 19. September im Handelsblatt geschrieben:
Banken brauchen einen festen Anker im heimischen Markt, das klassische Geschäft mit Privatkunden und Unternehmen wird seine Bedeutung sichern. Jeweils steht das hohe Gut Vertrauen im
Mittelpunkt, das eine Anonymisierung nur in Grenzen verträgt.
Ja, das Risiko einer Kreditgewährung im eigenen
Umfeld ist erfassbar. Es ist besser erfassbar als die
anonymen Risiken irgendwo jenseits des Atlantiks, die
in irgendwelchen Verbriefungen gebündelt werden und
deren Risiko überhaupt nicht mehr zuordenbar war.
Es bleibt deswegen in der Krise die Hoffnung, dass
die Banken an die Realwirtschaft in Deutschland wieder
näher heranrücken und sich auf die Solidität und die
Substanz des deutschen Mittelstandes besinnen. Eines ist
klar: Kurzfristig mag man an den Finanzmärkten traumhafte und verlockende Gewinnchancen haben; aber langfristig zählt nur die Substanz dessen, was auf der Welt
wirklich erwirtschaftet und erarbeitet wird.
Dr. Hans-Peter Friedrich ({7})
({8})
Deswegen tun alle Akteure im Finanz- wie im Wirtschaftsbereich gut daran, zwischendurch immer wieder
einmal zu fragen: Wo ist eigentlich die Substanz all dessen, was sich da an Gewinnen und Erträgen aufbaut?
Hätte man die Frage „Wo ist die Substanz?“ schon 2000/
2001 in der Dotcom-Krise gestellt, wären so manche
Enttäuschung und so manches Desaster vielleicht ausgeblieben.
Je komplexer die Finanzinstrumente werden, umso
mehr sind Aufklärung, Information und Vertrauen notwendig. Dennoch: Jedes Kreditgeschäft ist ein Risikogeschäft, und es muss auch Kreditgeschäfte mit hohen Risiken geben. Denken Sie an den jungen Mann, den
Existenzgründer, der eine Geschäftsidee, eine Innovation, eine Erfindung hat, aber kein Geld, kein Eigenkapital. Er muss jemanden finden, der das Risiko eingeht,
ihm dieses Geld zu geben, mit der Aussicht, entweder
mit ihm reich zu werden oder alles zu verlieren. Er findet
nur dann jemanden, wenn der Betreffende in der Lage
ist, dieses hohe Risiko in kleine Scheiben aufzuteilen
und auf viele Schultern zu verteilen.
Deswegen sind innovative, moderne Finanzinstrumente an den Finanzmärkten notwendig, um Risiko zu
streuen. Manches große Projekt ist nur realisierbar, wenn
Risiken auf die Schultern vieler verteilt werden. Diese
Spielräume müssen wir den Finanzmärkten lassen. Ich
sage das im Hinblick auf die Regulierungseuphorie, die
jetzt als Reaktion auf die Deregulierungseuphorie, die
wir vorher hatten - das Pendel schlägt sozusagen in die
Gegenrichtung aus -, folgt.
Wir brauchen strengere Anforderungen an die Ratingagenturen, ohne Frage.
({9})
Es kann nicht sein, dass diejenigen, die Risiken beurteilen und Kategorien von Risiken bilden, auf die andere
vertrauen, an den Finanzprodukten, die sie beurteilen
sollen, selber mitverdienen; deswegen müssen wir die
Interessenkonflikte, die sich bei den Ratingagenturen
aufbauen, beseitigen. Das ist eines der wichtigen Themen.
Aber täuschen wir uns nicht: Ein Kredit bleibt immer
eine Frage von Risiko, von Vertrauen. Beide Kategorien,
„Risiko“ und „Vertrauen“, können nicht durch Gesetze
und nicht durch Verordnungen ersetzt werden. Auch darüber sollten wir uns im Klaren sein. Deswegen wäre es
ein verheerender Fehler, wenn wir, wie das gefordert wird,
staatlich autorisierte oder staatliche Ratingagenturen einrichten würden. Kein Mensch kann nämlich wirklich
ernsthaft daran denken, dass wir mit solchen staatlichen
Ratingagenturen, mit denen wir quasi ein Qualitätssiegel
für Finanzprodukte schaffen würden, den Managern, den
hochbezahlten Akteuren am Finanzmarkt, ihr Risiko und
ihr Geschäft abnehmen. Dieses Risiko und dieses Geschäft müssen sie schon selber betreiben; denn dafür
werden sie gut und hoch bezahlt.
Wir brauchen - auch das ist ein Appell vieler Sachverständiger in dieser Frage und in dieser Zeit - mehr
Langfristorientierung an den Finanzmärkten. Das Wort
„Nachhaltigkeit“ aus dem Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes muss, auch als Kategorie, noch mehr Eingang in die Finanz- und Wirtschaftspolitik finden.
Langfristiges Denken hat in Deutschland, sowohl im
Wirtschafts- als auch im Finanzbereich, Tradition. Denken wir gemeinsam an den Mittelstand und die deutschen Familienunternehmen: Sie denken langfristig, sie
denken über Generationen, sie denken nachhaltig. Sie
sind der stabile Faktor in unserem wirtschaftlichen Geschehen. Ich appelliere an den Koalitionspartner, in diesem Zusammenhang bei der Diskussion um die Erbschaftsteuer
({10})
diesen Gesichtspunkt nicht zu unterschätzen.
({11})
Die Krise ist nicht ausgestanden. Aber Deutschland,
die deutsche Wirtschaft und die deutschen Finanzakteure
sind gut aufgestellt und können die Krise besser verkraften als andere. Es besteht wahrlich kein Grund zum Jubel, aber auch kein Grund zum Pessimismus.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Rainer Brüderle, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die dramatische Entwicklung auf den internationalen Finanzmärkten hat gravierende Auswirkungen. Keiner kann sie
abschließend bewerten. Niemand hat angesichts der
komplizierten Lage einfache und perfekte Lösungen zur
Hand.
Aber ganz so überraschend kam das alles nicht - außer
für die Bundesregierung. Die internationale Finanzkrise
musste erst deutliche Spuren in Deutschland hinterlassen,
bevor auch der Finanzminister endlich aufgewacht ist.
Als die Finanzmärkte beim G-7-Finanzministertreffen
im Frühjahr letzten Jahres international zum politischen
Thema wurden, war er auf Safari. Die Europäische Zentralbank hat seit über einem Jahr vor dieser Entwicklung
gewarnt. Der Sachverständigenrat hat im letzten Jahr
den Risiken auf dem Finanzmarkt ein ganzes Kapitel gewidmet. Nichts ist geschehen, um sich auf diese Risiken
vorzubereiten.
Aber Sie haben auch schon als Landesminister im
Kreditausschuss der WestLB nicht an den Sitzungen teilgenommen und sich für derartige Fragen nicht besonders
engagiert. Im Zusammenhang mit der IKB-Krise ist die
Beförderung Ihres Stellvertreters im Aufsichtsrat zum
Staatssekretär bemerkenswert. Es wird nicht genügen,
bei der KfW zwei Vorstände als Bauernopfer hinauszuwerfen. Die KfW hat ein Strukturproblem. Die Struktur ist nicht stimmig. Sie muss geändert werden.
({0})
Ich sage hier nur: Wenn es dem Esel zu wohl wird,
geht er aufs Eis. Es ist fatal, wenn ein solches Institut anfängt, Banker zu spielen. Der Einkauf bei der IKB und
die Führung dieser Bank kennzeichnen eine Misere, für
die der Steuerzahler hart bezahlen muss. Der Unterschied zwischen der Entwicklung in den Vereinigten
Staaten und der in Deutschland ist: In den Vereinigten
Staaten wurde auf den Finanzmärkten ohne Schiedsrichter gespielt. In Deutschland haben die Schiedsrichter
mitgespielt. Das ist das Fatale.
({1})
Es ist auffällig, wie die Marktstrukturen verteilt sind.
Die Sparkassen haben einen Marktanteil von 50 Prozent
und die Genossenschaftsbanken von 15 Prozent: Zwei
Drittel der deutschen Banken sind also staatlich oder
vergesellschaftet.
({2})
- Dagegen habe ich nichts. Aber auffällig ist, dass bei
den Landesbanken, die politisch determiniert sind - die
Vorstände werden nicht nach Qualität, sondern nach der
Farbenlehre rekrutiert - und deren Aufsichtsgremien politisch besetzt werden, der größte Mist geschehen ist. Es
wurde gestern von Frau Professor Müller auf einer Tagung in der Humboldt-Universität gesagt, dass an den
internationalen Finanzmärkten die Regel galt: If you
can’t sell it, sell it to the Landesbank. - Das ist eine traurige Entwicklung.
Die Konsequenz kann aber nicht sein, dass der Staat
sich noch mehr in das Bankengeschäft einmischt. Die
geniale Lösung der sozialen Marktwirtschaft ist, den
Wettbewerb als Entmachtungsinstrument funktionsfähig
zu halten. Es sind in der Tat keine entsprechenden Regeln geschaffen worden, und diejenigen, die es gibt, sind
nicht eingehalten worden. Grundlegende Prinzipien
müssen beachtet werden. Schon einer der Gründungsväter, Walter Eucken, hat gewarnt, dass etwas schief läuft,
wenn zwei Dinge eintreten: Kartellierung, sprich eine
ungesunde Konzentration, und Punktualismus, also das,
was die Amerikaner machen. Bei der einen Bank greifen
sie ein, die andere lassen sie Konkurs gehen. Nach welchen Kriterien das geschieht, ist nicht nachvollziehbar.
Bei Bear Stearns übernimmt man einen Notenbankkredit
von 35 Milliarden Dollar, also auf gut Deutsch: Man
druckt Geld. Die Lehman Brothers Bank lässt man in
Konkurs gehen. Wer entscheidet das? Der heilige Priesterrat, der Senatsführer? Genau das ist der Verstoß gegen
die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft.
({3})
Die Gegner der sozialen Marktwirtschaft von links
außen wie von rechts außen wittern jetzt Morgenluft:
Die Finanzmärkte sollen kontrolliert und Familienunternehmen verstaatlicht werden. - Ja, Kontrollen müssen
sein, Regeln müssen verändert und auch strikter formuliert werden. Es kann aber kein Ersatz sein, die Dinge,
statt sie der Marktentwicklung zu überlassen, durch neue
staatliche Behörden zu gestalten. Das wäre genau die
falsche Schlussfolgerung.
({4})
Die soziale Marktwirtschaft verträgt viele rostige Nägel. Man kann aber auch so viele in sie hineinschütten,
dass sie sich übergeben muss. Man muss die Grundstrukturen in Ordnung bringen. Das gilt nicht nur hier.
Man muss sich auch fragen, ob die Verfassung in den
Betrieben funktioniert, ob die Aufsichtsräte nicht zu
groß sind bzw. ob sie in der Lage sind, ihre Funktionen
auszuüben. Ich war immer für eine Begrenzung der Zahl
der Mandate auf maximal fünf, wobei ein Aufsichtsratsvorsitz doppelt zählen sollte. Ich kenne niemanden, der
nebenbei 20 Mandate wahrnehmen kann.
({5})
Früher wurde die Zahl der Aufsichtsratsmandate durch
die Lex Abs begrenzt. Bis heute hat die Häufung von
Aufsichtsratsmandaten allerdings stark zugenommen.
Funktioniert denn die paritätische Mitbestimmung in den
Betrieben?
({6})
Stimmen die Verfassungen in den Betrieben? Ist das in
Ordnung?
Wurde nicht auch in anderen Bereichen, etwa im
Energiesektor, eine so große Konzentration zugelassen,
dass man sagen kann: Auch hier funktioniert der Wettbewerb nicht richtig? Beispiele sind Eon Ruhrgas mit einem Marktanteil von mehr als 80 Prozent, und die
Stromversorger, die quasi abgezirkelte Versorgungsgebiete haben. In all diesen Fällen handelt es sich um Verstöße gegen Prinzipen der sozialen Marktwirtschaft.
Ich bin dafür, dass wir auch wieder über die Grundlagen von Wirtschaftsordnungen diskutieren. Diejenigen,
die immer wieder nach Gutsherrenart eingreifen wollen,
dürfen es nicht leicht haben. Denn solche Eingriffe sind
die rostigen Nägel, von denen ich eben sprach. Die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft müssen wieder mehr
beachtet werden, damit sie funktioniert und damit die
Feinde der sozialen Marktwirtschaft nicht die Oberhand
gewinnen. Marktwirtschaft ist allemal besser als Planwirtschaft. Wir dürfen nicht jeden Unsinn der deutschen
Geschichte wiederholen!
({7})
Meine Damen und Herren, der entscheidende Punkt
ist, dass jetzt auch die Politik Konsequenzen zieht. Wir
müssen die Situation in Ordnung bringen. Der Staat
muss sich aus den Landesbanken zurückziehen. Dort
hat er nämlich nichts zu suchen. Sie haben kein Geschäftsmodell.
({8})
- Meine Platte ist richtig, Herr Poß. Sie haben das nur
noch nicht genug inhaliert. Seien Sie doch einmal ehrlich! Auch Sie wissen doch, wie traurig die WestLB ist,
weil sie das Geld des Steuerzahlers verbrannt hat. In
Rheinland-Pfalz müssten Sie mir eigentlich ein Denkmal
setzen. Denn die Landesbank Rheinland-Pfalz habe ich
rechtzeitig verkauft. Sie hat sogar noch Geld eingebracht.
({9})
Alle anderen Länder müssen jetzt Geld nachschießen.
Sie müssen dafür zahlen, dass der eine oder andere, der
Banker spielen wollte, unfähig war.
({10})
Dafür müssen die Steuerzahler, die für die Steuergroschen hart arbeiten, zahlen.
({11})
Hier wurde Misswirtschaft betrieben. Es werden aber
keine Konsequenzen gezogen. Ich frage mich manchmal: Wie viele Milliarden muss man in Deutschland eigentlich verdummbeuteln, bevor endlich Konsequenzen
gezogen werden?
({12})
Es gibt weitere Maßnahmen, die ergriffen werden
müssen. Die Ratingagenturen müssen unabhängig sein.
Wenn derjenige, der einen Test bestellt, dafür bezahlt,
bekommt er das Ergebnis, das er bestellt hat. Ich frage
Sie: Wer hat die Banker daran gehindert, selbst zu denken, anstatt mechanisch nach Ratings vorzugehen?
({13})
In den Banken arbeiteten viele 30-Jährige - nichts gegen 30-Jährige! -, die nicht viel Lebenserfahrung hatten,
die aber meinten, die Welt anhand von Computermodellen steuern zu können. Sie haben aber nur herumgespielt.
Sie haben Casino gespielt. Die Vorstände der Banken haben sie spielen lassen, weil sich das lange Zeit rentiert
hat. Es ist eine Frage des Formats der Führungspersönlichkeiten, wie sie ihre Aufgaben wahrnehmen.
({14})
Kollege Brüderle, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kuhn?
Sehr gern; denn meine Redezeit ist fast abgelaufen.
Herr Brüderle, ich teile Ihre Auffassung zur rheinland-pfälzischen Landesbank. Allerdings habe ich gerade vergessen, wie die Partei heißt, die in NordrheinWestfalen gegenwärtig mit der CDU koaliert und dort etwas verändern könnte.
({0})
Lieber Herr Kuhn, auch Ihnen wird nicht entgangen
sein, dass die Geschehnisse bei der WestLB, das Fehlverhalten und das Fehlsteuern, lange Zeit vor dem Antritt der neuen Landesregierung stattgefunden haben.
({0})
Mit dem, was sie vorgefunden hat, musste sie vernünftig umgehen. Die vorherigen Landesregierungen in
NRW haben Industriepolitik gespielt und sich überall
eingekauft. Das ging schief. Ich traue der neuen Landesregierung zu, dass sie dieses Problem bald löst und sich
endlich aus der Umklammerung befreit; denn alle müssen drauflegen. Es wird kein Geld verdient, sondern es
wird Geld verbrannt. Dieses Geld könnten wir für Bildung, für Schulen, für die Umwelt und viele andere Bereiche sinnvoll verwenden.
({1})
Dem müssten selbst Sie zustimmen, auch wenn Sie jetzt
schreien, weil Sie das nicht verstehen.
({2})
- Wir stellen nicht den Wirtschaftsminister in NRW, was
sicherlich ein Fehler ist.
({3})
Zurück zu den Kernpositionen. Wir müssen diese Gelegenheit ergreifen, eine Systemdebatte zu führen, damit
denjenigen, die, sich in einem Kostüm verbergend, etwas anderes wollen, das Handwerk gelegt wird. Die
Schwachstellen müssen beseitigt werden, die Mechanismen müssen wieder wirken können, und die Grundprinzipien müssen wieder beachtet werden. Dann funktioniert das auch.
Alles andere wäre eine schlechtere Lösung. Haben
wir den Mut, diese Debatte offensiv zu führen!
({4})
Das Wort hat nun Nina Hauer für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Brüderle, aufgrund Ihrer Regierungszugehörigkeit in Nordrhein-Westfalen hatten Sie drei Jahre lang
Zeit, bei der WestLB aufzuräumen. Ich glaube, das ist
Ihnen nicht mehr rechtzeitig eingefallen. Deswegen haben Sie sich hier vergaloppiert.
({0})
Ich sehe schon, dass Opposition für Sie ein schwieriges Geschäft ist; denn sonst würden Sie hier ja nicht
verzweifelt versuchen, eine Krise, die in den USA entstanden ist und dort ihre Auswirkungen hat, der Bundesregierung in die Schuhe zu schieben. Sie erwecken damit
bei den Menschen nicht nur den Eindruck, dass die Politik das alles hätte verhindern können, sondern Sie lenken
damit auch vom Versagen und von Fehleinschätzungen
der Bankmanager und einem Verhalten ab, mit dem ohne
jedes Maß an Verantwortung Risiken eingegangen wurden.
({1})
Herr Minister, ich teile das, was Sie hier zu den Ratingagenturen gesagt haben. Man muss doch einmal sagen:
Wenn ich jemandem Geld leihe, dann lasse ich nicht nur
die Ausfallwahrscheinlichkeit des Kredits durch eine
Ratingagentur berechnen, sondern dann prüfe ich doch
auch, wem, in welchem Marktumfeld und für was ich
ihm das Geld gebe. Deswegen ist ein Instrument wie das
Votum einer Ratingagentur immer nur so gut wie der
Manager, der dieses Instrument nutzt. Da das in diesem
Fall nicht geprüft wurde, finde ich, dass man schon sagen muss, dass in dieser Branche ein komplettes Versagen vorliegt. Das ist dafür verantwortlich, dass wir jetzt
in dieser Situation sind. Wir können froh sein, dass wir
in Deutschland nicht in diesem Maße betroffen sind.
Der Minister hat ja einiges dazu gesagt: Das liegt an
unserem Bankensystem und an unserem Wirtschaftssystem, aber auch daran, dass wir für mehr Transparenz
und Verantwortung auf den internationalen Finanzmärkten in den letzten zehn Jahren sozialdemokratischer Verantwortung in diesem Ministerium einiges erreicht und auf den Weg gebracht haben.
({2})
Einige Voten und Beiträge der Opposition dazu sind
mir noch gut in Erinnerung. Wir haben hier Basel II umgesetzt; dazu gab es ja eine internationale Vereinbarung.
Man sieht in den USA jetzt das Missverhältnis zwischen
dem Risiko, der Eigenkapitalunterlegung und der Ertragslage. Die außerbilanziellen Geschäfte, die auch in
der IKB getätigt worden sind, sind mit Basel II nicht
ohne Weiteres möglich. Diese Regeln waren damals aber
noch nicht in Kraft. Es hat offensichtlich auch einen
Hintergrund, dass sich die USA bisher geweigert haben,
Basel II in ihre nationale Gesetzgebung zu implementieren.
Die PDS hat sich damals übrigens enthalten. Ihnen
geht ja immer alles nicht weit genug. Damit haben Sie
aber nicht viel zu mehr Sicherheit, Stabilität und Transparenz auf den Finanzmärkten beigetragen.
({3})
Ich erinnere einmal an die Umsetzung der Transparenzrichtlinie, mit der die Meldepflicht für Stimmrechte
ab einer Schwelle von 3 Prozent eingeführt wurde. Seit
der Übernahme von Continental durch die SchaefflerGruppe ist es in der FDP diesbezüglich ruhig geworden.
Sie waren damals dagegen und haben gesagt, 3 Prozent
seien zu wenig. Heute sehen wir, dass wir mit 3 Prozent
schon gut gefahren wären. Nachdem später das Risikobegrenzungsgesetz hinzugekommen ist, wäre eine solche Übernahme zwar auch noch möglich gewesen, aber
sie wäre viel früher deutlich geworden. Dadurch wäre
dem Zielunternehmen die Chance gegeben worden, sich
entsprechend dazu zu verhalten.
Die Berichtspflichten für börsenorientierte Unternehmen haben wir durch die Umsetzung der Transparenzrichtlinie ebenfalls eingeführt. Diese gibt es in den USA
zwar auch, aber nicht in dem Maße, wie es sie nach der
Umsetzung der europäischen Richtlinie hier in Deutschland gibt.
Durch das Risikobegrenzungsgesetz haben wir dafür
gesorgt, dass Aktien und vergleichbare Positionen hinsichtlich der Meldeschwellen zusammengerechnet werden. Das heißt, wenn dieses Gesetz schon früher in Kraft
getreten wäre, dann wäre das, was die Schaeffler-Gruppe
geplant hatte, klarer erkennbar gewesen. Das gilt auch
für Fälle in der Zukunft. Das „acting in concert“ - also
Absprachen zum gemeinsamen Vorgehen von Aktionären - wird transparenter. Verbotene Absprachen werden
leichter nachweisbar. Die FDP hat im Ausschuss mit der
Begründung dagegen gestimmt, dass neue Transparenzregelungen zum damaligen Zeitpunkt noch nicht vom Finanzmarkt verkraftet würden.
({4})
Dann sollten Sie aber jetzt nicht behaupten, dass der
deutsche Gesetzgeber für das, was in den USA angerichtet worden ist, irgendeine Verantwortung hat.
({5})
Dann hätten Sie sich an der Einführung von mehr Transparenz an den Finanzmärkten beteiligen müssen. Das
hätte besser zu Ihrer Rolle gepasst.
Es ärgert mich, dass die Bürgerinnen und Bürger in
den USA, die ihre Kredite nicht zurückzahlen können, in
der Debatte keine Rolle spielen. Auch das wäre bei uns
anders. Wir haben in den letzten Jahren einiges vorangebracht, damit sich auch private Anleger, die wenig Kapital am Finanzmarkt anlegen, darauf verlassen können,
dass klare Regeln gelten. Ein Beispiel ist die Haftung für
falsche Wertpapierprospekte. Produkte, deren Zinsen
nach drei, vier Jahren ins Astronomische steigen, sind in
Deutschland offenlegungspflichtig. Jeder, der in diese
Produkte investiert, hätte das nachlesen können.
Wir haben über die Verbriefungen gesprochen. Die
Verbriefungen können von vielen Mittelständlern als
Ausweg genutzt werden, wenn sie von den Banken keine
Kredite bekommen. Das betrifft übrigens nicht die Sparkassen, sondern vor allem die vornehmen GeschäftsNina Hauer
banken - ich komme ja aus der Nähe von Frankfurt -,
die lieber Investmentgeschäfte gemacht haben, als kleinen Mittelständlern Geld zur Verfügung zu stellen. Die
Verbriefungen waren eine Chance, diese Situation zu ändern. Deswegen haben wir das vorangetrieben. Es ist
vorhin kritisiert worden, dass das im Koalitionsvertrag
vereinbart wurde. Dass das, was verbrieft wird - das gilt
auch für das, was nicht in Aktien verbrieft wird -, offenlegungspflichtig ist und nicht am grauen Kapitalmarkt
untergeht, verdanken Sie den Aktivitäten dieser Bundesregierung. Damit sind wir, finde ich, für die kleinen Anleger auf unserem Finanzmarkt - nicht nur für die Banken - gut aufgestellt.
({6})
Beim Investmentmodernisierungsgesetz haben wir
den Begriff des totalen Verlustes eingeführt, den es auf
dem Finanzmarkt schon lange gibt. Das heißt, dass jemand, der in ein Hebelprodukt, ein synthetisches Produkt oder eine Option investiert, darüber informiert wird
- je nach seiner finanziellen Leistungskraft oder auch
seinen Kenntnissen des Finanzmarktes -, wann ein Totalverlust eintreten kann. Diese Regeln gelten in Europa.
Wir haben sie auf unsere Situation in Deutschland zugeschnitten. Sie gelten nicht in den USA. Das Ergebnis sehen wir jetzt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höll?
Ja.
Kollegin Hauer, Sie haben eben die Verbriefung angesprochen. In diesem Zusammenhang möchte ich eine
Frage an Sie richten.
Es ist von vielen neuen Instrumenten die Rede, deren
Einführung Sie für notwendig hielten. Ich zitiere aus einer Ihrer Reden, und zwar aus der vom 19. Mai 2006:
Wir haben die Hedgefonds vor einigen Jahren in
Deutschland zugelassen, weil wir deren Funktion
für den Finanzmarkt kennen. Wir brauchen diese
Fonds nicht nur im internationalen Vergleich und
Wettbewerb, sondern auch, weil sie eine Rolle erfüllen, die kein anderes Finanzprodukt übernehmen
kann.
({0})
Sie sind in der Lage, Währungsrisiken und Spekulationsrisiken aufzufangen …
Ich glaube, wir wurden inzwischen eines Besseren belehrt.
({1})
Was die Verbriefung angeht, haben wir seit 2002 eine
sehr rege Gesetzgebung. Aber wir sollten ehrlicherweise
zur Kenntnis nehmen, dass es erst durch die letzte
KWG-Novelle möglich wurde, dass bei einem Übergang
der Grundschuld der Kreditnehmer nicht einmal mehr
informiert werden muss. Dass heute sogenannte faule
Kredite - also aus irgendwelchen Gründen nicht mehr
rechtzeitig bediente Kredite - von der Bank einfach weitergegeben und die Kreditnehmer nicht einmal mehr informiert werden, haben Sie zu verantworten. Auch das
ist ein wesentlicher Bestandteil der Verbriefung, die Sie
jetzt wieder loben.
({2})
Frau Kollegin, Sie wollten doch eigentlich eine Frage
stellen.
({0})
Frau Höll, was in Ihrer Fraktion konsequent geleugnet
wird, ist, dass das, was auf einem internationalen Markt
zu kaufen ist, nicht vor unseren Grenzen haltmacht. Was
wir aber tun können, ist, dafür zu sorgen, dass hier Regeln gelten, die nach unseren Kriterien aufgestellt werden. Dasselbe gilt auch für die Hedgefonds. Dass man
als Privatanleger hier nicht in Hedgefonds investieren
kann oder dass diese Fonds bestimmte Finanzierungsinstrumente nicht enthalten dürfen, haben Sie unserer
Gesetzgebung zu verdanken. Im Übrigen gilt das auch
für die Umsetzung der europäischen Richtlinie für Beratungsleistungen bei Finanzdienstleistungen insgesamt.
Wir haben diese zum Teil entsprechend unseren nationalen Gegebenheiten verändert. Aber Sie haben sich im
Finanzausschuss enthalten. Sie verweigern sich konsequent und tun so, als ob man das, was es auf den internationalen Finanzmärkten gibt, fernhalten könnte. Sie haben nicht den Mumm, zu sagen: Wenn es das schon gibt,
dann soll das hier in Deutschland nach unseren Regeln
funktionieren. In diesem Zusammenhang sind die Beispiele zu sehen, die Sie genannt haben.
({0})
- Das habe ich eben gesagt. Sie müssen zuhören!
Ähnlich war es bei der Finanzaufsicht. Wir haben
nun eine Allfinanzaufsicht in Deutschland. Das war damals ein großer Schritt. Für manche ist dabei das Abendland fast untergegangen. Aber es war richtig, die unterschiedlichen Aufsichtsgremien zusammenzuschließen.
Wir haben in regelmäßigen Abständen die Aufsicht den
Anforderungen der Finanzmärkte angepasst. Sie haben
sich daran nicht beteiligt. Ich finde, dass wir heute eine
Aufsicht haben, die den Herausforderungen gewachsen
ist und in der Lage ist, die vorhandenen Risiken einzuschätzen. Dem sind parlamentarische Prozesse vorausgegangen, die noch nicht zu Ende sind; denn wir sehen,
wie innovativ und schnell die Finanzmärkte voranschreiten. Aber wir müssen uns nicht von anderen, erst recht
nicht von der Opposition, sagen lassen, dass unsere Aufsicht in den zur Rede stehenden Fällen versagt habe.
({1})
Für die SPD-Fraktion sage ich, dass wir vielen Vorschlägen zur Deregulierung der Finanzmärkte in den
letzten Jahren widerstanden haben. Wir haben vielen von
Verbänden geäußerten Einwänden - die Aufsicht werde
den Markt kaputtmachen, oder die BaFin verursache
eine Kreditklemme - widerstanden. Wir hatten dabei
wenig Unterstützung von den Oppositionsfraktionen, die
heute gern für sich in Anspruch nehmen, dass unser Finanzmarkt so robust aufgestellt ist.
({2})
Ich denke, dass wir einen Erfolg erzielt haben. Deutschland befindet sich aufgrund der internationalen Finanzmarktkrise zwar in einer schwierigen Situation. Wir können aber den Anlegern auf den Finanzmärkten, gerade
denjenigen, die geringe Einkommen haben, sagen: Sie
müssen sich nicht beunruhigen. Sie haben ihr Geld dort
angelegt, wo Regeln gelten, die den Anleger schützen
und die Finanzmärkte stabil halten.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Gerhard Schick, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man sich die Geschichte der Finanzmärkte anschaut, dann stellt man fest, dass es immer wieder große
Krisen gab. Spekulationsblasen bauen sich auf. Dann,
wenn sie platzen und die Vermögenswerte sinken,
herrscht große Empörung. Alle reden plötzlich von Regulierung. Zwei Jahre später ist dann wieder Sendepause, und man hört dieselbe Argumentation wie zuvor.
({0})
Das können Sie an der Asien-Krise, der Krise des
Hedgefonds Long Term Capital Management und dem
Enron-Skandal beobachten. Die entscheidende Frage in
der aktuellen Krise ist: Schaffen wir es diesmal, dass es
anders wird?
({1})
Die Äußerungen aus den Regierungsfraktionen waren
leider etwas ernüchternd. Herr Friedrich hat sich wieder
mit dem ganz zentralen Satz geäußert: Aber unseren eigenen Akteuren dürfen wir auf keinen Fall Fesseln anlegen. - Das entspricht der Argumentation in jedem anderen Land: Wir schützen unseren Finanzplatz, beteiligen
uns deswegen nicht an internationalen Regeln und dürfen vor allem nicht Vorreiter sein, wenn es um eine Verbesserung der Regeln geht.
({2})
Das ist genau die Argumentation, mit der Sie in zwei
Jahren wieder business as usual machen werden. Das,
was aus früheren Reden von Frau Merkel zitiert worden
ist, charakterisiert das Programm, das ansteht, wenn
Schwarz-Gelb nach der nächsten Bundestagswahl die
Mehrheit erhält. Ich bin dankbar für diese Hinweise.
({3})
Das heißt, nach dem Willen der Union soll es nach der
aktuellen Krise, wenn alle Aufregung vorbei ist, weitergehen wie bisher. Das ist nicht die Position von Bündnis 90/Die Grünen. Wir wollen andere Finanzmärkte.
({4})
Schauen Sie sich doch die spanische Aufsicht an! Sie
hat es anders gemacht und ihren eigenen Akteuren einige
Fesseln mehr angelegt. Das Bundesfinanzministerium
muss mir in einem Schreiben zugestehen, dass die spanischen Banken besser dastehen, weil Spanien es anders
gemacht hat. Eine jüngst veröffentlichte Studie über die
City of London beklagt, dass der Nachteil des Finanzplatzes London ist, dass dort keine guten Regeln festgelegt worden sind. Ich finde, diese Erkenntnis müssen wir
aus der Krise mitnehmen. Es lohnt sich, sinnvolle Regeln im eigenen Land aufzustellen, selbst wenn nicht
alle anderen Länder mitmachen. Dazu haben Sie keinerlei Vorschläge vorgetragen, nicht im Ausschuss und auch
nicht hier im Plenum.
({5})
Ich glaube, Sie ducken sich weg und versuchen, unter
der Welle, die gerade die Finanzmärkte überspült, durchzutauchen, um nachher wieder an derselben Stelle aufzutauchen. Ich finde, das ist ähnlich fatal wie das, was Herr
Lafontaine gemacht hat, der auf einer Welle surft, die die
Menschen mitreißt, die Arbeitsplätze und Steuern der
Menschen kosten wird, die nicht auf den internationalen
Finanzmärkten spekuliert haben. Als Krisengewinnler
hier einfach eine Show abzuziehen, wird der Situation
überhaupt nicht gerecht. Beide Verhaltensweisen sind
falsch, Wegducken und Surfen sind gleichermaßen unverantwortlich.
({6})
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Frage,
die Frau Hauer aufgeworfen hat, eingehen. Was ist denn
die Verantwortung hier vor Ort? Wir haben zu Maßnahmen, die hier in Deutschland ergriffen werden könnten
und sollten, von den Regierungsfraktionen und auch von
Herrn Steinbrück nichts gehört. Es wurde immer nur von
der internationalen Ebene und von Koordinierung gesprochen. Wunderbar: „King Henry“ als Vorbild, großes
Tanzen bei internationalen Verhandlungen. Ich möchte
ein konkretes Beispiel nennen, das zeigt, in welchem Bereich man etwas hätte tun können; wir haben dazu Vorschläge unterbreitet: Ein Anleger oder eine Anlegerin in
Deutschland kauft im Juli 2008 ein Zertifikat, das
„Deutschland Garant“-Anleihe heißt, Emittent: Lehman
Brothers. „Deutschland Garant“ klingt seriös. Aber
nichts ist garantiert und nichts ist mit Deutschland; vielmehr hat eine amerikanische Investmentbank, die heute
pleite ist, die Anleihe emittiert, und die Anleger haben
nichts davon. Das zu dem Wort von Herrn Steinbrück,
die Ersparnisse in Deutschland seien sicher. Natürlich
sind die Sparbücher sicher, aber viele Anleger haben
Geld verloren. Nur 0,13 Prozent des Zertifikatemarktes
- das hört sich wenig an - hat Lehman Brothers, aber
wenn Sie sich die Summe ausrechnen, dann stellen Sie
fest, dass es sich um 100 Millionen Euro handelt, die
deutsche Anleger verloren haben, weil man nicht dafür
gesorgt hat, dass diese wissen, dass, wo „Deutschland
Garant“ draufsteht, keine Garantie des Kapitals drin ist.
Es wurde nichts in Bezug auf das Bonitätsrisiko getan.
Tun Sie etwas für den wirklichen Anlegerschutz! Dann
können Sie auch bei Krisen dafür sorgen, dass Menschen
nicht in die Röhre schauen. Da haben Sie versagt.
({7})
Eine weitere Frage betrifft die Finanzaufsicht - Fritz
Kuhn hat für unsere Fraktion schon darauf hingewiesen -:
Wenn Sie davon sprechen, dass 25 Prozent Rendite nicht
möglich seien und das allen Beteiligten klar sein müsse,
dann möchte ich Sie fragen, ob unter diesen Beteiligten
vielleicht auch die deutsche Finanzaufsicht ist, für die
Sie verantwortlich sind. Offensichtlich nicht. Wenn die
deutsche Finanzaufsicht als Letzte merkt, wo Schieflagen bestehen, dann möchte ich fragen, warum Sie heute
nichts vorgelegt haben, was uns zeigt, wie Sie die deutsche Aufsicht verändern wollen. Das hätten wir von Ihrer Rede erwartet, aber Sie haben nichts Konkretes vorgetragen.
({8})
Die Finanzaufsicht in Deutschland hat die Aufgabe,
Missständen im Kredit- und Finanzdienstleistungswesen
entgegenzuwirken, die erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft herbeiführen können. Wir haben diese
erheblichen Nachteile für die Gesamtwirtschaft. Wir
werden das bei den Steuereinnahmen und bei den öffentlichen Haushalten erleben, und wir werden es bei den
Arbeitslosenzahlen sehen. Trotzdem meinen Sie, Sie
könnten sich hier hinstellen und nur die internationale
Situation beschreiben, ohne einen eigenen konkreten
Vorschlag zu machen. Wenn Sie, Herr Steinbrück, das
Beispiel von der Treppe nehmen, die von oben gekehrt
werden muss, dann möchte ich ganz klar sagen: Da Sie
nicht vor der eigenen Haustür kehren, sondern sich nur
international engagieren wollen, werden wir als Opposition mit allen Instrumentarien, die dafür zur Verfügung
stehen, dafür sorgen, dass auch vor der deutschen Haustür wirksam gekehrt wird.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat nun Ortwin Runde für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Schick, das Beispiel, das Sie gebracht haben, ist irgendwie unpassend. Wenn eine Unternehmensanleihe, für die viermal 6 Prozent Zinsen gezahlt werden, unter dem falschen Siegel „Deutschland Garant“
vermarktet und verkauft wird, dann kann man doch nicht
erwarten, dass jemand eintritt. Dass immer dann, wenn
jemand mit einer „Deutschland-Garantie“ wirbt, die
Staatshaftung gegeben ist, ist das Ihre Vorstellung? Wie
wollen Sie dann mit Unternehmensanleihen insgesamt
umgehen?
({0})
- Die Frage können Sie nachher im Rahmen einer Kurzintervention stellen. - Wenn wir bei der Dimension solcher Unternehmensanleihen so diskutieren würden, wären wir nicht auf der Höhe der Zeit.
Was wir gegenwärtig erleben, ist eine Feuerwehraktion bei einem weltweiten Brand. Angesichts der atemberaubenden Zahlen - die Notenbanken geben Liquidität
in die Finanzmärkte, sprich: an die Banken, in einer Größenordnung mal von 50, mal von 70, mal von 100 Milliarden Euro - habe ich schon aufgehört, auszurechnen,
wozu sich das insgesamt addiert. Weltweit sind sicherlich mehr als 2 Billionen an Liquiditätshilfe gegeben
worden. In den letzten Tagen haben wir miterlebt, wie
wirklich die gesamten Investmentbanken an der Wall
Street zusammengebrochen sind und die Amerikaner,
nachdem sie für Fannie Mae und Freddie Mac Geld ausgegeben haben, 200 Milliarden, für Bear Stearns,
70 Milliarden und dann weitere 30 Milliarden zur Verfügung gestellt haben. Das bedeutet, sie haben dort insgesamt mit 1 Billion interveniert, feuerwehrmäßig. Angesichts dessen unterhalten wir uns in der Debatte über
eine solche Regierungserklärung nur über Kleinigkeiten.
Das ist wirklich eine andere Dimension, um die es da
geht.
Es stellen sich natürlich Demokratiefragen bei dieser
Intervention im Bankensektor, bei der Art, wie amerikanische Banken dort plötzlich nach ziemlichem Belieben
verstaatlicht werden. Da gebe ich übrigens Herrn
Brüderle recht. Allerdings ist er wie ein alternder Kirmesboxer aufgetreten und hat diesen Punkt genutzt, um
wieder seine Privatisierungsvorstellungen für den Bereich der Landesbanken an den Mann zu bringen und auf
die Planwirtschaft einzuschlagen.
({1})
Das war schon richtig eindrucksvoll. Er kennt diesen
Step. Das sind die geübten Schritte des Kirmesboxers. Das ging nur wirklich zu weit.
({2})
Die Frage, vor der wir stehen, lautet: Befinden wir
uns wirklich an einer Zeitenwende? Der Bundesfinanzminister hat zu Recht gesagt, dass dies das Ende der
Dominanz der Amerikaner in der internationalen
Finanzpolitik sein wird. Man muss allerdings sagen: Es
sind nicht allein die Amerikaner, sondern es ist der
angloamerikanische Bereich, der da dominiert hat. Die
Frage ist, wie wir nach den Feuerwehraktionen aus der
Krise herauskommen.
Die Deutsche Bank - das fällt mir gerade ein - hat in
den 90er-Jahren mit dem Spruch geworben: Vertrauen ist
der Anfang von allem. - Wir haben erlebt, was gemacht
wurde, um Renditen von 25, 30 und mehr Prozent zu erzielen - Schnellballsysteme, Hütchenspielereien -, wir
erleben jetzt, dass sich die Banken, weil die Märkte zusammengebrochen sind, untereinander nicht mehr vertrauen, und da ist doch die Frage: Wie wollen wir in diesem System wieder Vertrauen herstellen? Wenn nach all
den Aktionen an der Wall Street und in Amerika niemand zu sagen wagt: „Das ist der Boden, und von nun an
geht es aufwärts“, dann ist wirklich die Frage: Was muss
geschehen? Ich sage: Wir brauchen in der Tat eine neue
internationale Finanzarchitektur.
Zur Verantwortung Einzelner kann ich nur sagen: Ich
finde in dem gesamten System keinen, der nicht mit verantwortlich gewesen wäre. Angesichts dessen wäre es
erstaunlich, wenn eine Ebene für sich sagen könnte, sie
habe nicht versagt und auch in Teilbereichen keine Fehler gemacht.
Die FDP müsste doch wirklich ihre gesamte finanzpolitische Grundposition überprüfen.
({3})
Sie hat immer gesagt, wir müssten deregulieren, um
wettbewerbsfähig zu sein. Sie hat davon gesprochen, ein
„level playing field“ sei im globalen Finanzkapitalismus
nötig.
({4})
Das heißt, dass man immer die unterste Form der Regulierung wählt, also die Deregulierung.
Wenn wir Zweckgesellschaften und all diese verschiedenen Finanzinstrumente haben, dann deshalb, weil
es die Angloamerikaner so bestimmt haben. Hier muss
man sich aber selbst einen Vorwurf machen und fragen,
ob man auf der eigenen Ebene genug Widerstand geleistet hat. Wir können ein Stück weit in Analogie zu dem,
was in der Außenpolitik geschieht, darauf verweisen,
dass das alte Europa und Deutschland eine Reihe von
Traditionen haben, auf denen wir aufbauen können. Sicher sind die Bereiche, in denen wir ganz und gar traditionell geblieben sind. Dies gilt vor allem für den
Bereich der Sparkassen und Volksbanken sowie für jene
Banker, die gesagt haben: Ich handle nur mit Risiken,
die ich auch bewerten und beurteilen kann. - Auch
Pfandbriefe und Verbraucherschutzmaßnahmen gehören
zu den Traditionen, auf denen man aufbauen kann. Dass
wir aber wegen der Wettbewerbsgleichheit mit ausländischen Banken auch Fehler bei der Deregulierung gemacht haben, ist unabweisbar. Insoweit sind wir von dieser Krise natürlich mit betroffen.
Die Betroffenheit wird sich in dem Zusammenhang
von Finanzwirtschaft und Realwirtschaft zeigen. Diesen
Zusammenhang haben wir lange tabuisiert; wir haben
immer gesagt, es handele sich allein um eine Finanzkrise. Wir werden noch merken, wie das, was in den Vereinigten Staaten als Folge der jüngsten Ereignisse abläuft, auf die Realwirtschaft durchschlagen wird. Die
Amerikaner werden ihre Staatsverschuldung so aufblähen, dass sie Schwierigkeiten haben werden, sie zu finanzieren. Sie werden sie nicht über Steuererhöhungen,
sondern über Inflation finanzieren, was dann Auswirkungen auf das Währungssystem haben wird. An dieser
Stelle sind wir sehr schnell bei Helmut Schmidt - mit
dem Abstand eines großen Staatsmanns kann er das am
allerbesten beurteilen -, der diese Zusammenhänge mit
dem Währungsbereich aufgezeigt hat. Wir werden erleben, dass sich dies auf das Wachstum der amerikanischen Wirtschaft auswirken wird und dass uns diese
Auswirkungen heftig treffen werden. Wir haben erlebt,
welche Wachstumsbremse die deutsche Vereinigung
ausgelöst hat. Wenn man sich die Größenordnung vorstellt, dann ist klar: Das wird Auswirkungen auch auf
uns haben.
Deswegen kann ich nur sagen: Wir brauchen ein
Agieren auf der Ebene der Finanzminister. Dabei ist der
Finanzminister einer Volkswirtschaft, die Exportweltmeister ist, auf der internationalen Bühne natürlich gefragt. Träte er dort nicht auf, wäre es ein fundamentaler
Fehler. Wir brauchen Bemühungen im Rahmen der G 7
plus Brasilien, Russland, China und die arabischen Länder. Sie können nicht nur mit ihren Staatsfonds unseren
kollabierenden Banken zur Seite stehen, sondern werden
dann auch bei der neuen multipolaren Ordnung gefragt
sein.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat nun Kollege Otto Bernhardt, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Lafontaine, wir haben keine Krise
der Demokratie, wir haben auch keine Krise der Marktwirtschaft, wir haben eine internationale Finanzkrise.
Dies sollte man zunächst einmal festhalten.
({0})
Wenn heute weltweit gefordert wird, man müsse bei
den internationalen Finanzmärkten mehr Transparenz,
aber auch mehr Regelungen schaffen, dann stellen wir
fest, dass unsere Bundesregierung - die Bundeskanzlerin
und der Finanzminister ({1})
dies bereits vor der Krise gefordert hat.
({2})
Sie sind aber an den Vorstellungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens gescheitert, die gesagt haben:
Nein, das Ganze läuft am besten, wenn wir uns darum
nicht kümmern.
({3})
Natürlich kann man solche Probleme, Herr Kollege
Schick, nur international lösen. Wir würden, wenn wir
nur nationale Maßnahmen ergriffen, unseren eigenen
Finanzplatz schwächen. Deshalb ist es richtig, wie es die
Bundesregierung macht, im Rahmen der G 7 und der EU
für einheitliche neue Regelungen zugunsten von mehr
Transparenz und zum Teil auch mehr Regulierung zu
werben.
({4})
Diese Krise - Herr Minister hat darauf hingewiesen hat ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten, und die
Vereinigten Staaten sind am härtesten betroffen. Ich sage
ganz nüchtern
({5})
- ich komme auf die Probleme in Deutschland noch zu
sprechen -: Wenn ich Finanzpolitik in den Vereinigten
Staaten hätte machen müssen, dann hätte auch ich mich
für den 700-Milliarden-Dollar-Schirm ausgesprochen.
Ich sage Ihnen auch, warum.
Herr Kollege, gestatten Sie vorher eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?
Gerne.
Herr Bernhardt, nur eine kurze Frage. Ich möchte mit
Erlaubnis des Präsidenten heute noch einmal zitieren,
und zwar das, was der Vorsitzende des Finanzausschusses, Herr Oswald, CDU/CSU, am 15. Februar 2008
sagte:
Zur Deregulierung der Finanzmärkte gibt es keine
Alternative. Sie hat der Wirtschaft und den Bürgern
neue Anlage- und Finanzierungsmöglichkeiten eröffnet, und sie hat zur Risikostreuung beigetragen.
Ich gehe davon aus, dass, wenn der Finanzausschussvorsitzende so etwas verkündet, auch Ihre Politik der letzten
Jahre darauf ausgerichtet war. So habe ich es auch erfahren. Hat sich nun Ihre Haltung zur Regulierung der
Finanzmärkte geändert oder nicht?
({0})
Zunächst einmal sage ich: Sofern es sich um ein Zitat
meines sehr geschätzten Kollegen Oswald handelt, sollten Sie ihn fragen.
({0})
- Entschuldigung! - Ich habe gesagt, dass diese Bundesregierung, die ja von einer Großen Koalition getragen
wird, also auch von den Unionsparteien, sich bereits vor
dieser Krise international für mehr Transparenz und
mehr Regulierung eingesetzt hat. Wenn Sie sich die Reden, die die Bundeskanzlerin vor anderthalb Jahren auf
internationalen Kongressen gehalten hat, noch einmal
anschauen, dann werden Sie feststellen: Wir haben dies
gefordert. An der Haltung der Amerikaner ist die Umsetzung dieser Forderung im Wesentlichen gescheitert. Jetzt
kommt dort ein Umdenken in Gang. Und das ist gut so.
Ich war gerade bei dem Hinweis, dass ich, wenn ich
Finanzpolitiker in den Vereinigten Staaten wäre, den
700-Milliarden-Dollar-Schirm mittragen würde. Der
Schaden für die amerikanische Volkswirtschaft, wenn
man nicht diesen Weg wählen würde, wäre nämlich noch
viel größer. Man muss nur einmal daran denken, welche
Folgen es für die Altersvorsorge in den Vereinigten Staaten hätte, wenn die größte amerikanische Versicherungsfirma in die Insolvenz ginge.
Die Wirtschaft der Vereinigten Staaten - ich will das
in diesem Zusammenhang einmal sagen - ist nach wie
vor so stark, dass die gesamte Verschuldung der Vereinigten Staaten im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt
- auf dieses berühmte Verhältnis wird ja immer abgehoben - zurzeit immer noch um 65 Prozent liegt. Das entspricht dem Verhältnis in Deutschland. In Japan liegt es
bei 170 Prozent, und dort lebt man auch noch ganz gut
damit. Die amerikanische Wirtschaft kann dies also ab.
Jetzt zurück zu Deutschland: Es gibt eine ganze Reihe
von Gründen, warum Deutschland im Rahmen der Globalisierung mit dieser Krise besser fertig wird als andere.
Das Universalbankensystem ist schon erwähnt worden.
Stellen Sie sich vor: Während in Amerika und Großbritannien Banken Konkurs gehen, kaufen die beiden großen deutschen Privatbanken dazu: die eine die Dresdner
Bank und die andere eine wichtige Beteiligung an der
Postbank. Das unterstreicht die Finanzkraft, die sie haben.
Natürlich ist es ein Vorteil, dass es bei uns 1 500 weitgehend regional tätige Kreditinstitute gibt. Nur, all diese
Fakten zur Heiligsprechung des Dreisäulensystems zu
nutzen, dazu bin ich nicht bereit. Ich bin nämlich davon
überzeugt, dass wir nicht nur Veränderungen innerhalb
der Säulen brauchen. Wir werden in Kürze sicherlich
auch über eine Veränderung der Grenzen der Säulen
sprechen. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob dies in meiner Fraktion mehrheitsfähig ist, aber in diese Richtung
wird es mit Sicherheit gehen.
Ein weiterer Vorteil bei uns ist die Langfristfinanzierungskultur. Alle Kolleginnen und Kollegen im Finanzausschuss wissen, dass wir diese manchmal sehr massiv
gegen die EU verteidigen müssen, die dies in der Vergangenheit nicht so gesehen hat. Ich glaube, diesen
Kampf werden wir jetzt leichter führen können.
({1})
Es gibt einen weiteren Punkt, der für die Stimmung
im Lande sehr wichtig ist, und den sollte jeder Politiker
- auch der, der diese Bundesregierung vielleicht nicht
mag - parat haben: Wir haben die besten Einlagensicherungssysteme der Welt. Der EU-Standard schreibt vor,
dass 90 Prozent einer Einlage gesichert werden; die
Höchstsumme der Sicherung beträgt aber nur 20 000 Euro.
All unsere Bankensysteme in Deutschland sichern Privatkonten hingegen in unbeschränkter Höhe ab. Das
heißt, niemand braucht in Deutschland zur Bank zu gehen, um Geld abzuheben.
Herr Kollege Schick, Sie verlangen von uns, dass wir
den Anleger noch mehr schützen sollen als bisher. Wenn
heutzutage jemand kritische Papiere kaufen will - ich
sage es etwas laienhaft -, dann muss er in einem Gespräch darüber beraten werden. Er muss unterschreiben,
dass man ihm gesagt hat, wie risikoreich sein Vorhaben
ist. Ich füge hinzu: Wer einigermaßen darüber nachdenkt, dem muss doch klar sein, dass ein Angebot mit 6,
7 oder 8 Prozent mit mehr Risiken verbunden ist, wenn
es auf dem Sparkonto nur 3 Prozent und für Festgeld nur
4 Prozent Zinsen gibt.
({2})
Ich glaube, nirgendwo wird der Konsument so gut geschützt wie in Deutschland. Von daher bin ich gegen
noch mehr Vorschriften. Wir glauben an den selbstständig denkenden Menschen.
({3})
Kollege Bernhardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schick?
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege Bernhardt, Ihr Kollege Meister hat vorhin davon gesprochen, dass wir auf den Finanzmärkten
mehr Transparenz brauchen. Würde es Ihrer Vorstellung von Transparenz widersprechen, wenn nur dort Garantie draufsteht, wo Garantie drin ist, und wenn das Bonitätsrisiko eines Emittenten klar ausgewiesen wird?
Würde es Ihrer Vorstellung von Transparenz widersprechen, wenn man gesetzliche Standards schafft, damit die
Anlegerinnen und Anleger auch wirklich wissen, was
sich hinter bestimmten Produkten verbirgt, sodass sie die
Risiken einschätzen können? Ist das nicht auch ein Teil
von Transparenz?
Herr Kollege, haben Sie schon mal einen Prospekt gelesen, den jemand herausgeben muss, wenn er ein Papier
auf dem deutschen Markt platzieren will? Diese Prospekte sind zum Teil mehrere Hundert Seiten dick; von
ihnen gibt es sogar Kurzfassungen. Das Problem ist, dass
viele gar nicht geschützt werden wollen. Sie sind nicht
bereit, den Prospekt zu lesen. Insofern bleibe ich dabei,
dass ich strengere Bestimmungen für diesen Bereich weder national noch international für nicht erforderlich
halte.
Ich komme jetzt dazu, wo unsere Schularbeiten liegen. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, wir hätten
alles gut gemacht und dass es bei uns keine Probleme
gäbe.
Das erste Problem ist angesprochen worden, nämlich
die KfW und die IKB. Natürlich war es ein Fehler, sich
an der IKB zu beteiligen. Aber es war die Politik,
({0})
die die KfW zu diesem Schritt gedrängt hat. Wir waren
damals noch nicht so weit in unserem Bewusstsein, dass
es eigentlich nicht schlimm gewesen wäre, wenn ein
Ausländer die IKB gekauft hätte. Damals wollten wir
dies aber nicht.
Wenn man sich allerdings mit diesem Thema beschäftigt, dann muss man auch ehrlich bleiben. Es ist zwar
richtig, dass der gesamte Schirm für die IKB bei gut
10 Milliarden Euro liegt; aber wir, die Steuerzahler, haben nicht 10 Milliarden Euro, sondern erst 1,2 Milliarden verloren. Es heißt ja nicht, dass wir das ganze Geld
brauchen; die Papiere, die man übernommen hat, haben
vielleicht in zwei oder drei Jahren einen Wert von
50 oder 60 Prozent. Insofern sollte man hier fair vorgehen. Ich sage auch ganz deutlich: Es war eine richtige
Entscheidung der Bundesregierung, die IKB nicht in die
Insolvenz gehen zu lassen. Sonst wäre der Schaden für
die deutsche Volkswirtschaft viel größer ausgefallen.
({1})
Ich spreche eine zweite Baustelle an. Wir haben im
deutschen Bankensystem eigentlich nur ein wirkliches
Problem, und das sind die Landesbanken; vielleicht
muss ich gerechter sagen: einige Landesbanken. Der genossenschaftliche Bereich hatte früher auch ein Dutzend
Spitzenorganisationen und -verbände. Er hat sie der Zeit
entsprechend aufgelöst. Heute hat er noch anderthalb;
demnächst wird es nur noch einer sein. Zu meinen, wenn
wir die sieben Landesbanken zusammenschließen, sei
das Problem gelöst, ist nicht richtig. Es ist nicht ihre
Aufgabe, Spitzeninstitut der Sparkassen zu sein, zumal
sie inzwischen alle schon sehr groß geworden sind und
vieles selber machen können. Das heißt, wir müssen entweder - ich sage das in dieser Brutalität - einen Teil still
liquidieren, oder wir müssen - auch wenn es der öffentlich-rechtliche Bereich oder einige nicht hören mögen Teile an den privaten Bereich verkaufen, der seine Aufgaben vielleicht damit verbinden kann. Wir stehen hier
allerdings unter einem ziemlichen Zeitdruck, um das
klar zu sagen.
Natürlich muss man über die zukünftige Organisation
der Bankenaufsicht nachdenken. Zweimal habe ich von
diesem Rednerpult gefordert - ich gebe zu, ich war damals in der Opposition und nicht in der Regierung -,
dem Beispiel der Mehrzahl der Länder - nicht aller Länder - zu folgen und die gesamte Bankenaufsicht auf die
Deutsche Bundesbank zu übertragen. Das war damals
unser Vorschlag. Die damalige Regierung unter RotGrün hat sich für ein anderes Modell entschieden, und
wir haben gesagt, wir warten ab. Nun sind fünf Jahre
vergangen, und ich würde die Bilanz ziehen: So schlecht
ist das Ganze nicht. Aber angesichts der neuen Herausforderungen stellt sich die Frage, ob wir nicht vielleicht
doch - ich persönlich tendiere zu dem Vorbild Irlands beschließen, die BaFin unter die Hoheit der Bundesbank
zu stellen und dort die Bankenaufsicht zu konzentrieren.
Ich denke dabei natürlich auch an Folgendes: Wenn die
Bankenaufsicht bei der Bundesbank konzentriert wird
und wir einmal europäische Aufsichtsorgane bekommen,
dann haben wir gute Chancen, dass die nach Frankfurt
kommen. Ich bitte, darüber einmal weiter nachzudenken.
In Europa gibt es heute 27 nationale Bankenaufsichten. Wir haben aber 40 Banken in Europa, die in mehreren Staaten tätig sind. Vielleicht müssen wir hier als
Zwischenschritt eine Gruppenaufsicht einziehen. Aber
ich schließe nicht aus, dass am Ende zumindest für die in
mehreren Ländern tätigen Banken doch eine europäische
Aufsicht steht.
Ich will noch zwei Argumente nennen, die dafür sprechen, die Aufsicht bei der Bundesbank zu konzentrieren:
Wenn wir in einer Krise Geld brauchen, liquide sein
müssen, kann das nur die Bundesbank machen. Die Bundesbank ist im Gegensatz zur BaFin mit den anderen Notenbanken vernetzt, insbesondere mit der Europäischen
Zentralbank. Auch hier haben wir also Schularbeiten zu
machen, um das klar zu sagen.
Im Tagesgeschäft müssen wir allerdings erst einmal
sehen, wie wir die aktuelle Finanzmarktkrise überwinden. Auch ich wage nicht mehr die Prognose, dass wir
über den Berg sind und dass die Krise in Kürze beendet
sein wird; ich bin vorsichtig geworden. Ich wage auch
keine Aussage mehr darüber, wie groß die Verluste endgültig sein werden. Wir haben festgestellt, dass es in der
Welt zurzeit etwa - wir können es nicht nachrechnen 400 Milliarden Euro, 550 Milliarden Dollar sind. Es
heißt, dass 10 Prozent, sprich: 40 Milliarden Euro, davon in Deutschland angekommen sein sollen. Aber
- auch das gehört zur Argumentation - diese 40 Milliarden Euro sind noch kein Ausfall. Es sind zurzeit zu einem erheblichen Teil Buchverluste. Wie groß die Ausfälle sein werden, wissen wir nicht. Das sind Bereiche,
wo wir unsere Schularbeiten machen müssen.
Ich stelle abschließend fest: Das Zusammenspiel
zwischen Bundesregierung, Bundesbank und BaFin bei
der Lösung der aktuellen Finanzkrise, die ihre Ursachen nicht in Deutschland hat, war hervorragend. Wir
sollten nicht so miesepetrig sein und nur kritisieren.
Vielmehr glaube ich, die Bundesregierung, die Bundesbank und die BaFin haben von uns allen ein Dankeschön verdient.
({2})
Das Wort hat nun Kollege Carsten Schneider für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über die globale Einordnung der aktuellen Finanzmarktkrise ist schon viel gesagt worden. Ich unterstütze uneingeschränkt die Erklärung des Bundesfinanzministers von
heute Vormittag. Er hat im Hinblick auf diese Situation
auch im vergangenen Jahr einen sehr guten Job gemacht.
Ich halte die Rettung der IKB für richtig, auch wenn
sie mit erheblichen Steuermitteln verbunden ist. Bis auf
eine Ausnahme gibt es dazu im Hause keinen Dissens.
Dadurch ist der Kelch einer Bankenpleite an unserem Finanzmarkt vorbeigegangen. Die Ausfälle für den Staat
wären bedeutend höher gewesen, wenn wir die IKB
nicht gerettet hätten.
({0})
Ich unterstütze den Finanzminister auch in seinem
heute hier vorgelegten Achtpunkteplan. Insbesondere
unterstütze ich ihn in seiner klaren Ansage, keine Steuermittel des Bundes als Zuschuss an Landesbanken zu
geben. Dies muss deutlich sein. Die Landesregierungen,
die die Aufsicht über ihre Landesbanken haben, müssen
ihre Verantwortung wahrnehmen. Ich hoffe gleichwohl,
dass es nicht zu dem schlimmsten Fall kommt.
Es gab die Anfrage, ob sich die Bundesrepublik an
dem Rettungspaket der Amerikaner beteiligen will. Es
ist gut, dass es auch da eine klare Absage gab. Die Fehler sind in den USA gemacht worden. Letztendlich müssen dort die Probleme gelöst werden.
Ich will mich im Folgenden auf die Kreditanstalt für
Wiederaufbau konzentrieren, für die das Parlament die
direkte Verantwortung trägt. Wir haben gestern im Haushaltsausschuss lange und intensiv mit dem neuen
Vorstandsvorsitzenden diskutiert. Es geht um das Beteiligungsmanagement und in diesem Zusammenhang insbesondere um die Frage, wie es dazu kommen konnte,
dass man die Risiken bei der IKB nicht gesehen hat.
Dies ist aufzuklären. Vor allen Dingen muss es Veränderungen in der Struktur der Aufsicht geben, damit solche
Mängel abgestellt werden können.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schui von der Linksfraktion?
Ja, bitte sehr.
Sie haben gesagt, dass Sie sich damit einverstanden
erklären, dass sich Finanzminister Steinbrück gegen eine
Beteiligung an dem amerikanischen Rettungspaket in
Höhe von 700 Milliarden US-Dollar ausspricht. Ist Ihnen bekannt, dass die US-Regierung einige wirksame
Druckmittel hat, um Deutschland und andere Länder mit
bedeutenden Zentralbanken an der Finanzierung der
Kredite, die die USA aufnehmen müssen, zu beteiligen?
Erstes Druckmittel: Wenn diese 700 Milliarden US-Dollar auf den Markt gedrückt werden, kann das zu einer signifikanten Abwertung des Dollars führen. Wer will das
schon? Zweites Druckmittel: Es ist durchaus möglich,
dass deutsche Banken, die in den USA operieren und
faule Kredite im Portefeuille haben, keine Geschäfte mit
dieser 700-Milliarden-Agentur machen können. Was gedenkt die SPD-Fraktion, was gedenkt der Bundesminister der Finanzen dann zu tun?
Für den Finanzminister kann ich nicht sprechen. Aber
für meine Person kann ich Ihnen sagen, dass meine Aussage gilt: keine Steuermittel aus Deutschland zur Rettung von amerikanischen Banken. Das ist doch logisch.
Etwas anderes würde niemand goutieren. Jeder muss für
seinen Bereich die Verantwortung wahrnehmen.
({0})
Die amerikanische Wirtschaft hat enorm davon profitiert, dass in den letzten Jahren eine Blase aufgrund niedriger Zinsen und laxer Kreditvergaben entstanden ist.
Wir sind nicht bereit, dafür die Verantwortung zu übernehmen. Das ist ganz klar.
({1})
Herr Lafontaine, zu unserer Verantwortung gehört natürlich auch, die Rechte, die man als Parlamentarier bekommt - dazu gehört das Kontrollrecht als Mitglied des
Verwaltungsrates der KfW; soweit ich weiß, sind Sie
dort Mitglied -, auch wahrzunehmen.
({2})
Sie können ja einmal sagen, wie oft Sie an diesen Sitzungen teilgenommen haben.
({3})
Sie nehmen dieses Recht nicht wahr. Herr Kollege
Stiegler hat eben schon darauf hingewiesen, dass Sie als
Finanzminister geflüchtet sind und jetzt als Parlamentarier Ihre Rechte nicht wahrnehmen, aber große Reden
schwingen. Das ist unsolide und - ich würde fast schon
sagen - dreist.
({4})
Ich möchte auf die KfW zurückkommen und damit
auf die nicht zu akzeptierende Panne - ich weiß gar
nicht, ob man es nur als Panne bezeichnen kann - bei der
Überweisung von etwa 350 Millionen Euro im Rahmen
eines Swap-Geschäfts an Lehman Brothers am Montag
vergangener Woche. Wir haben gestern in geheimer Sitzung intensiv darüber diskutiert. Aber ich will zumindest
meine Bewertung sagen.
Wenn Sie die Presse in der Woche vom 8. bis
13. September verfolgt haben, so wissen Sie, dass zu Beginn Lehman Brothers in großen Schwierigkeiten war.
Dann sackte der Aktienkurs jeden Tag weiter ab, um
90 Prozent zum Schluss. Am Freitag war klar - ich habe
die Meldungen dabei -, dass es kein Rettungspaket und
keinen Rettungsschirm der amerikanischen Regierung
geben wird.
Für mich ist unerklärlich, wie es in einer großen
Bank, einer Staatsbank nicht möglich ist, dies zu verfolgen und einmal zu schauen, was wir dort eigentlich im
Obligo haben. Das ist nicht die Aufgabe von einzelnen
Vorständen; das ist vor allen Dingen die Aufgabe des
Vorstandsvorsitzenden.
({5})
Für mich ist nicht abschließend geklärt, ob er nicht für
das gute Geld, das wir ihm bezahlen, auch am Wochenende einmal in den Ticker schauen und seine Kollegen
anrufen kann, um eine Krisensitzung einzuberufen. Dies
gilt es noch aufzuklären. Ich sehe da insbesondere den
Verwaltungsratsvorsitzenden Glos in der Verantwortung,
der ja den Eindruck erweckt hat, als sei er für die Bank
nicht zuständig, zumindest wenn man die Aussagen vom
Unternehmertag der Union für voll nehmen soll.
({6})
Wir brauchen bei der KfW sicherlich Änderungen.
Ich rate aber dazu, die KfW als wichtige Förderbank des
Bundes in ihren Festen zu erhalten und zu stärken; das
ist unabdingbar. Was die Kapitalmarktgeschäfte betrifft,
so halte ich es für notwendig, diesen Bereich der Aufsicht nach dem KWG, also der Bundesbank und der
BaFin, zu unterstellen, aber nicht, wie es in Teilen der
Unionsfraktion zu hören ist, das Fördergeschäft. Das
würde zu einer deutlichen Beeinträchtigung des Fördervolumens, letztendlich unseres Geschäftes, wenn wir
Darlehen zur CO2-Gebäudesanierung und auch Globaldarlehen an Banken geben, führen und findet nicht
meine Unterstützung.
({7})
Ich denke aber auch, dass wir als Parlament das Beteiligungscontrolling verbessern müssen. Eigentlich
sind wir im Haushaltsausschuss dafür zuständig. Oftmals bekommen wir aber gar nicht die erforderlichen Informationen, weil uns bei Beteiligungen an GmbHs oder
Aktiengesellschaften gesagt wird, dies sei aktienrechtlich nicht möglich. Ich sehe das mitnichten so. Ich
denke, wir müssen die Parlamentsrechte bei den Beteiligungen, die wir kontrollieren, die wir besitzen und von
deren Erträgen und - im nicht zu wünschenden Fall auch deren Verlusten wir betroffen sind, noch stärker untermauern. Ich denke, das sollten wir noch in dieser Legislaturperiode regeln.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft
die Portfolios an Anlageprodukten, die es seitens des
Bundes gibt. Jeder Bürger kann in Bundesschatzbriefe
als einen sicheren Hafen investieren und beim Staat direkt seine Gelder anlegen. Das ist sicher, das ist auch einigermaßen gut verzinst. Wir haben hier im Parlament
ein Gesetz verabschiedet, diese Privatkundenstrategie
der Finanzagentur auszubauen, zwar mit einem unterdurchschnittlichen Volumen, aber es ging darum, dies
attraktiv zu machen.
Nun haben wir einen Dissens mit der Unionsfraktion,
was insbesondere die Tagesgeldanleihen und andere
Punkte betrifft. Ich kann nicht erkennen, dass es ein
Nachteil für die Banken, geschweige denn für den Staat
Carsten Schneider ({8})
ist, bei seinen Bürgern direkt die Kredite aufzunehmen,
die er in Form von Einlagen haben will. Auch für die
Bürger ist es kein Nachteil, einen sicheren Hafen zu haben, in dem sie ihr Geld investieren können und gute
Zinsen bekommen. Ich hoffe, dass sich die Unionsfraktion hier noch bewegt, um diese guten Produkte, die sicher sind und uns allen helfen, letztendlich auf den Weg
zu bringen, und sich nicht querstellt.
Das sind Punkte, um neben den Anmerkungen, die
der Finanzminister heute gemacht hat, das Vertrauen in
das Finanzsystem und seine Stabilität noch stärker zu
befördern und die Regulierungsmaßnahmen, die bei den
G-8-Gipfeln von Bundesminister Steinbrück angestoßen
wurden, letztendlich auch umzusetzen. Die Chancen
sind heute wahrscheinlich so gut wie nie zuvor.
Vielen Dank.
({9})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem
Kollegen Jörg-Otto Spiller, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich versuchen, am Ende dieser gut
dreistündigen Debatte ein Fazit zu ziehen. Meine erste
Aussage ist: Ich bin froh, dass Peer Steinbrück unser
Bundesfinanzminister ist.
({0})
Er hat eine brillante, umfassende Analyse der internationalen Finanzkrise gebracht, und er hat gezeigt, dass er
klare Positionen hat und dass er willens ist, auch in internationalen Verhandlungen verantwortungsvoll zu agieren. Ich unterstreiche: Er hat, wie die Bundesregierung
insgesamt, gemeinsam mit der Bundesbank, mit der
Europäischen Zentralbank und mit der BaFin
({1})
wesentlich dazu beigetragen, die Krise in Deutschland
zu begrenzen. Das war ein gutes Handeln.
({2})
Auch wenn es das gute Recht der Opposition ist, an dem
einen oder anderen Punkt zu mäkeln, war das insgesamt
richtig.
Ich unterstreiche, was mehrere Vorredner gesagt haben,
zuletzt Otto Bernhardt: Das deutsche Bankensystem ist
insgesamt gesehen, so wie es aufgestellt, wie es konstruiert ist, solide und steht sehr viel besser da als viele andere. Mit Blick auf unsere Zuhörer in diesem Saal und die
Damen und Herren, die die Debatte im Fernsehen verfolgen, sage ich: In Deutschland braucht sich niemand Sorgen zu machen um seine Einlagen bei einer Bank.
({3})
Das liegt nicht nur daran - das hat Herr Bernhardt gesagt -, dass wir insgesamt solide aufgestellt sind, sondern auch daran, dass wir Einlagensicherungssysteme
haben - Haftungsverbünde bei den Sparkassen und Genossenschaftsbanken sowie ein Einlagensicherungssystem bei den privaten Banken, die im Bundesverband
deutscher Banken organisiert sind -, die alle weit über
das hinausgehen, was auf europäischer Ebene vorgeschrieben ist. Jeder, dessen Vermögen bei der Bank ein
halbwegs normal hohes Vermögen nicht übersteigt, ist
voll abgesichert. Bis zu 30 Prozent des haftenden Eigenkapitals der jeweiligen Bank sind für die Einlage eines
jeden Kunden zur Haftung da. Das heißt, selbst wenn Sie
bei einer kleinen Bank, die nicht mehr als
5 Millionen Euro Eigenkapital hat, Kunde sind, sind
Einlagen von bis zu anderthalb Millionen Euro für jeden
einzelnen Kunden durch diesen Fonds abgesichert. Das
ist in der Welt einmalig.
Ich sage aber auch: Wir dürfen uns nicht damit begnügen, dass wir in Deutschland - zum Glück - einigermaßen geschützt sind. Als Exportweltmeister, als eine
Volkswirtschaft, die wie keine andere mit dem Rest dieser Welt verflochten ist, brauchen wir ein funktionierendes internationales Finanzwesen. Deswegen ist es erfreulich, dass fast alle Fraktionen unterstützt haben, was
der Bundesfinanzminister gesagt hat: Wir brauchen eine
Rückbesinnung auf Regeln, die den Markt regulieren.
Das heißt nicht, dass der Markt ständig eingeengt wird.
Bei jedem ordentlichen Spiel gibt es nun einmal Spielregeln. Wer käme denn beim Sport auf die Idee, dass es
nur die Regel „Catch as catch can“ gibt? Es muss doch
ein Regelwerk geben, das für alle Teilnehmer gilt.
({4})
Das meiste ist dazu schon gesagt worden. Produkttransparenz gehört dazu. Herr Kollege Dr. Schick, es
hat mich ein bisschen gewundert, dass Sie sich für undurchsichtige Produkte starkmachen.
({5})
Ich finde, man kann den deutschen Anlegern nicht raten,
etwas zu kaufen, das kein Mensch versteht. Das ist schon
für Banker nicht ratsam; aber dass Sie das auch noch
dem Publikum schmackhaft machen wollen, hat mich
ein Stück weit gewundert.
({6})
Zu diesem Thema gehört auch - das hat der Kollege
Stiegler angesprochen - ein Nachdenken über Bilanzierungsregeln. Ist es wirklich vernünftig, die bewährten
Regelungen, die wir seit hundert Jahren im Handelsgesetzbuch haben, zum Beispiel das Niederstwertprinzip,
durch schwankende Bewertungen von Aktiva zu ersetzen? In der guten Phase würde dann doch alles nach
oben und bei einer Verschlechterung alles nach unten
übertrieben. Darüber muss man nachdenken.
Ich bin auch froh - das ist hier noch nicht so zur Sprache gekommen; das will ich einbringen -, dass wir den
Euro haben. Ich möchte nicht wissen, wie sich die
internationale Finanzkrise auf Deutschland ausgewirkt
hätte, wenn wir den Währungsverbund in Europa nicht
hätten.
({7})
Wir hätten wilde Spekulationen gehabt, im Zweifelsfall
hätten wir uns an den Devisenmärkten riesige Probleme
geschaffen. Ich kann nur sagen: Europa steht auch deswegen besser da. Dies wird uns, finde ich, legitimieren,
das europäische Gewicht in die neue internationale Regelung von Finanzmärkten einzubringen, um das, was
auch der Bundesfinanzminister genannt hat, zu erreichen, nämlich die Finanzmärkte neu zu zivilisieren.
Eine letzte Bemerkung - Kollege Bernhardt hat das
schon angesprochen -: Natürlich müssen wir auch darüber nachdenken, wie wir die Bankenaufsicht im Zuge
der Europäisierung besser aufstellen. Ich will allerdings
auf Folgendes hinweisen: Die BaFin, die Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht, ist für das ganze
Spektrum von Finanzmärkten einschließlich Versicherungen zuständig; das ist bei der Bundesbank nicht so.
Das würde ich nicht gering schätzen. Ich möchte darauf
hinweisen, dass die Bundesbank schon heute an der Bankenaufsicht stark beteiligt ist. Dazu sage ich nur: Beide
müssen stärker werden. Wir müssen uns überlegen, wie
wir der Bundesbank und der BaFin helfen können, noch
effektiver zu werden. Denn eine wohlfunktionierende
und starke Finanzaufsicht ist ein Standortvorteil.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/10308 soll überwiesen werden zur feder-
führenden Beratung an den Finanzausschuss und zur
Mitberatung an den Haushaltsausschuss, den Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie sowie an den Ausschuss
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie
die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:
3 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur arbeitsmarktadäquaten Steuerung der Zuwanderung Hochqualifizierter und zur Änderung
weiterer aufenthaltsrechtlicher Regelungen
({0})
- Drucksache 16/10288 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Rainder Steenblock, Manuel Sarrazin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Abschottungspolitik beenden - Volle Arbeitnehmerfreizügigkeit ab 2009 herstellen
- Drucksache 16/10237 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Hartfrid Wolff ({3}), Gisela Piltz,
Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und
zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern ({4})
- Drucksache 16/9091 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid
Wolff ({6}), Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk
Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit sofort und unbeschränkt in der Bundesrepublik Deutschland gewähren
- Drucksache 16/10310 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Peter Altmaier das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bedarf an gut ausgebildeten und gut qualifizierten Fachkräften ist in den letzten Jahren stetig gestiegen, und
zwar nicht zuletzt dank der guten Wirtschaftsentwicklung seit Amtsantritt dieser Bundesregierung, lieber Herr
Kollege Wolff, wie jedermann anhand der Zahlen feststellen kann.
({0})
Dieser Bedarf an Arbeitskräften wächst weiter und
wird auch unabhängig von konjunkturellen SchwankunParl. Staatssekretär Peter Altmaier
gen in Zukunft weiterwachsen, wie ein Blick auf die
demografische Entwicklung zeigt. Deshalb muss eine
verantwortliche Bundesregierung vorausschauend die
Weichen dafür stellen, dass die notwendigen Fachkräfte
dem Arbeitsmarkt auch künftig zur Verfügung stehen.
Die Politik der Bundesregierung beruht auf drei Säulen, nämlich erstens darauf, die einheimischen Arbeitskräfte so zu qualifizieren und so weiterzubilden, dass sie
von den großen Chancen, die sich bieten, besser profitieren können. Das gilt zweitens auch für diejenigen, die
schon lange hier sind und in vielen Fällen aufgrund mangelnder Bildungschancen und mangelnder Förderung
nicht imstande waren, sich so in den Arbeitsmarkt einzugliedern, wie dies im Interesse unserer wirtschaftlichen
Entwicklung geboten ist. Drittens kann die Gewinnung
ausländischer Facharbeitskräfte Versäumnisse der inländischen Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen nie
ganz ersetzen, sondern sie ist allenfalls eine wichtige Ergänzung dieser Politik; nicht mehr, aber auch nicht weniger.
In diesen Gesamtansatz fügt sich der Entwurf des
Arbeitsmigrationssteuerungsgesetzes ein. Es geht bei
diesem Entwurf in erster Linie um die Bedürfnisse des
Arbeitsmarktes und der Wirtschaft. Das unterscheidet
ihn von früheren Vorhaben wie beispielsweise Bleiberechtsregelungen oder Resettlementregelungen, über die
bisweilen ebenfalls diskutiert wird.
Wir haben mit diesem Vorschlag eine umfassende,
eine maßgeschneiderte Lösung vorgelegt, die insbesondere intelligent gestaffelt ist und sich möglichst passgenau an den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarktes
orientiert. Das heißt, sie soll nicht auf Kosten der Beschäftigungsmöglichkeiten einheimischer Arbeitnehmer
gehen, sondern sich auf diejenigen Segmente im Arbeitsmarkt konzentrieren, in denen Bedarfslücken bestehen.
Wir müssen die Position unseres Landes im weltweiten Wettbewerb um die besten Köpfe stärken. Dem
wird der vorliegende Entwurf auch gerecht. Er sieht im
Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz insbesondere folgende
Punkte vor: erstens: die Senkung der Einkommensgrenze für Hochqualifizierte, die eine Niederlassungserlaubnis anstreben, von derzeit über 86 000 Euro auf rund
63 000 Euro; zweitens: die verstärkte Nutzung im Inland
vorhandener Qualifikationspotenziale durch Erteilung
eines neuen Aufenthaltstitels, der beruflich Qualifizierten einen sicheren Aufenthaltsstatus ermöglicht - ein
wichtiger Schritt zu einer verlässlichen, berechenbaren
Kalkulationsgrundlage für viele Unternehmen in unserem Land. Drittens werden wir mit den begleitenden
Verordnungsänderungen des BMAS auch dafür sorgen,
dass der Zugang für Akademiker aus den neuen EUMitgliedstaaten durch Verzicht auf den Vermittlungsvorrang erleichtert wird. Wir werden ermöglichen, dass
Akademiker aus Drittstaaten Zugang zum Arbeitsmarkt
haben, soweit für die Beschäftigung keine inländischen
Arbeitssuchenden zur Verfügung stehen. Außerdem werden wir sicherstellen, dass Absolventen deutscher Auslandsschulen für jede Berufsausbildung zugelassen werden und der Zugang zu einer sich daran anschließenden
Beschäftigung ohne Vorrangprüfung ermöglicht wird.
Sie können aus diesen Punkten ersehen, dass wir uns
tatsächlich um maßgeschneiderte und differenzierte Lösungen bemüht haben.
({1})
Darüber hinaus ist uns wichtig, dass durch das vorliegende Gesetz die allgemeinen ausländer- und migrationspolitischen Ziele der Bundesregierung nicht konterkariert
werden. Wir waren in den letzten Jahren ausgesprochen
erfolgreich bei der Bekämpfung der illegalen Migration und des Asylmissbrauchs, sowohl im nationalen
als auch im europäischen und im internationalen Bereich. Aus Sicht des Bundesinnenministeriums ist es
wichtig, dass dies auch in Zukunft so bleibt; denn es ist
die Voraussetzung dafür, dass der Handlungsspielraum
im Bereich der Migrationspolitik, den wir uns in den
letzten Jahren eröffnet haben, auch erhalten bleibt. Deshalb wollen wir alles vermeiden, was in Zukunft wie ein
Pull-Faktor wirken könnte, was dazu beitragen könnte,
erfolgreiche Maßnahmen der Missbrauchsbekämpfung
aus der Vergangenheit zu konterkarieren. Daran muss
sich auch die Regelung in dem in Aussicht genommenen
§ 18 a Aufenthaltsgesetz messen lassen.
({2})
Aus diesem Grund sieht der Entwurf zum Beispiel
vor, dass eine Aufenthaltsverfestigung dann ausscheidet,
wenn der Betreffende zuvor die Ausländerbehörden getäuscht hat, wenn er Bezüge zu extremistischen Organisationen hat oder wenn er substanziell strafrechtlich in
Erscheinung getreten ist. All dies sind keine bürokratischen Spitzfindigkeiten; vielmehr ist es notwendig, damit die neue Regelung trägt und auch gesellschaftliche
Akzeptanz findet.
({3})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf leisten wir einen besonnenen Beitrag zu einer besseren Deckung des
Fachkräftebedarfs in Deutschland und damit auch zur
Nutzung von Wachstumspotenzialen und zur Schaffung
von weiteren Arbeitsplätzen. Es ist eine Regelung, die
nicht kurzfristig, sondern auf die Zukunft angelegt ist
und die eine positive Wirkung entfalten kann und soll.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Hartfrid Wolff für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zuwanderungspolitik der Bundesregierung aus CDU/CSU
und SPD ist Stückwerk. Die groß als Aktionsprogramm
angekündigte Initiative ist ein Flickenteppich. Sie haben
es gerade gemerkt: Der Staatssekretär hatte schon ein
Hartfrid Wolff ({0})
bisschen Schwierigkeiten, die einzelnen Punkte differenziert darzustellen.
({1})
Diese Initiative wird den Bedürfnissen unseres Landes
nicht gerecht.
({2})
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Steuerung der Arbeitsmigration bleibt weit hinter der Faktenlage und dem
Diskussionsstand zurück. Die Bundesregierung bleibt
halbherzig, wenn es um erhebliche Zukunftschancen
für unsere Gesellschaft und auch für die deutsche Wirtschaft geht. Die vorgesehene Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Akademiker aus allen EU-Staaten, die
Senkung der Mindesteinkommensgrenze und der vereinzelte Verzicht auf die Vorrangprüfung sind Minimalschritte,
({3})
die zwar in die richtige Richtung gehen, aber wenig bringen werden.
({4})
Lieber Herr Staatssekretär, mit dieser Aktion werden Sie
wieder nicht die Fachkräfte und die Menschen bekommen, die wir in Deutschland dringend brauchen.
({5})
Die grundsätzliche Beibehaltung der bürokratischen
Vorrangprüfung für Hochqualifizierte bleibt ein Problem. Einmal soll die Vorrangprüfung gelten, ein anderes Mal nicht.
({6})
Wie sollen gerade kleine und mittelständische Unternehmen so ihre Personalplanung betreiben?
({7})
Sie sind in diesem Punkt von der deutschen Arbeitsverwaltung abhängig. Herzlichen Glückwunsch! Freies Unternehmertum geht anders.
({8})
Auch die nach wie vor zu hohen Einkommensgrenzen
sind Hürden, die dem Hochtechnologiestandort Deutschland insgesamt und unserem Mittelstand schaden. Vor
allem aber werden die wenigen und unzureichenden Verbesserungen durch eine geradezu reaktionäre Politik im
Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU konterkariert.
({9})
Eine weitere Beschränkung der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit für Arbeitnehmer aus neu beigetretenen
Mitgliedstaaten in die Bundesrepublik ist kontraproduktiv. Die Bundesregierung muss von ihrem Vorhaben
dringend ablassen, bei der EU-Kommission eine erneute
Verlängerung der Einschränkung bis 2011 anzumelden.
({10})
Wieso differenzieren Sie für diesen kurzen Zeitraum von
zwei Jahren noch mal nach Akademikern und anderen?
Das schafft Bürokratie für Unternehmen, Unsicherheit
bei den Arbeitnehmern und Unverständnis bei unseren
Nachbarn.
({11})
Vielmehr ist die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Arbeitnehmer aus den neuen EU-Staaten erforderlich. Großbritannien, liebe Kollegen von der CDU/
CSU, profitiert von der Öffnung mit einer niedrigen Arbeitslosigkeit. Auch Frankreich will diesem Vorbild folgen. Dagegen will unsere Bundesregierung eine falsche
Regelung jetzt auch noch verlängern. Das ist grotesk.
({12})
Ich möchte ganz bewusst noch einen weiteren europapolitischen Aspekt hinzufügen. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist einer der Grundpfeiler der Europäischen
Union. Gerade im Hinblick auf die europäische Verständigung ist deshalb diese Abschottungspolitik kontraproduktiv. Eine Politik der guten Nachbarschaft und
Partnerschaft in Europa darf die Arbeitnehmer aus den
neuen Mitgliedstaaten der EU nicht länger diskriminieren.
({13})
Wir sollten unseren neuen europäischen Partnern mit Offenheit begegnen, nicht uns von ihnen abschotten und ihren Bürgern misstrauen.
({14})
Die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, dass wir
uns weiterentwickeln können und hierfür die entsprechenden Kapazitäten haben. Dazu müssen wir das Problem des Fachkräftemangels dringend beheben. Das
scheint bei der Bundesregierung zumindest tendenziell
angekommen zu sein. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind sich aber einig, dass der stärkere Zuzug
von Fachkräften nach Deutschland über ein Punktesystem ein Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
bei uns ist;
({15})
denn der Einsatz jeder weiteren Fachkraft zieht weitere
Arbeitsplätze nach sich.
Gebraucht werden nicht nur Hochqualifizierte, wie es
die Bundesregierung teilweise vorsieht, sondern auch
Facharbeiter und Saisonarbeitskräfte. In der Landwirtschaft beispielsweise trifft die weitere bürokratische Verschiebung der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf komplettes
Unverständnis. Die Bundesregierung bedient hier lediglich ungerechtfertigte Ängste.
({16})
Hartfrid Wolff ({17})
Die Erfahrungen aus den anderen EU-Staaten zeigen,
dass eine überbordende Zuwanderung auf den deutschen
Arbeitsmarkt nicht erfolgen wird. Hier wäre die Bundesregierung in der Pflicht, die Bevölkerung wahrheitsgetreu aufzuklären, anstatt die Angstmache durch Verlängerung der Übergangsregelungen zu verstärken. Ohne
ein einheitliches System droht Deutschland den Wettbewerb um die klügsten Köpfe zu verlieren. Dieses punktuelle Herumwursteln, Herr Staatssekretär, ist kein einheitliches System. Aber anstatt die bewusste Gestaltung
dieser Politik beherzt in die eigenen Hände zu nehmen,
wird ein Verschiebebahnhof nach Brüssel organisiert.
Die Idee, mit der Bluecard Hochqualifizierte nach
Europa zu holen, ist grundsätzlich gut und richtig. Doch
keine Initiative aus Brüssel entbindet uns von der
Pflicht, zu Hause unsere Hausaufgaben zu machen.
({18})
Durch europäische Regelungen wird der Wettbewerb
in Europa steigen. Mit den halbherzigen Vorschlägen der
Bundesregierung verlieren wir gerade gegenüber unseren EU-Nachbarn weiter an Boden. CDU, CSU und SPD
vergießen allerdings Krokodilstränen, beklagen sich
über die Eurokratie in Brüssel und schieben der EU den
Schwarzen Peter für eigene Versäumnisse zu. Das ist billig.
({19})
Heute tagt der Rat der EU-Innen- und -Justizminister.
Es wäre gut, wenn aus Berlin ein klares Signal für eine
kompetente nationale Zuwanderungssteuerung käme. Da
die EU-Minister auch die Flüchtlingspolitik beraten,
möchte ich hinzufügen: Die Zuwanderung aus humanitären Gründen muss im Fokus der Migrationspolitik
bleiben. Wir werden nicht alle Probleme der Welt innerhalb unserer Landesgrenzen lösen können. Vor akuten
Verfolgungsschicksalen dürfen wir aber nicht die Augen
verschließen. Im Einzelfall ist hier ein hohes Maß an
Verantwortungsbewusstsein erforderlich. Außerdem muss
man viele Maßnahmen, manchmal auch gut gemeinte
Maßnahmen, kritisch hinterfragen, damit sie nicht kontraproduktiv wirken.
({20})
Ein erfolgreiches Instrument für die kritische Prüfung
migrationspolitischer Maßnahmen ist die Härtefallkommission. Die FDP hat die Aufhebung der Befristung der
Regelungen zu dieser Kommission gefordert.
({21})
Ich begrüße nachdrücklich, dass sich jetzt auch die Bundesregierung diesen Vorschlag zu eigen gemacht hat.
({22})
- Das ist richtig.
Meine Damen und Herren, die demografische Entwicklung lässt erwarten, dass wir unseren wirtschaftlichen Standard mittelfristig nicht werden halten können,
wenn wir uns nicht für die Zuwanderung qualifizierter
Fachkräfte öffnen. Wie am Ausländerrecht nach wie vor
deutlich wird, will die Bundesregierung eigentlich keine
gesteuerte Zuwanderung.
Die FDP hat ein Gegenmodell zu dieser restriktiven
Politik vorgelegt. Wir brauchen ein Punktesystem, mit
dem die Zuwanderung nach klaren Kriterien gesteuert
wird und mit dem auch unsere Interessen und unsere Erwartungen an die Zuwanderer klar definiert werden.
({23})
Dabei spielen vor allem die Qualifikation, die berufliche
Erfahrung, das Alter und die Kenntnisse der deutschen
Sprache eine große Rolle. Entscheidend sind die Fragen:
Wen wollen wir nach Deutschland einladen? Wer kann
unsere Gesellschaft voranbringen?
Für die Menschen, auf die dies zutrifft, brauchen wir
eine Willkommenskultur, die es Hochqualifizierten und
Fachkräften aus dem Ausland erleichtert, sich für
Deutschland zu entscheiden. Die Bundesregierung will
steuern. Sie steuert aber mit stotterndem Motor und fährt
einen Zickzackkurs. Deutschland braucht nicht das
angstgeleitete zuwanderungspolitische Stückwerk von
CDU, CSU und SPD, sondern eine moderne, klare und
nachvollziehbare Zuwanderungssteuerung aus einem
Guss.
Vielen Dank.
({24})
Das Wort hat nun Josip Juratovic für die SPD-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Die aktuelle Entwicklung auf dem
Arbeitsmarkt ist positiv. Die Arbeitslosigkeit ist mit
3,2 Millionen arbeitslosen Menschen so gering wie seit
15 Jahren nicht mehr. Es ist ein großer Erfolg, dass wir
die Arbeitslosigkeit durch die Arbeitsmarktreformen der
Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder senken
konnten.
({0})
Leider ist die Zahl der Arbeitslosen aber immer noch
viel zu hoch, vor allem unter den Geringqualifizierten.
Wir Politiker stehen in der Pflicht, die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit alle Arbeitsuchenden die Chance
auf eine Arbeitsstelle bekommen.
Wir haben momentan wohl noch keinen flächendeckenden Fachkräftemangel zu verzeichnen. Klar ist aber:
Wir brauchen mehr qualifizierte und hochqualifizierte
Fachkräfte, um Wachstum und Beschäftigung auch
für die Zukunft zu sichern.
({1})
Für uns Sozialdemokraten hat dabei die Ausschöpfung
des heimischen Arbeitsmarktes Vorrang. Große Potenziale sehen wir bei der Jugend, bei den Frauen, den Älteren und den in Deutschland lebenden Migranten.
({2})
Der Ausbildungsbonus, der Ausbau der Ganztagsbetreuung und die Initiative „50 plus“ sind Maßnahmen,
mit denen wir unseren Fachkräftebedarf decken wollen.
Diesen Maßnahmen werden weitere folgen. Wir werden
zum Beispiel das Recht auf das Nachholen des Hauptschulabschlusses einführen und für eine größere Durchlässigkeit des Hochschulsystems sorgen, damit auch ein
Handwerksmeister ein Studium beginnen kann.
({3})
Doch all das wird nicht reichen. Trotzdem wird es zu
Engpässen kommen. Bereits ab Mitte des kommenden
Jahrzehnts kann dadurch unser Wirtschaftswachstum beeinträchtigt werden. Deswegen brauchen wir über das
heimische Potenzial hinaus weitere Fachkräfte.
Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung werden
die bereits in Deutschland lebenden Ausländer als Potenzial erkannt. Des Weiteren werden Möglichkeiten zur
Einwanderung hochqualifizierter Fachkräfte aus den
neuen EU-Beitrittsstaaten und aus Staaten außerhalb der
EU erschlossen.
Für uns ist besonders das Potenzial interessant, das in
den sogenannten Bildungsinländern steckt. Bildungsinländer sind zumeist junge Migrantinnen und Migranten,
die in Deutschland die Schule und die Universität besucht und abgeschlossen haben. Sie sind mit der deutschen Sprache und der deutschen Kultur bestens vertraut, doch durch seinen unsicheren Aufenthaltsstatus ist
dieser Personenkreis bislang chancenlos. Durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung erhalten beruflich gut
qualifizierte geduldete Migranten künftig eine Aufenthaltserlaubnis und einen Zugang zum Ausbildungsund Arbeitsmarkt. Diese neuen Regelungen sind dringend notwendig.
({4})
Ich führe in meinem Bürgerbüro regelmäßig Gespräche mit Familien, die als Flüchtlinge nach Deutschland
gekommen sind und nun abgeschoben werden sollen,
obwohl sie in unsere Gesellschaft integriert sind. Erst
gestern wurde entschieden, dass eine kurdische Familie
aus Heilbronn in die Türkei abgeschoben wird, obwohl
die Kinder in Heilbronn voll integriert sind. Sie sprechen
Deutsch, engagieren sich in ihrem Stadtteil, und die ältesten Kinder haben Angebote für eine Ausbildung.
Diese Kinder könnten unsere Fachkräfte von morgen
sein.
({5})
Durch dieses tragische Schicksal wird uns gezeigt: Es ist
höchste Zeit, dass wir das Potenzial der unter uns lebenden geduldeten Asylbewerber nutzen.
({6})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Weg ist frei
dafür, diesen Menschen einen besseren Status zuzuerkennen. Wieso tun wir das? - Wir haben in diese Menschen investiert: in ihre Integration und ihre Bildung.
Daher muss es auch selbstverständlich sein, dass sie hier
bei uns in Deutschland auch arbeiten dürfen.
Doch auch das Potenzial der bereits in Deutschland
lebenden Ausländer wird für uns nicht reichen, um den
Fachkräftebedarf der Zukunft zu decken. Deswegen ist
es gemäß dem Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz unter
verschiedenen Voraussetzungen möglich, hochqualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland nach Deutschland zu
holen:
Erstens. Akademiker aus den neuen EU-Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa erhalten einen uneingeschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt.
Zweitens. Akademiker aus den sogenannten Drittstaaten erhalten einen Zugang mit Vorrangprüfung.
Drittens. Einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten hochqualifizierte Fachkräfte mit einem Einkommen von über 63 600 Euro.
Viertens. Der Arbeitsmarkt wird für Absolventen der
deutschen Schulen im Ausland geöffnet.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, gesetzliche Bestimmungen zur Zuwanderung sind die eine Seite der
Medaille. Die andere Seite der Medaille ist jedoch die
Akzeptanz der Zuwanderung. Die Bundesregierung
will die Übergangsregelung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit für die neuen EU-Mitgliedstaaten aus gutem
Grund bis zum 30. April 2011 verlängern. Diese Zeit
müssen wir nutzen, um in unserer Gesellschaft eine Akzeptanz für die Zuwanderung aufzubauen.
Die FDP spricht davon, den Ausbildungsmarkt für
junge Menschen aus Mittel- und Osteuropa zu öffnen.
Das birgt sozialen Zündstoff. Wenn wir das tun, während
momentan gerade einmal jeder Dritte oder Vierte einer
Abschlussklasse einer deutschen Hauptschule einen regulären Ausbildungsplatz erhält, dann gewinnen wir
keine gesellschaftliche Zustimmung zur Einwanderung.
({7})
Wir müssen zunächst alles daransetzen, dass unsere
Jugendlichen eine reelle Chance auf einen Ausbildungsplatz bekommen. Außerdem müssen wir hierzulande ein
Bewusstsein dafür schaffen, dass die Zuwanderung für
uns alle eine Chance bietet. Es ist eine Tatsache, dass der
Zuzug von hochqualifizierten Fachkräften gerade für
die Geringqualifizierten in Deutschland von Nutzen ist.
Eine neue hochqualifizierte Fachkraft bedingt drei Arbeitsstellen für weniger qualifizierte Arbeitnehmer. Das
sichert Arbeit. Das schafft Arbeit. Deswegen ist es sinnvoll, dass wir unseren Arbeitsmarkt zunächst für die
hochqualifizierten Fachkräfte aus den neuen EU-Mitgliedstaaten öffnen, bevor ab 2011 unser Arbeitsmarkt
allen neuen EU-Bürgern von Ungarn bis zum Baltikum
offensteht. Durch diese Reihenfolge kann es uns gelingen, ein positives Klima für Zuwanderung zu schaffen.
Deutschland hat mit ökonomischer Zuwanderung
bereits seit über 50 Jahren Erfahrung. Wir wissen, dass
wir mit den Fachkräften, die zu uns kommen, nicht nur
Arbeitskräfte, sondern vor allen Dingen Menschen erwarten. Ich selbst bin im Alter von 15 Jahren aus Kroatien nach Deutschland gekommen. Seitdem habe ich
viele Facetten der deutschen Migrationspolitik kennengelernt.
Wir müssen die Ängste der Geringqualifizierten ernst
nehmen. Einwanderung darf nicht nur unter wirtschaftlichen Aspekten geschehen, sondern muss den Bestand
des sozialen Friedens in Deutschland gewährleisten.
({8})
Deswegen müssen wir - entgegen den Forderungen von
FDP und Grünen - die Übergangsregelungen für die
neuen EU-Mitgliedstaaten bis 2011 fortführen. Vor allem brauchen wir bis dahin in Deutschland einen flächendeckenden Mindestlohn.
({9})
Das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz ist ein vernünftiger Ansatz. Es nimmt Rücksicht auf die Menschen, die hierzulande leben, und auf die, die zu uns
kommen. Es zeugt auch von Wertschätzung für die Migranten, die ohne Bleiberecht bei uns leben; denn sie erhalten die Möglichkeit, unserer Gesellschaft etwas zurückzugeben, statt nur aus humanitären Gründen auf unsere Hilfe
angewiesen zu sein. Integration hilft beiden Seiten. Mit
dem Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz zeigt die Bundesregierung, dass sie Einwanderungspolitik mit Augenmaß betreibt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Glaubt man den Wirtschaftsverbänden, der
Bundesregierung oder der FDP - das sollte man aber lieber nicht machen -, dann hat Deutschland einen drastischen Mangel an Fachkräften, der negative Folgen für
die Volkswirtschaft hat. Damit die deutsche Wirtschaft
keine allzu großen Nachteile im Wettbewerb hat, will
nun die Bundesregierung den Zuzug von hochqualifizierten ausländischen Fachkräften nach Deutschland erleichtern. Das erscheint irgendwie plausibel.
Aktuell gibt es jedoch keine Anzeichen für einen allgemeinen Fachkräftemangel. Nach Untersuchungen des
Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung - IAB gibt es den beklagten Fachkräftemangel in der Form
nicht. Es deuten sich nur partiell Engpässe an. Das betrifft vor allen Dingen Akademikerinnen und Akademiker sowie Ingenieure bestimmter Fachrichtungen wie
Maschinenbau-, Elektro- und Wirtschaftsingenieure.
Während die Bundesregierung vom Fachkräftemangel redet, gibt es über 3 Millionen Erwerbslose und über
1 Million Langzeiterwerbslose; aber eine aktivierende
Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung gibt es
nicht.
({0})
Während die Bundesregierung den Forderungen der
Wirtschaft reflexartig folgt, werden über 6,5 Millionen
Menschen im Niedriglohnsektor beschäftigt, und
1,3 Millionen Menschen erhalten zusätzliche Hilfen,
weil ihr Lohn nicht ausreicht. Beachtlich ist hierbei, dass
inzwischen nicht mehr hauptsächlich Geringqualifizierte
und Ungelernte von Niedriglöhnen betroffen sind. Vielmehr haben derzeit circa 75 Prozent aller Beschäftigten
im Niedriglohnbereich eine abgeschlossene Berufsausbildung oder sogar einen Hochschulabschluss. Über
2 Millionen Beschäftigte gehen laut Verdi einem Zweitjob nach, um über die Runden kommen zu können.
Während Sie den Mangel an qualifiziertem Personal
beklagen, haben selbst gut qualifizierte und motivierte
Berufsanfänger oft Schwierigkeiten beim Berufseinstieg
und müssen etwa in gering oder gar nicht vergüteten
Praktika versuchen, Anschluss zu finden. Andere
ackern, wie gesagt, im Niedriglohnbereich, addieren oft
mehrere Tätigkeiten und kommen dennoch nicht über
die Runden. Von einer ausreichenden Vorsorge für das
Alter können junge Leute, die unter solchen Erwerbsbedingungen arbeiten, nur träumen. Die daraus abgeführten Minimalbeiträge führen direkt in die Altersarmut
unter dem schönmalerischen Titel „Grundsicherung im
Alter“. All dies gilt es zu bedenken, wenn Nebelkerzen
geworfen werden und gesagt wird, wir hätten einen
Fachkräftemangel in Deutschland.
Die Bundesregierung hat bisher im Bildungs-, Ausbildungs- und Hochschulbereich komplett versagt.
({1})
Der Bildungsbericht 2008 belegt dies schwarz auf weiß:
die hohe Zahl von Schulabbrechern, das perspektivlose
Lernen in Hauptschulen, die erschreckende soziale Ungleichheit, die Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund oder Behinderung, die
chronische Unterfinanzierung aller Bildungsbereiche,
die fehlenden Ausbildungsplätze und die sinkenden Studienanfängerzahlen.
Der OECD-Bildungsbericht zeigt, dass Deutschland
im internationalen Vergleich jedes Jahr an Boden verliert. Angesichts der Einführung von Studiengebühren,
von unzureichendem BAföG und verstärkten Zulassungsbeschränkungen überrascht uns dies nicht wirklich.
Dennoch werden weder vermehrt Bildungsanstrengungen unternommen noch vorhandene Personalreserven
ausgeschöpft.
Während die Verbände der Wirtschaft von Fachkräftemangel reden, lebt nach Schätzungen des Leiters des
Oldenburger Interdisziplinären Zentrums für Bildung
und Kommunikation in Migrationsprozessen, Professor
Dr. Rolf Meinhardt, etwa eine halbe Million zugewanderte Akademikerinnen und Akademiker in Deutschland, deren Abschlüsse hierzulande nicht anerkannt
werden. Sie müssen in der Regel unqualifizierten Tätigkeiten nachgehen. So arbeiten häufig in Berlin russische
Ärztinnen als Putzfrauen oder Ingenieure als Taxifahrer.
Dazu haben wir Ihnen bereits im letzten Jahr einen Antrag mit dem Titel „Für eine erleichterte Anerkennung
von im Ausland erworbenen Schul-, Bildungs- und Berufsabschlüssen“ vorgelegt.
({2})
Sie sind weiterhin untätig und berauben diese halbe Million Menschen ihrer Chance, qualifizierte Jobs auszuüben.
Fast könnte man glauben, dass die Bundesregierung
nun ihr Herz für Migrantinnen und Migranten oder
Flüchtlinge entdeckt hat. Dem ist aber nicht so; denn die
Bundesregierung hat nur ein Herz für die Nützlichen.
({3})
So soll zwar Hochqualifizierten aus anderen EU-Staaten
ab 2009 der Zugang zum Arbeitsmarkt durch die Senkung der Mindestverdienstgrenze erleichtert werden. Für
die hier lebenden geduldeten Menschen bleibt es hingegen bei den Arbeits-, Ausbildungs- und Studienhindernissen.
({4})
- Dann sagen Sie mir doch, warum Sie sie ausgeschlossen haben. Die Flüchtlingspolitik, die Sie seit Jahren betreiben, ist nichts anderes als blanker Zynismus.
({5})
Sie beweisen erneut, dass bei Ihnen Humanität und
Menschenrechte immer unter ökonomischem Verwertungsvorbehalt stehen. Das ist die Leitlinie der Politik
der Bundesregierung. Selektionsmechanismen nach
Nützlichkeitskriterien lehnt die Linke generell ab. Besonders perfide finden wir sie, wenn sie sich auf das humanitäre Aufenthaltsrecht beziehen.
Damit es keinen Mangel an Fachkräften gibt, schlägt
Ihnen die Linke Folgendes vor: Schaffen Sie die Arbeitsund Ausbildungsverbote für Flüchtlinge endlich ab!
Schaffen Sie eine wirksame Bleiberechtsregelung, damit
erst gar keine Härtefälle entstehen und es einer Entfristung der Härtefallregelung nicht bedarf! Setzen Sie zusätzliche Mittel für Krippen, Kindergärten, Schulen,
Hochschulen sowie berufliche Bildung und Weiterbildung ein, wenn nicht der soziale Status über den Bildungsweg und später über die Erwerbsbiografie entscheiden soll! Nehmen Sie sich ein Beispiel an Hessen
und schaffen Sie bundesweit alle Studiengebühren ab!
({6})
Nehmen Sie endlich die Unternehmen der Privatwirtschaft und den öffentlichen Dienst in die Verantwortung
und führen Sie eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage
ein, damit Jugendliche nicht ohne Berufsausbildung dastehen!
({7})
Erkennen Sie endlich die biografischen Lebensleistungen der über 500 000 Menschen an, die einen im Ausland erworbenen akademischen Abschluss haben, der
bislang in Deutschland nicht anerkannt wurde!
({8})
Schaffen Sie Mindeststandards für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, ob sie nun aus Deutschland kommen
oder aus Europa! Es muss endlich dafür gesorgt werden,
dass unter gleichen Arbeitsbedingungen am gleichen Ort
und für die gleiche Arbeit auch der gleiche Lohn gezahlt
wird. Führen Sie somit endlich den gesetzlichen Mindestlohn ein, damit Beschäftigte nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden können!
({9})
Ratifizieren Sie endlich die Internationale Konvention
der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte aller
Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen!
Ich sage Ihnen: Wenn Sie das alles beherzigen, werden Sie keinen Fachkräftemangel mehr in diesem Land
haben.
Übrigens fordern wir die letzten Punkte auch im Zusammenhang mit der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Eine Lohnspirale nach unten, die sich vermutlich die
FDP mit ihrem Antrag für die deutschen Unternehmen
erhofft,
({10})
wollen wir mit der Unterstützung des Deutschen Gewerkschaftsbundes im Interesse der ausländischen wie
der inländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
verhindern.
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas sagen.
Schon Karl Marx wusste: „Die Arbeiter haben kein Vaterland.“ - Die Linke ist nicht gegen die Zuwanderung
von Menschen nach Deutschland. Die Linke ist für Freizügigkeit mit globalen sozialen Rechten. Wir sind aber
gegen eine neue Gastarbeiterpolitik und die Ausbeutung
von Menschen, die in Deutschland leben oder aus
Europa zu uns kommen. Die Linke ist für die Solidarität
unter den Beschäftigten unterschiedlicher Länder, die
von denselben Konzernen und vom gleichen Kapital
ausgebeutet und ausgeplündert werden.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, ich komme zum Schluss. - Die Linke ist für Arbeit, die ein Auskommen garantiert, und für gleiche
Rechte für alle; sie ist gegen Lohndumping, das Sie zu
verschärfen versuchen.
({0})
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Nun hat das Wort die Kollegin Brigitte Pothmer für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Dağdelen, ich habe Ihren Beitrag gerade so verstanden,
dass Sie in Bezug auf die Zuwanderung von Fachkräften
äußerst zurückhaltend sind. Sie hätten heute den Tagesspiegel lesen sollen. In dieser Zeitung hat der Wirtschaftssenator Harald Wolf anlässlich dieser Debatte die
vollständige Freizügigkeit für Arbeitnehmer, und zwar
sofort, gefordert.
({0})
Vielleicht unterhalten Sie sich einmal innerhalb der Linken über die Frage, wie Sie sich positionieren wollen.
({1})
- Er hat von Mindestlöhnen nichts gesagt, Frau
Dağdelen. Ich habe den Tagesspiegel hier. Lesen Sie das
nach und besprechen Sie das miteinander!
({2})
Ja, das stimmt: Das Proletariat hat keine Heimat, aber
wir sollten ihm wenigstens im Gastland angenehme Bedingungen bieten. Das wäre vernünftige Politik.
({3})
Ich habe Ihnen anlässlich der heutigen Debatte drei
Zeitungsüberschriften mitgebracht, die ich kurz zitieren
möchte.
({4})
- Zeitungslesen bildet, manchmal sollten auch Sie das
tun.
({5})
Am 11. September 2008 titelte die Welt: „Ausländer
machen einen Bogen um Deutschland“. Der Anlass war
die Vorlage des aktuellen OECD-Migrationsberichts.
Am 13. September 2008 legte die taz mit der Formulierung nach: „Bund lässt Akademiker links liegen“.
({6})
Anlass dafür war die Untersuchung zur mangelhaften
Anerkennung von im Ausland erworbenen Bildungsabschlüssen. Aber schon am 1. September sagte Herr
Scholz - das meldete die FAZ -, das Problem des Fachkräftemangels sei gelöst.
({7})
Nichts kann doch deutlicher dokumentieren, dass es in
dieser Regierung eine ungeheure Kluft zwischen dem
Problem an sich und dem Bewusstsein über dieses Problem gibt.
({8})
Ich finde, Sie ignorieren die Fakten. Mit der Politik, die
Sie machen, hängen Sie Deutschland im internationalen
Wettbewerb um die klügsten Köpfe und die besten
Hände ab. Das ist nicht verantwortlich.
({9})
Auch das, was Sie jetzt wieder vorgelegt haben, bewegt sich weiter im Klein-Klein. Ich will Ihnen sagen,
was Ihre bisherigen Bemühungen gebracht haben: Von
der Veränderung des Zuwanderungsgesetzes in 2005 haben gerade 1 100 Menschen profitiert.
({10})
Die im letzten Jahr beschlossenen Erleichterungen haben
bis Ende 2007 gerade einmal 19 zusätzliche Ingenieure
aus Osteuropa nach Deutschland gelockt.
({11})
Sie schauen auf eine gescheiterte Zuwanderungspolitik.
({12})
Das müssen Sie endlich zur Kenntnis nehmen. Hören Sie
auf, so weiterzumachen!
({13})
Mit diesem Gesetzentwurf wird aber genauso weitergemacht.
({14})
Auch jetzt heißt es wieder: ein bisschen für Hochqualifizierte, ein bisschen für Geduldete und ein bisschen für
osteuropäische EU-Mitgliedstaaten. Stattdessen sollten
Sie endlich Arbeitnehmerfreizügigkeit herstellen, die
übrigens gerade von denjenigen Bundesländern gefordert wird, von denen Sie immer behaupten, Sie müssten
sie davor schützen. Berlin fordert sie, Mecklenburg-Vorpommern fordert sie, Brandenburg fordert sie. Sie alle
wollen die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit, weil sie genau wissen, dass sie davon profitieren werden.
({15})
Bei der Politik, die Sie hier betreiben, nehmen Sie
nicht zur Kenntnis, dass andere Länder qualifizierten
Zuwanderern längst den roten Teppich ausgerollt haben.
Sie glauben immer noch, der Dienstboteneingang sei für
diese Gruppe allemal gut genug. Aber das wird nicht
funktionieren.
({16})
Alle Fachleute nennen eine zentrale Voraussetzung
dafür, dass Zuwanderung funktionieren kann, und das ist
Transparenz. Dieser Gesetzentwurf ist intransparent bis
zum Gehtnichtmehr.
({17})
Wir brauchen durchschaubare Regelungen, nicht nur für
Hochqualifizierte, sondern auch für Fachkräfte sowie
- da haben Sie recht - für Geringqualifizierte. Deswegen
ist die Idee des Punktesystems richtig.
({18})
Wir haben das schon vor Jahren auf die Tagesordnung
gesetzt, aber Sie verweigern sich da.
Übrigens brauchen wir eine grundsätzlich andere Haltung in dieser Frage. Zuwanderung ist kein Gnadenakt.
Wir brauchen diese Menschen.
({19})
Die Wirtschaft braucht diese Menschen. Die Gesellschaft wird durch diese Menschen bereichert.
({20})
Zuwanderung muss natürlich gestaltet werden. Ein
paar Leitlinien für die Gestaltung will ich Ihnen nennen:
Erstens. „Öffnung statt Abschottung“ muss eine der
Parolen sein. Deswegen führt kein Weg daran vorbei:
Wir müssen, wie andere Länder auch, die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit herstellen.
({21})
Aber natürlich haben Sie recht: Wir müssen mit der Einführung von Mindestlöhnen in allen Branchen die Voraussetzung dafür schaffen. Dafür haben wir immer geworben. Ich verstehe einfach nicht, warum die SPDFraktion die Situation nicht nutzt, um den Mindestlohn
durchzusetzen. Das wäre doch ein Argument. Sie könnte
der CDU/CSU an dieser Stelle sagen: Wenn ihr Arbeitnehmerfreizügigkeit wollt, dann brauchen wir den Mindestlohn. - Aber stattdessen wird in dieser Frage weiter
blockiert.
Selbst die Bundesagentur für Arbeit, die lange vorsichtig argumentiert hat, sagt seit August dieses Jahres:
Wir brauchen die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die Sorge,
dass der Arbeitsmarkt überschwemmt wird, ist unberechtigt. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit bringt mehr
Vorteile als Probleme.
Zweitens. Keine Migration ohne Integration. Die
Gastarbeiterpolitik der vergangenen Jahre ist gescheitert.
Deswegen müssen wir Migration mit Integrationsmaßnahmen verbinden. Natürlich müssen alle Flüchtlinge
und Geduldeten Zugang zu Ausbildung und Arbeit haben.
Drittens. Ressourcen nutzen und nicht verplempern.
Da haben Sie recht: Es ist doch absurd, dass ausgebildete
Ärztinnen als Putzfrauen und Ingenieure als Hilfskräfte
arbeiten. Das ist eine ungeheure Verschwendung des
Potenzials von Menschen, die in diesem Land leben. Wir
müssen die Abschlüsse, die in anderen Ländern erworben worden sind, endlich in stärkerem Maße anerkennen.
Viertens. Deutschland ist keine Insel. Deswegen brauchen wir eine europäische Zuwanderungspolitik.
Deutschland muss begreifen: Wir sind in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum, und deswegen müssen sich die
Arbeitskräfte in diesem Wirtschaftsraum auch frei bewegen können.
Last, but not least: Migranten und deutsche Arbeitskräfte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.
({22})
Wir brauchen den Dreiklang. Wir brauchen die Fachkräfte, die aus anderen Ländern kommen, aber nötig sind
natürlich auch eine bessere Qualifikation und Integration
derjenigen Gruppen, die bisher vernachlässigt worden
sind, etwa der Frauen und Älteren. Wir können nicht
nach Zuwanderung rufen und dann für diese Menschen
nichts tun. Wir brauchen sie alle.
({23})
Die Politik muss aufhören, ängstlich und konfus zu
agieren. Mutig und klar muss sie sein; dann wird sie
auch gelingen. Wir sind gern bereit, Ihnen dabei zur
Seite zu stehen.
Ich danke Ihnen.
({24})
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist mit Sicherheit unbestreitbar, dass wir in der deutschen Wirtschaft
einen gestiegenen Fachkräftebedarf und in manchen
Wirtschaftsbranchen mittlerweile auch einen Fachkräftemangel haben. Unbestreitbar ist aber ebenso, dass es in
Deutschland nach wie vor über 3,2 Millionen offizielle
Arbeitslose gibt. Die Große Koalition hat zwar viel dafür
getan, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren und die Rahmenbedingungen so zu stricken, dass neue Arbeitsplätze
geschaffen werden konnten. Ich erinnere daran, dass wir
mit über 5 Millionen Arbeitslosen in die Große Koalition gestartet sind und jetzt bei 3,2 Millionen liegen.
Aber es gibt nach wie vor arbeitslose Fachkräfte. Ich
zitiere nur einmal aus der Arbeitslosenstatistik vom
August dieses Jahres: ungefähr 20 000 arbeitslose Ingenieure, über 20 000 arbeitslose Techniker, 3 600 arStephan Mayer ({0})
beitslose Chemiker und Physiker und über 13 000 arbeitslose technische Sonderfachkräfte, insgesamt knapp
60 000.
Kernaufgabe der deutschen Politik muss es daher
sein, dass wir uns um die arbeitsuchenden Menschen in
Deutschland kümmern.
({1})
Die Menschen in Deutschland, vor allem die Arbeitslosen, müssen ordentlich qualifiziert werden, damit sie auf
dem ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Für
uns als CSU und CDU ist eines klar: Bildung, Ausbildung und Qualifikation gehen vor Zuwanderung. Ich begrüße daher nachdrücklich die nationale Qualifizierungsinitiative der Bundesbildungsministerin Annette
Schavan. Es muss alles darangesetzt werden, dass wir
unsere jungen Menschen dahin bringen, dass sie ordentliche Ausbildungsberufe ergreifen und ihre Ausbildung
erfolgreich abschließen, sodass sie dann auch einen erfolgreichen Weg im Arbeitsleben beschreiten können.
Ferner müssen wir unser Bildungssystem insgesamt
durchlässiger gestalten. Vorbildlich ist in diesem Zusammenhang Bayern. An den bayerischen Hoch- und Fachhochschulen haben 40 Prozent aller Studierenden ihren
Zugang nicht über das Abitur genommen. Das verstehe
ich unter einem durchlässigen Bildungssystem.
Die Bedeutung des Ausländer- und Zuwanderungsrechts wird meines Erachtens bei der Frage, ob wir in
Deutschland genügend Fachkräfte und Hochqualifizierte
aus dem Ausland akquirieren können, überschätzt. Ich
glaube, dass andere Faktoren eine größere Rolle spielen,
beispielsweise die Möglichkeit, in Deutschland ordentlich zu verdienen. Diese Spitzenkräfte, die wir nach
Deutschland holen wollen - der weltweite Kampf um die
fähigen und intelligenten Köpfe ist schon angesprochen
worden -, können wir nur gewinnen, wenn die Wirtschaft sie auch ordentlich bezahlt. Auch müssen wir diesen Spitzenkräften aus dem Ausland entsprechende Forschungs- und Entwicklungsmöglichkeiten in Deutschland
bieten. Diese Faktoren sind meines Erachtens bei weitem ausschlaggebender als das Zuwanderungs- und Ausländerrecht.
Es ist Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen
für die deutsche Wirtschaft so zu gestalten, dass sie gegenüber der ausländischen Konkurrenz wettbewerbsfähig ist. Ich sage aber auch ganz deutlich, dass die Unternehmen nicht nur nach dem Staat rufen dürfen, sondern
auch selbst in der Verpflichtung sind, attraktive Rahmenbedingungen zu bieten.
({2})
Sie müssen ordentliche Gehälter zahlen, aber auch darauf achten, dass sie schon frühzeitig deutsche Nachwuchskräfte ausbilden und damit die künftigen Führungskräfte in ihren Unternehmen heranziehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz, das wir heute in erster
Lesung beraten, ist meines Erachtens ein zielführender
erster Beitrag zur Sicherung der Fachkräftebasis in
Deutschland. Ich gehe auf einige Punkte detaillierter ein.
Schon erwähnt wurde die geplante Absenkung der Mindestverdienstgrenzen, denen in der Debatte aber eine zu
hohe Bedeutung beigemessen wird, weil es schon heute
möglich ist, unterhalb dieser Mindestverdienstgrenze
von derzeit 86 600 Euro Nicht-EU-Ausländer nach
Deutschland zu holen, wenn die Vorrangprüfung ergibt,
dass es auf dem deutschen Arbeitsmarkt keinen vergleichbaren deutschen Arbeitslosen gibt und auch kein
EU-Ausländer dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung steht.
({3})
Dennoch ist es richtig, diese Absenkung vorzunehmen.
Ich schließe nur die Frage an, was passiert, wenn diese
Absenkung der Mindestverdienstgrenze auch wieder
nicht den Erfolg zeitigen sollte, den wir uns alle davon
erhoffen.
({4})
Bei dieser Gelegenheit weise ich auch noch darauf
hin, dass es schon heute - dies ist in der Wirtschaft leider
zu wenig bekannt - die von uns gewünschten flexiblen,
intelligenten Methoden gibt, um auch zielgerichtete Zuwanderung nach Deutschland zu ermöglichen.
({5})
Die Bundesagentur kann zum Beispiel gemäß § 39
Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes sektoral,
also bei bestimmten Branchen und Wirtschaftszweigen,
auf die sogenannte Vorrangprüfung verzichten.
Ich möchte ganz deutlich daran erinnern, dass die
Bundesregierung in Meseberg beschlossen hatte, ab dem
1. November letzten Jahres für Fahrzeugbauingenieure,
Elektroingenieure und Maschinenbauingenieure auf die
Vorrangprüfung zu verzichten. Dies sind, meine lieben
Kollegen von der FDP, meines Erachtens diese intelligenten, flexiblen, passgenauen Methoden und Mittel, die
wir brauchen, um eine gezielte, plangerichtete Zuwanderung nach Deutschland zu erreichen.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein weiterer
kritischer Punkt in diesem Gesetzentwurf ist mit Sicherheit die Frage, wie wir mit den geduldeten Personen in
Deutschland umgehen. Um eines von vornherein klarzumachen: Mir ist es lieber, dass ein geduldeter Ausländer,
der aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden kann, der rechtstreu ist, bisher nicht
straffällig geworden ist und über ausreichend Wohnraum
und ausreichende Deutschkenntnisse verfügt,
({7})
Stephan Mayer ({8})
arbeitet, damit selber zu seinem Lebensunterhalt beiträgt
und in Deutschland Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlt,
({9})
als dass er dem Staat auf der Tasche liegt und letztlich
nur Empfänger von sozialen Transferleistungen ist.
({10})
Wir werden bei der Behandlung des Gesetzentwurfes
peinlichst darauf achten, dass eines nicht ausgelöst wird,
nämlich eine falsche Signalwirkung im Hinblick auf eine
ungesteuerte und nicht gewollte Zuwanderung nach
Deutschland. Dieser Pull-Effekt, den diese Regelung
auslösen könnte, muss auf jeden Fall vermieden werden.
({11})
Deswegen werden wir bei der weiteren Beschäftigung
mit diesem Gesetzentwurf darauf achten, dass hier kein
falscher Anreiz, meine liebe Kollegin Dağdelen, zum
Missbrauch gesetzt wird. Genau dies wollen wir ausdrücklich verhindern.
({12})
Ich möchte deswegen zum Beispiel hinterfragen, ob
eine Beschäftigung von zwei Jahren in Deutschland wirklich ausreichend dafür ist, dass eine Person, die - wohlgemerkt - an sich zur Ausreise verpflichtet ist, in
Deutschland in den Genuss einer allgemeinen Arbeitserlaubnis kommen kann. Ich denke, über den Zeitraum,
der erforderlich ist, um eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, müssen wir bei der Beschäftigung mit diesem Gesetzentwurf noch einmal ganz vorurteilsfrei und offen
diskutieren.
Ich möchte auch anmahnen, dass wir uns bei der Behandlung des Gesetzentwurfes die Zeit und die Muße
nehmen, darüber zu diskutieren, ob es richtig ist, schon
jemanden als Fachkraft zu definieren, der nur eine dreijährige Berufsausbildung absolviert hat.
({13})
Auch dies müssen wir mit Sicherheit bei der Behandlung
des Gesetzentwurfes noch einmal besprechen.
An dieser Stelle möchte ich noch darauf hinweisen,
dass es einen Antrag des Freistaates Bayern und des
Landes Niedersachsen im Bundesrat gibt, der meines Erachtens sehr begrüßenswert und sehr bemerkenswert ist
und der mit Sicherheit auch in die Beratung hier im Bundestag miteinbezogen werden sollte.
Der Antrag der FDP auf Entfristung des § 23 a des
Aufenthaltsgesetzes hat sich erledigt, weil er schon in
den Gesetzentwurf aufgenommen wurde. Ich würde Ihnen, meine lieben Kollegen von der FDP, deswegen anheimstellen, diesen Antrag zurückzuziehen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, vonseiten
der Union werden wir die Behandlung dieses Gesetzentwurfes sehr aufmerksam, sehr intensiv und sehr wohlwollend verfolgen.
Herzlichen Dank.
({14})
Nun hat das Wort für die SPD-Fraktion der Kollege
Rüdiger Veit.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unsere Republik wird immer leerer. In manchen Jahren
sind mehr Personen aus Deutschland weggezogen als
neu hinzugewandert. Bei der Geburtenrate liegen wir auf
dem letzten bzw. vorletzten Platz in Europa. Wir sind daher - darin scheinen jetzt alle übereinzustimmen - zur
Aufrechterhaltung unseres Wirtschaftssystems und unserer Sozialversicherungssysteme dringend gefordert, Zuwanderung zu organisieren bzw. dafür zu sorgen, dass
qualifizierte ausländische Mitbürger hier bleiben können
und nicht abgeschoben werden. Darin, lieber Kollege
Mayer, sind wir uns einig. Ich erlaube mir aber, gleich
noch auf einen Widerspruch in Ihrer Argumentation einzugehen.
Wir als SPD-Fraktion haben übrigens diese Notwendigkeiten schon vor mehr als sieben Jahren erkannt und
damals mit Bündnis 90/Die Grünen ein Zuwanderungsgesetz geschaffen und hier zur Beratung vorgelegt,
({0})
in dem ein Punktesystem vorgesehen war, das es erlaubt
hätte, flexibel auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes
und der Wirtschaft auf der einen Seite und die menschlichen Fähigkeiten auf der anderen Seite einzugehen.
Auch die Zahl der Zuwanderer hätte man nach den entsprechenden Erfordernissen steuern können. Es war leider die CDU/CSU sowohl hier im Bundestag als auch in
den Ländern, die dies nicht so gesehen hat und diese
Punkteregelung gestrichen hat. Wir bedauern das sehr.
Heute besteht allgemeine Übereinstimmung darin,
dass wir handeln müssen. Wir sollten uns nicht über die
Zuspätgekommenen, was die Einsichtsgewinnung angeht, beklagen. Ich bin froh darüber, dass wir jetzt so
weit sind, dass wir darüber politisch im Wesentlichen
unstreitig diskutieren können.
Nun ist dieser Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung
der Arbeitsmigration ein - erlauben Sie mir bitte, ihn so
zu qualifizieren - kleiner, aber wichtiger Etappensieg
der Vernunft
({1})
und findet - von entsprechenden Details abgesehen, die
ich noch ansprechen werde - unsere ausdrückliche Zustimmung. Richtigerweise wird die MindesteinkomRüdiger Veit
mensgrenze für Hochqualifizierte gesenkt. Kollege
Mayer, Sie haben recht, wir wissen nicht genau, ob die
64 000 Euro die richtige Größenordnung sind. Wir haben schon in der Anhörung zum Zuwanderungsgesetz
- ich glaube, sie fand im Mai 2007 statt - von den Praktikern gehört, dass die damals und auch heute noch geltende Grenze von 86 000 Euro viel zu hoch ist und in der
Praxis ins Leere läuft.
Wichtig ist der Schwerpunkt der neuen gesetzlichen
Regelung. In der Begründung heißt es richtigerweise:
Deutschland will vor allem die Potenziale derjenigen jungen Ausländer und Ausländerinnen nutzen,
die durch Integration im Inland mit der deutschen
Kultur vertraut sind und hier ihre Ausbildung absolvieren …
Weiter heißt es dann - dem stimme ich voll zu -, dass
die bisherige gesetzliche Altfallregelung und auch die
von den Innenministern beschlossene Bleiberechtsregelung manchmal viel zu hohe Hürden aufstellen. Insofern
habe ich mich gefreut, von der Gesetzesbegründung in
meiner Einschätzung bestätigt zu werden.
Die jetzige Neuregelung soll dem ein Stück weit entgegenwirken. Wir wollen vor allen Dingen denjenigen
einen gefestigten Verbleib ermöglichen - das ist die
erste Gruppe -, die in Deutschland eine Berufsausbildung oder ein Studium erfolgreich absolviert haben. Die
zweite Gruppe umfasst die hier anerkannten Hochschulabsolventen, die zwei Jahre lang durchgängig in ihrem
Beruf gearbeitet haben.
In diesem Zusammenhang - lassen Sie mich das sagen - gibt es Übereinstimmung mit den Rednern der Opposition: Wir müssen aufpassen, dass wir bei der Verwendung der Terminologie „anerkannter ausländischer
Hochschulabschluss“ die Kriterien nicht wieder so eng
fassen, dass dadurch im Ergebnis viel zu viele Menschen
nicht berücksichtigt werden.
({2})
Vielmehr sollten wir uns folgender Terminologie annähern: Wenn der ausländische Hochschulabschluss dem
deutschen in etwa entspricht, dann ist die Voraussetzung
erfüllt.
Die dritte Gruppe, welcher ein sicherer Verbleib ermöglicht werden soll, umfasst diejenigen Fachkräfte, die
zwei Jahre lang durchgängig in einer Beschäftigung tätig
waren, die eine qualifizierte Berufsausbildung voraussetzt. Mit Blick auf diesen Vorschlag ist gefragt worden,
ob wir dadurch vielleicht einen Pull-Effekt auslösen.
Das, lieber Kollege Mayer, vermag ich beim besten Willen nicht zu erkennen. Denn wir reden von denjenigen,
die bereits langjährig hier leben, geduldet sind und im
Arbeitsmarkt integriert sind. Insofern kann man bei Ausländern, die noch gar nicht in Deutschland sind, einen
solchen Sog oder Pull-Effekt nicht bewirken.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass ich
mehrfach an dieser Stelle - aber nicht nur hier - folgenden Widersinn beklagt habe: Auf der einen Seite jammern wir über zu geringe Geburtenraten und darüber,
dass unsere Sozialversicherungssysteme nicht mehr
funktionieren. Auf der anderen Seite schieben wir viele,
die nur geduldet sind und keinen gesicherten Aufenthalt
haben, notfalls sogar zwangsweise ab. Aus diesem
Grunde haben die Große Koalition einerseits und die Innenminister der Länder andererseits erfreulicherweise
eine Altfall- und Bleiberechtsregelung geschaffen, die
50 000 Menschen eine Perspektive ermöglicht. Das
reicht aber nicht aus. Es ist ziemlich kurios, dass man
auf der einen Seite denjenigen, die für unsere Wirtschaft
in besonderer Weise nützlich sein könnten, die Tür weist
und auf der anderen Seite sagt, dass man neue Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte braucht.
Jetzt können wir dieser Bevölkerungsgruppe, diesen
ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, möglicherweise Rechtssicherheit bzw. einen gefestigten Aufenthalt gewähren. Aber die Anzahl ist schwer zu beziffern. Ich jedenfalls sehe mich außerstande, zu sagen, wie
viele betroffen sind.
Es gibt in den Beiträgen der Opposition den Hinweis,
wir sollten am besten sofort volle Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU gewähren. Ich persönlich sage aus
meiner eher ausländerrechtlichen Betrachtungsweise
heraus: Vielleicht wäre es sinnvoller, bei denjenigen ein
wenig großzügiger zu sein, die zwar keine EU-Angehörigen sind, aber als ausländische Mitbürger hier integriert und ausgebildet worden sind.
({3})
- Ich höre von Herrn Wolff, da sei kein Widerspruch.
Wir werden aber an der einen oder anderen Stelle ein
paar kritische Bemerkungen anbringen und das Gesetzgebungsverfahren dazu benutzen müssen, in den Ausschüssen Vorschriften herauszunehmen, die nicht in das
Gesetz hineingehören. Ich nenne nur ein Beispiel für
Überregulierung: Im Gesetzentwurf ist der Ermessensausweisungstatbestand der Täuschung des Arbeitgebers
neu aufgenommen worden. Das ist erstens deswegen
völlig überflüssig, weil es systemfremd ist; denn normalerweise interessiert es die Ausländerbehörden und den
deutschen Staat überhaupt nicht, was im privaten Verhältnis geschieht, es sei denn, es ist strafbar.
({4})
Zweitens ist es deswegen überflüssig, weil jeder ausländische Mitbürger, der seinen Arbeitgeber bei der Eingehung eines Arbeitsverhältnisses über die Voraussetzungen täuscht, damit zugleich auch die Ausländerbehörde
täuscht, die darüber entscheidet, dass er aufgrund dieses
Arbeitsverhältnisses eine Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis erhält. Deswegen ist das ein typischer Fall von Überregulierung und kann aus dem
Gesetzentwurf gestrichen werden. Diese Ermessensausweisungsmöglichkeit ist bereits nach anderen Vorschriften gegeben.
({5})
Ich möchte an dieser Stelle im Rahmen der zur Verfügung stehenden Redezeit noch zwei andere Bemerkungen aus ausländerrechtlicher Sicht machen. Ich finde es
erfreulich, dass die sogenannte Härtefallregelung des
§ 23 a des Aufenthaltsgesetzes entfristet werden soll.
Mittlerweile haben alle Bundesländer Härtefallkommissionen geschaffen. Hinsichtlich der Zusammensetzung
der Kommissionen, ihrer Verfahren, ihrer Effektivität
und in Bezug darauf, ob die Länderinnenminister auf die
Empfehlungen achten, gibt es erhebliche Unterschiede
zwischen den Bundesländern. Trotzdem ist das vom
Prinzip her gut. Wir haben die Härtefallregelung seinerzeit nicht nur deswegen befristet, weil man sehen wollte,
wie es mit der Einklagbarkeit ist, sondern auch deshalb,
weil wir der Auffassung waren, dass unser neues Ausländer- und Zuwanderungsrecht nun so gut sei, dass in
Zukunft womöglich gar keine Härtefälle mehr entstehen
könnten. Das ist aber leider ein Trugschluss, insbesondere aufgrund der auf Drängen der Union wieder eingeführten Duldung; hier gibt es das Problem der Kettenduldung, und da sind wir wieder bei dem Thema Altfallund Bleiberechtsregelung, die lange nicht beseitigt sind.
Selbst wenn wir mit diesem Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz einen Beitrag dazu leisten, dass die hier gut
Integrierten bleiben können, sind damit immer noch
nicht alle Fälle gelöst, die in humanitärer Hinsicht hätten
gelöst werden müssen.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Man hätte dieses
Gesetzgebungsverfahren aus der Sicht der meisten in der
SPD-Fraktion, auch aus meiner persönlichen Sicht,
durchaus zum Anlass nehmen können, noch einen anderen Punkt aktuell mit zu regeln. Ich meine die Voraussetzungen für den Ehegattennachzug. Wir haben im letzten Änderungsverfahren zum Aufenthaltsgesetz auf
Drängen der Union Vorschriften mit aufgenommen, die
als Voraussetzung für den Nachzug beispielsweise den
vorherigen Erwerb von Sprachkenntnissen im Ausland
verlangen.
({6})
Nun hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom
25. Juli dieses Jahres, also vor nicht allzu langer Zeit,
entschieden, dass immer dann, wenn ein Staatsbürger
aus der EU seinen Ehegatten aus dem Ausland nachziehen lassen will, nicht das nationale Recht bestimmen
darf, dass das an bestimmte Voraussetzungen gebunden
ist, also auch nicht, wie in unserem Fall, an den vorherigen Erwerb von Deutschkenntnissen. Nun muss man
nicht über besonders viel logisches Denkvermögen verfügen, um festzustellen: Wenn ein EU-Staatsangehöriger
in Deutschland ohne jede Voraussetzung seinen ausländischen Ehegatten nachziehen lassen darf, dann kann
man schlecht von einem deutschen Staatsbürger, der hier
lebt und hier geboren ist, erwarten, dass er erst einmal
dafür sorgt, dass die Ehefrau oder der Ehemann im Ausland Deutschkenntnisse erwirbt. Das ist ein Wertungswiderspruch und eine Inländerdiskriminierung, die nach
meinem Dafürhalten nicht aufrechterhalten werden
kann. Deswegen rege ich durchaus an, dass man das in
einem solchen Gesetz aktuell regelt.
({7})
- Das war damals ein schmerzhafter Kompromiss, liebe
Kollegin Dağdelen. Wenn der Europäische Gerichtshof
uns jetzt ein schlagendes Argument liefert, sodass wir
mit unserem Koalitionspartner über diesen Wertungswiderspruch noch einmal reden können, dann werden wir
das gerne tun und das, wenn wir uns durchsetzen, im Gesetz entsprechend ändern.
Insgesamt also ein begrüßenswerter Gesetzentwurf,
ein wichtiger kleiner Etappensieg; die Richtung jedenfalls stimmt. Deswegen wird die SPD-Fraktion den Beratungsprozess sehr konstruktiv begleiten.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({8})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Michael Hennrich für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir behandeln heute das Thema
Steuerung der Arbeitsmigration nach Deutschland. Die
Probleme sind vielfältig und facettenreich. Die Bundesregierung hat hierzu einen umfassenden Maßnahmenkatalog vorgelegt, um die Fachkräftebasis in Deutschland
zu sichern.
Ich möchte einen Punkt gesondert behandeln, zu dem
uns ein Antrag von den Grünen und ein Antrag von der
FDP vorliegen. Es geht um die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer aus den neuen Beitrittsstaaten in Ost- und
Mitteleuropa.
({0})
Wie Sie an dem Maßnahmenkatalog sehen, wollen
wir die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit um
zwei Jahre verlängern. Die Grünen und die FDP lehnen
dies ab. Sie verweisen auf Großbritannien, Irland und
Schweden, die von Anfang an keine Beschränkung hatten, sowie auf zahlreiche andere Mitgliedstaaten, die
mittlerweile angeblich von dieser Beschränkung abgerückt seien. Frau Pothmer, Sie verweisen auch auf die
vielfältigen positiven Erfahrungen, die man insbesondere in Großbritannien gemacht habe, und auf den kulturellen Austausch.
In der Tat waren am Anfang die Erfahrungen positiv.
Aber wenn Sie in den letzten Wochen und Monaten die
Medien verfolgt haben, dann wissen Sie, dass es zu einer
Veränderung der Sichtweise in Großbritannien gekommen ist. Wenn Sie die Schlagzeilen britischer TageszeiMichael Hennrich
tungen lesen - Frau Pothmer, Sie sind ja belesen -, dann
erfahren Sie etwas über die Ausbeutung der Arbeitnehmer und über die schlechte soziale Versorgung der Migranten. Das alles geschieht trotz staatlichen Mindestlohnes. Selbst offizielle Stellen in Großbritannien
räumen mittlerweile ein, dass sie mit der Migration überfordert sind.
Ich frage Sie, warum fast alle EU-Staaten die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänien und Bulgarien beschränken. Schweden ist das einzige Land, das für Menschen aus Rumänien und Bulgarien die volle
Arbeitnehmerfreizügigkeit garantiert. Alle anderen EUMitgliedstaaten machen von den Ausnahmeregelungen
für die neuen Beitrittsstaaten Rumänien und Bulgarien
Gebrauch.
Die Grünen sprechen in ihrem Antrag vom Wettbewerb um die besten Köpfe aus Ost- und Mitteleuropa.
In der Tat brauchen wir solche klugen Köpfe. Die Bundesregierung hat darauf eine Antwort gegeben. Es lohnt
sich, einmal die Statistiken aus Großbritannien anzuschauen. Wer ist zugewandert, und in welchen Tätigkeitsbereichen werden diese Migranten in Großbritannien eingesetzt? Fabrik- und Lagerarbeiter, Verpacker
und Beschäftigte im Transportwesen: 82 Prozent, Servicekräfte für Hotel- und Gaststättengewerbe: 11 Prozent, Landwirtschaft: 4 Prozent. Das sind meines Erachtens keine Jobs, für die wir Hochqualifizierte brauchen.
Der Kollege Mayer hat das schon ausgeführt. Wir können diese Stellen bei uns genauso gut mit heimischen
Arbeitskräften besetzen.
Lassen Sie mich noch auf das Thema Saisonarbeitskräfte eingehen, das Sie in Ihrem Antrag ebenfalls erwähnen. Wir haben alle noch die Situation von vor zwei
Jahren vor Augen, als die Ernte nicht eingefahren werden konnte. Aber dies war kein Problem der fehlenden
Arbeitnehmerfreizügigkeit. Diese Saisonarbeitskräfte
fehlten nämlich auch in Großbritannien. Wir haben vor
zwei Jahren einfach erlebt, wie Markt funktioniert.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat eine Reise
nach Rumänien unternommen. Die Grünen und leider
auch die FDP waren nicht dabei.
({1})
Wenn Sie dabei gewesen wären, dann hätten Sie folgende Erfahrung gemacht: Rumänen, Polen und Bulgaren gehen nicht nach Deutschland oder Großbritannien
aus zwei ganz einfachen Gründen: Das Wetter in Spanien und Italien ist besser, und bezahlt wird dort genauso
gut wie in Deutschland. Deswegen kamen die Saisonarbeitskräfte nicht nach Deutschland. Unsere Landwirte
haben aber darauf reagiert. In diesem Jahr waren die
Probleme daher bei weitem nicht so groß wie vor zwei
Jahren.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Aspekt ansprechen, auf den Sie überhaupt nicht eingegangen sind,
Frau Pothmer. In Anträgen der Grünen zur Entwicklungspolitik steht immer, dass wir für Afrika keine Fachkräfte abwerben sollen, die im Bereich des Gesundheitswesens tätig sind, und Ähnliches. Wir haben in Litauen
vor einem Jahr erlebt, dass auch dort eine umfassende
Gesundheitsversorgung der Bevölkerung nicht mehr
möglich war.
Wenn Sie die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit einführen, hat dies zur Folge, dass Sie diese Länder ihrer Zukunftschancen berauben.
({2})
Was wir brauchen, ist eine kluge Migrationspolitik, Frau
Pothmer. Darauf hat die Bundesregierung eine Antwort
gegeben. Ihre Anträge lehnen wir ab.
Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 16/10288, 16/10237, 16/9091 und 16/10310
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich
sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 ii
sowie Zusatzpunkte 5 a und 5 b auf:
38 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 33
des Gerichtsverfassungsgesetzes
- Drucksache 16/514 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
§ 573 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs
- Drucksache 16/1029 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung
- Drucksache 16/1345 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - § 21 StGB ({2})
- Drucksache 16/4021 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Bundeszentralregistergesetzes
- Drucksache 16/4199 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Opferschutzes im Strafprozess
- Drucksache 16/7617 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Intensivierung des
Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren
- Drucksache 16/7956 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Innenausschuss
h) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts
- Drucksache 16/7957 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Innenausschuss
i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der
Bundesnotarordnung und anderer Gesetze
- Drucksache 16/8696 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Bundeszentralregistergesetzes
- Drucksache 16/9021 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({9})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
k) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des
Schutzes der Opfer von Zwangsheirat und
schwerem „Stalking“
- Drucksache 16/9448 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({10})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
l) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer
Modellklausel in die Berufsgesetze der Hebammen, Logopäden, Physiotherapeuten und
Ergotherapeuten
- Drucksache 16/9898 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({11})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
m) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge-
setzes über den Bau und den Betrieb von Ver-
suchsanlagen zur Erprobung von Techniken
für den spurgeführten Verkehr
- Drucksache 16/9899 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
n) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Vorschriften des Internationalen Privatrechts an die Verordnung ({12}) Nr. 864/2007
- Drucksache 16/9995 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({13})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
o) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Düngegesetzes
- Drucksache 16/10032 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({14})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
p) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über Meldungen über
Marktordnungswaren
- Drucksache 16/10033 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
q) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-
führung des Übereinkommens vom 30. Okto-
ber 2007 über die gerichtliche Zuständigkeit
und die Anerkennung und Vollstreckung von
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
- Drucksache 16/10119 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
r) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abwehr
von Gefahren des internationalen Terrorismus
durch das Bundeskriminalamt
- Drucksache 16/10121 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({15})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
s) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung gemeinschaftlicher Vorschriften über
das Verbot der Einfuhr, der Ausfuhr und des
Inverkehrbringens von Katzen- und Hundefellen ({16})
- Drucksache 16/10122 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
t) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das
Personal der Bundesagentur für Außenwirtschaft ({17})
- Drucksache 16/10293 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({18})
Innenausschuss
u) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung des Filmförderungsgesetzes
- Drucksache 16/10294 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
v) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-
tokoll vom 15. Oktober 2007 zur Änderung
des Abkommens zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Russischen Föderation
zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und
vom Vermögen vom 29. Mai 1996 und des Pro-
tokolls hierzu vom 29. Mai 1996
- Drucksache 16/10295 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
w) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 3. März 2008 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der
Juden in Deutschland - Körperschaft des öffentlichen Rechts - zur Änderung des Vertrages vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der
Juden in Deutschland - Körperschaft des öffentlichen Rechts - Drucksache 16/10296 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({19})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
x) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Geset-
zes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes
- Drucksache 16/10297 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
y) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes
- Drucksache 16/10298 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({20})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
z) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Veröffentlichung von Informationen über die Zahlung von Mitteln aus den Europäischen Fonds
für Landwirtschaft und Fischerei ({21})
- Drucksache 16/10299 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
aa) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grenzwerte bei Müllverbrennungsanlagen
dem technischen Fortschritt anpassen und
deutlich absenken
- Drucksache 16/5775 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({22})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
bb)Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Leutert, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für die Durchsetzung von Mindeststandards
humanen Arbeitens in der Volksrepublik
China eintreten - Menschenrechte und Sozialstandards bei Konzerngeschäften in und mit
China durchsetzen
- Drucksache 16/9413 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({23})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
cc) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({24}),
Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grundrechte schützen - Frauenhäuser sichern
- Drucksache 16/10236 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({25})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
dd)Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({26}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({27})
Potenziale und Anwendungsperspektiven der
Bionik ({28})
- Drucksache 16/3774 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({29})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ee) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({30}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({31})
Politik-Benchmarking: Akademische Spin-offs
in Ost- und Westdeutschland und ihre Erfolgsbedingungen
- Drucksache 16/4669 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({32})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ff) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({33}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({34})
Politikbenchmarking: Nachfrageorientierte Innovationspolitik
- Drucksache 16/5064 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({35})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
gg)Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({36}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({37})
TA-Vorstudie: Perspektiven eines CO2- und
emissionsarmen Verkehrs - Kraftstoffe und
Antriebe im Überblick
- Drucksache 16/5325 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({38})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
hh)Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({39}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({40})
TA-Projekt: Hirnforschung
- Drucksache 16/7821 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({41})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Kultur und Medien
ii) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({42}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({43})
Internetkommunikation in und mit Entwicklungsländern - Chancen für die Entwicklungszusammenarbeit am Beispiel Afrika
- Drucksache 16/9918 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({44})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 5a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Jens Ackermann,
Dr. Karl Addicks, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Stärkung der Steuerautonomie in
den Ländern ({45})
- Drucksache 16/10309 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({46})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Kerstin Müller ({47}), Winfried
Nachtwei, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kontraproduktive US-Operationen in Pakistan sofort einstellen - Umfassende Strategie
zur Stabilisierung Pakistans entwickeln
- Drucksache 16/10333 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({48})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Sie
sind also damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 39 a bis
39 c sowie zu Zusatzpunkt 6. Dabei geht es um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 a auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({49}) zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin
Müller ({50}), Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine militärische Eskalation gegenüber dem
Iran - Konflikt um das Atomprogramm mit
Verhandlungen lösen
- Drucksachen 16/4407, 16/7515 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Werner Hoyer
Kerstin Müller ({51})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7515, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4407 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 b auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({52}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Wieland, Volker Beck ({53}), Monika Lazar,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europol-Beschluss rechtsstaatlich verbessern
- Drucksachen 16/7742, 16/9825 Berichterstattung:
Abgeordnete Ralf Göbel
Wolfgang Gunkel
Gisela Piltz
Wolfgang Wieland
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9825, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7742 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 c auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({54}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Volker Beck ({55}), Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Parlament bei der Ausgestaltung des Einbürgerungstests beteiligen
- Drucksachen 16/9602, 16/9945 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({56})
Josef Philip Winkler
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9945, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9602 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion der FDP angenommen.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 6:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({57})
Übersicht 12
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 16/10321 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({58}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Werner Dreibus, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Entfernungspauschale sofort vollständig anerkennen - Verfassungsmäßigkeit und Steuergerechtigkeit herstellen
- Drucksachen 16/9167, 16/9569 Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
({59})
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich will darauf hinweisen, dass wir über diese Beschlussempfehlung später namentlich abstimmen werden.
({60})
Zunächst kommen wir aber zur Aussprache. Nach einer
interfraktionellen Vereinbarung ist dafür eine halbe
Stunde vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch.
Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Florian Pronold für die SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zum wiederholten Male, aber dieses Mal zu
prominenterer Stunde,
({0})
haben wir das Thema Entfernungspauschale auf der Tagesordnung. Dieses Mal hat die Linke einen Schaufensterantrag zur bayerischen Landtagswahl gestellt, um die
CSU vorzuführen.
({1})
Diesen Antrag braucht man dafür aber nicht, weil sich
die CSU bei der Pendlerpauschale schon zur Genüge
selbst vorgeführt hat.
({2})
Das wird klar, wenn man das Hin und Her der letzten
Monate zu dieser Frage betrachtet.
Ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass meine Anregung, in dieser wichtigen Debatte nicht nur einen Abgeordneten der CDU, sondern auch einen Abgeordneten
der CSU sprechen zu lassen, dieses Mal aufgenommen
worden ist. Das ist erfreulich.
({3})
- Dieses Mal trauen sie sich.
({4})
- Ich komme gleich zu dem Thema, Herr Niebel. Wir
haben die Debatte schon zweimal geführt. Ich habe Ihnen das schon zweimal erklärt, werde es Ihnen aber auch
ein drittes Mal erklären. Ich befürchte nur, Sie wollen es
gar nicht hören.
Wir haben folgende Genese des Vorgangs: Ich habe
gehört, dass es eine Erklärung der CSU-Landesgruppe
gibt, nach der sie der Kürzung der Pendlerpauschale nur
zugestimmt habe, weil es im Jahr 2006 quasi eine Haushaltsnotlage gab. Das hat mich überrascht, weil ich das
CDU/CSU-Wahlprogramm von 2005 aufmerksam gelesen habe. Damals sind Steuerersenkungen versprochen
worden. Gleichzeitig wurde aber - auf Seite 17 - nicht
nur die Abschaffung der Steuerfreiheit von Nacht- und
Sonntagsarbeit, sondern auch die Kürzung der Pendlerpauschale gefordert. Das kann mit der Haushaltsnotlage
nicht begründet werden. Das war Programmatik der
CDU/CSU.
({5})
In den Koalitionsverhandlungen hat die SPD durchgesetzt, dass die Steuerfreiheit der Nacht- und Sonntagsarbeit erhalten bleibt. Im Gegenzug hat sich die CDU/CSU
im Punkt „Kürzung der Pendlerpauschale“ durchgesetzt.
({6})
Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens fand eine Anhörung im Deutschen Bundestag statt, bei der keiner der
Experten gesagt hat, dass der damals vorliegende Gesetzentwurf, den die CDU/CSU wollte, verfassungskonform ist.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kalb?
Da er Abgeordneter desselben Wahlkreises ist wie ich
- ich wohne in Deggendorf - und ich ihn sonst immer
fragen muss, wenn ich etwas wissen will, gestatte ich das
gerne einmal umgekehrt.
Herr Kollege, bitte sehr.
({0})
Herr Kollege Pronold, würden Sie freundlicherweise
und redlicherweise dem Hohen Haus mitteilen, dass in
dem Wahlprogramm der CSU seinerzeit eine Reduzierung der Pendlerpauschale von 30 auf 25 Cent als Beitrag zur notwendigen Sanierung der Bundesfinanzen enthalten war?
Ich bin bereit - gleich, ob redlicherweise oder nicht -,
darauf zu verweisen, dass die CSU tatsächlich die Kürzung der Pendlerpauschale im Wahlkampf gefordert hat,
was von der CSU in meinem Wahlkreis allerdings bestritten worden ist, als ich 2005 dieses Thema angesprochen habe. Ich weise darauf hin, dass die Kürzung, die
Sie vorgeschlagen haben, für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer von der finanziellen Wirkung her noch
einschneidender gewesen wäre als das, was jetzt vorliegt. Auch das gehört zur Redlichkeit.
({0})
Ich fahre in der Betrachtung der Historie fort: Wir haben uns bemüht, in der Großen Koalition einen gegenfinanzierten Vorschlag durchzusetzen, der die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer erhalten hätte. Das
ist aber abgelehnt worden. Dann kam es zu dem Gesetz,
mit Zustimmung der SPD, wie Sie wissen. Das muss ich
hier nicht groß betonen.
({1})
- Es gibt nun einmal Koalitionsverträge. Sie wissen vielleicht noch aus den Zeiten, wo Sie regiert haben - das ist
Gott sei Dank schon lange her -, dass es Dinge gibt, auf
die man sich geeinigt hat und zu denen man dann auch
stehen muss. Diese Dinge muss man klar benennen und
sagen, wie sie entstanden sind und was man erreichen
wollte.
Wir als SPD-Fraktion haben zum Beispiel - das ist
nachzulesen - im November 2007 eine weitere Initiative
unternommen, die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer einzuführen. Dazu gab es eine Sitzung des Koalitionsausschusses, an der zum ersten Mal ein gewisser
Erwin Huber als CSU-Parteivorsitzender teilgenommen
hat. Diese Initiative wurde dort abgelehnt.
({2})
Auch das muss man in Erinnerung rufen. Deswegen ist
es besonders pikant, dass derselbe Herr Huber in der
letzten Sitzung des Bundesrates vor der Sommerpause
einen Antrag zur Wiedereinführung der Pendlerpauschale zum alten Stand eingebracht hat. Denn er weiß,
dass das Gesetzgebungsverfahren, selbst wenn alles gut
gehen würde, niemals vor der bayerischen Landtagswahl
beendet sein wird.
({3})
Deswegen braucht es keinen Vorführantrag durch die
Linke gegenüber der CSU. Ich finde, die CSU hat sich
an diesem Punkt selber mehr als vorgeführt.
({4})
Besonders erschwerend kommt hinzu, dass Kollege
Rupprecht hier schon das letzte Mal das „mea culpa“ im
Namen der CSU erklärt hat. Ich hoffe, es fällt noch ein
bisschen deutlicher aus. Nicht über die Sünder ist Freude
im Himmel, sondern über die reuigen Sünder. Das bedeutet, man muss tätige Reue üben. Besonders pikant
war: Der Finanzminister von Bayern - er ist gelernter
Finanzbeamter - hat vor den Werkstoren von BMW in
Dingolfing Flugblätter gegen seine eigenen Sünden verteilt.
({5})
Es ging um eine Unterschriftenaktion der CSU zur Pendlerpauschale, unwissend, dass 80 Prozent der 22 000 Beschäftigten bei BMW überhaupt keinen Anspruch auf
die Pendlerpauschale haben, weil es dort ein Werkbussystem gibt. Es ist nur absetzbar, was man dazuzahlt,
wenn man dort mitfährt. Ich dachte, der bayerische Finanzminister wisse wenigstens das.
({6})
Es geht darum, dass wir eine Regelung finden, die
den berechtigten Interessen der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer und vor allem der Pendlerinnen und Pendler gerecht wird. Wenn jetzt große Bereitschaft dazu im
Hause existiert, dann freue ich mich. Wir werden ein
Verfassungsgerichtsurteil bekommen, das über spannende Fragen Auskunft geben wird, zum Beispiel darüber, wie Werbungskosten zu behandeln sind, ob man
eine Pauschalierung von Werbungskosten machen kann
oder ob die kompletten Werbungskosten anzusetzen
sind. Auch das könnte in diesem Urteil stehen. Deswegen wäre die Rückkehr zur alten Pendlerpauschale zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht hilfreich. Denn es
ist durchaus möglich, dass das Bundesverfassungsgericht Hinweise gibt, die bei einer Neuregelung zu beachten sind. Daher sollten wir kurz vor der bayerischen
Landtagswahl diesem Antrag der Linken nicht zustimmen, der, wie gesagt, ein Schaufensterantrag ist.
Letzte Bemerkung. Nicht an ihren Worten, an ihren
Taten sollt ihr sie erkennen. Das gilt besonders in Bayern.
({7})
Wir haben nach Österreich geblickt.
({8})
In Österreich gibt es eine spannende Konstellation. Dort
gibt es auf der Bundesebene eine steuerliche Regelung
für Pendlerinnen und Pendler. Sie hat dasselbe Defizit
wie unsere, nämlich dass diejenigen, die kaum Steuern
zahlen, von einer Pendlerpauschale wenig haben, obwohl auch sie weite Wege in Kauf nehmen. In Österreich
gibt es aber sechs Bundesländer, die zusätzlich auf der
Landesebene ein Pendlergeld zahlen, das auch denjenigen zugutekommt, die nicht steuerpflichtig sind oder
wenig Steuern zahlen. Wir haben uns gedacht: Wenn
Österreich schon einmal etwas Vernünftiges macht,
könnte man das in Bayern übernehmen.
({9})
Daher haben wir Erwin Huber vorgeschlagen, das auch
in Bayern einzuführen. Hierzu würden gerade einmal
400 Millionen Euro benötigt. Während aber verkündet
wird, man wolle aufgrund der Regelungen zur Erbschaftsteuer 800 Millionen Euro den Villenbesitzern am
Starnberger See in Bayern schenken,
({10})
hat derselbe Erwin Huber erklärt, er sei nicht bereit,
diese 400 Millionen Euro für die bayerischen Pendlerinnen und Pendler aufzubringen.
({11})
Deswegen gilt auch hier noch einmal: Nicht an ihren
Worten, an ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Leider sind
wir jetzt auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
angewiesen, um hier zukünftig für bessere Verhältnisse
zu sorgen. Wenn die Erkenntnis bei allen im Haus gewachsen ist und diese Meinung geteilt wird, dann freue
ich mich auf die Debatten nach der Landtagswahl. Ich
bin gespannt, ob alle dann noch dieselben Auffassungen
vertreten wie vorher.
Herzlichen Dank.
({12})
Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Dr. Volker Wissing.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Große Koalition gleicht einem Auto, bei dem das
Gaspedal an die Bremse gekoppelt ist: Die eine Seite
will Gas geben, die andere legt eine Vollbremsung hin.
Hinten, auf der Hutablage dieses merkwürdigen Fahrzeugs, sitzt ein Wackeldackel namens CSU, und der
nickt immer brav mit dem Köpfchen.
({0})
Genau das ist der Zustand, in dem sich die CSU hier im
Bundestag befindet: Es wird alles schön abgenickt.
Diese angeblich so große Koalition hat unserem Land
bisher nichts gebracht. Sie haben das Land keinen nennenswerten Schritt nach vorne gebracht, weil Sie sich
auf Reformschritte, die unser Land braucht, nicht einigen können.
({1})
- Hören Sie ruhig zu, Herr Kollege Pronold! - Sie haben
das Land nicht nach vorne gebracht, weil Sie sich immer
nur dann einig sind, wenn es zulasten der Bürgerinnen
und Bürger in diesem Land geht. Die Stillstandspolitik
lassen Sie sich von den Menschen in Deutschland, die
hart arbeiten, teuer bezahlen.
({2})
Sie haben die Mehrwertsteuer erhöht, die Versicherungssteuer erhöht, Sie haben den Sparerfreibetrag gekürzt, Sie haben die Entfernungspauschale gekürzt. Insgesamt 19 Steuererhöhungen hat die Große Koalition
zulasten der Bürgerinnen und Bürger beschlossen, und
der politische Wackeldackel hat in jedem Einzelfall
schön mit dem Köpfchen genickt und brav zugestimmt.
({3})
Das ist die Wahrheit.
Sie erzählen den Wählerinnen und Wählern in Bayern, die CSU sei gegen die Kürzung der Pauschale gewesen. Ich meine, Sie müssen gespaltene Persönlichkeiten
sein, wenn Sie in Bayern gegen diejenigen Dinge sind,
die mit Ihrer Stimme im Deutschen Bundestag den Weg
ins Bundesgesetzblatt gefunden haben.
({4})
Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Ich habe hier ein
Flugblatt, das Sie in Bayern verteilen. Damit sammeln
Sie von redlichen Menschen Unterschriften und erklären
- ich zitiere -: „Die heutige Regelung ist nicht verfassungskonform.“ Sie fordern, dass die Politik handelt und
die alte Pendlerpauschale wieder einführt. Ich war bei
der Anhörung, die wir damals durchgeführt haben. Sie
haben völlig recht, wenn Sie behaupten, dass damals alle
Sachverständigen gesagt haben: Das ist nicht verfassungskonform. Die Sachverständigen haben sogar gesagt: Das ist evident verfassungswidrig. Aber es gehört
doch ein Stück Dreistigkeit dazu, dass man, wenn man
so etwas für verfassungswidrig hält, dafür dann im Deutschen Bundestag seine Hand hebt.
({5})
So kann man in diesem Land doch nicht glaubwürdig
Politik machen.
Sie spucken in Bayern große Töne, und hier in Berlin
machen Sie alles mit, was die Bundesregierung will. Das
ist inzwischen die Arbeitsteilung: die CSU in München Regierungspartei, die CSU in Berlin - Abnickpartei. Es
gab einmal eine Zeit, da haben Sie mit Ihrem Partner
CDU auf Augenhöhe gespielt. Inzwischen sind Sie der
verlängerte Wurmfortsatz der Großen Koalition.
({6})
In Bayern bläst Huber in die Tuba, in Berlin ist mit Glos
nichts los. Das ist der Zustand der Christsozialen im
Deutschen Bundestag.
Welche Initiative ist denn von Ihnen, von der CSU,
gekommen? Sie wollen sich als Steuerentlastungspartei
profilieren? Was haben Sie vorzuweisen? Einen ermäßigten Umsatzsteuersatz für Seilbahnen! Sie sind allenfalls die Partei der Gondelpauschale, aber doch nicht der
Pendlerpauschale.
({7})
Die CSU in München beschließt ein großes Steuerkonzept, und davon kommt in Berlin nichts an.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Ihrem Engagement für die Rückkehr zur alten Entfernungspauschale
hätten Sie längst ernst machen können. Sie hätten Ihren
Antrag einbringen können; aber natürlich haben Sie das
nicht getan. Es ist reines Wahlkampfgetöse in Bayern.
({9})
Sie haben heute die Gelegenheit, Ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen.
({10})
Wir lassen Sie nicht so einfach davonkommen, wenn Sie
sagen: Das ist ein Spielchen der Opposition. So einfach,
liebe Kolleginnen und Kollegen, geht das nicht. Wer in
Bayern Klartext spricht, muss mit seiner Stimme auch in
Berlin Klartext sprechen.
({11})
Sie müssen sich heute schon entscheiden. Dafür sind Sie
hier, und dazu zwingt Sie die Opposition im Deutschen
Bundestag.
Dann wird sich zeigen, ob Sie die Menschen in Bayern hinters Licht führen wollen oder ob Sie tatsächlich
hinter dem stehen, was Sie dort sagen. Es wäre interessant zu wissen, wie viele Menschen Ihnen in Bayern auf
den Leim gegangen sind und dieses Flugblatt unterschrieben haben. Ich würde es wirklich gerne wissen;
aber das werden Sie uns nicht verraten. Eine Meldung
der CSU-Landesleitung besagt:
Eine umfassende Zwischenbilanz der CSU-Unterschriftenaktion für die Wiedereinführung der alten
Pendlerpauschale wird es vor der bayerischen
Landtagswahl am Sonntag nicht mehr geben.
({12})
Das ist wirklich interessant. Das lässt hoffen, dass die
Bayern Ihnen inzwischen nicht mehr auf den Leim gehen; denn offensichtlich haben Sie nicht viele Bürgerinnen und Bürger hinters Licht führen und dazu verleiten
können, Ihre lächerliche Unterschriftenaktion in Bayern
zu unterstützen. Bekennen Sie doch Farbe, aber dafür
sind Sie zu feige! Das, was Sie in Bayern vertreten, ist
nicht glaubwürdig. Die Menschen werden dafür der
CSU ihre Stimme zu Recht verweigern.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Albert Rupprecht für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Kollege Wissing, Sie reden über den bayerischen
Landtagswahlkampf. Ich frage Sie: Wo sind denn die
bayerischen Kollegen der FDP?
({0})
Wieso redet hier kein bayerischer Kollege? Ist heute ein
einziger bayerischer FDP-Kollege anwesend? ({1})
Keiner. Keiner hat ein Interesse daran, heute hier im
Bundestag zu sein.
({2})
Die CSU wirbt, argumentiert und kämpft offensiv für
die Wiedereinführung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer; daran besteht überhaupt kein Zweifel.
({3})
Der 30-jährige Mechaniker mit zwei Kindern, der
80 Kilometer zu seiner Arbeit nach Regensburg fahren
muss, stellt zu Recht die Frage, wieso er tagtäglich in der
Früh aufsteht und zur Arbeit fährt. Er rechnet mir und
genauso Ihnen vor, dass er mit zwei Kindern fast dasselbe in der Tasche hätte, wenn er Hartz IV beziehen
würde und zu Hause bliebe. Deswegen muss sich Leistung lohnen.
({4})
Wir als CSU stehen für eine steuerliche Entlastung für
Arbeitnehmer, Mittelstand, Familien und Pendler um
28 Milliarden Euro.
({5})
Wir stehen zudem für eine Senkung der Lohnnebenkosten bei der Arbeitslosenversicherung, um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu entlasten.
({6})
Mehr Netto vom Brutto ist das Gebot der Stunde und die
Politik der CSU.
({7})
Deswegen stehen wir für die Wiedereinführung der
Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer. Wir als CSU
haben das den Bürgerinnen und Bürgern versprochen.
Wir werden nicht nachgeben, bevor dies umgesetzt ist.
({8})
Wir brauchen zur Umsetzung schlichtweg eine Mehrheit in der Koalition im Deutschen Bundestag. Das heißt,
wir müssen Überzeugungsarbeit leisten.
({9})
Die Lage ist, wie sie ist. Wir werden leider vor Dezember keine Entscheidung bekommen.
({10})
Albert Rupprecht ({11})
Anders als bei der CSU, wo es einen klaren und eindeutigen Beschluss der Partei und der Gremien gibt, gibt es
bei der SPD diesen Beschluss, Herr Pronold, nicht. Es
spricht nichts dagegen, dass Sie sich heute hier hinstellen und sagen: Wir warten das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ab, aber wir beschließen vonseiten der
SPD das, was wir wollen. Vonseiten der CSU gibt es diesen Beschluss: Wir werden die Pendlerpauschale wieder
einführen.
({12})
Ein Teil der CDU-Kollegen unterstützt den CSU-Vorschlag.
({13})
- In der Tat. Ein Teil der CDU-Kollegen will das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts im Dezember abwarten.
Wir als CSU würden uns eine schnellere Entscheidung
wünschen. Aber ich respektiere, dass Kollegen erst nach
dem Urteil entscheiden wollen.
({14})
Ich hoffe natürlich, dass das Verfassungsgericht unsere
Position stärkt und wir dann in der Regierung schnell zu
einer Lösung kommen werden.
({15})
Lafontaine hat schon vor Wochen angekündigt, dass
er die CSU ärgern wird, indem er einen Antrag der Linken mit der Position der CSU zur Pendlerpauschale hier
einbringen will. Nun liegt der Antrag der Linken vor.
Erstens. Es ist festzuhalten, dass der Antrag nicht mit
dem CSU-Konzept identisch ist.
({16})
Es fehlt zum Beispiel jeglicher Vorschlag zur Finanzierung der Entlastung.
({17})
Zweitens. Es geht der CSU
({18})
um ein Gesamtpaket zur Entlastung bei Steuern und Abgaben, das weit über das Thema Pendlerpauschale hinausgeht.
({19})
Es ist offensichtlich, dass es Lafontaine und der Linken
nicht um die Sache, sondern ausschließlich um medialen
Krawall im Vorfeld der bayerischen Landtagswahl geht.
({20})
- Die FDP macht bei diesem Trauerspiel auch noch mit.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir lehnen den Antrag der Linken ab. Die Parlamentarier der CSU haben
dies in einer schriftlichen Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung begründet.
({21})
Ich erlaube mir, diese Erklärung in Auszügen vorzulesen
- ich zitiere -:
({22})
Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute
zur Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sache,
({23})
sondern um ein durchsichtiges taktisches Manöver.
({24})
Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundestagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen …
haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle
Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich.
({25})
… Die Entspannung der Lage der öffentlichen
Haushalte … macht aus unserer Sicht eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich.
({26})
Diese Auffassung wollen wir in der Koalition mit
Nachdruck durchsetzen.
({27})
… Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem
Antrag bezwecken, lehnen wir entschieden ab.
({28})
Die programmatischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik, die Deutschland international isoliert, die Fundamente des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft gefährdet
({29})
und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands massiv bedroht.
Albert Rupprecht ({30})
({31})
Wir grenzen uns eindeutig von dieser Partei ab.
({32})
Sehr geehrte Damen und Herren, diese Erklärung haben CSU-Abgeordnete unterschrieben, die den Aufstieg
Bayerns vom Armenhaus Deutschlands an die Spitze
Deutschlands in ihrer Heimat erleben durften. Das ist
auch das Ergebnis der außerordentlich erfolgreichen
CSU-Politik in den letzten 60 Jahren. Vernünftige, bürgernahe Politik hat die Kraft, zu gestalten und zu prägen,
wie es die CSU in Bayern und Deutschland seit nunmehr
60 Jahren macht.
Herzlichen Dank.
({33})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Um was es hier geht, ist inzwischen bekannt:
Wir wollen, dass die Kilometerpauschale wieder ab dem
ersten Kilometer gezahlt wird. Das sehen wir allerdings
nur als ersten Schritt an. Natürlich wissen auch wir, dass
davon insbesondere die Leute, die nur wenig Steuern
zahlen, nur sehr wenig haben. Deshalb muss dieser Weg
fortgeführt werden.
({0})
Die Koalition hat die Regelungen zur Entfernungspauschale verschlechtert. Das gilt natürlich auch für die
SPD. Denn die Kollegen von der SPD waren daran kräftig beteiligt. Vor dem Bundesverfassungsgericht tritt die
Bundesregierung übrigens geschlossen auf, und zur Regierung gehören auch die SPD und auch die CSU.
({1})
Vor dem Bundesverfassungsgericht haben Sie sich gegen
die Zahlung der Entfernungspauschale ab dem ersten Kilometer ausgesprochen.
({2})
- Natürlich! Sie sind doch in der Regierung, oder etwa
nicht? Habe ich da etwas übersehen? Ich sage es noch
einmal: Sie sind in der Regierung und kommen da auch
nicht heraus.
({3})
Wir sind dagegen, dass ein Ehepaar mit zwei Kindern,
das ein Haushaltseinkommen von 48 000 Euro hat,
516 Euro zusätzlich zahlen muss. Bisher habe ich immer
gedacht, wir sind uns in diesem Hause einig, dass diese
Regelung geändert werden muss. Sie verlassen sich aber
lieber auf das Bundesverfassungsgericht. Ich sage Ihnen:
Wir sind das Parlament. Es gibt eine Regierung, keine
Appellierung.
({4})
Wir sollten hier entscheiden und die Verantwortung
nicht abschieben.
Meine Damen und Herren, die CSU hat im
Jahre 2006 all diese Kürzungen mitbeschlossen.
({5})
Überall war sie beteiligt. Natürlich haben Sie inzwischen
von den Linken gelernt. Das freut mich. Macht das ruhig
öfter!
({6})
Denn dann lernt ihr, dass ihr auch das eine oder andere
Gesetz von uns übernehmen solltet.
Jetzt ist die CSU plötzlich dafür, dass die Kilometerpauschale wieder ab dem ersten Kilometer gezahlt wird;
das freut uns. Herr Huber hat in einem Sommerinterview, auf einem Strohballen sitzend,
({7})
gesagt: Die CSU wird darauf bestehen, dass wir die alte
Pendlerpauschale wiederbekommen. - Genau das steht
in unserem Antrag. Er beinhaltet das, was auch Herr
Huber gesagt hat. Ich verstehe gar nicht, warum Sie sich
über unseren Antrag so sehr echauffieren.
({8})
Außerdem hat Herr Huber gesagt: Die Fahrt zur Arbeit ist keine Fahrt zum Golfplatz. - Das war übrigens
schon 2006 so, als Sie die Kürzung der Pendlerpauschale
mitbeschlossen haben.
({9})
Aber vielleicht haben Sie das damals noch nicht bemerkt.
Herr Ramsauer hat vorhin gesagt - jetzt wird es besonders interessant -, dass die CSU gegen unseren Antrag stimmt, weil er ein durchsichtiges taktisches Manöver sei.
({10})
Herr Ramsauer, ich sage Ihnen, was ein taktisches Manöver ist: Es ist ein taktisches Manöver, dass Sie hier im
Bundestag und in der Öffentlichkeit so tun, als sei die
CSU auf Bundesebene in der Opposition. Sie regieren
hier mit! Das ist ein taktisches Manöver.
({11})
Ich sage Ihnen: Es ist ein taktisches Manöver, wenn Sie
ein Plakat wie dieses hier in Bayern plakatieren.
({12})
- Ja, bravo! Darauf steht „Pendlerpauschale jetzt“.
({13})
Herr Ramsauer, ich frage mich, wann bei Ihnen eigentlich „jetzt“ ist.
({14})
Ist „jetzt“ vorgestern, weil Sie da gerade einen schönen
Presseauftritt hatten? Ist „jetzt“ übermorgen? „Jetzt“
heißt jetzt!
({15})
- So könnte man es auch machen, weil diese Politik auf
dem Kopf steht. Das ist das Problem.
({16})
Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur sagen:
Gesetze werden hier und nicht durch Wahlplakate gemacht. Ich habe den Eindruck, dass Sie Politik beim Autofahren nach zwei Maß Bier machen. Das ist ein bisschen zu wenig.
({17})
In aller Klarheit: Wenn Sie in Bayern für die Wiedereinführung der Pendlerpauschale plakatieren und hier
dagegen stimmen, dann ist das ein angekündigter Wahlbetrug.
({18})
Herr Ramsauer, das bayerische Wappentier ist der
Löwe und nicht der flüchtende Hase. Das könnten Sie
sich vielleicht auch einmal merken. Beim Kilometergeld, beim Rauchverbot und bei der Gesundheitsreform:
Sie schlagen doch nur noch Haken.
({19})
Mit Ihrem Verhalten machen Sie die CSU zum braven
Dackel, der von Frau Merkel durch die politische Arena
geführt wird. Das ist die Wahrheit.
({20})
Stimmen Sie unserem Antrag zu, dann kann man Sie
wenigstens wieder ein wenig ernster nehmen.
({21})
Das Wort hat nun die Kollegin Christine Scheel für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Debatte nimmt teilweise kabarettistische Züge an.
Allerdings sind nicht alle Beiträge gutes Kabarett.
Herr Wissing, Sie haben die CSU als Wurmfortsatz
bezeichnet.
({0})
Ich würde das anders formulieren, weil ich eine andere
Sprache spreche. Fakt ist aber doch, dass der Einfluss
der CSU in der Großen Koalition gegen Null gegangen
ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der FDP sowie des Abg. Dr. Gregor
Gysi ({1}) - Dirk Niebel ({2}): Zum
Glück!)
Herr Rupprecht, das ist wohl doch der Grund dafür,
dass Sie hier eine Erklärung vorgetragen haben, die Ihnen aber auch nichts nützen wird. Wir können nur hoffen, dass möglichst viele Zeitungen diese Erklärung abdrucken. Damit würden sie nämlich dabei helfen, dass
die CSU am Sonntag mit Sicherheit unter 50 Prozent
bleiben wird.
({3})
Herr Ramsauer hat auch in Bayern in verschiedensten
Äußerungen gesagt, dass bei diesem Thema ein Spektakel betrieben wird. Mit Blick auf den heutigen Tag haben Sie auch wieder gesagt, dass die Linke hier ein PoliChristine Scheel
tikspektakel betreibt. Ich möchte einmal wissen, was in
Bayern abläuft.
({4})
In jedem Bierzelt, auf jedem Stadtfest und bei jeder
Wahlkampfveranstaltung in irgendeiner Stadthalle findet
dort ein Politspektakel zur Entfernungspauschale statt.
Letztendlich geht es darum, dass die CSU einen Beschluss mitgetragen hat, von dem sie heute nichts mehr
wissen will, weil sie gemerkt hat, dass er wohl verfassungswidrig ist, dass er bei den Stammtischen nicht ankommt und sich die Leute tierisch darüber aufgeregt haben. Deswegen betreiben Sie dieses Spektakel, was dann
zu dieser Unterschriftenaktion geführt hat.
({5})
Der Kollege der FDP hat darauf hingewiesen. Sie sind
aber zu feige, diese Unterschriften auch vorzulegen und
zu sagen, wie viele am Ende wirklich dafür unterschrieben haben, dass die Entfernungspauschale ab dem ersten
Kilometer wieder eingeführt wird.
({6})
Ich kann Ihnen sagen: So blöd sind die Leute nicht.
Die Menschen durchschauen dieses Manöver und wissen, dass viele von der Wiedereinführung der alten Entfernungspauschale überhaupt nicht profitieren. Die
Leute wissen auch, dass man letztendlich den Arbeitnehmerpauschbetrag senken will. Davor haben die Leute
Angst; denn genau das wäre der falsche Weg.
Sie sagen: Zurück zur Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer, aber die Finanzierung muss stehen. - Die
SPD sagt: Dann realisieren wir eben ein anderes Modell.
Wir schauen uns einmal an, was das Bundesverfassungsgericht dazu sagt. - Die Leute wissen dann, dass eventuell ein Modell Wirklichkeit wird, worunter andere als
diejenigen leiden werden, die heute darunter leiden. Insofern sind die Sorgen der Menschen berechtigt.
({7})
Sie sollten sich schämen, so zu tun, als könnten Sie
sich aus der Affäre ziehen. Wer hat denn zugestimmt? Es
ging doch nicht nur um den Koalitionsvertrag, der schon
eine Weile zurückliegt und hoffentlich der letzte dieser
Großen Koalition war, sondern auch um die Frage, wer
im Bundesrat zugestimmt hat. Im Bundesrat hat auch die
CSU zugestimmt. Jetzt wollen Sie nichts mehr damit zu
tun haben. Das ist Opposition gegen sich selbst. Das ist
eine Opposition, die die Menschen durchschauen und
nicht akzeptieren.
({8})
Wenn Sie eine neue Perspektive fordern, dann hätten
Sie sich längst dafür einsetzen können. Wir haben mehrmals im zuständigen Finanzausschuss darüber gesprochen, wie wir diese Frage lösen wollen. Sie haben sich
aber verweigert und wollen abwarten, wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Das ist sehr durchsichtig. Jeder weiß, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erst nach dem 28. September erfolgt. Wir
werden in den nächsten Tagen bis Sonntag alle in Bayern
auffordern, nicht auf Ihre Propaganda hereinzufallen.
Danke schön.
({9})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Otto Bernhardt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich will versuchen, wieder etwas mehr Sachlichkeit in diese Debatte zu bringen.
({0})
Die Große Koalition hat im Jahre 2006 ein umfassendes Sanierungsprogramm für den Haushalt beschlossen.
Das war damals dringend erforderlich. Ein Punkt waren
die Änderungen bei der steuerlichen Absetzbarkeit der
Pendlerpauschale. Ich finde es nicht gut, dass sich Mitglieder der Großen Koalition heute von dieser Entscheidung verabschieden, die wir seinerzeit gemeinsam getragen haben.
({1})
Die Fakten haben sich inzwischen ein Stück weit geändert. Zum Ersten sind wir auf dem Wege zur Sanierung der öffentlichen Finanzen ein deutliches Stück vorangekommen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dr. Höll?
Wenn ich den Gedanken zu Ende geführt habe, gerne. Zum Zweiten haben sich die Benzin- und Dieselpreise in
einem Ausmaß erhöht, das wir damals nicht absehen
konnten. Diese Situation führt dazu, dass insbesondere
in den Flächenländern - ich komme aus Schleswig-Holstein - über eine Änderung der jetzigen Regelung nachgedacht wird.
({0})
Wir sind aber in der Großen Koalition gemeinsam mit
der Regierung zu dem Ergebnis gekommen, zunächst die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuwarten; denn wir wissen nicht, ob die bestehende Regelung
verfassungswidrig ist.
({1})
Wenn wir eine Neuregelung beschließen, dann wissen
wir nicht, ob sie der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Es gilt also abzuwarten.
({2})
Wir sollten aber die Möglichkeiten der Pendlerpauschale nicht überschätzen. Um eine Zahl zu nennen: Für
den Bezieher eines Durchschnittseinkommens geht es
um 5 Euro im Monat.
({3})
Deshalb sind wir entschlossen, die Bürger stärker zu entlasten als nur durch diesen einen Schritt. Die Bundesregierung bereitet ein größeres Entlastungsprogramm vor.
({4})
Im Rahmen dieses Entlastungsprogramms werden die
hervorragenden Vorstellungen aus dem CSU-Steuerkonzept eine sehr wichtige Rolle spielen.
({5})
Innerhalb der Union sind wir uns über die Grundzüge
eines solchen Konzeptes längst einig.
({6})
Es gibt einen kleinen Unterschied, über den wir nach der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts diskutieren werden. In dieser Diskussion werden Sie erkennen,
wie stark die CSU nicht nur innerhalb der Union, sondern auch innerhalb der Großen Koalition ist.
({7})
Sie können sicher sein, dass die CSU ein wichtiges Wort
bei den Konsequenzen, die wir dann ziehen werden, mitreden wird. Je stärker die CSU am Sonntag wird, desto
mehr hat sie zu bestimmen.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Entfernungspau-
schale sofort vollständig anerkennen - Verfassungsmä-
ßigkeit und Steuergerechtigkeit herstellen“. Dazu liegt
eine große Anzahl von persönlichen Erklärungen nach
§ 31 unserer Geschäftsordnung vor1). Sie alle werden in
den Stenografischen Bericht aufgenommen.
1) Anlagen 2 bis 7
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/9569, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/9167 abzulehnen. Wir
stimmen nun auf Verlangen der Fraktion Die Linke über
die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze an den Urnen
eingenommen? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann eröffne
ich die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentli-
chen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben2).
Ich bitte Sie herzlich, Ihre Gespräche außerhalb des
Plenarsaals zu führen, wenn Sie den Beratungen nicht
mehr folgen wollen, damit wir die Beratungen fortsetzen
und den Rednerinnen und Rednern in der anschließenden Debatte konzentriert folgen können.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes
2009 ({0})
- Drucksache 16/10189 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin für die Bundesregierung der Parlamentarischen
Staatssekretärin Nicolette Kressl das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jahressteuergesetze
gelten manchmal als Sammelbecken für die verschiedensten Maßnahmen, zum Beispiel um EU-Recht umzusetzen oder kleinere Veränderungen, auch im redaktionellen Bereich, vorzunehmen. Auch solche Regelungen
sind in dem Entwurf zum Jahressteuergesetz, der Ihnen
heute vorliegt, enthalten, aber nicht nur solche. Sie können in diesem Gesetz eine durchgehende Linie erkennen;
denn es enthält eine Reihe von Vorschlägen, die insgesamt zu einer deutlichen steuerlichen Entlastung führen
oder aber ehrenamtliches Engagement noch mehr als
bisher unterstützen.
({0})
2) Siehe Seite 19035 C
Ich will Ihnen dafür einige Beispiele nennen. Die
Steuerfreiheit für Leistungen des Arbeitgebers zur Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes und
der betrieblichen Gesundheitsförderung mag technisch
klingen, ist aber, wovon wir überzeugt sind, eine wichtige Maßnahme im Interesse der Arbeitnehmer und der
Unternehmen; denn damit wird die Bereitschaft von Arbeitgebern erhöht werden, ihren Arbeitnehmern Dienstleistungen zur Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustands anzubieten.
({1})
Wir finden, dass dies ein erster wichtiger Schritt ist. Wir
wollen nicht nur über die Frage reden, wie die Bedingungen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit verbessert werden können, sondern auch im steuerlichen Bereich dazu eine erste wichtige Maßnahme einbringen.
Wir werden mit diesem Gesetz eine Erleichterung bei
der Haftung im steuerlichen Spendenrecht auf den Weg
bringen.
({2})
Es ist immer wieder diskutiert worden, inwieweit die Inanspruchnahme der Gesamtschuldner in diesem Bereich
eine mögliche Hemmschwelle bei der Entscheidung ist,
sich ehrenamtlich zu engagieren. Wir wollen, dass die
handelnden natürlichen Personen, also diejenigen, die
sich selbst persönlich engagieren, nur dann in Anspruch
genommen werden, wenn die Inanspruchnahme der Körperschaft, in diesem Falle des Vereins, erfolglos geblieben ist. Wir sind der Überzeugung, dass dies eine deutliche Erleichterung in diesem Bereich ist.
({3})
Wir werden in diesem Gesetz auch festschreiben, dass
die Kommunen an ihrer bisherigen Verwaltungspraxis
zum steuerlichen Querverbund festhalten können. Auch
dieses mag technisch klingen, aber für uns ist es die Basis dafür, dass die Kommunen auch in Zukunft die Verantwortung für die Daseinsvorsorge für die Menschen
besser übernehmen können, als es nach dem BFH-Urteil
möglich gewesen wäre. Insofern ist das für uns eine ganz
wichtige Maßnahme in diesem Gesetz.
({4})
Wir nehmen mit diesem Gesetz eine Debatte auf, die
es über die Frage gab, inwieweit die Lohnsteuerklasse V
für die weniger verdienenden Partner und Partnerinnen
in einer Ehe zu einem Hemmnis für die Aufnahme einer
Beschäftigung werden kann. Wir schlagen dem Parlament vor, sich für ein Faktorverfahren zu entscheiden, in
dem zum Beispiel, um es konkret zu machen, in Zukunft
bei der Option für dieses Faktorverfahren im Vergleich
zur bisherigen Lohnsteuerklasse V bis zu einem Monatslohn von 900 Euro keine Lohnsteuer zu zahlen ist.
Wir schlagen auch vor, die bestehende Diskrepanz
zwischen der Steuerfestsetzungsverjährung und der
Strafverfolgungsverjährung in Fällen der Steuerhinterziehung durch eine Verlängerung der Verjährungsverfolgungsfrist für Steuerhinterziehung in § 376 der Abgabenordnung zu beseitigen. Ich halte das für eine Frage
der Steuergerechtigkeit. Dies ist eben nicht nur eine
technische Frage. Nach der Debatte, die wir in den letzten Monaten hatten, ist die Frage eben, ob Steuerhinterziehung wie ein Kavaliersdelikt behandelt werden soll.
Mit der vorgeschlagenen Änderung bekennt sich die Politik ausdrücklich dazu: Steuerhinterziehung ist eben
kein Kavaliersdelikt und wird entsprechend langfristig
verfolgt.
({5})
An diesen Beispielen wird deutlich, dass mit dem Jahressteuergesetz, das natürlich eine ganze Reihe von Einzelregelungen enthält, den Menschen insgesamt ein
deutliches Signal der Entlastung, der Erleichterung für
Engagement im ehrenamtlichen Bereich und - siehe Verfolgungsverjährung - ein Signal der Steuergerechtigkeit
gegeben wird. Natürlich werden wir den Entwurf, wie
immer, in einer Anhörung ausführlich beraten. Aber ich
werbe schon jetzt ausdrücklich dafür, dem Gesetz am
Ende im Parlament eine überzeugende Mehrheit zu verschaffen.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem Jahressteuergesetz ist es so ähnlich wie mit dem
Christkind: Es kommt alle Jahre wieder zu uns. Das Entlastungsvolumen von 220 Millionen Euro könnte durchaus eine schöne Bescherung werden. Von den 220 Millionen Euro Entlastung zahlt der Bund allerdings nur
89 Millionen Euro; 131 Millionen Euro müssen die Länder und Gemeinden aufbringen. Es ist schon eine besondere Form der Großzügigkeit des BMF, hier zu verteilen
und andere die Rechnung bezahlen zu lassen.
Die 220 Millionen Euro klingen nach viel Entlastung.
Aber wenn man bedenkt, dass von der KfW an den Finanzmärkten gerade fast das Doppelte versenkt worden
ist, dann erkennt man, wie wenig Entlastung Sie hier tatsächlich gewähren. Eine spürbare Steuerentlastung ist
das nicht. Das verdient nicht, besonders gelobt zu werden.
({0})
Das Jahressteuergesetz, Frau Kressl, ist wieder einmal
ein Gesetz von der Verwaltung für die Verwaltung. Der
Bundesfinanzminister erfüllt wieder einmal die Wünsche seines Hauses und hat keine große Linie in seinem
Gesetzentwurf. Im Grunde genommen werden hier die
Schubladen des Bundesministeriums der Finanzen geleert. Ich sage Ihnen: Einiges wäre besser in diesen
Schubladen geblieben.
({1})
Nehmen wir die Begrenzung der Absetzbarkeit des
Schulgeldes auf 3 000 Euro als Beispiel. Das ist für Sie
von der SPD eine ideologische Frage. Sie haben ein Problem mit Privatschulen, es sei denn, Frau Ypsilanti
schickt ihren Sohn auf eine solche Schule, dann ist das
nicht ganz so schlimm,
({2})
aber ansonsten ist Ihnen das immer ein Dorn im Auge.
Dabei halte ich es für einen fatalen Fehler, Eltern zu verteufeln, die ihre Kinder auf eine Privatschule schicken;
denn sie entlasten damit, weil Plätze in den öffentlichen
Schulen nicht benötigt werden, die öffentlichen Schulen.
Somit kann dort besser unterrichtet werden. Mehr Kinder auf Privatschulen, das heißt auch: mehr Mittel für
Kinder an den öffentlichen Schulen. Das klammern Sie
bei Ihrer ideologischen Politik natürlich völlig aus.
({3})
Privatschulen sind nicht per se Luxusinternate für
Kinder, deren Eltern nicht wissen, wohin mit dem Geld.
({4})
Ich verstehe vor allen Dingen nicht, warum Sie das nicht
besser wissen. Sie können ja einmal mit Frau Dieckmann
sprechen oder sich von Frau Ypsilanti beraten lassen.
Die haben gute Gründe dafür, ihre Kinder lieber auf eine
Privatschule zu schicken. Das klammern Sie völlig aus.
Nehmen wir das Beispiel der internationalen Schule.
Der Finanzminister hat uns neulich gesagt, wie wichtig
der Finanzstandort Frankfurt für die Bundesrepublik
Deutschland ist. Damit hat er recht. Es ist wichtig, dass
es dort auch eine internationale Schule gibt, die nämlich
den ausländischen Fachkräften ermöglicht, für einen
Zeitraum von zwei oder drei Jahren mit ihren Kindern
nach Deutschland zu kommen.
({5})
Dort werden die Kinder so unterrichtet, dass sie später
mit ihren Eltern wieder in ihr Heimatland zurückgehen
können. Deshalb werden dort bewusst nicht die Lehrpläne von öffentlichen Schulen übernommen. Genau
diese Schule sanktionieren Sie, und das ist ein Widerspruch zu dem, was der Finanzminister angibt, nämlich
den Finanzplatz stärken zu wollen. Sie schwächen ihn
mit diesem Gesetz.
({6})
Deutschland braucht gut ausgebildete Fachkräfte, die
zu uns kommen. Wir wollen ihr Know-how in unsere
Gesellschaft integrieren. Solche Menschen brauchen internationale Schulen; sonst kommen sie nicht. Genau
diesen Menschen machen Sie das Leben schwer. Noch
schlimmer: Sie vergraulen sie mit unsinnigen Bestimmungen in Ihrem Jahressteuergesetz.
({7})
Es gibt aber nicht nur das Problem mit den Privatschulen; in diesem Gesetz ist auch noch eine Reihe anderer Probleme enthalten. Ich nehme nur Ihre Vorschläge
zur Dienstwagenbesteuerung. Auch dies ist wieder ein
ganz ideologisches Thema für die Sozialdemokraten.
Ein Dienstwagen ist per se etwas Böses, ein Privileg, gegen das Sie kämpfen müssen. Dabei vergessen Sie natürlich, dass ein Dienstwagen auch ein Arbeitsgerät ist. Das
ist innerhalb der Bundesregierung offensichtlich noch
niemandem aufgefallen. Für Sozialdemokraten sind
Dienstwagen nur so lange schlimm, solange sie nicht
selber drin sitzen.
({8})
Es wäre gut, wenn Sie einmal die Finger davon ließen, die Dienstwagenbesteuerung ständig zu ändern. Inzwischen müssen bei der Besteuerung fünf verschiedene
Anschaffungszeiträume unterschieden werden. Jetzt
bringen Sie noch eine sechste Regelung. Das macht unser Land weder ökologischer noch sozial gerechter, geschweige denn, dass es irgendetwas im Steuerrecht verbesserte. Im Gegenteil, Sie machen wieder alles
komplizierter und für die Menschen teurer. Das zieht
sich wie ein roter Faden durch Ihr Steuergesetz hindurch.
Es ist keine Systematik zu erkennen. Sie wissen nicht,
wohin Sie in der Steuerpolitik wollen, Sie fummeln ein
bisschen da und ein bisschen dort. Damit mögen die Beamten im Bundesfinanzministerium zufrieden sein, aber
Politik für die Menschen in Deutschland machen Sie mit
diesem Gesetz wieder einmal nicht.
({9})
Sie haben vorhin über die Situation der Ehrenamtlichen gesprochen. Es gibt erhebliche Haftungsrisiken,
wenn man sich in Deutschland ehrenamtlich engagiert.
Schon bei dem Gesetz zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements haben Sie angekündigt, dass Sie
nachbessern werden und die verschuldensunabhängige
Haftung beseitigen wollen. Das haben Sie wieder nicht
gemacht. Sie sind rein fiskalisch gelenkt und schaffen
den wirklich schlimmen Tatbestand einer verschuldensunabhängigen Haftung für ehrenamtlich Engagierte in
Deutschland nicht ab. Das ist eine nicht tragbare Lösung,
weshalb ich Ihnen jetzt schon prophezeien kann, dass
wir dies nicht mittragen.
Sie beschränken die steuerliche Förderung von Tätigkeiten gemeinnütziger Organisationen im Ausland. Auch
dies ist ein Fehler. Das sind massive Eingriffe in die Zivilgesellschaft, die rein fiskalisch motiviert sind und die
wir in Gänze ablehnen.
Sie haben einige Steuerverschärfungen bei der Abgeltungsteuer vorgesehen. Hier sind sehr problematische
Regelungen im Gesetzentwurf enthalten. Wir werden
das von den Sachverständigen im Rahmen der Anhörung
noch hören. - Da brauchen Sie nicht mit dem Kopf zu
schütteln, Herr Tauss, das sind in der Tat sehr problematische Vorschriften.
({10})
- Es ist gut, dass Sie noch die Kappe aufhaben.
Sie haben ein großes Problem angesprochen, Frau
Kressl, nämlich das Thema der Verlängerung der Verfolgungsverjährung bei Steuerhinterziehung von fünf Jahren auf zehn Jahre. Es ist natürlich ein Argument, wenn
die Finanzverwaltung und vor allen Dingen die Strafbehörden sagen, sie schafften es nicht, Steuerstraftaten innerhalb von fünf Jahren aufzuklären, und brauchten deswegen eine längere Verjährungsfrist. Nur hat die
Ermittlungsarbeit bei einem normalen Betrug nach § 263
StGB einen ähnlichen Umfang. Dort tun Sie nichts. Es
stellt sich die Frage, warum das Steuerstrafrecht isoliert
geändert wird und warum man die hier bestehenden Probleme nicht auf das allgemeine Strafrecht überträgt. Wir
könnten es dann nämlich einmal systematisch diskutieren. Die FDP lehnt ein Sonderstrafrecht im Bereich des
Steuerstrafrechts ab. Wir sind der Meinung, dass Steuerstraftäter in Deutschland genauso behandelt werden
müssen wie andere Straftäter auch. Wir wollen hier keinen Sonderweg. Mit diesem Jahressteuergesetz sind Sie
dabei, Sonderregelungen in diesen Bereich einzuführen.
Dies halte ich für rechtspolitisch verfehlt.
Ihr Jahressteuergesetz ist kein anständiges Steuergesetz, wie es Deutschland braucht. Sie greifen die großen
Themen nicht auf, die in unserem Land angegangen werden müssten. Sie haben eine lächerliche Entlastung und
teilweise sogar Belastungen in diesem Gesetz. Im
Übrigen sagt der Finanzminister immer, es könnte in
Deutschland keinerlei steuerliche Entlastung geben.
Jetzt legt er eine steuerliche Entlastung in Höhe von
220 Millionen vor. Auch das ist ein absurdes Durcheinander; offensichtlich weiß in der Bundesregierung
niemand mehr, in welche Richtung er will. Sie haben
den totalen Stillstand in der Steuer- und Finanzpolitik erreicht. Das muss auch zum Ende dieser Großen Koalition führen, weil sich dieses Land - wir haben heute
schon umfangreich darüber diskutiert, was sich international verändert - in Zeiten so großer Probleme im Bereich der internationalen Finanzmärkte einen Stillstand
auf diesem wichtigen Feld deutscher Politik nicht leisten
kann.
Ich danke Ihnen.
({11})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
komme ich zurück auf den Tagesordnungspunkt 5 und
gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Entfernungspauschale sofort vollständig anerkennen - Verfassungsmäßigkeit und Steuergerechtigkeit
herstellen“ bekannt: abgegebene Stimmen 547. Mit Ja
haben gestimmt 450, mit Nein haben gestimmt 96, Enthaltungen 1.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 547;
davon
ja: 450
nein: 96
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Clemens Binninger
Renate Blank
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({0})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer ({1})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Dr. Maria Flachsbarth
Herbert Frankenhauser
({4})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg
Gerda Hasselfeldt
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung ({5})
Dr. Franz Josef Jung
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({6})
Volker Kauder
Jürgen Klimke
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({7})
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl Lamers ({8})
Andreas G. Lämmel
Helmut Lamp
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({9})
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({10})
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Eva Möllring
Carsten Müller
({11})
Stefan Müller ({12})
Hildegard Müller
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({13})
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({14})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({15})
Hermann-Josef Scharf
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({16})
Andreas Schmidt ({17})
Ingo Schmitt ({18})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Thomas Strobl ({19})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({20})
Gerald Weiß ({21})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({22})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Lothar Binding ({23})
Kurt Bodewig
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({24})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Rainer Fornahl
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({25})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({26})
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Petra Heß
Stephan Hilsberg
Petra Hinz ({27})
Gerd Höfer
Iris Hoffmann ({28})
Frank Hofmann ({29})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({30})
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel ({31})
Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({32})
Michael Müller ({33})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({34})
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({35})
Michael Roth ({36})
Marlene Rupprecht
({37})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({38})
Bernd Scheelen
Silvia Schmidt ({39})
Dr. Frank Schmidt
Heinz Schmitt ({40})
Carsten Schneider ({41})
Ottmar Schreiner
({42})
Swen Schulz ({43})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Andreas Steppuhn
Rolf Stöckel
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Dr. Peter Struck
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({44})
Dr. Rainer Wend
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Dr. Wolfgang Wodarg
({45})
Heidi Wright
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({46})
Volker Beck ({47})
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Winfried Hermann
Priska Hinz ({48})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Sylvia Kotting-Uhl
Renate Künast
Undine Kurth ({49})
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Omid Nouripour
Claudia Roth ({50})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Irmingard Schewe-Gerigk
Grietje Staffelt
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Nein
SPD
Dr. Hermann Scheer
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr ({51})
Uwe Barth
Angelika Brunkhorst
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich ({52})
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther ({53})
Heinz-Peter Haustein
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Hellmut Königshaus
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Michael Link ({54})
Markus Löning
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Dirk Niebel
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Frank Schäffler
Dr. Max Stadler
Christoph Waitz
Hartfrid Wolff ({55})
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Monika Knoche
Jan Korte
Katrin Kunert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Elke Reinke
Paul Schäfer ({56})
({57})
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Dr. Kirsten Tackmann
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
fraktionslose
Abgeordnete
Henry Nitzsche
Enthalten
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Damit erteile ich als nächstem Redner dem Kollegen
Eduard Oswald für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({58})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist ja schon eine Art Tradition, gemäß der die Bundesregierung einmal im Jahr ein Jahressteuergesetz vorlegt.
Kollege Wissing hat in diesem Zusammenhang vom
Christkind gesprochen. Von vielen wird es als Besenwagen-, Omnibus- oder Lumpensammlergesetz bezeichnet. Das Wort Christkind würde ich ganz sicher bei solch
einer Art von Gesetz nicht verwenden. Was immer Einzelne damit aussagen wollen, eines soll jedenfalls symbolisiert werden: Mit dem Jahressteuergesetz wird gewöhnlich in eine Vielzahl von Gesetzen ändernd
eingegriffen. Man muss sich in der Tat in jedem Fall anschauen, ob eine Änderung auch unbedingt notwendig
ist. Man reagiert damit auf EU-rechtliche Vorgaben,
nimmt Anregungen aus dem Bereich der Verwaltung
auf, setzt Gerichtsurteile um, nimmt notwendige Korrekturen und auch so manche Optimierung vor. Deswegen
führen wir ja auch eine mehrstündige Anhörung zu diesem Gesetz durch, um uns jeden einzelnen Punkt noch
einmal anzusehen.
Ich bleibe jetzt einmal beim Begriff „Besenwagengesetz“; er gefällt mir so gut. Das, was noch aufgekehrt
werden muss, muss also gewissenhaft und ordentlich beseitigt, im Sinne von erledigt, werden. Die Bezeichnung
„Besenwagengesetz“ verdeutlicht aber auch: Dort, wo
der Besen angesetzt wird, gilt es, sauber zu arbeiten.
Trotz der Vielzahl von Gesetzen muss gelten: Gründlichkeit ist oberstes Handlungsgebot. Das gilt erst recht vor
dem Hintergrund, dass in den vergangenen Jahren durch
die Jahressteuergesetze stets auch bedeutungsvolle Regelungen umgesetzt wurden.
Unser Ziel im Bereich der Finanzpolitik muss es sein,
überflüssige Bürokratie konsequent abzubauen. Eigentlich jedes Gesetz muss man dementsprechend prüfen
und schauen, ob das gelingt. Weil Steuergesetze erfahrungsgemäß als besonders bürokratieträchtig empfunden
werden, trägt natürlich das Bundesministerium der Finanzen dabei eine besondere Verantwortung. Aber das
gilt auch für uns Parlamentarier. Wir sind es ja, die letzten Endes die Verantwortung für jedes Gesetz tragen, das
dieses Haus verlässt, und nicht der einzelne Ministerialrat, der aufgeschrieben hat, dass dieses und jenes noch
hinein soll, und wozu die Leitung des Hauses möglicherweise sagt: Das machen wir halt, um diesem auch noch
einen Gefallen zu tun. - Wir tragen die Verantwortung.
Wenn wir am Schluss sagen: „Das machen wir nicht“,
dann wird es auch nicht gemacht.
So muss es unsere Daueraufgabe sein, in dieses Steuerrecht Klarheit, Vereinfachung und Transparenz zu
bringen und die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, Steuern zu zahlen, zu erhalten. Nun wissen wir alle,
dass abstrakt alle für Vereinfachung sind. Konkret natürlich versucht jeder, auch seine Einzelinteressen immer
wieder durchzusetzen. Das uns vorliegende Jahressteuergesetz 2009 - eine Drucksache mit 146 Seiten - enthält natürlich bedeutsame politische Maßnahmen. Die
Staatssekretärin hat schon auf einige hingewiesen.
Für mich steht an erster Stelle der Ausschluss extremistischer Vereine von der Gemeinnützigkeit. Künftig
gilt: Wenn eine politische Stiftung oder Körperschaft augenscheinlich extremistisches Gedankengut fördert,
dann kann sie keine Steuervergünstigung erhalten.
({0})
Wer gegen die Grundlagen unseres freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates und das friedliche Zusammenleben in unserem Lande arbeitet, der darf nicht hoffen,
dafür in irgendeiner Weise auch noch vom Staat begünstigt zu werden. Hier gilt es, klare Regelungen zu schaffen.
Ein weiterer Punkt ist - das ist wichtig und immer
wieder anzusprechen -: Durch die Klarstellung und Verbesserung bei der steuerlichen Haftungsregelung für
Vereinsvorstände stärken wir das Engagement der ehrenamtlich Tätigen in diesem Lande.
Das Jahressteuergesetz wird auch das im Koalitionsvertrag vereinbarte optionale Faktorverfahren bei der
Lohnsteuer von Ehegatten einführen; Frau Staatssekretärin, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie auf diesen Punkt
extra hingewiesen haben. Es schafft damit eine echte Alternative zur bisherigen Lohnsteuerklassenwahl und
sorgt dadurch für mehr Flexibilität. Künftig können die
Steuervorteile für Ehepaare durch das Ehegattensplitting
schon beim Lohnsteuerabzug entsprechend den Einkommen verteilt werden.
Bei manchen Vorschlägen, die uns hier vorgelegt werden, haben wir natürlich - dies sage ich für unsere Fraktion - noch erheblichen Beratungsbedarf; das hat bereits
ein Durchgang im Finanzausschuss gezeigt.
({1})
Bekanntlich haben wir schon im Vorfeld des Kabinettsbeschlusses erfolgreich auf den einen oder anderen
Punkt hingewiesen. So konnten wir die Pläne, die vorsahen, die steuerliche Absetzbarkeit von Schulgeld vollständig zu streichen, abwenden.
({2})
Von einer kompletten Streichung der Absetzbarkeit wären rund 240 000 Schülerinnen und Schüler betroffen
gewesen. Es wäre natürlich ein Eingriff nicht nur in das
private Bildungssystem, sondern in das Bildungssystem
unseres Landes insgesamt.
Natürlich wird der öffentliche Bildungsauftrag in
Deutschland in erster Linie durch staatliche Schulen,
aber auch durch Schulen in freier Trägerschaft abgedeckt. Das hat in unserem Land eine gute und große Tradition. In meinem Heimatland Bayern beispielsweise
wurde bereits 1919 die anerkannte Privatschule mit Anspruch auf öffentliche Finanzhilfe geschaffen. Viele Privatschulen insbesondere in den Großstädten und in der
Trägerschaft der Kirchen sind eben auch für Familien
mit kleinem Einkommen erschwinglich. Mehr als
4 700 private Schulen gibt es in ganz Deutschland, Tendenz steigend. Man könnte eigentlich fragen, warum das
so ist, aber das ist eine andere Debatte, Kollege Wissing.
Aus Sicht unserer Fraktion muss auch über die im
Jahressteuergesetz 2009 enthaltene Maßnahme zur Stärkung der privaten Altersvorsorge nachgedacht werden.
Dies wäre durch eine Verbesserung der steuerlichen
Rahmenbedingungen bei langfristigen Sparplänen möglich. Zumindest beim langfristigen Sparen für das Alter
ist nicht einzusehen, warum Fonds und Lebensversicherungen steuerlich auf solch erhebliche Weise unterschiedlich behandelt werden.
({3})
Durch eine konsequente steuerliche Gleichbehandlung aller kapitalansparenden Vorsorgeprodukte sollten
meiner Meinung nach Wettbewerbsverzerrungen, Anreize zu Ausweichreaktionen und Altersvorsorgestrategien, die allein aus steuerlichen Erwägungen getroffen
werden, abgewendet werden.
({4})
Auch in Bezug auf die vorgesehene Änderung der
Dienstwagenbesteuerung im Umsatzsteuerrecht haben
die Länder im Bundesrat auf wichtige Punkte aufmerksam gemacht. Durch die ursprünglich vorgesehene Änderung würde eine zusätzliche bürokratische Verkomplizierung geschaffen werden. Wir können schließlich nicht
nur über Entbürokratisierung sprechen, sondern wir
müssen auch dafür sorgen, dass bereits komplizierte
Sachverhalte nicht noch komplizierter werden. Deswegen müssen wir das Thema Dienstwagenbesteuerung genau betrachten. Mir wurde gesagt, davon wären
1,6 Millionen Betriebe betroffen.
({5})
Ich komme zum Schluss. - Wir haben noch einige intensive Beratungen vor uns. Diese finden natürlich erst
in der Koalition statt - das will ich gar nicht verschweigen -, dann im Finanzausschuss. Darüber hinaus veranstalten wir eine Anhörung. Wir wollen schließlich, dass
unser Steuerrecht nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch für die Finanzverwaltung verständlich
und einfach ist. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten.
Herzlichen Dank.
({6})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Burgbacher das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Oswald, es ist richtig, dass wir hier über
ganz konkrete Dinge diskutieren. Es ist auch notwendig,
dass man manches, was draußen diskutiert wird, dort
diskutiert, wo es hingehört, nämlich hier im Parlament.
Der Tourismusbeauftragte, Ihr CSU-Kollege Hinsken,
fordert landauf, landab die Einführung des reduzierten
Mehrwertsteuersatzes für die Hotellerie.
Im Bundesrat lag ein Antrag des Landes BadenWürttemberg vor, den Wirtschaftsminister Pfister dort
eingebracht hat. Im Wirtschaftsausschuss hat Bayern
diesen zunächst abgelehnt. Auf massiven Druck auch
der FDP hat Bayern am Freitag im Bundesrat dann zugestimmt. Dieses Spiel ist für die Leute überhaupt nicht
mehr nachvollziehbar. Ich bin der Meinung, wir brauchen das. Alle Nachbarländer der Bundesrepublik außer
Dänemark haben den reduzierten Satz, wohingegen wir
den vollen Satz von 19 Prozent verlangen. Ich meine, die
Menschen haben ein Recht darauf, gerade von Ihnen als
Vorsitzendem des Finanzausschusses jetzt eine klare
Aussage zu bekommen: Unterstützen Sie die Forderung
nach Einführung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes
für die Hotellerie - das können wir national in Deutschland machen -, oder unterstützen Sie das nicht? Konkret:
Werden Sie auch nach dem Sonntag dafür sein und einen
Antrag einbringen, oder tun Sie das nicht?
Herr Kollege Oswald, bitte.
Kollege Burgbacher, zunächst einmal ist die Frage
des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nicht Gegenstand
dieses Jahressteuergesetzes.
({0})
- Im Bundesrat ja; aber in diesem Paket ist er nicht enthalten. - Zunächst einmal ist es so, dass wir, auch im Finanzausschuss, vereinbart haben, dass das Thema des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf der Tagesordnung
der Beratungen bleibt. Es wird in Kürze auch ein Berichterstattergespräch stattfinden. Sie wissen doch, dass
es zwei Bereiche gibt: Zum einen sind in der Tat Ungereimtheiten zwischen ermäßigtem und vollem Mehrwertsteuersatz vorhanden. Zum anderen gibt es große
Blöcke, zum Beispiel Gastronomie und Tourismus; aber
auch über viele andere Felder haben wir hier schon diskutiert, beispielsweise Arzneimittel. Wir sichern zu, dass
wir intensiv darüber beraten. Das ist im Augenblick
nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Aber wir müssen
natürlich bei all diesen Punkten jeweils auch - da sind
wir uns in der Koalition völlig einig - die Haushaltssituation im Auge behalten. Bei mancher Absenkung
würden dem Haushalt Milliardenbeträge verlorengehen.
Ich nehme das sehr ernst, was Sie gesagt haben. Aber
ein zweiter Punkt ist: Wenn wir den Mehrwertsteuersatz
absenken, müssen wir auch sicher sein, dass diese Senkung tatsächlich an die Verbraucher, die Bürgerinnen
und Bürger weitergegeben wird.
({1})
Nun hat das Wort die Kollegin Dr. Barbara Höll für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Angesichts des Wustes zum Jahressteuergesetz 2009
fragt man sich als Abgeordneter doch: Ist da wirklich
jede Änderung notwendig? Zum Gesetzentwurf haben
wir schon 13 Änderungsvorschläge, 24 Punkte haben
wir zusätzlich für die öffentliche Anhörung, und der
Presse kann man weitere Änderungswünsche entnehmen, zum Beispiel das Ansinnen der Union, nun die
hauswirtschaftliche Dienstleistung, also Putzfrauen,
Gärtner usw., für Gutverdienende noch stärker steuerlich
zu subventionieren.
Sicher sind in dem Gesetzentwurf einige Punkte enthalten, über die es sich zu diskutieren lohnt. Mich
bewegt am heutigen Tag, gerade nach der morgendlichen
Debatte zur Finanzmarktkrise, die Frage: Wie wird das
konkret umgesetzt in der Gesetzgebung? Herr
Steinbrück hat heute früh gesagt, er wolle eigentlich,
dass die Leerverkäufe verboten werden. Man könnte ja
erwarten, dass im Jahressteuergesetz eine entsprechende
Regelung enthalten ist, aber nein. Im Jahressteuergesetz
finden wir eine Regelung, die das Gegenteil bewirkt:
Jetzt sollen die Verluste aus Stillhaltergeschäften steuer19040
lich begünstigt werden. Das bedeutet, Verrechnungen
von bis zum Jahr 2009 nicht genutzten Verlusten aus
Stillhaltergeschäften sollen weiter geltend gemacht werden können. Das ist ein weiterer Anreiz, spekulativ tätig
zu sein; denn es wird nicht eingedämmt, sondern sogar
noch steuerlich belohnt.
Gestern war in der Financial Times Deutschland zu
lesen, dass das aktuelle Leerverkaufsverbot der BaFin
seine Wirkung verfehle:
({0})
Im Grunde sei die Sperre „blödsinnig“, meinte ein
anderer Händler, der bei diesem heiklen Thema anonym bleiben wollte. Man könne trotzdem Aktien
leer verkaufen.
Dann wird man noch belohnt. Das kann doch keine Politik sein, die wir hier im Hause anstreben sollten!
({1})
Bereits mehrfach erwähnt wurde der Aspekt des Ehegattensplittings. Sie unternehmen einen zweiten Versuch, die negativen Auswirkungen des derzeitigen Ehegattensplittings meistens auf die Ehefrau, die in die
Lohnsteuerklasse V geht und damit wesentlich höhere
Steuern zahlen muss, abzumildern Aber das ist doch nur
ein Pseudoverfahren. Es ist nicht der einzige Kritikpunkt
zum Ehegattensplitting.
Seien Sie endlich konsequent und nehmen Sie Ihre eigenen Forderungen wieder auf! Gerade die Kollegen aus
der SPD waren jahrelang für die Abschaffung des Ehegattensplittings bzw. für dessen Umwandlung, und zwar
so, wie wir es jetzt fordern, nämlich dass der nicht ausgeschöpfte steuerliche Grundfreibetrag auf den Partner
oder die Partnerin übertragen werden kann. Dann haben
wir eine gerechte Lösung. Es würden dann tatsächlich
Steuermittel frei, die aufgewendet werden können, um
das Kindergeld endlich in einem ersten Schritt auf
200 Euro und perspektivisch auf mindestens 250 Euro
anzuheben.
({2})
Ich möchte noch die von Ihnen angestrebte mögliche
Verlagerung der Buchführung ins Ausland ansprechen.
Letztendlich wollen Sie damit etwas legalisieren, was
bisher im rechtlichen Graubereich schon gemacht wird.
Dieses Politikverständnis kann ich nicht nachvollziehen.
Bisher ist die Buchführung im Ausland aus gutem
Grunde nicht erlaubt. Denn es muss sichergestellt sein,
dass die Finanzverwaltung jederzeit einen Zugriff auf
die entsprechenden Unterlagen hat. Aber in dem Moment, in dem die Buchführung - auch unter gewissen
Bedingungen - ins Ausland verlagert werden kann, wird
dieses Recht natürlich eingeschränkt. In diesem Zusammenhang sind wirklich eine ganze Reihe von Fragen zu
klären.
Lassen Sie mich noch einige Worte zum Schulgeld
verlieren. Man kann daraus leicht ein ideologisches
Thema machen. Aber es ist ein ganz irdisches Thema.
Warum gibt es zum Teil diesen Run auf Privatschulen?
Weil das öffentliche Schulwesen immer mehr unter den
Finanzmängeln zu leiden hat. Das ist ein Ergebnis auch
der Finanzpolitik der Großen Koalition. Denn: Wenn es
weniger Steuereinnahmen gibt, ist weniger Geld für Bildung vorhanden.
({3})
Das ist die Situation, vor der wir stehen.
Die öffentlichen Schulen haben weniger Angebote,
was Sprachausbildung und Spezialisierung betrifft. Es
gibt vielfach die Kritik, dass der Schlüssel Lehrer/Schüler nicht ausreichend ist. Deshalb suchen viele Eltern andere Möglichkeiten. Die Lösung sollte aber darin bestehen, dass das öffentliche Schulwesen gestärkt wird.
Ich verstehe nicht, warum man nicht auf alle Fälle,
die mit dem Schulgeld vergleichbar sind, eingeht. Es
gibt heute Bundesländer, in denen die Ausbildung für
bestimmte Berufe nur noch von privaten Trägern für viel
Geld angeboten wird. Die anfallenden Kosten kann man
aber nicht absetzen. Schauen Sie einmal nach SachsenAnhalt! Die Regelungen für das Schulgeld müsste man
konsequenterweise auf diejenigen Kosten ausweiten, die
bis zum ersten Berufsabschluss fällig werden. Prinzipiell
denke ich aber, dass es nicht notwendig ist, eine steuerliche Förderung in diesem Maße aufrechtzuerhalten.
Ich danke Ihnen.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eduard Oswald hat gesagt, dass Jahressteuergesetze Tradition haben. Das stimmt. Es ist aber leider auch diesmal
so, dass das Jahressteuergesetz sehr viele Regelungen
beinhaltet, die nicht zu einem Abbau von Bürokratie im
Steuerrecht führen. Es beinhaltet auch sehr viele Regelungen, die nicht zu einer signifikanten Entlastung von
Bürgern und Bürgerinnen führen.
Das Jahressteuergesetz umfasst 146 Seiten. Es gibt
eine Vielzahl von Änderungswünschen, die vonseiten
der Koalition eingebracht worden sind. Daran sieht man,
dass es innerhalb der Koalition zu unterschiedlichen
Punkten noch unterschiedliche Auffassungen gibt. Ich
bin gespannt, wie sich da die Diskussionen entwickeln.
Auch Vorschläge vonseiten der Opposition werden wir
im Finanzausschuss zu diskutieren haben.
Aufgrund der Tatsache, dass wir es mit diesem Jahressteuergesetz mit einer sehr großen Anzahl von Regelungen zu tun haben, möchte ich mich auf drei Punkte
konzentrieren.
Der erste Punkt. Wie gehen wir in Zukunft damit um,
dass wir für die gemeinsam veranlagten Ehepartner unterschiedliche Belastungseffekte bei der Lohnsteuer haben?
Sie haben jetzt zum zweiten Mal versucht, dieses
Thema anzugehen. Sie haben zum zweiten Mal ein Verfahren vorgeschlagen. Wir sagen allerdings, dass dieses
neue Faktorverfahren für den Lohnsteuerabzug nicht der
richtige Weg ist. Zukünftig müssen bei den Finanzämtern die voraussichtlichen Bruttolöhne der Eheleute
ermittelt werden und auf das Jahr hochgerechnet werden. Dann muss die Gesamtsteuer ohne Splittingverfahren ermittelt werden. Dann muss die Gesamtsteuer mit
Splittingverfahren ermittelt werden. Dann wird der Faktor ermittelt und eingetragen. Damit ist es aber noch
nicht vorbei; denn dann müssen beide eine Steuererklärung ausfüllen. Das heißt, die Pflicht, eine Steuererklärung abzugeben, wird damit ebenfalls ausgelöst, was
man an der einen oder anderen Stelle so auch nicht
brauchte. Da sage ich: Bürokratieabbau, verehrte Kollegen und Kolleginnen, schaut anders aus.
Ich frage mich, wer diese Regelung in Anspruch nehmen wird; denn sie bewirkt im Regelfall - es gibt ein
paar positive Beispiele, die die Frau Staatssekretärin genannt hat; das sind aber ganz wenige -, dass die Lohnsteuerzahlung über das Jahr hinweg höher ist als ohne
diese Regelung. Trotzdem müssen die Unternehmen eine
neue Lohnsteuerabrechnungssoftware vorhalten. Das ist
ein Mehraufwand für nichts.
Das Verfahren, so finden wir, ist unverhältnismäßig
und ungeeignet. Wir haben vonseiten der Grünen im Zusammenhang mit dem Ehegattensplitting schon längst
bessere Vorschläge eingebracht.
({0})
Auch datenschutzrechtlich ist die Regelung äußerst
bedenklich. Sie sagen, das Ganze sei eine Option; aber
der erste Vorschlag, den Sie gemacht hatten, war auch
eine Option. Damals haben Sie aufgrund der datenschutzrechtlichen Bedenken, die zu Recht vorgebracht
worden sind, Ihren Vorschlag zurückgezogen und Ihre
Regelung ad acta gelegt. Jetzt haben Sie einen Vorschlag
gemacht, der diese Problematik wieder beinhaltet.
Ein zweites Beispiel, bei dem wir glauben, dass die
Regelung nicht so ist, wie sie sein müsste, ist das Schulgeld. Es wurde zu Recht gesagt, dass es gut ist, dass die
Regierung ihrer ursprünglichen Idee, das Schulgeld
überhaupt nicht mehr vom Steuerabzug erfassen zu lassen, durch die neue Vorlage nicht mehr nachgehen will.
Das heißt, Sie haben jetzt eine Änderung vorgenommen.
Private Schulen erhalten - das wissen Sie - ein Viertel weniger staatliche Unterstützung als die öffentlichen
Schulen. Der Rest muss von den Familien durch Schulgeldzahlungen finanziert werden. Deswegen ist es richtig, dass man aufgrund der Ungleichbehandlung von
privaten Schulen und Schulen, die ganz vom Staat finanziert werden, einen Ausgleich schafft. Wir haben von
grüner Seite darauf hingewirkt, dass es zu der Streichung
der ursprünglichen Idee gekommen ist.
Aber berufsbildende Ersatzschulen fallen aus dem
Steuerabzug ganz heraus. Wenn wir alle der Meinung
sind, dass Bildung ein ganz wichtiger Standortfaktor ist,
dass wir eine Vielfalt an Schulformen brauchen, dass wir
in der globalisierten Wirtschaft und angesichts des demografischen Umbruchs gut ausgebildete und qualifizierte Bürger und Bürgerinnen haben wollen, wenn man
Wohlstand und Wachstum erhalten will, ist es ein Muss,
dass man bestimmte Schulformen nicht ausschließt.
Diese Regelung kritisieren wir, genauso, wie wir andere Vorschläge kritisieren. Wir werden Ihnen das im
Verfahren im Einzelnen vorlegen, auch mit Änderungswünschen; das habe ich schon angekündigt. Wir sind da
sehr konstruktiv.
Es gibt auch im Zusammenhang mit den Standorten
von Windkraftanlagen und Solaranlagen einiges zu tun,
was die Gewerbesteuerzerlegung anbelangt. Ich hoffe,
dass wir da zu einer gemeinsamen Lösung kommen. So,
wie das Gesetz heute ist, verhindert es, dass sich manche
Bürgermeister und Gemeinderäte für einen Standort entscheiden, weil die Gemeinden gewerbesteuerlich nichts
davon haben.
Kollegin Scheel, achten Sie bitte auf die Zeit.
Letzter Satz, Frau Präsidentin: Denn die Steuern werden nicht am Standort gezahlt, sondern dort, wo der Sitz
des Unternehmens ist. Das ist im Zusammenhang mit
der Entwicklung der regenerativen Energien ein steuerpolitisch falscher Anreiz. Das gilt es zu ändern. Da werden wir unsere Vorschläge einbringen.
Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Frechen für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin Herrn Oswald dankbar dafür, dass er
Herrn Wissing klargemacht hat, was ein Jahressteuergesetz ist. Offensichtlich hat Herr Wissing überhaupt nicht
kapiert, was mit dem Jahressteuergesetz bezweckt wird.
Herr Oswald, Kompliment zu Ihrer Einführung in dieses
Thema.
Von Herrn Dr. Wissing habe ich endlich erfahren, was
ich ideologisch zu denken habe. Ich muss ja richtig froh
sein, dass es Sie gibt. Sonst wüsste ich gar nicht, dass die
Privatschule für mich ein ideologisches Problem ist.
({0})
Das ist es aber nicht.
Ich möchte am Beginn meiner Rede auf das Thema
Schuldgeld eingehen, weil es hier schon mehrfach angesprochen wurde. Die Damen Höll und Scheel kann ich
beruhigen: Auch wir arbeiten an einer Änderung, damit
berufsbildende Schulen einbezogen werden können. Einverstanden!
({1})
Die Absetzbarkeit des Schulgeldes war immer auf
30 Prozent begrenzt, ohne Deckel. Jetzt hat man in Brüssel festgestellt: Es widerspricht europäischem Recht,
wenn nur Schulgeld für Schulen in Deutschland steuerlich geltend gemacht werden kann. Ich halte es für absolut legitim, wenn wir überlegen, wie wir es schaffen, die
Schulgelder für fast alle deutschen Schulen in das Gesetz
einzubeziehen. Das Schulgeld für Privatschulen in
Deutschland liegt bei ungefähr 10 000 Euro pro Jahr.
Wir decken also fast alle Schulen in Deutschland ab, machen aber einen Deckel darauf. Ich habe mir sagen lassen, dass es im europäischen Ausland Privatschulen gibt,
die deutlich teurer als die in Deutschland sind. Das
Schulgeld für diese Schulen müssten wir komplett, ohne
Begrenzung in Deutschland zum steuerlichen Abzug zulassen. Das kann ja wohl nicht richtig sein. Deshalb
diese Änderung im Gesetz, die ich sehr wohl unterstütze.
Auch die Steuerklasse V war schon Thema. Die Frau
Staatssekretärin hat in dieses Thema eingeführt. Es
stimmt: Wir wollen eine neue Besteuerung von Ehegatten. Frau Dr. Höll, diese Form ist nicht nur ein bisschen
gerechter. Zum ersten Mal wird es mit diesem Faktorverfahren gelingen, eine individuelle Besteuerung mit Splittingvorteil hinzubekommen. Künftig werden die Ehegatten, die Steuerklasse V haben, weil sie das niedrigere
Einkommen beziehen, just das an Steuern zahlen, was in
der gemeinsamen Steuererklärung auf sie entfällt.
Kollegin Frechen, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Höll?
Ja.
Frau Kollegin Frechen, stimmen Sie mir zu, dass erstens unser Vorschlag trotzdem wesentlich konsequenter
ist und zweitens bei Ihrem Vorschlag das Einvernehmen
beider Ehepartner Voraussetzung ist, Sie nach Aussage
der Parlamentarischen Staatssekretärin selbst damit
rechnen, dass nur etwa 5 Prozent aller Ehepaare Ihren
Vorschlag annehmen werden, und der von Frau Scheel
aufgeführte bürokratische Aufwand in keinem Verhältnis
dazu steht, insbesondere weil man eine einfache und
klare Lösung durchsetzen könnte?
Was die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung anbelangt, ist der bürokratische Aufwand bei der Lohnsteuerklassenkombination III und V genauso gegeben
wie beim Faktorverfahren. Auch diese Paare sind verpflichtet, eine Steuererklärung abzugeben.
Gerechter ist das, was Sie vorschlagen, nicht. Auch
nach Ihrem Vorschlag hätte jeder Ehegatte ab einem Einkommen von 900 Euro unterjährig und nicht erst am
Ende des Jahres den auf ihn anfallenden Steueranteil zu
zahlen. Einer der Kernkritikpunkte am Anteilsverfahren
war, dass auch bei einem Einkommen von weniger als
900 Euro Steuern hätten gezahlt werden müssen. Auch
in Steuerklasse V müssen selbstverständlich Steuern gezahlt werden. Wenn aber laut individueller Besteuerung
keine Steuern zu zahlen sind, sind auch nach dem Faktorverfahren keine zu zahlen. Das ist der Vorteil für die
Bezieher ganz geringer Einkommen.
({0})
Lassen Sie mich ein Wort zum steuerlichen Querverbund sagen. Ich denke, die Kommunalpolitiker unter uns
sind der Meinung, dass das ein richtig großer Wurf ist.
Wir sind alle sehr froh, dass das schon im Gesetz steht,
sonst hätten wir es nämlich selbst hineinschreiben müssen. Aber es steht schon im Entwurf der Regierung.
Privat vor Staat - das ist ein Slogan der schwarz-gelben Landesregierung in Nordrhein-Westfalen. Er stimmt
nicht, und er nützt nie den Bürgerinnen und Bürgern,
sondern immer nur den Unternehmen. Deshalb bin ich
froh, dass der steuerliche Querverbund bleibt und dass
die Daseinsfürsorge mit Gewinnen aus kommunalen Betrieben weiter finanziert werden kann. Ich halte überhaupt nichts davon, Kommunen in ihrer wirtschaftlichen
Betätigung einzuschränken, die Verluste aus dem ÖPNV
und der Daseinsfürsorge in der Kommune zu lassen und
alles andere, was in der Kommune Gewinn bringt, zu
privatisieren.
({1})
Diese Haltung habe ich im Übrigen auch zu den Sparkassen und zum Sparkassengesetz in Nordrhein-Westfalen. Auch da macht „Privat vor Staat“ überhaupt keinen Sinn.
({2})
Ich möchte zwei Punkte zur Gemeinnützigkeit ansprechen. Ich unterstütze Herrn Oswald, wenn er sagt:
Es kann nicht sein, dass Vereine
({3})
- habe ich jemals etwas anderes gesagt, Herr Kollege? -,
die nicht auf dem Boden unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehen, begünstigt werden. Das
ist zwar schon heute die geltende Verwaltungspraxis,
aber es ist deutlicher, wenn es im Gesetz verankert ist.
Das machen wir jetzt.
Weiter legen wir fest, dass gemeinnützige Vereine
und gemeinnützige Stiftungen einen Bezug zum Allgemeinwohl im Inland haben müssen. Eine italienische
Stiftung, die in der Schweiz gemeinnützig tätig ist und in
Deutschland nur Vermietungseinkünfte hat, erfüllt diese
Voraussetzungen eindeutig nicht. Inländische gemeinnützige Vereine, die im In- und/oder Ausland Gutes tun,
sind von dieser Regelung überhaupt nicht betroffen.
Bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt sind für
uns Ehrensache. Deshalb versichere ich den gemeinnützigen Vereinen: Wir werden alle diesbezüglichen BedenGabriele Frechen
ken aufnehmen und gemeinsam mit Ihnen eine zweifelsfreie Formulierung finden.
({4})
Außerdem - klein aber fein - werden wir den ArbeiterSamariter-Bund in den Katalog der Verbände der freien
Wohlfahrtspflege aufnehmen.
Frau Dr. Höll, Sie sprachen die Bedingungen an, unter denen Buchführungen ins Ausland verlegt werden
können. Ein bisschen stimme ich mit Ihnen überein.
Wenn es denn so ist, dass wir heute internationale Verflechtungen haben, dann darf es auf keinen Fall sein,
dass der, der seine Buchführung im Ausland macht, bessere Bedingungen hat als der, der sie im Inland macht.
Es kann nicht sein, dass der Zugriff für die Finanzbehöriden nicht genau wie in Deutschland jederzeit gewährleistet ist. Deshalb werden wir uns diese Vorschrift ganz
genau anschauen.
Wir werden die Zusagen aus der Unternehmensteuerreform für Leasing- und Factoringunternehmen und bezüglich der Aufhebung des Organschaftsverbots zwischen Kranken- und Lebensversicherungen erfüllen.
Dann gibt es noch einen für mich ganz wichtigen
Punkt, den wir in das Gesetzgebungsverfahren einbringen werden. Das betrifft die Besteuerung von Dividenden und Veräußerungserlösen bei Streubesitz. Derzeit
gilt für Dividende, die ins europäische Ausland gezahlt
wird, eine abgeltende Steuer in Höhe von 20 Prozent. Im
Inland ansässige Unternehmen können diese Kapitalertragsteuer hingegen mit der Körperschaftsteuer verrechnen. Das wurde im Vertragsverletzungsverfahren
von der Europäischen Kommission als nicht europakonform angesehen. Handeln wir nicht, steht uns eine Klage
vor dem EuGH ins Haus.
Nach europäischem Recht haben wir zwei Möglichkeiten: Wir stellen alle In- und Ausländer frei oder wir
machen beide Gruppen steuerpflichtig. Der Unterschied
beträgt rund 1,5 Milliarden Euro. Ich denke, angesichts
des guten Wegs der Haushaltskonsolidierung, auf dem
sich diese Große Koalition befindet, muss man sich nicht
lange fragen, wie wir uns entscheiden. Wir werden diese
Steuerpflicht für Dividenden- und Veräußerungserlöse
bei Streubesitz in diesem Gesetzgebungsverfahren einführen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Antje Tillmann für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Dr. Wissing, Sie haben einleitend gesagt,
dieses Jahressteuergesetz sei ein Gesetz, das das Finanzministerium sich ausgedacht habe, das im Sinne der Finanzbehörden sei, aber nicht im Sinne der Steuerpflichtigen. Ich weiß nicht, mit welchem Finanzbeamten Sie
diese Meinung besprochen haben. Ich kann Ihnen an wenigen Beispielen aufzeigen, dass dieses Gesetz - ganz
im Gegenteil - viele Belastungen für die Finanzverwaltungen bringt, um gerade Steuerpflichtige zu entlasten.
Ich fange an mit dem Beispiel steuerliche Haftungsregelungen für Vereinsvorstände. Sie können mir glauben,
dass es wesentlich einfacher ist, einen Haftungsbescheid
gegen eine natürliche Person zu erlassen als gegen einen
Vorstand. Trotzdem waren wir uns einig, dass wir gerade
wegen der ehrenamtlichen Tätigkeit vieler Menschen
diese Haftungsrisiken begrenzen wollen. Die Regelung,
die mittlerweile vorgeschlagen ist, wird in den allermeisten Fällen dazu führen, dass der Schatzmeister des
Sportvereins, des Kulturvereins eben nicht in die Situation kommt, dass gegen ihn haftungsrechtlich ermittelt
werden muss
({0})
und dass er tatsächlich Vermögensschäden hat.
({1})
Noch weiter gehende Regelungen halte ich insofern
für bedenklich - auch das muss man sagen -, als jedem
Empfänger einer Steuerbescheinigung zu fast 50 Prozent
allgemeine Steuermittel zukommen müssen. Deshalb
sehe ich überhaupt keinen Sinn darin, dass das leichtfertig gemacht wird. Wir müssen schon sicherstellen, dass
Spendenbescheinigungen ordnungsgemäß sind.
({2})
Ich glaube, da haben wir einen guten Kompromiss gefunden. Die Finanzbehörde wird sich dem beugen, weil
sie sieht, dass sie damit gemeinnützige Tätigkeit unterstützt.
Das Faktorverfahren ist ein zweites Beispiel. Kein Finanzbeamter kann Interesse daran haben, dieses Verfahren einzuführen, weil der Beratungsaufwand in Zukunft
natürlich steigen wird. Trotzdem haben wir gesagt: Wir
wollen dieses Faktorverfahren. Dafür gab es zwei
Gründe: zum einen, weil wir die Erwerbstätigkeit von
Frauen, die nur eine Halbtagstätigkeit aufnehmen möchten, erleichtern wollten, und zum anderen, weil die Wahl
der Steuerklasse teilweise endgültige finanzielle Auswirkungen hat, zum Beispiel beim Arbeitslosengeld oder
beim Elterngeld. Auch hier ging es nicht um das Interesse der Finanzbehörden, sondern um das der Bürgerinnen und Bürger, die mit diesen Problemen auf uns zugekommen sind und die deshalb gesagt haben: Sie müssen
das ändern. In diesem Sinne werden wir das Jahressteuergesetz 2009 ausgestalten.
({3})
Nächstes Beispiel: Auslandstätigkeit steuerbegünstigter, gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchlicher Organisationen. Frau Frechen hat darauf hingewiesen, wie das
Gesetz zu lesen ist. Trotzdem, liebe Kollegin Frechen,
müssen wir aufgrund dessen, dass Herr Dr. Wissing das
Ganze offensichtlich nicht verstanden hat, einmal über
die Formulierung nachdenken. Das meine ich jetzt gar
nicht böse; die Vereine haben die Regelung schließlich
teilweise auch nicht verstanden. Es geht eben nicht um
die Fälle, die Sie hier aufgeführt haben, sondern es geht
einzig und allein um den Fall, dass eine gemeinnützige
Organisation mit Deutschland überhaupt nichts zu tun
hat, weswegen wir keinen Anlass dazu sehen, eine Steuerbegünstigung durchzusetzen. Wir haben vom Finanzministerium schon das Signal bekommen, dass wir über
die Formulierung nachdenken sollten. Ich bin sicher:
Am Ende der Anhörung können Sie diesem Vorschlag,
wenn Sie es wollen, zustimmen.
Liebe Frau Kollegin Höll, was haben Sie für ein soziales Menschenbild? Ganz offensichtlich ist es für Sie
besser, als Reinigungsfrau unversichert, ohne Krankenversicherung und ohne Rentenversicherung zu arbeiten
als sozialversicherungspflichtig bei einem bösen Reichen.
({4})
Sie wissen doch, dass das Leben ganz anders ist, als Sie
es sich theoretisch vorstellen. Die Situation ist doch so,
dass in diesem Bereich die höchste Schwarzarbeitsquote
ist und dass Reinigungsfrauen tatsächlich schon heute
schwarz und ohne Unfallversicherung arbeiten. Wir wollen das nicht sehenden Auges hinnehmen.
({5})
Wir wollen, dass auch diese Reinigungsfrauen ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis haben. Wir
sind bereit, dazu Anreize zu setzen, nämlich im Sinne
dieser Frau, im Sinne des Gärtners, im Sinne der Kinderbetreuerin, die selbstverständlich ein Recht darauf haben, einen ordentlichen Arbeitsplatz zu haben und nicht
in der Schwarzarbeit zu landen.
({6})
Stichwort „Verlagerung der elektronischen Buchführung“. Es ist immer gut, wenn man nach einer ersten Lesung - ({7})
- Ich kann mich kaum konzentrieren, wenn Sie immer
dazwischenreden. Ich gebe Ihnen gern die Gelegenheit,
etwas zu sagen, wenn ich meinen Gedanken zu Ende geführt habe. - Auch da ist es gut, dass wir uns in der Anhörung das Gesetz noch einmal vornehmen. Sie haben
gesagt: Es kann nicht sein, dass bei einer Verlagerung
der elektronischen Buchführung ins Ausland auf Daten
nicht mehr zugegriffen werden kann. Das verlangt auch
keiner; das ist auch gar nicht vorgesehen. Ein Blick in
das Gesetz, das wir heute beraten, hilft. Da steht nämlich
ganz klar, dass eine solche Verlagerung nur zulässig ist
- ich zitiere -, wenn „der Datenzugriff … in vollem Umfang möglich ist“. Ich denke, wir können Ihnen in der
Anhörung die Gelegenheit geben, da nachzufragen. Ich
bin gerne bereit, Ihnen den Passus zukommen zu lassen.
Kollegin Tillmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte.
Frau Tillmann, ich möchte nachfragen, welches Menschenbild Sie haben. Wenn jemand ein so hohes Einkommen hat, dass er es sich leisten kann, eine Haushaltshilfe
zu beschäftigen, dann ist das gut. Aber haben Sie die
Vorstellung, dass die Menschen, die viel haben und es
sich sowieso leisten können, das nur machen, wenn wir
ihnen als Gemeinschaft einen Teil ihrer Lohnausgaben
steuerlich erstatten? Das ist das Prinzip „Haltet den
Dieb!“, aber gleichzeitig wirft man noch etwas hinterher.
({0})
Es geht nicht um die Schwarzarbeit der Putzfrau. Voraussetzung ist aber, dass sie jemand anstellt, und genau
darum geht es. Wenn jemand sagt, er stellt die Putzfrau
nur sozialversicherungsrechtlich abgesichert ein, dann
ist das eine ganz andere Situation. Aber hier der Putzfrau
den Schwarzen Peter zuzuschieben, ist eine Unverschämtheit.
({1})
Da habe ich ein anderes Menschenbild.
({2})
Ich habe niemandem den Schwarzen Peter zugeschoben. Ich habe vielmehr Sie gebeten, aus Sicht der Reinigungsfrau einmal zu überprüfen, welche Interessen sie
hat. Ich glaube, der Reinigungsfrau ist es völlig egal, ob
ihr Arbeitgeber ein Unternehmen oder ein privater Haushalt ist. Die Hauptsache ist doch, dass diese Reinigungsfrau eine sozialversicherungspflichtige Anstellung mit
der Absicherung hat, die ich mir wünsche. Das werden
wir fördern.
Ich bin sicher, dass wir den guten Ansatz, der schon
sichtbar geworden ist, weiterverfolgen werden. Ich weiß,
dass wir da noch nicht ganz auf einer Linie mit dem Koalitionspartner sind. Die Gespräche hierüber werden wir
fortführen. Ich glaube, dass beide, SPD und CDU/CSU,
die Reinigungsfrau als Allererstes im Blick haben und
dass wir für sie etwas erreichen wollen,
({0})
damit sie eine Absicherung für die Zukunft hat, auch
wenn sie in einem privaten Haushalt arbeitet.
({1})
Das Thema strafrechtliche Verjährungsfristen wird
sehr kritisch diskutiert. Liebe Frau Kollegin Kressl, ich
stimme nicht ganz mit Ihnen überein, dass die fünfjährige Verjährungsfrist ein Zeichen für ein Kavaliersdelikt
ist. Fünf Jahre sind ein langer Zeitraum. Aber wir sind
uns schnell wieder darin einig, dass es das allein sowieso
nicht bringen wird. Am besten hilft gegen Steuerhinterziehung, wenn derjenige, der es tut, damit rechnen muss,
entdeckt zu werden.
Hier kämpfen wir gemeinsam in der Föderalismuskommission darum, die Steuerverwaltung effektiver zu
machen. Bund und Länder müssen hier zusammenarbeiten. Gestern haben wir dabei die ersten Erfolge erzielt
und erreicht, dass bei den Steuerhinterziehungstatbeständen und auch bei den Betriebsprüfungen noch enger zusammengearbeitet wird. Darauf sollten wir für die Zukunft einen Schwerpunkt setzen.
Es werden in der Anhörung noch einige andere
Punkte zur Diskussion stehen, die heute noch nicht erwähnt worden sind. Frau Kollegin Kressl hat darauf hingewiesen, dass wir auch das Engagement von Arbeitgebern zur Gesundheitsfürsorge unterstützen wollen. Es
gibt auch das Anliegen aus dem Bundesrat, Steuerfreiheit für Aufwandsentschädigungen für die dauerhafte
Pflege von volljährigen Menschen mit Behinderungen
zu schaffen. Wir werden das diskutieren und die Auswirkungen besprechen.
Weiterhin gibt es das Anliegen aus dem Bundesrat
- das betrifft insbesondere die Kommunen -, bei strukturellem Leerstand die Voraussetzungen für einen Grundsteuererlass zu schaffen. Dieses Problem führt bei
manchen ostdeutschen Kommunen zu erheblichen Einbrüchen. Hier müssen wir im Rahmen der Anhörung zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen nach Lösungen suchen, um den Kommunen Sicherheit zu geben,
damit sie auf die Steuern, die sie eingeplant haben, tatsächlich zurückgreifen können, um Leistungen wie Kinderbetreuung, Schulverpflegung sowie die Sanierung
von Straßen und Jugendhäusern erbringen zu können.
Ich freue mich auf die weitere Diskussion und sehe,
dass wir noch erheblichen Beratungsbedarf haben.
Ich danke Ihnen.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/10189 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den
Sportausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderwei-
tige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie
Zusatzpunkt 7 auf:
7 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Vergaberechts
- Drucksache 16/10117 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Werner Dreibus, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Tariftreue europarechtlich absichern
- Drucksache 16/9636 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Martin Zeil, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Novellierung des Vergaberechts für Bürokratieabbau nutzen - Bundesweit einheitliches
Präqualifizierungssystem für Leistungen einführen
- Drucksache 16/9092 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Dagmar Wöhrl.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Der Gesetzentwurf zur Modernisierung des Vergaberechts liegt jetzt vor. Der Abstimmungsprozess war nicht
einfach. Es ging vor allem darum, unser komplexes Vergaberecht zu modernisieren und zu vereinfachen. Sehr
wichtig war für uns, dass wir zu einer mittelstandsgerechten Ausgestaltung gekommen sind.
Es gab viele Diskussionen, vor allem im Zusammenhang mit den sogenannten vergabefremden Aspekten.
Ich glaube, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben
wir es geschafft, viele Unsicherheiten, die bis jetzt bestanden haben, zum Beispiel Unsicherheiten bei der
Rechtsauslegung, zu beseitigen. Zudem erfordern die
europäischen Richtlinien bekanntlich weitere Anpassungen der deutschen Regelungen.
Wichtig war uns, dass wir bei der Vergabe öffentlicher Aufträge ein transparentes Verfahren bekommen.
Wichtig war uns auch, dass die Wirtschaftlichkeit bei der
Beschaffung gewährleistet und der Wettbewerb um die
Aufträge gestärkt wird. Hier haben wir ein Gleichgewicht hergestellt; das ist gut.
Ich möchte auf einige Kernelemente des Gesetzentwurfes eingehen. Ich glaube, eines seiner wichtigsten
Elemente ist, dass eine gesetzliche Pflicht zur Aufteilung
der Aufträge in Lose vorgesehen ist. Eine Gesamtvergabe soll zukünftig nur noch aus besonderen wirtschaftlichen oder technischen Gründen möglich sein. Somit
stärken wir die Mittelstandsklausel; das hatten wir von
Anfang an vor. In Zukunft ist sie im Rahmen der Nachprüfung überprüfbar.
Die Vergabepraxis hat gezeigt, dass die Mittelstandsklausel bis jetzt nicht den gewünschten Effekt hatte.
Nachfragen der öffentlichen Stellen werden immer häufiger derart gebündelt, dass kleinere Betriebe keine Angebote abgeben können, vor allem deshalb, weil sie nicht
über dieselben Ressourcen wie andere, größere Unternehmen verfügen.
Es ist richtig, dass im Koalitionsvertrag und in den
Leitlinien der Bundesregierung explizit gefordert wurde,
die Vergabe öffentlicher Aufträge zukünftig mittelstandsfreundlich auszugestalten. Ein weiterer wichtiger
Punkt war für uns, dafür zu sorgen, dass möglichst viele
mittelständische Betriebe die Möglichkeit haben, sich
um öffentliche Aufträge zu bewerben.
Am Anfang meiner Rede habe ich bereits darauf hingewiesen, dass die sogenannten vergabefremden Aspekte
ein großer Diskussionspunkt waren. Im Gesetzentwurf
haben wir die wichtige Klarstellung getroffen, dass bei
der Vergabe öffentlicher Aufträge auch soziale, umweltbezogene und innovative Aspekte berücksichtigt werden
können; ich betone das Wort „können“. Ich denke, diese
Kriterien müssen in einem sachlichen Zusammenhang
mit dem Auftragsgegenstand gesehen werden. Vor allem
müssen sie allen bekannt sein. Die Formulierung des Gesetzentwurfes knüpft an die gemeinschaftsrechtlichen
Vorschriften an und entspricht somit dem europäischen
Standard. Eine weitere wichtige Klarstellung ist, dass
bestimmte städtebauliche Maßnahmen und bestimmte
Formen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit nicht
mehr dem Vergaberecht unterliegen.
Noch eine kurze Bemerkung zum Antrag der Fraktion
Die Linke. Frau Lötzer, Sie gehen in Ihrem Antrag explizit auf das Urteil des EuGH vom April dieses Jahres ein.
In diesem Urteil des EuGH wird für die Auftraggeber
und die Auftragnehmer bei öffentlichen Bauaufträgen
Klarheit geschaffen. Dieses Urteil besagt aber nicht, dass
Tariftreueregelungen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge unzulässig sind; ich weiß nicht, ob Ihnen dieser
Zusammenhang klar war. Vielmehr wird in diesem Urteil im Einzelnen beschrieben, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine Tariftreueregelung zur Anwendung kommt.
Aus wirtschaftspolitischer Sicht ist dieses Urteil zu
begrüßen. Wie wir wissen, sind hier die Länder in der
Pflicht und gefordert. Vergaberecht ist Einkaufsrecht; ich
glaube, das sollte uns allen klar sein. Es ist aber kein Instrument, mit dem man versuchen sollte, Mindestlöhne
durch die Hintertür einzuführen.
Liebe Kollegen, unser Gesetzentwurf enthält ausgewogene Regelungen. Er würdigt die Interessen der
Marktteilnehmer auf beiden Seiten. Ich kann festhalten:
Die Bundesregierung hat ihren Teil dazu beigetragen,
dass wir eine anwenderfreundliche Ausgestaltung der öffentlichen Beschaffung erreicht haben. Jetzt sind die
Verdingungsausschüsse gefragt. Ich hoffe, dass diejenigen, die die VOB und die VOL regeln, sich ihrer Verantwortung dann auch bewusst werden.
In dem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Paul Friedhoff für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anlässlich der
ersten Beratung des Regierungsentwurfs werde ich mich
für die Bundestagsfraktion der FDP im Wesentlichen auf
die Perspektive der mittelständischen Unternehmen konzentrieren.
Wir begrüßen zunächst die Klarstellung - das hat weniger mit dem Mittelstand zu tun -, dass die Grundstücksverkäufe nicht dem Vergaberecht unterliegen sollen, auch wenn sie mit städtebaulichen Auflagen an die
Investoren verbunden sind. Das bedeutet ein Stück
Rechtssicherheit und ist sicher auch angemessen.
({0})
Die Mittelstandsklausel ist ein begrüßenswerter Ansatz zur beabsichtigten Stärkung kleiner und mittlerer
Unternehmen. Die bisher im Gesetz enthaltene Aufforderung, mittelständische Interessen angemessen zu berücksichtigen, hat sich als nicht sehr wirkungsvoll erwiesen, wie die Frau Staatssekretärin gerade auch
festgestellt hat.
Mit der verstärkten Aufteilung von Aufträgen in Teilund Fachlose kann einem deutlich größeren Kreis von
Unternehmen die Möglichkeit der Teilnahme an Ausschreibungen eröffnet werden. Deshalb ist diese Aufteilung in Einzellose für uns als Regelfall vorzusehen.
Wenn davon aus technischen oder wirtschaftlichen
Gründen abgewichen werden soll, muss dies begründet
werden. Eine Einzelfallbetrachtung ist auf jeden Fall nötig, da eine pauschale Aussage nicht möglich ist. Die
unterschiedlichen Ausschreibungen sind einfach zu
komplex. Ob nun Komplett- oder Teilvergaben günstiger
sind, muss im Einzelfall betrachtet werden. Aus Sicht
der FDP-Fraktion soll der Auftraggeber, wenn er die
Ausnahme wählt, also komplett ausschreibt, dies immer
konkret begründen müssen.
Einen entscheidenden Kritikpunkt am Gesetzentwurf
sieht die FDP-Bundestagsfraktion in der Ausnahme für
die interkommunale Zusammenarbeit, also die sogenannten Inhousevergaben. Durch die geplante neue Vorschrift wird den Kommunen viel Spielraum zu verstärkter Zusammenarbeit geboten. Sie können nach dem
Entwurf andere Kommunen ohne Ausschreibung mit jeder Art von Leistung beauftragen oder hierfür gemeinsame Gesellschaften gründen. Das klingt für die Bürgermeister sicher attraktiv, aber dadurch wird der
Wettbewerb bei öffentlichen Aufträgen gefährdet.
({1})
Durch das Vergaberecht soll ein fairer Wettbewerb sichergestellt werden, und es soll den Kommunen nicht
etwa einfach gemacht werden, Wettbewerb auszuschalten und Aufträge nach Gutdünken zu vergeben. Nicht
umsonst ist die öffentliche Auftragsvergabe im Gesetz
gegen Wettbewerbsbeschränkungen geregelt.
Lassen Sie mich eines klarstellen: Wenn kommunale
Unternehmen gut wirtschaften, dann brauchen sie den
Wettbewerb mit der Privatwirtschaft nicht zu fürchten.
Deshalb gibt es auch keinen Grund, die städtischen Betriebe von den Vergabevorschriften auszunehmen und so
vor dem Wettbewerb zu schützen.
({2})
Meine Damen und Herren, bei allem dürfen die
Grundzwecke des Vergaberechts nicht aus den Augen
verloren werden. Diese liegen zum einen darin, für die
öffentliche Hand einen wirtschaftlichen Einkauf von
Leistungen zu gewährleisten. Zum anderen soll den potenziellen Auftragnehmern ein fairer und durchschaubarer Bieterwettbewerb gesichert werden.
Diese grundsätzlichen Erwägungen zum Zweck des
Gesetzes müssen uns davon abbringen, Aufgaben und
Ziele in das Recht der Auftragsvergabe einzubinden, die
hiermit überhaupt nichts zu tun haben. So stehen etwa
Anliegen der Sozial- und Umweltpolitik mit den eigentlichen Zielen des Vergaberechts meist in keinem Zusammenhang und sollten auch nicht mit ihm vermischt werden.
Durch vergabefremde Aspekte werden vielmehr Intransparenz und Bürokratie gefördert und vor allem mittelständische Unternehmen diskriminiert, die sich gesetzeskonform verhalten, also bereits Aufgaben wahrnehmen,
die vom Auftraggeber vorgegebenen Motive der vergabefremden Kriterien nach dem Gesetz aber eben nicht
erfüllen und auch nicht erfüllen müssen.
Lassen Sie mich noch einen Punkt anführen, der für
die beabsichtigte Vereinfachung und Entbürokratisierung der Vergabeverfahren sehr wichtig ist. Wir fordern
in unserem Antrag, der heute ebenfalls zur Beratung vorliegt, ein bundesweit einheitliches System der Präqualifikation einzuführen.
Inhalt der Präqualifikation ist eine möglichen Aufträgen vorgelagerte Prüfung der Eignung. Damit müssen
Unternehmer nicht vor jeder Ausschreibung aufs Neue
ihre generelle Eignung aufwendig nachweisen und werden nicht im Hinblick auf den Nachweisaufwand von der
Teilnahme an Ausschreibungen abgeschreckt.
Derartige Systeme gibt es auf Landesebene bereits in
fünf Bundesländern. Um einer Zersplitterung des öffentlichen Auftragswesens entgegenzuwirken, fordern wir,
im Rahmen der anstehenden Novelle die Chance zu nutzen, ein leistungsfähiges System der Präqualifikation
nun auf Bundesebene einzuführen. Kleinen und mittleren Unternehmen muss die Präqualifikation einheitlich
und flächendeckend ermöglicht werden.
({3})
Die Bundesregierung begründet ihren Gesetzentwurf
mit der Absicht, eine mittelstandsgerechte Modernisierung des Vergaberechts vorzunehmen. Ich würde die
Bundesregierung gerne beim Wort nehmen und fordere
sie auf, unseren Kritikpunkten und denen der mittelständischen Wirtschaft die Beachtung zu schenken, die zur
Erreichung dieses Zieles notwendig ist.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Reinhard Schultz für die
SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Frau Staatssekretärin Wöhrl hat darauf hingewiesen, dass es ein ziemlich langer und schwieriger
Prozess war, bis man sich auf diesen Kabinettsentwurf
geeinigt hat. Die Tatsache, dass zwischenzeitlich eine
Kabinettsentscheidung gestoppt wurde, fanden zumindest einige in diesem Hause merkwürdig. Immerhin liegt
uns aber die auf Kabinettsebene vereinbarte Lösung, angereichert durch eine Reihe von Gesichtspunkten, die
vorab auf Berichterstatterebene besprochen worden waren - zum Beispiel das Thema städtebauliche Verträge -,
als Gesetzentwurf zur Beratung vor. Ich bedanke mich
ausdrücklich auch bei Herrn Dr. Nüßlein. Wenn wir weiterhin nahe beieinanderbleiben, dann werden wir trotz
der noch bevorstehenden Klippen, die es auch geben
wird, die Reform des Vergaberechts zu einem guten
Ende bringen.
Die Reform ist aus guten Gründen im Koalitionsvertrag vereinbart worden. Sie ging zum einen auf die EUVorgaben zurück, die zum Teil bereits 2006 umgesetzt
wurden. Jetzt folgt sozusagen der freiwillige Teil, weitere Regelungen der EU-Vergaberichtlinien in deutsches
Recht umzusetzen. Zum anderen verfolgen wir damit
auch eigene Absichten im Hinblick auf Vereinfachung
und Mittelstandsorientierung.
Reinhard Schultz ({0})
Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland etwa
262 Milliarden Euro jährlich für öffentliche Aufträge an
Unternehmen gezahlt werden - das sind etwa 2,4 Millionen einzelne Vergabevorgänge -, kann man ermessen,
wie kompliziert das ist, aber auch, welche große volkswirtschaftliche Bedeutung das öffentliche Auftragswesen hat. Jedem, der daran teilnehmen möchte, sollte dies
ermöglicht werden. Das Vergabeverfahren sollte so
transparent, einfach und klar sein, dass jedes Unternehmen - auch kleine Unternehmen - die Möglichkeit hat,
daran teilzunehmen. Deswegen war die Reform erforderlich.
Die Intransparenz lag zum Teil an der Vielschichtigkeit des Gesetzes und der darauf aufbauenden Verordnungen, aber auch an der Zersplitterung der Vergabelandschaft. Wir haben 8 000 Gebietskörperschaften und
30 000 Vergabestellen, die bundesweit tätig sind und
täglich öffentliche Ausschreibungen vornehmen. Das ist
für kleine und mittlere Unternehmen außerordentlich
schwer zu handhaben.
Wir haben seit langem beklagt, dass es gerade im Bereich des Bauwesens angeblich zugunsten der Vereinfachung die Tendenz gibt, alles aus einer Hand schlüsselfertig bei einem Generalunternehmer in Auftrag zu
geben. Der Generalunternehmer übernimmt dann die
Planung, er steuert das Projekt und kauft in der Regel bei
Subunternehmen ein mit dem Ergebnis, dass die eigentliche Marge dort erwirtschaftet wird, wo man die möglichen Gewinne der Subunternehmer drücken kann. Das
geht zulasten des Mittelstandes, aber auch der Qualität;
denn manchmal kann das, was durch die Preisdrückerei
erforderlich wurde, durch Leistung gar nicht mehr erbracht werden. Damit entstehen Pfusch und als Folge
vielerlei Gewährleistungstatbestände, die das Geschäft
für den Endabnehmer, die öffentliche Hand, außerordentlich schwierig machen. Deswegen sind wir sowohl
aus Wettbewerbsgründen als auch aus Qualitätsgründen
dafür, dass in der Regel losweise vergeben wird, wenn es
um größere Ausschreibungen geht, und dass im Einzelnen begründet werden muss, wenn man auf eine Generalunternehmerlösung zurückgreifen will.
Ich gehe sogar einen Schritt weiter. Ich glaube - darüber müssen wir im weiteren Gesetzgebungsverfahren
noch diskutieren; ich bin beim Thema PPP darauf gestoßen -, wir müssen darüber nachdenken, ob es sinnvoll
ist, dass ein Generalunternehmer, wenn er zum Zuge
kommt, nach den Kriterien des Vergaberechts transparent ausschreibt.
({1})
Nach meiner Meinung wäre das eine Lösung zumindest
für PPP, eventuell aber auch grundsätzlich für Generalunternehmertätigkeiten. Ich freue mich, dass eine gewisse Aufgeschlossenheit auch beim Koalitionspartner
vorhanden ist; das habe ich an dem Beifall gesehen.
Das Thema der sogenannten vergabefremden Kriterien hat die zweieinhalb Jahre dauernden Beratungen
sehr verzögert. Man muss sich fragen, ob wirklich alles
vergabefremd ist. Bei der Lohnfindung in Unternehmen,
die sich an öffentlichen Aufträgen beteiligen, geht es
zum einen um die vernünftige Bewertung menschlicher
Arbeit und zum anderen um einen Wettbewerbsfaktor.
Wenn zwei Unternehmen gegeneinander antreten und
das eine als Subunternehmen mit Drückerkolonnen deutlich unter Mindestlohn anbietet und das andere tariftreu
ist, dann gibt es eine Verzerrung. Wir können nicht daran
interessiert sein, bei einem Volumen von mehr als einer
Viertel Billion Euro an öffentlichen Vergaben in Deutschland dazu beizutragen, dass Arbeitnehmer, die für die
Durchführung öffentlicher Aufträge beschäftigt werden,
in eine Rutschpartie geraten, die damit endet, dass sie
Aufstocker im Rahmen des Arbeitslosengeldes II werden;
denn dann zahlt die öffentliche Hand im Nachhinein die
Löhne, zumindest auf dem Niveau eines Mindestlohns.
({2})
Das müssen wir verhindern. Das ist eine Frage des Anstandes, aber auch der ökonomischen Vernunft. Insofern
hat die Lohnfindung als ein soziales Kriterium - auch
inhaltlich - unmittelbar etwas mit dem Vergaberecht und
der Wettbewerbsgerechtigkeit zu tun und ist nicht etwa
sachfremd. Deswegen habe ich Probleme mit den sogenannten sachfremden Kriterien. Ähnliches gilt bis zu einem gewissen Grad für ökologische Tatbestände und innovative Belange.
Die entscheidende Frage ist, wie wir damit umgehen.
Der Gesetzentwurf sieht eine Eins-zu-eins-Übernahme
der Formulierung aus den europäischen Richtlinien vor.
Danach könnte jeder, der öffentliche Aufträge vergibt,
die Lohnfindung, ökologische Kriterien und innovative
Belange in seine Ausschreibungstexte einbeziehen. Das
wäre dadurch gedeckt und stellte im Vergleich zu dem,
was bundesweit gilt, einen Fortschritt dar. Ich gehe sogar
so weit und sage: Wenn das Gesetz schon gelten würde,
hätten wir den skandalösen Vorgang bei der Vergabe des
Fahrdienstes des Deutschen Bundestages nicht; denn das
wäre dann gedeckt. Trotzdem muss man sich die Frage
stellen, ob das weit genug geht. Soll man es in das Belieben des jeweiligen öffentlichen Auftraggebers stellen, ob
er die Fragen nach angemessenen Löhnen und Wettbewerbsgerechtigkeit ernst nimmt oder nicht? Es wird sicherlich noch Diskussionen darüber geben, ob wir die
Tarifbindung nicht deutlich besser verankern können, als
es bislang im Gesetzentwurf vorgesehen ist. Das geht
noch ein Stück weiter. Der Kollege Walter Riester wird
gleich darauf seinen Schwerpunkt setzen. Aber ich will
deutlich machen, dass ich ausdrücklich dazu stehe.
Es gibt internationales Recht, das, wenn es von
Deutschland ratifiziert ist, in Deutschland verbindlich
ist. Das sind beispielsweise die Normen der Internationalen Arbeitsorganisation. 71 sind ratifiziert. Selbstverständlich müssen diese bei öffentlichen Vergaben, sowohl bei der direkten Arbeit als auch bei der gesamten
Wertschöpfungskette, berücksichtigt werden. Jeder von
Ihnen wird sagen: Es ist doch völlig selbstverständlich,
dass sich die Unternehmen an geltendes Recht halten. Bei internationalem Recht ist das nicht so selbstverständlich, vor allen Dingen nicht in den Köpfen. Wenn
es aber für alle hier im Parlament selbstverständlich ist,
dann wird auch nichts dagegen sprechen, das nicht nur in
der Begründung zu erwähnen - denn darin kommt es vor -,
Reinhard Schultz ({3})
sondern diese Klarstellung auch im eigentlichen Gesetzestext vorzunehmen. An Selbstverständlichkeiten wird
keiner Anstoß nehmen. Wenn aber einer das ablehnen
sollte, dann stellt sich die Frage, ob diejenigen, die das
ablehnen, versuchen, im deutschen Vergaberecht unter
der Rechtsverbindlichkeit von internationalem Recht
wegzutauchen. Wir werden diese Stunde der Wahrheit
erleben, aber ich bin da außerordentlich optimistisch.
Ich will zu den Fragen der städtebaulichen Verträge
und der kommunalen Zusammenarbeit aufgrund der begrenzten Zeit, die ich hier habe, jetzt nichts sagen. Ich
will nur darauf hinweisen, dass es Themen gab, die über
den Bundesrat oder auch über Parteien der Opposition an
uns herangetragen worden sind. Der Einrichtung eines
Registers von Unternehmen, die sich im Rahmen der
Vergabe schwerste Verfehlungen haben zuschulden
kommen lassen - Korruption, Nichteinhaltung von Gesetzen usw.; es handelt sich um die berühmten schwarzen Schafe -, stehen wir ausgesprochen offen gegenüber.
Ich persönlich - das sage ich als Berichterstatter könnte mir auch vorstellen, dass man sich dem Thema
der Vereinfachung durch die Präqualifizierung deutlich
nähert, weil es wirklich eine Vereinfachung wäre, wenn
die Qualifikation testiert würde und in einem Register
stünde. Demjenigen, der 25 Ausschreibungen innerhalb
einer Woche bearbeiten muss, könnte man sehr viel Arbeit ersparen. Auch in dieser Frage sind wir offen. Ich
würde mich darüber freuen, wenn wir am Ende zu einer
breit getragenen Vergaberechtsreform kommen würden.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Lötzer für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! 1999
hat der Bundestag schon einmal ein Vergabegesetz verabschiedet, das die öffentlichen Aufträge an die Zahlung
von Tariflöhnen gebunden hat. Dieses wurde im Bundesrat mit der Begründung blockiert, dass es Ländersache
sei. Acht Länder haben inzwischen Vergabegesetze beschlossen. Entstanden ist ein Flickenteppich mit unterschiedlichsten Regelungen: Die einen haben Kriterien
nur für die Bauindustrie, die anderen für alle Branchen,
die einen haben Kontrollen eingeführt, die anderen keine
Kontrollen, die einen haben Kontrollen wieder abgeschafft, bei den anderen gelten sie noch. Darüber hinaus
gibt es Kommunen, die auch sozial und ökologisch verantwortlich einkaufen wollen, unter anderem Neuss und
Düsseldorf. Diese beiden Städte sind nicht gerade rot
oder rot-grün regiert, erst recht nicht rot-rot. Sie kaufen
keine Produkte mehr, die mit Kinderarbeit hergestellt
worden sind. Der rot-rote Senat in Berlin wollte alle
Unternehmen verpflichten, Tariflöhne einzuhalten.
Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht dazu 2006
ausdrücklich festgestellt, dass Tariftreueregelungen die
Benachteiligung tariftreuer Unternehmen im Wettbewerb verhindern, dem Lohndumping entgegenwirken,
dem Erhalt wünschenswerter sozialer Standards dienen
und die Tarifautonomie stabilisieren. Das alles sind
Gründe, mit einer bundesweiten Regelung für fairen
Wettbewerb und Rechtssicherheit zu sorgen und gleiche
Bedingungen für alle zu garantieren.
({0})
- Ich komme dazu. - Sie, Herr Schultz, haben das Volumen angesprochen, eine bedeutsame Marktmacht, mit
der man auch Normen für soziale und ökologische Verantwortung von Unternehmen setzen kann. Sie haben es
mit Ihrem Entwurf in der Hand, diese Normen zu setzen
und festzulegen, ob in Zukunft der Anteil von Ökostrom
mehr als 0,5 Prozent betragen wird; Sie haben es in der
Hand, ob Produkte gekauft werden, für deren Herstellung Kinder in Steinbrüchen Indiens gearbeitet haben,
und Sie haben es in der Hand, ob zu Dumpinglöhnen geputzt oder Müll abgefahren wird. Wenn man diese Kriterien anlegt, dann ist Ihr Entwurf allerdings beschämend.
({1})
Sie legen keine verpflichtenden Kriterien fest. Sie schieben diese Verantwortung auf die Kommunen und Länder
ab. Diese sollen das auftragsbezogen regeln. Das einzig
Positive bei Ihnen - das sehen wir anders als Sie, Herr
Friedhoff - ist die Förderung kommunaler Zusammenarbeit sowie die Mittelstandsklausel. Wir fordern Sie,
Herr Schultz, deshalb auf, die Förderung von betrieblicher Ausbildung, von Langzeitarbeitslosen,
({2})
die ökologische Beschaffung, die Gleichstellung von
Frauen - genau - und den fairen Handel verbindlich in
das Vergabegesetz aufzunehmen.
({3})
Kommen wir zur Tarifautonomie und dem EuGHUrteil. Ja, der Europäische Gerichtshof hat nur allgemeinverbindliche Tarifverträge und einen gesetzlichen
Mindestlohn als Kriterium anerkannt. Das ist ein Urteil
in einer Serie von Urteilen, in denen die sozialen und demokratischen Grundrechte niedriger bewertet werden als
die Binnenmarktfreiheit von Unternehmen, mit Dumpinglöhnen Aufträge zu bekommen. Ein Skandal, wie
wir meinen, Frau Wöhrl!
({4})
Was machen Sie jetzt dagegen? Als Erstes wäre ein
gesetzlicher Mindestlohn fällig. Den führen Sie natürlich
nicht ein. Stattdessen verstecken Sie sich im Entwurf zur
Modernisierung des Vergaberechts in diesen Fragen hinter dem EuGH. Der EuGH zwingt Sie auch nicht, die Tariftreue fallen zu lassen. Auf nationaler Ebene könnten
Sie die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen erleichtern. Dafür wäre es sowieso höchste Zeit.
Beim Europäischen Parlament regt sich endlich Widerstand. Gestern hat der Beschäftigungsausschuss beschlossen, den Schutz der Tarifvertragsfreiheit in der
europäischen Entsenderichtlinie zu verankern und dies
demnächst im Europäischen Parlament zu behandeln.
Wir fordern Sie auf, dieses Anliegen im Europäischen
Rat zu unterstützen.
({5})
Der Europäische Gewerkschaftsbund tritt für eine soziale Fortschrittsklausel in Form eines Protokolls zu den
europäischen Verträgen ein, mit dem der Vorrang der
Grundrechte und Grundwerte vor den Binnenmarktfreiheiten von Unternehmen abgesichert wird. Werden Sie
in diesem Sinne in Brüssel vorstellig! Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit am gleichen Ort, das gehört auf der einen
Seite verbindlich ins Vergaberecht und auf der anderen
Seite in die europäischen Verträge. Nur so haben ein soziales Europa und eine Sozialunion Bestand.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Nun hat die Kollegin Kerstin Andreae für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch ich begrüße, dass wir bei der Reform des
Vergaberechts jetzt doch einen deutlichen Schritt weiterkommen. Das ist nicht erst seit gestern ein Thema. Die
Koalition hat es schon in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen. Jetzt, drei Jahre später, liegt uns ein Gesetzentwurf vor. Die Europäische Union hat von uns verlangt,
zu handeln. Wir sind keineswegs das erste Land, in dem
eine solche Reform gemacht wird.
Auf das Volumen der öffentlichen Auftragsvergabe von
Bund, Ländern und Kommunen ist eingegangen worden
sowie darauf, was der größte Einkaufszettel - darum
handelt es sich quasi - bedeutet und welche Verantwortung dahintersteht. Auf diese Verantwortung möchte ich
eingehen, weil sie für Bündnis 90/Die Grünen sehr wichtig ist.
Vorab noch Folgendes. Das Grundproblem des Vergaberechts ist die enorme Zersplitterung, die enorme Kompliziertheit. Sowohl was den Rechtsschutz der Auftraggeber, zum Beispiel der Kommunen, als auch was den
Rechtsschutz der Auftragnehmer, zum Beispiel der Mittelständler, angeht, bestehen Probleme.
Im Hinblick auf den Mittelstand begrüßen wir die Regelungen, die für die Fach- und Teillose gefunden worden sind. Es ist durchaus richtig, hier so zu handeln.
Aber Sie sollten sich noch einmal sehr genau anschauen,
was die Verbände in ihren Stellungnahmen im Hinblick
auf Rechtsschutz und Klarheit, Transparenz schreiben.
Dass der Rechtsschutz derzeit mangelhaft ist, haben wir
konstatiert; das ist auch von Ihnen beschrieben worden.
Rechtsschutz bedeutet natürlich auch mehr Transparenz
und Klarheit für die Unternehmen, die sich an solchen
Verfahren beteiligen wollen.
Man kann unterhalb der Schwellenwerte zwar im
Nachhinein klagen, aber dass es immer noch keinen Primärrechtsschutz gibt, also dass ein Mittelständler, der
sich in einem Verfahren nicht angemessen beteiligt fühlt,
keine Möglichkeit hat, in diesem laufenden Verfahren
„Stopp!“ zu sagen, ist nicht mittelstandsfreundlich. Sie
sollten überlegen, ob Sie nicht doch eine Möglichkeit sehen, hier mehr Rechtsschutz zu schaffen. Das würden
wir befürworten.
({0})
Im Übrigen unterstützen wir hier ausdrücklich die
Position der FDP. Das Präqualifizierungsverfahren ist
sinnvoll. Wir haben es auch in unserem eigenen Antrag
eingefordert.
Jetzt möchte ich zu den sogenannten vergabefremden
Kriterien kommen. Bei einem Auftragsvolumen von fast
300 Milliarden Euro im Jahr kann und darf sich der
Bund nicht aus der Verantwortung stehlen. Vielmehr
muss er an diesen Einkaufszettel, an diese Marktmacht
Kriterien knüpfen und verlangen, dass nach diesen Kriterien auch agiert wird.
({1})
Aus Sicht einer Umweltpartei ist es enorm wichtig,
dass der Bund hier als Vorbild vorangeht und im Bereich
seiner eigenen Beschaffungen klarstellt, welche ökologischen Kriterien bei der Vergabe öffentlicher Aufträge
angelegt werden. Der Bund soll sich bei seinen eigenen
Aufträgen klar positionieren, welche ökologischen und
sozialen Kriterien er zugrunde legt.
({2})
In Deutschland gilt das Subsidiaritätsprinzip. Damit
gehen wir konform, indem wir den Ländern und Kommunen die erforderliche Rechtssicherheit geben, wenn
sie diese Kriterien anlegen wollen. Heute stehen wir vor
folgender Situation: Wenn eine Kommune entscheidet,
dass sie ihren Marktplatz nicht mit Steinen aus ausbeuterischer Kinderarbeit pflastern will, dann kann sie das
zwar in die Auftragsvergabe hineinschreiben, muss aber
hoffen, dass niemand dagegen klagt. Diese Situation ist
unhaltbar, und deswegen ist es richtig, hier für den Auftraggeber - in diesem Falle für die Kommune - Rechtssicherheit zu schaffen.
({3})
Dass das Billigste weder das Wirtschaftlichste und
schon gar nicht das Beste ist und dass Billiges für andere
auch sehr teuer werden kann, liegt auf der Hand. Deswegen halten auch wir es für sehr wichtig, künftig im
Bereich der ILO-Kernarbeitsnormen, im Bereich der Tariftreue und im Bereich der Entlohnung sehr genau hinzuschauen, welche europakonformen Regelungen man
finden kann, damit hier auch die soziale Verantwortung
wahrgenommen werden kann. Unserer Ansicht nach
müssen die ILO-Kernarbeitsnormen hier stärker berücksichtigt werden. In diesem Punkt sollten Sie den Entwurf
nachbessern.
Da meine Redezeit abgelaufen ist, komme ich zu einem letzten Punkt. Sie haben hier einen Gesetzentwurf
auf den Weg gebracht, und dies ist heute die erste Lesung. In der Anhörung werden wir im Hinblick auf den
Mittelstand, aber auch im Hinblick auf die Rechtssicherheit und die ökologischen und sozialen Kriterien noch
sehr viele vernünftige und gute Anregungen bekommen.
Ich hoffe sehr, dass Sie diesen Gesetzentwurf nachbessern werden. Er ist nachbesserungsbedürftig. Das Vergaberecht muss insgesamt reformiert werden. Nutzen Sie
die Chance, die Sie jetzt haben!
Vielen Dank.
({4})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Georg
Nüßlein das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren!
Wir werden das komplexe und unübersichtliche
deutsche Vergaberecht vereinfachen und modernisieren. Dabei werden wir auf die mittelstandsgerechte Ausgestaltung, wie zum Beispiel die Aufteilung in Lose, besonders achten.
({0})
- Der Kollege Lämmel klatscht. Das steht in unserem
Koalitionsvertrag und ist nach wie vor richtig.
Für diese Novellierung des Gesetzes ist die Mittelstandsklausel, wie sie heute schon vielfach beschrieben
wurde, die Conditio sine qua non, also das, was dieses
Gesetz ausmacht. Es ist entscheidend, dass wir gerade
dem Mittelstand die Chance geben, sich vermehrt und
mit Aussicht auf Erfolg an Ausschreibungen zu beteiligen. Es geht also darum, in unserem Recht festzuschreiben, dass die Aufträge so zu portionieren sind, dass nicht
nur die Großen sie schlucken können, sondern dass auch
die Kleineren Happen davon abbekommen. Die Tatsache, dass sich bei mir als Berichterstatter - dies gilt
sicherlich auch für den Kollegen Schultz - die Mittelständler mit positiven Reaktionen und die Industrie mit
eher ablehnenden Reaktionen melden, zeigt, dass wir
hier auf einem richtigen Wege sind.
({1})
Eben hat die Kollegin Andreae das Thema Primärrechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte angesprochen. Ich verstehe das Interesse, das es hier gibt. 90 Prozent aller Aufträge liegen in ihrer Größenordnung
unterhalb dieser Schwelle. Insofern ist hier durchaus
Verständnis für das Anliegen des einen oder anderen aus
der Wirtschaft angebracht.
({2})
Ich sehe aber als aktiver Kommunalpolitiker auch die
andere Seite, also die des Auftraggebers, der nach dem
Haushaltsrecht ohnehin zur Sparsamkeit verpflichtet ist,
der den sekundären Rechtsschutz hinter sich oder - je
nachdem - vor sich sieht und der sich unter diesem Gesichtspunkt natürlich in einem sehr engen Korsett bewegt, das wir nicht noch enger schnüren sollten.
Ich meine, dass wir die politische Verantwortung stärken sollten und eher die Frage stellen sollten: „Wer wird
wie politisch kontrolliert?“, als die Frage: „Brauchen wir
an der einen oder anderen Stelle zusätzliche Vorgaben?“
Diese Vorgaben wären ja dann wiederum einer juristischen Kontrolle unterworfen. Bürokratieabbau in unserem Land funktioniert nur, wenn wir einerseits politische
Entscheidungsspielräume und Verantwortlichkeiten und
zugleich die politisch-demokratischen Kontrollmechanismen stärken, andererseits aber die Möglichkeiten zur
juristischen Nachprüfung da beschränken, wo sie nicht
unbedingt notwendig sind.
Wir können in dem Verfahren, in das wir heute eintreten, gerne darüber diskutieren, ob an der einen oder anderen Stelle mehr Transparenz geschaffen werden kann,
zum Beispiel indem im Anschluss an die Vergabe veröffentlicht wird, wer was zu welchen Konditionen bekommen hat. Damit wäre teilweise dem Genüge getan, was
die Wirtschaft fordert.
Im Bereich von Vergaben, die über der Schwelle liegen, wollen wir keinen Verhinderungsrechtsschutz, aber
auch keine Rechtsschutzverhinderung. Deshalb überlegen wir, wie man das Nachprüfungsverfahren entsprechend beschleunigen kann. Damit würde das ganze Vergabeverfahren auf mehr Effizienz getrimmt.
Wir müssen im Einzelnen auch noch einmal über das
Gebührensystem und über die Fristen, die in dem Zusammenhang geändert werden sollen, diskutieren. Das
sollte, wie ich meine, in enger Abstimmung mit der
Wirtschaft geschehen, um abzuklären, was hier letztlich
sinnvoll und machbar ist.
Ich merke an der Debatte, dass die vergabefremden
Kriterien auch hier im Plenum eine entscheidende Rolle
spielen. Ich gebe offen zu: In der Union gibt es darüber
eine heftige Diskussion. Man könnte es sich einfach machen und unter Verweis auf die einschlägigen EU-Richtlinien sagen: Das sind EU-Vorgaben. Aber auch das
zieht bei uns nicht so einfach. Es ist bei uns nach den Erfahrungen mit dem AGG natürlich die Befürchtung laut
geworden, dass es sich hierbei um ein weiteres EU-Oktroi eines ordnungspolitischen Sündenfalls handeln
könnte. Viele haben gefragt: Ist es denn ordnungspolitisch geboten, was hier gemacht wird? Ist das wirklich
ein Beitrag zur Entbürokratisierung, und wird dadurch
mehr Transparenz hergestellt? Oder führt das nicht
schlussendlich zu mehr Willkür? Ich meine allerdings,
dass das Ganze so allgemein, wie es jetzt formuliert ist,
als Kannvorschrift und beschränkt auf drei Kriterien,
von uns akzeptiert werden kann. Ich rate nicht dazu, hier
noch weitere Konkretisierungen vorzunehmen.
Zu der Litanei an Einfällen, die Sie hier vorgetragen
haben, Frau Kollegin Lötzer, kann ich nur sagen: Gnade
uns Gott! Wenn wir all das aufnehmen, was Ihnen vorschwebt und was der eine oder andere noch an Ergänzungen wünscht, bekommen wir am Ende des Tages sicherlich kein Gesetz hin.
({3})
Eine Kannvorschrift ist meines Erachtens nicht nur
deshalb die richtige Lösung, weil sie sich in den EURichtlinien wiederfindet, sondern auch, weil hierdurch
der Spielraum der Auftraggeber entsprechend größer
wird. Die entsprechenden Auftraggeber sind ja vielfach
einer politisch-demokratischen Kontrolle unterworfen.
Wenn nun eine Stadt längere Zeit nicht auf ihren Haushalt aufpasst und nach anderen als nach Haushaltskriterien entscheidet, dann haben am Schluss die Verantwortlichen die Konsequenz zu tragen, indem sie zum
Beispiel abgewählt werden.
Bei den Themen Inhouse-Vergabe und interkommunale Kooperation, Herr Kollege Friedhoff, schlagen auch
in meiner Brust zwei Herzen; das gebe ich ganz offen zu.
({4})
Auf der einen Seite ist es natürlich schon problematisch,
wenn es öffentlichen Auftraggebern durch Inhouse-Vergaben oder interkommunale Kooperation möglich ist,
Aufträge vom Vergaberecht insgesamt auszunehmen.
Auf der anderen Seite gibt es aber das Organisationsrecht der Kommunen. Vielleicht ist im Hinblick darauf,
dass es hier um Organisationsrecht geht, noch einiges zu
verändern. So geht es hier in erster Linie darum, Bürgermeistern zu ermöglichen, miteinander interkommunale
Kooperationen einzugehen, und nicht darum, sich dem
Wettbewerb zu verschließen und aus der Verantwortung
zu stehlen. Unter dem Gesichtspunkt sollte man noch
einmal über die entsprechenden Regelungen diskutieren.
Es ist wichtig, dass wir das im Verlauf des sich an die
heutigen Beratungen anschließenden Prozesses tun.
Bei den städtebaulichen Gestaltungsverträgen haben
wir dem Anspruch der Kommunalpolitik Genüge geleistet. Es kann nicht sein, dass städtebauliche Gestaltungsverträge aufgrund eines schiefen, eines aus meiner Sicht
- das ist meine persönliche Meinung - nicht korrekten
Urteils plötzlich in ein rechtliches Umfeld geraten, in
dem sie nicht mehr möglich sind. Damit würden wir den
Kommunalpolitikern ein wichtiges Instrument der Städtegestaltung aus der Hand nehmen. Das wäre falsch.
Deshalb ist es richtig, dass wir hier für Klarstellung sorgen.
({5})
Insgesamt ist es ein schwer erkämpfter, ausgewogener
Vorschlag, der uns vorliegt. Mit kleineren Nachbesserungen im parlamentarischen Verfahren können wir als
Große Koalition auch und gerade für den Mittelstand,
der es in diesem Land bitter nötig hat, etwas voranbringen.
Vielen herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Walter Riester für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Natürlich muss eine Vergabeordnung Klarheit
schaffen; diejenigen, die ausschreiben, müssen davon
ausgehen können, dass es Bestand hat.
Mehrere Redner haben darauf hingewiesen, dass einer
der zentralen Punkte der Auseinandersetzung die Frage
war, ob vergabefremde Richtlinien Einfluss auf die Vergabeordnung haben sollen, und wenn ja, mit welcher
Qualität. Ich zitiere aus der Begründung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf, welche Lösung gefunden worden
ist - die Minute gönne ich mir gerne -:
Gemäß § 97 Abs. 4 GWB sind zum Wettbewerb um
öffentliche Aufträge alle Unternehmen zugelassen,
welche das nötige Fachwissen sowie die erforderliche wirtschaftliche und technische Leistungsfähigkeit mitbringen, um den vorgesehenen Auftrag zu
erfüllen, und insofern „geeignet“ sind. Hierzu zählt
insbesondere die Zuverlässigkeit, die davon ausgeht, dass alle Unternehmen die deutschen Gesetze
einhalten. Dazu zählen auch die für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträge wie auch die Entgeltgleichheit von Männern und Frauen. Auch die
international vereinbarten Grundprinzipien und
Rechte wie die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation zum Verbot der Kinderund Zwangsarbeit sind zwingender Bestandteil unserer Rechtsordnung und damit der Vergaberegeln.
In Deutschland agierende Unternehmen, die diese
Grundprinzipien und Rechte nicht beachten, müssen prinzipiell aufgrund fehlender Zuverlässigkeit
vom Wettbewerb um öffentliche Aufträge ausgeschlossen werden.
({0})
Herr Nüßlein, Sie sind ja Doktor der Rechtswissenschaften. Es ist sicherlich kein vergabefremdes Kriterium, deutsches Recht einzuhalten.
Ich zitiere weiter:
Im Rahmen der Wirtschaftlichkeit können weitere
soziale, umweltbezogene oder innovative Aspekte
bei der Vergabe Berücksichtigung finden. Dazu gehört insbesondere der Klimaschutz - zum Beispiel
durch Beachtung von Lebenszykluskosten und Energieeffizienz.
Jetzt schauen wir einmal, was dazu im Gesetzentwurf
steht. Dort heißt es:
Aufträge werden an fachkundige, leistungsfähige
und zuverlässige Unternehmen vergeben. Für die
Auftragsausführung können zusätzliche Anforderungen an Auftragnehmer gestellt werden, die insbesondere soziale, umweltbezogene oder innovative Aspekte betreffen, wenn sie im sachlichen
Zusammenhang mit dem Auftragsgegenstand stehen und sich aus der Leistungsbeschreibung ergeben.
Nun habe ich darüber nachgedacht, warum diese
enorme Diskrepanz zwischen dem Text im GesetzentWalter Riester
wurf und dem offensichtlichen Willen des Gesetzgebers
besteht. Als ich einen Abgeordneten dieses Hauses gestern gefragt habe, sagte er: Na ja, das kennen Sie doch.
Die Begründung geht unter; die liest niemand mehr.
Letztlich bleibt das Gesetz. - Das mag ich nicht glauben.
Man könnte auch annehmen, dass die zwingende Einhaltung der Rechtsordnung bei der Frage der Kernarbeitsnormen schlicht vergessen worden ist. Das mag ich, da
Juristen daran beteiligt waren, eigentlich auch nicht
glauben. Man könnte auch davon ausgehen, dass es einfach unterstellt wird. Das hielte ich für fahrlässig. Ich bin
mir nämlich sicher, dass darüber jedes Ausschreibungsverfahren gekippt werden kann, wenn wir als Gesetzgeber dies so verankern.
Es gibt bloß eine Lösung: Nehmen wir doch bitte den
Text der Begründung ins Gesetz auf!
({1})
Dann gibt es die notwendige Klarheit über das, was wir
wollen, und die Kommunen haben die Sicherheit. So
einfach würde ich das als gelernter Fliesenleger machen.
Ich bin kein Jurist; aber ich denke, dann kann eigentlich
nichts mehr schiefgehen.
({2})
Bitte nehmen Sie - ich bin nicht in dem Fachausschuss das, was wir wollen und was in der Begründung steht,
ins Gesetz auf! Dann wissen es die Kommunen, die Auftragnehmer und die Bürger genau. Auch das gehört dazu,
wenn man den Verdacht, hier sei schlampig gearbeitet
oder getrickst worden, was Politikverdrossenheit auslösen würde, wegbekommen will.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/10117, 16/9636 und 16/9092 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gentechnikfreie Regionen stärken - Bundes-
regierung soll Forderungen aus Bayern auf-
nehmen und weiterentwickeln
- Drucksache 16/10202 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Rahmenbedingungen für Milchmarkt verbessern - Faire Erzeugerpreise für Milch unterstützen
- Drucksachen 16/9601, 16/9869 Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Röring
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Kirsten Tackmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Bayern tut sich was, und in Bayern liegen die Nerven blank.
Dass die Nerven blank liegen, erkennt man daran, dass
in Bayern munter gelogen wird, dass Agrarminister
Seehofer lügend durch das Bundesland Bayern zieht und
dort behauptet, nicht er habe Genmais MON 810 zugelassen, sondern die Grünen, dass munter Anträge gestellt
werden, man am Ende aber so feige ist, hier nicht einmal
einen CSUler ans Redepult zu holen und reden zu lassen,
Herr Bleser.
({0})
Das lassen Sie mich gleich vorwegschicken. Ich weiß,
die Nerven liegen bei Ihnen blank.
Man sollte sich der Wahrheit wegen einmal ein paar
Zitate anschauen. Wir haben diesen Antrag auch deshalb
hier eingebracht, weil wir meinen, dass die Leute ein
Recht darauf haben, endlich zu erfahren, wozu die CSU
und die CDU eigentlich stehen. Zitat aus dem Februar
2007 von Seehofer hier im Deutschen Bundestag:
Ich habe noch keine einzige gentechnisch veränderte Pflanze zugelassen.
Wahr ist: Ende 2005 hat dieser Agrarminister unter dieser Regierung MON 810, einen gentechnisch veränderten Mais, zum Anbau in Deutschland zugelassen. Daran
gibt es nichts zu rütteln.
({1})
Dazu können Sie gern etwas sagen, Herr Bleser, weil die
CSUler sich nicht trauen. Aber mich interessiert gar
nicht, was Sie sagen wollen;
({2})
mich interessiert, was der Minister und was die CSU an
dieser Stelle sagt. Sie haben MON 810 zum Anbau zugelassen; da können Sie noch so viel über diese oder jene
Verordnung sagen. Ich weiß es genau; denn früher haben
Sie und andere mich immer kritisiert, dass ich es hier
nicht zugelassen habe. Sie werden ja wohl damals nicht
gelogen haben, Herr Bleser.
({3})
Zweites Zitat für die, die sich fragen, was nun eigentlich wahr ist. Horst Seehofer am 16. Dezember 2005,
also zu der Zeit, als er MON 810 zugelassen hat, in der
Berliner Zeitung:
„Wir wollen die Gentechnik befördern.“ … „Das
muss auch in Deutschland zulässig sein“, sagte der …
Politiker. Bislang werde den Bauern der Anbau nahezu unmöglich gemacht. Deswegen werde er
- Horst Seehofer das von Rot-Grün beschlossene Gentechnikgesetz
ändern.
Daran kann man doch nichts deuteln: CSUler will Gentechnik fördern.
({4})
Lassen Sie mich noch ein Zitat von Josef Miller, dem
bayerischen Landwirtschaftsminister, anführen, der gesagt hat: Es war Frau Künast, die MON 810 in Deutschland zugelassen und eingeführt hat. - Wahr ist: In der
ersten Hälfte des Jahres 1998 hat in einem Gesundheitsrat in Brüssel der damalige Gesundheitsminister Horst
Seehofer dem Import von MON 810 als Lebensmittel
und als Futtermittel nach Europa und damit nach
Deutschland zugestimmt, weil er die Gentechnik fördern
wollte. Wahr ist: Ende 2005 - zu diesem Zeitpunkt war
er als Agrarminister dafür zuständig - hat Horst
Seehofer MON 810 als Saatgut zugelassen. Deshalb haben die Bauern landauf, landab - auch in Bayern - heute
das Problem, dass ihre Äcker und ihre Ernten verunreinigt werden durch MON 810, CSU-Saatgut.
({5})
Ich kann Ihnen nur sagen: Wer einmal lügt, dem glaubt
man nicht.
({6})
Ich glaube, die CSU hängt dem Sankt-Florian-Prinzip
an. Nach dem Interview von Horst Seehofer am Montag
dieser Woche in der Süddeutschen Zeitung ist mir sofort
folgender Spruch eingefallen: Oh heiliger Sankt Florian,
verschon’ mein Haus, zünd’ andre an.
({7})
Genau das hat Horst Seehofer gesagt: in Bayern nein,
woanders ja. Meine Damen und Herren, wenn etwas
Schädliches auskreuzt und wenn dadurch den Bauern die
Ernte verhagelt wird, dann passiert das in allen 16 Bundesländern der Republik.
({8})
Heute müssen Sie sagen, was Sie eigentlich wollen.
In Bayern sprechen Sie von einer gentechnikfreien Zone.
Wir haben uns die Mühe gemacht, alle entsprechenden
Zitate von Seehofer, Söder und Huber aufzuschreiben.
Sie finden sich in unserem Antrag wieder. Jetzt können
Sie hier sagen, ob Sie die gentechnikfreie Zone wirklich
wollen. Es reicht nämlich nicht, dass Sie das nur in Bayern beschließen. Wirklich Eindruck bei den anderen
26 Mitgliedstaaten der Europäischen Union und bei der
Kommission in Brüssel machen Sie, wenn Sie hier
Manns und Frau genug sind, unserem Antrag, der Zitate
von Ihnen enthält, zuzustimmen und nach Brüssel und in
die anderen Hauptstädte die Botschaft zu schicken: Ja,
wir wollen, dass sich die Bundesländer zur gentechnikfreien Zone erklären. Sagen Sie es hier, und ducken Sie
sich nicht weg!
({9})
Sagen Sie hier, dass Sie gentechnikfreie Zonen auch
finanziell unterstützen wollen, damit dort regionale Tourismus- und Wirtschaftskonzepte entwickelt werden
können! Machen Sie es nicht wie Ramsauer und andere
in Traunstein, die sich dort rühmen, was sie alles tun.
Wissen Sie, was mir an Ihrer Zeitungsanzeige auffiel?
Erst wird ein bisschen an der SPD herumkritisiert - dazu
kann Herr Kelber selber etwas sagen -, und dann heißt
es: CSU - wir reden nicht, wir handeln.
({10})
Jedes darin enthaltene Datum ist aus dem Jahr 2008. Warum? Weil Sie sich 2008 sozusagen an die Bürger mit
Lügen heranschleimen. Aus den Jahren 2005, 2006 und
2007 können Sie vor dem Schließen der Wahllokale am
Sonntag keine Zitate nennen, weil Sie in Wahrheit auf
dem Schoß der Gentechnikkonzerne sitzen.
Wenn Sie wirklich der Meinung sind, dass es gentechnikfreie Zonen geben soll und wenn Sie die Bauern an
der Stelle wirklich schützen wollen, dann stimmen Sie
dem Antrag, der auf Ihren eigenen Zitaten beruht, zu und
eiern nicht herum!
({11})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Peter Bleser
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
wollte eigentlich am Anfang auf die Ausführungen von
Frau Künast reagieren. Aber ich habe festgestellt, dass
meine vorbereitete Rede exakt zu dem passt, was Frau
Künast gesagt hat. Deswegen kann ich auf den Beitrag
von Frau Künast im Rahmen meiner vorgesehenen Rede
eingehen.
({0})
Vorher möchte ich aber Bundesminister Seehofer entschuldigen, Frau Künast. Er hätte sich dieser Debatte gestellt, aber er ist in Meißen bei der Agrarministerkonferenz der Länder und debattiert dort über den Health
Check. Das ist sehr wichtig, deswegen kann er nicht anwesend sein.
({1})
Jetzt aber zum Thema. Frau Künast, wir haben monatelang um ein neues Gentechnikgesetz gerungen. Wir haben mit allen interessierten Gruppen diskutiert und ihre
Vorschläge geprüft. Wir haben auch die Wissenschaftler
zurate gezogen. Wir haben dann ein Gentechnikgesetz
verabschiedet, Frau Künast, das alle diese Interessen berücksichtigt. Dieses Gentechnikgesetz, das wir im Frühjahr dieses Jahres verabschiedet haben, ist eine Verbesserung des Gentechnikgesetzes, das Sie 2004 unter Ihrer
Federführung hinterlassen haben.
({2})
Dieses Gentechnikgesetz, Frau Künast - jetzt sollten Sie
zuhören, denn Sie können etwas lernen; Sie haben ja gerade von Verlogenheit gesprochen -, war die rechtliche
Grundlage für die zwingende Zulassung von MON 810.
Das wissen Sie ganz genau.
({3})
- Nein.
Warum machen Sie denn heute diesen Zirkus? Sie haben es mehrfach gesagt: Es ist Wahlkampf. Zu Ihren Versammlungen in Bayern kommt niemand. Deswegen belästigen Sie den Bundestag mit solchen überflüssigen
Anträgen.
({4})
Meine Damen und Herren, Sie fordern gentechnikfreie Zonen, aber Sie wissen genau, dass dies nach EURecht nicht möglich ist.
({5})
In der EU-Freisetzungsrichtlinie heißt es, dass gentechnisch veränderte Produkte national weder verboten noch
eingeschränkt werden dürfen. Diese EU-Freisetzungsrichtlinie, Frau Künast - ich muss Sie noch einmal um
Aufmerksamkeit bitten -, haben Sie 2001 - da waren Sie
an der Regierung - in Brüssel auf den Weg gebracht.
Unter Stimmenthaltung der Bundesregierung, der Sie
angehört haben, ist diese Freisetzungsrichtlinie damals
in Recht und Gesetz umgewandelt worden.
({6})
- Sie haben es ermöglicht. Hätten Sie mit Nein gestimmt, wäre die Richtlinie nicht gekommen.
({7})
Sie haben alle Rechtsetzungen vorgenommen, in
Deutschland und in Europa, die Sie jetzt selber bekämpfen.
({8})
Das ist scheinheilig, das ist unwahrhaftig. Das ist ein Belügen des Wählers. Das muss hier in aller Klarheit gesagt werden.
({9})
Kollege Bleser, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höfken?
Natürlich. - Bitte schön.
Es ist die Unwahrheit, wenn Sie sagen, dass Sie die
Gesetze verbessert haben. Sie haben ganz im Gegenteil
die gute fachliche Praxis nicht zugelassen; das können
die Kollegen der SPD hier bestätigen. Ebenso wenig
- auch heute nicht - ist die Zulassung von MON 810
zwingend gewesen; diese Sortenzulassung hat Minister
Seehofer vielmehr als erste Amtshandlung erteilt.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie wissen, was ich hier in
Händen halte. - Dies ist Honig aus der Gegend um
Augsburg, wo der Freistaat Bayern den Honig „vergiftet“, muss man sagen.
({0})
Insofern muss man ganz klar sagen: Der Freistaat Bayern steht -
Kollegin Höfken, stellen Sie bitte Ihre Frage.
Wissen Sie, dass der Freistaat Bayern gegen die Imker und gegen diejenigen steht, die in der Landwirtschaft
auf die Befruchtungsleistung der Bienen angewiesen
sind? Wissen Sie auch, dass der Freistaat Bayern diese
Imker verklagt und vertrieben hat? Das dokumentieren
sie mit ihren Demonstrationen in München oder in
Bonn.
Meine liebe Frau Kollegin Höfken, wir haben uns an
dieser Stelle schon des Öfteren darüber unterhalten, aber
ich muss diese Frage - es war ja eher eine Wortmeldung zurückweisen, weil Sie wissen, dass Gerichtsurteile vorliegen, die genau festlegen, was von dem, was Sie gerade als Vorwurf vorgebracht haben, richtig ist und was
nicht. Diese Urteile haben klar belegt, dass hier die
Rechtshandlung der bayerischen Landesregierung richtig war.
Im Übrigen passt auch Ihre Frage in meinen Redetext;
ich habe das alles vorausgesehen. Sie haben gesagt, dass
wir mit dem Gentechnikgesetz die gute fachliche Praxis
festgelegt haben. Das stimmt.
({0})
Es gab bis zum Frühjahr dieses Jahres keine Abstandsregelungen für Mais.
({1})
Wir haben gesagt, dass wir die Forderung der Wissenschaft nach 50 Metern Abstand, damit keine Vermischung stattfindet, um den Faktor drei erhöhen, und haben dann 150 Meter für konventionellen Mais und
300 Meter für ökologisch angebauten Mais vorgesehen.
Meine Damen und Herren, wir haben auch das Standortregister beibehalten. Man kann durchaus fragen, ob
dies unter Datenschutzgesichtspunkten richtig ist. Jeder
kann heute im Internet sehen, wo gentechnisch verändertes Pflanzengut angebaut wird, sei es Mais oder anderes.
({2})
- Das liegt an einem Kompromiss, den wir gefunden haben und den wir selbstverständlich mittragen. Ich habe
aber auch gesagt: Man kann sich fragen, ob das in datenschutzrechtlicher Hinsicht richtig ist. Aber das ist Gesetz; insofern kann das jeder erfahren.
({3})
Wir haben die Haftungsregel nicht verändert. Wir haben es dabei belassen, dass nach BGB gehaftet wird.
Aufgrund der Abstände sind wir aber sicher, dass es
nicht zu einem Haftungsfall kommen wird.
Wir haben auch die Möglichkeit zur Produktunterscheidung eingeführt. Wer Lebensmittel mit dem Etikett
„ohne Gentechnik“ kennzeichnen will, der kann das tun.
Auch das war ein Kompromiss innerhalb der Koalition.
Wir wären viel schärfer vorgegangen. Wir hätten auch
Zusatzstoffe wie Enzyme oder Vitamine ausgeschlossen.
({4})
Jetzt kann jeder entscheiden, ob er die Kennzeichnungsmöglichkeit nutzt oder nicht. Damit kann wiederum der
Verbraucher entscheiden, ob er solche Lebensmittel
kauft oder nicht. Das ist demokratisch. Was kann man
denn mehr tun?
({5})
Kollege Bleser, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kotting-Uhl?
({0})
Ja, bitte.
Herr Kollege, wollen Sie mir und den anderen Kolleginnen und Kollegen in diesem Parlament bestätigen,
dass Sie daran glauben, dass sich eine Biene freiwillig
auf ein Gebiet beschränkt, das durch einen Abstand von
150 Metern zum anderen Gebiet gekennzeichnet ist?
({0})
Reicht dieser Abstand Ihrer Meinung nach aus, um dem
Naturschutz Genüge zu tun?
Liebe Kollegin, ich glaube, ich muss doch ins Detail
gehen. Es ist erwiesen, dass Pollen, die von gentechnisch
veränderten Pflanzen stammen, inaktiv sind. Sie müssen
nicht gekennzeichnet werden.
({0})
Insofern gibt es keinen Grund, diese Produkte auszugrenzen. Aus und fertig!
({1})
Man muss diese neue Technologie einmal im Grundsatz beleuchten. Bei der Roten Gentechnik hatten wir damals eine ähnliche Situation: sehr viel Skepsis, sehr viel
Angst und sehr viele Sorgen. Die Rote Gentechnik wird
heute von allen akzeptiert. Sie ist sehr segensreich, weil
wir damit erblich bedingte Krankheiten entdecken und
entsprechende Medikamente entwickeln können.
Kollege Bleser, es gibt weitere Wünsche nach Zwischenfragen.
Ich möchte den Gedanken gerne zu Ende führen; danach gerne.
Wir haben die Weiße Gentechnik, die mittlerweile
selbst bei den Grünen Akzeptanz findet; von den Linken
habe ich noch nichts dazu gehört. Auch sie war umstritten. Ich will es einmal auf den Punkt bringen: 95 Prozent
des Vitamin C, das in fast allen Nahrungsmitteln enthalten ist, ist gentechnisch erzeugt worden.
({0})
80 Prozent der Lebensmittel enthalten Substanzen, die
aus der Weißen Gentechnik stammen. Das alles ist akzeptiert.
Man kann noch weiter gehen. Auch bei der Grünen
Gentechnik können Sie die meisten Nahrungsmittel heranziehen. Im Produktionsprozess der meisten Nahrungsmittel kommt Grüne Gentechnik zum Einsatz. Die
Futtermittel aus den Vereinigten Staaten und Südamerika
sind zu 80 Prozent gentechnisch verändert und werden
seit zwölf Jahren in Deutschland, in Europa, überall eingesetzt. Sie alle essen diese Produkte ganz selbstverständlich, wenn Sie irgendwo im Urlaub sind, ebenso in
Deutschland.
Hier wird Panik gemacht. Das ist das Ziel dieser Debatte. Das weisen wir zurück.
({1})
Kollege Bleser, gestatten Sie weitere Zwischenfragen? Im Moment melden sich die Kollegin Höfken, die
Kollegin Happach-Kasan und die Kollegin Kurth.
({0})
Frau Präsidentin, ich habe mir für heute Abend nichts
vorgenommen. Insofern bitte, gerne.
({0})
Dann beginnen wir mit Frau Höfken.
Ich denke, dass Sie bis heute nicht verstanden haben,
worum es bei der Agrogentechnik geht. Es geht nicht um
geschlossene Systeme, sondern um Freisetzungen.
Wissen Sie, dass das Gericht in Augsburg entschieden
hat, dass Honig aus dem Umfeld des Anbaufeldes von
MON 810 nicht verkehrsfähig ist und auf die Sondermülldeponie gebracht werden muss? Das gilt natürlich
nicht nur für den Anbau in Bayern, sondern überall. Ist
es tatsächlich das Ziel Ihrer Politik, die Erzeugung des
Produktes Honig durch Imkereien in Deutschland völlig
unmöglich zu machen?
Das kann ich kurz beantworten - Sie wollen auf diesem Punkt bis zum Exzess herumreiten -: Es gibt Gerichtsurteile, die das Gegenteil aussagen.
({0})
Das braucht man hier im Parlament nicht zu bewerten.
Ich teile Ihre Auffassung zu diesem Thema überhaupt
nicht.
Darf ich der Kollegin Happach-Kasan das Wort zu einer Zwischenfrage geben?
({0})
Ja.
Lieber Kollege Bleser, Sie haben ja schon dargestellt,
dass die Züchtungsmethode Grüne Gentechnik weltweit
auf 114 Millionen Hektar angewandt wird und dass wir
alle mit den Produkten der Grünen Gentechnik inzwischen vertraut sind. Vor diesem Hintergrund ist sehr
wohl davon auszugehen, dass sich diese Züchtungsmethode auch in Deutschland durchsetzen wird.
Kollegin Höfken hat Ihnen den Fall eines Imkers aus
Bayern vorgetragen, der jetzt seinen Honig entsorgen
muss. Dem ist vorausgegangen -
Kollegin Happach-Kasan, ich muss auch Sie bitten,
eine Frage zu stellen.
({0})
Ich stelle auf jeden Fall eine Frage. Aber wenn Frau
Höfken hier sozusagen Demonstrationsmaterial mitbringen kann, dann darf ich vielleicht schlicht und ergreifend
sagen, worauf es mir ankommt.
Sie haben zu Recht festgestellt, dass es zum Tatbestand „Pollen von gentechnisch veränderten Pflanzen in
Honig“ verschiedene Gerichtsurteile gibt. In Brandenburg sagt man, es sei unerheblich, und in Augsburg
kommt man zu dem Urteil, der Honig wäre nicht verkehrsfähig. Können Sie mir erklären, warum es in Augsburg beispielsweise von der LfL, die ja den gentechnisch
veränderten Mais angebaut hat, keinen Widerspruch gegen dieses Gerichtsurteil gegeben hat, das meines Erachtens inhaltlich in jedem Falle falsch ist? Das wird ja auch
durch das Gerichtsurteil in Brandenburg bestätigt. Können Sie mir erklären, warum auch der Imker, der genau
wusste, dass er, wenn dieses Gerichtsurteil Bestand hat,
seinen Honig nicht verkaufen kann, keinen Widerspruch
eingelegt hat? Könnte es sein, dass genau dieses demonstriert werden sollte, was jetzt demonstriert wird?
({0})
Sind Sie mit mir der Auffassung, dass der Freistaat Bayern für diese zusätzlichen Kosten, die dem Imker entstanden sind, aufkommen muss, weil der Freistaat Bay19058
ern es versäumt hat, gegen das Urteil in Augsburg
Widerspruch einzulegen?
({1})
Liebe Kollegin Happach-Kasan, Ihre Vermutungen
kann man jetzt teilen oder nicht. Gerichtsurteile zu kommentieren, ist nicht Aufgabe des Parlaments. Ihre Vermutungen könnten so zutreffen. Ob das dann im Einzelfall so war, wage ich hier nicht letztlich zu bestätigen.
Ich kann nur eines sagen - das kann man, glaube ich,
auch an Ihrer Frage ablesen -: Die Grünen haben sich
auf wenige Angstthemen beschränken müssen. Nachdem die Grünen die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr mitbeschlossen haben, ist ihnen das Thema Friedenspolitik entglitten.
({0})
Bei der Kernenergie gibt es in der Bevölkerung eine Veränderung der Meinung. Die Grüne Gentechnik ist das
einzige Thema mit Verängstigungspotenzial, das man
noch hat und woraus man politisches Kapital zu schlagen versucht.
({1})
Insofern ist das aus wahltaktischen Gründen sogar verständlich.
So, wir wollten in der Reihenfolge fortfahren.
Kollege Bleser, ich habe jetzt noch zwei Zwischenfragen gesehen: die Kollegin Kurth und die Kollegin Behm.
Lassen Sie diese Fragen noch zu?
Ich hatte nur neun Minuten Redezeit, aber das macht
ja nichts.
Inzwischen haben Ihnen die Kolleginnen fast zur Verdoppelung Ihrer Redezeit verholfen. - Kollegin Kurth.
Herr Kollege, ich möchte Sie jetzt fragen - der Minister kann ja nicht anwesend sein; Sie haben ihn entschuldigt -, ob Sie mir, nachdem Sie dargelegt haben, dass die
Risiken der Grünen Gentechnik abschätzbar sind und
dass man sie beherrschen könne, erklären können, warum der Herr Minister dann vor wenigen Tagen in der
Süddeutschen Zeitung verkündet hat, dass er durchaus
für die Gentechnik sei, nur in Bayern möchte er sie nicht
anwenden.
({0})
Sie werden sich nicht wundern, dass ich auch diese
Frage erwartet habe. Ich habe auch die Listen mitgebracht. In Bayern werden auf 9,92 Hektar 0,312 Prozent
der gentechnisch veränderten Pflanzen in Deutschland
angebaut. Insofern gibt es in Bayern de facto keine
Grüne Gentechnik. Dass man dieses Thema in diesen
Zeiten politisch aufgreift, kann ich verstehen. Wir sind
aber hier im Deutschen Bundestag und haben eine Verpflichtung - ({0})
- Ich unterstütze die CSU sehr wohl im Wahlkampf.
Aber ich sage Ihnen auch, dass ich die Bedürfnisse in
Bayern, diese Regelung anzustreben, für nicht sehr groß
halte.
Ich glaube, wir dürfen uns auch nicht in die Situation
begeben, dass wir hier auf Bundesebene und auf europäischer Ebene Recht setzen. Ich habe vorhin geschildert, wer diese Rechtsetzung im Wesentlichen vorgenommen hat. Das waren Ihre Fraktion
({1})
und der damalige Koalitionspartner. Wir müssen europäisches und deutsches Recht in der Gänze anwenden
und nicht regional unterschiedlich. Das ist meine Position dazu.
({2})
Die nächste Zwischenfrage könnte gleich die Kollegin Behm stellen, wenn Sie das zulassen.
({0})
Ja, bitte, natürlich. Ich habe doch gesagt, dass ich Zeit
habe.
Herr Kollege Bleser, ist Ihnen bekannt, dass der Molkereikonzern Campina für seine Milchprodukte der
Marke Landliebe zukünftig gänzlich auf Sojafett verzichten wird und die Futtergrundlage auf garantiert
gentechnikfreies europäisches Futter umstellen wird?
Würden Sie mir zustimmen, dass es für deutsche Landwirte ein großer Wettbewerbsvorteil wäre, wenn es in
Deutschland entsprechende gentechnikfreie Regionen
geben würde?
({0})
Frau Kollegin Behm, ich habe in meiner Rede vorhin
gesagt, dass wir diese Kennzeichnungsmöglichkeit geschaffen haben. Sie wäre noch schärfer abgegrenzt
worden, wenn es nur nach uns gegangen wäre. Diese
Möglichkeit haben wir ausdrücklich zu dem Zweck geschaffen, dass sich am Markt herausstellt, welche Form
der Produktion Akzeptanz findet und welche nicht. Ich
habe auch gesagt: Das ist demokratisch. Insofern begrüße ich es, wenn Unternehmen diese Möglichkeiten
nutzen. Wir werden dann feststellen, wie die Produkte
am Markt angenommen werden. Wir werden auch feststellen, wie Analysen die Wahrhaftigkeit solcher Kennzeichnungen bestätigen.
({0})
Kollege Bleser, ich hätte jetzt noch eine Wortmeldung, nämlich der Kollegin Schieder aus der SPD-Fraktion. Sie müssen jetzt entscheiden.
({0})
Ich bin geneigt, sie als letzte Zwischenfragerin aufzurufen.
Wollen wir die Zwischenfragen danach beenden?
Diese Zwischenfrage lassen wir noch zu.
Kollegin Schieder, bitte.
Herr Kollege Bleser, wie Sie wissen, komme ich aus
Bayern. Ich bin über Ihre Einlassungen ein bisschen verwundert; denn in Bayern erzählt die CSU seit Monaten,
dass sie die Bevölkerung vor der Grünen Gentechnik
schützen wird, dass man keine Grüne Gentechnik haben
will und dass man die rechtlichen Voraussetzungen dafür
schaffen will. Sie stellen es jetzt ganz anders dar und sagen: Dafür habe ich in Wahlkampfzeiten Verständnis.
({0})
- Das hat er gerade gesagt.
({1})
Darf ich Ihre Einlassungen jetzt so interpretieren, dass
sich die Bevölkerung in Bayern eben nicht darauf verlassen kann, dass die Union dafür sorgen wird, dass es ein
gentechnikfreies Bayern gibt?
({2})
Ich habe dazu schon gesprochen. Ich habe gesagt,
dass die Anbaufläche in Bayern verschwindend gering
ist und dass sich das Problem dort insofern gar nicht
stellt.
({0})
Ich habe auch gesagt - dabei bleibe ich -, dass wir die
Rechtsetzung auf europäischer und auf Bundesebene in
allen Regionen zu befolgen haben. Der Antrag aus Bayern richtet sich an die Europäische Union; dort soll eine
andere Rechtsetzung vorgenommen werden. Es wird
sich herausstellen, ob dies möglich ist oder nicht. Das
muss dann auf einer wissenschaftlich basierten Grundlage geschehen. Insofern ist das kein Widerspruch.
({1})
Ich möchte die restliche Redezeit nutzen, um die Vorteile der Grünen Gentechnik auch den Zuhörern draußen
noch einmal zu vermitteln. Ich habe die Rote und die
Weiße Gentechnik beschrieben. Es ist natürlich so, dass
wir auch mit der Grünen Gentechnik, die sich erst im
Anfangsstadium befindet, gewisse Erwartungen verknüpfen. Da ist zunächst einmal die Erwartung, dass der
Einsatz von Pflanzenschutzmitteln damit wesentlich verringert werden kann. Wir haben Kartoffeln in der Zulassung, für die bei der Pilzbekämpfung bis zu acht Pflanzenschutzspritzungen in einer Vegetationsperiode nicht
mehr gebraucht werden. Bei uns werden Pflanzen entwickelt, die mit wenig Wasser in Stressregionen, was Trockenheit angeht, wachsen. Bei uns werden auch Pflanzen
entwickelt und schon angebaut, die höhere Erträge bringen.
Wenn Sie diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen
nicht offen gegenüberstehen, dann muss ich Sie wirklich
bitten, sich einmal die moralische Dimension vor Augen
halten zu lassen.
({2})
Wer diese Technologie für die Zukunft ausgrenzt, der
muss in Kauf nehmen, dass Hunger und Not in der Welt
in unteren Einkommensschichten weniger bekämpft
werden können als möglich.
({3})
Das muss man hier einfach offen sagen.
({4})
Ich bitte Sie deshalb, wirklich zu überprüfen, wie Sie
sich da positionieren. Wir wollen hier alle Risiken bewerten und bei der Zulassung entsprechend berücksichtigen. Aber wir sind nicht wie Sie immer nur auf die
Risiken ausgerichtet; wir wollen auch die Chancen im
Blickfeld haben. Diese Chancen sind gewaltig. Ich
möchte Sie herzlich bitten, Ihre politischen Festlegungen
nicht auf den Tag auszurichten, sondern weiter in die Zukunft zu schauen. Denn spätestens Ihre Enkel werden
Sie fragen, wie Sie sich bei diesem Thema positioniert
haben.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann
für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich frage mich: Was habe ich hier eigentlich
gerade erlebt? Ein Redner hat gesagt, der Minister sei
ein Lügner, ein anderer hat gesagt, er sei scheinheilig,
die Große Koalition hat sich zerlegt, und Frau Schieder
fragte nach der Position des Ministers, den sie sonst mitträgt.
({0})
Ich finde, vor dem Hintergrund dessen, worüber wir hier
eigentlich zu diskutieren haben, ist das dramatisch.
({1})
Die Grüne Gentechnik steht im Moment nicht gerade
im Brennpunkt der politischen Weichenstellungen im
Agrarbereich. Dennoch will ich Ihnen ganz kurz sagen,
wie wir zu diesem Thema stehen. Wir sehen den verantwortungsvollen Umgang mit der Grünen Gentechnik
und die Nutzung der Potenziale in diesem Bereich als
sinnvoll an.
Frau Kollegin Schieder, ich war in Bayern, und zwar
in der Region, aus der Sie kommen. Ich habe mir angehört, welche Sorgen die Menschen, die dort leben, haben. Dabei ging es zum Beispiel um Schäden durch den
Maiswurzelbohrer. Mir haben Bäuerinnen und Bauern
gegenübergestanden, die ihre gesamte Ernte verloren haben. Sie werden diese Ernte auch in den nächsten zwei
oder drei Jahren nicht einfahren können, weil diese Maßnahmen dort dann nicht zulässig sein werden.
({2})
- Die gute fachliche Praxis wenden sie schon an. Mach
dir darüber keine Sorgen!
({3})
- Ja, das musst gerade du als Abgeordnete eines Ostlandes sagen. Ihr seid ja die größten Fruchtfolgeexperten.
({4})
Ich muss Ihnen wirklich sagen: Wenn sich die Landwirtschaft im Osten und im Westen unseres Landes aufstellt,
um größere Marktteilhabe zu erreichen - das fordern wir
immer -, können wir davon ausgehen, dass der normale
deutsche Bauer etwas von guter fachlicher Praxis versteht.
({5})
Denn das - liebe Frau Künast, da brauchen Sie gar nicht
zu lachen ({6})
ist die Basis Ihrer Weichenstellungen.
Die Regelungen bis 2013, die Sie mitgetragen haben,
basieren auf guter fachlicher Praxis. Wie Sie wissen,
sind die Cross-Compliance-Auflagen und die Bereitstellung der Mittel über Direktzahlungen, für die Sie gekämpft haben, dafür die Grundlagen. Deswegen ist es
völlig unangebracht, in dieser Diskussion darüber zu
philosophieren, wer gute fachliche Praxis realisiert und
wer nicht. Die Bauern in Deutschland praktizieren die
gute fachliche Praxis.
({7})
Jetzt will ich den Milchbereich ansprechen. Ich
möchte darauf hinweisen, dass wir mit vielem, was Herr
Seehofer macht, nicht einverstanden sind. Es gab eine
Vereinbarung, die besagte, dass die Mittel für die Landwirtschaft bis zum Jahre 2013 in dem Umfang bereitzustellen sind, der Vertragsbasis ist. Jetzt stellen wir fest,
dass zum Beispiel bei der Modulation massiv eingegriffen wird. Hier wird ein Versprechen gebrochen. Das ist
das genaue Gegenteil von Planungssicherheit. Das können wir überhaupt nicht akzeptieren.
Herr Minister Seehofer macht meiner Meinung nach
einen großen Fehler. Es gibt eine Staatssekretärsvereinbarung, aus der ich Ihnen gerne etwas vorlesen möchte
- es geht um das Thema, über das wir diskutieren, nämlich um die Mittelbereitstellung -:
Bei unserem gestrigen Gespräch zur Gesundheitsüberprüfung der Gemeinsamen Agrarpolitik konnten die zwei noch offenen Punkte des Positionspapiers der Bundesregierung abschließend geklärt
werden. Um die Ziele der Haushaltskonsolidierung
hinreichend zu berücksichtigen, müssen die gekürzten Mittel vollständig im Mitgliedstaat verbleiben,
und die zusätzliche Modulation darf nicht dazu führen, dass die Mitgliedstaaten mehr nationale Kofinanzierungsmittel als bisher bereitstellen müssen.
Das heißt im Klartext: Die Bundesregierung signalisiert ihre Bereitschaft, im Bereich der Modulation im
Hinblick auf die Einkommen der Landwirte sehr große
Einschnitte vorzunehmen. Das kostet jede Menge Bauern im Osten Deutschlands ihre Existenz. Das kostet
einen ordentlichen landwirtschaftlichen Betrieb in Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen
oder einem anderen Bundesland zwischen 4 000 und
5 000 Euro im Jahr. Das ist ein massiver Eingriff in die
Leistungsfähigkeit dieser Betriebe.
Die zusätzlichen Modulationsmittel müssen auch zur
Finanzierung von Milchbegleitmaßnahmen genutzt werden, sagt Herr Seehofer. Damit ist dem Vorhaben, im Bereich der Modulation dramatische Einschnitte vorzunehmen, Tür und Tor geöffnet.
Frau Künast, auch Ihre Kolleginnen Frau Höfken und
vor allen Dingen Frau Höhn werfen Herrn Minister
Seehofer hier Wortbruch vor. Frau Höhn, ich bin total
überrascht darüber, dass Sie sagen, er blockiere die Reform der Agrarhilfe zugunsten des Klimaschutzes.
({8})
- Nun einmal langsam. - Das heißt im Klartext, dass Sie
im Grunde genommen einen Health Check, eine Agrarreform in Richtung von mehr Klimaschutz wollen. Diesen Klimaschutz können Sie nur über Modulationsmittel
finanzieren. Also lösen Sie Ihren Pakt auf, den Sie damals unter der Leitung von Frau Ministerin Künast geschlossen haben.
({9})
Das wiederum bedeutet einen Eingriff in die erste
Säule; denn das steht im Moment zur Diskussion. Es
steht nicht zur Diskussion, ob die Gewichtung zwischen
der ersten und der zweiten Säule irgendwann einmal verändert worden ist.
Lassen Sie mich noch etwas zur Milch sagen.
Kollege Goldmann, das wird nicht mehr funktionieren. Ich kann auch die Zwischenfrage von Frau Künast
nicht mehr zulassen, die sie inzwischen angemeldet hat,
da Sie Ihre Redezeit zu dem Zeitpunkt bereits überschritten hatten. Ich bitte Sie also, zum Schluss zu kommen.
Ich hatte fünf Minuten Redezeit, allerdings wurden
hier nur vier Minuten angezeigt.
({0})
- Ich verhandle nie mit der Präsidentin, aber wenn man
fünf Minuten Redezeit hat, dann sollten hier auch fünf
Minuten und nicht vier Minuten stehen.
({1})
- Das ist ja das Problem: Wir haben in dieser kurzen Zeit
relativ viel Vernünftiges zu sagen. - Wird die Zwischenfrage jetzt noch gestellt?
Kommen Sie bitte zu Ihrem letzten Satz. Sie haben
Ihre Redezeit mittlerweile deutlich überschritten.
Ich komme zum Schluss. - Ich hätte die Frage von
Frau Künast, die sie stellen wollte, gerne noch beantwortet.
Ich glaube, dass wir im Bereich der Milch auf dem
einzig richtigen Weg sind: rein in den Markt mit so vielen Bauern wie irgend möglich. Von mir aus wird auch
ein Begleitprogramm erstellt. Dieses dürfen wir aber
nicht mit Modulationsmitteln finanzieren, sondern dafür
müssen wir die eingesparten Mittel verwenden, die auf
europäischer Ebene im Moment nicht für die Agrarwirtschaft zur Verfügung gestellt werden. Das ist der richtige
Weg.
({0})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Wolff das
Wort.
Sehr geehrter Herr Kollege Goldmann, Sie haben vorhin die ostdeutsche Landwirtschaft und insbesondere
auch mich angesprochen. Ich möchte hier ganz deutlich
machen, dass der Maiswurzelbohrer, den Sie hier angesprochen haben, nicht vorrangig in Ostdeutschland, sondern im Süden der Republik, nämlich in Bayern und in
Baden-Württemberg, zu finden ist.
({0})
Ich finde, wenn Sie hier die ostdeutsche Landwirtschaft diffamieren, dann ist das wirklich eine Kurzintervention wert.
({1})
Damit haben Sie die Gelegenheit, der Kollegin Wolff
zu antworten.
Liebe Kollegin Wolff, ich bin sehr überrascht darüber,
dass du mich so bewusst missverstehen willst.
({0})
Ich habe einen Zusammenhang zur guten fachlichen
Praxis hergestellt. Es wurde hier zum Ausdruck gebracht, dass großflächige Strukturen besonders angreifbar sind, wenn sie nicht im Rahmen guter fachlicher Praxis realisiert werden. Deswegen habe ich gesagt, dass ich
der Auffassung bin, dass gerade für intensiv arbeitende
Betriebe mit großen Strukturen Gentechnik eine Problemlösung sein kann.
Dass der Maiswurzelbohrer, wie du ja weißt, nicht im
Osten vertreten ist, der Maiszünsler, bei dem es im
Grunde genommen genau die gleiche Problematik gibt,
aber sehr wohl, wird dir sicherlich bekannt sein.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Elvira
Drobinski-Weiß das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich denke, wir alle sind uns darin einig, dass
die Rahmenbedingungen für den Milchmarkt, um den es
heute auch noch geht, verbessert werden müssen. Dennoch lehnen wir die populistischen Forderungen ab;
denn sie sind für die Weiterentwicklung des Milchsektors nur wenig hilfreich. Aus diesem Grunde lehnen wir
auch den Antrag der Grünen ab. Welche konkreten Maßnahmen hier im Einzelnen ergriffen werden müssen,
werden wir in den nächsten Wochen in der Koalition sicherlich diskutieren.
Von der Milch ist der Weg zur Gentechnik nicht weit.
Eines der größten milchverarbeitenden Unternehmen in
Deutschland, nämlich die Campina GmbH, hat heute im
Vorfeld der Internationalen Fachmesse für Molkereiprodukte für seine wichtigste Marke „Landliebe“ den Einstieg in die „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung angekündigt.
({0})
Wir begrüßen einen neuen großen Anbieter in diesem
Segment. Im Rahmen der Fachkonferenz der SPD-Fraktion kündigte letzte Woche auch die mittelständische Supermarktkette tegut an, neben dem bereits bestehenden
Angebot an Molkereiprodukten auch beim Schweinefleisch in die „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung einzusteigen. Mehrere Anbieter haben auf unserer Konferenz
zur Kennzeichnungsregelung gezeigt, dass diese Kennzeichnung machbar ist. Das Interesse der Marktteilnehmer ist groß. Einige sind bereits auf dem Markt; bei anderen steht der Einstieg unmittelbar bevor. Das ist, wie
ich finde, ein Vorteil für die Verbraucherinnen und Verbraucher, die durch die so entstehende Transparenz endlich auswählen können, Herr Kollege.
({1})
Herr Minister Seehofer ist leider nicht da. Herr Staatssekretär, bitte übermitteln Sie ihm unseren Dank, dass
wir mit der „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung ein
wirklich gutes Vorhaben auf den Weg bringen können.
({2})
Umso empörender und unverständlicher ist der Eierkurs, den die CSU in Sachen gentechnikfreie Regionen
eingeschlagen hat. Die Überschrift „In Bayern bin ich
gegen Gentechnik“ aus der Süddeutschen Zeitung ist bereits zitiert worden. In Bayern sind Sie also dagegen und
in Berlin dafür? Bislang sind etwa 15 000 Mails bei
Herrn Seehofer und Herrn Dr. Ramsauer eingegangen.
Sie wurden von Bürgerinnen und Bürgern geschrieben,
die genau wissen, dass es nicht reicht, in Bayern mehr
Rechte für gentechnikfreie Regionen zu fordern, sondern
dass man sich hier in Berlin und später auch in Brüssel
dafür einsetzen muss, dass solche Forderungen ernst gemeint sind.
({3})
Wir stehen bereit, um gemeinsam mit Ihnen den Worten Taten folgen zu lassen. Die Forderungen der CSU
nach Verbindlichkeit für die gentechnikfreien Regionen
und nach der Möglichkeit, dass Länder und Regionen
künftig selbst über den gewerblichen Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen oder die Forschung entscheiden können, begrüßen wir ausdrücklich. Wir haben
sie bereits im Juni in unseren Antragsentwurf „Für eine
nachhaltige Weiterentwicklung des europäischen Gentechnikrechts“ aufgenommen.
Unser Antragsentwurf enthält Forderungen, mit denen die CSU Landtagswahlkampf betreibt. Ich nenne
beispielsweise die Überarbeitung des EU-Zulassungsverfahrens für gentechnisch veränderte Pflanzen. Wir
wollen mehr Transparenz und Demokratie bei diesen
Entscheidungen und eine stärkere Berücksichtigung
auch von kritischen Stellungnahmen. Wir fordern ein
Anbauverbot für nicht koexistenzfähige Pflanzen wie
Raps. Wir fordern die Kennzeichnung von GVO-haltigem Saatgut ab der Nachweisgrenze von 0,1 Prozent.
({4})
Diese Forderungen waren auch schon von Herrn
Dr. Ramsauer, Herrn Minister Seehofer und anderen
CSU-Politikern zu hören. Was hielt Sie also bisher davon ab, mit uns über unseren Entwurf zu diskutieren?
Wenn wir den Antrag der Grünen nachher in die Ausschüsse überweisen, dann habe ich dabei Bauchschmerzen. Ich hoffe auf ernsthafte Beratungen und auf die
Redlichkeit der CSU. Ich fordere Sie auf, gemeinsam
mit uns für die Einbringung und Umsetzung dieser Forderungen zu sorgen. Denn wenn sich Ihr Einsatz für die
gentechnikfreien Regionen als Wahlkampfgetöse entpuppt, dann fällt das nicht nur Ihnen von der CSU auf
die Füße, sondern die Menschen im Land verlieren ihr
Vertrauen in die Politik. Das schadet uns allen.
Vielen Dank.
({5})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Eva
Bulling-Schröter das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Warum soll nicht jede Region, jedes Bundesland und jeder Mitgliedstaat selbst darüber entscheiden dürfen, ob
Agrogentechnik genutzt wird oder nicht? Das würde ich
begrüßen.
({0})
Dass solche Entscheidungen gegenwärtig von der EU
untersagt werden, finde ich fatal.
Unabhängig davon lehne ich die Grüne Gentechnik
grundsätzlich ab. Die Risiken sind nicht beherrschbar,
und wir brauchen diese Technologie auch nicht.
({1})
Wir sind auch dafür, MON 810 zu verbieten. Das läge
nämlich in der Kompetenz der Bundesregierung. Aber
Herr Bleser hat bereits gesagt, dass die Bundesregierung,
zumindest CDU und CSU, dies nicht tun wird.
Noch einmal zurück: Am letzten Dienstag musste ein
bayerischer Imker seine gesamte Honigernte in der
Müllverbrennungsanlage in Augsburg vernichten; das
Glas haben wir bereits gesehen. Sie war trotz aller Vorsichtsmaßnahmen mit Pollen von MON 810 des Vorjahres belastet. Die Imker meinen, schon bei 2 Prozent
Genanbaufläche in Bayern sei dort praktisch keine
Honigernte mehr möglich. Daher frage ich Sie, meine
Damen und Herren von der CSU: Was sagen Sie denn
den Menschen nun im Wahlkampf? Die wollen doch
Antworten hören!
({2})
Vielleicht nehmen Sie zur Kenntnis, dass nach einer aktuellen Emnid-Umfrage 80 Prozent der Bayerinnen und
Bayern MON 810 verbieten lassen wollen. Sie sind doch
eine Volkspartei. Dann machen Sie das doch endlich!
({3})
Es sieht aber so aus, als ob die CSU in Bayern Opposition gegen sich selber in Berlin machte. Das stellt man
in vielen Fragen fest. Während sich die CSU-Landtagsfraktion dafür einsetzt, gentechnikfreie Zonen zu schützen, hat Herr Seehofer seinerzeit fast als erste Amtshandlung für die bundesweite Zulassung von MON-810Genmais gesorgt. In der Süddeutschen Zeitung hat er
wiederum in der letzten Woche erklärt: „In Bayern bin
ich gegen Gentechnik.“ Vielleicht hat der Bischof von
Eichstätt jetzt doch gewirkt. Wir wünschen uns das jedenfalls sehr.
({4})
Zu Hause den Gentechnikkritiker und den Bewahrer der
Schöpfung spielen, im Bundestag aber dafür sorgen,
dass das Teufelszeug auf die Felder und dann auf den
Teller kommt, das ist scheinheilig. So nennt man das jedenfalls in Bayern.
({5})
Herr Bleser, der weltweite Hunger wird nicht durch
die Gentechnik beseitigt oder zumindest gelindert. Das
sagen nicht wir, sondern der Weltagrarrat, Misereor und
„Brot für die Welt“. Zumindest diese müssten Sie kennen.
({6})
Aber vielleicht stehen bei Ihnen die großen Konzerne
vor der Tür - Bayer, BASF, Monsanto - und flüstern Ihnen ab und zu etwas ein.
({7})
Das könnte ja sein.
({8})
Jetzt zur Milchwirtschaft. Beim Milchstreik in diesem
Sommer wurde von den Bauern zum ersten Mal in der
Geschichte Milch in bislang unbekannten Größenordnungen weggeschüttet. Das heißt, die Bauern sind verzweifelt. Das muss man ganz ernst nehmen. Es heißt immer, man bekomme keine drei Bauern unter einen Hut.
Doch offensichtlich hat man es angesichts dieser Verhältnisse doch geschafft. Es ist tatsächlich so, wie es mir
Milchbauern aus meiner Region gesagt haben. Sie halten
es für eine Unverschämtheit, wie man mit Menschen
umgeht, die 365 Tage zweimal am Tag ihre Tiere melken. Damit haben sie recht.
({9})
Für diese Menschen ist es absolut unverständlich, dass
jetzt die Milchquoten wieder erhöht werden sollen, wodurch der Preis möglicherweise noch weiter in den Keller fällt.
({10})
Gleichzeitig fordert der Deutsche Raiffeisenverband als
Vertretung der genossenschaftlichen Molkereien, die alte
Exportsubvention für Molkereiprodukte wieder einzuführen, um für Marktentlastung zu sorgen. Beides sind
völlig falsche Politikansätze.
({11})
Wir unterstützen die Abkehr von der totalen Liberalisierung der Milchwirtschaft, welche de facto durch die
Abschaffung der Milchquote stattfindet. Die Milchwirtschaft wird damit an vielen Standorten in Deutschland,
in Ost und in West, nicht mehr im Kampf um die niedrigsten Erzeugerpreise mithalten können.
Kollegin Bulling-Schröter, achten Sie bitte auf die
Zeit.
Letzter Satz. - Wir unterstützen Ihre Anträge, meine
Damen und Herren von den Grünen. Wir halten sie für
eine gute Diskussionsgrundlage. Ich wünsche, dass über
diese Themen breit diskutiert wird.
({0})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Was passiert eigentlich, wenn man die CSU mit
Karl May vergleicht? Als Erstes fallen einem Gemeinsamkeiten auf. Genauso wie Karl May schafft es die
CSU, mit blumigen Worten über Dinge zu schreiben, bei
denen sie nie dabei war. Genauso wie Karl May schafft
es die CSU, sich mit Pathos mit Taten zu brüsten, die sie
nie begangen hat.
({0})
Es gibt aber einen wichtigen Unterschied: Karl May
wäre nie auf die Idee gekommen, andere Menschen mit
juristischem Kleinkram daran zu hindern, das zu tun, mit
dem er sich gebrüstet hat und was er nie gemacht hat.
({1})
Ich bin jetzt acht Jahre Mitglied des Deutschen Bundestages, aber ein solches politisches Bubenstück wie
das Verhalten der CSU in der Gentechnik habe ich in
diesen acht Jahren nicht erlebt.
({2})
Ich hätte nicht gedacht, dass ich in diesem Deutschen
Bundestag eine solche Menge an Lügen und Verdrehungen kennenlernen müsste. Ich war das bisher von Sekten
und extremistischen Parteien gewöhnt, von sonst niemandem.
({3})
Man muss die Fakten klarstellen: Die Zulassung für
den Genmais wurde von einem CSU-Minister angeordnet. Dieser CSU-Minister hätte den Anbau von MON 810
in diesem Jahr auch stoppen können, und dann hätten
wir die Probleme in Bayern und in anderen Teilen der
Republik nicht gehabt.
({4})
In den gesamten Verhandlungen der Jahre 2006 und
2007 über das Gentechnikrecht in Deutschland haben
sich CDU und CSU geweigert, die Forderung nach verbindlich gentechnikfreien Regionen zu erfüllen. Im
Juni 2008 gab es einen Antrag der CSU im Bayerischen
Landtag, dass sich Bayern im Bundesrat für die Einrichtung verbindlich gentechnikfreier Regionen einsetzen
solle. Das wurde durch die CSU abgelehnt. Seit Juni
liegt CDU und CSU der Entwurf eines Antrags der SPDBundestagsfraktion vor, dass sich der Deutsche Bundestag für verbindlich gentechnikfreie Regionen aussprechen soll. Das wurde mit Verweis auf den Koalitionsvertrag verweigert. Dadurch darf die SPD diesen Antrag
nicht in den Deutschen Bundestag einbringen. Diese
Parteien können nicht behaupten, sie seien für verbindlich gentechnikfreie Regionen, wenn sie jeden konkreten
Beschluss dazu hintertreiben und mit juristischen Mitteln verhindern.
({5})
Wir müssen einen Nerv bei der CSU erwischt haben.
Herr Staatssekretär, Sie sitzen nicht auf der Regierungsbank, sondern in den Reihen der Abgeordneten und vertreten wahrscheinlich Herrn Ramsauer, den Chef der
CSU-Landesgruppe, der heute nicht da ist. In dessen
Wahlkreis ist heute eine Anzeige erschienen, in der suggeriert wird, die SPD sei für die Grüne Gentechnik, die
CSU aber handele. Ein Antrag der SPD, Langzeitversuche mit Genfutter durchzuführen, wird so interpretiert,
als sei die SPD dafür, die Tiere in Deutschland mit gentechnisch verändertem Futter zu versorgen.
({6})
Dies ist die Forderung der Gentechnikgegner, die endlich wissen wollen, was mit den Tieren passiert, wenn
sie nicht nur sechs Wochen, sondern zwei Jahre lang damit gefüttert werden.
({7})
Dann gab es - das ist eine der dreistesten Geschichten, die ich erlebt habe - im März 2008 eine Anzeige der
CSU mit der Behauptung, die SPD-Bundestagsfraktion
stimme für die Einfuhr von Genmais. Im März 2008 gab
es einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,
MON 810 in Deutschland nicht mehr anbauen zu dürfen.
In der gesamten Debatte haben sich die Redner der SPD
für diesen Antrag ausgesprochen, aber unser Koalitionspartner CSU hat die Karte des Koalitionsvertrags gezogen und gesagt: Wenn wir nicht zustimmen, dürft auch
ihr einem Antrag der Grünen nicht zustimmen. - Wir
mussten mit Nein stimmen, um vertragstreu zu sein. Das
in einer CSU-Anzeige zu finden, ist dreist bis zum Abwinken.
({8})
Herr Kollege Kelber, gestatten Sie Zwischenfragen
der Kollegin Happach-Kasan und der Kollegin
Klöckner?
Gerne, selbstverständlich.
Bitte schön, Frau Happach-Kasan.
({0})
Herr Kollege Kelber, ich habe drei Fragen an Sie.
Geht das, Frau Präsidentin? - Nur eine, dann verbinde
ich sie.
Machen Sie eine längere Frage daraus.
Ja, ich mache eine längere daraus. - Mich würde interessieren, ob Sie eigentlich wissen, in welchem Umfang
die Schweinehaltung, die Rinderhaltung und die Hühnerhaltung in der deutschen Landwirtschaft von der Verfütterung von gentechnisch veränderten Pflanzen, beispielsweise aus Importen, abhängen. Können Sie dem
zustimmen, was ein Leserbriefschreiber in der Süddeutschen Zeitung geschrieben hat, nämlich dass ursprünglich in Bayern der Anbau von gentechnisch verändertem
Mais auf 116 Hektar angekündigt war, hinterher aber nur
9,9 Hektar tatsächlich angebaut worden sind? Wissen
Sie, dass dieser Leserbriefschreiber, der Ihnen übrigens
nahesteht,
({0})
die Beobachtung gemacht hat, dass es Diffamierungen
der Landwirte gegeben hat, die gentechnisch veränderten Mais anbauen wollten? Sie haben intensiv für gentechnikfreie Zonen geworben und wollen, dass die Regionen über deren Einrichtung entscheiden. Was in der
EU zugelassen wird, möchte man in der Kommune verbieten können. Wie sieht es denn eigentlich aus: Wollen
Sie den Kommunen auch das Recht geben, über Kraftfahrzeuge zu entscheiden, darüber, ob in einer Kommune in Schleswig-Holstein zum Beispiel BMW gefahren werden darf?
Frau Kollegin Happach-Kasan!
Ich bin damit am Schluss meiner Zwischenfrage.
Zum zweiten Teil - ich lasse den Teil, der natürlich
eine Meinungsäußerung von Ihnen war, beiseite -: Wie
Sie wissen, können Kommunen darüber entscheiden, ob
eine Umweltzone eingerichtet wird oder ob ein Kraftwerk gebaut wird. Nur da, wo Ihnen die Mehrheitsmeinung der deutschen Bevölkerung nicht passt - Umfragen
besagen: 80 Prozent wollen keine Gentechnik in Lebensmitteln und auf dem Acker -,
({0})
wollen Sie die Verantwortung nach Brüssel schieben, damit nicht vor Ort entschieden werden kann. Das sehen
wir anders.
({1})
Sie haben unsere Forderung nach verbindlich gentechnikfreien Regionen angesprochen. Wir wollen zudem kennzeichnen und keinen anderen Weg gehen.
({2})
Die SPD-Fraktion hat noch in der letzten Woche eine
Fachanhörung durchgeführt, in der auch Vertreter des
Raiffeisenverbands - auf den haben Sie sich indirekt bezogen - waren. Da wurde noch einmal gesagt: Wer in
Deutschland gentechnikfreies Futter beziehen will, bekommt es im Rahmen von langfristigen Verträgen auf
dem Weltmarkt zu den gleichen Preisen wie gentechnikhaltiges Futter.
({3})
Es ist nicht schön, dass auf bestimmten Webseiten
nicht darauf verwiesen wird, dass zum Beispiel Indien
sich entschieden hat, seine boomende Sojaindustrie vollständig gentechnikfrei aufzubauen, und nur auf die
Märkte in Europa wartet, um beliefern zu können.
({4})
Ich meine den Raiffeisenverband Kehl. Lesen Sie das
auf der Webseite nach! Wenn Sie dort anrufen, wird Ihnen das bestätigt werden, Frau Happach-Kasan.
({5})
Frau Happach-Kasan, auch die Frau Kollegin
Klöckner würde gern eine Zwischenfrage stellen, und
dann würde ich den Kollegen Kelber gern zum Schluss
kommen lassen.
Sehr geehrter Herr Kelber, mich irritiert die Saubermanngeschichte, die Sie gerade betreiben, ein bisschen.
Ich erinnere mich an unsere Debatte um die Kennzeichnung „Ohne Gentechnik“. Uns als Union war es wichtig,
für Wahrheit und Klarheit zu sorgen und den Verbraucherinnen und Verbrauchern auf den Etiketten von Produkten mitzuteilen, ob sie gentechnisch veränderte Bestandteile enthalten.
({0})
Deshalb ist uns wichtig, dass bei einer Kennzeichnung
„Ohne Gentechnik“ auch keine Gentechnik im Prozess
verwendet worden ist.
Aufgrund der SPD-Intervention ist ein Eintrag von
0,9 Prozent während des Prozesses oder sind auch gentechnisch veränderte Futtermittel, Enzyme etc. zulässig.
({1})
Deshalb irritiert mich das etwas.
Meine Frage lautet: Ist Ihnen das klar? Wie machen
Sie den Verbraucherinnen und Verbrauchern klar, dass
man es bei einer Kennzeichnung „Ohne Gentechnik“
durchaus mit einer gentechnischen Veränderung zu tun
haben kann.
({2})
Ich hatte nicht mehr zu hoffen gewagt, dass diese
Zwischenfrage kommt.
({0})
Es ist eine relativ langwierige Debatte. Man kann sie abkürzen, indem man schaut, wer hinter welchem Vorschlag steht.
({1})
Hinter Ihrem Vorschlag stehen der Bundesverband des
Deutschen Lebensmittelhandels, die großen Monopolisten, die großen Chemieriesen, die die Gentechnik loswerden wollen.
({2})
Hinter dem Vorschlag der Kennzeichnung „Ohne Gentechnik“ stehen der Verbraucherzentrale Bundesverband,
({3})
Greenpeace, BUND, NABU, die kleinen Betriebe der
ökologischen Lebensmittelwirtschaft
({4})
und alle die, denen die Verbraucherinteressen
({5})
und nicht die eigenen wirtschaftlichen Interessen am
Herzen liegen. An den Freunden könnt ihr sie erkennen!
({6})
Das ist der beste Hinweis darauf, dass das, was Sie
gefordert haben, nicht Klarheit und Wahrheit war, sondern der Wunsch, es der Gentechniklobby zu ermöglichen, weiterhin in allen Lebensmitteln sozusagen unterzukommen und dabei nicht erkannt zu werden.
({7})
Herr Kollege Kelber, ich muss Sie fragen, ob Sie noch
eine Zwischenfrage, nämlich des Kollegen Straubinger,
zulassen.
Ja, natürlich.
Herr Kollege Kelber, da Sie sich gerade als der Oberkämpfer gegen die Gentechnik geriert haben und den
Eindruck erwecken wollten, die SPD sei schon immer
gegen die Gentechnik gewesen, frage ich: Würden Sie
mir bestätigen, dass gerade unter der rot-grünen Bundesregierung die Gentechnik in Europa hoffähig gemacht
worden ist,
({0})
nämlich aufgrund der Beschlüsse der damaligen rot-grünen Bundesregierung mit der damaligen Ministerin
Renate Künast,
({1})
dass zudem in Bayern nur auf 8 Hektar Genmais ausgesät worden ist, während in dem von Ministerpräsident
Platzeck, SPD, regierten Brandenburg auf mehreren
Tausend Hektar Genmais zur Aussaat gebracht worden
ist? Wie lässt sich das mit den Grundsätzen vereinbaren,
die Sie hier darlegen?
Zunächst zur zweiten Frage: Das Bundesrecht, das
wir im Deutschen Bundestag dahin gehend ändern wollen, dass Regionen sich verbindlich als gentechnisch frei
erklären können, wird in Bayern wie in Brandenburg
gelten. Ich sage Ihnen voraus, dass dann auch in Brandenburg zahlreiche Kommunen verhindern werden, dass
auf ihrem Gebiet Gentechnik auf die Äcker kommt.
({0})
Zu Ihrer ersten Frage, Herr Straubinger: Ich glaube,
Sie waren zu Beginn der Debatte noch nicht im Saal.
Ansonsten hätten Sie nämlich gehört, was die Kollegin
Künast erklärt hat. Ich kann Ihnen den Zeitplan bestätigen: Die Zulassung von MON 810, dem einzigen in
Deutschland in größerem Maßstab verwendeten Genmais, hat noch vor der Bundestagswahl 1998 in der EU
stattgefunden. Zuständig war damals der Gesundheitsminister der Regierung Kohl/Westerwelle, der Horst
Seehofer hieß. Über die Zulassung in Deutschland
wurde kurz nach dem November 2005 entschieden.
Diesmal war der Landwirtschaftsminister zuständig, der
wiederum Horst Seehofer, CSU, hieß. Sie sollten den eigenen Anzeigen nicht glauben. Sie müssen ins europäische Gesetzblatt schauen. Dort finden Sie die Wahrheit.
({1})
Das ist ein ganz wichtiges Signal. Man muss der CSU
nicht glauben, wenn sie seit drei Monaten plötzlich gegen Gentechnik ist. Dies wird nach dem nächsten Sonntag alles vergeben und vergessen sein; dann werden sich
wieder andere in der Partei durchsetzen, die diesen Kurs
nie mitgetragen haben. Das Schöne aber ist, dass die
Menschen das merken. Wenn sich die Menschen in Bayern und in Deutschland, die uns heute zugehört haben,
fragen, ob die Redner von den Grünen, von der Linkspartei, von der FDP, von der CDU/CSU oder von der
SPD recht hatten, dann sollten sie auf die Webseiten
vom BUND, von Greenpeace, vom Imkerbund, von der
Aktion Zivilcourage, von Campact und all denen, die für
die Verbraucherseite gegen Gentechnik kämpfen, gehen.
Sie alle beginnen mit der gleichen Schlagzeile: Glaubt
dem Täuschungsmanöver der CSU nicht, sie meint es an
dieser Stelle nicht ehrlich.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Müller.
({0})
Lieber Kollege Kelber, die Debatte könnte man in
weiten Zügen fast als oktoberfestreif bezeichnen, wenn
es nicht so traurig wäre. Deshalb nenne ich als CSU-Politiker zur Klarstellung einige Fakten.
Die Grüne Gentechnik wird auf 120 Millionen Hektar
in 25 Staaten der Welt angebaut. In Deutschland haben
wir ungefähr 1 000 Hektar. In Bayern sind es 10 Hektar
- das sind fünf Fußballfelder -,
({0})
davon der wesentliche Teil für den Forschungsanbau.
Deshalb kam Minister Seehofer zu der Aussage, dass in
Bayern die Grüne Gentechnik keine Rolle spiele.
({1})
Das zweite Faktum: Die Freisetzungsrichtlinie zum
Anbau von MON 810 hat Frau Renate Künast mit den
Grünen umgesetzt. Dass diese Tür aufgestoßen wurde,
ist die Basis für die Zulassung gewesen.
({2})
Gefehlt hat die Festlegung klarer Grundsätze der
fachlichen Praxis. Hier haben wir vonseiten der CDU/
CSU und dieser Koalitionsregierung gehandelt und
klare, strenge Regeln für die Freisetzung, unter anderem
Abstandsregelungen,
({3})
festgelegt. Auch dies war vorher nicht der Fall. Darüber
hinaus haben wir die Kennzeichnung „Ohne Gentechnik“ eingeführt, was ebenfalls ein ganz entscheidender
Punkt war.
Warum haben wir das gemacht? Die Grüne Gentechnik wird sich durchsetzen oder auch nicht. Aber das entscheiden die Verbraucher und die Bauern. Dem Verbraucher, der zur Grünen Gentechnik Nein sagt, weil er sie
nicht will, geben wir durch die Kennzeichnung die Möglichkeit, sich so zu entscheiden. Wenn der Bauer erklärt,
er baue das nicht an, dann ist es in Ordnung. Wir machen
keine Politik gegen Bauern, gegen Verbraucher, gegen
die Bürgerinnen und Bürger. Das ist unsere Linie.
({4})
Herr Kollege Kelber, bitte.
Die Kurzintervention bestand ja aus drei Teilen. Ich
gehe auf den dritten Teil zuerst ein; denn das, was Sie,
Herr Müller - aha, Sie sind wieder auf die Regierungsbank gewechselt -, im dritten Teil gesagt haben, war
richtig. Sie haben sich da auf die Dinge bezogen, die wir
gemeinsam gemacht haben: gute fachliche Praxis und
Kennzeichnungspflicht. Ich freue mich, dass diese Forderungen, die damals von der SPD in die Koalitionsverhandlungen eingebracht wurden - das ist nachlesbar -,
heute gemeinsames Gedankengut der beiden Koalitionspartner sind.
({0})
Zweiter Punkt. Bezüglich des Themas Freisetzungsrichtlinie haben Sie heute den Versuch unternommen,
dieses in neuer Art und Weise darzustellen. Da muss
man ja aufpassen. Sie sagten - komisch, dass ich jetzt
für die Opposition sprechen muss -,
({1})
Künast habe die Freisetzungsrichtlinie umgesetzt. Genauso war es zwar, aber die Freisetzungsrichtlinie wurde
unter der Regierung Kohl/Westerwelle beschlossen, mit
Seehofer als zuständigem Minister
({2})
Sie war danach bindend. Das europäische Recht musste
danach verpflichtend in nationales Recht umgesetzt werden. Dass dieser Punkt zu bindendem europäischem
Recht wurde, dafür hat Ihr Minister Seehofer, der in einer Dreiviertelstunde auf der Ministerkonferenz sein
muss, gesorgt.
({3})
Letzter Punkt. Die Gentechniklobbyisten sprechen
immer gerne davon, auf soundso vielen Millionen Hektar in soundso vielen Staaten würden ihre Produkte angebaut. Das hört sich groß und bedeutend an. Wenn man
genauer hinschaut, stellt man fest, dass sich 95 Prozent
der Anbaufläche in drei Staaten befinden, nämlich in den
USA, wo die Konzerne ihren Sitz haben, sowie in Argentinien und Brasilien, wo dies mit Macht durchgedrückt wurde. Der ganze restliche Anbau ist unbedeutend. Immer mehr Staaten versuchen sogar, aus dieser
Technologie auszusteigen.
Sie sind auf dem falschen Dampfer. Steigen Sie rechtzeitig aus!
({4})
Zu einer weiteren Kurzintervention gebe ich das Wort
der Kollegin Renate Künast.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Auch Sie bekommen noch einen Chauvi-Preis. - Ich
halte es, ehrlich gesagt, in dieser Debatte für eine Art
Missachtung des Parlaments, wenn diejenigen, um deren
Politik es heute geht, nicht auf der Rednerliste auftauchen - phasenweise saß ja sogar niemand auf der Regierungsbank - und es nicht wagen, in der Debatte Ross
und Reiter zu nennen und ihre inhaltliche Position darzulegen, aber am Ende im Rahmen einer Kurzintervention
versuchen, noch einmal ein bisschen Klarstellung zu betreiben.
({1})
Die Leute werden wissen, was das heißt.
Ich meine, dass diese Debatte gezeigt hat, dass die
CSU und die CDU die Bürger, die Verbraucher und die
Bauern alleine lassen.
({2})
Lassen Sie mich auch sagen: Der Beschluss der CSU,
den sie in Bayern gefasst hat, ist das Papier nicht wert,
auf dem er gedruckt worden ist. Warum ist das so? Hier
wird zwar so getan, als wolle man auf europäischer
Ebene aktiv werden und für gentechnikfreie Zonen eintreten, tatsächlich bietet er aber nicht einmal eine rechtliche Grundlage dafür, um demnächst im Agrarrat in
Brüssel in dieser Richtung tätig zu werden und auf diese
Weise die Europäische Kommission, die ja das Initiativrecht hat, zur Abfassung einer entsprechenden Vorlage
zu zwingen. Sie wollen das irgendwo im Europa der Regionen zur Sprache bringen. Wenn Sie das aber wirklich
wollen, dann müssen Sie dafür sorgen, dass das da zur
Sprache kommt, wo wirklich Entscheidungskompetenz
ist. Das wären der Agrarrat und die Europäische Kommission.
Ein Weiteres sage ich Ihnen: Sie haben jederzeit die
Möglichkeit, MON 810 die Zulassung zu entziehen. Das
haben Sie, Herr Kelber, hier klar gesagt. Verstecken Sie
sich also nicht hinter irgendwelchen Dingen! Bringen
Sie notfalls alleine einen Antrag dazu ein! Wir würden
dem zustimmen.
({3})
Herr Kollege Kelber möchte nicht antworten.
Herr Kollege Kelber, ich habe jetzt den Auszug des
Protokolls vor mir liegen. Sie haben gesagt:
Ich hätte nicht gedacht, dass ich in diesem Deutschen Bundestag eine solche Menge an Lügen und
Verdrehungen kennenlernen müsste. Ich war das
bisher von Sekten und extremistischen Parteien gewöhnt, von sonst niemandem.
({0})
Sie haben das eindeutig in Richtung CDU/CSU gesagt.
Das ist wenig parlamentarisch. Es tut mir leid; das muss
ich rügen. Ich bitte doch, zu überdenken, ob Sie sich
nicht entschuldigen wollen.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/10202.
Ich erteile zunächst dem Kollegen Volker Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort zur Geschäftsordnung.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die antragstellende Fraktion beantragt, den Antrag der Koalition auf Überweisung zurückzuweisen und die Frage
heute in der Sache zu entscheiden.
Worum geht es im Antrag? Es geht um zwei leicht zu
beantwortende Fragen. Erstens geht es darum, ob sich
diese unsere Bundesregierung, die im Wesentlichen abwesend ist, in Brüssel - vielleicht ist sie gerade in Brüssel - dafür einsetzt,
({0})
dass die Einrichtung gentechnikfreier Zonen von den
Gebietskörperschaften unseres Landes beschlossen werden kann. Es geht also darum, ob sie die Entscheidungshoheit darüber haben, ob bei ihnen gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut werden oder eben nicht.
Zweitens geht es um ein Moratorium für weitere anzubauende gentechnisch veränderte Pflanzen.
Das ist exakt das, was die CSU in Bayern gerade
landauf, landab in jedem Wahlkreis erklärt. Schauen Sie
sich einmal an, Herr Koschyk, was Ihr Landesgruppenchef Ramsauer gesagt hat:
Nach sorgfältiger Prüfung und Abwägung kommen
wir zu dem Ergebnis, dass es für einen Einsatz der
Grünen Gentechnik in unserem Landkreis mit der
kleinteiligen Agrarstruktur und den empfindlichen
Volker Beck ({1})
und wertvollen Naturräumen zu viele offene Fragen
und kaum abschätzbare Risiken gibt.
Deswegen ist er dagegen, dass gentechnisch veränderte
Pflanzen angebaut werden.
Recht hat er. Mit der Zustimmung zu unserem Antrag
kann das jetzt Wirklichkeit werden.
({2})
Allerdings ist es ein Bubenstück, dass Herr Seehofer einerseits erklärt, in Bayern wolle er keine Gentechnik.
Andererseits sei er für Gentechnik in Brandenburg, wo
sich die Bürger dagegen wehren.
({3})
Das ist natürlich nicht der Sinn einer solchen Regelung.
Vielmehr sollen die Bürgerinnen und Bürger eines jeden
Landkreises selber entscheiden, was dort gelten soll.
({4})
Meine Damen und Herren, Sie versuchen heute mit
diesem Überweisungsantrag - ich kann nicht verstehen,
warum auch die SPD ihn gestellt hat -, der CSU den Offenbarungseid in der Frage der Gentechnik zu ersparen.
({5})
Diese parlamentarische Woche ist -
Herr Kollege Beck, Sie müssen, bitte schön, zur Geschäftsordnung sprechen.
Ja, ich begründe gerade, warum - ({0})
Nein, Sie begründen nicht.
Ich begründe gerade, warum - ({0})
Nein, Herr Kollege Beck, Sie begründen nicht.
Ich begründe gerade, Frau Präsidentin, warum es
nicht in Ordnung ist, zu überweisen.
({0})
Ich spreche nicht zur Sache, sondern dazu,
Oh, Herr Kollege Beck!
- Frau Präsidentin, dass es nicht okay ist,
({0})
die Entscheidung in dieser Sitzungswoche zu vertagen
und den Antrag zu überweisen. Ich plädiere dafür, jetzt
über ihn zu entscheiden.
({1})
Ich möchte etwas zur Intention derjenigen sagen, die
nicht begründet haben, warum sie den Antrag überweisen wollen.
({2})
Das ist zulässig, und ich bitte, Frau Präsidentin, hier
auch die unangenehmen Wahrheiten aussprechen zu dürfen, ohne gegen eine solche Lärmwand anschreien zu
müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Sitzungswoche versuchen Sie mit allen Tricks, Entscheidungen
zu vermeiden. Sie haben uns heute sogar im Ältestenrat
verboten,
({3})
eine Tagesordnung für die nächste Sitzungswoche zu beschließen, weil Sie womöglich nicht eingestehen wollen,
dass die CSU in der nächsten Sitzungswoche - ähnlich
wie bei der Gentechnikfrage - bei der Debatte über die
Erbschaftsteuerreform die Hosen runterlassen muss.
Dies sollen die Wählerinnen und Wähler noch nicht erfahren.
({4})
Meine Damen und Herren von der SPD, haben Sie
den Mut, diese Frage jetzt zu entscheiden. Dann wird
klar, wo die CSU steht. Ich glaube, wir haben hier im
Hohen Haus eine Mehrheit dafür, dafür zu sorgen, dass
in unserem Land keine gentechnisch veränderten Pflanzen in der Landwirtschaft mehr angebaut werden. Verhelfen Sie der CSU-Politik zu einer Chance, wenn sie
ernst gemeint sein soll.
({5})
Ansonsten sollen die Wählerinnen und Wähler erfahren,
dass all das, was Sie den Bayerinnen und Bayern verkaufen, Wahlkampfgetöse,
({6})
aber keine inhaltlich ernst gemeinte Politik war.
({7})
Wird das Wort zur Erwiderung gewünscht? - Das ist
nicht der Fall.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD wünschen Überweisung, und zwar federführend an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und mitberatend an den
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Die Abstimmung über den Antrag auf Ausschussüberweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich frage
deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
({0})
Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksache 16/10202 nicht ab.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Rahmenbedingungen für Milchmarkt verbessern - Faire
Erzeugerpreise für Milch unterstützen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/9869, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/9601 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen
- Drucksache 16/10289 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich gebe das Wort dem Bundesminister Olaf Scholz.
({2})
Meine Damen und Herren! Nach der eben sorgfältig
geführten Debatte muss man sagen: Hier geht es jetzt um
ein Erfolgsprojekt der Großen Koalition.
({0})
Im Hinblick auf die eine oder andere Wortmeldung, die
ich gehört habe, und auf das Beklagen darüber, dass die
Regierung nicht ordentlich vertreten sei, möchte ich darauf hinweisen, dass, wenn der Bundesminister für Arbeit und Soziales hier ist, immerhin 123 Milliarden Euro
des Haushaltes repräsentiert werden.
({1})
Zeit zu haben für das eigene Leben, für die privaten
Belange, ist etwas Wichtiges, gerade wenn man bedenkt,
dass Arbeit eine lange Zeit unser Leben bestimmt. Wer
mit 16 die Schule verlässt, muss damit rechnen, 50 Jahre
arbeiten zu müssen. Es können auch 40 Jahre sein; aber
jedenfalls sind es viele Jahrzehnte, in denen Arbeit das
Leben begleitet. Das führt dazu, dass wir uns Gedanken
darüber machen müssen, wie die Beschäftigten genügend Souveränität erhalten können, um während des Arbeitslebens über ihre Zeit zu verfügen. Sie brauchen
mehr Spielräume, wenn sie im Schnitt 46 Wochen im
Jahr 40 Stunden in der Woche arbeiten. Ihnen diese Souveränität zu geben, ist das, was wir mit diesem Gesetz
versuchen.
({2})
Wir haben im Hinblick auf die Souveränität der Beschäftigten schon heute viele gesetzliche Ansprüche.
Das gilt für die Möglichkeiten bei der Kindererziehung,
bei der Pflege und bei der Bildung. All das ist gegeben.
Wir haben in den letzten Jahren einen großen Fortschritt
mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz erreicht, das einen Rechtsanspruch auf Teilzeit mit sich gebracht hat.
Was fehlt, ist eine Regelung, die es dem einzelnen Beschäftigten gestattet, über das ganze Arbeitsleben hinweg souverän über die eigene Arbeitszeit verfügen zu
können. Das versuchen wir seit einigen Jahren mit einem
Gesetz zu erreichen, das allerdings noch nicht richtig gewirkt hat, nicht nur weil es einen komplizierten Namen
hat - Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen
für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen -,
sondern auch weil die gesetzliche Regelung, die wir seit
etwa zehn Jahren in Deutschland haben, bislang nicht
alle Anforderungen erfüllt hat.
Aber die Grundidee war richtig. Es geht darum, dass
Arbeitszeit angespart werden kann, dass sie sogar vorgespart werden kann, wenn man das richtig organisiert,
dass die Arbeitszeit dann verbeitragt und mit Steuern belegt wird, wenn sie zur Finanzierung des eigenen Lebensunterhaltes eingesetzt werden soll.
Die Probleme des bisherigen Gesetzes haben dazu geführt, dass es bisher nicht ordentlich angewandt wurde.
Zu den großen Problemen gehörte die Frage: Was geschieht eigentlich, wenn ein Arbeitnehmer den Arbeitgeber wechselt? Ob freiwillig oder unfreiwillig: Dies
kommt häufiger im Leben vor. In diesem Fall, so haben
sich viele gedacht, muss es doch möglich sein, dass man
das bis dahin angesparte Arbeitszeitguthaben mitnehmen
kann. Das andere Problem ist die Frage, was geschieht,
wenn der eigene Arbeitgeber insolvent wird. In dem Fall
ist die über einen langen Zeitraum angesparte ArbeitsBundesminister Olaf Scholz
zeit, die für den einzelnen Beschäftigten einen großen
finanziellen Wert darstellt, plötzlich verloren. Beide Probleme waren im Rahmen der bisherigen Regelung nicht
gut gelöst. Wir hatten darauf gesetzt, dass sie von den
Tarifvertragsparteien gelöst werden. Sie haben dies aber
nur in sehr wenigen Fällen getan. Darum ist aus einer
guten Idee, die es vor zehn Jahren gab, noch nicht sehr
viel entstanden.
Aber wir müssen auf diesem Gebiet etwas erreichen.
Aufgrund der Tatsache, dass Arbeit eine so große Rolle
in unserem Leben spielt, müssen wir die gesetzlichen
Voraussetzungen dafür schaffen, dass Arbeitnehmer von
der Möglichkeit, ihre Arbeitszeit souverän über ihr Berufsleben zu verteilen, Gebrauch machen können. Das
erreichen wir mit diesem Gesetz.
({3})
Gute Gesetzgebung besteht darin - das ist meine feste
Überzeugung -, dass man sich darauf verlassen kann,
dass Gesetze funktionieren. In diesem konkreten Fall bedeutet das, dass man nicht einen Steuerberater und einen
Rechtsanwalt braucht, um sich an die Idee zu wagen, ein
Arbeitszeitkonto aufzubauen, und um für sich die richtige Entscheidung zu treffen. Unsere Aufgabe ist es, dafür ein gutes Gesetz zu schaffen. Wir tun das mit dem
heute zu debattierenden Gesetzesvorhaben.
Wir definieren, was Wertguthaben sind, und unterscheiden auf diese Weise Langzeitkonten heute viel besser von anderen Formen flexibler Arbeitszeitgestaltung,
die es auch in Form von Überstundenkonten und Ähnlichem gibt. Diese Definition wurde sehr sorgfältig erarbeitet. Zwar haben es die Tarifvertragsparteien nicht geschafft, sich untereinander zu einigen, aber in
Gesprächen mit uns sind sie sich einig, dass unser Vorschlag eine vernünftige Lösung darstellt, die allen fachlichen Anforderungen entspricht.
({4})
Wir schaffen die Möglichkeit, diese Wertguthaben,
diese Langzeitkonten so einzusetzen, wie man es
möchte. Man kann dies natürlich dort tun, wo es gesetzliche Freistellungsansprüche bereits heute gibt. Ich habe
schon einige genannt. Aber man kann es auch in solchen
Fällen tun, die gesetzlich nicht geregelt sind, die das Ergebnis einer Vereinbarung von Tarifvertragsparteien
oder einer individuellen Vereinbarung mit dem Unternehmen sind.
Es geht also darum, Zeit zu gewinnen, beispielsweise
für die Betreuung von Kindern. Man kann auch ein Jahr
- ein Sabbatical - aussetzen. Es muss die Möglichkeit
bestehen, den Akku neu aufzuladen und sich weiterzubilden. Es geht natürlich auch um die Möglichkeit, beim
Übergang in die Rente andere Gestaltungsmöglichkeiten
zu haben als heute. All das ermöglichen wir mit den
Langzeitkonten.
({5})
Das Gesetz regelt den Insolvenzschutz. Diesen Schutz
erreichen wir unter anderem durch eine sorgfältige Prüfung durch die Deutsche Rentenversicherung. Das ist
übrigens ein hocheffizienter Insolvenzschutz; denn wenn
die Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass das Arbeitszeitkonto nicht insolvenzgesichert ist, dann werden Beiträge
und Steuern sofort fällig. Auf diese Weise haben wir ein
ganz sicheres Instrument, mit dem in jedem Unternehmen sichergestellt wird, dass der Insolvenzschutz auch
dort gewährleistet ist, wo bisher noch nicht dem Gesetz
entsprechend gehandelt worden ist.
Das Gleiche gilt für die Frage, wie man die Einlage
absichert. Wir machen dazu Vorschriften, wie wir sie
auch in anderen Gesetzen im Hinblick auf die Anlagesicherheit haben. Man muss nicht die Wirtschaftsteile der
Zeitungen gelesen haben, um zu wissen, dass wir uns darum kümmern müssen, dass das Geld der kleinen Leute
nicht in hoch spekulative Anlagen und in Produkte von
irgendwelchen Schnellversprechern gesteckt wird.
({6})
Im Übrigen regelt das Gesetz die Möglichkeit, sein
Arbeitszeitkonto mitzunehmen.
({7})
- Danke für den Zwischenruf. Das ist falsch!
({8})
Das Gesetz regelt die Möglichkeit, das Arbeitszeitkonto mitzunehmen. Wenn der neue Arbeitgeber es nicht
für sich haben will - wir können es ihm schwerlich oktroyieren, denn er hat mit dem bisherigen Arbeitsverhältnis ja nichts zu tun -, dann hat man die Möglichkeit, es
bei der Deutschen Rentenversicherung langfristig sicher
festzulegen.
({9})
Dann kann es so eingesetzt werden, wie es auch geplant
ist. Aber wenn man es mitnimmt, dann kann man auch
bei dem neuen Arbeitgeber ein solches Arbeitszeitkonto
mit den weiteren Ansprüchen aufbauen.
({10})
Es ist also für jeden Beschäftigten möglich, ein Arbeitszeitkonto über das ganze Leben zu verwalten und
dann zu den Zeitpunkten einzusetzen, zu denen er es benötigt.
({11})
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf, über
den wir heute beraten, wird vielleicht zu einem der modernsten und wichtigsten Gesetze dieser Zeit. Ich bin
ziemlich sicher, dass dieses Gesetzesvorhaben in zehn
Jahren wie eine Selbstverständlichkeit sein wird, weil es
das Arbeitsleben fast jedes Einzelnen mit beeinflusst,
nämlich als Möglichkeit, aus eigener Perspektive souverän mit der Arbeitszeit umgehen zu können. Das ist ein
guter Fortschritt für ein Land, das auf gute Arbeit und
auf gute Löhne setzt.
In diesem Sinne: Schönen Dank.
({12})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister Scholz, Sie haben gestern im Ausschuss
für Arbeit und Soziales gesagt - Sie haben es heute wiederholt -, dies sei das vielleicht wichtigste Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode, das die Arbeitswelt verändern werde. Das ist ein großes Wort. So,
wie sich der Gesetzentwurf bisher präsentiert, wird diese
große Ankündigung jedenfalls noch nicht eingelöst.
({0})
Die grundsätzliche Idee, die Arbeitszeit zu flexibilisieren, ist richtig. Es war ja auch die FDP, die im April
1998 das Gesetz zur sozialrechtlichen Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen mit in Kraft gesetzt hat.
({1})
Wir stimmen zu: Arbeitszeiten und Zeitmanagement sollen flexibel und für Arbeitgeber und Arbeitnehmer individueller gestaltbar sein.
Ich darf auch sagen, weil Sie das Ende des Arbeitslebens hier schon mit angeführt haben, dass die FDP-Bundestagsfraktion den Gedanken eines selbstbestimmten
Arbeitslebens mit dem Konzept eines flexiblen Renteneintritts ab dem 60. Lebensjahr - übrigens bei Wegfall
aller Zuverdienstgrenzen - und Vorschlägen zur Stärkung der betrieblichen und privaten Vorsorge konsequent weitergedacht und weiterentwickelt hat.
({2})
Lassen Sie mich zunächst sagen, was an Ihrem Vorschlag gut ist. Es ist gut und richtig, dass künftig auch
geringfügig Beschäftigte in den Genuss der Regelungen
über flexible Arbeitszeitgestaltungen kommen sollen.
Sinnvoll ist ferner, klarzustellen, welche Formen von
Arbeitszeitguthaben von dem Gesetz erfasst werden.
Aber es gibt auch ein paar Punkte, die wir uns noch
einmal anschauen müssen und bei denen es aus unserer
Sicht Klärungsbedarf gibt.
Erstens. Es wird von Ihnen zu Recht darauf verwiesen, dass bisher bei einem Arbeitgeberwechsel die Wertguthaben meist aufgelöst werden und dann verbeitragt,
versteuert und ausgezahlt werden. Das senkt die Attraktivität der Arbeitszeitkonten natürlich erheblich. Deswegen sollte - da stimmen wir Ihnen zu - eine bessere Portabilität ohne diesen Zwang zur Auflösung hergestellt
werden.
Aber der im Entwurf des § 7 f SGB IV vorgesehene
Weg der Portabilität über die gesetzliche Rentenversicherung ist in der gegenwärtigen Fassung aus mehreren
Gründen für die Arbeitnehmer, wie ich finde, unattraktiv. Zum einen wird ein Rückübertragungsanspruch des
Beschäftigten auf einen neuen Arbeitgeber ausgeschlossen. Unter Umständen steht der neue Arbeitgeber noch
gar nicht fest; es gibt eine Lücke in der Erwerbsbiografie. Das wandert also zunächst zur Rentenversicherung.
Nun wäre es ja sinnvoll, dass nach einer gewissen
Zeit eine Übertragung auf den neuen Arbeitgeber stattfinden kann. Das ist bisher nicht vorgesehen. Es würde
am Ende dazu führen, dass ein Arbeitnehmer mehrere
Konten hat. Es ist nicht klar, warum eine Übertragung
ausgeschlossen sein soll. Im Gesetzentwurf wird dazu
abstrakt von Gründen der Verwaltungssicherheit und Finanzierung gesprochen. Darüber sollten wir also reden.
Der andere Aspekt der Anlage der Arbeitszeitkonten
bei der Rentenversicherung ist, dass der Arbeitnehmer
die Verwaltungskosten für das Wertguthaben tragen soll.
Zugleich gibt es konservative Anlagevorschriften entsprechend denen für öffentlich-rechtliche Sozialversicherungsträger. Da muss man sich auch einmal anschauen, welche Renditeerwartungen ein Arbeitnehmer
bei einer solchen Anlage und Führung des Kontos durch
die Rentenversicherung noch hat.
Man könnte meines Erachtens darüber nachdenken,
den Arbeitnehmern hier ein Wahlrecht zuzugestehen,
welchen Risikograd sie bei der Anlage des Wertkontos
haben möchten, was sich natürlich auch auf die Garantiesumme auswirkt.
({3})
Wenn die Anlage aber unattraktiv ist, wird diese Möglichkeit der Portabilität nicht genutzt werden.
Im Gesetzentwurf werden viele Gründe aufgezählt,
warum eine treuhänderische Übernahme der Arbeitszeitkonten durch private Anbieter nicht zulässig sein soll.
Dabei geht es aber mehr um fiskalische Interessen, wenn
ich das richtig sehe, vor allem um den Schutz der Sozialversicherungsbeiträge. Die Interessen der Arbeitnehmer
treten demgegenüber in den Hintergrund. Diese Interessengewichtung muss man sich einmal genau anschauen
und sich fragen, ob die Attraktivität des Gesetzes für Arbeitnehmer durch diese Regelung nicht massiv beschnitten wird.
({4})
Ich will auf einen weiteren Aspekt hinweisen. Mit
dem § 7 d SGB IV sollen die Wertguthaben während der
Ansparphase besser geschützt werden als bisher. Dafür
sollen die Vermögensanlagevorschriften der § § 80 ff.
SGB IV gelten. Das heißt, die Anlage in Aktien oder
Aktienfonds soll auf 20 Prozent begrenzt sein. Der eine
oder andere mag sagen, dass das angesichts der aktuellen
Entwicklung auf den Finanzmärkten sinnvoll ist. Ich will
darauf hinweisen, dass Beteiligungen am Kapitalmarkt
in der mittel- und langfristigen Perspektive immer die
höchsten Wertsteigerungen geboten haben.
({5})
Man sollte deswegen prüfen, ob man nicht durch flexiblere Regelungen dem Einzelinteresse gerecht werden
kann, etwa dadurch, dass man sagt: Jüngere Arbeitnehmer, die noch ein langes Erwerbsleben vor sich haben,
erhalten die Möglichkeit, einen höheren Aktienanteil zu
wählen; sobald der Renteneintritt näher rückt, erfolgt
aber eine Umschichtung in sicherere Produkte. Das Interesse des Einzelnen ist hier zu berücksichtigen. Ich sehe
keinen Grund, warum wir das nicht tun sollten.
({6})
Der dritte und letzte Aspekt ist der Insolvenzschutz
der Arbeitszeitkonten. Es gab sicherlich manche Arbeitszeitkonten, die nicht wirksam insolvenzgesichert
waren. Man muss aber schauen, ob Sie mit dem, was Sie
jetzt vorschlagen, nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, ob die Neuregelung nicht über das Ziel hinausschießt und Arbeitszeitkonten aus Arbeitgebersicht uninteressant macht. Speziell die Regelung der Haftung des
Vorstandes bzw. Geschäftführers eines Unternehmens,
die zwar mit einer Escape-Klausel versehen ist, aber
dennoch eine Umkehr der Beweislast ist, wird aus meiner Sicht dazu führen, dass viele Mittelständler diesen
Weg nicht beschreiten werden. Das kann nicht in unserem Interesse sein.
Man muss sich auch fragen, ob man zwingend vorschreiben muss, dass diese Wertguthaben durch Dritte
geführt werden, weil das gerade für kleinere Betriebe zu
einem hohen Abfluss von Kapital führen könnte. Es gibt
also viele Fragen, unter anderem auch die, warum Arbeitszeitkonten künftig nur noch in Geldform und nicht
mehr als Zeitkonten geführt werden können. Eine wirkliche Begründung liefert der Gesetzentwurf auch hierfür
nicht.
Im Ergebnis lässt sich feststellen: Die Richtung
stimmt. Wir sollten versuchen, mehr Flexibilität zu erreichen, aber auf eine Art und Weise, die in der Praxis akzeptiert wird; Herr Minister, Sie haben darauf hingewiesen. Die Menschen müssen das Gesetz verstehen und
anwenden wollen. Das ist im vorliegenden Fall nicht gegeben. Wir haben aber die Chance, im Ausschuss darüber zu beraten. Wir stehen für die Beratungen gerne zur
Verfügung.
Ich bedanke mich.
({7})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Wolfgang
Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf zur
Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen - wir nennen das in
der Kurzform Flexi II, weil es 1998 schon ein Flexi I gab werden wir auf dem Weg, Arbeitszeitregelungen flexibler zu gestalten und Arbeitnehmern die Möglichkeit zu
geben, Entscheidungen über Lebensarbeitszeiten zukünftig besser steuern zu können, weitergehen.
Ich möchte mich bei Ihnen von der Linken übrigens
entschuldigen: Wenn ich hier rede, erwarten Sie, dass ich
auf Sie eindresche. Das kann ich heute nicht. Es geht um
ein Sachthema, das wir nach vorne bringen wollen.
({0})
Deshalb halte ich mich ein bisschen zurück.
Die Bedeutung flexibler Arbeitszeitregelungen hat
allgemein zugenommen. Wir wissen, dass es Flexibilität
in der Arbeitszeit täglich gibt: bei Gleitzeit, bei der Ansammlung von Überstunden, bei Wochenarbeitszeiten.
Dazu sind längst Regelungen getroffen worden. Inzwischen gibt es aber auch Modelle und Entwürfe, die weiter gehen, zum Beispiel Tarifvereinbarungen, bei denen
längerfristige Vereinbarungen über Arbeitszeitkonten
getroffen werden. Zum Teil werden dort Regelungen getroffen, auch bei betrieblichen Abmachungen, die in
Grauzonen landen. Deswegen müssen wir ein paar
Dinge klarer regeln.
Warum ein neues Gesetz? Es gibt, wie gesagt, eine
Vielzahl von Modellen zur Gestaltung der Arbeitszeit
unabhängig von der Frage der Gleitzeit- und Kurzzeitkonten; Metall-, Elektro- und chemische Industrie sind
auf diesem Gebiet sehr fortschrittlich. Diese Modelle haben die unterschiedlichsten Zielsetzungen, zum Beispiel
die Freistellung von der Arbeitszeit während der Erwerbszeit, den gleitenden Übergang in den Ruhestand
oder die Bereitstellung von Qualifikationszeiten.
Gerade in dieser Zeit gibt es zwei Gründe, die es notwendig machen, flexiblere Möglichkeiten zu haben, um
etwas früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden.
Dazu leisten solche Lebensarbeitszeitkonten einen Beitrag. Ein Grund ist die Gewissheit, dass wir irgendwann
einmal am Ende der 20er-Jahre dieses Jahrhunderts die
Rente mit 67 haben werden.
({1})
Der zweite Grund ist, dass die Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit auslaufen wird.
Auch hier ist die Möglichkeit gegeben, entsprechende
Vereinbarungen langfristig zu treffen und damit einen
Ersatz dafür zu schaffen.
Wir streben mit dem Gesetz also mehr Attraktivität
von Langzeitkonten an. Der Minister hat eben darauf
hingewiesen, dass es schon länger Möglichkeiten gibt,
aber Unsicherheiten vorhanden sind. Wir müssen dies attraktiver gestalten. Das wird nur dann gelingen, wenn
wir gemeinschaftlich einen Entwurf vorlegen, den die
Menschen gut finden und verstehen. Wir müssen versuchen, die rechtlichen Grauzonen zu beseitigen.
Deswegen will ich auf drei Schwerpunkte eingehen,
die in diesem Gesetzentwurf vorgesehen sind. Der erste
Punkt ist die Abgrenzung des Begriffs Wertguthaben.
Wir müssen hier unterscheiden. Es gibt flexible Arbeitszeitregelungen, die sich im kürzeren Bereich, im Bereich
der werktäglichen, wöchentlichen Arbeitszeit zum Ausgleich eignen, zum Beispiel Überstunden, die angesammelt und wieder abgebaut werden. Diese helfen also, innerhalb des Betriebsablaufs zu Lösungen zu kommen
und die Arbeitszeiten flexibler zu machen. Dies ist einerseits im Sinne der Unternehmer, aber auch der Arbeitnehmer. Um diese Regelungen geht es jetzt nicht.
Es geht bei Wertguthaben vor allem darum, dass längerfristig Arbeitszeit und Arbeitsentgelt angesammelt
werden. Dies geschieht immer mit dem Ziel, in der Zeit,
in der man sich freistellen lässt, formal im Betrieb beschäftigt zu sein und eine Entlohnung zu bekommen, auf
die Sozialabgaben und Steuern gezahlt werden müssen.
Das heißt, die Entlohnung wird erst in dem Moment, in
dem sie ausgezahlt wird, von der Versicherung verbeitragt und der Steuer unterzogen. Vorher wird sie auf einem Konto gesammelt. Das Ziel eines Wertguthabens ist
also nicht die flexible Gestaltung täglicher oder wöchentlicher Arbeitszeiten, es dient nicht dem Ausgleich
von Produktions- und Arbeitszeitzyklen, gemeint sind
also nicht Gleitzeit- und Kurzzeitkonten, sondern es geht
um angespartes Arbeitsentgelt, das man sozusagen in einen Topf gibt und das der Freistellung von der Arbeitsleistung dient, wenn man sie denn wünscht.
Es gibt zwei Möglichkeiten. Zum einen gibt es gesetzliche Möglichkeiten, die immer wichtiger werden:
Anspruch auf Freistellung bei der Elternzeit und bei der
Pflege naher Angehöriger oder Anspruch auf Teilzeitarbeit. Zum anderen gibt es die Möglichkeit, Freistellungen in Verträgen individuell zu vereinbaren. Auf
Deutsch: Man spart Arbeitsstunden, Geld, Urlaubstage
und was immer denkbar ist in einen Topf. Dieser Topf
muss bis zu dem Zeitpunkt verwaltet werden, an dem
man aus der Arbeit heraus will, während man formal
weiter beschäftigt ist. Man bekommt dann auch ein Gehalt. In dem Moment werden erst die Sozialbeiträge und
Steuern von dem Gesparten abgezogen, das in dem Topf
enthalten ist. Es geht darum, dies sicherzustellen. Das ist
ein Ziel dieses Gesetzes.
Wertguthaben sollen in Zukunft nur noch als Arbeitsentgeltkonten geführt werden. Das bedeutet zwar immer
noch, dass man Arbeitszeit einbringen kann, aber das
Konto muss als Arbeitsentgeltkonto geführt werden.
({2})
Für die Arbeitgeber besteht die Pflicht, jährliche Kontoauszüge zu erstellen. Das gibt den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern Sicherheit, weil sie dann wissen,
was auf dem Konto ist. Es gibt auch die Möglichkeit,
dies kontrollieren und prüfen zu lassen; darauf ist eben
schon hingewiesen worden. Man hat einen Anspruch auf
Entschädigung, wenn festgestellt wird, dass das Risiko
nicht richtig abgesichert ist.
Führung der Wertguthaben generell durch Dritte:
Auch das ist in dem Gesetzentwurf vorgesehen.
Insolvenzschutz ist der zweite zentrale Punkt. Bisher
haben die Vertragsparteien selber wählen können, wie
der Insolvenzschutz durchgeführt wird. Diese eher lockere und freie Möglichkeit der Vereinbarung und Gestaltung des Insolvenzschutzes hat oft dazu geführt, dass
man auf Maßnahmen des Insolvenzschutzes gänzlich
verzichtet hat. Das kann nicht im Sinne der Betroffenen
sein. Es darf nicht sein, dass man zum Teil über 30,
40 Jahre auf Lebensarbeitszeitkonten ansammelt und am
Ende feststellt, dass auf diesen Konten gar nichts mehr
ist und dass man total benachteiligt ist. Das muss geregelt werden. Die Insolvenzschutzregelung ist wichtig.
Der Schutz vor Insolvenz war zwar vorgeschrieben,
wurde aber bei Nichteinhaltung der Regelung nicht
sanktioniert. Dies ist nach dem neuen Gesetzentwurf
möglich.
Die Frage des Schadensersatzes habe ich gerade angesprochen. Da ich nur noch eine Minute Redezeit habe,
gehe ich darauf nicht weiter ein.
Ein weiterer Punkt dieses Gesetzentwurfs ist die begrenzte Möglichkeit der Mitnahme von Lebensarbeitszeitkonten. Herr Kolb, wir können gerne darüber reden.
Ich bin Gott sei Dank kein Jurist, wie ich manchmal
sage. An dieser Stelle muss man wahrscheinlich ein findiger Jurist sein, um eine Regelung zustande zu bringen.
Ich habe die bisherigen Formulierungen im Gesetzentwurf so verstanden, dass es sehr schwer ist, da Portabilität in größerem Umfang herzustellen. Man muss während der Ausschussberatungen einmal austesten, was
geht und was nicht geht. Dabei müssen Juristen Formulierungshilfen geben. Einfach zu sagen: „Da muss mehr
gemacht werden“, ist zum jetzigen Zeitpunkt möglicherweise verfrüht.
({3})
Wir wollen jedenfalls erreichen, dass der Arbeitnehmer bei einem Wechsel des Arbeitgebers die Möglichkeit einer begrenzten Mitnahme seines Lebensarbeitszeitkontos hat. Es gibt die Möglichkeit, dass er mit dem
neuen Arbeitgeber eine Vereinbarung über eine Übertragung trifft. Das ist natürlich der günstigste und beste
Fall. Ich glaube, je attraktiver wir Lebensarbeitszeitkonten gestalten, umso mehr werden wir bei Arbeitgebern
die Bereitschaft finden, solchen Übertragungen zuzustimmen.
({4})
Eine weitere Möglichkeit ist, dass dies von der Rentenversicherung treuhänderisch übernommen wird. Das
hat den Nachteil, dass es nicht richtig weiterentwickelt
werden kann. Darüber muss man nachdenken. Wenn ich
es richtig verstanden habe, scheitert es bis jetzt an der
fehlenden Arbeitgeberfunktion der Bundesagentur, die
diese Funktion übernehmen müsste. Genauso gibt es bei
Privaten Schwierigkeiten mit der Definition. Da müssen
Juristen heran. Bisher ist das nicht gelungen. Wenn es
uns im Ausschussverfahren nicht gelingt, wäre ich auch
nicht unglücklich; denn ich finde, wir kommen mit diesem Gesetzentwurf schon ein Stückchen weiter.
({5})
Letztlich wäre es möglich, das Ganze wie bisher sozusagen als Störfall aufzulösen und an den Arbeitnehmer zurückzugeben.
Ich glaube schon, dass Sie recht haben, Herr Minister,
dass wir mit diesem Gesetzentwurf etwas auf den Weg
bringen, was bei der Gestaltung von Lebensarbeitszeiten
mittelfristig sicherlich eine Rolle spielen und die Freiheit
der Menschen erhöhen wird.
Schönen Dank.
({6})
Für die Fraktion Die Linke gebe ich das Wort der Kollegin Dr. Barbara Höll.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Menschen in Deutschland arbeiten sehr viel - das sagte
DGB-Chef Sommer am 15. September in der Süddeutschen Zeitung.
({0})
Sie arbeiten im EU-Vergleich sogar überdurchschnittlich
viel. Die tatsächliche Wochenarbeitszeit in Deutschland
beträgt 41,1 Stunden. Dies ist nach einer europäischen
Studie zur Arbeitszeitentwicklung ein Spitzenplatz. Der
Durchschnitt in den 27 EU-Staaten beträgt 40 Stunden
Arbeit pro Woche.
Laut IAB leisteten jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin 2007 41,9 bezahlte Überstunden im Jahr.
Das macht ein Gesamtvolumen von 1,45 Milliarden
Überstunden aus. Erfahrungsgemäß fällt jedoch tatsächlich die doppelte Anzahl an Überstunden an. Nicht ausgezahlte Überstunden werden in der Regel in Gleitzeitoder Kurzzeitkonten geparkt, um kurzfristig Auftragslücken und Ähnliches zu überbrücken.
Nicht zuletzt durch die Anhebung der Altersgrenze in
der gesetzlichen Rentenversicherung auf 67 Jahre sind
Modelle zur Arbeitszeitgestaltung wichtig.
Spätestens mit 40 Jahren fragt sich die Krippenerzieherin: Werde ich die Kleinen auch noch mit 60 Jahren so
locker hochheben können wie jetzt?
({1})
Der Schweißer fragt sich, wie er das Dreischichtsystem
bewältigen wird.
({2})
Die Altenpflegerin fragt sich, wie sie mit 60 Jahren noch
die Kraft aufbringen soll, die schwere körperliche Arbeit
zu bewältigen. Für viele wird aufgrund der Politik der
Bundesregierung, aufgrund Ihrer Großen Koalition, nur
die Option des vorzeitigen Renteneintritts, allerdings mit
hohen Abschlägen bis zum Lebensende, bleiben. Das ist
das Hauptproblem.
({3})
Das Volumen der im Erwerbsleben zu leistenden Arbeit hat sich erhöht. Das Arbeitstempo steigt stetig an.
Lebenslanges Lernen ist eine Voraussetzung, um am Arbeitsmarkt bestehen zu können.
({4})
In der beruflichen Praxis ist das aber noch nicht angekommen. Im Gegenteil, die bisherigen Möglichkeiten
zur Gestaltung der Lebensarbeitszeit waren im Wesentlichen auf die Altersteilzeitregelung beschränkt, die zum
31. Dezember 2009 ausläuft und ersatzlos wegfällt.
({5})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
({6})
legt die Große Koalition nur eine billige Ersatzvariante
für das Auslaufen der Altersteilzeitregelung vor.
({7})
Im Fokus hat sie dabei die Milderung der mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre verbundenen
Probleme.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen in Zukunft Mehrarbeit leisten, die ihnen nicht unmittelbar bezahlt wird. Stattdessen sollen ihre Arbeitszeitguthaben
auf ein sogenanntes Wertguthabenkonto gelegt werden.
Der Gesetzentwurf sieht für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer nur eine begrenzte Nutzung ihres dadurch
gewährten zinslosen Darlehens an die Arbeitgeber vor.
({8})
Geregelt ist nur die Inanspruchnahme für Pflege, Kinderbetreuung, Teilzeitvereinbarung und vorzeitigen Renteneintritt.
({9})
Alles andere unterliegt der Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die ungleiche Verhandlungsmacht wird dabei aber überhaupt nicht berücksichtigt.
({10})
Den Unternehmen steht es nach dem bisherigen Text
des Gesetzentwurfes außerdem frei, mit ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Inanspruchnahme von
Wertguthaben auch zur Überbrückung von konjunkturellen Schwankungen oder Auftragsmängeln zu vereinbaren.
({11})
Für die Arbeitgeberseite stellen Wertguthaben einen Liquiditätsvorteil dar, da die Sozialversicherungsabgaben
erst bei der Auszahlung anfallen.
Sie haben es versäumt, mit diesem Gesetz die nach
wie vor vorhandenen Lücken zu schließen. Die unterschiedlichen Gleit- und Arbeitszeitkonten haben Sie im
Rahmen der Ausweitung des Insolvenzschutzes nicht
einbezogen. Erfasst werden von Ihrem Vorschlag gerade
einmal 10,2 Prozent der existierenden Arbeitszeitkonten,
die sogenannten Langzeitkonten.
({12})
Kurzzeitkonten, die mit knapp 70 Prozent die große
Masse ausmachen, bleiben aber außen vor.
({13})
Dadurch können im Falle einer Insolvenz Zeitguthaben in der Größenordnung von einem Monatslohn bis zu
mehreren Jahresgehältern unwiederbringlich verloren
gehen. Selbst die von der Koalition angedachte Möglichkeit der Mitnahme der Zeitguthaben beim Wechsel des
Arbeitgebers ist keinesfalls ausgereift; denn sie ist nicht
einklagbar. Zudem sind die vorgesehenen Kontrollmöglichkeiten der Insolvenzsicherung unzureichend.
Die von Ihnen vorgeschlagene Möglichkeit der Übertragung auf die Deutsche Rentenversicherung Bund ist
so ausgestaltet, dass es sehr schwierig ist, sie in Anspruch zu nehmen. Im Prinzip muss ein Arbeitnehmer
ein Guthaben in der Größenordnung einer Jahresfreistellung angesammelt haben, um es übertragen zu können,
und dann bleibt es gebunden.
({14})
In Ihrem Gesetzentwurf gehen Sie überhaupt nicht
auf die Frage ein: Was geschieht, wenn Arbeitnehmer,
die bei der Deutschen Rentenversicherung Bund ein
Wertguthaben haben, in ALG-II-Bezug fallen? Sind sie
dann gezwungen, ihr Guthaben aufzulösen, oder können
sie es, wie sie vielleicht geplant haben, behalten, um
eher in Rente gehen zu können? Das ist ein Problem, zu
dem Sie sich auf alle Fälle klar äußern müssen. Wir denken, dass an diesem Gesetzentwurf noch viel zu tun ist,
damit dabei etwas Vernünftiges herauskommt. Wir sind
gern bereit, Ihnen dabei zu helfen.
Danke.
({15})
Ich gebe das Wort der Kollegin Brigitte Pothmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
finde den Ansatz dieses Gesetzentwurfes richtig. Beschäftigte brauchen mehr Zeitsouveränität. Das wird übrigens dann besonders wichtig sein, wenn wir endlich
ernsthaft darangehen, Frauen stärker in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
({0})
Wir wissen, dass Frauen nicht bereit sind, zu jeden
Bedingungen, die Männer geschaffen haben, in den Arbeitsmarkt einzutreten.
({1})
Deswegen brauchen wir dringend eine größere Zeitsouveränität. Flexibilität darf keine Einbahnstraße zulasten
der Beschäftigten sein.
({2})
Sie haben hier einen Gesetzentwurf vorgelegt und sagen, dass Sie in diesem Bereich mehr Rechtssicherheit
erreichen wollen. Ich finde, dass Sie das hinsichtlich hoher Zeitwertguthaben tatsächlich auch schaffen, während
dies für niedrige Zeitwertguthaben aber eben nicht der
Fall ist. Nach Ihren Vorschlägen bleiben wir also bei der
heutigen Situation, nämlich einer, wenn Sie so wollen,
Klassengesellschaft bei den Langzeitarbeitskonten.
({3})
Ihre Vorstellung ist, dass nur die Zeitguthaben vor einer Insolvenz geschützt sind, die einen Wert von ungefähr 7 455 Euro überschreiten und zugleich einen Ausgleichszeitraum von mindestens 27 Monaten umfassen.
Warum ist das Geld unterhalb dieser Größenordnung,
das die Menschen eingezahlt haben, eigentlich nicht
schützenswert?
({4})
Warum ist nicht auch das Geld schützenswert, das einen
Ausgleichszeitraum von 27 Monaten nicht umfasst?
Glauben Sie wirklich, dass eine erquickliche Zahl von
Beschäftigten dieses Risiko eingeht und sich damit abfindet, dass das Geld bis zu dieser Größenordnung nicht
geschützt ist? Das muss man doch erst einmal angespart
haben.
Wenn die Menschen zum Beispiel für eine Fort- und
Weiterbildung Geld ansparen, dann bleiben sie eigentlich immer unterhalb dieser Größenordnung. Diese
Wertguthaben sind nach wie vor ungeschützt. Das können Sie eigentlich nicht wirklich vertreten wollen. Das
ist keine qualitative Verbesserung im Vergleich zur Istsituation.
({5})
Das WSI geht davon aus, dass ein Viertel aller Wertguthaben weiterhin ungeschützt bleiben wird. Ich
glaube, dadurch wird sich die Gruppe derjenigen, die
sich an diesem Projekt beteiligen, erheblich minimieren.
Das Geld derjenigen, die diese hohen Hürden überwunden haben, ist zwar im Prinzip insolvenzgeschützt, aber
auch für sie wird es im Falle einer Insolvenz nicht leicht
sein, dieses Geld aus dem insolventen Betrieb tatsächlich auch herauszuholen.
Wenn ein Arbeitgeber dieses Geld nicht hinreichend
schützt, dann gibt es keine Sanktionsmöglichkeiten gegen ihn; das hat keine Konsequenzen, außer der Tatsache, dass das Konto aufgelöst wird.
({6})
Im positiven Falle erhält die Person das Geld möglicherweise zurück, aber mit ihren Planungen hinsichtlich einer Weiterbildung, einer Auszeit für die Familie oder eines Sabbatjahrs etc. ist es vorbei. Sie hat eben Pech
gehabt.
({7})
Ich will Ihnen einmal sagen, für wen dieses Konto
wirklich etwas bringt - damit zeigt sich auch, für welche
Gruppe Sie Politik machen -: Dieses Konto ist etwas für
den Facharbeiter, der lange Zeit in einem Betrieb war
- zum Beispiel bei Mercedes-Benz - und dieses Wertguthaben bzw. Zeitguthaben anlegt, um den Übergang in
den Ruhestand zu gestalten. Für ihn machen Sie Politik.
({8})
Eine junge Frau, die zum Beispiel ihren Arbeitgeber
mehrfach wechselt - wir alle wissen, dass sich das Arbeitsleben insoweit geändert hat, als dass man den
Arbeitgeber im Regelfall häufiger wechselt -, deren Arbeitgeber nicht damit einverstanden ist, dieses Wertguthaben zu übernehmen, und die eigentlich geplant hatte,
zum Beispiel die Familienphase - die sogenannte Rushhour des Lebens - ein bisschen zu entzerren, steht genauso wie vorher da. Das ist wirklich eine Politik für
männliche Facharbeiter.
({9})
Wir wollen eine echte Übertragbarkeit bei Arbeitgeberwechsel, und wir wollen auch, dass die Ansprüche
bei Freistellungen tatsächlich realisiert werden können.
Ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen noch
ein bisschen nachlegen und das noch ein wenig verbessern können. In der Sache müssen wir einfach weiter vorankommen, als dieser Gesetzentwurf vorsieht.
Ich danke Ihnen.
({10})
Für die SPD-Fraktion gebe ich dem Kollegen
Wolfgang Grotthaus das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der eingebrachte Gesetzentwurf ist schon alleine deswegen gut, weil wir uns schon vor der ersten
Beratung sehr intensiv mit den Details beschäftigt haben.
Lassen Sie mich zunächst von meinem Redekonzept
abgehen. Ich möchte einiges aus meiner Sicht klarstellen, der ich ungefähr 16 Jahre mit Flexikonten in Gleitzeit gearbeitet habe. Erstens ist tatsächlich richtig, Frau
Pothmer,
({0})
dass über eine Betriebsvereinbarung geregelt werden
kann, dass im Falle der Überschreitung der in der Betriebsvereinbarung vorgegebenen Arbeitszeit - in unserem Fall waren es zehn Stunden - der Überhang einem
Langzeitarbeitskonto zugeführt werden kann.
({1})
Das ist aber von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich.
Wir können eine solche Regelung nicht in den Gesetzentwurf aufnehmen; es ist andernorts zu regeln. Die
IG BCE hat das schon in Tarifverhandlungen umgesetzt
und entsprechende Richtlinien festgesetzt, sodass wir die
Flexibilität der Tarifvertragsparteien ruhig einfordern
können.
Zweitens. Ich finde es an den Haaren herbeigezogen,
wenn Frau Dr. Höll fragt, wie mit den ALG-II-Empfängern verfahren wird.
({2})
Zunächst einmal erhält man ALG I.
({3})
Ich unterstelle einmal, dass ein ALG-I-Empfänger mit
einer vernünftigen Ratio, der über ein entsprechendes
Guthaben mit geldwerten Vorteilen verfügt und die
Hoffnung hat, innerhalb der nächsten drei bis vier Mo19078
nate wieder in Arbeit zu kommen, bereit ist, zunächst auf
sein Konto zurückzugreifen, um keine sozialen Einbußen zu erleiden.
Sie gehen im Übrigen davon aus, dass er während des
Bezugs von ALG I weiterhin nicht auf das Konto zurückgreift und insofern bewusst die sozialen Einbußen in
Kauf nimmt. Das widerspricht meinen Erfahrungen mit
der Reaktion von Menschen, die auf einmal weniger
Geld zur Verfügung haben als während ihrer Berufstätigkeit.
({4})
Herr Kollege Grotthaus, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?
Aber gerne.
Herr Kollege, man kann sich auch darüber streiten,
inwieweit die Ratio maßgeblichen Einfluss auf bestimmte Entscheidungen hat, die wir Politiker mit entsprechenden Mehrheiten in diesem Hause treffen.
({0})
Es kann aber durchaus sein - ich finde, das muss im
Gesetzentwurf klargestellt werden -, dass jemand aus
bestimmten Gründen nur bis zum 60. Lebensjahr arbeiten will oder kann und dafür ein Wertguthabenkonto angespart hat. Wenn er dann vielleicht mit 50 Jahren kein
ALG I mehr bekommt und zwei oder drei Monate
ALG II bezieht, aber sein Wertguthabenkonto nicht angreifen will, dann ist die Gesetzgebung in der Pflicht, für
Klarheit zu sorgen: Muss das Vermögen aufgezehrt werden, oder darf man darüber verfügen und ist nicht gezwungen, es aufzubrauchen, bevor man dies möchte?
Wie wir in dieser Frage mit welchen Mehrheiten entscheiden, wird sich zeigen. Aber im Gesetzentwurf muss
dieser Punkt klargestellt werden. Ich finde, das ist nicht
zu viel verlangt. Ich hoffe, insofern stimmen Sie mir zu.
Nein, ich gehe davon aus, dass diese Klarstellung
schon an anderer Stelle im Sozialgesetzbuch erfolgt ist,
nämlich dass zunächst das vorhandene Vermögen - egal
in welcher Form - aufgebraucht werden muss. Von daher gehe ich davon aus, dass dies auch für die angesparte
Zeit zu gelten hat. Insofern muss nicht eigens betont
werden, wie in dieser Frage zu verfahren ist.
Ich glaube nicht, dass mit der Benennung der im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen heute allen klar
wird, welche positiven und langfristigen Auswirkungen
das Gesetz auf die Zeitsouveränität von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern haben wird. Ich habe eben schon
ausgeführt, dass flexible Arbeitszeiten Kennzeichen unserer modernen Arbeitswelt sind und dass viele Arbeitnehmer und Arbeitgeber dies für unverzichtbar halten.
Das Flexi-Gesetz hat einige Unwägbarkeiten aufgewiesen. Es gab Unsicherheiten beim Ansparen von
Langzeitarbeitskonten. Der vorgelegte Gesetzentwurf
sieht vor, dass die Langzeitarbeitskonten insolvenzgeschützt sein müssen. Es besteht nun eine Sanktionsmöglichkeit, wenn der Arbeitgeber den Insolvenzschutz
nicht gewährleistet. Es ist gesetzlich geregelt, dass es zu
einer externen Prüfung kommt, dass also außerhalb des
Betriebes Stehende prüfen, ob der Insolvenzschutz gegeben ist. Eine weitere Absicherung der durch den Arbeitnehmer erarbeiteten Zeit besteht darin, dass eine Rückabwicklung des Langzeitarbeitskontos möglich wird,
wenn der Arbeitgeber seinen Verpflichtungen zum Insolvenzschutz nicht nachgekommen ist. Das bedeutet, dass
hier im Gegensatz zu vorher keine Verluste für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entstehen.
Des Weiteren hat der Arbeitnehmer ein einklagbares
Recht auf Schadenersatz, wenn etwas mit seinem Arbeitszeitkonto passiert, was nicht der Rechtslage entspricht. Auch dies ist bislang rechtlich nicht abgesichert.
Die Portabilität wird ermöglicht. Für uns ist von großer
Wichtigkeit, dass die Sozialversicherungsbeiträge auf
das angesparte Zeit- oder Geldguthaben zu zahlen sind.
Dies bedeutet, dass es in Zukunft eine größere Sicherheit
in Bezug auf die Rente geben wird.
({0})
Ich sage aber auch: Nichts ist so gut, als dass es nicht
verbessert werden kann. Wir reklamieren zumindest für
uns das Struck’sche Gesetz. Wir fragen, ob das Wertguthaben erst ab dem Dreifachen der monatlichen Bezugsgröße abzusichern ist. Wir können uns vorstellen, dass
der im Gesetzentwurf genannte Zeitraum von 27 Monaten verkürzt wird.
({1})
Wir können uns zudem vorstellen, dass der für Westdeutschland geltende Wert in Höhe von 29 800 Euro für
die Portabilität eines Wertguthabens reduziert wird, sodass wir Ihrem Petitum, hier flexibler zu sein, entgegenkommen könnten.
({2})
- Sehen Sie, Frau Pothmer, dann fällt es Ihnen leichter,
in der zweiten und dritten Lesung dem Gesetzentwurf
vollen Herzens zuzustimmen.
Wir begrüßen, dass im Gesetzentwurf klar festgeschrieben wird, für welche Zwecke das Wertguthaben
genutzt werden kann. Wir sind der Auffassung, dass die
darüber hinausgehenden Zwecke, die nicht im Gesetz
festgeschrieben sind, durch die Tarifvertragsparteien geregelt werden können. Wir wissen, dass dieses Gesetz
erst spät greifen wird. Wir brauchen eine lange Anlaufzeit, um den Menschen zu sagen, was wir damit erreichen wollen. Deshalb müssen wir nach der zweiten und
dritten Lesung für dieses Gesetz werben, und zwar nicht
nur bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sondern auch bei den Arbeitgeberverbänden, den Gewerkschaften, den Betriebsräten und den Arbeitgebern selber,
sodass die Menschen deutlich sehen: Die Flexibilität
wird erhöht.
Herr Kollege!
Ich komme zum Ende. - Die Möglichkeit zu haben,
kurzfristig über ein Zeitguthaben zu verfügen und es zu
nutzen, wenn familiäre Bedürfnisse es erforderlich machen, ist ebenfalls wichtig.
({0})
Das Gesetz ist gut. Ich gehe davon aus, dass wir nach
einer langen Diskussion in diesem Jahr den Gesetzentwurf gemeinsam verabschieden werden.
({1})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich begrüße die große Harmonie, die bei diesem Gesetz
herrscht,
({0})
und die Bestätigung von allen Seiten, dass es sich um ein
sehr wichtiges Gesetz handelt. Ich pflichte Ihnen bei,
Herr Minister, dass es sich um eines der modernsten Gesetze dieser Zeit handelt. Ich glaube, dass uns dieses
Thema noch viele Jahre begleiten wird. In diesem Gesetz ist sicherlich nicht alles geregelt, was wir uns derzeit wünschen. Aber Lebensarbeitszeitkonten stellen für
den Arbeitnehmer ein besonders flexibles Instrument
dar, sich während seines Arbeitslebens seine Wünsche
zu erfüllen. Wir haben diesen Gesetzentwurf erarbeitet,
weil wir all die Jahre einen Schwachpunkt gesehen haben: den Insolvenzschutz der Arbeitnehmer. Das wichtigste Anliegen war, dies im Gesetzentwurf zu regeln;
denn bisher war im Insolvenzfall das Vermögen dem
Arbeitgeber zugeordnet. Der Arbeitnehmer verlor im
Grunde sein gesamtes Vermögen. Wir haben in der
Koalition mit dieser Regierungsvorlage erreicht, dass
der Arbeitnehmer geschützt ist.
Ich möchte ein anderes Thema ansprechen. Laut
aktuellen Untersuchungen verbinden 74 Prozent der Arbeitnehmer das Thema „Übergang vom Erwerbsleben in
den Ruhestand“ mit diesem Gesetz.
Weil dieses Thema ein wichtiges Thema für die Arbeitnehmer ist, auch wegen der Rente mit 67, die wir mit
dem Jahr 2029 erreichen, führen wir diese Debatte. Wir
als Koalition können sagen: Wir haben nicht nur die
Rente mit 67 eingeführt, weil wir langfristig orientiert
sind, sondern wir wollen auch bei der Frage langfristig
orientiert sein, wo flexible Übergänge möglich sind.
({1})
Wenn also der Arbeitnehmer auf Arbeitslohn verzichtet, ist es für ihn natürlich besonders wichtig, zu wissen,
was seinem Lebensarbeitszeitkonto gutgeschrieben
wird. Hier unterstützen wir den Arbeitnehmer doppelt:
Erstens werden bekanntlich die Sozialversicherungsbeiträge erst dann erhoben, wenn aus dem Guthaben entnommen wird und das Geld wirklich im Portemonnaie
des Arbeitnehmers landet. Das gilt ebenso für die Besteuerung. Erst wenn das Geld auf seinem Konto landet,
erfolgt die Besteuerung. Das heißt also: Mit diesem Zeitkonto kann sich der Arbeitnehmer ein Stück Flexibilität
in seiner Lebensplanung erfüllen. Die Koalitionsparteien
wollen die Arbeitnehmer mit diesen Rahmenbedingungen unterstützen.
Zweitens möchte ich auf die steuerliche Seite eingehen; denn ich bin Mitglied des Finanzausschusses, und
wir werden dieses Thema auch im Jahressteuergesetz
2009 parallel beraten. Auch wenn der Arbeitnehmer den
Betrieb verlässt, zu einem neuen Arbeitgeber wechselt
und der Arbeitgeber das Guthaben fortführt, wird das
Guthaben nicht versteuert. Ist der Arbeitnehmer nicht
beschäftigt oder macht er sich beispielsweise selbstständig, dann wird das Guthaben auf die Deutsche Rentenversicherung Bund übertragen. Auch hier gilt genau das
Gleiche: Die Besteuerung setzt erst ein, wenn das Guthaben abgerufen wird. Es ist natürlich fraglich - das ist
auch von Vorrednern angesprochen worden -, ob es richtig ist, dass dieses Guthaben auf Dauer bei der Rentenversicherung Bund verbleiben soll, und ob es dort gut
angelegt ist. Warum muss ein Arbeitnehmer, wenn er
wieder in Arbeit ist, ein neues Lebensarbeitszeitkonto
eröffnen? Das sollte im Rahmen der weiteren Beratungen überprüft werden.
({2})
Ein zentrales Thema für den Arbeitnehmer ist die
Sicherheit und die Qualität der Anlage. Die Frage wird
natürlich gestellt, wie das Geld angelegt wird und wie sicher und ertragreich die Anlage ist.
({3})
Wichtig ist, dass das Guthaben vom Vermögen des Arbeitgebers getrennt ist. Dafür haben wir normalerweise
irgendeinen Treuhänder oder einen sonstigen Dritten,
der das Guthaben verwaltet. Ich finde es allerdings bedenklich, wie die Anlagevorschriften gewählt worden
sind und welche Begrenzungen vorgenommen worden
sind. Nehmen wir als Partner zum Beispiel die Versicherungsgesellschaften, die ohnehin einer scharfen Kontrolle durch das Versicherungsaufsichtsgesetz und nun
auch den schärferen Anlagevorschriften unterliegen sollen. Auch die Versicherungsgesellschaften, die Garantien geben, unterliegen dann schärferen Anlagevorschriften als bisher. Versicherungsgesellschaften können
bekanntlich bis zu 30 Prozent ihrer Anlagen in Aktien
halten. Hier werden sie aber auf 20 Prozent begrenzt.
Das hat natürlich nichts mit spekulativen Anlagen zu
tun. Wenn wir bedenken, dass viele Arbeitnehmer eher
langfristig orientiert sind, dann kommt es darauf an, dass
wir eine vernünftige Vermögensstreuung haben. Gerade
in diesem Bereich gehören, wenn man vernünftige Ergebnisse erzielen will, auch konservative, breit gestreute
Aktienanlagen dazu. Es handelt sich hier nicht um kurzfristige, spekulative Anlagen. Denken wir nur einmal an
die Riester-Rente. Selbst die Riester-Rente ermöglicht
es, in Aktienfonds zu investieren. Deswegen sollten wir
hier nicht zu enge Maßstäbe anlegen.
({4})
Ich komme zum Schluss. Das Gesetz bringt deutliche
Verbesserungen für die Arbeitnehmer. Es konkretisiert
die Pflichten zur Führung von Arbeitszeitkonten und
verbessert den Insolvenzschutz. Wir tun etwas für die
Arbeitnehmer und sind in der Koalition mit diesem Gesetz auf dem richtigen Weg.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/10289 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg Rohde,
Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Altersvorsorge für Geringverdiener attraktiv gestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Riesterrente auf den Prüfstand stellen
- Drucksachen 16/7177, 16/8495, 16/10356 Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen von der FDP, mit Ihrem Antrag, auf den ich
jetzt eingehen möchte, wollen Sie die Altersvorsorge für
Geringverdiener attraktiv gestalten.
({0})
Ob Sie damit allerdings das Alter für Geringverdiener attraktiv gestalten, bezweifle ich. Warum, werde ich Ihnen
gern erklären.
Sie möchten erstens, dass Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung mehr hinzuverdienen können. Sie wollen die
Anrechnungsregelungen an die des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende angleichen. Im Ausschuss begründeten Sie Ihren Antrag
mit den Worten: So senken wir Altersarmut.
Liebe Kollegen von der FDP, so einfach ist das leider
nicht. Sie packen das Problem der Altersarmut nämlich
nicht an der Wurzel, sondern doktern an den Symptomen
herum. Wir von der SPD-Fraktion
({1})
machen das anders. Wir setzen uns dafür ein, dass Altersarmut erst gar nicht entsteht.
({2})
Wer gute Arbeit hat und einen fairen Lohn erhält, dem
wird die Grundsicherung im Alter als letztes soziales
Auffangnetz erspart bleiben. Deshalb kämpfen wir entschlossen für gute Arbeit und für Mindestlöhne.
({3})
Deshalb ist es uns so wichtig, dass ältere Menschen nicht
vorzeitig aus dem Arbeitsprozess aussortiert und zum alten Eisen geworfen werden.
Frau Kollegin Hiller-Ohm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Nein, ich möchte jetzt gern fortfahren.
({0})
- Sie haben nachher noch Gelegenheit, sich zu äußern.
Deshalb erarbeiten wir Vorschläge für flexible Übergänge aus dem Erwerbsleben in die Rente. Dazu gehören
die Fortführung der von der Bundesagentur geförderten
Altersteilzeit oder die Weiterentwicklung der Teilrente.
Einen wichtigen Beitrag leisten auch der eben diskutierte
Insolvenzschutz für Arbeitszeitkonten und die Möglichkeit, solche Konten mitzunehmen.
Schade, liebe FDP, dass Sie sich gerade beim Mindestlohn so hartnäckig verweigern. Hier könnten Sie tatGabriele Hiller-Ohm
sächlich etwas gegen Altersarmut und für ein besseres
Leben vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tun.
({1})
Aber was machen Sie?
({2})
Sie wollen Rentnerinnen und Rentner zur Aufbesserung
ihrer Grundsicherung im Alter weiter zur Arbeit schicken nach dem Motto: Verdient euch etwas dazu! Wer
kaputt ist und dies im Alter nicht mehr kann, hat eben
Pech gehabt.
({3})
Es ist selbstverständlich nicht verboten, im Rentenalter zu arbeiten. Auch wenn man Grundsicherung erhält,
ist dies möglich. Aktuell sind etwa 176 Euro anrechnungsfrei. Erwerbsfähige Menschen im Arbeitslosengeld-II-Bezug haben höhere Hinzuverdienstmöglichkeiten, und das ist richtig so; denn sie müssen sich den
Herausforderungen des Erwerbslebens noch stellen.
Ich komme zur zweiten Forderung in Ihrem Antrag.
Sie schlagen vor, die Anrechnung von Einkommen aus
privater und betrieblicher Altersvorsorge entsprechend
den Regeln für die Anrechnung von Erwerbseinkommen
zu behandeln.
({4})
Mit anderen Worten: Wer fleißig privat vorsorgt, soll im
Alter belohnt werden.
({5})
Dies müsse auch für die Menschen gelten, argumentieren Sie, die sich keine auskömmliche Altersrente aufbauen könnten und auf staatliche Leistungen im Alter
angewiesen seien. Sie sollen einen Teil ihrer RiesterRente behalten dürfen.
Das scheint auf den ersten Blick gerecht zu sein.
(Irmingard Schewe-Gerigk ({6}): Aber nur auf den ersten!
Die meisten Menschen mit kleinem Einkommen oder
gebrochener Erwerbsbiografie müssen sich die Raten für
ihre private Altersvorsorge oft mühevoll vom Mund absparen,
({7})
während Nichtsparer ihr Geld in den Konsum stecken
können. Am Ende erhalten beide die gleiche staatliche
Altersrente.
({8})
Im Mai haben wir eine Expertenanhörung zu diesem
Thema durchgeführt. Bei dieser Anhörung sind gute
Gründe genannt worden, warum wir bei der heutigen
Regelung bleiben sollten. Unser Sozialsystem beruht auf
dem sogenannten Nachranggrundsatz. Er sieht vor, dass
alle Anstrengungen zu unternehmen sind, den Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten, bevor Sozialhilfeleistungen in Anspruch genommen werden können.
Die Grundsicherung ist eine Sozialhilfeleistung. Deshalb
muss bis auf einen kleinen Schonbehalt alles an privatem
Vermögen aufgebraucht werden, bevor Grundsicherung
in Anspruch genommen werden kann. Alle erworbenen
Ansprüche aus vorgelagerten sozialen Sicherungssystemen werden einbezogen. Dazu zählt natürlich auch die
gesetzliche Rentenversicherung.
Für nicht begründbar halten wir, warum die gesetzliche Rente anders als die private behandelt werden soll.
Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung sollen voll auf die Grundsicherung angerechnet werden.
Die private Riester-Rente hingegen soll teilweise anrechnungsfrei bleiben. Aus Gleichbehandlungsgründen,
aber auch, um eine Diskriminierung der gesetzlichen
Rentenversicherung zu vermeiden, müssten dann gesetzliche Renten ebenfalls in gleicher Weise anrechnungsfrei
bleiben; das wäre logisch. Damit stiege aber die Zahl der
begünstigten Personen der Grundsicherung im Alter
stark an - mit den entsprechenden finanziellen Folgen.
Als schwierig sehe ich darüber hinaus die unterschiedliche Verbreitung von privater und betrieblicher
Rente an. Leider greift die individuelle Altersvorsorge
bei Frauen und in den neuen Bundesländern immer noch
weniger. Hier gilt es, die Benachteiligung dieser Personen zu beseitigen.
Liebe Kollegen von der FDP, ich komme zu Ihrer dritten Forderung. Sie wollen das liberale Bürgergeld aus
dem Jahre 2005 wieder aufwärmen und setzen damit
noch eines drauf. Mit Ihrem sogenannten Bürgergeld sehen Sie vor, die Freibeträge nochmals großzügig anzuheben. Diese Freibeträge sollen außerdem für das Zwölfte
und Zweite Sozialgesetzbuch gleichermaßen gelten. Wie
hoch das Finanzierungsvolumen sein wird und wie Sie
es aufbringen wollen, dazu schwiegen Sie damals und
schweigen Sie heute.
({9})
Von Ihnen werden lediglich erhebliche Minderausgaben
durch den vermeintlichen Wegfall ganzer Behörden unterstellt. Das ist keine seriöse Rechnung.
({10})
Meine Damen und Herren, ich habe aufgezeigt, warum der FDP-Antrag für die Altersvorsorge von Geringverdienern keinerlei wegweisende Ideen liefert. Wir lehnen den Antrag deshalb ab. Dem Antrag der Linken wird
es nicht besser ergehen. Meine Kollegin Lydia Westrich
wird dies für die SPD-Fraktion begründen.
({11})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Kolb.
Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben in Ihrer Rede
davon gesprochen, der beste Schutz vor Altersarmut sei
die Einführung von Mindestlöhnen. Meine Zwischen19082
frage haben Sie nicht zugelassen. Weil Sie ja auf seriöse
Rechnungen wert legen, wollte ich Sie nur darauf aufmerksam machen, dass derjenige, der 40 Jahre lang für
einen Mindestlohn von 7,50 Euro arbeitete, am Ende einen Rentenanspruch von 540 Euro hätte; wer 45 Jahre
lang auf dieser Basis gearbeitet hätte, bekäme 603 Euro.
Das ist deutlich weniger als die Grundsicherung im Alter
und bedeutet nach unserem Verständnis also Altersarmut.
({0})
- Ich wollte diese Frage an die SPD richten: Ist Ihre neue
Messlatte für einen flächendeckenden Mindestlohn jetzt
nicht mehr 7,50 Euro, sondern, was sich rechnerisch
eher ergäbe, 9 Euro? Vielleicht können Sie mir das in Ihrer Antwort auf meine Kurzintervention schnell sagen.
Frau Kollegin, bitte.
Herr Kollege, ich stimme Ihnen zu: Der Mindestlohn
allein wird das Problem nicht lösen. Er ist aber ein Mittel
auf dem Weg zu einer Problemlösung. Wir brauchen
nicht nur Mindestlöhne, sondern gute Löhne.
({0})
Der Mindestlohn ist die untere Absicherung und soll
nicht das Ende der Fahnenstange sein. Aber wir hoffen
und kämpfen dafür, dass die Tarifparteien sich auf gute
Lohnabschlüsse einigen. Dann ginge es den Menschen
besser; das wollen wir doch. Der Mindestlohn ist die untere Auffanglinie, an der Schluss sein muss.
Es gibt ja heute Löhne, die noch weit unter 7,50 Euro
liegen. Was ist denn mit diesen Menschen? Diese werden niemals eine Chance haben, im Alter aus der Grundsicherung herauszukommen. Das wird nur mit guten
Löhnen für gute Arbeit gelingen. Deshalb kämpfen wir
darum und setzen uns dafür so sehr ein. Ich hoffe, dass
auch Sie noch einmal in sich gehen und uns in dieser für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland wichtigen Frage unterstützen.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Jörg Rohde, FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Hiller-Ohm, Sie haben knapp das Thema
verfehlt. Statt hier über ein Problem zu reden, das Millionen von Menschen haben, sind Sie ausgewichen und
haben keine Antwort gegeben.
({0})
Seit zwei Jahrzehnten ist klar, dass die gesetzliche
umlagefinanzierte Rente auf Basis des Generationenvertrages ein Auslaufmodell ist.
({1})
2001 hat man mit Einführung der Riester-Rente erstmals
darauf reagiert.
({2})
Die Einführung der Riester-Rente war ein erster Schritt
in die richtige Richtung: weg von der alleinigen Alterssicherung durch die gesetzliche Rente hin zu einer Dreisäulenabsicherung mit der Säule gesetzliche Rente zur
Sicherung des Grundbedarfs und den Säulen private und
betriebliche Vorsorge zur Absicherung des Lebensstandards.
({3})
Leider sind sowohl die rot-grüne Vorgängerregierung als
auch die aktuelle Große Koalition nicht lange auf diesem
Weg geblieben.
Die betriebliche und private Vorsorge haben längst
nicht das Niveau erreicht, das nötig wäre, und die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung verschlingt
nach wie vor Steuermittel in gigantischem Umfang. Alles,
was in den vergangenen Jahren an vermeintlichen Reformen folgte, war nichts anderes als die Verschlimmbesserei einer nicht mehr zeitgemäßen Form der Alterssicherung.
({4})
Auch bei der Riester-Rente haben Sie sich große Fehler erlaubt. Einen ganz entscheidenden Systemfehler der
Riester-Rente möchten wir von der FDP mit unserem
heute zur Schlussabstimmung stehenden Antrag korrigieren. Leider haben alle Fraktionen des Bundestages
schon in den Ausschussberatungen angekündigt, gegen
unseren Antrag und auch gegen die Meinung der überwiegenden Zahl der Experten in der Anhörung zu unserem Antrag zu stimmen.
({5})
Rot und Grün wollen uns nicht folgen, weil sie den folgenreichen Konstruktionsfehler der Riester-Rente nicht
eingestehen wollen. CDU und CSU schweigen trotz besseres Wissen vieler Kollegen aus Gründen der Koalitionsdisziplin, und den Damen und Herren von Linksaußen geht unser Antrag nicht weit genug.
({6})
Sachliche Argumente hat leider niemand von Ihnen.
Der Grundgedanke der Riester-Rente ist folgender:
Wer privat zusätzlich vorsorgt, um später im Alter einen
höheren Lebensstandard zu haben und nicht auf staatliche Unterstützung angewiesen zu sein, wird dafür vom
Staat mit einem nicht unerheblichen Zuschuss gefördert.
So weit, so gut, meine Damen und Herren. Nun hat sich
jedoch herausgestellt, dass eine Gruppe von Rentnern
nicht in den Genuss einer Riester-Rente kommt, selbst
wenn sie einmal Jahrzehnte lang in einen Riester-Vertrag
eingezahlt haben werden: Denn bei allen Rentnerinnen
und Rentnern, deren gesetzliche Rente so gering ist, dass
sie zusätzlich auf Grundsicherung im Alter angewiesen
sind, wird der Riester-Renten-Anspruch uneingeschränkt
auf die Grundsicherung angerechnet. Die Riester-Rente
dieser Menschen wird komplett vom Grundsicherungsträger vereinnahmt. Sie erhalten keinen einzigen Cent
mehr als alle anderen Rentner, die nicht privat vorgesorgt haben. Werte Kolleginnen und Kollegen hier im
Deutschen Bundestag, das ist eine Sauerei ungeheuren
Ausmaßes.
({7})
Gerade die Menschen, die aus welchen Gründen auch
immer über ein sehr niedriges Einkommen verfügen und
dennoch etwas fürs Alter zurücklegen, werden rückwirkend dafür bestraft, indem man ihre Riester-Rente zu
100 Prozent vom Grundsicherungsanspruch abzieht.
Dieses Signal ist verheerend. Es zerstört jedes Vertrauen
in die staatlich geforderte und geförderte Riester-Rente.
Gerade für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen ist nämlich angesichts des sinkenden Rentenniveaus
bei der gesetzlichen Rente private und betriebliche Vorsorge unerlässlich. All diesen Menschen sagen Sie von
CDU, CSU, SPD und Grünen heute: Wenn ihr keine
Aussicht mehr auf eine Rente über Grundsicherungsniveau habt, braucht ihr auch nicht privat vorzusorgen;
denn der Sozialhilfeträger kassiert es eh ein; und wenn
ihr schon gespart habt, dann kündigt einfach euren Vertrag und verzichtet auf die bis zu 92 Prozent staatlichen
Zuschüsse. Dann bleiben euch wenigstens die paar Euro,
die ihr sonst selbst eingezahlt habt. - Das ist die Botschaft an die Menschen, die Sie von Union, SPD und
Grünen heute aussenden.
({8})
Die FDP hat eine einfachere Botschaft: Die Formel
„Wer spart, muss mehr haben als der, der nicht spart“
muss gelten.
({9})
Wer die Menschen zu privater und betrieblicher Vorsorge ermuntern möchte, muss auch garantieren, dass
sich das Engerschnallen des Gürtels später auszahlt.
({10})
Das ist auch der grundlegende Unterschied, Frau
Hiller-Ohm: Die freiwillige Einzahlung in die RiesterRente muss geschützt werden. Die gesetzliche Verpflichtung zur gesetzlichen Rentenversicherung ist allerdings
gegeben, und insofern ist es ein klarer Unterschied zwischen freiwilliger Leistung und verpflichtender Leistung. Deswegen fordern wir eine unbürokratische Freibetragsregelung für Betriebs- und Riester-Rentner, die
auf Grundsicherung angewiesen sind.
Der Vorschlag der FDP lautet: Jeder Bezieher von
Grundsicherung soll zusätzlich bis zu einer Höhe von
100 Euro monatlich anrechnungsfrei eine Betriebs- oder
Riester-Rente beziehen können.
({11})
Darüber hinausgehende Ansprüche bis 800 Euro monatlich bleiben zu 20 Prozent und Ansprüche bis
1 200 Euro zu 10 Prozent anrechnungsfrei.
Liebe Kolleginnen und Kollegen im Bundestag, dieser Vorschlag der FDP ist nicht nur sozialpolitisch dringend zur Umsetzung empfohlen, sondern auch ordnungspolitisch.
({12})
Ich weiß, dass dies den Kolleginnen und Kollegen
links der Mitte zumeist egal ist, aber wenigstens von der
Union hätte ich mir etwas Unterstützung gewünscht.
Denn es gibt keinen Grund dafür, dass die Grenzen bei
der Grundsicherung im Alter enger gesteckt sein sollen
als beispielsweise bei ALG-II-Empfängern, also arbeitslosen Erwerbsfähigen. Wir von der FDP wollen, dass für
alle Menschen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, gilt: Tragt dazu bei, diesen Zustand zu überwinden.
({13})
Wir honorieren dies, indem wir euch Hinzuverdienste
zumindest teilweise belassen.
({14})
Unterschätzen Sie nicht die Zahl derer, auf die in den
nächsten Jahren mein gerade skizziertes Szenario zutreffen wird. Denn glücklicherweise sorgen immer mehr
Menschen zusätzlich für das Alter vor. Darunter sind
auch viele Geringverdiener und Menschen mit unterbrochenen Erwerbsbiografien. All diesen Menschen sagen
Sie wahrscheinlich heute ins Gesicht: Du machst dich
zwar für die Riester-Rente krumm, aber profitieren wirst
du davon nicht.
In diesem Haus wird völlig zu Recht häufig über das
Thema Altersarmut geredet. Heute können Sie mit einem einfachen Ja zu unserem Antrag einen großen Beitrag gegen die in einigen Jahren drohende Altersarmut
vieler Menschen leisten. Nehmen Sie diese Chance
wahr, meine Damen und Herren! Stimmen Sie dem Antrag der FDP zu!
Zum Antrag der Linken. Wir haben genügend Daten,
die belegen, dass wir die Riester-Rente nicht auf den
Prüfstand stellen müssen.
({15})
Deswegen können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({16})
Ich gebe dem Kollegen Peter Weiß von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland interessiert vor allen Dingen eine Frage:
({0})
Wie soll ich mich verhalten, damit Altersarmut für mich
eines Tages tatsächlich vermieden wird und ein Fremdwort bleibt? - Auf diese Frage wollen sie eine ehrliche,
konkrete Antwort haben.
({1})
Diese Antwort kann nur heißen: Zusätzliche Altersvorsorge zur Ergänzung der gesetzlichen Rente schützt
am besten gegen Altersarmut.
({2})
Wenn wir als Parlamentarier gegenüber den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Land, die
diese ernsthafte Frage stellen, verantwortlich handeln
wollen, dann sollten wir alles vermeiden, was diese Antwort verunklart und die Menschen verunsichert. Wir
sollten ihnen eine klare und verlässliche Antwort geben,
und die heißt eben: Zusätzliche Altersvorsorge ist der
beste Weg, um sich vor Altersarmut zu schützen. - Auf
diesem Wege sollten sich die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in Deutschland nicht verunsichern lassen.
({3})
Die Umstellung der deutschen Altersvorsorge auf ein
Dreisäulensystem aus gesetzlicher Rente - diese wird
bedeutsam bleiben, und Sie, Herr Rohde, sollten sie nicht
kaputtreden, wie Sie es gerade eben gemacht haben -,
({4})
aus betrieblicher Altersvorsorge und aus privater kapitalgedeckter Vorsorge ist notwendig, um den demografischen Wandel zu bewältigen und um mehr Sicherheit im
Alter zu gewährleisten.
Übrigens: Obwohl es einige Jahre gebraucht hat, ist
diese Botschaft bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland mittlerweile angekommen.
Denn sie handeln entsprechend.
({5})
Die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die
sich eine Betriebsrentenanwartschaft erarbeiten, steigt
kontinuierlich - heute sind es bereits über 65 Prozent;
wir wollen selbstverständlich, dass es noch mehr werden -,
und gerade in den letzten Jahren ist die Anzahl der Neuabschlüsse sogenannter Riester-Renten-Verträge - der
Kollege Riester ist extra anwesend, damit er wieder einmal seinen Namen in einer Debatte hören darf ({6})
sprunghaft angestiegen.
- Ich bitte um Entschuldigung für die kleine flapsige Bemerkung. - Bis Mitte dieses Jahres sind jedenfalls
11,6 Millionen Riester-Renten-Verträge abgeschlossen
worden.
Es ist gerade ein Markenzeichen der Großen Koalition, dass wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
bei dieser notwendigen zusätzlichen Altersvorsorge
nicht alleine lassen, sondern sie nach Kräften unterstützen wollen.
({7})
Ich darf erinnern: Wir haben in dieser Legislaturperiode
bereits beschlossen, die Förderung der Riester-RentenVerträge deutlich zu verbessern. Ab diesem Jahr gibt es
300 Euro pro Kind als staatlichen Zuschuss für einen
Riester-Renten-Vertrag. Wir haben neu eingeführt, dass
unter 25-Jährige bei einem Erstabschluss 200 Euro Zuschuss vom Staat zusätzlich bekommen. Wir haben eingeführt, dass zukünftig auch der Erwerb privat genutzten
Wohneigentums als Form der Altersvorsorge von uns
zusätzlich gefördert wird. Wir haben die Entgeltumwandlung auf Dauer steuer- und sozialversicherungsabgabenfrei gestellt.
({8})
Wir unterstützen also quasi mit indirekter Subvention
den Aufbau betrieblicher Altersvorsorge.
Die klare Botschaft an alle Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in unserem Land lautet: Nutzen Sie bitte
diese Chancen zusätzlicher Altersvorsorge! Verschenken
Sie nicht das Geld, das wir Ihnen seitens des Staates zur
Verfügung stellen! Wer vorsorgt, ist auf der sicheren
Seite.
({9})
Umso unverständlicher ist, dass leider in einzelnen
Medienberichten
({10})
und jetzt auch noch in zwei Anträgen - von der Linken
und von der FDP - ausgerechnet das Erfolgsmodell der
privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge schlechtgeredet werden soll. Das ist der eigentliche Inhalt dieser Anträge, und es ist auch der eigentliche Grund, warum wir
als Koalitionsfraktion beiden Anträgen nicht zustimmen
werden.
({11})
Wer das Motto ausgibt: „Lasst das mit der privaten
Vorsorge bleiben, es nützt eh nichts“, der handelt nicht
nur fahrlässig und unverantwortlich, er führt die Menschen schlichtweg hinters Licht.
({12})
Peter Weiß ({13})
Er treibt zahlreiche Menschen geradezu erst recht in die
Altersarmut. Solch unverantwortliches Reden muss gestoppt werden.
({14})
Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Rohde?
Ja, selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. - Sie haben recht:
Sie haben zwei Anträge vorliegen, von den Linken und
von der FDP-Fraktion. Sie haben aber vergessen, zu erwähnen - da bitte ich Sie um Bestätigung -, dass unserem Antrag eine Anfrage an die Bundesregierung zugrunde liegt, die Zahlen zum Vorschein gebracht hat,
welche uns zum Handeln veranlasst haben. Wir sehen
ein großes Problem für ungefähr ein Drittel der RiesterSparer. Aufgrund der Aussagen der Bundesregierung
sind 2 Millionen bis 4 Millionen Menschen betroffen,
weil sie ein sehr, sehr geringes Einkommen haben und
deswegen möglicherweise in die Personengruppe fallen,
({0})
die, sage ich einmal, enteignet werden könnten. Stimmen Sie mir zu, dass erstens die Zahlen der Bundesregierung das belegen - die Zahlen sind zwar schon ein
Jahr alt, und wir beraten schon einige Zeit darüber - und
dass zweitens bisher in der Debatte weder von der SPD
noch von Ihnen ein Beitrag zur Lösung dieses Problems
angedeutet wurde?
Herr Kollege Rohde, es ist richtig, dass es in der Wissenschaft und in den politischen Parteien und Gruppierungen verschiedene Vorschläge gibt, die aufgrund des
sinkenden Niveaus der gesetzlichen Rente auf eine zusätzliche Sicherung für künftige Generationen von Rentnerinnen und Rentnern abzielen. Es gibt dazu noch keinen Konsens. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir auf
diesem Weg in den kommenden Jahren zusätzliche Sicherungsklauseln in unser Rentenrecht einbauen werden.
Die Frage ist, wie sie aussehen werden.
Aber die entscheidende Frage ist doch die: Welche
Botschaft geben wir heute einem jungen Menschen? Ein
junger Mensch, der heute anfängt zu arbeiten, vielleicht
im Niedriglohnsektor, plant doch nicht, zeit seines Lebens, bis zum 67. Lebensjahr, im Niedriglohnsektor zu
bleiben. Ein junger Mensch will doch, genauso wie die
jungen Menschen in der Vergangenheit, beruflich Karriere machen, mehr verdienen, zu einem besseren Verdienst kommen!
({0})
Deswegen ist die Botschaft an ihn: Sorge ab dem ersten
Euro Verdienst zusätzlich für dein Alter vor; denn dann
ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass du mit der
Rente aufgrund deiner beruflichen Karriere und mit der
zusätzlichen Altersvorsorge mehr bekommst als nur die
Grundsicherung. Das ist doch die Botschaft, die wir aussenden müssen.
({1})
Wir brauchen keine neuen Berichte, wie sie von den
Linken gefordert werden. Die Linke stellt Anträge, neue
Berichte zu erstellen, doch nur deswegen, um die Menschen zu verunsichern. Die Bundesregierung wird im
November den Rentenversicherungsbericht 2008 und
den Alterssicherungsbericht 2008 vorlegen, der uns über
die gesamte Breite der Alterssicherung Auskunft geben
wird. Dann wird jeder nachlesen können, dass das Dreisäulenmodell funktioniert. Wir brauchen daher keine zusätzlichen Berichte. Es wäre besser, alle Abgeordnetenkollegen und die Öffentlichkeit würden die vorhandenen
Berichte gründlich lesen und studieren. Sie würden dann
zu dem Schluss kommen, dass das Dreisäulenmodell gegen die Altersarmut hilft.
({2})
Ich will konkrete Zahlen nennen. Deutsche Bank Research hat kürzlich eine Studie vorgelegt, die Folgendes
aussagt: Bezieher von Durchschnittseinkommen - also
Menschen, die ihr Leben lang ein Durchschnittseinkommen beziehen; das sind zurzeit 30 000 Euro jährlich ({3})
haben nach 20 Jahren, in denen sie Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung und Beiträge in einen
Riester-Renten-Sparvertrag eingezahlt haben, eine Altersvorsorge aufgebaut, die über dem Grundsicherungsniveau liegt. Das ist doch eine tolle Leistung. Diejenigen, die nur die Hälfte des Durchschnittseinkommens
ein Leben lang verdienen, erhalten nach immerhin
36 Jahren eine Leistung aus gesetzlicher Rente und
Riester-Rente, die oberhalb des Grundsicherungsniveaus
liegt.
({4})
Angesichts dieser Zahlen muss eigentlich jeder konsequent sagen: Jawohl, ich vertraue darauf, dass ich es
aus eigener Leistung mit der gesetzlichen Rente und der
Riester-Rente schaffen kann, nicht auf Grundsicherung
angewiesen zu sein, sondern ein Niveau zu erreichen,
das mich vor Altersarmut schützt.
({5})
Weil das in der Altersarmutsdebatte totgeschwiegen
wird, möchte ich daran erinnern, dass Konrad Adenauer
1957 mit der Einführung der dynamischen Rente eine
der größten sozialpolitischen Reformen, wenn nicht so19086
Peter Weiß ({6})
gar die größte sozialpolitische Reform in der Geschichte
Nachkriegsdeutschlands geschaffen hat. Bis 1957 war es
so, dass über 70 Prozent der Rentnerinnen und Rentner
in Deutschland von ihrer Rente nicht leben konnten und
beim Staat Sozialhilfe beantragen mussten. Das war die
Situation vor 51 Jahren. Mit der dynamischen Rente haben wir es geschafft, dass heute gerade noch 2,3 Prozent
der Rentnerinnen und Rentner Grundsicherung im Alter
- so heißt heute die Sozialhilfe für ältere Menschen - beantragen müssen. Das ist die große sozialpolitische Leistung des deutschen Alterssicherungssystems.
({7})
Wir wollen mit der Förderung des Dreisäulenmodells
und mit der Unterstützung der Sparanstrengungen im
Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge und der kapitalgedeckten privaten Altersvorsorge dafür sorgen, dass
es keine Rückschritte bei der hervorragenden Entwicklung in der Alterssicherungspolitik Deutschlands gibt,
sondern dass für die übergroße Mehrheit der Deutschen
in Zukunft gilt: Altersarmut ist ein Fremdwort. Zu diesem Weg, den wir eingeschlagen haben, gibt es keine Alternative.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Volker Schneider,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich muss schon sagen, Herr Weiß, Ihre Reden sind einigermaßen vorhersehbar. Es ist immer dasselbe:
({0})
Sie feiern immer auf die gleiche Art und Weise die
Riester-Rente als Erfolgsmodell und werfen dabei mit
Konfetti und Luftschlangen. Wer nicht mitfeiert, sondern
kritische Fragen stellt, egal von welcher Seite des Hauses, ist ein böser Bube und führt die armen Menschen
hinters Licht.
Aber so ganz unrecht haben Sie ja nicht, Herr Weiß.
Ich wollte Ihnen das eigentlich ersparen, aber nach Ihrer
Rede will ich auf diesen Punkt noch einmal hinweisen.
Tatsächlich ist die Riester-Rente zumindest für die Versicherungsunternehmen ein Erfolgsmodell: 12 Milliarden
zusätzlicher Umsatz in der privaten Altersvorsorge, das
ist wahrhaftig ein fantastisches Geschäft. Da lässt sich
die Allianz auch in diesem Jahr nicht lumpen:
60 000 Euro für die CDU,
({1})
60 000 Euro für die SPD, 60 000 Euro für die FDP,
60 000 Euro für die CSU und natürlich 60 000 Euro auch
für die Grünen. Das macht 300 000 Euro,
({2})
die übrigens nicht von der Allianz gedruckt werden, sondern die aus den Beiträgen der Versicherten kommen
und die mit Sicherheit an eine Stelle nicht mehr fließen,
nämlich in die Altersvorsorge.
({3})
Diese Pflege der politischen Landschaft ist offensichtlich gut angelegtes Geld, denn in Ihren Jubelarien für die
private Altersvorsorge ist noch nicht einmal der Hauch
eines Zweifels zu entdecken.
({4})
Da kann man nur noch sagen: Wegsehen, ignorieren, bagatellisieren. Auch da, Herr Weiß, haben Sie gestern im
Ausschuss ein echtes Highlight geliefert, als Sie gesagt
haben, die letzte kritische Berichterstattung zur RiesterRente liege drei Monate zurück. Eben haben Sie ein bisschen etwas anderes gesagt, aber ich kann Ihnen gern
hier darstellen, was es in den letzten zwei Monaten an
Berichterstattung gab.
Da haben wir beispielsweise die Süddeutsche Zeitung.
Unter dem Titel „Die Riester-Abzocke“ war dort zu lesen:
Viele Riester-Sparer füttern ein Monster namens Finanzindustrie: Ihre staatlichen Zulagen kommen
nicht der Altersvorsorge zugute, sondern wandern
in die Tasche der Anbieter.
Ein anderes unverdächtiges Magazin, das Manager
Magazin,
({5})
beschreibt eine Form der Abzocke, die auch bei einigen
anderen Zeitschriften nachzulesen war. Dort ist die Rede
davon, wie der Gewinn der Versicherungsunternehmen
im Grunde genommen dadurch gemehrt wird, dass man
von einer Lebenserwartung von über 90 Jahren ausgeht,
sodass die Risikoüberschüsse nur den Menschen zugutekommen, die deutlich über 90 Jahre alt werden. Das ist
ein wirklich toller Erfolg.
({6})
Jetzt zu einem Test der Zeitschrift Finanztest. Finanztest hat übrigens bis jetzt die Riester-Renten immer überdurchschnittlich gut beurteilt.
({7})
- Wissen Sie, Herr Brauksiepe: Das ist so dümmlich. Sie
können Renten natürlich nur vergleichen, wenn Sie auch
die tatsächlichen Lebenshaltungskosten miteinander vergleichen.
Volker Schneider ({8})
({9})
Die Zeitschrift Finanztest hat 53 Versicherungsanbieter überprüfen wollen. Davon hat sie von 24 sicherheitshalber schon einmal gar keine Auskünfte über die
Gebühren und Kosten bekommen, die dort anfallen. Von
den übrigen Anbietern wurde gerade einmal acht mit
„gut“ und nur zwei mit „sehr gut“ bewertet. Das heißt,
80 Prozent werden von der Zeitschrift Finanztest im
Grunde genommen so eingeschätzt, dass man sie nicht
ernsthaft irgendjemandem empfehlen kann. Aber Sie
halten das für ein Erfolgsmodell.
Deshalb fordern wir - das ist für mich sehr gut nachzuvollziehen -, dass die Wirksamkeit der Riester-Rente
überprüft wird. Wir machen konkrete Vorschläge, welche Fragestellungen in eine solche Überprüfung einzubeziehen wären.
Ich darf Sie daran erinnern: Das fordern nicht nur wir,
sondern das hat in der Anhörung eine recht illustre Gesellschaft für gut befunden. Das haben nämlich der
DGB, der Bund der Steuerzahler in Bayern, die Deutsche Rentenversicherung Bund, der Sozialverband
Deutschland und die Einzelsachverständigen Frau
Queisser und Herr Fachinger begrüßt. Sie haben alle gesagt, dass es grundsätzlich eine vernünftige Idee sei, an
dieser Stelle die Wirksamkeit der Riester-Rente zu überprüfen.
Aber Sie machen es nicht mit. Die einzige Begründung, die Sie dafür liefern, ist, dass wir die RiesterRente schlechtreden wollen. Ich kann das nicht nachvollziehen. Wenn Sie an dieser Stelle nichts zu verbergen haben, müssten Sie es mitmachen. Weil Sie aber
Angst vor dem Ergebnis haben, wollen Sie nicht, dass
ein entsprechender Bericht kommt.
({10})
Deshalb versuchen Sie, das abzubiegen. Ich sage Ihnen: Dies ist offensichtlich auch ein Ergebnis einer solchen Art von politischer Landschaftspflege. Denn wenn
jemand so viel Geld bezahlt, dann erwartet er auch, dass
schlechte Nachrichten über ihn unterdrückt werden.
Besten Dank.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sprechen heute über zwei Anträge, die zu einer Zeit
eingebracht worden sind, als in der Öffentlichkeit über
den Anstieg von Altersarmut heftig diskutiert wurde.
({0})
In einer Fernsehsendung wurde der Eindruck erweckt, es
würde sich für Beschäftigte mit Versicherungszeiten von
30 Jahren, für Menschen mit niedrigem Einkommen und
für Langzeitarbeitslose überhaupt nicht lohnen, privat
vorzusorgen.
({1})
In der Folgezeit haben sich nicht nur die FDP, sondern
teilweise auch Vertreter der Großen Koalition in einen
Wettstreit begeben: Wir haben täglich neue Vorschläge
zu Freibeträgen und zur Grundsicherung gehört, und
zwar von verschiedenen Seiten.
({2})
Die Linke hat den Antrag „Riesterrente auf den Prüfstand stellen“ vorgelegt. Sie, meine Damen und Herren,
wollen die Riester-Rente aber nicht nur evaluieren, Sie
wollen sie abschaffen. Sagen Sie das doch ehrlich,
schließlich steht das in der Begründung.
({3})
Wir Grünen haben schon lange auf die steigende Altersarmut hingewiesen. Wir forderten die Bundesregierung wieder und wieder auf, schnellstens vorbeugende
Maßnahmen gegen Altersarmut zu beschließen;
({4})
denn hier schlummert in der Tat eine gesellschaftspolitische Zeitbombe, und darauf muss man rechtzeitig politisch reagieren. Wir wissen, die Armutsrisiken werden in
Zukunft steigen. Heute sind es gut 2 Prozent der Rentner
und Renterinnen, die auf Grundsicherung angewiesen
sind. Zukünftig wird sich diese Zahl aber vervielfachen.
Im Unterschied zur FDP und zur Linken sind wir der
Meinung, dass bei den Ursachen und nicht bei den
Symptomen angesetzt werden muss.
({5})
Das heißt, wir wollen die vorgelagerten Systeme der Alterssicherung stärken, um Altersarmut zu verhindern.
Wir sind der Meinung, dass Altersarmut in der gesetzlichen Rentenversicherung vermieden werden muss.
({6})
Für uns gilt der Grundsatz: Wer ein Leben lang arbeitet
und sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellt, muss
eine Rente oberhalb der Grundsicherung erreichen können.
({7})
Auf die Veränderungen am Arbeitsmarkt muss mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, aber auch mit einer
Weiterentwicklung der Rentenpolitik reagiert werden.
Dazu brauchen wir endlich gesetzliche Mindestlöhne.
Das reicht nicht aus, ist aber ein Baustein. Wir brauchen
eine Weiterentwicklung der Rentenpolitik und eine
Garantierente oberhalb der Grundsicherung für Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben.
({8})
Die Bundesregierung wollte uns lange Zeit Sand in
die Augen streuen, indem sie behauptet hat, dass der
Aufschwung alle Probleme lösen werde. Schaut man in
den jüngsten Bericht des Statistischen Bundesamtes vom
September, stellt man fest, dass er unsere Einschätzung
bestätigt. Dort heißt es nämlich: Auch in dem gesamtwirtschaftlich erfolgreichen Jahr 2007 sind die sogenannten
„Normalarbeitsverhältnisse“ rückläufig geblieben. Trotz
günstiger Entwicklung bei der Erwerbslosigkeit wurde
der Trend nicht gestoppt, „Normalarbeitsplätze“
({9})
- jetzt müssen Sie zuhören - durch atypische Beschäftigungsformen zu ersetzen. - Deshalb - ich wiederhole
mich ganz bewusst - müssen wir das Problem an der
Wurzel anpacken und nicht nur Korrekturen vornehmen.
({10})
Die vorgelegten Anträge der FDP und der Linken lehnen wir ab. Nach dem Vorschlag der FDP soll bei der
Grundsicherung im Alter ein Freibetrag von maximal
260 Euro monatlich für die private und die betriebliche
Vorsorge anrechnungsfrei bleiben.
({11})
Einkommen aus der gesetzlichen Rentenversicherung
sollen aber zu 100 Prozent angerechnet werden. Das verstehen wir ehrlich gesagt nicht so richtig.
({12})
Meine Kollegen von der FDP, Sie wollen gesetzlich Versicherte schlechter behandeln als privat und betrieblich
Versicherte. Ich sage dazu: Typisch FDP!
({13})
Wenn man dieser Logik folgt, muss man fragen: Was
ist denn eigentlich mit einer alten Dame, die in ein Pflegeheim geht und 10 000 Euro auf ihrem Konto hat? Sie
muss das Geld einsetzen, wenn sie Leistungen vom Staat
haben möchte. Ihr Vorschlag wird, glaube ich, eine
ganze Menge anderer Dinge nach sich ziehen.
({14})
Herr Kolb, Sie dokumentieren damit, dass Sie nicht auf
die solidarische Sicherung bauen, sondern Menschen,
die privat und betrieblich vorsorgen können, bevorzugen
wollen.
({15})
Die Linke will aus der Riester-Förderung aussteigen
und die Mittel zur Stärkung der gesetzlichen Rente verwenden. Herr Schneider, ich finde, Sie schütten damit
das Kind mit dem Bade aus. Ich frage Sie einfach einmal: Wie wollen Sie es den über 11 Millionen Menschen, die einen Riester-Vertrag abgeschlossen haben,
erklären, warum die einzige Förderung privater Altersvorsorge, die mit Elementen des sozialen Ausgleichs
versehen ist, von morgen an nicht mehr gelten soll? Wissen Sie nicht, dass zwei Drittel der Riester-Sparer ein
Einkommen von weniger als 30 000 Euro pro Jahr haben?
({16})
Es ist also nicht so, dass nur diejenigen, die ein hohes
Einkommen haben, Riester-Verträge abschließen, sondern gerade Klein- und Mittelverdiener.
({17})
Vertrauen in die Alterssicherung entsteht nur dann,
wenn sich die Menschen auf das Geschaffene verlassen
können. Da helfen keine ideologischen Scheuklappen.
Frau Präsidentin, ich fasse zusammen:
({18})
Für die eine Seite dieses Hauses ist die Privatvorsorge
Teufelszeug, die andere Seite möchte die Privatvorsorge
zulasten der gesetzlichen aufblähen. Das ist nicht sachgerecht. Wir Grünen wollen in einem ersten Schritt die
Beiträge von Geringverdienenden aufstocken.
({19})
Wir wollen, dass Selbstständige, die keine obligatorische
Altersvorsorge haben, in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Wir wollen über ein Beitragssplitting die
eigenständige Rente von Frauen stärken. Das sind die
Rezepte gegen Altersarmut.
Ich danke Ihnen.
({20})
Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin
Lydia Westrich.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Schneider, es gibt einmal jährlich den
Rentenversicherungsbericht; den lesen auch Sie fleißig.
In jeder Legislaturperiode erhalten wir den Alterssicherungsbericht. Das alles wird durch den Sozialbeirat begutachtet. Dieses Gutachten bekommen wir ebenfalls.
Wir diskutieren in den Ausschüssen laufend über die aktuelle Entwicklung. In unserer schönen Bibliothek können Sie die regelmäßigen Veröffentlichungen und Statistiken der Zentralen Zulagenstelle für Altersvermögen
einsehen. Es steht uns also bereits eine Fülle von Informationen zur Verfügung. Aber es kann ja anscheinend
nie genug sein. Sie haben schon drei Kleine Anfragen zu
diesem Thema allein in diesem Jahr gestellt. Doppelt
und dreifach genäht hält besser, meinen Sie.
Frau Kollegin, nicht nur das, Kollege Schneider
würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
({0})
Nein, ich wüsste nicht, was er fragen will; denn er
weiß noch nicht, was ich sagen will.
({0})
Schnell einen Antrag geschrieben und eine neue Berichtspflicht eingefordert, dann müssen Sie sich nicht die
Mühe machen, selber zu schauen, ob die gewünschten
Informationen nicht schon vorhanden sind.
Wir werden Ende des Jahres den jährlichen Rentenversicherungsbericht und den Alterssicherungsbericht
erhalten.
({1})
Wenn Sie Ihr Anliegen, gründliche Auskünfte über die
Entwicklung und Wirkung der Riester-Rente zu erhalten,
wirklich ernst meinten, hätten Sie diese Berichte doch
abgewartet. Nein, es geht Ihnen nicht um Auskünfte,
sondern wieder einmal darum, ein erfolgreiches Projekt
wie die Riester-Rente, die allen Unkenrufen zum Trotz
von vielen Millionen Bürgern genutzt wird, weiter zu
verteufeln.
({2})
Herr Schneider, dazu, wie Sie sie verteufeln, haben
Sie hier wieder einmal ein Beispiel geliefert. Sie wollen
ganz bewusst die Bürgerinnen und Bürger verunsichern.
Das Schizophrene an der Sache ist,
({3})
dass Sie, meine Damen und Herren von der Linken, im
Bundestag die Riester-Rente ganz erbittert bekämpfen,
aber zu Hause in Ihren Beratungszimmern, wo es niemand sieht und hört, füllen Sie den Leuten die Anträge
aus und legen ihnen nahe, einen Riester-Vertrag abzuschließen. Das hat mir gerade neulich eine junge Frau
aus meinem Wahlkreis berichtet. Natürlich habe auch ich
ihr dazu geraten, einen Vertrag abzuschließen, und mich
gefreut, wie vernünftig Ihre Basis vor Ort doch ist. Sie
scheint kapiert zu haben, dass der große demografische
Wandel, der sich in unserer Bevölkerung vollzieht, auch
an den Systemen der Alterssicherung nicht spurlos vorübergehen kann.
Das erste Mal seit Jahren sind selbst in meiner strukturschwachen Region gute Lehrstellen nicht besetzt. Sie
können nicht wegdiskutieren, dass die Zahl älterer Menschen im Verhältnis zur Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter bereits jetzt zunimmt. Sie reden trotz aller
neuen Erkenntnisse und trotz der Entwicklungen, die jedes Kind sehen kann, ständig von einer lebensstandardsichernden gesetzlichen Altersversorgung wie zu Zeiten
Norbert Blüms.
Das ist den Menschen ins Gesicht gelogen. Mein Vater ist 88 Jahre alt. Er hat ein Arbeitsleben - durch den
Krieg unterbrochen - von vielleicht 40 Jahren und eine
Rentenzeit von bisher 28 Jahren hinter sich. Gott möge
sie noch lange, lange andauern lassen. Auch Sie und ich
wollen diesen langen, geruhsamen Lebensabend haben.
Aber selbst am einfachen Beispiel meiner Familie
- meine Mutter ist Gott sei Dank ein ähnlicher Fall - sehen Sie, dass dies nicht funktionieren kann: 40 Jahre
Beitragszahlung und 30 Jahre Rente bei weniger Beitragszahlern.
({4})
Da müssten die Rentenversicherer schon sehr riskant auf
dem gleichfalls von Ihnen verteufelten Finanzmarkt zocken, um diese Rendite erzielen zu können. Aber sie haben keinen Kapitalstock; sie sind umlagefinanziert. Deswegen müssen sie auf die Entwicklungen eingestellt
werden, wenn die Sozialkassen nicht vor die Wand laufen sollen. Das scheinen Sie zu wollen.
({5})
Selbst bei mäßig erhöhten Beitragszahlungen in der
gesetzlichen Rentenversicherung, wie wir sie Unternehmen und Arbeitnehmern zumuten könnten, ist es auf
Dauer unmöglich, dass eine immer geringere Zahl von
beschäftigten Beitragszahlern in der Lage ist, für immer
mehr Rentner immer längere Rentenbezugszeiten in der
gegenwärtigen Höhe zu finanzieren. Das ist doch Ihr
ewiges Mantra: Wir hätten alles im Griff, wenn die Versicherungsbeiträge um ein paar Prozentpunkte steigen
würden.
({6})
Das ist grundfalsch. Sie wiegen die Menschen wieder in
einer scheinbaren Sicherheit, nach dem Motto „Nach mir
die Sintflut“.
Rot-Grün hat im Jahr 2000 die Weichen anders gestellt. Wir haben die Verantwortung auch für die junge
Generation ernst genommen. Die Dreisäulenaltersvorsorge ist der richtige Weg. Gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche Altersvorsorge und Riester-Rente ergänzen einander. Die Bürgerinnen und Bürger haben das
kapiert. 11 Millionen Riester-Verträge beweisen das.
Der neue Wohn-Riester wird - davon bin ich überzeugt - die Anzahl dieser Verträge weiter steigen lassen.
Die Säule der privaten Vorsorge wird sich gerade für Geringverdiener, für die Sie letztlich eine Lanze brechen
wollen, auszahlen. Ich bin froh, dass wegen unserer Förderung gerade der prozentuale Anteil der Kleinverdiener
an der Gesamtzahl der Vertragsabschlüsse - danach haben Sie gefragt - so hoch ist.
Wenn man in einem Allversorgerstaat wie der DDR
aufgewachsen ist, kommt man aus seiner Haut vielleicht
nicht mehr heraus. Ich treffe viele Leute, auch mit kleinerem Verdienst, die stolz sind, ihre Familie ernährt zu
haben und die im Alter auf ihre eigene Vorsorge und
nicht auf den Staat zurückgreifen wollen. Sie freuen sich
über die Riester-Förderung in Höhe von 60 Prozent oder
mehr und lassen sich auch durch Monitor-Berichte nicht
irremachen. Aber genau das, die Menschen zu verunsichern, beabsichtigen Sie von der Linken doch. In
20 Jahren reden wir vielleicht einmal über Ihren Antrag,
der so schlecht ist.
Sie sagen dem 25-jährigen Wachmann, der gerade
seinen Riester-Vertrag abgeschlossen hat: Du bist doch
dumm; da zahlst du ein und hast die Versicherung reich
gemacht; später bekommst du sowieso nur die Grundsicherung wie jeder, der nicht eingezahlt hat. Wissen Sie
denn, ob es die Grundsicherung in 35 Jahren überhaupt
noch gibt?
({7})
Dann wäre der Wachmann wirklich arm, wenn er den
Vertrag gekündigt hätte. Wissen Sie es?
({8})
Vielleicht geht es Deutschland in dieser Zeit aber so gut,
dass die Riester-Rente nicht mehr angerechnet zu werden braucht. Dann wäre sie ein gutes Zubrot. Wird er
Wachmann bleiben, oder wird er eine Weiterbildung machen und mehr verdienen? Grundsicherung wäre für ihn
dann gar kein Thema mehr, aber die zusätzliche RiesterRente schon.
({9})
War er nun dumm, als er den Riester-Vertrag abgeschlossen hat, oder wäre es dumm gewesen, auf Ihren Rat zu
hören, es nicht zu tun und die Versicherung nicht reich
zu machen?
Das will ich Ihnen schon noch einmal ins Stammbuch
schreiben: Die Studie, die Sie von den Linken zur Begründung Ihres Antrags heranziehen, enthält richtige
Analysen, aber sie zeigt falsche Schlussfolgerungen auf.
Das passiert einmal, und Sie sind darauf hereingefallen:
Erstens. 2005 war die Datenlage ganz anders. Die Anzahl der Riester-Verträge hat sich in dieser Zeit verdoppelt.
Zweitens. Die Studienmacher haben den Zweck der
Riester-Rente nicht kapiert. Wir wollten den Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung auf einem
bezahlbaren Niveau halten. Wir wollten auch die Vermögensbildung für das Alter fördern. Die jährlichen Fördermilliarden erhöhen gerade das Altersvermögen der
Kleinsparer.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende, bitte.
Wenn die Studie besagt, die Menschen mit kleinen
Verdiensten sparen nicht mehr Geld, sondern für etwas
anderes, so wird außer Acht gelassen, dass unsere staatlichen Zulagen das Angesparte dieser Kleinverdiener vervielfachen.
Frau Westrich!
Das sind keine Mitnahmeeffekte, sondern das ist gewollte Zukunftsverantwortung. Deshalb brauchen wir
die Berichtspflicht bezüglich bereits vorhandener Daten
nicht.
Frau Westrich, kommen Sie zum Ende, bitte.
Wir stützen die Riester-Rente für Kleinverdiener. Wir
wollen die Umlenkung der - wenn auch noch so kleinen Sparquote der Haushalte in eine Altersvorsorge. Deshalb
lehnen wir Ihren Antrag gerne ab.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Schneider.
Frau Kollegin Westrich, das, was Sie eben vorgetragen haben, ist wirklich - erlauben Sie mir das harsche
Urteil - ein Ausbund von Oberflächlichkeit.
({0})
Es würde sich rentieren, darauf noch einmal ausführlich
einzugehen; aber das schenke ich mir jetzt.
Es geht mir nur um einen einzigen Punkt. Sie haben
am Anfang behauptet, wir forderten etwas, was längst
nachzulesen wäre. Ich würde Ihnen empfehlen: Lesen
Sie unseren Antrag! Darin ist präzise aufgelistet, was wir
wollen. Sie werden feststellen: Kein einziger dieser Aspekte ist im letzten Alterssicherungsbericht oder im letzten Rentenversicherungsbericht genannt. Das war der
erste Punkt.
Mein zweiter Punkt. Wir haben keinen der Aspekte,
die in diesen Berichten erwähnt sind, noch einmal aufgeführt. Wir haben ganz gezielt nach dem gefragt, was bis
heute nicht in diesen Berichten enthalten ist. Ich frage
mich, warum Sie uns diese Auskünfte entgegen der
Volker Schneider ({1})
Empfehlung aller Sachverständigen so nachhaltig verweigern wollen. Das ist Ihr schlechtes Gewissen.
({2})
Jetzt gebe ich dem Kollegen Max Straubinger für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Ja? Schauen wir einmal.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir beschäftigen uns mit dem Antrag der FDP und mit
dem Antrag der Linken. Die eine Seite möchte, dass die
kapitalgedeckte Vorsorge bei Geringverdienern in geringerem Umfang angerechnet wird, die andere Seite
möchte, dass die Riester-Rente auf den Prüfstand gestellt
wird. Ich möchte meinen Vorrednern beipflichten: Eigentlich ist mit „Riesterrente auf den Prüfstand stellen“
gemeint, dass Sie die Riester-Rente abschaffen wollen.
Das ist das Ansinnen der Linken in diesem Hause. Sie
können nämlich nur mit staatlichen Systemen, nicht aber
mit freiheitlichen Systemen leben.
({0})
Sie wollen die Leute bei ihren Anlageentscheidungen
bevormunden. An dieser Stelle sieht man sehr deutlich,
dass der Ansatz der Sozialisten bzw. der Kommunisten
durchschlägt.
({1})
Werte Damen und Herren, die Linken äußern immer
wieder die große Befürchtung: Wenn nicht alles, wie sie
es wollen, staatlich organisiert ist, dann führt das ins Unglück. In diesem Fall würde das bedeuten, dass die Menschen in Zukunft möglicherweise der Altersarmut
anheimfallen. Dem möchte ich ausdrücklich widersprechen. Gerade diese Bundesregierung hat die wesentlichen Grundlagen dafür geschaffen, dass die Menschen
zukünftig nicht mit Altersarmut konfrontiert sein werden. Deutschland hat derzeit die geringste Altersarmut
aller europäischen Länder zu verzeichnen.
Außerdem hat es die kluge Politik dieser Bundesregierung ermöglicht, dass viele Menschen in Arbeit und
Brot gekommen sind. Dass die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse um 1,5 Millionen gestiegen ist, bedeutet mehr Schutz vor Altersarmut.
({2})
Dies ist das Verdienst dieser Bundesregierung und eine
Grundlage dafür, dass die Altersversorgung weiterhin sicher ist.
Dass in der Altersversorgung weiterhin Sicherheit
herrscht, hat mit dem Umlagesystem der gesetzlichen
Rentenversicherung zu tun. Herr Rohde, ich möchte ausdrücklich feststellen: Das Umlagesystem ist kein Auslaufmodell, sondern die Grundlage der sozialen Sicherung der Menschen im Alter. Allerdings muss es um ein
kapitalgestütztes System ergänzt werden. Die Länder, in
denen die Altersversorgung ausschließlich auf ein kapitalgestütztes System ausgerichtet war, werden es in Zukunft sehr schwer haben - das wird angesichts der aktuellen Finanzmarktkrise deutlich -, die Altersversorgung
der Menschen zu gewährleisten. Deshalb stehen wir zum
Umlagesystem.
({3})
Genauso treten wir aber auch für die gleichzeitige
Förderung des kapitalgestützten Systems ein. Mein Kollege Weiß hat bereits darauf hingewiesen, wie viel wir in
dieser Legislaturperiode zur Stärkung der kapitalgestützten Säule beigetragen haben.
Ich möchte noch anmerken, dass gerade für die
Selbstständigen in unserem Land zwar nicht die RiesterRente, dafür aber die Rürup-Rente eine bedeutsame
Stütze des Altersvorsorgesystems darstellt. Hier spielen
die Versicherungsunternehmen eine Rolle. Sie legen das
Geld der Sparerinnen und Sparer zielorientiert und sicher an. Für viele Anlageformen im Rahmen der RiesterRente gilt - das ist schriftlich dargelegt -, dass nicht nur
das eingezahlte Kapital zur Auszahlung kommen, sondern über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg auch ein
gewisser Zins erwirtschaftet werden muss.
Herr Kollege Schneider, ich möchte das, was Sie vorhin hier gesagt haben, mit aller Schärfe zurückweisen.
Sie haben gesagt, dass hier sozusagen aufgrund von
Parteispenden Entscheidungen zugunsten von kapitalgestützten Vorsorgemöglichkeiten getroffen worden sind.
({4})
Das ist, gelinde gesagt, wirklich nicht tolerabel
({5})
- und vor allen Dingen eine Verleumdung.
Es gibt natürlich Spenden - auch die Linken erhalten
Spenden - für die Unterstützung der Parteien, damit sie
ihren staatsbürgerlichen Auftrag erfüllen. Diese sind
richtig und auch gut angelegt. Wenn sie sich auf alle Parteien gleichmäßig verteilen, dann wird dadurch sehr
deutlich, dass damit die staatsbürgerliche Arbeit der Parteien unterstützt und nicht irgendeine Entscheidung erkauft werden soll.
({6})
In diesem Zusammenhang wäre es weitaus besser,
wenn die Linke, die PDS bzw. die SED nachforschen
würde, wo das SED-Vermögen hingekommen ist,
({7})
das Ihr Parteivorsitzender Gysi möglicherweise ins Ausland transferiert hat, um es über Scheinfirmen jetzt möglicherweise wieder in Ihren Parteiapparat fließen zu lassen.
({8})
Das ist das schamlose Verhalten der Linken, der PDS
bzw. der SED: Sie gibt den Bürgerinnen und Bürgern
hier keine Auskunft über ihr SED-Vermögen. Das ist der
Betrug. An diesem Verhalten werden die Menschen Sie
natürlich messen.
Ich fordere Sie auf, in diesem Zusammenhang hier
nicht solche Verdächtigungen auszusprechen, sondern
im Gegenteil zu einer vernünftigen Politik für die Bürgerinnen und Bürger und insbesondere auch für die Rentnerinnen und Rentner in unserem Land zurückzukehren.
({9})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin
Enkelmann das Wort.
({0})
Da immer wieder der Vorwurf an uns gerichtet wird
und wir gefragt werden, wo denn das SED-Geld geblieben ist:
Erstens. Fragen Sie die Kollegen der CDU, wo das
CDU-Geld geblieben ist.
Zweitens. Wenden Sie sich bitte vertrauensvoll an den
Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Herrn
Papier. Er war Vorsitzender der Unabhängigen Kommission zur Ermittlung des Vermögens der Parteien und
Massenorganisationen der Deutschen Demokratischen
Republik - unter anderem auch des Vermögens der
CDU. Es gibt einen Abschlussbericht, den Sie nachlesen
können. Sie sind schon länger hier im Parlament. Er ist
hier vorgestellt worden.
Es liegt also alles auf dem Tisch. Informieren Sie sich
bitte!
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/10356.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der FDP
auf Drucksache 16/7177 mit dem Titel „Altersvorsorge
für Geringverdiener attraktiv gestalten“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der CDU/CSU, der SPD, der Linken und des
Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der antragstellenden Fraktion FDP angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/8495 mit dem Titel
„Riesterrente auf den Prüfstand stellen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? ({0})
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU, der
SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen bei
Gegenstimmen durch die Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christian
Ruck, Dr. Wolf Bauer, Hartwig Fischer ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gregor
Amann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Förderung von Bildung und Ausbildung Entwicklungspolitischen Schlüsselsektor
konsequent ausbauen
- zu dem Antrag der Abgeordneten HüseyinKenan Aydin, Monika Knoche, Dr. Diether
Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Entwicklung braucht Bildung - Den deutschen Beitrag erhöhen
- Drucksachen 16/9424, 16/8812, 16/10360 Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Hellmut Königshaus
Ute Koczy
Hierzu haben die Fraktionen vereinbart, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Dr. Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion das Wort.
({3})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir heute über ein Thema debattieren können, zu dem wir im Ausschuss fraktionsübergreifend einen Konsens erzielt haben. Wir wollen
die Bedeutung von Bildung in der Entwicklungszusammenarbeit voranbringen, stärken und fördern.
Ich glaube, es ist richtig, an dieser Stelle zu betonen,
dass Bildung ein wesentliches Fundament für eine gelungene, nachhaltige Entwicklungspolitik und Entwicklung ist. Nicht umsonst ist in den Millenniumsentwicklungszielen als zweites Ziel festgelegt, dass bis zum
Jahr 2015 eine vollständige Primärschulbildung für alle
Jungen und Mädchen erreicht werden soll. Das bedarf
großer Anstrengungen. Wir möchten mit unserem Antrag dazu beitragen, dass dies gelingen kann.
Wir wissen, dass Bildung die Basis für weitere Maßnahmen in der Entwicklungszusammenarbeit und einer
nachhaltigen Armutsbekämpfung ist, ob es um Millenniumsentwicklungsziele im Gesundheitsbereich, die Halbierung von Hunger und Armut oder - wie meine Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel später noch ausführen
wird - um die Geschlechtergerechtigkeit durch die
Gleichstellung von Mann und Frau geht. Bildung ist aber
mehr. Bildung ist ein grundsätzliches Menschenrecht
und aus diesem Grund von besonderer Bedeutung und
auch in unserem Ausschuss entsprechend zu unterstützen.
Bildung ist die Basis für gesellschaftliche Teilhabe
und ein selbstbestimmtes Leben. Demokratie, die wir
alle in unseren Debatten um Good Governance auch in
den Partnerländern der einen Welt fördern wollen, kann
nur gelingen, wenn die Gesellschaften eine entsprechende Basis an Bildung mitbringen.
({0})
Das ist die Voraussetzung für zivilgesellschaftliches
Engagement, das wir in der Entwicklungszusammenarbeit brauchen. Sie ist, wie gesagt, die Basis für demokratische Strukturen und Entwicklungen.
Wir brauchen nicht nur in den Bundesländern bei uns
zu Hause Bildungsgerechtigkeit und Bildungschancen,
sondern müssen uns auch in der Entwicklungspolitik und
der Zusammenarbeit mit den Ländern der Dritten Welt
dafür einsetzen. Wir müssen uns gemeinsam mit unseren
Partnerländern dafür einsetzen. Deshalb freue ich mich,
dass es Teil unseres Antrags ist, die Abschaffung von
Schulgebühren und Lehrmittelkosten voranzubringen,
wo dies noch nicht gelungen ist. Schulmittel müssen
kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Gebührenfreie
Grundbildung von Kindern muss überall die Grundvoraussetzung für das Lernen sein.
({1})
Wenn wir das mit unseren Partnerländern erreichen
wollen, bedeutet das im Übrigen auch, dass wir uns mit
der Finanzausstattung der Haushalte unserer Partnerländer auseinandersetzen müssen und ihnen dort Hilfestellung geben müssen, wo dies nötig ist.
Wir haben in unserem Antrag - auch das finde ich besonders wichtig - auf die ILO-Kernarbeitsnormen Bezug
genommen. Für den Bereich der Bildung bedeutet das
ein weltweites Verbot von Kinderarbeit.
({2})
Wer möchte, dass die 218 Millionen Kinder, die weltweit durch Kinderarbeit ausgebeutet werden, zur Schule
gehen können, kann nicht umhin, sich für die Kernarbeitsnormen und das weltweite Verbot von Kinderarbeit einzusetzen.
({3})
Darüber hinaus gibt es gute Ansätze und Projekte der
Entwicklungszusammenarbeit, die für diese Kinder eine
Brücke in das formale Bildungssystem darstellen und ihnen Chancen bieten. Ein Drittel der Kinder, die in Kinderarbeit ausgebeutet werden, leben in Indien. Es gibt inzwischen Projekte der Deutschen Welthungerhilfe, die
sich gemeinsam mit indischen Partnerorganisationen bemühen, Kindern den Zugang zum formalen Bildungssystem zu ermöglichen, Brückenfunktionen zu nutzen
sowie Eltern und die örtlichen Verwaltungen einzubeziehen, um einen Beitrag dazu zu leisten, diesen Kindern
- den Ärmsten der Armen - Chancen zu bieten.
({4})
Wir haben in unseren Antrag einen Punkt aufgenommen, auf den ich besonders stolz bin. Bei dieser Gelegenheit möchte ich einigen Schülern aus Hamburg meinen Dank aussprechen, die bei der Debatte über die
globale Bildungskampagne vor dem Reichstagsgebäude
nachdrücklich darum gebeten haben, in unseren Antrag
aufzunehmen, dass auch Menschen mit Behinderungen
in den Entwicklungsländern Chancen brauchen, am Bildungssystem teilzuhaben. Weit über 90 Prozent der Kinder mit Behinderung haben in Entwicklungsländern
keine Chance, am Bildungsprozess teilzuhaben. Es ist
gut, wenn wir uns dafür einsetzen, dies zu ändern.
({5})
Es passiert schon einiges in diesem Bereich. Auf bilateraler Ebene ist Deutschland im Bereich der Grundbildung mit 120 Millionen Euro, im Bereich der beruflichen Bildung mit knapp 80 Millionen Euro und im
Bereich der Hochschulen, aber auch im Bereich der Bildungsmaßnahmen, die die Verbesserung der Qualität sowie die Lehrerausbildung und -fortbildung zum Ziel haben, mit 60 Millionen Euro engagiert. Es gibt zudem
gute internationale Initiativen wie Education For All und
Fast Track Initiative, die unterstützt gehören und deren
Engagement bedeutend gestärkt werden muss. Dazu
möchten wir insbesondere das BMZ mit unserem Antrag
ermutigen.
({6})
Die Gründe dafür sind klar. Noch immer sind 77 Millionen Kinder weltweit ohne jedweden Zugang zu
Schulbildung. 774 Millionen Menschen weltweit sind
Analphabeten. Nicht nur die Zahl derer, die in die Schule
kommen, ist interessant, sondern auch die Zahl derer, die
in der Schule bleiben. Die Verweildauer in der Schule ist
von Bedeutung. Leider ist die Schulabbrecherrate noch
immer sehr hoch, insbesondere wenn es um den Schulbesuch von Mädchen geht. Der UNESCO-Weltbildungsbericht vom vergangenen Herbst spricht eine deutliche
Sprache. Positiv sind die steigenden Einschulungsraten.
Ich glaube, darüber freuen wir uns alle. Bedenklich ist,
dass die Divergenz zwischen den Ländern mit steigenden, gleichbleibenden und manchmal auch mit schlechteren Einschulungsraten noch immer sehr groß ist. Fast
die Hälfte der Kinder, die keinen Zugang zu Schulbildung haben, lebt in Subsahara-Afrika. Das sind knapp
40 Millionen. Allein diese Zahl macht deutlich, dass das
Engagement für mehr Kinder, die in die Schule gehen,
nicht nachlassen darf und sogar - auch und gerade mit finanziellen Mitteln - verstärkt werden muss, genauso wie
das Engagement für mehr Qualität in der Ausbildung.
({7})
Wir brauchen mehr Lehrer, und zwar gut ausgebildete, Lehrer, die eine pädagogische Ausbildung absolviert haben. Es gibt Beispiele, die zeigen, wo sich
Deutschland sehr gut engagiert. In Tadschikistan erhalten seit 2005 jedes Jahr 1 000 Lehrer im Rahmen eines
Lehrerfortbildungsprogramms der GTZ eine Qualifikation für den Lehrerberuf. Das ist ein entscheidender Beitrag.
Einen entscheidenden Beitrag stellen manchmal auch
ganz banale Dinge dar. Ich war vor wenigen Monaten im
Ostkongo und konnte in einem Dorf, ungefähr zwei
Stunden von Bukavu entfernt, lernen, was Qualität in der
Bildung bedeutet. Dort ist vor einem halben Jahr das
erste Mal eine Präsenzbibliothek errichtet worden. „Präsenzbibliothek“ ist sicherlich ein großes Wort. Schließlich handelt es sich nur um wenige gedruckte Bücher
und Zeitschriften, die es plötzlich in diesem kongolesischen Dorf gab. Aber sogar das stellt einen riesigen Fortschritt in der Qualität der Bildung dar. Warum? Bis zu
diesem Zeitpunkt haben nur 70 Prozent der Schüler die
Abschlussprüfungen bestanden, weil sie bei diesen Prüfungen zum ersten Mal bedrucktes Papier, gedruckte
Schrift sehen konnten. Mit dieser kleinen Maßnahme,
also mit wenigen Büchern und gedruckten Materialien,
wurde innerhalb kürzester Zeit die Abschlussrate um
20 Prozent erhöht. Wenn man in die Qualität der Bildung
investiert - entweder in ganz kleine Maßnahmen oder
fundamental in die Lehrerbildung -, tut man den jungen
Menschen weltweit etwas sehr Gutes.
({8})
Wir haben uns in unserem Antrag im Wesentlichen
auf drei Punkte konzentriert: die Förderung der Grundbildung, der beruflichen Bildung und der akademischen
Bildung. Gerade Grundbildung und berufliche Bildung
sind Bereiche, in denen die deutsche Entwicklungszusammenarbeit eine große Expertise, große Kenntnisse
hat.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich glaube, wir tun gut daran, auch in Zukunft das,
was von unseren Partnerländern nachgefragt wird, aufzugreifen, und zwar aus den Gründen, die ich am Anfang
angesprochen habe.
Frau Kollegin!
Bildung ist ein Menschenrecht, Bildung schafft gesellschaftliche Teilhabe und persönliche Emanzipation,
und Bildung steht damit auch in einer Tradition, die uns
Sozialdemokraten sehr nahe ist, wenn ich etwa an Arbeiterbildung denke. Was bei uns gilt, gilt auch weltweit.
Danke.
({0})
Hellmut Königshaus spricht jetzt für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
Tat herrscht hier - die Kollegin Kofler hat das gesagt über die Ziele beim Thema „Bildung in Entwicklungsländern“ weitestgehend Konsens. Wir alle wissen, dass
Armut und Bildungsarmut in den Entwicklungsländern
unmittelbar zusammenhängen, übrigens nicht nur dort,
aber eben auch dort. Nur, wenn wir das hier gemeinsam
feststellen - auch die Koalition hat das in ihrem Antrag
sehr deutlich ausgeführt -, dann frage ich mich, warum
Sie dann der Bundesregierung danken. Die Bundesregierung hat doch in diesem Bereich bisher wirklich versagt
und ihn sträflich vernachlässigt.
({0})
Tatsache ist doch, dass die Förderung der Grundbildung
in den letzten Jahren zurückgegangen ist.
({1})
So wurden, um die genaue Zahl zu nennen, von insgesamt 4 877,573 Millionen Euro deutscher bilateraler
Entwicklungshilfe im Jahr 2002 lediglich 77,227 Millionen Euro der Förderung von Grundbildung zugeschrieben. Das ist ein Anteil von 1,6 Prozent der ODA, während wir heute bei einem Anteil von nur noch
1,5 Prozent der ODA sind.
({2})
Die Bundesregierung hat diesen Bereich bisher sträflich
vernachlässigt. Sie hat jetzt allerdings im Entwurf des
Haushaltsplans vorgesehen, dass im Bereich der Bildung
ein Aufwuchs vorgenommen wird, und zwar auf
148,50 Millionen Euro im Jahr 2009; aber die Größe des
Grundbildungsbereichs - das ist das Entscheidende, über
das wir uns hier unterhalten - ist daraus überhaupt nicht
abzulesen. Deshalb müssen wir hier eine Klarstellung
fordern. Wir als FDP fordern schon seit Jahren regelmäßig eine Aufstockung in diesem Bereich, in der Regel in
der Größenordnung von 60 Millionen Euro. Das differiert je nach der Gesamtlage. Sie haben das leider immer
abgelehnt. Vielleicht können wir uns diesmal darauf verständigen, dass wir in diesem Bereich vorangehen.
({3})
Die Koalition fasziniert zurzeit das Thema Bildung,
nicht nur bei der Entwicklungszusammenarbeit, sondern
auch hier in Deutschland.
({4})
Die Kanzlerin reist bekanntermaßen durch Deutschland
und veranstaltet Bildungsgipfel.
({5})
Sie lenkt dadurch eigentlich davon ab, dass sie für diesen
Bereich mitnichten zuständig ist. Es gibt in diesem Bereich keine Zuständigkeit, jedenfalls nicht im Bereich
der Grundbildung. Deshalb ist das, was dort abläuft,
weiter nichts als eine Farce.
({6})
- Sie brauchen das nicht mit Empörung zurückzuweisen.
Ich brauche nur Ihre Kanzlerin zu zitieren.
({7})
Sie hat zum Beispiel dem Kollegen Tauss, der hier ähnlich wie Sie argumentiert hat, gesagt, sie wolle ihm mit
Verlaub doch sagen, dass man ihm schließlich angeboten
habe, wenn er sich für Schulpolitik interessiere, in den
Landtag zu gehen, weil das nicht Sache des Bundestages
sei. Sie hat auch gesagt, wer Leidenschaft für die Schulpolitik habe, der sei im Bundestag falsch aufgehoben.
Wer sich als Kanzlerin um die Schulpolitik kümmert, die
Ländersache ist, ist dort ebenfalls falsch aufgehoben.
({8})
Aber das ist nicht unser Thema heute; die Föderalismuskommission ist ein anderes Thema.
Die FDP kämpft seit Jahren für ein verstärktes Engagement im Bildungsbereich der Entwicklungsländer;
denn Bildung ist ein essenzieller Bestandteil der nachhaltigen Entwicklung einer Gesellschaft. Laut OECD
gibt es eine enge Beziehung zwischen den Ausgaben für
weiterführende Schulen und für Schul- und Hochschulausbildung und der Wirtschaftsentwicklung eines Landes. In den vergangenen 20 Jahren habe sich das am
stärksten - so die OECD - in Argentinien, Chile und Jamaika gezeigt. Jamaika ist ohnehin ein gutes Stichwort
für die Entwicklung.
({9})
Die Probleme in den Entwicklungsländern sind evident. Weltweit ist jedem siebten Menschen der Zugang
zu grundlegender Schulbildung verwehrt. 85 Prozent der
Schreib- und Leseunkundigen sowie derjenigen, die
keine Möglichkeit haben, eine Ausbildung zu absolvieren, leben in Entwicklungsländern. Hier müssen wir ansetzen. Das bedeutet insbesondere: Wir müssen dafür
Sorge tragen, dass nicht nur die Schule und der Lehrer
da sind, sondern zum Beispiel auch das Lehrmaterial.
Selbst daran fehlt es häufig.
Kollegin Kofler hat darauf hingewiesen, dass man
Gebührenfreiheit braucht. Ich möchte erwidern: Das gilt
auch bei uns zu Hause, in den Bundesländern.
({10})
Da müssen wir uns alle an die eigene Nase fassen.
({11})
- Ich sage ja: Wir müssen uns alle an die eigene Nase
fassen. Die Schulbuchfreiheit gibt es zum Beispiel in
Berlin nicht, wo bekanntermaßen eine linke Partei in der
Regierung vertreten ist.
({12})
Wir dürfen Forderungen nicht nur für die Entwicklungsländer erheben, sondern müssen sie genauso für
unser eigenes Land erheben. Dafür wollen wir sorgen.
Eben ist von der Kollegin Kofler das Thema Kinderarbeit angesprochen worden; das ist mir wichtig; das ist
in der Tat ein ganz wesentlicher Punkt. Niemand will
Kinderarbeit. Aber wir müssen sehen, dass es Wechselwirkungen gibt. Als der Kollege Klimke und ich in Indien waren und dort speziell dieses Thema angesprochen
haben, haben wir die Not von Eltern erlebt, die ihre Kinder nicht ernähren können und sie aus der Not heraus an
andere abgegeben, mitunter sogar verkauft haben. Das
kann nicht das Ziel sein.
Deshalb kommt es darauf an, dass wir vernünftige
Modelle finden, die es den Eltern möglich machen, ihre
Kinder großzuziehen und ihnen auch eine Schulbildung
zu ermöglichen. Das ist wichtig. Es geht nicht an, grobschlächtig, wie das in dem Antrag zum Teil geschieht,
({13})
Lösungen zu finden, die überall greifen sollen. Es gibt in
den einzelnen Ländern sehr unterschiedliche Voraussetzungen. Es kommt darauf an, dass wir diese unterschiedlichen Voraussetzungen beachten und entsprechende Lösungen finden.
Die Fokussierung auf dieses Thema ist wichtig. Wir
unterstützen Sie in dieser Zielsetzung. - Frau Präsidentin, ich sehe das Blinken und komme auch zum Schluss.
Es ist wichtig, Lösungen zu finden. Wir sollten uns
bemühen, die Probleme vor Ort jeweils differenziert zu
betrachten, statt einfach alles über einen Kamm zu scheren und überall die gleichen Lösungen anzustreben.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, für die
Aufmerksamkeit und Ihnen, Frau Präsidentin, für die
Geduld.
({14})
Die Kollegin Anette Hübinger hören wir jetzt für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Bildung ist in Deutschland
ein zentrales Thema. Unsere Bundeskanzlerin beschreibt
es sehr treffend, wenn sie sagt: Unser Land muss zur Bildungsrepublik Deutschland werden.
Was uns in Deutschland etwas wert ist, muss uns auch
in den anderen Ländern dieser Welt recht sein. Daher gehört für die Unionsfraktion auch in unseren Partnerländern die Bildung der Menschen - neben Armutsbekämpfung und Bewahrung der Schöpfung - zu den Schlüsseln
unseres entwicklungspolitischen Handelns.
({0})
Erst wenn Menschen ihre Talente entfalten können und
befähigt werden, selbstbestimmt ihr Leben in die Hand
zu nehmen, werden wir einen nachhaltigen Erfolg unserer Entwicklungszusammenarbeit verzeichnen.
Dazu brauchen Menschen Bildung, die Wissen, Werte
und Fähigkeiten vermittelt. Sie brauchen darüber hinaus
eine Bildungsstruktur, die ihre Bedürfnisse und Lebensumstände berücksichtigt, Herr Kollege Königshaus.
Bildung muss für alle zugänglich sein.
({1})
Diese Aussage darf sich nicht nur auf eine Grundbildung
beziehen, sondern muss alle Bereiche der Bildung, von
der frühkindlichen Bildung bis zur Möglichkeit des lebenslangen Lernens, umfassen.
({2})
Eine Konzentration unserer Hilfen auf die Grundbildung
allein würde bedeuten, die Tür nur einen Spaltbreit zu
öffnen und die Chancen auf eine Entwicklung durch Bildung zu reduzieren. Genau das wollen wir als Koalitionsfraktion nicht. Deshalb haben wir in unserem heute
zu diskutierenden Antrag einen breiteren Ansatz gewählt, der für die Bildungssituation in unseren Partnerländern zukunftsweisend sein wird.
Heute befasst sich in New York die UN-Vollversammlung unter anderem mit der bisherigen Umsetzung
der acht Millenniumsentwicklungsziele. Grundbildung
für alle Mädchen und Jungen ist das zweite der acht
Ziele, die es bis 2015 weltweit umzusetzen gilt. Nach
den bisherigen Bilanzen sind wir hierbei auf einem richtigen Weg. In acht der zehn dokumentierten Regionen ist
nach Auskunft der UN dieses Ziel bereits zu 90 Prozent
erfüllt. So besuchen heute 29 Millionen Kinder mehr
eine Schule als noch 1999. Allerdings liegt die Einschulungsquote südlich und nördlich der Sahara noch weit
unter der 90-Prozent-Marke. Auch kann uns die Zahl der
Analphabeten auf dieser Welt nicht ruhen lassen.
Trotz guter Fortschritte bleibt noch viel zu tun. Die
internationale Gebergemeinschaft steht ebenso wie
Deutschland in der Pflicht, ihre Anstrengungen fortzusetzen und noch zu verstärken. In der schwerpunktmäßigen Zusammenarbeit mit unseren Partnern erreichte Bildung im Jahr 2007 einen Anteil von 5,84 Prozent; das
waren rund 116 Millionen Euro. Das war mehr als geplant, aber der Betrag muss unseres Erachtens noch gesteigert werden.
({3})
Für den Bereich der Grundbildung verwendeten wir
etwa ein Drittel des Geldes. Auch dieser Anteil müsste,
Herr Kollege Königshaus, vergrößert werden.
Meine Damen und Herren, frühkindliche Bildung und
Grundbildung sind der Schlüssel für jedes weitere Lernen. Dabei stellen wir fest, dass es immer noch eine ungleiche Verteilung des Angebots zwischen Stadt und
ländlichem Raum gibt. Um hier stärker voranzukommen, brauchen wir mehr regionale und praxisorientierte
Ansätze. Wir müssen uns stärker mit den Gegebenheiten
vor Ort auseinandersetzen und im Dialog mit den Partnern neue Ansätze entwickeln, um Schulbesuche zu
erleichtern. Ich denke da an die Abschaffung des Schulgeldes, das Bereitstellen von Lernmaterial und Anreizmodelle für Lehrer, eine Lehrtätigkeit im ländlichen
Raum aufzunehmen, aber auch an so einfache Dinge wie
die Anpassung der Ferien an den landwirtschaftlichen
Kalender - oft werden die Kinder zur Hilfe bei der Ernte
benötigt - oder die Einführung von Schulspeisung.
So hat beispielsweise in Kolumbien, im Süden von
Bogota, das Kolpingwerk Kolumbiens gemeinsam mit
dem kolumbianischen Institut für Familie und Wohlfahrt
15 Schulkantinen eingerichtet. Die Betreuung und das
Essen in den Kantinen haben dazu beigetragen, dass die
Kinder heute viel regelmäßiger zur Schule gehen und
sich auch Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen zum Schulbesuch angemeldet haben.
({4})
Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie pragmatische Ansätze die allgemeine Lebenssituation von Kindern erheblich verbessern können und darüber hinaus ihre Bildungschancen erhöhen.
Um das Bildungsdefizit in unseren Partnerländern zu
beseitigen, reicht die Steigerung der Schulbesuchsrate
allein nicht aus. Die Qualität des Schulabschlusses muss
auch zu einer Weiterbildung befähigen. Eltern müssen
erkennen, dass Kinder einen nachhaltigen Nutzen aus ihrem Schulbesuch haben, dass Kinder nach der Grundbildung lesen, schreiben und rechnen können. Dies ist oft
nicht der Fall. Hierzu ist neben stimmigen Lehrplänen
gut ausgebildetes Lehrerpersonal in genügendem Ausmaß eine entscheidende Komponente, damit Quantität
und Qualität ineinander greifen.
({5})
Neben den Einschulungsraten sollten wir verstärkt
auf die Abschlussraten achten. In den ärmsten Ländern
bricht jedes vierte Kind die Grundschule vorzeitig und
ohne Abschluss ab, und für Millionen von Grundschulabsolventen steht kein weiterführendes System zur Verfügung. Deshalb ist es genauso wichtig, angepasste und
leistungsfähige Sekundarschulbereiche insbesondere im
ländlichen Raum zu installieren. Hilfreich kann hier sicherlich auch die Möglichkeit des E-Learning sein.
Mit dem erfolgreichen Abschluss ihrer Ausbildung
sollen die jungen Menschen für ein eigenverantwortliches Leben befähigt sein und die Qualifikation für eine
weiterführende technische oder akademische Ausbildung erhalten haben; denn wie bei uns in Deutschland ist
der Mangel an ausgebildeten Fachkräften im Produktions- und Dienstleistungsbereich auch in Entwicklungsländern ein immer größer werdendes Problem.
Wir verfügen über ein hervorragendes Know-how im
Bereich der Berufs-, Weiter- und Hochschulbildung. Genau hier lag in der Vergangenheit auch der Fokus unserer
entwicklungspolitischen Zusammenarbeit im Bildungsbereich. Unsere Partner sprechen uns immer wieder darauf an, unser Engagement in der Berufsausbildung zu
verstärken, da sie erkannt haben, dass dies der beste Weg
ist, bei der eigenen Industrialisierung voranzukommen
und eine Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen, die nötig
ist, um in der globalisierten Welt bestehen zu können.
({6})
Daher sollte dieser Schwerpunkt wie auch die Grundbildung weiter ausgebaut und verbessert werden. Eine
Kooperation mit ansässigen Wirtschaftsunternehmen im
Rahmen von Private-Public-Partnership-Projekten muss
unseres Erachtens gefördert werden, wie zum Beispiel die
Gründung einer Berufsakademie, die von in Südafrika
ansässigen deutschen Unternehmen geplant ist. Die Bedeutung von Berufsausbildungsprogrammen spielt besonders im nonformalen Sektor eine große Rolle. Für
junge Menschen, denen es nicht möglich war, am formalen Bildungssystem teilzunehmen, ist solch eine Ausbildung oft die einzige Möglichkeit, eine Qualifikation zu
erhalten.
Meine Damen und Herren, als letzten Punkt möchte
ich noch auf die Zusammenarbeit im Hochschul- und
Wissenschaftsbereich, der auch in den Entwicklungsländern aufgrund der Globalisierung einen immer höheren
Stellenwert erhält, eingehen.
Im Rahmen der Internationalisierungsstrategie werden wir unter der Federführung von Bundesforschungsministerin Annette Schavan Ansätze entwickeln, um in
unseren Partnerländern moderne Hochschulbildungs-,
Forschungs- und Innovationssysteme zu stärken bzw. zu
entwickeln. Dabei werden wir entwicklungspolitische
Instrumente mit wissenschaftlich-technischen abstimmen. Durch eine Stärkung der Hochschul- und Forschungsstrukturen wollen wir auch einer Abwanderung
von Eliten aus Entwicklungsländern vorbeugen. Gut
ausgebildete Fachkräfte sind für die Entwicklung in diesen Ländern unverzichtbar.
({7})
In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich
auf das Engagement unserer Bundesregierung hinweisen, einen internationalen Verhaltenskodex herbeizuführen, der das Abwerben von Lehrern verhindern soll.
Bei der Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der
Bildung sollten wir aber auch verstärkt die Potenziale
der deutschen Auslandsschulen, der Goethe-Institute
oder auch der Auslandsvertretungen unserer Stiftungen
nutzen und sie zur Stärkung der Bildungssysteme unserer Partner einsetzen.
Bildung ist die Chance auf Entwicklung. Diese
Chance wollen wir unseren Partnerländern nicht vorenthalten. Der Antrag der Koalitionsfraktionen unterstreicht
diesen Ansatz. Ich bitte daher um Ihre Zustimmung.
({8})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt HüseyinKenan Aydin.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Bildung ist ein Grundrecht. Art. 26 der
UN-Menschenrechtscharta schreibt dieses Grundrecht
auch fest. Hier wird klargestellt, dass jeder das Recht auf
unentgeltliche Grundbildung hat.
Auch das zweite der Millenniumsentwicklungsziele
fordert: Primarausbildung für alle. Die Regierungen haben sich in Dakar im Jahr 2000 darüber verständigt, eine
obligatorische, gebührenfreie und vor allem qualitativ
gute Grundbildung für alle Kinder bis zum Jahr 2015 sicherzustellen. Daher ist auch Frau Merkel darauf verpflichtet. Damit haben alle Regierungen erkannt, dass
der beste Beitrag zur Entwicklung armer Länder eine
breit angelegte Initiative zur Verbesserung der Grundbildung ist. So weit scheinen sich alle auf dieser Welt einig
zu sein, auch hier in diesem Hause.
Die Globale Bildungskampagne stellte fest: Wenn
Mädchen in den armen Ländern nur ein Jahr länger zur
Schule gingen, würde ihr zukünftiges Einkommen um
bis zu 20 Prozent höher liegen. Das käme auch der Entwicklung regionaler, wie aber auch nationaler Märkte
zugute, da die Kaufkraft damit höher liegen würde.
Wenn alle Kinder eine Grundschule besuchen könnten,
hätten wir 700 000 HIV-Infektionen pro Jahr weniger, da
Bildung auch zur Aufklärung beiträgt.
Dennoch gehört der Sektor Grundbildung im Rahmen
der Entwicklungszusammenarbeit zu einem der am
stärksten vernachlässigten Sektoren in den letzten Jahren. Da hat Herr Königshaus vollkommen recht. Deshalb
muss mehr in Grundbildung investiert anstatt gestrichen
werden, auch wenn die Geberländer ihre Zusammenarbeit harmonisieren.
({0})
Denn weltweit sieht die Bildungssituation immer
noch alles andere als befriedigend aus. 780 Millionen
Erwachsene können weder lesen noch schreiben. Mindestens 72 Millionen Kinder haben keine Möglichkeit,
zur Schule zu gehen. Die Mehrheit von ihnen sind Mädchen. Allein in Afrika haben 34 Prozent der Kinder
keine Möglichkeit, die Grundschule zu besuchen. Die
Schulabschlussraten liegen in vielen Ländern bei unter
30 Prozent, weil man leider nur auf Quantität anstatt auf
Qualität setzt. Qualität hat mit finanziellen Mitteln, mit
personellen Ressourcen und mit der Ausstattung von
Schulen zu tun.
Diesen Zahlen zum Trotz: Für das Jahr 2009 ist weiterhin ein Anteil von nur 120 Millionen Euro für Grundbildung vorgesehen. Berechtigterweise hat der internationale Bildungsbericht 2008 der Kanzlerin das Zeugnis
„ausreichend“ ausgestellt.
({1})
Durchgefallen ist die Bundesrepublik Deutschland vermutlich nur deswegen nicht, um ein Sitzenbleiben zu
vermeiden.
({2})
Unter den Geberländern belegt Deutschland nur den
14. Platz. Dieses Versprechen haben Sie gebrochen, vor
allem Frau Merkel als Kanzlerin, die sich diesen Millenniumszielen ebenfalls verpflichtet hat.
Daher liegt Ihnen heute ein Antrag von uns vor, der
Sie noch einmal an dieses Versprechen erinnert und die
Einhaltung endlich einfordert. Auch die Regierungsfraktionen haben einen Antrag vorgelegt, in dem richtige
Feststellungen getroffen werden
({3})
aber sonst nichts. Denn am Ende haben Sie Angst vor
der eigenen Courage bekommen. Sie beenden Ihren Antrag mit Floskeln. Sie möchten weiter reden; wir wollen
allerdings handeln.
({4})
Mit Schönreden ist keinem Kind in Afrika geholfen.
Um den entsprechenden Anteil an den von der EU
angesetzten 4,3 Milliarden Euro beizutragen, müsste
Deutschland seinen für Bildung vorgesehenen Betrag
auf 913 Millionen Euro erhöhen. Davon sind Sie noch
meilenweit entfernt.
Wie sieht die Wirklichkeit aus? Afghanistan hat mit
72 Prozent die höchste Analphabetenrate weltweit - und
das nach fast sieben Jahren des sogenannten Wiederaufbaus.
Dennoch ist der Schwerpunkt in Afghanistan auch
2009 beileibe nicht Grundbildung. Der Großteil des Geldes für den zivilen Aufbau geht an den Sektor Gestaltungsspielraum. Hierunter soll auch die Demokratisierung fallen. Doch wie wollen Sie ein Land, das von
Hungerkrisen bedroht ist, das sich im Krieg befindet und
in dem 70 Prozent Analphabeten leben, demokratisieren? Können Sie mir das verraten?
Stimmen Sie nicht auch mit mir darin überein, dass
dazu vor allem Bildung notwendig ist? Stattdessen werden weiter über 500 Millionen Euro für Kriegseinsätze
in Afghanistan eingesetzt.
Ich fordere Sie auf: Beenden Sie diese Einsätze! Mit
diesen eingesparten 500 bis 600 Millionen Euro könnte
man in Afghanistan einen besseren Aufbau durch Bildung und damit auch Demokratisierung vorantreiben.
Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
({5})
Mir liegen noch zwei Anmeldungen für Zwischenfragen vor. Sollen dies nun Kurzinterventionen werden? Dann machen Sie eine Kurzintervention, Herr Raabe.
Herr Aydin, wir hatten gerade diese Woche auf Einladung von Frau Staatssekretärin Kortmann einen afghanischen Abgeordneten als Gast. Er hat uns berichtet, dass
im Süden des Landes, wo Schulen aufgebaut werden,
diese Schulen von den Taliban sofort niedergebrannt und
zerstört werden. Er hat uns eindringlich gebeten, militärischen Schutz zu geben. Er hat nämlich gesagt, dass es
gar keinen Sinn macht, Schulen zu bauen, wenn wir
nicht gleichzeitig durch Militär dafür sorgen, dass diese
Schulen stehen bleiben. Ich finde, das sollten Sie bedenken.
Man leistet in Afghanistan viel für die Bildung, wenn
man nicht nur Schulen baut, sondern auch dafür sorgt,
dass diese Schulen stehen bleiben. Sie unterstützen allerdings indirekt diejenigen, die diese Schulen zerstören,
({0})
und insofern setzen Sie sich dort weniger für Bildung ein
als wir.
({1})
Nun haben Sie, Frau Pfeiffer, das Wort.
Herr Kollege Aydin, ich kann mich eigentlich dem
anschließen, was der Kollege Raabe gesagt hat. Ich rate
Ihnen dringendst, sich einmal nach Afghanistan zu begeben. Schauen Sie sich dort eine Schuleröffnung an; das
habe ich gemacht. Wir haben zusammen mit dem Staatssekretär Kossendey eine Schule für 1 500 Kinder eröffnet. Davon waren mehr als die Hälfte Mädchen. Das ist
also an sich schon eine tolle Schule.
Das, lieber Kollege Aydin, konnten wir nur machen,
weil sowohl die afghanischen als auch die deutschen Sicherheitskräfte nicht uns bewachten, sondern die Schuleröffnung an sich. Dies bestätigt genau das, was wir sagen, dass nämlich dieses Land nur dann eine Zukunft
hat, wenn wir dem Umstand Rechnung tragen, dass Entwicklung nur möglich ist, wenn die Sicherheit gewährleistet ist. Wenn wir nicht sichern, können wir nicht aufbauen. Die Reihenfolge, die Sie vorschlagen, lieber
Kollege, ist meines Erachtens also völlig falsch.
({0})
Herr Aydin, zur Antwort, bitte.
Lieber Kollege Raabe, liebe Kollegin Pfeiffer, ich
habe bereits in meiner Rede darauf hingewiesen, dass
der sogenannte Aufbau mit militärischen Hilfen seit sieben Jahren andauert, und seit sieben Jahren ist kein Fortschritt zu erkennen.
({0})
Sieben Jahre lang ist es nicht gelungen, die Taliban mit
den Mitteln des Krieges zu bekämpfen.
({1})
Die Taliban werden auch in weiteren sieben Jahren mit
Kriegsmitteln nicht bekämpft werden können.
({2})
Das sollten Sie endlich begreifen. Deshalb fordere ich
Sie noch einmal auf: Beenden Sie den Kriegseinsatz in
Afghanistan!
({3})
Bereiten Sie das mit einer vernünftigen Exit-Strategie
vor. Lassen Sie Afghanen Afghanistan in die Hand nehmen, und lassen Sie sie uns mit unseren Mitteln dabei
unterstützen, dass das Land vernünftig aufgebaut wird;
das geht nicht mit einem Kriegseinsatz.
({4})
Die Kollegin Ute Koczy hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! So wichtig das Thema Afghanistan auch ist:
Ich möchte mich zum Thema Bildung äußern; denn das
steht heute Abend im Mittelpunkt. Ich möchte zunächst
- wie alle anderen auch; da sind wir uns zum Glück einig - darauf hinweisen, dass Bildung ein Schlüsselelement für die Weiterentwicklung und die Beseitigung von
Armut ist.
({0})
Wer über eine gute Bildung verfügt, hat einfach mehr
Chancen, am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Dass das inzwischen Konsens ist und
auch wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt wird, ist,
denke ich, ein gutes Zeichen. Wir wissen auch - das zeigen die Studien -, dass dadurch die Wahrscheinlichkeit
geringer wird, dass sich Menschen mit HIV infizieren;
denn wenn eine Person entsprechend gebildet ist, dann
weiß sie damit umzugehen. Bildung führt also in der Gesundheit und auch in anderen Bereichen zu Fortschritten.
Das gilt ebenfalls für die Mütter- und Kindersterblichkeitsrate. Bildung bewirkt, dass die hohe Rate sinkt. An
dieser Stelle wird der klassische Zusammenhang deutlich: In dem Augenblick, in dem man bei Bildung ansetzt, werden auch in anderen Schlüsselbereichen der
Entwicklungspolitik Erfolge erreicht.
Angesichts dessen ist es gut, dass die Weltgemeinschaft inzwischen darauf hingewiesen hat, dass die
Grundschulbildung für alle Kinder bis 2015 ein zentrales
Millenniumsentwicklungsziel ist. Es gibt gemeinsame
Anstrengungen, und es gibt auch Erfolge. Es gibt vor allem in der Subsahara hohe Steigerungsraten bei der Einschulungsquote. Sie stieg dort im Zeitraum von 1999 bis
2005 von 57 Prozent auf 70 Prozent. Dies zeigt, dass mit
den Millennium Development Goals eine positive Entwicklung erreicht worden ist. Das ist Ansporn genug,
sich noch stärker dafür einzusetzen, dass die 70 Millionen Kinder, die noch keine Schulbildung haben, diese
auch noch erhalten.
({1})
Deutschland sollte sich überlegen, wie es sich in diesem Bereich stärker engagieren kann. Wir haben mit
Aufmerksamkeit gelesen, was die Koalition, aber auch
die Linke geschrieben hat: Im Jahr 2005 landete Deutschland mit seinen Beiträgen zur Grundbildung in der
Entwicklungszusammenarbeit auf Platz 16 der 22 Hauptgeberländer der OECD. Das ist natürlich keine Erfolgsgeschichte. Es zeigt vielmehr, wie stark man dies vernachlässigt hat. Deswegen ist es sehr wichtig und zu
begrüßen, dass die Ausgaben im Rahmen der bilateralen
Zusammenarbeit für das Haushaltsjahr 2009 verdoppelt
werden sollen. Aber ich füge hinzu: Das ist nicht ausreichend, um das Ziel tatsächlich zu erreichen. Ich hätte mir
auch gewünscht, dass die Beiträge für die Fast-Track-Initiative der Weltbank höher ausgefallen wären; denn
diese Initiative scheint ein ganz guter Ansatz zu sein, um
die Eigenverantwortung in den Partnerländern beim
Thema Bildung zu stärken. Frau Kollegin Kofler hat darauf schon hingewiesen.
Zu den Anträgen folgende Bemerkungen: Der Antrag
der Koalitionsfraktionen beschreibt den gesamten Bereich „Bildung in der Entwicklungspolitik“. Neben der
Grundbildung nennen Sie einige weitere wichtige Handlungsfelder wie zum Beispiel weiterführende Bildung,
Berufsschulbildung und Ausbildung in fragilen Staaten.
Es lässt sich allerdings im Forderungsteil nicht immer
nachvollziehen, worin denn der optimale deutsche Beitrag liegen soll. Das heißt, viele der Forderungen sind
richtig, aber sie sind zu unkonkret. Beispiel: Eine Ihrer
Forderungen ist, sich dafür einzusetzen, die Fast-TrackInitiative der Weltbank ihrer Bedeutung nach angemessen finanziell auszustatten. Die Frage ist aber: Was ist
„angemessen“? Da hätten wir uns natürlich gewünscht,
dass man hier klare Zahlen auf den Tisch legt. Wir von
der Opposition weisen Sie gerne darauf hin, dass Sie an
dieser Stelle ein bisschen unkonkret geblieben sind.
Wer mehr Priorität für die Grundschulbildung einfordert, muss aber auch die starke Diskrepanz bei den Ausgaben für den Schwerpunkt Bildung und den Ausgaben
für die Hochschulkooperation mit den Entwicklungsländern ansprechen. Da stellen sich schon die Fragen: Wie
viele Universitäten gibt es denn in Afrika? Wie werden
diese unterstützt? Besteht da nicht ein schwarzes Loch,
weil wir viel zu wenig Aufmerksamkeit darauf gerichtet
haben, sodass wir an einer Veränderung arbeiten müssen?
Spannend wird es auch, wenn Sie von den komparativen Vorteilen Deutschlands bei der Konzeption von
Bildungssystemen sprechen. Da hätte mich schon interessiert, wo Sie diese sehen, und vor allen Dingen, wie
diese in Entwicklungsländer eingebracht werden können.
Grundsätzlich frage ich mich, wie die Bundesregierung all die verschiedenen Bildungsbereiche, die Sie ansprechen und die ich auch für wichtig halte, mit einem
Budget von knapp 150 Millionen Euro für 2009 tatsächlich bewältigen will. Es reicht eben nicht aus, nur den
Bogen zu spannen und ein Kessel Buntes zusammenzufügen, ohne zu präzisieren, wohin man will. Deswegen
werden wir uns bei diesem Antrag enthalten.
Das gleiche Votum gilt auch für den Antrag der Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion. Dieser Antrag
ist aufgrund der knapp gehaltenen und guten Analyse der
aktuellen Situation lesenswert. Aber wir sind nicht Ihrer
Auffassung, dass die Studienplatzkosten ausländischer
Studierender in Deutschland nicht auf die ODA-Quote
angerechnet werden sollen. Das hätte andere Förderungsinstrumente zur Folge. Wir sind daher der Auffassung, dass Sie da und in weiteren Punkten nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen haben. Deswegen
enthalten wir uns bei Ihrem Antrag.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({2})
Die Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel spricht
jetzt für die SPD-Fraktion.
({0})
Meine Damen und Herren auf den Rängen im Parlament zu dieser etwas vorgerückten Stunde! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weltweit verbringen Frauen wesentlich mehr Zeit als Männer mit Erwerbs- und
Hausarbeit. Frauen erhalten für diese Arbeiten weniger,
geben aber mehr Geld für die Ernährung und die Gesunderhaltung ihrer Familien aus. Frauen investieren ihr Geld
eher in die Bildung ihrer Kinder, als Männer dies tun.
Frauen könnten, wenn wir ihnen die Möglichkeit geben,
wesentlich mehr zum wirtschaftlichen Wachstum ihrer
Länder beitragen. Aber 60 Prozent der Frauen weltweit
sind Analphabetinnen. Es sind zuerst die Mädchen, die
aus der Schule genommen werden, wenn Eltern das Geld
für Schuluniform, Schulgeld oder Lehrmittel fehlt. Mädchen müssen die Schule verlassen, weil ihre Arbeitskraft
gebraucht wird, und Mädchen werden viel zu jung verheiratet, statt sie lernen zu lassen.
({0})
Mädchen, die die Schule besuchten, werden zu
Frauen und Müttern, die für sich und ihre Kinder besser
sorgen, weil sie nämlich durch das Lernen etwas über ihren Körper erfahren haben. Dadurch verringert sich ihr
Risiko, bei der Geburt ihrer Kinder zu sterben. Durch die
Bildung ernähren sie sich gesünder und achten auf medizinische Versorgung für ihre Kinder. Die Sterblichkeitsrate ihrer Kinder ist nur halb so hoch wie bei Müttern
ohne Schulbildung.
({1})
73 Prozent der Kinder, deren Mütter die Schule besucht
haben, werden in die Schule geschickt. Bei Müttern ohne
Schulbildung dürfen dagegen nur 51 Prozent der Kinder
in die Schule gehen, und das sind dann meistens die Jungen.
({2})
Frauen mit Schulbildung sind in der Lage, sich sowohl
um ihre eigenen Rechte als auch um die Rechte ihrer
Kinder besser zu kümmern.
Meine Damen und Herren, diese wenigen Beispiele
machen deutlich, dass Bildung weit mehr ist als bloße
Wissensanhäufung. Bildung hat insofern eine hohe Rendite: Jeder Euro, der investiert wird, hat eine Rendite von
mindestens 50 Euro. Bildung ist emotionale, kognitive
und gesundheitliche Bildung. Fehlende Bildung von
Mädchen und Frauen hat auch Auswirkungen auf die
Jungen und auf die Männer und damit auf die Entwicklungschancen einer ganzen Gesellschaft.
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle von einem Projekt
berichten, das ich in Äthiopien kennengelernt habe. Die
Kindernothilfe, ein evangelischer Verein aus Duisburg,
initiiert dort Selbsthilfegruppen. Angesprochen werden
die ärmsten unter den armen Frauen. Allein schon, dass
andere Menschen sie als so wertvoll erachten, dass sie
angesprochen werden, dass ihre Bedürfnisse und Nöte in
den Mittelpunkt rücken, stärkt und bildet ihre Persönlichkeit. Sie erleben sich erstmalig als Menschen, die
Rechte haben. Sie machen die Erfahrung, dass Menschenrechte unabhängig von Armut oder Reichtum, unabhängig von Bildung, unabhängig vom Geschlecht,
also auch für die Frauen, gelten. Ein Satz, den wir immer
wieder gern wiederholen, ist, dass Menschenrechte unteilbar sind. Diese Frauen erleben es ganz praktisch.
({3})
Diese Frauen erhalten Beratung und Unterstützung
dabei, gemeinsam von ihrem wirklich minimalen Besitz
einen winzigen Bruchteil zu sparen. Gemeinsam entscheiden sie auch, was mit dem Geld geschehen soll,
was für sie wichtig ist, nicht, was für die wichtig ist, die
sie dazu anleiten. Jede Einzelne kann aus dem großen
Topf einen Kredit bekommen. Existenzgründungen werden möglich. Sie können besser für ihre Familien sorgen; denn sie bestimmen über den Einsatz der Gelder.
Sie verfügen über Wissen und Mittel, und sie treffen
- oft erstmalig - eigenständige Entscheidungen.
Durch diese Erfahrungen geschieht Bewusstseinsbildung. Die Frauen erkennen, dass sie ihr Leben und das
Leben ihrer Kinder selbst in die Hand nehmen können.
Sie wissen, dass sie sich gemeinsam gegen die Tradition
der Genitalverstümmelung zur Wehr setzen müssen, und
sie haben es geschafft - auch wieder gemeinsam -, ihre
Töchter, ihre Kinder vor dieser Form der Gewalt zu bewahren. Sie erfahren auch, dass Schulausbildung dabei
hilft, eine Lebensperspektive zu entwickeln und den
Weg aus der Armut zu finden.
Diese Erfahrung, für sich selbst etwas bewirken zu
können, für eigene Belange und Rechte gemeinsam einzutreten, geben die Frauen an ihre Kinder weiter. Das ist
eine ganz andere Art von Bildung. Hier kann Demokratiebildung entstehen und wachsen.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ja. - Wenn wir Mädchen und Frauen Bildung ermöglichen, wenn die Frauen die gleichen Chancen erhalten
wie die Männer, dann kann Zukunftsbildung stattfinden.
Wir haben das in unserem Antrag in mehreren Punkten
deutlich beschrieben. Wenn wir die Frauen in ihrem Engagement unterstützen, werden wir auch den Millenniumszielen näherkommen. Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag unbedingt zuzustimmen, den Frauen zuliebe.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/10360.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/9424 mit
dem Titel „Förderung von Bildung und Ausbildung Entwicklungspolitischen Schlüsselsektor konsequent
ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalition,
Gegenstimmen von FDP und Linke sowie Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8812
mit dem Titel „Entwicklung braucht Bildung - Den
deutschen Beitrag erhöhen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
Koalition und FDP gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, Karin
Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Keine Lobbyisten in den Ministerien
- Drucksache 16/9484 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Haushaltsausschuss
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren, wobei Die Linke fünf Minuten erhalten soll. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zu Beginn der Debatte
gebe ich das Wort dem Kollegen Roland Claus für Die
Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Allein der Titel unseres Antrages erklärt unser
Anliegen: „Keine Lobbyisten in den Ministerien“. Gemeint sind etwa 100 Vertreter der privaten Wirtschaft,
der Banken und von Wirtschaftsverbänden, die zeitweilig in den Bundesministerien arbeiten, aber auf den Gehaltslisten von Unternehmen stehen.
Wir führen darüber seit etwa zwei Jahren im Bundestag eine Debatte. Es gab Anfragen aller drei Oppositionsfraktionen und Medienrecherchen. Eine fraktionslose Abgeordnete hat diese Frage schon 2003 gestellt.
Deshalb hat sich der Haushaltsausschuss des Bundestages mit dem Sachverhalt beschäftigt. Der Bundesrechnungshof hat einen sehr eindringlichen Bericht verfasst,
aus dem ich einen Satz zitieren möchte:
Das Risiko von Interessenkonflikten besteht allerdings in erster Linie bei Beschäftigten von Einzelunternehmen und Verbänden, die naturgemäß
eigene, häufig gewinnorientierte Interessen verfolgen.
Genau dort liegt der Kern des Problems. Während die
Bundesregierung, nicht zuletzt per Amtseid, dem Gemeinwohl verpflichtet ist, sind Vertreter einer Bank
selbstverständlich in erster Linie dem Gewinninteresse
der Bank verpflichtet. Wer diesen Interessenkonflikt gering schätzt oder gar aus der Welt räumen will, der ist
schlicht und einfach naiv.
({0})
Nun sind diese Verbände nicht etwa ausgewogen vertreten. Man könnte denken, die Bundesregierung schaut
sich die ganze Zivilgesellschaft an und bildet sie entsprechend ab: vom Arbeitslosenverband über Gewerkschaften bis zum Bundesverband privater Banken. Aber Fehlanzeige! Es ist schön einseitig. Ich will Ihnen nicht alle
hundert Namen vorlesen, aber Beispiele: Bayer AG,
BASF, Eon, PricewaterhouseCoopers, Kreditanstalt für
Wiederaufbau - an mehreren Stellen vertreten -, Daimler, Dresdner Bank. Das ist schon ein relativ einseitiges
Bild.
({1})
Der Haushaltsausschuss hat deshalb im Juni einen
Beschluss gefasst, und zwar einstimmig, und gesagt: Wir
brauchen klarere Regelungen. Der Ausschuss hat zur
Kenntnis genommen, dass die Bundesregierung erklärt
hat, sie wolle dazu ebenfalls einen Beschluss fassen. Das
hat sie im Juni auch gemacht. In wesentlichen Punkten
aber ist sie nicht den Vorgaben des Haushaltsausschusses
gefolgt, was dazu führte, dass der haushaltspolitische
Sprecher der Union im Ausschuss wirklich im Quadrat
gesprungen ist, nicht etwa, weil er sich gefreut hat, sondern weil er sich geärgert hat. Jetzt spricht die Bundesregierung schlicht von einem Austauschprogramm. Was
wird denn dort ausgetauscht? Die Meinung der Bundesregierung gegen die Meinung der Deutschen Bank, oder
was? Oder man verharmlost das und sagt: Die tun nichts. Woher kenne ich den Spruch bloß? Wenn man einmal
zusammenrechnet, was diese 100 Leute im Jahr verdienen, dann kommen mindestens 10 Millionen Euro dabei
heraus. Das ist ein Vielfaches dessen, was die Bundestagsparteien - außer der Linken - von der Allianz an
Spenden bekommen; davon war schon die Rede. Deshalb haben wir unseren Antrag gestellt.
Ich sage Ihnen noch etwas: Sie können nicht den ganzen Morgen in einer Debatte zubringen, in der Sie mehr
Regulierung der internationalen Finanzmärkte fordern
und verlangen, dass endlich Ordnung geschaffen wird
- es sind viele harsche Worte gefallen -, und eine fortgesetzte Lobbyarbeit für Banken in den Bundesministerien
dulden. Das passt nicht zusammen.
({2})
Für uns ist eine Konsequenz, dass Lobbyisten nicht in
den Ministerien beschäftigt sein sollten.
Im Übrigen hoffe ich, dass sich das Gerücht nicht bestätigt, wonach die Bundesregierung beabsichtigt, die
Treuhand Liegenschaftsgesellschaft, also den ostdeutschen Immobilienlogistiker, an Lone Star zu verkaufen.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag
„Keine Lobbyisten in den Ministerien“.
Vielen Dank.
({3})
Ralf Göbel hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Frühsommer dieses Jahres haben wir schon einmal
eine Debatte über die Mitarbeit von Externen in der Bundesverwaltung geführt. Grundlage und Anlass für die
damalige Debatte war der Bericht des Bundesrechnungshofes, der einige kritische Anmerkungen zu Art und
Umfang der Einbeziehung Externer in verschiedenen
Bereichen der Bundesverwaltung gemacht hat. Der Zeitraum, der vom Rechnungshof untersucht wurde, reichte
von 2004 bis 2006.
Der Rechnungshof hat damit eine wichtige Diskussion angestoßen, die allerdings nicht neu ist. Es geht um
die Frage, in welchem Umfang es öffentlichen Verwaltungen erlaubt ist, verwaltungsexterne Personen temporär mit Aufgaben der öffentlichen Verwaltung zu
betrauen bzw. sie in Prozesse einzubinden. Das ist ein
Thema, das in der wissenschaftlichen Diskussion schon
sehr lange erörtert wird, und zwar - je nach Position des
Betroffenen - mit verschiedenen Ergebnissen. Ich plädiere dafür, dieses Thema sehr differenziert zu betrachten. Pauschalierungen sind hier nicht geeignet, Alarmismus im Übrigen auch nicht.
Ein Personaltausch zwischen Wirtschaftsverbänden
und Verwaltung ist nicht grundsätzlich verwerflich; denn
er bietet die Möglichkeit, gegenseitig in die Strukturen
und Prozesse Einblick zu nehmen und Erkenntnisse zu
gewinnen, wie die andere Seite arbeitet und wie andere
Verfahren laufen können. Es gibt sicherlich auch keine
Einwände dagegen, Sachverstand zeitlich begrenzt einRalf Göbel
zubringen, insbesondere bei komplexen Materien. Ich
glaube, das ist ein wesentlicher Schritt zu mehr Qualität
gesetzlicher Regelungen. Es ist wesentlich besser, wenn
Experten, die sich in diesen komplexen Materien auskennen, an diesen Vorhaben mitwirken,
({0})
als wenn sich die öffentliche Verwaltung alleine damit
beschäftigt.
Es ist aber klar - das ist im Sommer dieses Jahres
schon betont worden -, dass es keinen Einsatz von Externen geben darf, wenn es zu Interessenkollisionen
kommt. Es ist klar, dass kein Einsatz stattfinden darf,
wenn dadurch Wettbewerbsvorteile erzielt werden können. Auch ist klar, dass ein Einsatz nicht möglich ist,
wenn dadurch das Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit und
die Gemeinwohlverpflichtung der öffentlichen Verwaltung infrage gestellt wird. Ebenfalls ist klargestellt worden, dass Transparenz gegeben sein muss.
Die Bundesregierung hat die Grundsätze, die nicht
nur vom Haushaltsausschuss, sondern auch vom Innenausschuss aufgestellt worden sind, in eine Verwaltungsvorschrift umgesetzt, die Verbindlichkeit für alle Bundesministerien besitzt. Sie wurde am 18. Juni dieses
Jahres im Kabinett beschlossen und am 25. Juli im Bundesanzeiger veröffentlicht. Meines Erachtens hat die
Bundesregierung alles aufgegriffen, über das im Deutschen Bundestag zu diesem Thema diskutiert worden ist:
Die Zulässigkeit und die Steuerung eines Einsatzes sind
geregelt. Eine Risikoabschätzung ist vorzunehmen, und
es ist eine Kontrolle durchzuführen. Entlohnung und
Transparenz sind geregelt. Wir werden demnächst im Innenausschuss und im Haushaltsausschuss einen Bericht
über den Einsatz Externer in der Bundesverwaltung bekommen, so wie es in der Verwaltungsvorschrift geregelt
ist. Darüber hinaus ist ein Verhaltenskodex für diejenigen erstellt worden, die als Externe in der Bundesverwaltung arbeiten.
Insoweit halte ich den Antrag, über den wir heute diskutieren, für völlig überholt. Ich glaube auch, dass einige
Formulierungen im Antrag etwas weit von der Wirklichkeit entfernt sind. In der Begründung lese ich:
Die Lobbyisten dürfen erst im geordneten parlamentarischen Verfahren ihre Vorstellungen öffentlich vortragen.
Das heißt ja, dass weder Gewerkschafter noch Unternehmensvertreter noch Verbände im Vorfeld eines Gesetzgebungsverfahrens mit den Ministeriumsvertretern reden
dürfen. Mich würde einmal interessieren, wie die Praxis
im Bundesland Berlin ist, ob sich die Senatoren der Linken auch dort ein Rede- und Kontaktverbot verordnen
lassen, bevor sie einen Gesetzentwurf in das Berliner
Abgeordnetenhaus einbringen.
({1})
Ich glaube, das, was hier gefordert wird, ist abenteuerlich.
Gewerkschaften werden im Übrigen ihre helle Freude
daran haben, zu erfahren, dass die Sozialreferenten an
den deutschen Auslandsvertretungen abgezogen werden
müssen, weil die Linke das in ihrem Antrag genauso fordert wie den Abzug der Wirtschaftsvertreter, die in den
Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland
beschäftigt sind.
Zum Schluss komme ich auf die Antragsbegründung
zu sprechen. Als Beamtenrechtler freut mich sehr, dass
die Linke nun den in Art. 33 Abs. 4 des Grundgesetzes
verankerten Funktionsvorbehalt so hochhält und das Beamtentum preist. Ich muss allerdings sagen: Ich war
dann auf Ihrer Homepage. Unter dem Stichwort „öffentlicher Dienst“ steht: Die Abschaffung des Berufsbeamtentums wird angestrebt.
({2})
Ich glaube, das zeigt, wie seriös dieser Antrag zu behandeln ist.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Jetzt hat Christian Ahrendt das Wort für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Herr Claus, Sie haben bei Ihrer Aufzählung beispielsweise darauf verzichtet, zu erwähnen - es
war in der Anfrage der FDP-Fraktion nachzulesen -,
dass die IG Metall im Arbeitsministerium vertreten ist.
Insofern sind die Lobbyinteressen gleichermaßen an vielen Stellen vertreten.
Was wichtig ist - das sprachen Sie zu Recht an -: Es
kann nicht sein, dass rund 108 Mitarbeiter im Zeitraum
2004 bis 2006 an Gesetzgebungsvorhaben mitgewirkt haben, ohne dass man es weiß. Es kann auch nicht richtig
sein - diese Fälle hat der Rechnungshof dokumentiert -,
dass Mitarbeiter, die von Unternehmen oder Verbänden
bezahlt werden, an Gesetzesvorhaben mitgewirkt haben,
die ihre Unternehmen oder Verbände betrafen. Das ist
inakzeptabel - das steht außer Frage -, und zwar aus
dem einfachen Grund: Ein Gesetzgebungsverfahren ist
mit dem Anspruch verbunden, dass die Interessen gegeneinander abgewogen und dann im Sinne des Gemeinwohls gewichtet werden.
Allerdings findet Gesetzgebung nicht im Elfenbeinturm statt; sie muss sich letztendlich an der Lebenswirklichkeit orientieren. Sie haben die Finanzmarktkrise angesprochen. Ohne dass ich den Herrschaften im
Finanzministerium zu nahe treten möchte: Ich glaube
nicht, dass Sie ohne Spezialisten, die sich auf den internationalen Finanzmärkten auskennen, vernünftige Regularien entwickeln können,
({0})
durch die man in der Lage ist, Krisen zukünftig zu vermeiden. Es ist sehr wohl wichtig, dass Spezialisten
schon frühzeitig in Gesetzesinitiativen eingebunden werden, damit keine Gesetze entworfen werden, die an der
Lebenswirklichkeit vorbeigehen.
Das Problem bekommt man dadurch in den Griff
- teilweise ist das schon umgesetzt -, dass man die Gesetze mit entsprechender Transparenz versieht. Das kann
man beispielsweise dadurch erreichen, dass, wenn aufseiten der Ministerien Spezialisten mitgewirkt haben, in
den Gesetzesvorlagen ausdrücklich darauf hingewiesen
wird. Das hätte erstens den Vorteil, dass man im Initiativverfahren gar kein Interesse daran hat, Beeinflussungen vorzunehmen, weil man weiß, dass die Konkurrenz
darauf sofort anspringen würde. Der zweite Vorteil wäre,
dass man kompetentes Wissen frühzeitig einbinden
könnte, um Gesetze nicht an der Wirklichkeit vorbeigehen zu lassen.
Der Vorschlag, den Sie mit Ihrem Antrag machen,
nämlich hier ein Beschäftigungsverbot auszusprechen,
bedeutete schlichtweg, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Er hat auch keine Grundlage im Grundgesetz.
Wenn Sie den entsprechenden Art. 33 richtig lesen, dann
werden Sie feststellen, dass der Gesetzgeber gesagt hat:
In der Regel sollen im öffentlichen Dienst Beschäftigte
an hoheitlichen Aufgaben mitwirken. Das heißt aber
nicht: ausschließlich. Insofern hat schon der Grundgesetzgeber eine entsprechende Öffnung vorgenommen.
Es besteht kein Anlass, Ihrem Antrag zu folgen. Das
meiste ist umgesetzt. Mehr Transparenz ist wünschenswert.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Der Kollege Peter Friedrich spricht jetzt für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben nicht nur im April, sondern auch im Juni dieses Jahres eine Debatte über das Verhältnis von Parlament, Regierung und Interessenvertretungen geführt. Als
Ergebnis dieser Debatte möchte ich festhalten: Wir alle
waren einvernehmlich der Überzeugung, dass Interessenvertretungen zu einer demokratischen Verfassung gehören und dass Interessenvertretung legitim ist, wenn sie
keinen unzulässigen Einfluss auf staatliche Institutionen
ausübt. Wir alle wissen: Es ist notwendig, dass in einem
Gesetzgebungsverfahren alle Betroffenen angehört und
all ihre Befürchtungen und Sorgen berücksichtigt
werden. Gleichwohl stehen wir vor der Aufgabe, die
Verhältnisse klarer zu regeln, und zwar nicht nur im konkreten Fall der Mitarbeit in einem Ministerium, sondern
insgesamt.
Aufgrund der ungeregelten Verhältnisse im Zusammenhang mit Lobbyismus bzw. Interessenvertretung
könnte das Vertrauen in die Legitimität des Handelns
von Parlament und Regierung infrage gestellt werden.
Das gilt in besonderer Weise für die vorübergehende
Mitarbeit von Personen in Bundesbehörden. Der Bundesrechnungshof hat hierzu einen Bericht vorgelegt - er
wurde bereits angesprochen - und eine ganze Reihe von
Hinweisen gegeben, die das Bundesinnenministerium in
die entsprechende Dienstanweisung weitestgehend aufgenommen hat.
Herr Claus, gestatten Sie mir, auf Folgendes hinzuweisen: Ich habe den Bericht des Bundesrechnungshofes
und den Bericht des Innenministeriums genau gelesen.
Ich finde, dass Sie mit Ihrer Interpretation ein bisschen
über das Ziel hinausgeschossen sind. Nicht alle 100 Lobbyisten, von denen Sie sprachen, gehörten deutschen
Unternehmen an. Das betraf nur den kleinsten Teil von ihnen, genauer gesagt 16 Prozent, und auch diese 16 Prozent waren nicht per se an entsprechenden Stellen. Wir
alle kennen solche Beispiele und sind darüber besorgt.
Deswegen müssen wir hier etwas tun. In manchen Unternehmen - es kam der Zwischenruf „Fraport!“; ein anderes Beispiel ist die Telekom - kam es in der Vergangenheit zu Fehlentwicklungen, die wir beenden müssen.
Wenn wir den Inhalt der Vorlage der Bundesregierung
umsetzen, können sie aus unserer Sicht weitgehend beendet werden.
Sie dürfen nicht so tun, als handele es sich in jedem
Fall, in dem jemand die Seiten wechselt, um eine unberechtigte Einflussnahme in Bundesbehörden. Das ist
nicht so. Das Programm, durch das Mitarbeitern aus der
Privatwirtschaft zeitlich begrenzt und in Positionen mit
geringer Verantwortung die Möglichkeit gegeben wird,
einmal auf die andere Seite, nämlich in ein Ministerium,
zu blicken - das gilt auch umgekehrt -, ist sehr sinnvoll.
Dadurch können das wechselseitige Verständnis und die
Gesetzgebung verbessert werden. Außerdem kann die
Arbeit privater Unternehmen und Organisationen besser
kontrolliert werden. Durch die Beispiele, die Sie angeführt haben, haben Sie allerdings den Anschein erweckt,
als seien all diese Personen Entsandte der Industrie. Das
war bisher mitnichten so. Es traf lediglich auf wenige
Einzelfälle zu, die uns gleichwohl besorgt machen sollten.
Des Weiteren finde ich, dass Ihr Antrag an einer
Stelle ein ganz gewaltiges Manko aufweist; deswegen ist
die SPD-Fraktion mit der Vorlage des Innenministeriums
noch nicht ganz zufrieden. Sie fordern in Ihrem Antrag,
den Bundesbehörden zu untersagen, externe Personen zu
beschäftigen, die für Verbände oder für eine Personenund Kapitalgesellschaft mit nichtstaatlichen Anteilseignern arbeiten. Hierzu möchte ich Ihnen ein Beispiel nennen: die Deutsche Bahn. Da Sie sich an den Diskussionen über die Deutsche Bahn immer aktiv beteiligt haben,
wissen Sie: Die Bahn ist zu 100 Prozent ein Bundesunternehmen. Gleichwohl möchte natürlich auch ich
wissen: Wie ist hier der Personalaustausch geregelt? Wie
ist hier die Situation im Hinblick auf die Mitarbeit in
Ministerien? Ich halte es nach wie vor für legitim, dass
bestimmte Personen abgestellt werden, auch von nachPeter Friedrich
gelagerten Behörden und öffentlichen Unternehmen. Ich
möchte aber, dass Transparenz besteht. Der Bürger sollte
erfahren: Wer hat mitgewirkt? Wer stand dahinter?
Wenn ich mir den Bericht des Innenministeriums, der
uns jetzt vorliegt, ansehe und zur Kenntnis nehme, wie
hoch die Zahl externer Personen ist und wie das Kriterium „extern“ gefasst ist, muss ich sagen: Dieses Raster
halte ich, ehrlich gesagt, für etwas zu grob. Auch hier
wird der Begriff „öffentlicher Dienst“ verwendet. Dann
wird eine ganze Reihe von Personen dem öffentlichen
Dienst gleichgestellt: juristische Personen, Gesellschaften oder andere Personenvereinigungen, die sich ausschließlich in öffentlicher Hand befinden, zwischenstaatliche oder überstaatliche Einrichtungen, an denen der
Bund, ein Land oder eine andere Körperschaft, Anstalt
oder Stiftung des öffentlichen Rechts im Bundesgebiet
oder ihre Verbände durch Zahlung von Beiträgen oder
Zuschüssen oder in anderer Weise beteiligt sind. - Das
ist ein sehr weites Feld.
Ich sage Ihnen noch einmal: Es geht nicht darum, einen Austausch per se zu untersagen, sondern darum,
Transparenz zu schaffen. Alle sollten wissen, wer dort
tatsächlich arbeitet. Daher hält die SPD den Vorschlag,
im jeweiligen Gesetz zu vermerken, wer an seiner Beratung und an seinem Zustandekommen beteiligt war
- dieser Vorschlag wurde eben gemacht -, für sinnvoll
und zielführend.
Des Weiteren sollten die Berichte über den Einsatz
Externer öffentlich sein, um diese Transparenz herzustellen. Es reicht aus unserer Sicht nicht aus, dies allein
den Ausschüssen zur Verfügung zu stellen, sondern wir
finden, dass einer breiten Öffentlichkeit mitgeteilt werden kann, wer an den Gesetzgebungsverfahren tatsächlich mitwirkt. Nach allem, was wir wissen, kann man das
durchaus publizieren; denn es gibt ja nichts, was dort geheim gehalten werden müsste. Dadurch würde Transparenz hergestellt und Vertrauen dafür geschaffen werden,
dass es dort ordnungsgemäß zugeht. Wir haben daran
keinen Zweifel, aber eine entsprechende Transparenz ist
notwendig.
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, um
den es in dieser Debatte immer wieder geht. Für den
Deutschen Bundestag gibt es ein Verbändeverzeichnis,
in dem aufgeführt ist, welche Verbände prinzipiell zu
Anhörungen etc. eingeladen werden können. Leider wird
dieses Verbändeverzeichnis bei Anhörungen in der Regel nicht angewendet, sondern es werden weit mehr Verbände eingeladen, als darin aufgeführt sind.
Häufig wissen wir eigentlich nicht, wer hinter diesen
Verbänden steht und wer die Interessen vertritt, die diese
Verbände formulieren. Deswegen ist es unser Wunsch
und unsere Hoffnung, dass wir es gemeinsam hinbekommen, dass dieses Verbändeverzeichnis dahin gehend erweitert wird, dass wir in Zukunft nicht mehr nur den Sitz
und den Namen erfahren, sondern auch, wer diesen Verbänden welche Zuwendungen und Mittel für ihre Tätigkeit als Interessenvertretung zur Verfügung stellt. Das
wäre ein weiterer Schritt. Eine Interessenvertretung soll,
muss und kann erfolgen; sie muss aber transparent sein
und sich nachvollziehen lassen.
In diesem Sinne wäre ich froh, wenn wir als Parlament bei dem, was jetzt vom Innenministerium auf dem
Tisch liegt, noch ein bisschen weitergehen würden. Es ist
Aufgabe des Parlaments, darüber zu wachen, dass die
Gesetzgebung ordnungsgemäß verläuft, und es ist Aufgabe des Parlaments, die Exekutive zu kontrollieren.
Deswegen finden wir, dass das eine Aufgabe für das gesamte Parlament und nicht nur für einzelne Ausschüsse
ist.
Wir denken, dass das, was jetzt von der Bundesregierung in Reaktion auf den Bericht des Bundesrechnungshofs auf den Weg gebracht wurde, noch ein wenig ausgebaut werden muss, um die notwendige Transparenz
tatsächlich zu erreichen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Jetzt spricht Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Transparenz in der öffentlichen Verwaltung und Neutralität
des exekutiven Handelns sind natürlich wichtige Themen für die Demokratie. Deshalb haben wir bereits im
April dieses Jahres einen Antrag eingebracht, den wir
am 25. April hier gelesen haben. Aus diesem Grunde
fragt man sich: Warum müssen wir im Nachklapp um
diese Zeit noch einmal über einen Antrag zu diesem
Thema debattieren, zumal er einfach schlecht gemacht
ist?
({0})
Sie sagen, dass es keine externen Mitarbeiter bei Bundesbehörden mehr geben solle. In Ihrer Begründung zitieren Sie auch noch den Satz des Bundesrechnungshofs,
wonach ein besonderes Problem bei Personenunternehmen bestehe. Ausgerechnet diese lassen Sie aus Ihrem
Antrag aber heraus. Das, was Sie hier vorgelegt haben,
ist also völlig undurchdacht.
Ihr Antrag klingt populistisch.
({1})
Sie wollen das überhaupt nicht mehr. Damit lösen Sie
die Probleme nicht, und hinsichtlich der Abgrenzung ist
dieser Antrag auch noch dilettantisch gemacht.
Ich glaube, es ist wirklich wichtig, dass wir überlegen, wie wir Transparenz erreichen können. Die Richtlinien, die die Bundesregierung in Kraft gesetzt hat, finde
ich dafür in der Tat einfach nicht ausreichend. Wir haben
in unserem Antrag - orientiert an dem Bericht des Bundesrechnungshofs - wesentlich klarere Vorgaben gemacht.
Ich finde, wenn Sie Mitarbeiter von Externen einstellen - gegen eine befristete Einstellung habe ich gar
nichts -, dann soll jeder hier im Hohen Hause und in der
Volker Beck ({2})
Öffentlichkeit aufgrund eines Footprints wissen, wie
diese Person an dem Gesetzentwurf, der im Hohen Haus
eingebracht wird, mitgewirkt hat.
({3})
Das muss transparent sein, damit ich mich fragen kann,
ob Expertisen oder Interessen eingeflossen sind. Ich
muss wissen, wer daran gearbeitet hat. Wenn ich weiß,
dass das keine Bundesbeamten waren, dann habe ich
ganz andere Prüffragen hinsichtlich einer Vorlage, als
wenn ich mir dessen nicht bewusst bin.
Wenn die Verwendung externer Mitarbeiter prinzipiell nichts Anrüchiges ist, wie die Bundesregierung
meint und was ich grundsätzlich verstehe, dann muss
man sich vor Transparenz auch nicht scheuen und dann
kann am Ende auch der Jahresbericht des Bundesinnenministeriums zu diesem Thema auf der Homepage des
Ministeriums im Internet stehen. Jeder Bürger weiß
dann, wenn er irgendwo anruft, ob er mit einem Bundesbeamten, einem Angestellten des öffentlichen Dienstes
oder mit jemandem redet, der extern entsandt wurde,
weil er eine bestimmte Erfahrung und Expertise in die
Verwaltung einbringt oder auch weil sein Unternehmen
will, dass man etwas Erfahrung hinsichtlich der Bundesverwaltung sammelt, was erst einmal nichts Illegitimes
ist.
Ich glaube, wir dürfen bei der ganzen Debatte über
Lobbyismus und Demokratie nicht den Lobbyismus und
die Interessenvertretung in der demokratischen Gesellschaft insgesamt für kritikwürdig halten. Entscheidend
ist, inwiefern die Interessenvertretung von der Willensbildung im Parlament und auch vom exekutiven Handeln
getrennt ist und dass der Bürger nachvollziehen kann,
dass keine illegitime externe Einflussnahme und schon
gar keine Einflussnahme, die mit Geldflüssen korreliert,
stattgefunden hat.
({4})
Das erwarten die Menschen von uns, und in diesem
Punkt müssen wir nacharbeiten.
Es war schon eine Unverschämtheit des Bundesinnenministeriums insbesondere gegenüber den Koalitionsfraktionen, in der Sommerpause ungehindert von
parlamentarischer Einflussnahme eine nicht ausgegorene
Richtlinie als Verwaltungsvorschrift in Kraft zu setzen.
({5})
So geht man mit seinen Koalitionsfraktionen nicht um.
Man sieht auch an den Mienen Einzelner, dass bei ihnen
heimlich das Messer in der Tasche aufgegangen ist.
({6})
Das ist kein guter Umgang miteinander insbesondere in
einer Frage, bei der die Regierung in der Kritik des Parlaments stand.
({7})
Sie hatten als letzten Punkt das Lobbyistenregister angesprochen. Ich meine, dass wir damit weiterkommen
müssen. In unserer Fraktion hat in der Sommerpause
eine mit 200 Personen gut besuchte Veranstaltung zu
dieser Frage stattgefunden. Wir müssen allerdings
- dazu hatte die Linksfraktion schon einen Antrag vorgelegt - auch die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen beachten, in denen wir uns bewegen. Dazu gehört etwa die Frage, inwieweit wir in die internen
Angelegenheiten beispielsweise von Vereinen eingreifen
können. Denn auch die Vereinigungsfreiheit ist ein geschütztes Gut.
Wir brauchen hier mehr Transparenz und Verbindlichkeit. Aber das Ganze muss mit Augenmaß und im Hinblick auf unsere Verfassung und die Grundrechtspositionen erfolgen.
Vielen Dank.
({8})
Dr. Georg Nüßlein hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Mit
Rücksicht auf die späte Stunde und die Kollegen wollte
ich meine Rede eigentlich zu Protokoll geben.
({0})
Aber weil niemand anders dazu bereit war, rede ich jetzt
trotzdem und sage etwas, was ich sonst nicht zu Protokoll gegeben hätte: Was dieses Hohe Haus garantiert
nicht braucht, sind SED-Nachfahren, die uns sagen, wie
man saubere Politik betreibt.
({1})
Dass es Regelungsbedarf gab, ist unbestritten. Es
wurde aber deutlich, wie weit das Verfahren fortgeschritten ist. Sie springen jetzt auf einen fahrenden Zug auf
und tun so, als wären Sie Lokomotivführer.
({2})
- Das hätten Sie wohl gern. Ich sage das auch deshalb,
weil ich heute den ganzen Tag verfolgt habe, was für ein
Getöse auf der linken Seite insbesondere zu bayerischen
Themen veranstaltet wurde.
Ich meine, dass die Initiative des Haushaltsausschusses und der entsprechende Kabinettsbeschluss - Peter
Altmaier sitzt hier - richtig, konsequent und ausreichend
waren. Es war notwendig, mehr Transparenz zu schaffen, wie es der Kollege Göbel umfassend dargestellt hat.
Was aber beibehalten werden muss, ist der Wissenstransfer zwischen der Wirtschaft - das ist in Deutschland
noch ein wichtiger Faktor, jedenfalls zumindest solange
Sie nichts zu sagen haben - und unseren Ministerien.
Schon als ich Ihren Antrag gelesen habe, hatte ich den
Verdacht, dass es wieder um irgendeine wirtschaftsfeindliche Initiative geht. Aber nachdem ich Ihre Begründung
gehört habe, Herr Kollege Claus, bin ich mir sicher.
Denn Sie haben lamentiert, dass zwar die Wirtschaftsvertreter, aber nicht die Arbeitslosenverbände und andere - wen auch immer Sie aufgezählt haben - eingebunden sind.
Ich teile die Kritik an der Beteiligung von Externen
- von Lobbyisten, wenn Sie so wollen - in einem so frühen Stadium des Gesetzgebungsverfahrens.
({3})
Letzten Endes kommt es aber darauf an, was wir selber
aus den Referentenentwürfen machen. Ich kann nur dazu
ermutigen und auffordern, im parlamentarischen Verfahren das eine oder andere zu ändern, was wir auch tun. Ich
würde nicht ohne Weiteres behaupten, dass ein Referentenentwurf ohne Beteiligung Dritter - insbesondere vonseiten der Wirtschaft - unbedingt besser wird. Das
glaube ich nicht.
Der Bürokratieabbau ist ein eigenes Thema. Ich sage
Ihnen ganz offen: Wer glaubt, dass wir zum Abbau der
Bürokratie zu wenige Beamte haben, täuscht sich aus
meiner Sicht. Ich meine, dass es darauf ankommt, möglichst früh Expertise in die Verfahren zu bringen, und
dass die Lobby in den parlamentarischen Verfahren eine
gewisse Rolle spielen sollte.
Mit solchen Anträgen wie dem vorliegenden erwecken Sie den Eindruck - dieser besteht draußen sowieso -,
dass wir von der Lobby beherrscht werden. Lassen Sie
mich deutlich sagen, dass die Lobby im politischen Verfahren wichtig ist, weil wir nur so die Chance haben
- wenn man so einseitig ist wie Sie, spielt das natürlich
keine Rolle -, die Positionen verschiedener Seiten kennenzulernen und zu erfahren, welche Konsequenzen aus
dem einen oder anderen Verfahren zu ziehen sind. Erst
dann kann man zu einer wohlabgewogenen Position
kommen. Ich weiß, dass insbesondere Sie, meine Damen
und Herren von der linken Seite, ein ganz spezielles Problem mit wohlabgewogenen Positionen haben. Das werden wir nicht ändern.
Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9484 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 f auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({0})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Tourismuspolitischer Bericht der Bundes-
regierung - 16. Legislaturperiode -
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-
ten Ernst Burgbacher, Jens Ackermann,
Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Tourismuspolitischer Bericht der Bundesre-
gierung - 16. Legislaturperiode -
- Drucksachen 16/8000, 16/8194, 16/10187 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Brähmig
Annette Faße
Dr. Ilja Seifert
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter
Friedrich ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Annette Faße, Brunhilde Irber, Renate Gradistanac,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Messen und Geschäftsreisen als Chance für
den Tourismusstandort Deutschland
- Drucksachen 16/5958, 16/9255 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Ernst Burgbacher
Bettina Herlitzius
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Bernward Müller ({4}), Dr. HansPeter Friedrich ({5}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-
geordneten Annette Faße, Renate Gradistanac,
Bettina Hagedorn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Chancen des demographischen Wandels im
Tourismus nutzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Britta Haßelmann, Markus Kurth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Barrierefreiheit und demografischer Wan-
del - Auf die Herausforderungen für den
Tourismus reagieren
- Drucksachen 16/8777, 16/9315, 16/10073 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Renate Gradistanac
Dr. Ilja Seifert
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Uda Carmen Freia Heller, Dr. HansPeter Friedrich ({6}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette Faße, Engelbert Wistuba, Dr. CarlChristian Dressel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Reformationsjubiläum 2017 als welthistorisches Ereignis würdigen
- Drucksache 16/9830 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Anita Schäfer ({8}), Dr. HansPeter Friedrich ({9}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette Faße, Gabriele Hiller-Ohm, Renate
Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Bauernhofurlaub und Landtourismus weiter
fördern - Ländliche Räume nachhaltig stärken
- Drucksache 16/10320 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Barrierefreier Tourismus für alle in Deutschland
- Drucksache 16/10317 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Zu dem Tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Es ist verabredet, hier eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als Erstem dem
Kollegen Ernst Hinsken für die Bundesregierung das
Wort.
({12})
Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundesregierung
für Tourismus:
Verehrte Frau Vizepräsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Der Tourismus ist neben der Biotechnologie, dem IT-Sektor und der Gesundheitswirtschaft die
Wachstumslokomotive des 21. Jahrhunderts. Wir sprechen nicht umsonst von einer Leitökonomie der Zukunft.
Wir können uns in der Bundesrepublik Deutschland froh
und glücklich schätzen, dass gerade die Tourismuswirtschaft momentan boomt. So hatten wir im vergangenen
Jahr fast 362 Millionen Übernachtungen. Unter den
Übernachtungsgästen waren 55 Millionen Ausländer.
Dies entspricht einem Zuwachs von 3,6 Prozent. Wir
können uns auch darüber freuen, dass gerade die Tourismuswirtschaft seit der Fußballweltmeisterschaft 2006
läuft. Der Ball rollt, und die Zahlen und Ergebnisse werden immer besser.
Besonders erfreulich ist für mich als Tourismusbeauftragtem der Bundesregierung, dass inzwischen viele
Mitbürgerinnen und Mitbürger erkannt haben, dass es
sich bei der Tourismuswirtschaft um einen Wirtschaftsfaktor handelt, der mehr und mehr ausgebaut werden
kann. Wir haben gerade zu Beginn dieses Jahres seitens
der Bundesregierung den Tourismuspolitischen Bericht
vorgelegt. Der Bericht zeigt, dass die Tourismusbranche
vor ganz großen Herausforderungen steht. Wenn ich die
Herausforderungen mit einem Kuchen vergleiche, dann
stelle ich fest: Wir alle sind gefordert, alles zu tun, um
ein großes Stück dieses Kuchens, der weltweit zur Verteilung ansteht, abzubekommen; denn um den einzelnen
Gast, den einzelnen Touristen wird weltweit gebuhlt. Da
dürfen wir nicht abseitsstehen. Da müssen wir dabei
sein.
Zurzeit sind wir seitens der Bundesregierung dabei,
Leitlinien für die Zukunft des Tourismussektors zu erarbeiten.
({13})
Wir wollen damit den vielen kleinen und mittelständischen Betrieben der Tourismusbranche einen Schub geben. Wir wollen günstige Rahmenbedingungen schaffen.
({14})
- Herr Kollege Brähmig, von denen können Sie es nicht
erwarten. Das müssen Sie selber machen.
({15})
- Ich sage das bei der Gelegenheit.
Wenn ich heute darauf verweise, dass wir an solchen
Leitlinien arbeiten, so möchte ich besonders unterstreichen, dass es mir darum geht, einen Konsens auch über
parteipolitische Grenzen hinweg zu finden;
Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken
({16})
denn Tourismus ist etwas, was uns alle angeht und was
uns allen auf den Nägeln brennt. Ich bin besonders dankbar dafür, dass Sie, Frau Kollegin Faße, sich heute Morgen neben dem Kollegen Brähmig hervorragend eingebracht haben.
({17})
Wir wollen gerade mit diesen Leitlinien Deutschland
weiterhin kraftvoll im Ausland vermarkten;
({18})
denn Tourismuspolitik ist die beste Außenpolitik, die es
überhaupt gibt.
({19})
Wir wollen die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen in den Bereichen Steuern, Verkehr, Umwelt und Verbraucherschutz optimieren, um nur einige wenige zu
nennen. Wir wollen den steigenden Anforderungen des
globalisierten Tourismus mit noch mehr Qualität begegnen. Unser Land ist nicht mit immer weiß-blauem Himmel,
({20})
Sonne, Meer, viel Wärme und dergleichen gesegnet.
({21})
Wir müssen das durch Qualität ersetzen, und wir sind dabei. - Kollege Dr. Nüßlein, ich pflichte Ihnen bei, dass
es in Bayern noch ein bisschen besser als in anderen Regionen der Republik ist.
({22})
Wir wollen darüber hinaus dafür sorgen, dass wir europaweite, ja weltweite Wettbewerbsverzerrungen abbauen. Es gilt insbesondere, die Stärken, die wir haben,
noch stärker herauszustellen. Wo liegen unsere Stärken?
Bei Messen und Geschäftsreisen zum Beispiel ist
Deutschland top. Deutschland ist Nummer eins bei den
Messen in aller Welt, Deutschland ist Nummer zwei bei
den Kongressen auf der ganzen Welt, und bei Geschäftsreisen liegt bei uns der Anteil bei 28 Prozent, während er
weltweit, auf die einzelnen Länder bezogen, nur bei
16 Prozent liegt. Hier gilt es, unsere Marktführerschaft
auszubauen. Das geht nicht von selber. Da brauchen wir
vernünftige Rahmenbedingungen. Deshalb habe ich vor
einigen Monaten Vertreter der Messewirtschaft zu mir
ins Ministerium geladen, um zu beraten, was getan werden soll und getan werden muss, damit die Messewirtschaft einen weiteren Schub bekommt und wir ganz
vorne bleiben.
({23})
Stark ist Deutschland, unsere Republik, auch beim
Städte- und Kulturtourismus. Ich könnte hier etwas nennen, was die Mitbürgerinnen und Mitbürger und insbesondere die Politiker momentan bewegt, nämlich die
Luther-Dekade von 2008 bis 2017. Doch ich kann mich
hier kurzfassen, weil sich meine Kollegin Heller noch
ausführlich dazu äußern wird. Ich möchte bei der Gelegenheit aber auch neue Trends ansprechen, die nicht vernachlässigt werden dürfen.
({24})
- Nicht nur die Chinesen. Sie werden sich besonders
freuen, wenn sie in Ihre Nähe kommen. - Ich meine mit
neuen Trends auch den Religionstourismus.
({25})
Im vergangenen Jahr gab es weltweit über 200 Millionen
Religionstouristen, die mehr als fünf Tage unterwegs
waren. Man muss natürlich unterscheiden zwischen dem
Pilger, der nach Mekka geht, und demjenigen, der auf
dem Jakobsweg wandert, der vor allen Dingen die Stille
und die Natur sucht und zu sich selber finden möchte,
oder der auf dem Benedikt-Weg in Altötting, Kollege
Mayer - auch eine große Attraktion in der Bundesrepublik Deutschland -, wandert.
({26})
Schließlich haben wir 861 Wallfahrtsorte und über
800 000 Pilgerreisen allein in der Bundesrepublik
Deutschland zu verzeichnen.
Lassen Sie mich noch auf Folgendes verweisen:
Wenn ich die breite Palette des Bereiches Tourismus hier
anspreche, dann wäre meine Schilderung nicht vollständig, wenn ich nicht auch den Urlaub auf dem Bauernhof
erwähnen würde. Hier profitieren vor allen Dingen benachteiligte Gebiete. Es ist eine zusätzliche Einnahmequelle für Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Tourismus
in der Fläche praktizieren. Auch hier haben wir Gas gegeben. Auch hier haben wir positive Zahlen zu verzeichnen. Auch hier wollen wir die Betroffenen mehr denn je
unterstützen.
({27})
Zwei letzte Bemerkungen. Erstens. Für uns ist vor allen Dingen der demografische Faktor wichtig, dem es
Rechnung zu tragen gilt. Wir können nicht wegdiskutieren, dass in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr
2030 jeder Dritte älter als 60 Jahre ist und dass es im
Jahr 2040 mehr über 50-Jährige als unter 50-Jährige
gibt.
({28})
Die Altersgruppe der 49- bis 74-Jährigen macht in der
Bundesrepublik Deutschland zwar nur 29 Prozent aus;
im Tourismussektor sind es allerdings 48 Prozent. Das
ist Zukunftsmusik. Es gilt, dies aufzugreifen und Rahmenbedingungen zu schaffen. Da sind wir alle gefordert,
damit die Tourismuswirtschaft diese neuen Strömungen
erfassen und berücksichtigen kann.
Zweitens. Ich muss noch den barrierefreien Tourismus erwähnen; sonst wäre mein Kollege Dr. Seifert bestimmt nicht zufrieden. Barrierefreiheit bedeutet in mei19110
Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken
nen Augen ein Glückserlebnis für viele Mitbürgerinnen
und Mitbürger, auch in der Bundesrepublik Deutschland.
({29})
Es lohnt sich, daran zu arbeiten. Über den Kongress mit
über 200 Teilnehmern hinaus, den wir vor 14 Tagen im
Ministerium durchgeführt haben, gilt es, weitere Maßnahmen zu treffen und das Notwendige zu tun.
({30})
- Liebe Frau Kollegin Dr. Enkelmann, wir wissen schon,
worauf es ankommt. Wenn Sie bereit sind, das mitzutragen,
({31})
sind Sie auf dem richtigen Weg. Das würde ich Ihnen
auch empfehlen.
Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, darf
ich von Herzen für die Aufmerksamkeit danken.
({32})
Der Kollege Ernst Burgbacher hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Ernst Hinsken, die Rede hat genau das widergespiegelt, was Inhalt des Berichts ist, nämlich eine Aufzählung von Feststellungen über den Deutschlandtourismus, aber eigentlich etwas völlig Unpolitisches. Ich habe
in der Rede jegliche politische Botschaft vermisst. Das
vermisse ich leider auch in dem Bericht.
Ich will der kleinen Abteilung im Bundeswirtschaftsministerium ausdrücklich danken, die mit einer Riesenarbeit vieles zusammengestellt hat, was von der Anwendung her allerdings nicht allzu viel bringt. Wir sind hier
im deutschen Parlament, und wir haben darüber zu reden, was politisch getan werden muss. Das ist unsere
Aufgabe.
Im Bericht habe ich all die Ziele gelesen und dann als
Konsequenz, die Branche müsse angesichts der Veränderungen offener und flexibler werden. Ich sage Ihnen: Die
Branche hat sich weit geöffnet. Die Branche ist flexibel.
Das eigentliche Problem ist, dass die Bundesregierung
weder offen noch flexibel ist.
({0})
Ich will in der Kürze der Zeit nur einige Punkte aufzählen, die wir kritisieren:
Das Erste. Es besteht eine völlig falsche Organisation
in der Bundesregierung. Das Amt des Tourismusbeauftragten wurde geschaffen. Er hat eine klitzekleine Abteilung, aber das Wichtigste, die Mittel, die für den Tourismus vorhanden sind, sind gerade einmal zu einem guten
Drittel beim Wirtschaftsministerium veranschlagt; der
Rest ist bei anderen Ministerien. Damit kann man keine
Tourismuspolitik machen. Deshalb brauchen wir eine
Strukturreform in der Regierung. Notwendig ist eine
Konzentration der Mittel und der Aufgaben im Wirtschaftsministerium. Dann können wir eine schlagkräftige Tourismuspolitik machen.
({1})
Das Zweite. Der Tourismusbeauftragte hat uns gerade
gesagt, er habe die Vertreter der Messewirtschaft eingeladen. Es ist ja schön, wenn die eingeladen werden. Ich
vermisse aber jegliche Aussage dazu, was eigentlich dabei herausgekommen ist, ob die Bundesregierung auch
nur irgendeine Konsequenz aus diesem Gespräch gezogen hat. Es gab dann eine Einladung an die Reisebusveranstalter, um mit ihnen Maßnahmen aufgrund der gestiegenen Energiekosten zu diskutieren. Es wurde diskutiert;
das Ergebnis war null, wirklich null. So kann man nicht
Politik machen. Wenn ich sie einlade, muss ich nachher
auch sagen, welche Konsequenzen ich daraus ziehe.
({2})
Das ist überhaupt nicht erfolgt.
({3})
Bei den großen Fragen, die die Tourismuswirtschaft
beschäftigen, ist leider völlige Fehlanzeige. Lieber Ernst
Hinsken, wir hören bei jeder Veranstaltung, bei der der
Tourismusbeauftragte auftritt, die Forderung nach Einführung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes für die
Hotellerie. Mich wundert es dann schon,
({4})
warum die CSU, die bayerische Landesregierung, als die
baden-württembergische Landesregierung den Antrag
im Bundesrat eingebracht hatte, dies umzusetzen, im
Wirtschaftsausschuss dagegengestimmt hat. Das muss
uns einmal jemand erklären. Ich kann das doch nicht bei
allen Veranstaltungen fordern, und die eigene Partei und
die eigene Regierung lassen mich dann im Regen stehen.
({5})
Dass Bayern nachher im Bundesrat doch dafür gestimmt
hat, lag an entsprechendem Druck. Aber wer weiß denn
von uns, was nach dem nächsten Sonntag passiert? Ich
habe diese Frage heute Morgen dem Vorsitzenden des
Finanzausschusses gestellt. Er hat sich gewunden und
überhaupt nichts gesagt. Deshalb müssen die Menschen
draußen wissen: Mit der Union wird das nicht passieren;
es wird nur passieren, wenn die FDP stark wird und weiter Druck machen kann.
({6})
Die CSU hat es geschafft, dieses Thema bei den Skiliften plötzlich durchzubringen. Andere haben dabei mitgemacht, weil sie gesagt haben, das sei ja nicht unvernünftig. Dass aber an dieser Stelle geblockt wird,
müssen die Leute draußen wissen. Das sollte man den
Menschen draußen deutlich sagen.
Ähnliches haben wir bei Themen wie Jugendarbeitsschutzgesetz und Feinstaubdebatte. Welchen Wahnsinn
veranstalten wir im Augenblick im Hinblick auf den
Deutschlandtourismus, wenn ausländische Touristen
nicht wissen, wie sie in die Städte hineindürfen, wenn
die Busse ihre Leute am Stadtrand ausladen müssen und
sie dann in alte Kutschen vom ÖPNV umgeladen werden! Welcher Unsinn ist das! Nichts davon wurde korrigiert; alles ist wie vorher. Das ist keine Tourismuspolitik.
Darauf können wir wirklich verzichten.
({7})
Ganz entscheidend ist: Tourismuspolitik ist Mittelstandspolitik. Wir alle wissen: Die touristische Struktur
in Deutschland ist - zum Glück ist es so - weitgehend
mittelständisch geprägt. Deshalb wäre eine aktive Tourismuspolitik vor allem, Rahmenbedingungen für den
Mittelstand zu setzen. Exakt das Gegenteil wurde gemacht: Die größten Steuererhöhungen in der Geschichte
der Bundesrepublik haben den Mittelstand besonders
stark getroffen. Darunter leidet der Mittelstand.
Darunter leiden aber auch alle Menschen. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Familien mit zwei Kindern,
die Urlaub gemacht haben, um fast 10 Prozent zurückgegangen. Das ist das deutlichste Zeichen für die verfehlte
Politik. Angesichts dessen darf man hier doch nicht alle
möglichen hehren Ziele formulieren. Ich muss den Menschen das Geld in der Tasche lassen, damit sie reisen
können. Das ist das oberste Gebot.
({8})
Ich muss den Mittelstand unterstützen, damit er wirklich
tätig werden kann, und darf ihn nicht durch Steuererhöhungen, durch die Androhung einer mittelstandsfeindlichen Erbschaftsteuerreform und anderes strangulieren.
Meine Damen und Herren, Tourismuspolitik bedeutet
die Setzung richtiger Rahmenbedingungen. Da hilft kein
Bericht, da helfen keine Leitlinien, sondern da hilft politische Aktivität. Diese vermissen wir, und wir werden
sie an jeder Stelle weiter anmahnen und, wenn wir in
Verantwortung sind, auch entfalten.
({9})
Dort, wo wir es in den Ländern tun können, machen wir
es. Keine Angst, auch im Bund werden wir es bald wieder tun.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Gabriele Hiller-Ohm hat jetzt das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Burgbacher! Ich bedanke mich für meine
Fraktion bei den Autoren des Tourismuspolitischen Berichts, natürlich ganz besonders bei unserem Tourismusbeauftragten Ernst Hinsken.
({0})
Der Tourismus in Deutschland boomt. Mit rund
360 Millionen Übernachtungen haben wir eine Zahl erreicht, von der wir lange nicht zu träumen wagten. Das
waren nämlich noch einmal 8 Millionen mehr als im
Fußball-WM-Rekordjahr 2006. Rund 2,8 Millionen Arbeitsplätze hängen direkt und indirekt vom Tourismus
ab. Fast 120 000 junge Menschen finden hier einen Ausbildungsplatz.
Schon diese Zahlen machen deutlich, wie wichtig der
Tourismus für unser Land ist. Es ist deshalb mehr als ärgerlich, dass der Tourismus in der Haushaltsdebatte der
letzten Woche vom zuständigen Wirtschaftsminister
Michael Glos mit keinem einzigen Wort erwähnt wurde.
Auch heute ist er wieder nicht da. Es ist zwar ziemlich
spät geworden, aber ich hätte mich trotzdem sehr über
seine Anwesenheit gefreut.
({1})
Vollkommen unverständlich ist darüber hinaus, dass
sein Kollege Laurenz Meyer in der Haushaltsdebatte einen Gegensatz zwischen Industrie- und Dienstleistungssektor konstruiert hat, der einfach nicht haltbar ist.
({2})
Industrie ist wichtig, aber das Dienstleistungsgewerbe ist
es natürlich auch. Meine Heimatstadt ist ein gutes Beispiel: Lübeck war ein bedeutender Werftenstandort, an
dem viele Tausend Arbeitsplätze hingen. Die sind alle
weggebrochen. Wäre da nicht der Tourismus, der Gott
sei Dank seit Jahren boomt,
({3})
so sähe es düster aus. So wie in Lübeck wird es in vielen
Teilen Deutschlands sein. Deshalb ist es so wichtig,
nicht nur auf die Industrie zu setzen, sondern auch den
Tourismus zu stärken und für eine gute Infrastruktur zu
sorgen.
({4})
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lutz Heilmann von der Linken zulassen?
Nein, auf keinen Fall.
({0})
Meine Damen und Herren, intakte Naturlandschaften,
hohe Qualitätsstandards, vernünftige Arbeitsbedingungen und gute Löhne gehören zu einer guten touristischen
Infrastruktur. Um auf der Erfolgsspur zu bleiben, muss
im Tourismus noch besser aus- und weitergebildet werden. Gute Serviceleistung hat ihren Preis. Deshalb muss
Schluss sein mit Hungerlöhnen, von denen die Menschen nicht leben können.
({1})
Wir kämpfen gerade auch im Hotel- und Gaststättengewerbe für einen gesetzlichen Mindestlohn.
({2})
Es ist auch richtig, dass wir endlich tourismuspolitische
Leitlinien formulieren müssen, an denen wir unsere Politik ausrichten können.
Außerhalb von Großstädten leben zwei Drittel der gesamten Bevölkerung. Deshalb ist der Tourismus besonders in den ländlichen Regionen so wichtig. Er bietet
hier Beschäftigungs- und Wachstumschancen.
({3})
Es gibt im Landtourismus inzwischen rund 25 000 Anbieter, etwa 1,6 Millionen Urlaubsaufenthalte und einen
geschätzten Umsatz von fast 950 Millionen Euro. Zur
weiteren Stärkung des Landtourismus haben wir einen
umfassenden Forderungskatalog im vorliegenden Koalitionsantrag ausgearbeitet:
Erstens. Wir brauchen genaue Zahlen. Deshalb wollen wir eine Grundlagenuntersuchung mit fundierter Datenlage, damit bestehende Marktpotenziale noch besser
erschlossen werden können.
Zweitens. Für den Tourismus im ländlichen Raum
müssen genügend Finanzmittel zur Verfügung gestellt
werden. Ich freue mich, dass es gelungen ist, die Mittel
für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ auf 700 Millionen
Euro aufzustocken.
({4})
Drittens. Auch Menschen mit kleinem Geldbeutel,
Herr Burgbacher, haben ein Recht auf Urlaub.
({5})
Der Landurlaub bietet hier gute Möglichkeiten vor allem
für Familien mit Kindern.
({6})
Viertens. Überregionale Tourismusprojekte müssen
unter den Ländern besser abgestimmt werden. Das setzt
Synergieeffekte frei.
Fünftens. Wir setzen uns ebenfalls für weniger Hürden bei der EU-Förderung von grenzüberschreitenden
Tourismusvorhaben ein.
({7})
Sechstens. Klimaschutz und Tourismus dürfen keine
Gegensätze sein. Deshalb fordern wir eine gute Erreichbarkeit der ländlichen Regionen mit öffentlichen Verkehrsmitteln, insbesondere mit der Bahn.
({8})
Wir haben noch zehn weitere Forderungen in unserem
Antrag formuliert. Aus Zeitgründen kann ich diese leider
nicht mehr vorstellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Deutsche Zentrale für Tourismus will den Landurlaub im nächsten
Jahr stärker bewerben. Das begrüßen wir ausdrücklich.
Dann stehen Aktivurlaub, Radfahren und Wandern im
Mittelpunkt des nationalen Tourismusmarketings.
Frau Kollegin!
Ich freue mich ganz besonders, dass in diesen Tagen
auf unser Drängen hin vom Ministerium eine Studie zum
Wandertourismus in Auftrag gegeben worden ist.
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt dringend zum Ende
kommen.
Ich komme zum Schluss. - Diese Studie wird uns mit
Sicherheit viele weitere wertvolle Informationen zur
Stärkung des Landtourismus liefern.
Danke schön.
({0})
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Ilja Seifert für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik steht die
Gesundheit der Bevölkerung - nicht die Gesundheitswirtschaft oder die Pharmaindustrie. Im Mittelpunkt der
Sportpolitik steht der Sport, stehen also die Sportlerinnen und Sportler - nicht Adidas und Nike. Im Mittelpunkt der Verkehrspolitik steht der sichere und pünktliche Transport von Personen und Gütern - nicht die
Verkehrsunternehmen und die Autokonzerne. Im Mittelpunkt der Verteidigungspolitik steht die Sicherung des
Friedens - nicht die Rüstungsindustrie.
({0})
Das Gleiche gilt für die Tourismuspolitik, lieber Herr
Kollege Brähmig: Im Mittelpunkt müssen die Bedürfnisse der Bevölkerung nach Erholung, nach Bildung,
nach Gesundheit stehen - nicht die Tourismuswirtschaft.
({1})
- Herr Brähmig, Sie wissen doch so gut wie ich, dass es
nicht so ist. Sie kennen die entsprechenden Leitlinien so
gut wie ich und wissen, dass es da um die Tourismuswirtschaft und nicht um die Menschen geht, die sich erholen und bilden wollen.
({2})
Das ist der entscheidende Unterschied zwischen der
Tourismuspolitik der Bundesregierung und der Art und
Weise, wie die Linke das Thema angeht. Sie machen das
Mittel zum Zweck.
Die Linke tritt ganz deutlich für einen Tourismus für
alle ein. Wir wollen, dass alle Menschen reisen können,
um sich zu erholen, um sich zu bilden und um etwas für
ihre Gesundheit zu tun. Es ist nicht akzeptabel, dass zunehmend mehr Menschen in diesem reichen Land - vor
allem Familien mit Kindern, insbesondere mit kleinen
Kindern - nicht mehr reisen können, weil ihnen das Geld
dafür fehlt oder weil sie ihren Jahresurlaub nicht planen
oder nicht nehmen können.
({3})
Wir wollen, dass auch Hartz-IV-Empfängerinnen und
-Empfänger und deren Kinder einmal Urlaub machen
können.
({4})
Das gehört in den Mittelpunkt der Politik und nicht das
Bestreben, dass es der Wirtschaft besonders gut geht.
({5})
Wir sagen nicht, dass es ihr schlecht gehen soll. Sie ist
aber nicht der Zweck, sondern nur das Mittel.
Die Linke - das hat der Herr Tourismusbeauftragte
freundlicherweise mit Blick auf mich gesagt; aber es
geht nicht um mich, sondern um die Menschen, die es
betrifft, und am Ende um Bequemlichkeit für alle - tritt
für einen durchgängig barrierefreien Tourismus ein.
„Durchgängig barrierefrei“ bedeutet, die gesamte touristische Kette einzubinden: vom Internetangebot über das
Abholen zu Hause, die Fahrt zum Urlaubsort, die Unterbringung am Urlaubsort bis hin zu den Sehenswürdigkeiten am Urlaubsort und natürlich wieder retour.
Wie nötig es ist, dafür noch viel zu tun, zeigten nicht zuletzt die Konferenz der Bundesregierung am 11. September und die dort vorgestellte Studie. Lassen Sie uns - es ist
ja erfreulich, dass wir dieses Thema gemeinsam angehen
wollen - gemeinsam vorankommen. Der heute hier vorliegende Antrag der Linken ist sicher ein sehr guter Weg,
den wir gemeinsam gehen können.
({6})
Die Linke tritt auch für einen ökologisch verantwortbaren Tourismus ein. Wir wollen, dass alle Menschen
reisen und sich die Welt anschauen können, um ihre
Weltanschauung auszuprägen. Es geht uns darum, dass
nicht nur wenige Gutbetuchte reisen können.
Für uns ist es wichtig, dass Umwelt und Tourismus
nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dies sage ich in
dem Wissen, dass der Tourismus einer der Verursacher
für Umweltschäden ist. Wir müssen hierfür einen entsprechenden Ausgleich schaffen.
Die Linke tritt ebenfalls verstärkt für die Entwicklung
des Tourismus auf dem Lande ein. Ich freue mich, dass,
nachdem die Linke bereits am 17. Dezember des vergangenen Jahres einen entsprechenden Antrag vorgelegt hat,
nun auch die Koalition nachzieht
({7})
und der Tourismusausschuss sogar meinem Vorschlag
folgt, am 21. Januar nächsten Jahres eine entsprechende
Anhörung auf der Grünen Woche durchzuführen.
({8})
- Das ist doch gut; denn dies zeigt, dass man auch zusammenarbeiten kann und nicht immer nur aufeinander
eindrischt. Ich will euch gerne loben, wo ihr zu loben
seid. Aber ihr müsst auch einsehen, dass man nicht alles
loben kann.
Die Linke - das will ich ausdrücklich sagen - tritt
auch ein für eine sich gut entwickelnde Tourismuswirtschaft, insbesondere im kleinen und mittelständischen
Bereich, für gute Arbeitsplätze, gute Ausbildungsplätze
und für gute Löhne für gute Arbeit und will Niedriglöhne und prekäre Beschäftigungsverhältnisse verhindern.
({9})
Lassen Sie mich zum Abschluss einen letzten Punkt
erwähnen, der mir sehr am Herzen liegt. Es geht um die
Schulfahrten. Wir brauchen keinen Bildungsgipfel, auf
dem uns die Kanzlerin erzählt, dass Bildung für alle
wichtig sei; vielmehr brauchen wir eine verbindliche Regelung dafür, dass jede Schulklasse mindestens einmal
im Jahr eine Klassenfahrt machen kann, und zwar als
Bestandteil des staatlichen Bildungsauftrags, sodass die
Lehrerinnen und Lehrer entsprechend abgesichert sind.
An dieser Stelle sollte der Bund nicht länger wegschauen.
({10})
Hierfür brauchen wir Lösungen. Es wäre sehr schön,
wenn die Kanzlerin dazu auf dem Bildungsgipfel klare
Worte sagen würde und die Regierung dazu entsprechende Maßnahmen einleiten würde.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und bis
bald.
({11})
- Dass das auch eine touristische Komponente hat, will
ich gar nicht bestreiten. Das sehen wir sogar sehr positiv.
Ich hatte den Eindruck, Herr Kollege, Sie waren mit
Ihrer Rede fertig.
({0})
Das war nur noch die Antwort auf einen Zuruf, Herr
Präsident.
Bevor ich als nächster Rednerin der Kollegin Bettina
Herlitzius, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort
erteile, möchte ich sagen: Herr Seifert, Ihr Vorschlag zur
Grünen Woche hat mir außerordentlich gut gefallen. Ich
habe spontan überlegt, ob nicht die Verlagerung von
Plenardebatten zur Grünen Woche die Gemütlichkeit
dieser Veranstaltung erheblich fördern könnte. Aber das
greifen wir bei passender Gelegenheit im Ältestenrat
auf.
Bitte schön, Frau Herlitzius.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich, dass Sie noch so zahlreich hier sind, zeigt
dies doch, wie wichtig der Tourismus für unser Land und
für unsere Wirtschaft ist, vor allen Dingen, wenn man
den Worten unseres Tourismusbeauftragten Hinsken
folgt.
In den letzten Tagen war der Presse zu entnehmen,
dass der Deutschlandtourismus boomt. Er wächst auf
Weltniveau. Der Zuwachs beträgt 5,1 Prozent. Der
Markt wächst weiter. Aber ich möchte an dieser Stelle
betonen: Wachstum kann stattfinden, ohne dass der
Wohlstand steigt. Das heißt, wir müssen dringend darauf
achten, in welche Richtung der Tourismus wächst.
({0})
Das scheint bei einigen Kolleginnen und Kollegen
hier im Raum immer noch nicht angekommen zu sein.
Die FDP fordert wie immer in ihrem Entschließungsantrag die Schaffung weiterer wirtschaftsliberaler Rahmenbedingungen. Lieber Kollege Burgbacher, wir haben
doch schon heute äußerst kritische Arbeitsverhältnisse in
der Branche. Wenn der Tourismus zum Wirtschaftsfaktor
einer Region werden soll, dann kann das nur funktionieren, wenn die Menschen in dieser Region auch von diesen Arbeitsplätzen leben können. Ein Kellner verdient
heute - das ist Tariflohn - 7,50 Euro. Es ist schon sehr
schwierig, damit eine Familie zu ernähren. Dabei werden noch nicht einmal überall 7,50 Euro gezahlt. Das
heißt, hier müssen wir nachsteuern; hier ist noch einiges
offen.
({1})
Zum Beispiel kann man auch - das sage ich jetzt als
Grüne und ein Stück weit mit Stolz - mit Naturschutz
Geld verdienen. Die fast 800 000 Menschen, die jährlich
den Bayerischen Nationalpark besuchen, finanzieren
939 Vollzeitstellen.
({2})
- Das ist heute mal ein gutes Beispiel aus Bayern.
({3})
Steigende Preise und hohe Energiekosten verändern
die Anforderungen der Urlauber an die Urlaubsorte.
Deutschland wird wieder als Reiseland interessant. Aber
auch die touristische Zielgruppe verändert sich. Unsere
Gesellschaft wird älter. Bis 2040 werden 40 Prozent der
Reisenden über 60 Jahre alt sein. Das heißt, der Markt
verändert sich. Die meisten Veranstalter haben sich noch
nicht darauf eingestellt. Wir müssen hier mit all unseren
Kräften politisch nachsteuern. Wir müssen dafür sorgen,
dass der Tourismus in Deutschland nachhaltig und auch
barrierefrei gestaltet wird. Davon profitieren alle Gruppen in dieser Gesellschaft.
({4})
Kommen wir zu meinem Lieblingsthema, dem öffentlichen Nahverkehr. Aktuell kann man auf der Homepage
der DB lesen, dass sie überlegt, wieder touristische Ziele
in ihr Programm aufzunehmen. Guten Morgen, Herr
Mehdorn! Ähnlich ist es beim Bedienzuschlag. Auch
dieses Thema wurde auf relativ unglückliche Weise in
die Presse gebracht. Dies ist jedoch absolut kontraproduktiv, wenn es darum geht, Touristen an den öffentlichen Nahverkehr zu gewöhnen. Darüber muss man
heute reden; dies ist ja nicht mehr selbstverständlich.
({5})
Die Regierungskoalition hat uns einen „großen“ Antrag zu den Chancen des demografischen Wandels vorgelegt. Aber in ihm wird dieses Thema kaum behandelt.
Genau das sind jedoch die Fragen, um die wir uns kümmern müssen und über die wir uns politisch unterhalten
müssen. Wir haben dazu einen eigenen Antrag eingebracht; auch die Linke hat dieses Thema bearbeitet. Das
zeigt, wie wichtig dieses Thema ist und wie wenig bisher
passiert ist.
Die Anforderungen an die Barrierefreiheit bzw. - so
muss man vorsichtig sagen - Barrierearmut sind nicht
nur bei Mobilitäts- und Unterkunftsfragen wichtig.
Diese Anforderungen gelten vielmehr für alle Dienstleistungen des Tourismusbereiches. Dazu gehören: unkomplizierter Gepäcktransport sowie lesbare, leicht verständliche und auch hörbare Reiseinformationen, was
heute auf den Bahnsteigen nicht selbstverständlich ist.
Es muss eine komplette Reisekette von Tür zu Tür geben, die für jeden nutzbar ist.
Barrierefreiheit und Servicebereitschaft sind zukunftsfähige Qualitäts- und Komfortmerkmale. Deutschland könnte hier - wie auch in einigen anderen
Bereichen - Vorbild sein. Das wäre ein entscheidender
Wirtschaftsfaktor. Hier ist noch viel zu tun. Über eines
müssen wir uns im Klaren sein: Der demografische
Wandel der Gesellschaft ist kein deutsches, sondern ein
europäisches Problem.
Wir nehmen den Tourismuspolitischen Bericht der
Bundesregierung zur Kenntnis, aber wir legen ihn nicht
zu den Akten. Er ist ein guter Bauplan, weil er alle im
Zusammenhang mit dem Tourismus wichtigen Themen
enthält. Wir werden hier aber noch ganz stark politisch
nacharbeiten müssen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brunhilde Irber,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute stimmen wir über die beiden Koalitionsanträge „Messen und Geschäftsreisen als Chance
für den Tourismusstandort Deutschland“ und „Chancen
des demographischen Wandels im Tourismus nutzen“
ab. Ich möchte dazu Stellung nehmen.
Ich kann die Bedeutung von Messen und Geschäftsreisen gar nicht oft genug betonen. 2006 wurden in
Deutschland fast 160 Millionen Geschäftsreisen unternommen und dabei annähernd 50 Milliarden Euro umgesetzt. Geschäftsreisende geben mit 148 Euro pro Tag
doppelt so viel Geld aus wie reine Urlaubsgäste.
({0})
Als Messestandort macht Deutschland international
eine glänzende Figur. In Europa sind wir die Nummer
eins für Messen und Tagungen und weltweit hinter den
USA die Nummer zwei. Deshalb würde gerade Geschäftsreisenden die Umsetzung des Single European
Sky zur effizienten Abwicklung des europäischen Luftverkehrs besonders zugutekommen.
({1})
Um Geschäftsreisen weiter anzukurbeln, fordern wir
auch die stärkere Ausrichtung auf die Auslandswerbung
der Deutschen Zentrale für Tourismus.
Bei Geschäftsreisen geht es um den Wachstumsmotor
unserer Tourismuswirtschaft. Bei allem Verständnis für
notwendige Sicherheitsbelange können wir uns langwierige und bürokratische Visaverfahren bei der Einreise für
Messe- und Kongressbesucher nicht leisten.
({2})
Das schadet uns, und deshalb brauchen wir eine effizientere Bearbeitung der Antragsverfahren.
Deutschlandweit ist heute jeder dritte Hotelgast Tagungs- oder Kongressteilnehmer. Um in diesem Markt
professionelle Dienstleistungen zu erbringen, brauchen
wir gut ausgebildete und qualifizierte Mitarbeiter. Deshalb appellieren wir an die Länder, in die Ausbildungspläne von Berufs-, Fach- und Hochschulen für Touristiker den Schwerpunkt „Geschäftsreisemanagement“
aufzunehmen und die Förderung von Fremdsprachenkenntnissen sowie von interkulturellem Verständnis voranzutreiben.
Für Unternehmen sind Geschäftsreisen aber nicht nur
eine wirtschaftliche Notwendigkeit, sondern auch ein
Kostenfaktor. Laut VDR halten viele Unternehmen daher vermehrt Video- und Telefonkonferenzen ab. Insbesondere durch ein verbessertes Reisemanagement und
den Abbau bürokratischer Hemmnisse im Bereich Statistik-, Nachweis-, Dokumentations- und Buchführungspflichten könnten die Kosten für Geschäftsreisen - gerade angesichts steigender Energie- und Reisekosten erheblich vermindert werden.
({3})
Besonders für kleine und mittlere Unternehmen, deren durchschnittliche Ausgaben pro Geschäftsreise um
über 20 Prozent gestiegen sind, wären Verbesserungen
im Reisemanagement eine wichtige Hilfe. Die Schaffung
effektiver Rahmenbedingungen für Geschäftsreisen ist
echte Mittelstandsförderung.
Dieser Antrag ist ein Schritt in die richtige Richtung,
auch wenn einige meiner Vorschläge nicht realisierbar
waren. Weiter gehenden Handlungsbedarf sehe ich unter
anderem im zu komplizierten Steuersystem für Geschäftsreisen und in den exzessiven Aufbewahrungsfristen für Reisekostenabrechnungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu einer effektiven
Infrastruktur für Geschäftsreisen gehören auch mehrsprachige Hinweistafeln an den großen Messestandorten. Wir fordern auch, beim Bau der Verkehrswege auf
vernünftige Umsteigezeiten zu achten. Insbesondere
wollen wir von der Deutschen Bahn AG und anderen
Verkehrsanbietern einen barrierefreien Zugang zu den
Bahnhöfen und Verkehrsmitteln, und das nicht nur für
mobilitätseingeschränkte und ältere Menschen, sondern
für alle, denen Barrierefreiheit einen besonderen Gewinn
bringt. Es ist ein Zugewinn an Komfort für alle.
({4})
Weil wir wissen, dass die Barrierefreiheit ein touristisches Qualitätsmerkmal ist, arbeiten wir mit unserem
Koalitionspartner an einem eigenen Antrag, den wir in
Kürze vorlegen werden. Deshalb sind die Anträge der
Linken und der Grünen obsolet.
({5})
Der Reisemarkt für Ältere ist das Zukunftssegment
der Tourismusbranche schlechthin; das hat auch der
TAB-Bericht „Zukunftstrends im Tourismus“ gezeigt.
Die Alterung unserer Gesellschaft mit einem Seniorenanteil von heute 25 Prozent und im Jahre 2050 sogar
37 Prozent bietet der Tourismuswirtschaft die Möglichkeit, das Potenzial des Seniorentourismus auszuschöpfen. Denn Seniorinnen und Senioren sind eine finanzstarke und aktive Zielgruppe, und bis 2035 werden sie
mindestens 6 Prozent mehr für Reisen ausgeben.
Deshalb schlage ich vor, dass wir die Forderungen
unseres Antrages „Chancen des demographischen Wandels im Tourismus nutzen“ umsetzen und dass die Bundesregierung das Ihre dazu tut. Ich bitte Sie deshalb, unserem Antrag zuzustimmen.
({6})
Das war ein vorzüglicher Schlusssatz, Frau Kollegin
Irber.
({0})
Ich weiß, Herr Präsident. Einen Satz hätte ich aber
gerne noch gesagt, wenn ich darf.
Der wird aber nicht besser; ich sage es Ihnen vorher.
({0})
Ich glaube, schon. - Wir warten auf die tourismuspolitischen Leitlinien. Herr Tourismusbeauftragter, ich
möchte Ihnen ein Satz mitgeben: Verantwortlich ist man
nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was
man nicht tut. Deshalb bitte ich, die Leitlinien auch entsprechend auszustatten.
Danke schön.
({0})
Ich fürchte, ich habe mit meiner Prognose recht behalten.
({0})
Nun hat die Kollegin Uda Heller das Wort.
({1})
Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr
Tourismusbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Stunden wurde in der Landesvertretung
von Sachsen-Anhalt die Luther-Dekade vorgestellt. Das
Interesse von Presse und Gästen war groß. Mein Heimatland Sachsen-Anhalt ist ein geschichtsträchtiges Land,
welches deutsche und europäische Geschichte vereint.
Allein vier UNESCO-Weltkulturerbestätten, die Straße
der Romanik, Leben und Wirken von Kaiser Otto I. und
die Himmelsscheibe von Nebra zeugen von Fülle und
Vielfalt der Kulturhistorie. Die Wiege und das Sterbebett
von Martin Luther befinden sich in meinem Wahlkreis,
in der Lutherstadt Eisleben. Mit dem Reformationsjubiläum rücken nun aber auch die zahlreichen Wirkungsstätten Luthers in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen in den Fokus der Öffentlichkeit. Wir müssen es
schaffen, sie zu vernetzen und gemeinsam zu vermarkten.
Am vergangenen Sonntag hatte ich die Ehre, an der
feierlichen Eröffnung der Luther-Dekade in Wittenberg
teilzunehmen. In einem deutsch-englischen Festgottesdienst und bei einer Festveranstaltung erinnerten Vertreter von Kirche, Politik und Kultur an die Verdienste des
Reformators.
Große Ereignisse müssen einen Anfang nehmen, um
ihren programmierten Erfolg erreichen zu können. Die
langfristige Vorbereitung des Jubiläums bietet Gelegenheit, sich mit Martin Luther tatsächlich und neu auseinanderzusetzen. Über einen Zeitraum von fast zehn Jahren hinweg werden wir uns auf vielfältige Art und Weise
mit seinem Leben und Wirken beschäftigen. Der Höheund Endpunkt der Luther-Dekade wird am 31. Oktober
2017 mit dem 500. Jahrestag des Anschlages jener
95 Leitsätze gegen den Ablass erreicht sein.
Wir sind eingeladen zum Mitreden, Mitwirken und
Mitgestalten. Kirche, Wissenschaft, Musik, Literatur
und Kunst nähern sich diesem außergewöhnlichen Datum mit Tagungen, Podiumsdiskussionen, Lesungen,
Konzerten und Ausstellungen. Der Luther-Weg lässt uns
auf den historischen Spuren Luthers wandeln und bringt
uns gleichzeitig die Schönheiten des Landes näher. Eine
offizielle Jubiläums-Website gibt einen aktuellen Überblick über diverse Aktivitäten.
Wir alle können stolz darauf sein, eine derart faszinierende Persönlichkeit wie Martin Luther ehren zu können. Seine Botschaften haben die Welt verändert.
Deshalb lautet der Titel unseres Antrages „Reformationsjubiläum 2017 als welthistorisches Ereignis würdigen“. Wir wollen sowohl das kirchliche als auch das
staatliche Interesse an diesem Jubiläum in Einklang bringen. Hierzu bedarf es einer Gemeinschaftlichkeit bei den
Vorbereitungen.
Als Tourismuspolitiker erkennen wir natürlich das
große Potenzial religiös motivierter Besucher, für die es
ein großes persönliches Bedürfnis ist, während der Dekade zu den Wirkungsstätten Martin Luthers in Mitteldeutschland zu reisen.
({0})
Hält man sich vor Augen, dass es weltweit 400 Millionen Protestanten gibt, wird einem diese Dimension deutlich. Insbesondere mit vielen Gästen aus den USA ist zu
rechnen. Das ist also eine einmalige Chance für den Tourismus, die es zu nutzen gilt.
Es stellt eine weitere Herausforderung dar, all diese
Aktivitäten zu koordinieren und zu vermarkten, und das
über fast zehn Jahre hinweg. Ich denke, diese VorbereiUda Carmen Freia Heller
tungszeit ist einmalig. So viel Zeit hatten wir noch nie
zur Vorbereitung eines Jubiläums. Unterstützt werden all
diese Initiativen durch einheitliches Marketing und
durch eine von allen Akteuren gemeinsam entwickelte
Wort-Bild-Marke. Ein solches Ereignis hat es, wie ich
schon sagte, in Deutschland in dieser Form noch nicht
gegeben. Deswegen rufe ich alle Parteien auf, mit dafür
zu sorgen, dass das ein Erfolg wird.
({1})
Allein Sachsen-Anhalt investiert in die Luther-Dekade und das eigentliche Reformationsjubiläum einen
zweistelligen Millionenbetrag, welcher in Denkmalschutzmaßnahmen, Infrastrukturprojekte, Marketingaktivitäten und die Koordinierungstätigkeit des eigens
dafür gegründeten Lenkungsausschusses fließt. Diese
außerordentlichen finanziellen Belastungen können weder Sachsen-Anhalt noch Thüringen noch Sachsen ohne
die Unterstützung durch die Bundesregierung schultern.
Vor diesem Hintergrund haben die Koalitionsfraktionen den vorliegenden gemeinsamen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht, in welchem die Bundesregierung aufgefordert wird, zur Würdigung dieses
Jubiläums und zum Nutzen der damit verbundenen
Chancen beizutragen. Die Bundesregierung soll vor allem im Rahmen bestehender Programme in involvierten
Bundesländern und Kommunen diese bei Investitionen
und Infrastrukturverbesserungen unterstützen. Dazu
möchte auch ich noch einmal aufrufen.
Ich sehe, dass der Herr Präsident mich mahnt. Deshalb will ich zum Ende meiner Rede kommen.
Schließen möchte ich mit einem verblüffend zeitgemäßen Zitat von Martin Luther, welches der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Professor Böhmer, auf
der Festveranstaltung vorgetragen hat:
Dem Volk aufs Maul schauen, ihm aber nicht nach
dem Mund reden. Nahe bei den Menschen sein, ihre
Sprache sprechen und ihre Denkweise verstehen.
Volkstümlich zu sein, ohne jemals opportunistisch
zu werden. Tun, was man sagt, und sagen, was man
tut.
Diese Grundsätze Martin Luthers sollten für uns alle
gelten.
Vielen Dank.
({2})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Engelbert Wistuba, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Die am vergangenen Sonntag in Wittenberg eingeläutete
Lutherdekade und das Reformationsjubiläum im Jahr
2017 sind aus touristischer Sicht ein Glücksfall für
Deutschland. Wir haben dabei nicht nur das von der
Deutschen Zentrale für Tourismus identifizierte touristische Potenzial der weltweit 400 Millionen Protestanten
im Blick, von denen mehr als 70 Millionen Lutheraner
sind. Das Reformationsjubiläum ist aufgrund seiner religiösen, aber eben auch kulturhistorischen Bedeutung
von hohem internationalen Interesse.
Zehn Jahre lang wird es in Deutschland zahllose Veranstaltungen geben: wissenschaftliche, kirchliche und
kulturelle. Im Fokus stehen die Lutherstädte Wittenberg
und Eisleben mit den Luther-Gedenkstätten und sicherlich auch die Wartburg in Thüringen. Das alles sind im
Übrigen UNESCO-Weltkulturerbestätten. Aber auch alle
anderen Städte mit Lutherbezug wie Augsburg, Coburg,
Marburg, Nürnberg, Worms, Erfurt, Torgau und nicht
zuletzt auch Zerbst - um nur einige zu nennen - werden
spürbar touristischen Zulauf erhalten.
Damit kann Deutschland als Kulturdestination seine
gute Positionierung auf dem touristischen Markt ausbauen und verbessern. Diese Chance, die man durchaus
mit den Hoffnungen und Wünschen im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft vergleichen kann, darf nicht vertan
werden. Das heißt, wir müssen auch etwas dafür tun, damit es einmal mehr heißen kann: Die Welt zu Gast bei
Freunden - diesmal allerdings für einen Zeitraum von
zehn Jahren.
({0})
Mit der DZT haben wir einen starken Partner. Das internationale Marketing läuft bereits auf Hochtouren. Die
Goethe-Institute vermitteln ein umfassendes Deutschlandbild durch Informationen über das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben. Die Reformation als
prägendes kulturhistorisches Ereignis ist deshalb ideal
geeignet, um in den deutschen Kulturinstituten mit Ausstellungen, sonstigen Veranstaltungen und mit der einen
oder anderen informativen Broschüre auf die LutherDekade und das Reformationsjubiläum aufmerksam zu
machen. Ich bin überzeugt, dass unser Außenminister
das genauso sieht.
Unsere Forderung, die Aus- und Weiterbildung im
Tourismus verstärkt voranzutreiben, ist nicht neu; das
stimmt. Aber gerade am Beispiel solcher Großereignisse
mit ganz besonderen Anforderungen an Servicequalität,
Fremdsprachenkenntnisse und eben auch Geschichtskenntnisse
({1})
sieht man, dass es nur heißen kann: Nicht kleckern, sondern klotzen. Denn die Investition in Köpfe zahlt sich
schließlich wirtschaftlich aus. Wenn das Büro für Technikfolgenabschätzung den Tourismus als Leitökonomie
im 21. Jahrhundert bezeichnet, dann sollte es diesbezüglich keine kontroversen Diskussionen geben.
Bei der Vorbereitung solcher Großereignisse spielt
ohne Zweifel die Barrierefreiheit eine große Rolle. Wir
haben in Deutschland sicherlich schon vieles umgesetzt,
aber das Thema bleibt eine Dauerbaustelle. Die Entwicklung und Umsetzung von barrierefreien touristischen Angeboten sind auch im Hinblick auf den demografischen Wandel ein Gebot der Stunde. Ich meine, wir
sollten unsere Bemühungen in dieser Hinsicht erheblich
verstärken.
({2})
Es gibt kein Großereignis ohne infrastrukturelle Erfordernisse. Mir ist klar, dass zum Beispiel verkehrstechnische Verbesserungen auf der einen Seite und die bauliche Sanierung zentraler Stätten, Gedenkorte und Kirchen
der Reformation auf der anderen Seite richtig viel Geld
kosten.
Trotzdem sage ich: Wir müssen alles dafür tun, unsere
kulturellen Leuchttürme zu erhalten und die Substanz zu
verbessern. Im Rahmen der Kultur- und Denkmalförderung, etwa der Kulturstiftung des Bundes und der Städtebauförderung, wird schon einiges geleistet. Es wird in
diesem Zusammenhang gern vom „Fass ohne Boden“
gesprochen, vielleicht um allzu große Begehrlichkeiten
im Keim zu ersticken. Unsere Kulturgüter sind Teil unserer Identität; deshalb sollten wir die Anstrengungen
noch einmal forcieren und bereits bestehende Programme ausbauen.
Vor zehn Jahren wurde erstmals das Amt des Kulturstaatsministers besetzt. Kanzler Schröder berief seinerzeit Michael Naumann für diese wichtige Aufgabe. Seither hat sich in der deutschen Kulturpolitik vieles positiv
entwickelt. Ich gehe davon aus, dass Staatsminister
Neumann mit uns an einem Strang zieht.
Die aktuelle Woche des bürgerschaftlichen Engagements nehme ich zum Anlass, all den ehrenamtlichen
Helfern zu danken, die ihre Freizeit und mitunter auch
ihre finanziellen Ressourcen einsetzen, um unsere Kulturdenkmäler offenzuhalten und zu pflegen. Lassen Sie
uns die Chancen nutzen, die sich in den kommenden
zehn Jahren bieten. Lassen Sie uns getreu dem LutherSpruch „Wer eine Stunde versäumt, der versäumt auch
wohl einen Tag“ alle gemeinsam an die Arbeit gehen.
Ich bin sicher: Es lohnt sich.
Ich habe mich beeilt. Ich hatte nur vier Minuten.
Danke für das Verständnis.
({3})
Zu den vier Minuten, die Sie hatten, hat Ihnen der
wieder einmal sehr großzügige Präsident weitere
45 Sekunden als Zugabe gewährt.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des
Ausschusses für Tourismus zum Tourismuspolitischen
Bericht der Bundesregierung und zum Entschließungsantrag der Fraktion der FDP zu dem genannten Bericht.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10187, in Kenntnis des Tourismuspolitischen Berichts auf Drucksache 16/8000 den
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8194 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/10380 zum Tourismuspolitischen Bericht der
Bundesregierung. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 11 b. Hier geht es um die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus zum
Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Messen und Geschäftsreisen als Chance für den
Tourismusstandort Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9255, den Antrag der Fraktionen CDU/CSU
und SPD auf Drucksache 16/5958 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Stimmt jemand dagegen? - Enthält sich jemand der Stimme? Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
Koalition mehrheitlich angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11 c. Hier
geht es um eine weitere Beschlussempfehlung des Ausschusses, und zwar auf Drucksache 16/10073. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen
CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/8777 mit dem
Titel „Chancen des demographischen Wandels im Tourismus nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit
angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/9315 mit dem Titel „Barrierefreiheit
und demografischer Wandel - Auf die Herausforderungen für den Tourismus reagieren“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Bei den Tagesordnungspunkten 11 d bis 11 f wird interfraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 16/9830, 16/10320 und 16/10317 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu Einvernehmen? - Das immerhin ist der
Fall. Dann können wir diesen Tagesordnungspunkt in
großem Einvernehmen durch einen gemeinsamen Beschluss zum Abschluss bringen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 a auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Volker Beck ({0}), Monika Lazar,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - Bestechung und Bestechlichkeit von Abgeordneten - ({1})
- Drucksache 16/6726 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Hans-Christian Ströbele für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu
später Stunde geht es um uns, die Bundestagsabgeordneten, zumindest unter anderem. Es geht darum, dieses
Parlament von einem Makel zu befreien.
({0})
Seit dem Jahre 1999 sind wir durch das Korruptionsabkommen des Europarates und seit dem Jahre 2003 durch
das UNO-Übereinkommen gegen Korruption aufgefordert, im Gesetz endlich eine umfassende Regelung zur
Strafbarkeit der Korruption und Bestechung von Abgeordneten zu treffen. Dieser Aufforderung sind wir nicht
nachgekommen, obwohl die Bundesregierung beide Abkommen mit formuliert, unterstützt und unterschrieben
hat.
({1})
Der Bundesgerichtshof, ein hohes deutsches Gericht,
({2})
hat den Gesetzgeber, den Deutschen Bundestag, im
Mai 2006 aufgefordert, hinsichtlich der Strafbarkeit eine
Lücke zu schließen.
({3})
Auch dieser Aufforderung sind wir nicht nachgekommen. Nach derzeitiger Gesetzeslage ist in Deutschland
zwar die Bestechung ausländischer Abgeordneter strafbar, nicht aber die Bestechung deutscher Abgeordneter,
es sei denn, es geht um Stimmenkauf. Das ist ein Makel.
Das ist sogar ein ganz gravierender Makel, da wir von
Ländern auf der ganzen Welt, vor allen Dingen von Ländern des Südens, verlangen, Good Governance zu praktizieren,
({4})
etwas gegen Korruption zu tun und an der Spitze von
Staat und Gesellschaft verlässliche und klare Regelungen zur Strafbarkeit von Korruption einzuführen, das
selbst aber nicht tun, sondern meinen, das nicht nötig zu
haben.
({5})
Das können wir nicht länger hinnehmen.
Wie ich weiß, haben sich viele von Ihnen schon über
dieses Thema unterhalten. Offensichtlich hat die Koalition es bisher aber nicht geschafft, auch nicht mithilfe
der Bundesregierung und nicht durch Beratung des Bundesjustizministeriums, einen entsprechenden Gesetzentwurf zu erarbeiten. Deshalb legt heute die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen einen solchen Gesetzentwurf
vor. Dieser Gesetzentwurf ist maßvoll und gut durchdacht.
({6})
In ihm werden alle Bedenken berücksichtigt, die gegen
eine solche gesetzliche Regelung vorgebracht werden.
({7})
In diesem Gesetzentwurf ist geregelt, dass Abgeordnete in Deutschland oder Mitglieder anderer Volksvertretungen in Bund, Ländern und Gemeinden dann zu bestrafen sind, wenn sie einen rechtswidrigen Vorteil als
Gegenleistung dafür fordern, sich versprechen lassen
oder gar annehmen, dass sie in Ausübung ihres Mandats
in der Volksvertretung oder im Gesetzgebungsorgan eine
Handlung zur Vertretung oder Durchsetzung der Interessen des Leistenden oder eines Dritten vornehmen.
({8})
Die Frage, was unter „rechtswidrig“ zu verstehen ist,
regeln wir in Art. 1 Abs. 3 des Gesetzentwurfes. Dort
heißt es:
Ein rechtswidriger Vorteil liegt vor, wenn seine
Verknüpfung mit der Gegenleistung als verwerflich
anzusehen ist.
({9})
Das ist eine Regelung, die dem Strafgesetzbuch nicht
fremd ist. Wir haben sie aus § 240 des Strafgesetzbuches, dem Nötigungsparagrafen, übernommen.
Mit dieser sehr engen Regelung - es gibt auch andere
Vorschläge, die viel weiter gehende Regelungen beinhalten - tragen wir allen Bedenken Rechnung. Eines der
Bedenken, dem wir Rechnung tragen, ist, dass Abgeordnete in Zukunft zum Beispiel Probleme haben könnten,
Spenden für ihre Partei zu akquirieren, da sie sich bei
diesem Versuch in den Bereich der Strafbarkeit begeben
könnten. Wir tragen auch dem Bedenken Rechnung,
dass Abgeordnete in ihrer Kariere, zum Beispiel bei ihrer Wahlaufstellung, dadurch behindert werden könnten,
dass zunächst ein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet wird, das ihren Ruf ruiniert, aber später sang- und
klanglos eingestellt wird. Das sind ja die Bedenken, die
dort immer vorgebracht werden.
Dazu kann ich nur sagen: Abgeordnete sind auch
keine besseren Menschen. Auch bei Abgeordneten kann
es immer welche geben, die sich bestechen lassen. Dass
auch Abgeordnete nebenher erhebliche Geldbeträge beziehen - manchmal ist es völlig unerklärlich, für was -,
hat es in der Vergangenheit, auch in der nahen Vergangenheit, gegeben. Deshalb sagen wir, dass wie für Amtsträger auch für Abgeordnete eine solche gesetzliche Regelung - nicht die gleiche, aber eine ähnliche - ins
Gesetzbuch aufgenommen werden muss.
Wir möchten diesem Deutschen Bundestag auf die
Sprünge helfen und haben einen Vorschlag vorgelegt,
damit hier im Plenum des Deutschen Bundestages endlich offen darüber gesprochen wird, damit die Auffassungen gegenübergestellt werden und damit wir zu einem vernünftigen Gesetz kommen.
Wir haben den Vorschlag vorgelegt, Sie brauchen nur
zuzustimmen.
({10})
Siegfried Kauder von der CDU/CSU-Fraktion ist der
nächste Redner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wenn dieser Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen
Gesetz würde,
({0})
dann hätten 612 Abgeordnete des Deutschen Bundestages die beste Chance, Versuchskaninchen in einem Ermittlungsverfahren zu werden.
({1})
Staatsanwälte und Richter würden das politische Handeln sezieren und selektieren, weil der vorgelegte
Straftatbestand mit normativen Elementen viel zu weit
und ungewiss gefasst ist.
({2})
Wir reden aber nicht nur über 612 Abgeordnete des
Deutschen Bundestages, sondern auch über Tausende
von Landtagsabgeordneten und Abgeordneten des Europäischen Parlaments und über Zigtausende ehrenamtlich
tätige Mitglieder in Gemeinderäten und Kreistagen.
({3})
Wir reden also nicht nur über uns, sondern wir haben einen Gesetzentwurf zu beraten, bei dem es auch um andere geht.
({4})
Was sind Vorteilsannahme und Bestechlichkeit? Ein
Beamter, ein Richter oder ein sonst im öffentlichen
Dienst Tätiger wird verurteilt, wenn er für eine Diensthandlung einen Vorteil annimmt. Auch wir als Abgeordnete nehmen öffentliche Ämter wahr. Ich fühle mich
aber nicht als Beamter, nicht als Richter und nicht als
sonst im öffentlichen Dienst Tätiger. Wir sind freie Abgeordnete und nicht weisungsgebunden, sondern nur unserem Gewissen verantwortlich.
({5})
Darin unterscheiden wir uns deutlich von Beamten.
Was bei einem Politiker Korruption sein soll, beschäftigt die Rechtsgelehrten schon seit vielen Jahrzehnten.
({6})
Im Jahre 1871, dem Jahr der Reichsgründung, hat man
sich mit diesem Thema befasst.
({7})
Aus gutem Grund hatte man sich auf ein Minimalprogramm beschränkt. Die Wahlfälschung und der Stimmenkauf für Wahlen zu den Volksvertretungen wurden
strafbar.
({8})
Die Diskussion unter den Rechtsgelehrten war virulent
und hielt lange Zeit an, letztendlich hatte sich aber nichts
geändert. Man lebte damit.
({9})
In der ersten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages hat man dieses Thema wieder aufgegriffen. Es
gab einen Schritt zurück; denn im Jahre 1927 hatte das
Reichsgericht den Straftatbestand ausgeweitet - abgedruckt im 62. Band auf Seite 6 ({10})
und das Gesetz dahin gehend ausgelegt, dass sich ein
Abgeordneter auch strafbar machen kann, wenn er seine
Stimme bei Abstimmungen in der Volksvertretung kaufen lässt.
Darüber debattierten die Abgeordneten im Jahre
1953. Sie werden nicht überrascht sein, dass sie zu keinem Ergebnis kamen.
({11})
Siegfried Kauder ({12})
Deshalb ergab sich daraus wiederum ein Schritt zurück:
nur noch der Stimmenkauf bei Wahlen zu Volksvertretungen war strafbar. Daran änderte sich bis zum
Jahre 1994 nichts.
Die Rechtsgelehrten machten sich aber Gedanken
darüber, wie man das Thema Korruption bei Parlamentariern in den Griff bekommen könnte. Von 1957 bis 1960
tagte die Große Strafrechtskommission - zugegebenermaßen in Abständen. Die Crème de la Crème des deutschen Strafrechts erhitzte sich über die Frage, was für
den Parlamentarier strafbar sein soll. Ich empfehle jedem, die Protokolle nachzulesen. Sie sind im 13. Band
der Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission - Besonderer Teil - veröffentlicht.
({13})
Es ist mir im Gedächtnis geblieben, was Professor
Bockelmann zu der beabsichtigten Gesetzgebung ausgeführt hat. Wenn der Gesetzgeber einen Straftatbestand
mit normativen Elementen - also mit wertausfüllenden
Elementen - schmückt, sagt er eigentlich nichts. Das ist
das Problem und die Krux des Gesetzentwurfs von
Bündnis 90/Die Grünen. Dieser Gesetzentwurf lässt
mehr Fragen offen, als er klärt.
Herr Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
({0})
Aber gerne doch.
Herr Kollege Kauder, haben Sie eine Erklärung dafür,
warum wir von 120 Staaten der Welt verlangen - überwiegend ist das schon umgesetzt worden -, dass sie die
Tätigkeit von Abgeordneten auch im Strafgesetzbuch regeln, obwohl es in den meisten Ländern inzwischen
strafbar ist, wenn sich Abgeordnete bestechen lassen,
und warum das ausgerechnet in Deutschland nicht möglich sein soll?
Herr Kollege Ströbele, ich will Ihnen erklären, warum
es gerade mit dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die
Grünen nicht möglich ist.
({0})
Damit darf ich weiter fortfahren.
({1})
- Sie haben doch die Antwort bekommen. Sie können
wieder Platz nehmen.
Die Diskussion war sehr intensiv. Dabei fiel eines auf.
Die Rechtsgelehrten kamen zu dem Ergebnis, dass sie zu
wenig Ahnung von politischem Handeln hätten und sich
daher in dieses Thema nicht einfinden könnten. Die Diskussion war zwar von vielen rechtlichen Argumenten
gespickt; sie enthielt aber fast kein Beispiel. Das habe
ich in Ihrer Rede vermisst, Herr Kollege Ströbele.
Welches politische Handeln soll über den bereits existierenden Straftatbestand des § 108 e StGB hinaus strafbar
werden? Eines kam deutlich zum Ausdruck: Die Verwerflichkeitsklausel, die Sie dem § 240 des Strafgesetzbuches
entnommen haben, ist für politisches Handeln und parlamentarische Arbeit nicht geeignet. Wir müssen uns also
andere Lösungsansätze überlegen.
Es gibt Literatur dazu, die ich ebenfalls empfehlen
kann. Regina Michalke hat sich in der Festschrift für
Rainer Hamm aus dem Jahr 2008 mit der Verwerflichkeitsklausel befasst. Wie wollen Sie es regeln? Nimmt
ein Politiker einen Vorteil für seine Handlung im Deutschen Bundestag an, soll das strafbar sein, wenn Mittelund Zweckrelationen zwischen Vorteil und Handeln verwerflich sind.
({2})
Verwerflichkeit ist ein normativer Begriff, und in der
Rechtssprache wird er durch einen anderen, genauso unverständlichen Begriff ersetzt. Verwerflichkeit ist durch
ein besonders hohes Maß an sittlicher Missbilligung definiert. Jetzt wissen wir es.
({3})
Es stimmt, was Professor Bockelmann gesagt hat: Wenn
ein Gesetzgeber normative Begriffe verwendet, dann
sagt er letztendlich gar nichts. Nun werden Sie einwenden, dass es bei § 240 des Strafgesetzbuches, dem Nötigungsstraftatbestand, auch möglich ist.
Ich beziehe mich noch einmal auf Regina Michalke in
der Festschrift für Rainer Hamm aus dem Jahr 2008: Der
§ 240 Strafgesetzbuch ist völlig anders strukturiert, als
der Straftatbestand des § 108 e des Strafgesetzbuches,
sprich Abgeordnetenbestechung.
({4})
In § 240 Abs. 2 - dem Nötigungsstraftatbestand - sind
die Nötigungsmittel genau definiert. Das können Sie
hinsichtlich der Abgeordnetenbestechung nicht eins zu
eins übernehmen.
Sie sehen, dass Ihr Projekt nur scheitern kann. Wir
brauchen keine normativen, sondern deskriptive Straftatbestandsmerkmale. Wir müssen dem Abgeordneten in
den Kommunalparlamenten genau sagen, was er tun darf
und was nicht.
Wir könnten eigentlich aus dem Leben lernen. Es gibt
einen Bereich, in dem wir Menschen ins Messer laufen
Siegfried Kauder ({5})
ließen, weil wir eine Gesetzeslücke nicht geschlossen
haben. Mancher Professor der Medizin hat sich hochschulrechtlich richtig verhalten und Drittmittel eingeworben, wie es ihm das Hochschulrecht vorschreibt.
Aber statt eines Dankeschöns hat er ein Strafverfahren
wegen Vorteilsannahme bekommen. Diese Professoren
wurden in erster Instanz zu Freiheitsstrafen verurteilt
und mussten sich ihr Recht vor dem Bundesgerichtshof
erkämpfen. Hier hat der Bundesgerichtshof gesetzgeberische Tätigkeit angemahnt. Wir sind dem nicht nachgekommen, obwohl wir es tun könnten.
Setzen wir Parlamentarier nicht als Versuchskaninchen einem Ermittlungs- und Strafverfahren aus! Regeln
wir diesen Sachverhalt sinnvoll! Wir werden dazu in den
Ausschusssitzungen Gelegenheit haben. Ich kann Ihnen
schon jetzt sagen: Ihr Modell kann nur scheitern.
({6})
Der Kollege Jörg van Essen ist der nächste Redner für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
war schon Berichterstatter bei früheren Beratungen über
das Thema Abgeordnetenbestechung. Die Problematik,
die wir damals sehr sorgfältig erörtert haben, besteht unverändert fort. Herr Ströbele, mir ist aufgefallen, dass
Sie viele Ausführungen gemacht haben, eines aber gar
nicht angesprochen haben, nämlich die im Grundgesetz
der Bundesrepublik Deutschland verankerte Freiheit des
Mandats. Das im Grundgesetz verankerte Modell des
Abgeordneten ist völlig anders als das des Beamten, des
Amtsträgers, des Richters.
({0})
- Warum haben Sie das dann nicht angesprochen? - Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass Abgeordnete anders behandelt werden müssen als Amtsträger; das ist
ganz selbstverständlich.
({1})
Zur Freiheit des Mandats des Abgeordneten gehört,
dass er anders als beispielsweise ein Beamter - ich war
einer -, der objektiv sein muss, völlig einseitig Interessen vertreten darf, beispielsweise die seines Wahlkreises.
({2})
Das gehört zur Demokratie. Wir sind Abgeordnete dieses Parlaments, um Interessen zu vertreten. Damit haben
wir eine völlig andere Aufgabe als beispielsweise der
Beamte, der bei seinen Entscheidungen keine Interessen
zu vertreten hat, sondern objektiv zu sein hat. Daraus
folgt, dass es außerordentlich schwierig ist, jemandem
vorzuwerfen, dass er sich völlig einseitig für seinen
Wahlkreis einsetzt. Die meisten von uns - ich behaupte:
fast alle - tun dies aus guten Gründen. Wir engagieren
uns dafür, dass die Interessen unserer Wahlkreise oder
der Gruppen, in denen wir beispielsweise als Gewerkschaftsvertreter tätig sind, im Deutschen Bundestag vertreten sind. Das haben wir zu berücksichtigen.
Mir hat Ihr ständiger Hinweis auf andere Länder
überhaupt nicht gefallen.
({3})
Zu den Ländern, die die entsprechenden Konventionen
unterzeichnet und umgesetzt haben, gehören unter anderem Italien und China.
({4})
Ich werde permanent von Journalisten gefragt: Warum
Italien und Deutschland nicht? Das Ergebnis kennen wir
alle. Italien hat zwar unterschrieben. Wenn es aber ernst
wird, wird im italienischen Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den Betroffenen, beispielsweise den Ministerpräsidenten, von Strafverfolgung freistellt.
({5})
Hören Sie bitte auf, uns vorzuwerfen, andere seien besser als wir!
({6})
Auch China hat, wie gesagt, unterzeichnet. Daran, dass
dieses Land ein Modell für freie Abgeordnete ist, habe
ich meine Zweifel. Hören Sie also bitte auf, uns das vorzuhalten!
({7})
Mir gefällt überhaupt nicht, dass es permanent Tendenzen Richtung Verbeamtung des Bundestages gibt.
Dafür, dass das aus Ihrer Fraktion kommt, habe ich Verständnis. Viele haben keinen Berufsabschluss.
({8})
Dann ist es ganz schön, wenn man als Abgeordneter wenigstens eine Verbeamtung hat. Aber ich erinnere an das,
was die Kollegin Meseke, die spätere Präsidentin des
Bundesrechnungshofes, bei einer früheren Debatte gesagt hat: Jeder Schritt in Richtung Verbeamtung der Abgeordneten ist schlecht für die Demokratie. - Das wird
die Devise für die FDP-Bundestagsfraktion sein.
Ich warne sehr davor, die Mandatsträger in den Gemeindeparlamenten, den Landesparlamenten, im Bundestag und im Europaparlament gleichzubehandeln;
denn die Verfassung gibt denjenigen, die Mitglied eines
obersten Verfassungsorgans sind, andere Rechte. Deshalb müssen wir das bei der Gesetzgebung berücksichtigen.
Was ich wie der Kollege Kauder ganz kritisch sehe,
ist der Begriff der Verwerflichkeit. Wenn man an manche Zeitungen mit großen Buchstaben denkt, dann
könnte man den Eindruck gewinnen, dass schon die Tätigkeit des Abgeordneten an sich verwerflich ist. Deshalb wird sehr schnell entsprechend argumentiert werJörg van Essen
den, und was immer wir machen, sehr schnell als
verwerflich angesehen werden. Der Kollege Kauder hat
zu Recht darauf hingewiesen, dass in § 240 StGB, dem
Sie den Begriff entlehnt haben, zusätzliche Festlegungen
im Tatbestand enthalten sind, die das Ganze eingrenzen.
Genau das sehen Sie nicht vor.
({9})
Deshalb ist das, was Sie vorgeschlagen haben, ein völlig
falscher Weg. Er bringt uns nicht voran. Wenn Sie geglaubt haben, dafür bekämen Sie Beifall,
({10})
dann muss ich Ihnen sagen: Ich habe in Vorbereitung auf
die Debatte heute Abend einen Artikel in einer wissenschaftlichen Zeitschrift gelesen - Kollege Kauder weiß
bestimmt, auf welcher Seite das stand, was ich gelesen
habe; mir ist das leider entfallen -, und darin ist Ihnen
der Vorwurf gemacht worden, dass Ihr Entwurf, den Sie
heute vorlegen, völlig untauglich ist. Also, in der Wissenschaft finden Sie keinen Beifall, bei meiner Fraktion
auch nicht, und ich hoffe, bei den anderen Fraktionen im
Deutschen Bundestag ebenfalls nicht.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe fast den Eindruck, wir hätten den Gesetzentwurf gleich an den Rechtsausschuss überweisen sollen.
Dann hätten wir die Debatte, in der wir die lieben Kolleginnen und Kollegen mit vielen rechtlichen Begriffen zu
später Stunde vielleicht noch langweilen, abkürzen können. Der Herr Bundespräsident hat am Dienstag bei der
Eröffnung des Deutschen Juristentages eine, wie ich
meine, sehr gute Rede gehalten. Er hat die Politik ermahnt, nicht überzogene Erwartungen zu wecken. Herr
Kollege Ströbele, ich glaube, das gilt auch für dieses
Thema. Wir sollten es etwas tiefer hängen und keine Erwartungen wecken, die hinterher nicht erfüllt werden
können.
Wir alle sind uns einig, dass Abgeordnete, also Volksvertreter, nicht bestechlich oder korrupt sein dürfen. Wir
alle sind uns auch darin einig, dass die ganz überwiegende Zahl der Abgeordneten in den kommunalen Parlamenten, in den Landtagen, im Bundestag und auch im
Europäischen Parlament genau das nicht sind. Sie sind
nicht korrupt, um es ganz deutlich zu sagen.
({0})
Wenn wir auch davon überzeugt sind, dass sie nicht korrupt sind, so bedarf es trotzdem Regelungen, um mögliche Zuwiderhandlungen verfolgen zu können. Schwarze
Schafe gibt es überall im Leben, und so gibt es sie natürlich auch unter Abgeordneten.
({1})
Über eines sollten wir uns, Herr Kollege Kauder und
Herr Kollege van Essen, auch einig sein, und daran führt
kein Weg vorbei: Die geltende Regelung im § 108 e
StGB reicht nicht aus.
({2})
Die Vorschrift genügt nicht den internationalen Vorgaben, die wir in Deutschland gezeichnet haben, aber nicht
ratifizieren können. Da haben Sie vollkommen recht. Es
ist peinlich, wenn wir dem nicht nachkommen.
({3})
Es gibt aber auch seit zwei Jahren eine Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die klargemacht hat, was
ich schon seit Jahrzehnten behauptet habe, was aber
24 Oberlandesgerichte anders gesehen haben. Der Bundesgerichtshof hat nämlich festgestellt, kommunale
Mandatsträger seien keine Amtsträger, weshalb für kommunale Mandatsträger nicht unsere Vorschriften im
StGB für Straftaten im Amt gelten würden. Die Vorsitzende des Strafsenats, die das entschieden hat, die heutige Generalbundesanwältin Frau Harms, hat damals in
dem Urteil deutlich gemacht, dass eine Lücke im Gesetz
existiert. Diese Lücke muss geschlossen werden, und daher sind wir aufgefordert, nicht nur schlaue Reden zu
halten, sondern diese Lücke zu schließen.
({4})
Herr Kollege Ströbele, wir hätten diese Lücke schon
lange schließen können. Sie und ich, wir beide wissen
das. Denn wir hatten im Jahr 2005 in einer Kommission
- der Kollege Manzewski war dabei - eine Regelung erarbeitet.
({5})
- Nun hören Sie doch zu! Jetzt wird es Ihnen peinlich. Ich meine, es war eine sehr gute Regelung, die wir damals erarbeitet hatten.
({6})
- Okay, die von uns entworfen war, vielen Dank. ({7})
Aber dann mussten wir koalitionstreu sein, und wir durften sie nicht ins Parlament einbringen, weil uns die Grünen blockiert haben. Man höre und staune.
({8})
Das war eine Regelung, die dem Kollegen Beck zu weit
und dem Kollegen Ströbele nicht weit genug ging.
({9})
Also war gar nichts zu machen. Man hat sich damals gegenseitig blockiert.
Aber - und das ist vielleicht die Tragik bei uns Sozialdemokraten ({10})
- darf ich weitermachen? - wir möchten auch jetzt, in
der Großen Koalition, gern eine Regelung vorlegen, die
wiederum wir erarbeitet haben. Nun will unser Koalitionspartner nicht.
({11})
Wir sollten uns im Ausschuss zusammensetzen und dort
einmal eine vernünftige Debatte führen.
Herr Kollege Stünker, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Die Zeit ist schon sehr weit fortgeschritten,
Herr Kollege von Klaeden; ich möchte jetzt gern zum
Ende kommen. Wir können das sicherlich auch unter
vier Augen austauschen.
({0})
- Lassen Sie uns noch einmal einen Moment ernst werden!
Wo liegt das Problem? Das Problem liegt - das ist
hier schon häufig angesprochen worden - im Tatbestandsmerkmal des Vorteils. Es geht um den Vorteilsbegriff. Das Merkmal ist in Ihrem Entwurf zu schwammig
gefasst. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages
werden im Ergebnis in die Hände der dritten Gewalt, in
die Auslegung gegeben, was mit dem freien Mandat aus
Art. 38 des Grundgesetzes sicherlich nicht in Übereinstimmung zu bringen ist.
Wir sind uns völlig einig: Nach Art. 38 des Grundgesetzes darf der Abgeordnete Interessenvertreter sein. Er
muss Interessenvertreter sein. Er ist parteilich. Er darf
parteilich sein. Das alles ist richtig.
Wenn wir uns alle darüber einig sind, warum schaffen
wir dann nicht einen Tatbestand, bei dem wir an genau
das anknüpfen, was uns das Grundgesetz in Art. 38 im
Grunde vorgibt?
({1})
Es heißt dort: An Aufträge und Weisungen sind die Abgeordneten nicht gebunden; sie sind nur ihrem Gewissen
unterworfen.
({2})
Warum implementieren wir nicht diese verfassungsrechtlichen Grenzen in den zu bildenden Straftatbestand,
liebe Kolleginnen und Kollegen?
Der Straftatbestand könnte dann wie folgt lauten:
„Der Abgeordnete macht sich strafbar, wenn er ... sich
bereit zeigt, bei der Wahrnehmung seines Mandats Aufträge oder Weisungen deshalb zu erfüllen, weil ihm dafür ein Vorteil versprochen oder gewährt wird.“ Das ist
ein Vorschlag von uns, um eine Lösung zu finden. Er ist
mit Art. 38 - freies Mandat des Abgeordneten - möglicherweise kompatibel.
Dann bräuchten wir uns nicht mehr darüber zu unterhalten, ob der Vorteil unbillig oder rechtswidrig sein
muss; denn bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit geht es
immer auch um die Angemessenheit. Es gibt also Lösungsmöglichkeiten für ein schweres rechtliches Problem.
Wir meinen, dass wir in eine Regelung zur Strafverfolgung ein weiteres Element aufnehmen müssten. Wir
sollten darüber nachdenken, ob dann, wenn der Tatbestand erfüllt sein könnte, als Voraussetzung für eine
Strafverfolgung nicht auch noch die Ermächtigung der
Volksvertretung notwendig ist, ob wir also das Strafrecht
mit dem Recht der Immunität verbinden müssen.
({3})
Die Befürchtung, die überall geäußert wird, ist ja: Bereits eine entsprechende Überschrift in der Bild-Zeitung,
dass jemand durch eine Anzeige in ein Ermittlungsverfahren geraten ist - das kann ja völlig im Sande verlaufen -, führt zum politischen Tod. Das muss man mit bedenken.
({4})
Ein Beispiel von heute aus einer Zeitung bei uns im
Norden passt da. Das habe ich heute Mittag auf den
Tisch bekommen. Die Überschrift lautet: „Staatsanwalt
ermittelt nach Anzeige gegen ...“. Es geht um einen Kollegen von uns in Niedersachsen. In dem Artikel heißt es
dann, dass der Staatsanwalt bestätigt usw.
Dem ist man heute gleich nachgegangen. Keine der
Regeln ist eingehalten worden. Nach den RiStBV, den
Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren, wie das schöne Büchlein heißt, hätte zuerst
innerhalb bestimmter Fristen eine Anzeige an den Parlamentspräsidenten erfolgen müssen. Bei der Staatsanwaltschaft dort ist angerufen worden und siehe da: Der
Sachverhalt ist ein ganz anderer. Aber der Staatsanwalt,
der dort zitiert ist, hat genau diese Erklärung abgegeben.
Morgen kommt eine Gegendarstellung. Aber wir wissen,
was von einer solchen Gegendarstellung im Ergebnis zu
halten ist.
({5})
Von daher: Wir alle sehen die Probleme. Wir müssen
- damit will ich schließen und meine Redezeit nicht ganz
ausnutzen; es ist schon spät geworden - miteinander reden. Wir müssen gemeinsam beraten. Herr Kollege
Gehb und Herr Kollege Kauder, wir haben den rechtlichen Sachverstand, um eine Regelung zu finden, bei der
wir unsere Kolleginnen und Kollegen in den Parlamenten nicht ins Messer laufen lassen. Das dürfen wir nämlich nicht; Sie haben darauf zu Recht hingewiesen. Uns
aber ein Redeverbot aufzuerlegen und diese Frage gar
nicht mehr zu diskutieren, das, glaube ich, kann nicht die
Lösung sein. Von daher meine Bitte an den Koalitionspartner - Sie persönlich muss ich gar nicht ansprechen -:
Reden Sie noch einmal mit Ihren Oberen! Wir sollten die
Beratungen wieder aufnehmen.
Schönen Dank.
({6})
Die Rede des Kollegen Wolfgang Nešković nehmen
wir zur Protokoll.1)
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/6726
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Bilanzrechts ({0})
- Drucksache 16/10067 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Parlamenta-
rischer Staatssekretär Alfred Hartenbach, Antje
Tillmann, CDU/CSU, Klaus Uwe Benneter, SPD,
Mechthild Dyckmans, FDP, Dr. Barbara Höll, Die Linke,
Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/10067 an die in der Tagesord-
1) Anlage 8
2) Anlage 9
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke
Hoff, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie
der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried
Nachtwei, Kerstin Müller ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
NSG-Ausnahmeregelung für Indien beschädigt das nukleare Nichtverbreitungsregime Zustimmung der Bundesregierung ist Beleg einer falschen Abrüstungspolitik
- Drucksache 16/10355 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
FDP-Fraktion die Kollegin Elke Hoff.
({4})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zu sehr später Stunde reden wir heute über ein
wichtiges Thema, das es eigentlich verdient hätte, an
prominenterer Stelle hier im Deutschen Bundestag behandelt zu werden. Deswegen freue ich mich auch, dass
es uns gelungen ist, gemeinsam mit unseren Kollegen
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen heute ein Zeichen zu setzen und unserer Missbilligung über etwas
Ausdruck zu verleihen, was die Bundesregierung in der
parlamentarischen Sommerpause dieses Jahres auf den
Weg gebracht hat.
Die Entscheidung für eine Ausnahmeregelung für Indien ohne die langfristige und verbindliche Verpflichtung Indiens zur nuklearen Abrüstung und zum Beitritt
zum Atomteststoppvertrag bricht nach unserer Auffassung mit allen Prinzipien der internationalen Nichtverbreitungspolitik und bedroht das ohnehin schon wankende nukleare Nichtverbreitungsregime endgültig in
seiner Existenz.
({0})
Es wurden einem Nichtmitglied kostbare Rechte eingeräumt, ohne dafür die entsprechenden Pflichten einzufordern. Indien wird dadurch nicht näher an das nukleare
Nichtverbreitungsregime herangeführt, sondern erhält
einen Sonderstatus als privilegierter Kernwaffenstaat außerhalb des Atomwaffensperrvertrages. Das ist der Weg
in nukleare Doppelstandards, das ist der Weg in die Un19126
terscheidung zwischen guter und schlechter Proliferation, und das ist, meine Damen und Herren, ein totaler
Irrweg;
({1})
denn er bedeutet über kurz oder lang das Ende des
Atomwaffensperrvertrages, das Ende des internationalen
Nichtverbreitungsregimes und den Beginn einer Phase
unkontrollierter nuklearer Aufrüstung.
Nur durch ein intensives und glaubwürdiges Engagement der Weltgemeinschaft für die Institutionen der
Nichtverbreitung, nur durch eine globale Abrüstungsinitiative, wie sie erfahrene Staatsmänner wie Außenminister Henry Kissinger oder Hans-Dietrich Genscher wiederholt eingefordert haben, werden sich der entstandene
Schaden noch begrenzen und ein Zerfall des Nichtverbreitungsregimes vielleicht noch verhindern lassen. Abrüstung und Rüstungskontrolle sind viel zu kostbare
Säulen der internationalen Sicherheit, als dass sie zu
strategischen Instrumenten von Geo- oder auch Wirtschaftspolitik werden dürften.
Die FDP hat wiederholt gefordert, dass Deutschland
endlich wieder eine Vorreiterrolle für die internationale
Abrüstung und Nichtverbreitung einnimmt. Unser Land
hat sich auf diesem Politikfeld auch durch liberale Außenpolitik ein stabiles Renommee aufgebaut. Deshalb
schmerzt es meine Fraktion besonders, dass eine solche
abrüstungspolitische Fehlentscheidung unter deutschem
Vorsitz und unter Führung eines deutschen Außenministers in der Nuclear Suppliers Group getroffen worden ist.
({2})
Dabei hatte der Bundesaußenminister ja bereits persönlich die richtigen und notwendigen Kriterien für eine
Heranführung Indiens an das Nichtverbreitungsregime
und für eine außenpolitisch verantwortliche Entscheidung der NSG benannt. Auf einer Abrüstungskonferenz
der SPD im Juni 2006 nannte er als Kriterien den Beitritt
Indiens zum Atomteststoppvertrag, ein Moratorium für
die Produktion von spaltbarem Material für Waffenzwecke und die Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung. Und
so hätten die Kriterien für eine Zustimmung der Bundesregierung in der NSG auch am 6. September 2008 lauten
müssen.
In der abrüstungspolitischen Grundsatzrede des Außenministers auf der Münchner Sicherheitskonferenz in
diesem Jahr kam das heikle Thema jedoch erst gar nicht
vor. Wer in der anschließenden Diskussion etwas zu der
deutschen Haltung zum US-indischen Nuklearabkommen wissen wollte, wurde ebenfalls enttäuscht. Konkretes, gar eine deutliche Positionierung gab es nicht. Die
Bundesregierung hat der indischen Sonderregelung in
der NSG zugestimmt, ohne das Parlament und die deutsche Öffentlichkeit auch nur ein einziges Mal im Vorfeld
über ihre Entscheidung zu informieren.
({3})
Die Entscheidung wurde klammheimlich in der parlamentarischen Sommerpause getroffen. Dies ist aus unserer Sicht, wie Herr Kollege Hoyer richtig bemerkt hat,
ein unerhörter Vorgang.
({4})
Aber die Bundesregierung hat nicht nur Parlament
und Öffentlichkeit über ihre Positionierung im Unklaren
gelassen. Wenn man die Berichterstattung ausländischer
Medien, insbesondere die indische verfolgt und mit Vertretern anderer Delegationen gesprochen hat, wurde eines sehr deutlich: Die Bundesregierung hat ihren NSGVorsitz aktiv dazu genutzt, für eine Sonderregelung für
Indien zu werben, sie hat kleine Staaten wie Irland, die
Niederlande oder Neuseeland mit ihrer Kritik an den
fehlenden abrüstungspolitischen Bedingungen der Sonderregelung im Regen stehen lassen, und sie hat nie die
von Außenminister Steinmeier benannten abrüstungspolitischen Kriterien zur Grundlage ihrer Entscheidung gemacht. So sieht, meine Damen und Herren, keine glaubwürdige Abrüstungspolitik aus.
Da hilft es auch nicht, immer wieder treuherzig auf
Mohammed al-Baradeis Unterstützung für das US-indische Nuklearabkommen zu verweisen und diese wie eine
Monstranz vor sich herzutragen. Denn bereits im Jahr
2005 hat der IAEO-Direktor die entscheidende Einschränkung seiner Haltung hinzugefügt: „Managed properly, it would take us forward.“ - Nur richtig gehandhabt würde ein US-indisches Nuklearabkommen Indien
näher an das Nichtverbreitungsregime heranführen und
die internationalen Bemühungen um nukleare Nichtverbreitung voranbringen.
Das bedeutete auch seiner Meinung nach, das US-indische Nuklearabkommen zu einem Tauschgeschäft zu
machen: Energieentwicklungshilfe gegen das Eingehen
verbindlicher Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag. Nur, dieses Geschäft auf Gegenseitigkeit
hat eben nicht stattgefunden. Indien hat keine verbindlichen Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag
übernommen. Deshalb hätte die NSG, hätte die Bundesregierung einer Sonderregelung für Indien auch nicht
zustimmen dürfen. Deshalb muss Deutschland als glaubwürdiger Nichtkernwaffenstaat und verantwortungsvoller nuklearer Lieferstaat an seiner restriktiven Exportpolitik für Nukleartechnologie gegenüber Indien festhalten.
Ich appelliere hier auch im Namen der Kollegen, die
gemeinsam mit uns den Antrag formuliert haben, an die
Bundesregierung, zumindest in diese Richtung weiterzumarschieren und uns bitte hier im Plenum zu erklären,
wie es zu dieser, aus unserer Sicht wirklich verheerenden
Entscheidung kommen konnte.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Eckart von Klaeden,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Wir wissen aus zahlreichen Unterrichtungen durch
das Auswärtige Amt, dass nicht nur dort, sondern auch
im Parlament über die richtige Entscheidung zu dieser
Frage lange Zeit gerungen worden ist. Am Ende des Entscheidungsprozesses hat Außenminister Steinmeier eine
Führungsentscheidung getroffen, die unsere volle Unterstützung verdient, nämlich: Die Ausnahmeregelung der
Nuclear Suppliers Group für Indien war notwendig.
Das, was die Grünen und die FDP hier vorlegen, stellt
nicht nur eine Misstrauenserklärung gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika dar - das ruft in der deutschen Öffentlichkeit heutzutage ja keine besondere Aufmerksamkeit mehr hervor -,
({0})
sondern stellt auch eine Misstrauenserklärung gegenüber
Indien dar. Darauf wird, wenn aus einer der beiden Fraktionen oder Parteien, je nach Konstellation, der Wunsch
vorgetragen wird, einmal den Außenminister zu stellen,
sicherlich zurückzukommen sein.
({1})
Die entscheidende Frage ist doch: Hat Indien das Vertrauen verdient, das ihm durch diese Ausnahmeregelung
entgegengebracht wird?
Vor Jahren haben sich die Grünen - damals mit der
Unterstützung der Opposition von CDU/CSU und auch
der Unterstützung der FDP - in der rot-grünen Koalition
dafür eingesetzt, Indien im Rahmen der G-4-Initiative zu
einer Vetomacht im Weltsicherheitsrat zu machen. Glauben Sie wirklich, dass diese Entscheidung richtig gewesen wäre, wenn, wie Sie es in Ihrem Antrag deutlich machen, Indien gleichzeitig eine Gefahr für das nukleare
Nichtverbreitungsregime wäre? Wäre diese Initiative
wirklich verantwortbar gewesen? Ja, diese Initiative ist
meiner Meinung nach damals richtig gewesen. Indien
gehört in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
({2})
- Indien kann ja gar nicht Mitglied des Nichtverbreitungsvertrages sein, Frau Kollegin Hoff. Sie müssten
einmal den Vertrag lesen. Denn Indien ist Nuklearmacht,
und die Aufnahme einer weiteren Nuklearmacht ist in
dem Vertrag gar nicht vorgesehen. Es gibt überhaupt
kein Verfahren dafür.
({3})
Also, Indien stellt immer wieder diese Forderung. Indien sagt ja: Wir sind bereit, Mitglied des Nichtverbreitungsvertrages zu werden, wenn ihr akzeptiert, dass wir
Nuklearmacht sind.
({4})
Zu sagen, dass Indien zwar eine Gefahr für das Nichtverbreitungsregime ist, und gleichzeitig zu fordern, dass
Indien in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als
Vetomacht soll, dass es also für andere Staaten internationales Recht setzen soll, bedeutet nur - Sie lehnen
nämlich das eine ab und befürworten das andere -, dass
Sie entweder den Nichtverbreitungsvertrag oder den Sicherheitsrat gering schätzen.
({5})
Ihre Position ist nicht schlüssig.
({6})
Wir dagegen sind der Ansicht, dass Indien dieses Vertrauen verdient,
({7})
dass Indiens Aufstieg neben dem Aufstieg Chinas die
Welt in den kommenden Dekaden unübersehbar verändern wird. Wir meinen, dass Indien in den letzten Jahren
und Jahrzehnten wichtige Initiativen ergriffen hat. Indien
hat in Südasien Verantwortung übernommen, zum Beispiel bei der Lösung der politischen Krise in Nepal. Es
hat seine Beziehungen zu den ASEAN plus Drei und den
Vereinigten Staaten verstärkt. Indien kommt damit seinem angesichts seiner Größe verständlichen Ziel näher,
als Großmacht eine Gleichrangigkeit mit seinem chinesischen Nachbarn zu erreichen, und das ist ein wesentlicher Grund für seine nuklearen Ambitionen gewesen.
({8})
- Sie wollen jetzt doch nicht wirklich die Lage in Pakistan, Herr Kollege Ströbele, und die Proliferationspolitik
Pakistans mit der Indiens vergleichen. Das zeigt, wie
sehr bei Ihnen die Maßstäbe verrutscht sind.
({9})
Seit 1974 hat Indien eine verantwortungsvolle Politik
betrieben und sich als eine verantwortungsvolle Atommacht erwiesen: Anders als sein Nachbarland Pakistan,
das Sie, Herr Kollege Ströbele, gerade als Kronzeuge
eingeführt haben, war Indien zu keinem Zeitpunkt an der
Proliferation von Nuklearmaterial oder Know-how beteiligt. Anders als Pakistan hat Indien zudem in seiner
Nukleardoktrin von Anfang an auf den Ersteinsatz von
Atomwaffen verzichtet. Darüber hinaus hat Indien erklärt, keine Atomwaffen gegen Nichtnuklearstaaten einzusetzen, und es hat sich seit 1974 an diese Nukleardoktrin gehalten. Das sind wesentliche Unterschiede zu
Pakistan, das Sie gerade hier eingeführt haben.
({10})
Zudem hat die indische Regierung ein freiwilliges Moratorium für neue Atomtests erklärt.
Ich sehe auch keinen direkten Zusammenhang zwischen der NSG-Entscheidung und den Bemühungen um
eine friedliche Lösung der Krise um das iranische
Nuklearprogramm. Indien ist in dieser Frage nicht mit
dem Iran zu vergleichen. Indien hat den Nichtverbreitungsvertrag nicht unterzeichnet. Iran hingegen ist dem
NVV beigetreten, und es gibt erhebliche Zweifel an der
Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen aus
dem NVV durch das Teheraner Regime.
Die E-Drei-plus-Drei haben dem Iran das Angebot einer zivilen nuklearen Zusammenarbeit unterbreitet,
wenn das Land das Vertrauen in den ausschließlich friedlichen Charakter seines Programms wiederhergestellt
hat. Auch bedroht Indien nicht die Existenz eines anderen Staates, wie das der Iran offen gegenüber Israel tut.
Die Rede des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad
vor der UN-Vollversammlung hat das ja wieder unter
Beweis gestellt.
Wie alle Schwellenländer ist Indien ein Land mit steigendem Energiebedarf.
({11})
Der Energiebedarf Indiens, das über keine eigenen Ölund Gasvorkommen verfügt, steigt stetig an. Es verfügt
über große eigene Kohlevorkommen, deren Verstromung allerdings zu den rapide wachsenden CO2-Emissionen des Landes beitragen würde. Man kann daher
Indien schwer den Zugang zu nuklearer Energie verweigern - das ist ja ein Argument, das immer wieder von
der FDP vorgetragen wird, aber von den Grünen nicht
unterstützt wird -; denn Indien ist für seine wirtschaftliche Entwicklung auf die Bereitstellung von Nuklearenergie angewiesen. Indien das vorzuenthalten, was man
dem Iran immer wieder anbietet, ist nicht sonderlich
überzeugend.
Mit dem Ausbau der Atomkraft hofft die Regierung
in Delhi zudem, den Zuwachs der CO2-Emissionen einzudämmen.
Es ist auch nicht überzeugend, wenn die Gegner des
amerikanisch-indischen Nuklearabkommens behaupten,
dass dadurch der NVV geschwächt werde. Meines Erachtens wird der NVV gerade durch die Annäherung Indiens an den Vertrag gestärkt. Ihr Argument, Frau Kollegin Hoff, ist ja nur dadurch plausibel geworden, dass Sie
das englische Zitat von al-Baradei unzutreffend ins
Deutsche übersetzt haben; denn Sie haben die selbstverständliche Kondition, dass eine Vereinbarung vernünftig
ausgeführt werden muss, in einer Weise verändert, wie
sie im englischen Zitat al-Baradeis nicht enthalten war.
Indien hat zugestimmt, 14 seiner bis 2014 verfügbaren 22 Kernkraftwerke einer Inspektion durch die IAEO
zu unterwerfen. Das ist der wesentliche Punkt, den alBaradei als eine Heranführung an das NVV-Regime genannt hat. Das vereinbarte Safeguards-Abkommen zwischen Indien und der IAEO dürfte bald unterzeichnet
werden.
({12})
Am 5. September hat der indische Außenminister vor
der Entscheidung der NSG die indische Nichtverbreitungsverpflichtung noch einmal bekräftigt. Auf dieser
indischen Nichtverbreitungsverpflichtung baut die Ausnahmeregelung der NSG auf. Falls Indien erneut einen
Atomtest durchführen sollte oder seine Safeguards- oder
NSG-Verpflichtung verletzt, kann jedes NSG-Mitglied
ein Sonderplenum einberufen, das über geeignete Maßnahmen bis hin zur Suspendierung oder Beendigung des
Nuklearhandels mit Indien entscheidet.
({13})
Ich halte es daher für richtig, dieser Ausnahmeregelung zuzustimmen. Ich glaube, dass Indien angesichts
seiner jahrzehntelangen verantwortungsvollen Nuklearpolitik dieses Vertrauen verdient.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Paul Schäfer, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anfang
September ist ein neues Kapitel eines Stücks geschrieben worden, das man auch „Chronik eines angekündigten Todes“ nennen könnte. Die Bundesregierung kann
sagen, sie ist nicht nur dabei gewesen, sondern sie hat
sogar den Vorsitz bei dieser Veranstaltung geführt.
Das hat doch eine besondere Pikanterie. Diese Nuklearlieferantengruppe ist 1976, also zwei Jahre nach den
indischen Atomtests, gegründet worden, und zwar genau
zu dem Zweck, Nuklearlieferungen an Indien zu verhindern. Jetzt gibt es eine Ausnahmeregelung der Nuclear
Suppliers Group, indem gesagt wird: Wir dürfen an Indien liefern. - So etwas nennt man doch wohl Paradigmenwechsel, oder? Ich finde, es ist eindeutig - darum
braucht man nicht herumzureden - ein Dammbruch,
weil Indien dafür prämiert wird - anders kann man es
nicht sehen -, dass es sich im Widerspruch zum NPT zu
einer Atommacht entwickelt hat. Um diesen Sachverhalt
kommen Sie nicht herum. Wenn man jetzt solche Präzedenzfälle schafft, wird man es viel schwieriger haben,
vom Iran und von anderen eine Abkehr von ihren
nuklearen Ambitionen zu verlangen.
Herr von Klaeden, alle Gründe, die Sie für die Sonderbehandlung Indiens anführen - Sie sagen beispielsweise, es sei eine vertrauenswürdige Nuklearmacht -,
beinhalten offensichtlich die Ansage, dass wir uns nicht
allzu sehr um Recht und Gesetz kümmern. Damit wird
der Willkür Tür und Tor geöffnet. Wer definiert denn,
dass Indien eine verantwortungsvolle Atommacht ist?
Diese Willkür tut den internationalen Beziehungen nicht
gut. Wir brauchen verlässliche rechtliche Grundlagen.
Ein entsprechendes Verhalten wäre von Indien einzufordern gewesen.
Paul Schäfer ({0})
Es ist schon erwähnt worden, dass es eine Chance innerhalb der NSG gegeben hätte, ein klares Nein zu sagen, um die Beteiligten dazu zu bringen, darauf zu drängen, dass Indien die Bedingungen des NPT erfüllt. Es
hätte dafür eine Mehrheit gegeben. Aber die Bundesregierung hat sich an die Spitze derjenigen gesetzt, die
dem Druck nachgegeben haben, der vor allem von den
USA ausgegangen ist. Diesem Druck konnte keines der
kleinen Länder standhalten; sie sind sozusagen in die
Knie gegangen. Es hätte also eine Möglichkeit gegeben,
das zu verändern. Dass dies nicht passiert ist, zeigt:
Worte und Taten klaffen bei der Bundesregierung weit
auseinander.
Man kann - leider, muss man an dieser Stelle sagen auch vermuten, dass es dort unlautere Motive nicht nur
seitens der USA gibt, die Materialien liefern wollen und
die im nuklearen Bereich Geschäfte machen wollen.
Man muss dies auch für andere Regierungen vermuten.
Wenn ich mir die Entwicklung der deutschen Rüstungsexporte nach Indien anschaue und wenn ich berücksichtige, dass man da spekuliert, was U-Boot-Lieferungen
oder den Verkauf des Eurofighters betrifft, kann ich
mich nicht ganz des Eindrucks erwehren - diese Frage
stelle ich zumindest in den Raum -, dass da auch Exportinteressen eine Rolle spielen. Man hat also die eigene
abrüstungspolitische Position aufgeweicht und geschwächt mit der Konsequenz, dass der Vertrag über die
Nichtverbreitung von Kernwaffen in der Tat akut gefährdet ist.
Wir sind in der Situation - das ist an dieser Stelle oft
genug gesagt worden -: Wenn es 2010 nicht zu eindeutigen Ergebnissen auch in Richtung einer klaren Abrüstungspolitik kommt, dann wird es insgesamt eine Erosion geben, und dann wird man auf einer schiefen Bahn
sein, auf der es kein Halten mehr gibt. Es wäre das Minimum gewesen, die rote Linie, die sich die Bundesregierung selbst gesetzt hat, in den NSG-Verhandlungen einzuhalten, das heißt, eine verbindliche Erklärung zu
erreichen, dass Indien dem Atomteststoppvertrag beitritt,
sich an dem Produktionsmoratorium für nukleare Waffen beteiligt und all seine Anlagen der Kontrolle der
Safeguards der IAEO unterstellt.
Das jetzt erreichte Abkommen kann man nur als Förderprogramm für den militärischen Bereich ansehen.
Wenn nur Teile der Anlagen einer Kontrolle unterstellt
werden, dann können Materialien transferiert werden
und für militärische Programme genutzt werden. Das ist
ein Förderprogramm für die nukleare Aufrüstung in der
Region. Dem hätte man Einhalt gebieten müssen; da
hätte man Nein sagen müssen. Genau das ist das richtige
Ansinnen des Antrages von FDP und Grünen, der deshalb grundsätzlich unterstützungswürdig ist.
Danke.
({1})
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt,
Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren heute hier über eine Entscheidung, die
unterschiedliche Wirkungen haben kann. Allen nachzugehen, ist in vier Minuten nicht möglich. Deshalb konzentriere ich mich auf eine.
Das Ziel der Bundesregierung besteht darin, Indien in
Verbindung mit den Entscheidungen der IAEO und der
NSG näher an das internationale Nichtverbreitungsregime heranzuführen und damit aus seiner Isolation zu lösen. Diesem Ziel kommen wir jetzt näher. Indien hat sich
auf das globale Nichtverbreitungsregime zubewegt und
steht jetzt stärker in der Verantwortung als vorher, vor allem durch das am 1. August von der IAEO gebilligte
Safeguards-Abkommen. Indien wird jetzt die Mehrzahl
seiner Reaktoren unter Safeguards stellen. Das bedeutet
mehr Kontrolle als bisher und damit einen deutlichen
Gewinn für das Safeguardssystem und für die Nichtverbreitung.
({0})
Eine Wertung, wie ich sie letzten Mittwoch von dem
Kollegen Trittin gehört habe, die Belieferung Indiens mit
Atommaterial und Uran sei kein Gewinn, sondern ein
Verlust an Rüstungskontrolle, ist irreführend. Die NSGEntscheidung erlaubt die Lieferung von NSG-kontrollierten Nukleargütern nur an zivile Anlagen unter Safeguards. Die IAEO-Kontrollen verhindern gerade, dass
das Material in den militärischen Sektor gelangt.
Nicht von ungefähr hat der indische Außenminister
Mukherjee in seiner Erklärung vom 5. September erstmals öffentlich die nichtverbreitungspolitischen Verpflichtungen seines Landes genannt und bekräftigt.
Hierzu zählen das Testmoratorium, die Safeguards-Verpflichtungen, die Schaffung effektiver indischer Exportkontrollen und die Verpflichtung, sich an den Richtlinien
der NSG und des MTCR auszurichten.
Die indische Regierung hat sich ausdrücklich zum
Ziel des Abschlusses eines Vertrages über ein Verbot der
Produktion von Spaltmaterial für Kernwaffen - für die
Fachleute: FMCT - wie auch dem Ziel einer kernwaffenfreien Welt bekannt. Indien verpflichtet sich, die sensiblen Nukleartechnologien, zu denen unter anderem die
Anreicherung von Uran gehört, nicht weiterzugeben.
Hieran wird sich Indien in Zukunft messen lassen müssen. Dass dies ein für Indien weit gehender Schritt war,
zeigt die starke Kritik der indischen Opposition an dieser
Entscheidung.
Die Ausnahmeregelung der NSG baut auf den indischen Verpflichtungen, die ich hier genannt habe, auf.
Sollte Indien hiervon abweichen - Kollege von Klaeden
hat darauf hingewiesen -, greifen die nichtverbreitungspolitischen Regeln, die wir in die Erklärung eingearbeitet haben. Die NSG hätte dann die Möglichkeit, Sanktionen zu verhängen, einschließlich der Suspendierung des
Nuklearhandels.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erklärung der
NSG war ein Kompromiss, einer zwischen 45 Mitgliedstaaten,
({2})
einer, bei dem wir wichtigen Nichtverbreitungselementen Raum schaffen konnten.
Was jetzt passiert, ist ein Zwischenschritt. Unser Ziel
bleibt - an ihm werden wir weiter arbeiten - Indiens
Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag - die Probleme
sind hier genannt worden - sowie zum internationalen
Teststoppabkommen und ein Produktionsmoratorium für
Spaltmaterial für militärische Zwecke.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatsminister, Sie haben entgegen Ihrer sonstigen
Art eine Erklärung hier abgelesen. Das nehme ich zur
Kenntnis.
({0})
Atomwaffen sind der Extremismus der Militärtechnik, und der Nichtverbreitungsvertrag versucht, in diesem Bereich wenigstens nukleare Anarchie zu verhindern und gleichzeitig die Dinge in Richtung nuklearer
Abrüstung zu bewegen.
Wir wissen alle: In den letzten Jahren ist der Nichtverbreitungsvertrag in eine erhebliche Krise gekommen.
Erinnern wir uns: 1974 war der erste indische Nukleartest. Wodurch wurde er möglich? Durch Plutonium, das
aus einem Reaktor, von Kanada geliefert, dafür abgezweigt werden konnte. Die Schlussfolgerung daraus war
die Gründung der Nuclear Suppliers Group durch USA,
Kanada, die Bundesrepublik und einige andere Länder.
Und nun soll es diese Ausnahmeregelung für Indien geben.
Herr von Klaeden, wenn da von Misstrauen gegenüber Indien gesprochen wird, ist das in diesem Zusammenhang die unpassende Kategorie.
({1})
Aber wir müssen zunächst feststellen, dass Indien keine
verbindliche Abrüstungsverpflichtung im Nuklearbereich eingegangen ist,
({2})
dass kein Beitritt zum Atomteststopp erklärt wird und
dass schließlich auch ein überprüfbares Moratorium für
die Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial nicht
zugesagt wird.
Was die IAEO-Kontrollen in den 14 zivilen Anlagen
und in den acht anderen Anlagen angeht, die für die militärische Nutzung entscheidend sind: null. Außerdem
kann Indien auch von sich aus die Kontrollen der IAEO
beenden. Ich verstehe, dass die IAEO sagt: Jetzt haben
wir den Fuß in der Tür. Daraus die Schlussfolgerung zu
ziehen, das sei insgesamt eine Annäherung an den Nichtverbreitungsvertrag, ist aber eine falsche Bewertung.
Dazu haben Sie in Ihren vier Minuten Rede nichts gesagt. In frei gesprochenen weiteren vier Minuten würden
Sie angesichts der Wirkung dazu vermutlich etwas anderes sagen.
Wie will man gegenüber dem Iran denn jetzt bitte
schön noch irgendwie glaubwürdig vertreten - das ist
schon gesagt worden -: Ihr dürft das, was die anderen
machen, nicht; die sind halt Atommacht usw. Das bekommen Sie nicht mehr auf die Reihe.
({3})
Israel und Pakistan haben selbst gesagt: Das wollen
wir auch - Präzedenzfall. Eine Ablehnung kann man
nicht plausibel machen. Na gut, Pakistan kann man sagen: Euch können wir nicht trauen. Aber Israel? Israel
trauen Sie doch sehr. Warum denn da nicht?
({4})
Was Pakistan angeht: Gestern hatten wir dazu eine
Aktuelle Stunde.
({5})
- Jetzt will ich keine Zwischenrede.
({6})
- Ich erzähle weiter. Sie können dann sehen, das ist ganz
schön sinnvoll.
Wir haben festgestellt, dass Pakistan ein politisches
Pulverfass ist, vielleicht das gefährlichste weltweit. Erinnern wir uns daran, was 1999 war - das ist nachzulesen -,
als es sieben Wochen lang einen kriegerischen Konflikt
zwischen Pakistan und Indien gegeben hat: 13-mal ist
von beiden Seiten der Einsatz von Atomwaffen angedroht worden. Bitte schön! Das heißt im Klartext: Wenn
auf indischer Seite jetzt die Möglichkeit besteht - ich
will das nicht unterstellen -, in Sachen nuklearer Aufrüstung weiterzumachen, dann ist die Perzeption beim Gegner doch eindeutig. Dann geht die Sache auch da hoch.
Das müssen Sie bitte berücksichtigen.
({7})
Die Bundesregierung trägt eine ganz erhebliche Mitschuld an dieser Art von Entscheidung.
Herr Staatsminister, Sie haben vorhin von einem
Kompromiss gesprochen. Sie wissen selbst, wie
schlimm das gelaufen ist: Die kritischen Kleinen, die
Rückgrat hatten, sind von den Spitzen der USA fertiggeWinfried Nachtwei
macht worden, und die Bundesregierung, die gegenüber
dem größten Verbündeten in solchen Angelegenheiten
schon einmal Rückgrat bewiesen hat, hat das dieses Mal
offensichtlich nicht getan. Es ist wirklich ein Hohn,
wenn Sie in diesem Zusammenhang von einem Kompromiss reden.
Ich habe den Eindruck, dass elementare Sicherheitsund Abrüstungsinteressen anderen Interessen geopfert
wurden. Davon wird natürlich gar nicht gesprochen. Es
geht aber immerhin um einen Markt von 150 Milliarden
Dollar. Legitimerweise sind daran natürlich alle möglichen Seiten interessiert. Ich glaube, das war das Entscheidende.
Herr Kollege Nachtwei!
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Ja, bitte.
Zwei dringende Bitten an die Koalition: Erstens. Reden Sie hier wenigstens nicht um diese Fehlentscheidung
drum herum. Uta Zapf, ich glaube, Sie können das ein
bisschen korrigieren. Zweitens. Wenigstens sollte es
jetzt keinerlei Nuklearlieferungen an Indien geben. Das
ist das Mindeste. Australien zum Beispiel macht uns das
vor.
Herr Kollege Nachtwei, ich muss Sie jetzt wirklich
unterbrechen.
Ich beende jetzt meine Rede.
Danke schön.
({0})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen von Klaeden.
Herr Kollege Nachtwei, Sie haben gerade behauptet,
dass die israelische Regierung eine Sondergenehmigung
verlangt habe, die dem indisch-amerikanischen Nukleardeal entspricht. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dafür
einen Nachweis liefern könnten.
({0})
Zweitens. Sie haben das Verhalten Indiens mit dem
Verhalten Pakistans verglichen. Ich darf Sie darauf hinweisen, dass Pakistan gegen das Prinzip, an das sich Indien hält, nämlich keine Proliferation zu betreiben, verstoßen hat. Und Pakistan schließt in seiner Nukleardoktrin
den Ersteinsatz von Nuklearwaffen gerade nicht aus. Ich
wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zu diesen beiden Punkten
Stellung nehmen könnten.
Wenn ich noch einen dritten Punkt anführen darf: Die
Nuklearpolitik Indiens hat sich in den vergangenen Jahren nicht verändert. Warum haben Sie eigentlich die
Aufnahme dieses Landes in den VN-Sicherheitsrat unterstützt? Hätte ein solches Land tatsächlich in den VNSicherheitsrat gehört?
Erstens zu Israel. Es hat zumindest Pressemeldungen
gegeben, dass es solches Ansinnen von israelischer Seite
gäbe. Das gebe ich jetzt nur wieder; ich kann es nicht verifizieren. Ich sage es also mit Vorsicht.
Zweitens. Es ist völlig richtig: Wenn wir die Kategorien „vertrauenswürdige Staaten“ und „weniger vertrauenswürdige Staaten“ anwenden würden, würde Indien
als erheblich vertrauenswürdig gelten. Das ist klar. Pakistan würde als viel weniger vertrauenswürdig oder
kaum oder gar nicht vertrauenswürdig gelten. Diese Kategorie ist eingeführt worden, aber sagt in diesem Zusammenhang nichts aus. Es geht um den Universalismus
dieser Regel. Es wird nicht unterschieden zwischen Vertrauenswürdigen, für die es scheunentorgroße Ausnahmen gibt, und den anderen, den Kritischen, bei denen es
dann anders läuft. Das ist das Problem.
({0})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Uta
Zapf, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich gestehe, es ist für mich eine bittere Debatte. Sie ist
noch zusätzlich bitter geworden, weil wir hier in einer
Art diskutieren, die dem Problem, vor dem wir jetzt stehen, überhaupt nicht angemessen ist. Es macht keinen
Sinn, dieser Bundesregierung vorzuwerfen, an allem
schuld zu sein, und zu behaupten, dass sie es hätte verhindern können. Vielmehr müssen wir, denke ich, vielleicht in einer nachfolgenden Debatte über die Dinge reden, die jetzt zu besorgen sind. Frau Hoff hatte einen
Vorschlag gemacht, den ich nur unterstützen kann.
Wir haben hier schon mehrfach Debatten darüber geführt. Bis auf die CDU/CSU, die sich in dieser Phase eigentlich immer bedeckt gehalten hat, haben wir allesamt,
die wir hier sind, die Forderungen an Indien aufgestellt,
die hier auch als Vorausbedingungen zitiert worden sind,
um einen solchen Deal überhaupt seriös abschließen zu
können. Die Vorausbedingungen sind: CTBT-Beitritt,
Stopp der Produktion von waffenfähigem Material, ein
anständiges Safeguards-Abkommen und ein Zusatzpro19132
tokoll. All diese Bedingungen sind nicht erfüllt. Sie stehen auch nicht in der Erklärung der Nuclear Suppliers
Group.
({0})
Das macht mir große Beschwerden; das sage ich ehrlich.
({1})
- Es war unser Außenminister dieser Koalition, und es
war Frau Merkel, die begeistert war über diesen Deal
und das in Indien mehrfach geäußert hat.
({2})
Und es war Herr Glos, der begeistert ist über das Geschäft, das jetzt zu machen ist, und eine Hermesbürgschaft möchte.
({3})
- Nein, diese Bemerkung ist unfair und gehört sich nicht.
({4})
- Na, in Ordnung.
Dann finde es besonders unanständig, weil Steinmeier
unser Kanzlerkandidat ist und weil das, was er in diesen
Verhandlungen durchstehen musste und durchgestanden
hat, hier ganz vorsichtig als Druck bezeichnet worden
ist. Die USA sind doch in ganzen Divisionen losmarschiert und haben die Folterwerkzeuge vorgezeigt. Das
waren nicht nur die Daumenschrauben, auch die Eiserne
Jungfrau und das Waterboarding
({5})
wurden gegen die Staaten angewandt, die nicht bereit
waren, dem zuzustimmen.
({6})
Lassen Sie mich jetzt noch auf einen weiteren Punkt
kommen, der eher mit Abrüstung zu tun hat. Mir tut, ehrlich gesagt, besonders weh, dass wir Indien nicht haben
darauf verpflichten können, seine Waffenarsenale zu kappen und sich den Abrüstungsbedingungen der Nuklearstaaten zu unterwerfen. Mir tut auch weh, dass - übrigens mit Zustimmung von Herrn al-Baradei, der dann
seine Bedingungen offensichtlich vergessen hat, ich
habe sie nie gehört, Frau Hoff - ein Safeguards-Abkommen geschlossen worden ist, das nicht der Interpretation
entspricht, die die USA uns gegeben haben, und das
überhaupt nicht den Kriterien des Hyde Act entspricht.
Vielmehr lässt es Indien, wenn es testet und dann möglicherweise mit Sanktionen belegt wird, sich von diesem
Safeguards-Abkommen zurückziehen.
({7})
- Ich halte sie für falsch. Das habe ich hier, an dieser
Stelle, aber schon öfter gesagt.
({8})
Wir können damit nicht so umgehen, wie es jetzt geschieht; vielmehr müssen wir den Tatsachen ins Auge
sehen und dann versuchen, nach vorne zu schauen.
Es gibt auch in dem Safeguards-Abkommen keine
Restriktionen, die einem Standardabkommen entsprechen. Indien hat mit diesem Abkommen nach meiner
Ansicht einen Freibrief bekommen. Ich denke, noch viel
schlimmer ist Folgendes: Selbst wenn die Amerikaner
jetzt auf ihren Hyde Act rekurrieren, können jetzt alle
anderen Lieferstaaten liefern.
({9})
Gerade heute, am 25. September, sitzen die Franzosen
in Neu-Delhi und arbeiten an diesem Abkommen. Das
heißt, auch die im Antrag enthaltene Forderung, etwas
auf dem europäischen Wege zustande zu bringen, ist illusorisch. Insofern ist das, was uns in der Tat als Option
bleibt, darauf zu bestehen, dass das, was der Außenminister Indiens angekündigt hat, eine Verpflichtung wird,
dass Indien sich also daran hält. Wir sollten eine große
Abrüstungsoffensive mit initiieren. Es ist nicht so, dass
das nicht in der Luft liegt. Im Moment gibt es eine ganze
Menge Initiativen, die vor allen Dingen von NGOs getragen werden. Sie finden ihren Durchschlag in einem
neuen Bewusstsein. Ich hoffe auf die amerikanische Regierung und darauf, dass der nächste Präsident weiser ist.
Ich wünsche mir natürlich, dass die Aussagen von
Obama umgesetzt werden können. Er hat sich verpflichtet, CTBT zu unterschreiben. Das würde die Abrüstung
international schon einmal ein Stück voranbringen.
({10})
Obama hat sich auch zu internationalen multilateralen
Abrüstungen bekannt.
({11})
Ich denke, diese Perspektive zeigt uns eine Aufgabe
auf
Frau Kollegin Zapf!
- ich bin fertig -, die wir mit Indien, mit den USA
und mit unseren europäischen Nachbarn zu erfüllen haben.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/10355 zur federführenden Beratung an
den Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sowie an den
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vor-
schläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bundesbericht zur Förderung des Wissenschaftlichen Nachwuchses
- Drucksache 16/8491 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Priska Hinz ({1}), Krista Sager,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wissenschaft als Beruf attraktiver machen Den wissenschaftlichen Nachwuchs besser unterstützen
- Drucksóache 16/9104 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für. Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Marion Seib,
CDU/CSU, Dieter Grasedieck, SPD, Uwe Barth, FDP,
Dr. Petra Sitte, Die Linke, Kai Gehring, Bündnis 90/
Die Grünen, und den Parlamentarischen Staatssekretär
Andreas Storm.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/8491 und 16/9104 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Katrin Kunert, Klaus Ernst, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Sozialticket für die Deutsche Bahn AG
- Drucksache 16/10264 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
1) Anlage 10
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Klaus Hofbauer,
CDU/CSU, Uwe Beckmeyer, SPD, Patrick Döring, FDP,
Katja Kipping, Die Linke, Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion spricht sich klar
für Mobilität aus.
Wir haben hierzu bereits viel auf den Weg gebracht,
auch zugunsten von bedürftigen Menschen, und wir arbeiten ständig an Verbesserungen für Mobilität sowohl in
den Ballungszentren als auch im ländlichen Raum. Insofern teile ich auch die Feststellung der Fraktion Die
Linke, dass Mobilität ein elementares Merkmal unserer
heutigen Gesellschaft ist. Aber! Ein derart pauschaler
und undifferenzierter Antrag, wie ihn Die Linke zum Sozialticket für die Deutsche Bahn AG stellt, hat mit überlegter, nachhaltiger und verantwortungsvoller Politik
nichts gemein. Verantwortungsvolle Politik setzt voraus,
dass man überlegt, was kann und will der Staat leisten
und was kann der Einzelne selbst tun. Wir müssen diejenigen Menschen unterstützen, die tatsächlich auf Hilfe
angewiesen sind. Und das tun wir auch!
Behinderte Menschen, die zweifellos auf Hilfe angewiesen sind, werden in Deutschland selbstverständlich
unterstützt. Sie sind wirklich bedürftig und vielfach nicht
in der Lage, Kosten für Mobilität selbst zu übernehmen.
Sie können daher bereits heute kostenlos den öffentlichen
Personenverkehr nutzen.
Fahrtkosten zu Bewerbungsgesprächen werden weitgehend erstattet, denn unser vorderstes Ziel ist es, Menschen in Arbeit zu bringen. Das ist Hilfe zur Selbsthilfe.
Die Menschen werden damit in die Lage versetzt, selbst
für sich zu sorgen, benötigen dann in den meisten Fällen
keine Hilfe mehr und können sich damit ein Bahnticket
ohne Unterstützung leisten.
Diejenigen Menschen, denen trotz Arbeit das Geld
fehlt, um mobil zu sein - Menschen im Niedriglohnbereich etwa, die auf ergänzende Hilfeleistungen nach
SGB II angewiesen sind -, werden auch nicht vergessen.
Die für ihre Mobilität notwendigen Kosten, zum Beispiel
für eine Monatskarte, finden bei Berechnung der ergänzenden Hilfeleistung Berücksichtigung.
Wie wenig durchdacht und undifferenziert die Forderungen der Linken in ihrem Antrag zum Sozialticket sind,
zeigt sich zudem daran, dass sie es pauschal für alle Empfänger von Leistungen nach SGB II, SGB XII sowie nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz fordert. Die Anzahl des
mit diesem Vorschlag ins Auge gefassten Personenkreises
liegt etwa bei 7 bis 8 Millionen Menschen.
In Kombination mit der gleichzeitig vorgeschlagenen
Erhöhung des Eckregelsatzes von derzeit 351 Euro auf
435 Euro kann ich dieser Partei nur attestieren, dass ihr
jeder Sinn für die Realität abhanden gekommen ist - soweit er überhaupt jemals vorhanden war. Eine Erhöhung
um fast 100 Euro ist nicht nur unfinanzierbar, sondern
hätte zur Folge, dass sich der Abstand zum Niedriglohnsektor minimiert und damit weit mehr Menschen in den
Kreis der ergänzenden Hilfeleistungen aufrücken würden
als heute. Vor dem Hintergrund der bereits erwähnten
Mobilitätsunterstützung, die diese Menschen schon heute
erhalten, käme es zu einer Doppelförderung - Berücksichtigung von Mobilitätskosten bei ergänzender Hilfeleistung plus das Sozialticket. Außerdem würde die Zahl
der Anspruchsberechtigten für das Sozialticket dann auf
etwa 14 Millionen Menschen steigen. Das hat nicht einmal mehr im Ansatz etwas mit Realität zu tun!
Die Kette der Punkte, die darlegen, wie wenig durchdacht der Antrag der Linken ist, lässt sich beliebig fortführen. So wird vorgeschlagen, dass der Bund über seine
Vertretung in den Aufsichtsgremien der Deutschen Bahn
auf deren Preisgestaltung einwirkt, damit diese die Bahncard 25 statt für 55 Euro für lediglich 5 Euro abgibt. Mir
war nicht klar, dass der Linken niemand gesagt hat, dass
die Bahn ein als Aktiengesellschaft organisiertes und eigenständig wirtschaftlich operierendes Unternehmen ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das ist
schon seit 1994 so! Der Bund kann auf die operative Geschäftsführung der Bahn schlichtweg keinen Einfluss
nehmen, auch nicht im Aufsichtsrat.
Überlegt hat sich Die Linke offenbar auch nicht, welche Konsequenz aus der Abgabe der Bahncard 25 zum
Preis von 5 Euro folgt - für den Fall, dass die Bahn diesen
Schritt geht. Wie bereits erwähnt beträgt die Anzahl der
Anspruchsberechtigten nach Vorstellung der Linken etwa
14 Millionen. Bei einem regulären Preis von 55 Euro pro
Bahncard müsste die Bahn also bereit sein, 14 Millionen
Menschen einen Preisnachlass von 50 Euro zu gewähren.
Da die Bahn ein wirtschaftlich denkendes Unternehmen
ist, wäre die sichere Folge eines solchen Entgegenkommens eine Fahrpreiserhöhung der ohnehin schon teuren
Fahrscheine für alle anderen Bahnkunden.
Vor zwei Wochen haben wir uns zu Recht bei der Bahn
dafür stark gemacht, dass der Bedienzuschlag nicht erhoben wird. Die Linke hatte dies ebenfalls gefordert. Und
heute macht sie Vorschläge, die die Bahn dazu zwingt,
ihre Fahrpreise zu erhöhen. Diese Logik erschließt sich
mir schlichtweg nicht. Ich möchte mich nochmals ausdrücklich zu der Notwendigkeit von Mobilität bekennen.
Sie gehört zu den vordringlichsten Aufgaben der Großen
Koalition.
Der Antrag der Fraktion Die Linke ist jedoch undifferenziert, nicht durchdacht und damit ungeeignet, nachhaltig für mehr Mobilität in Deutschland zu sorgen. Mit
diesem Antrag offenbart Die Linke einmal mehr, wie wenig sie in der Lage ist, Regierungsverantwortung zu übernehmen, und wie sehr ihre Vorschläge von reinem Populismus geprägt sind.
Wir wissen um die Debatten zur Einführung von Sozialtickets für den öffentlichen Personennahverkehr in
verschiedenen Städte Deutschlands. Diese sind nicht
ohne Probleme und haben zu völlig gegensätzlichen Entscheidungen geführt.
Unabhängig davon haben wir hier heute uns zu dem
vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke zu verhalten.
Für die SPD-Bundestagsfraktion möchte ich grundsätzlich feststellen, dass der Erhalt von Transferleistungen über private Unternehmen in Form von verbilligten
Produkten oder Leistungen generell intransparent ist und
damit zu großen Ungerechtigkeiten führen kann. Bezahlt
werden muss dies ohnehin durch den Steuerzahler, weil
der Staat bzw. die öffentlichen Hände Zuschüsse an die
entsprechenden Unternehmen zu leisten haben.
Wenn man den vorliegenden Antrag in seinem substanziellen Kern bewertet, muss man feststellen: Der Antrag
ist höchst problematisch, weil unsolidarisch und ungerecht.
Was ist zum Beispiel mit einer alleinerziehenden Mutter von zwei Kindern, die halbtags arbeitet und damit
zwar mehr als den Hartz-IV-Satz verdient, aber mit ihrem
Einkommen gerade über die Runden kommt. Was ist mit
dem Rentner, der 40 Jahre lang am Band gearbeitet hat,
aber heute nur eine bescheidende Rente bekommt? Auch
er wird nicht in den Genuss eines „Sozialtarifs“ kommen.
Die von Ihnen vorgenommene Beschränkung der Anspruchsberechtung grenzt viele Menschen aus. Jemand,
der nur über ein geringes Einkommen verfügt, das gerade
eben über dem Hartz IV-Satz liegt, wird nicht in den Genuss eines so genannten Sozialtickets kommen. Finden
Sie das fair?
Zugleich suggerieren die Antragsteller, dass die Deutsche Bahn AG eine Art VEB-Bahn sei, die willkürlich ihre
Preise senken kann. Tatsächlich würden für die Einführung eines „Sozialtickets“ jedoch die Steuerzahler zahlen: Der Rentner mit seinem geringen Einkommen, der
zweimal im Monat seine Enkel besuchen will, jedoch kein
„Sozialticket“ bekommt, müsste höhere Steuern zahlen
oder höhere Preise oder aber beides. Wo bleibt da die Solidarität?
Mit der Forderung der Fraktion Die Linke werden
willkürlich Grenzen gezogen, die fragwürdig sind. Das
bestätigt nur eines: Wenn die Fraktion Die Linke Gerechtigkeit erzwingen will, führt dies zu Ungerechtigkeit.
Wenn Die Linke Solidarität erzwingen will, führt dies zur
Entsolidarisierung.
Sie, meine Damen und Herren von der Fraktion Die
Linke, sind auf dem völlig falschen Dampfer. Ziel muss es
doch sein, möglichst viele Menschen in Arbeit zu bringen
und nicht, sie vom Sozialstaat abhängig zu machen. Ziel
muss es doch sein, als Arbeitnehmer ein Mindesteinkommen für gute Arbeit zu erzielen, ein Einkommen, mit dem
dieser sich und seine Familie ernähren kann, anstatt mit
ungerechten Sozialtarifen die Welt verbessern zu wollen.
Ihre Konzepte, meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, sind reines Flickwerk.
Niemals gab es in Deutschland so viele Beschäftigte
wie heute: Über 40 Millionen Erwerbstätige und rund
27,2 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftige
Zu Protokoll gegebene Reden
sprechen einen eindeutige Sprache. Sie sind das Ergebnis
unserer Politik.
Mit einer Arbeitslosenquote von 7,8 Prozent haben wir
im Mai 2008 erstmals seit November 1992 wieder die
8-Prozent-Marke unterschritten. Die Arbeitslosenquote
ist im August sogar auf 7,6 gefallen. Allein im vergangenen Jahr haben mehr als eine halbe Million Menschen
eine reguläre Beschäftigung gefunden.
Guter Lohn für gute Arbeit - das muss unser Ziel sein.
Denn nur gute Arbeit macht den Einzelnen zufrieden und
schafft sozialen Zusammenhalt und Wohlstand für alle.
Idealismus wächst mit dem Abstand zum Problem. Das
erleben wir wieder einmal im Zusammenhang mit dem
Antrag der Linken, den wir heute beraten. Damit fordert
sie, eine Bahncard 25 zu einem Normalpreis von 55 Euro
für die Empfänger sogenannter Hartz- IV-Leistungen für
5 Euro anzubieten. Um es auf den Punkt zu bringen; Das
ist sozialpolitischer Populismus und verkehrswirtschaftlicher Unsinn in einem. Mit dem vorliegenden Antrag soll
die DB AG verpflichtet werden, Leistungsempfängern sozusagen 50 Euro im Jahr zu schenken. Warum aber soll
ein privates Unternehmen das tun? Ein privates Unternehmen - das erkläre ich meinen Kollegen von der Linken
immer wieder gerne - möchte Leistungen anbieten und
damit Geld verdienen. Das soll so sein, das ist Marktwirtschaft. An den Konsequenzen der Wirtschaftsvorstellungen der Linken haben wir bis heute zu arbeiten und stehen
in diesem Zusammenhang immer noch, vor großen Herausforderungen.
Ebenso wenig wie wir Bäckereien, Getränkehändler,
Drogerien und Tankstellen zu Geschenken an bestimmte
Personengruppen verpflichten, werden wir das bei der
Deutschen Bahn tun. Denn auch wenn Sie’s vielleicht
nicht wahrhaben wollen, die Deutsche Bahn wird nach
und nach ein privates Unternehmen werden. Und das ist
richtig - oder wollen Sie die Organisationsprivatisierung
rückgängig machen und zurück zur Behördenbahn?
Die Probleme auf diesem Sektor, den Sie von der Linken weiter staatlich regulieren wollen, liegen an ganz anderer Stelle: Die Bahntickets sind insgesamt zu teuer und
der Service ist nicht gut genug. Da können Sie meinen,
das alles sei mit Überregulierung und Staatseinfluss zu
lösen. Doch ein Blick in die Geschichte der Bahn zeigt,
dass die Zeit der Deutschen Bundesbahn die schlechteste
und ineffizienteste der gesamten Bahngeschichte war.
Nicht umsonst waren die ersten Eisenbahnunternehmen
im 19. Jahrhundert keine Staatsbahnen, sondern Unternehmen. Dahin müssen wir zurück: Mehr Service und attraktivere Preise erreichen Sie nie, indem Sie sogenannte
Sozialtickets für eine Staatsbahn verteilen. Was wir brauchen, ist Wettbewerb auf der Schiene. Damit ist allen Bürgerinnen und Bürgern viel mehr geholfen als mit einer reduzierten Bahncard 25 für Empfänger von Hartz-IVLeistungen.
Abgesehen davon stellt sich die Frage der Erforderlichkeit: Bereits heute gibt es verschiedene günstige Reisemöglichkeiten, wenn man danach sucht. Das sind bei
der Deutschen Bahn die Sparpreise 25 und 50 und die
Dauerspecials. Aber auch die durch Mitfahrzentralen
vermittelten Fahrgelegenheiten machen Reisen innerhalb
Deutschlands günstiger. Was zunächst so nett klingt, entpuppt sich dann schnell als Forderung nach staatlichen
Lenkungsmaßnahmen im Leben der Leistungsempfängerinnen und -empfänger. Denn wer allein Bahnfahren subventionieren will, Radfahren, Autofahren oder andere
Fortbewegungsmöglichkeiten aber links liegen lässt, der
will im Rahmen der Transferleistungen das Verhalten der
Menschen bestimmen. Wir Liberale dagegen wollen die
Mindestbedingungen eines eigenverantwortlichen Lebens absichern, nicht weniger, aber - das sei an dieser
Stelle auch deutlich gesagt - nicht mehr. Denn der Vorrang eines selbst verdienten Lebensunterhalts verbietet,
eine staatliche Rundumversorgung für die Menschen zu
schaffen, deren Unterhalt von den Arbeitenden miterwirtschaftet wird. Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet.
Wenn wir schon über die Menschen sprechen, die am
Erwerbsleben teilnehmen, aber nur über ein kleines Einkommen verfügen oder über eine kleine Rente, obwohl sie
lange gearbeitet haben, dann muss ich Folgendes feststellen: Die Linke will mit diesem Antrag Transferleistungsempfänger besser stellen als Menschen mit einem
geringen Einkommen. Und das ist für mich weder sozialnoch gesellschaftspolitisch zu verantworten.
Daher stehen die Liberalen nach wie vor für eine andere Sozialpolitik: Wer die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so gestaltet, dass mehr Menschen Arbeit haben, der tut viel mehr für die ganze Bevölkerung als
derjenige, der auf Kosten anderer immer wieder Geschenke an bestimmte Gruppen verteilt.
Dieser Antrag ist ein erneuter Beweis dafür, dass Marx
und Murks nicht nur phonetisch, sondern auch inhaltlich
nah beieinander sind.
Dass Menschen ihre Verwandten und Freunde besuchen oder Urlaub machen und zu ihnen mit den öffentlichen Verkehrsmittel reisen können, ist das Normalste der
Welt. Nicht aber für Menschen, die vom Armuts- und Ausgrenzungsgesetz Hartz IV und analogen Grundsicherungsgesetzen betroffen sind.
Der Eckregelsatz der Grundsicherungen enthält nur
11,04 Euro pro Monat für Mobilität mit öffentlichen Verkehrsmitteln sowie 2,99 Euro für Reisen. Ein Einzelfahrschein im innerstädtischen öffentlichen Nahverkehr liegt
je nach Region bereits zwischen 1,20 und 2,20 Euro. Die
Preise für Monatskarten oder für den Fernverkehr übersteigen diesen Betrag um ein Vielfaches. Deshalb und
weil es immer mehr bedürftige Menschen gibt, bilden sich
in immer mehr Städten und Kommunen Bündnisse, die für
die Einführung von ermäßigten oder kostenfreien Sozialtickets für den lokalen oder regionalen öffentlichen Nahverkehr eintreten. Diese konnten in einigen Städten und
Regionen bereits ein Sozialticket durchsetzen, so etwa in
Berlin, in Dortmund oder in Köln. In vielen Orten stehen
soziale Bündnisse in Verhandlungen mit der örtlichen
Verwaltung und Verkehrsunternehmen oder arbeiten an
Zu Protokoll gegebene Reden
Volksbegehren zur Durchsetzung eines Sozialtickets.
Diese Bemühungen sind zu unterstützen.
Ihnen stehen auf der Ebene des überregionalen öffentlichen Fernverkehrs keine vergleichbaren Möglichkeiten
oder Initiativen gegenüber, obwohl dies angesichts der
Kosten für Fahrten mit der Deutschen Bahn AG dringend
notwendig wäre. Die Einführung eines Sozialtickets für
die Deutsche Bahn AG würde dieses Defizit beseitigen.
Das Sozialticket für die Deutsche Bahn AG soll einer
Bahncard 25 entsprechen, die Anspruchsberechtigte zum
Preis von 5 Euro erhalten. Anspruchsberechtigt sind Leistungsbeziehende nach dem SGB II, dem SGB XII und dem
Asylbewerberleistungsgesetz sowie deren Angehörige.
Aus Gründen der Praktikabilität kann ein solches Sozialticket ganz einfach in das bestehende Preis- und Ermäßigungssystem der Deutschen Bahn AG eingepasst werden:
Menschen, die über ihren Transferleistungsbescheid bzw.
den ihrer Bedarfsgemeinschaft ihre Berechtigung für ein
Sozialticket für den Bahnfernverkehr nachweisen können,
erhalten an den DB-Verkaufsstellen eine Bahncard 25
zum Preis von 5 Euro. Diese ermöglicht in Kombination
mit den sogenannten Sparpreisen eine Ermäßigung von
bis zu 62,5 Prozent. Mit einer Bahncard 50 wären hingegen nur maximal 50 Prozent Ermäßigung möglich. Damit
wird dem Interesse des Unternehmens an einfacher
Handhabbarkeit ebenso Rechnung getragen wie dem Interesse von Hilfebedürftigen an möglichst hohen Ermäßigungen und an einem unbürokratischen, nicht stigmatisierenden Verfahren. Und damit wird zumindest ein
kleiner Schritt unternommen, um Menschen eine Minimalteilhabe an der Gesellschaft zu gewähren sowie
grundlegende Bedürfnisse nach familialen und sozialen
Kontakten zu befriedigen. Ein kleiner Schritt, der uns
aber nicht der Notwendigkeit einer sofortigen Anhebung
der Regelsätze auf 435 Euro und der weiteren Einführung
einer repressionsfreien sozialen Grundsicherung enthebt.
Der vorliegende Antrag der Linken enthält im Titel ein
semantisches Missverständnis. Offensichtlich geht es
nicht darum, der Bahn ein Sozialticket auszustellen, sondern um Sozialtickets für Bezieher von ALG II bei der
Deutschen Bahn.
Zunächst stelle ich fest, dass die im Regelsatz für Mobilität vorgesehenen Anteile viel zu niedrig sind. Für
2,99 Euro im Monat kann man nicht verreisen, egal mit
welchem Verkehrsmittel. Es ist daher unser vordringliches Ziel, den Regelsatz für Bezieher von ALG II auf
420 Euro anzuheben. Das muss vorrangiges Ziel vor der
Schaffung einzelner Vergünstigungen sein.
Der Vorschlag, dass die Deutsche Bahn AG eine auf
5 Euro rabattierte Bahncard 25 für die Bezieher von
ALG-II-Leistungen anbieten soll, ist aus unserer Sicht
dennoch prüfenswert. Da die Bahncard 25 mit dem
Sparpreis 25 und dem Sparpreis 50 kombiniert werden
kann, kann bei rechtzeitiger Buchung und Zugbindung
ein Rabatt von 62,5 Prozent auf den Normalpreis erzielt
werden. Fahren mehrere Personen mit einer Bahncard 25
zusammen, sinkt der Einzelpreis durch den Mitfahrerrabatt noch weiter. Auf vielen Strecken werden damit sogar vermeintliche Preisbrecher wie das 29-Euro-Ticket
der Deutschen Bahn unterboten.
Allerdings wird die Deutsche Bahn AG für die Einführung eines Sozialtickets einen finanziellen Ausgleich verlangen, wie es bei Sozialtickets im Nahverkehr gesetzlich
auch geregelt ist. Geht man beispielsweise davon aus,
dass eine Million Menschen von diesem Angebot Gebrauch macht und die Differenz zwischen 58 Euro Normalpreis und 5 Euro Sozialticketpreis erstattet werden
muss, ergibt sich eine jährliche Summe von 53 Millionen
Euro.
Angesichts der Tatsache, dass die Deutsche Bahn AG
aus dem Bundeshaushalt mittel- oder unmittelbar jährlich rund 9 Milliarden Euro erhält, dürfte diese Summe
durch Umschichtungen aus diesen Mitteln gegenfinanzierbar sein. Man muss aber auch klar sagen, dass eine
solche Maßnahme Geld kostet, die dann an anderer Stelle
fehlt.
Es ist zudem falsch, sich nur auf das eine Unternehmen
Deutsche Bahn AG zu fixieren. Es gibt bereits heute andere Fernverkehrsanbieter auf der Schiene, und es gibt
andere Möglichkeiten, in Deutschland zu reisen.
Hier beginnen auch die Probleme mit dem Vorschlag
der Linken: Sollen Fernlinienbusse auch verpflichtet
werden, Sozialtickets anzubieten? Was ist mit den anderen Bahnen, die im Fernverkehr fahren. Sollen diese
ebenfalls verpflichtet werden, Sozialtickets einzuführen?
Was ist mit den Mitfahrzentralen?
Eine gesetzliche Regelung für Sozialtickets müsste alle
Fernverkehrsanbieter umfassen. Alternativ könnte der
Eigentümer, vertreten durch den Verkehrsminister, die
Deutsche Bahn AG auffordern, ein Sozialticket einzuführen. Schließlich hat die Politik ja auch massiv Einfluss
darauf genommen, dass der Bedienzuschlag von der
Deutschen Bahn AG zurückgenommen wurde.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/10264 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU, der SPD,
der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen wünschen
Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke, Federführung beim Ausschuss für
Arbeit und Soziales, abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit der
Mehrheit der Stimmen des Hauses abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen, Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der ÜberweiVizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
sungsvorschlag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke mit der Mehrheit des Hauses angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationales Reformprogramm Deutschland
2008 bis 2010
Umsetzungs- und Fortschrittsbericht 2008
- Drucksache 16/10250 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Doris Barnett,
SPD, Rainer Brüderle, FDP, Dr. Herbert Schui, Die
Linke, Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, und
die Parlamentarischen Staatssekretärin Dagmar Wöhrl.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/10250 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Diskriminierende Altersgrenzen im Bereich
des bürgerschaftlichen Engagements aufheben
- Drucksache 16/9630 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Rechtsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Markus Grübel,
CDU/CSU, Angelika Graf ({2}) und Sönke Rix,
SPD, Sibylle Laurischk, FDP, Elke Reinke, Die Linke,
und Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9630 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
1) Anlage 11
2) Anlage 12
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Energieeinsparungsgesetzes
- Drucksachen 16/10290, 16/10331 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Volkmar Uwe
Vogel, CDU/CSU, Rainer Fornahl, SPD, Joachim
Günther ({4}), FDP, Hans-Kurt Hill, Die Linke, Peter
Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen und die Parlamentari-
sche Staatssekretärin Karin Roth.3)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf den Drucksachen 16/10290 und 16/10331 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Gudrun Kopp, Martin Zeil, Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung wettbewerblicher Strukturen im Markt
für Postdienstleistungen ({5})
- Drucksache 16/8906 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Martin Zeil, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wettbewerbsintensität im Binnenmarkt für
Postdienstleistungen erhöhen
- Drucksache 16/8773 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Alexander Dobrindt,
CDU/CSU, Klaus Barthel, SPD, Gudrun Kopp, FDP,
Sabine Zimmermann, Die Linke, und Kerstin Andreae,
Bündnis 90/Die Grünen.
3) Anlage 13
Vor uns liegt ein wahres Sammelsurium von unterschiedlichsten Gesetzesänderungen, die sich auf den
Postbereich beziehen. Die FDP denkt, damit den Märkten
für Postdienstleistungen neue Impulse zu geben. Die FDP
fordert mehr Wettbewerb. Das wollen wir auch. Aber
mehr Wettbewerb führt nicht immer automatisch zu mehr
Beschäftigung, wie wir es begrüßen würden.
Darüber hinaus will die FDP eine steuerliche Gleichbehandlung aller Anbieter im lizenzierten Bereich durch
eine Einführung der Umsatzsteuerpflicht für die Deutsche Post AG. Die steuerliche Gleichbehandlung findet
meine Zustimmung, nur die Art der Umsetzung ist sicherlich streitbar. Hier ist die Bundesregierung auch schon
aktiv geworden. Erst gestern hat das Bundeskabinett einen Entschluss zur Mehrwertsteuerfrage bei Postdienstleistungen gefasst. Die Deutsche Post AG wird damit ihr
Steuerprivileg im Geschäft mit Großkunden verlieren.
Das ist ein weiterer richtiger Schritt für faire Wettbewerbsbedingungen im Postmarkt. Für vollkommen richtig halte ich, Postsendungen im privaten Bereich weiterhin von der Mehrwertsteuer zu befreien. Somit haben
Privatleute keine Preiserhöhungen aufgrund der Liberalisierung zu fürchten.
Ein Punkt des gestrigen Beschlusses ist genauso wichtig: Wettbewerber erhalten zukünftig auch die Steuerbefreiung, wenn sie ebenfalls in ganz Deutschland flächendeckend Briefe zustellen und Briefe annehmen. Insgesamt
halte ich dies für einen guten Weg bei der Frage der
Mehrwertsteuergleichbehandlung. Auch die alternativen
Postdienstleister begrüßen insoweit diesen Vorschlag.
Der Universaldienst wird sich für die Menschen nicht
verteuern und die Wettbewerbsbedingungen werden sich
weiter verbessern.
Beim Lesen Ihrer zahlreichen Gesetzesänderungen für
den deutschen Markt der Postdienstleistungen ist mir eins
klar ins Auge gesprungen: Dies alles sind Vorschläge,
welche die Entwicklung des Postmarktes in Deutschland
nicht im Geringsten berücksichtigen. Mit der Postreform I aus dem Jahre 1989 und der Postreform II anno
1994 haben wir die Weichen für die Umwandlung der
Deutschen Bundespost und damit für die Privatisierung
eines ehemaligen Staatsmonopolisten gestellt. Das Leitmotiv der Postreformen war: Wettbewerb als die Regel,
staatliches Monopol als die zu begründende Ausnahme.
Im Jahre 2000 folgte dann der Börsengang der Deutschen Post AG.
Doch den größten Umbruch haben wir zum Anfang
dieses Jahres geschafft: mit der vollständigen Liberalisierung des deutschen Postmarktes und dem kompletten
Wegfall des Monopols, also der gesetzlichen Exklusivlizenz der DPAG. Das Datum 1. Januar 2008 ist der Meilenstein für mehr Wettbewerb im Postmarkt. Nichtsdestotrotz liegt dieser Meilenstein gerade einmal neun Monate
zurück. Jetzt muss sich dieser neu und vollständig geöffnete Markt erst einmal etablieren und festigen.
Bei allem gilt, wenigstens drei wesentliche Punkte zu
bedenken:
Erstens. Der Entwicklung von einem ehemaligen
staatlichen Monopolbereich zu einem vollständig privatisierten Markt müssen wir bei unserer Postpolitik Rechnung tragen. Dies bedeutet beispielsweise: Es gibt immer
noch circa 27 000 Briefträger im Beamtenstatus bei der
Deutschen Post AG. Der letzte Postbeamte wird voraussichtlich im Jahr 2040 in Pension gehen. Bis dahin wird
die DPAG die Verbindlichkeiten, die aus dem Beamtenstatus resultieren, schultern müssen.
Zweitens. Wir müssen bei unserer Postpolitik bedenken: Deutschland ist in Europa einer der Vorreiter bei der
Öffnung seines Postmarktes für in- und ausländische
Wettbewerber. Viele andere EU-Staaten werden erst einige Jahre später ihre Märkte für den freien Wettbewerb
öffnen. Ein freier Postmarkt kann aus meiner Sicht nur
dann besser sein, wenn es ein europäisch funktionierender Markt ist. Wir erleben auch Märkte, bei denen wir
große Hoffnungen hatten und wo inzwischen Bedenken
eingetreten sind. Ich erinnere an den Strommarkt.
Drittens. Schließlich müssen wir auch in Zeiten der Digitalisierung - in Zeiten der elektronischen Post - die
Entwicklungen auf dem Postmarkt bedenken und berücksichtigen. Die Zahl der Paketsendungen steigt bisher
jährlich. Hier haben sich auch schon viele Wettbewerber
der Deutschen Post AG erfolgreich am Markt etabliert
und behauptet. Das ist eine ausdrücklich positive Entwicklung. Dagegen bleibt die Zahl der Briefsendungen
seit vielen Jahren konstant. Hier ist kein Wachstum zu
verzeichnen. Dieser Teilmarkt stagniert.
Wollen wir den Übergang von einem ehemals staatlichen Monopol zu einem freien Wettbewerb positiv begleiten, so müssen wir die richtigen Rahmenbedingungen setzen. Es geht dabei um die Rahmenbedingungen für die
Kunden, die Rahmenbedingungen für die betroffenen Unternehmen und um die Rahmenbedingungen für die betroffenen Arbeitnehmer. Wir dürfen nicht vergessen: In
diesem Bereich der Postdienstleistungen sind in Deutschland mehr als 200 000 Menschen beschäftigt. Deswegen
dürfen wir nicht nur von Märkten und mehr Wettbewerb
reden; wir sollten vor allem auch über die Menschen und
deren berufliche Perspektiven nachdenken. Wir müssen
die flächendeckende Versorgung der Menschen mit einfachen Postdienstleistungen gewähren und sicherstellen.
Dabei sind günstige Preise wichtig, genauso die Nähe
zum Kunden und eine gute Qualität der Dienstleistung.
Besonders die flächendeckende Versorgung mit Briefdienstleistungen im ländlichen Raum muss an dieser
Stelle ein besonderes Gewicht haben. Ich befürchte, bei
einem Wettbewerb, wie die FDP ihn beschreibt, bleiben
die Bedürfnisse dieser Menschen in den ländlichen Regionen auf der Strecke. Es reicht mir nicht, zu wissen,
dass theoretisch eine Postfiliale in allen Regionen
Deutschlands möglich ist. Unsere Aufgabe muss es sein,
sicherzustellen, dass die Menschen überall ihre Briefe
und Pakete - ohne Tageswanderung - an jedem Werktag
verschicken und erhalten können.
Den Übergang von einem ehemals staatlichen Monopol zu einem freien Wettbewerb positiv begleiten, bedeutet für mich daher, einen geregelten Übergang zu schaffen, und zwar unter Berücksichtigung der Interessen der
Kunden und der Beschäftigten der bisherigen Monopolbranche und ebenso unter Berücksichtigung der berechZu Protokoll gegebene Reden
tigten Interessen der neuen Marktteilnehmer. Ganz
gewiss werden wir daher die Post-Universaldienstleistungsverordnung an die neuen Marktbedingungen anpassen müssen, um für alle Marktteilnehmer die Chance zum
Erbringen des Universaldienstes zu stärken. Und sicher
werden wir zügig auch eine Lösung in der Frage der gleichen Umsatzsteuerbehandlung aller Postdienstleistungsunternehmen angehen. Wichtig ist: Wir arbeiten daran
und sind dabei auf einem guten Weg. Und ja, wir wollen
den Wettbewerb im Postmarkt; aber wir setzen uns für einen Wettbewerb innerhalb der sozialen Marktwirtschaft
ein.
Wir sind der FDP sehr dankbar, dass sie in Form der
vorgelegten Anträge immer wieder daran erinnert, welche verbraucherfeindliche und arbeitsplatzvernichtende
Politik sie auch im Postbereich verkörpert. Dabei geht es
gebetsmühlenartig immer wieder um drei Bereiche: die
Mehrwertsteuer, den Mindestlohn und den Universaldienst. Mit der Mehrwertsteuer will sie alle belasten, den
Mindestlohn will sie wieder abschaffen und den Universaldienst will sie zerstören.
Zunächst zur Mehrwertsteuer: Wie allgemein bekannt
ist, wird der Europäische Gerichtshof - voraussichtlich
noch in diesem Jahr - sein Urteil zum Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission fällen,
das sich auch gegen Deutschland richtet. Dabei geht es
um die Frage, inwieweit die im europäischen Recht ausdrücklich vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung für öffentliche Postdienstleistungen unter den Bedingungen
der bevorstehenden völligen Marktöffnung noch geboten
und möglich ist. Meine Fraktion und ich können nur raten, dieses Urteil abzuwarten. Deshalb wollen wir auch
die Beratungen über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu diesem Thema erst nach einem solchen Urteil abschließen.
Unsere inhaltliche Position dazu ist unverändert: Wir
wollen die Pflichtleistungen derjenigen Postdienstleister,
die die Gesamtpalette eines gesetzlich definierten Universaldienstes erbringen, im Interesse der Kunden von
der Mehrwertsteuer frei halten. Es ist und bleibt ein Unterschied, ob ein oder mehrere Unternehmen das flächendeckende Postangebot, wie es nach dem Grundgesetz der
Bund zu gewährleisten hat, erbringen oder ob sich Unternehmen auf bestimmte ertragreiche Marktsegmente oder
Regionen konzentrieren.
Einmal mehr entpuppt sich die FDP als Steuererhöhungspartei. Sie will Postdienste für die Kleinverbraucher um die Mehrwertsteuer, also 19 Prozent, erhöhen
und explizit sogar einen ermäßigten Steuersatz ausschließen.
Da passt es in die ganze Logik nahtlos hinein, dass der
FDP-Antrag unter der Überschrift „wettbewerbliche
Strukturen“ die Axt an den Universaldienst selbst legen
will. Sie will mindestens folgende Leistungen aus dem
Pflichtangebot streichen:
- Briefe zwischen 50 und 2 000 Gramm,
- Pakete zwischen 10 und 20 Kilogramm,
- mindestens 4 000 Filialen durch Streichung der Mindestzahl von 12 000 Filialen,
- alle Briefsendungen in einer Zahl von über 50 Stück,
- die Laufzeit und Qualität der Briefdienstleistung sowie
die werktägliche Zustellung,
- Eilzustellung,
- Nachnahme.
Was dann noch vom Universaldienst übrig bleibt, mag
sich jeder selbst ausmalen. Auf jeden Fall würde der
Großteil dessen, was heute Postdienste ausmacht, nicht
mehr allen Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung stehen. Als Beispiel will ich den Verein oder den mittelständischen Betrieb nennen, die Einladungen oder Rechnungen mit einer Zahl von mehr als 50 Stück versenden
wollen. Die bisherigen Erfahrungen machen wenig Hoffnung, dass der Markt aus sich heraus all diese Leistungen
erbringen würde - schon gleich gar nicht zu akzeptablen
Bedingungen. Die Koalition ist sich einig, zwar die einzelnen Pflichtleistungen der jetzigen PUDLV zu überprüfen, insgesamt aber das derzeitige Leistungsniveau inklusive der Selbstverpflichtung der Deutschen Post zu
erhalten und zu präzisieren. Woher die FDP ihre Erkenntnisse über einen diesbezüglichen anders lautenden
„Gesetzentwurf“ bezieht, bleibt eines der vielen Postgeheimnisse. Die FDP ist also bereit, die Interessen der
Kundinnen und Kunden sowie des ländlichen Raumes auf
dem Altar ihrer pervertierten Wettbewerbsideologie zu
opfern.
Die Krönung dieser Ideologie lesen wir jedoch im Kapitel über die sozialen Aspekte des Postmarktes.
Dort lesen wir:
Die Berücksichtigung sozialer Belange als Ziel der
Regulierung … widerspricht dem wettbewerblichen
Charakter der Regulierung ehemals staatseigener
Netzindustrien … Die Sozialklausel …, welche die
Erteilung einer Lizenz an die Arbeitsbedingungen
… knüpft, ist ein Fremdkörper … Die Einführung
eines Mindestlohns für den Briefbereich verhindert
die Entfaltung eines funktionsfähigen Wettbewerbs
…
Einmal mehr können wir schwarz auf weiß lesen, dass
die FDP die Existenzsicherung von Arbeitnehmerinnen
und -nehmern nicht im Einklang mit dem Wettbewerb
sieht, sondern als Störfaktoren. Wir stellen den Menschen
in den Mittelpunkt und nicht ein längst widerlegtes Systemmodell.
Sie können sicher sein: Die SPD wird nicht locker lassen in ihrem Kampf für flächendeckende Mindestlöhne.
Gerade im Postbereich haben wir gesehen, was sich an
Dumping von Arbeitsbedingungen in jeder Hinsicht entwickelt hat. Einmal mehr halten wir fest, dass die Behauptung, durch Mindestlöhne würden Arbeitsplätze vernichtet, durch nichts belegt ist. Der Hinweis auf die Pleite
der PIN AG, der dann vonseiten der FDP und der Mindestlohngegner immer wieder kommt, ist schlichtweg
peinlich.
Zu Protokoll gegebene Reden
Inzwischen konnte sich jeder davon überzeugen, dass
die PIN AG an ihrem eigenen fehlenden Geschäftsmodell,
an ihrer chaotischen Struktur, an ihrer mangelnden Leistungsqualität, an Managementversagen und ihrem Großaktionär gescheitert ist - längst bevor ein Mindestlohn in
Kraft trat.
Alles in allem freue ich mich darauf, diese Anträge der
FDP ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Das wird uns
Gelegenheit geben, einmal mehr die erfolgreiche sozialdemokratische Linie in der Postpolitik aufzuzeigen: Bezahlbare Leistungsqualität für alle erhalten und verbessern, Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen sichern und
ausbauen. Darüber hinaus ist es überfällig, wenn wir
schon über eine Novellierung des Postgesetzes sprechen,
die derzeitige Regulierungsdichte und -tiefe zu überprüfen. Der Universaldienst einschließlich seiner Finanzierung, die Zuverlässigkeit der Anbieter, der Daten- und
Verbraucherschutz und der Schutz vor Marktmachtmissbrauch sowie faire Wettbewerbsbedingungen - auch im
europäischen Kontext - könnten durch schlanke Regulierung gesichert werden. Mit Recht wirft zum Beispiel das
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ({0}) die
Frage auf, weshalb wir in Deutschland ein Regulierungsregime im Postsektor aufgebaut haben, das dem der Telekommunikations- und der Energiebranche an Komplexität in fast nichts nachsteht.
Mit Recht wird dort festgestellt, dass ein postalisches
Netz materiell und ökonomisch nicht mit den physikalischen Netzen der anderen Bereiche vergleichbar ist. So
fehlten hohe Marktzutrittsbarrieren oder „Bottlenecks“,
also schwer überwindbare Monopolstrukturen. Deshalb
sei auf Netzzugangs- und Entgeltregulierung weitgehend
zu verzichten.
Hier, meine Damen und Herren von der FDP, wäre
eine Überprüfung der Notwendigkeit und Angemessenheit von Regulierung aller Mühen echter Liberaler wert.
Sonst rufen Sie ständig nach Deregulierung und Bürokratieabbau. Bei der Post hingegen kann die FDP gar nicht
genug regulieren, wie die beiden heute vorliegenden Anträge erneut beweisen.
Ich hoffe jedenfalls, dass wir die Gelegenheit auch nutzen, jenseits der Einzelfragen und Einzelinteressen die
Gesamtkonzeption der Postpolitik wieder in den Mittelpunkt zu rücken.
Die gegenwärtige Finanzmarktkrise hat, zumindest
hinsichtlich ihrer Konsequenzen in Deutschland, deutlich
gezeigt, wohin es führt, wenn Staatsbanker mit politischer
Unterstützung agieren können. Eine Staatsbank nach der
anderen hat sich verspekuliert und den Steuerzahler auf
den Verlusten sitzen lassen. Das Gleiche erleben wir in
milderer Form seit Jahren auf dem Postmarkt. Auch hier
wird ein Monopolunternehmen, das noch immer zu
30 Prozent in Staatsbesitz ist, von der Bundesregierung
an allen Ecken und Kanten gepäppelt und privilegiert.
Die Leidtragenden sind einmal mehr die deutschen Steuerzahler und Postkunden, die die Steuergeschenke für die
Deutsche Post AG finanzieren dürfen und obendrein noch
auf die Früchte des Wettbewerbs im Postwesen verzichten
müssen, also auch hier wieder höhere Preise als notwendig zahlen.
Dies belegt, dass Union und SPD die Interessen eines
halbstaatlichen Großkonzerns, dessen Spitzenbelegschaft
lieber in Liechtenstein als in Deutschland versteuert, höher achten als die Interessen der anderen 80 Millionen
Bundesbürger. Gerade als der Kunde hoffen konnte, endlich einen Wettbewerbsmarkt für Post- und Zustelldienste
genießen zu können, mit dem Fall der Exklusivlizenz für
die Briefbeförderung zum 1. Januar 2008, fiel den Lobbyisten in der Konzernzentrale der Deutschen Post AG wieder ein neuer Kniff ein, um ihr Unternehmen vor dem bösen Wettbewerb zu schützen. Der Post-Mindestlohn war
geboren, und Union und SPD ließen sich von den angeblichen Gutmenschen mehr als nur bereitwillig vor ihren
Monopolkarren spannen. Im Ergebnis kann die Deutsche
Post AG zufrieden sein. Mit einem Postmindestlohn nahe
zehn Euro und einer Umsatzsteuerbefreiung wird der
raue Wind des Wettbewerbs zum milden Lüftchen.
Dieses Manöver mag sich bei den Parteispenden für
Union und SPD auszahlen, den Bürgern in Deutschland
bleibt damit versagt, was längst selbstverständlich sein
sollte: nämlich die Wahl zwischen verschiedenen günstigeren Angeboten und innovativen Lösungen.
Damit muss endlich Schluss sein. Die FDP hat deshalb
heute ein Gesetz in den deutschen Bundestag eingebracht, mit dem die wesentlichen Wettbewerbshemmnisse
auf dem deutschen Postmarkt endlich zu beseitigen wären.
So wäre es wesentlich, dass zum Beispiel das Postgesetz deutlich entschlackt und auf seinen Ursprungszweck,
nämlich die Rahmensetzung für einen wettbewerblichen
Postmarkt, zurückgeführt wird. Wir brauchen keine Sozialklausel und auch keinen Regulierer, der sich um die Arbeitsbedingungen in Monopolbereichen kümmert. Dies
kann der Gesetzgeber an anderer Stelle regeln, und zwar
branchen- und sektorenübergreifend. Die Bundesnetzagentur sollte sich dagegen auf die Herstellung wettbewerblicher Rahmenbedingungen konzentrieren. Ich
denke, die Debatte über die Lohnstrukturen bei den Postwettbewerbern hat sogar den Mindestlohnbefürwortern
gezeigt, dass die Bundesnetzagentur hier nicht der richtige Ansprechpartner ist.
In gleicher Weise müssen wir auch die Post-Universaldienstleistungsverordnung PUDLV, endlich von überflüssigem Ballast befreien. Nicht nur die Monopolkommission hat zu Recht darauf hingewiesen, dass zu detaillierte
Vorschriften hier Innovation und Strukturwandel behindern.
Entscheidend für den Wettbewerb auf dem Postmarkt
sind jedoch insbesondere die Frage des Postmindestlohns
und der Umsatzsteuerbefreiung der Deutschen Post AG.
Es kann überhaupt keinen Zweifel geben, dass der von
der Bundesregierung zu verantwortende Mindestlohn für
den Postsektor zu einer umfassenden Marktbereinigung
zugunsten des Ex-Monopolisten geführt hat. Sie, meine
Herren und Damen von den Regierungsfraktionen, tragen die Verantwortung dafür, dass die Liberalisierung im
Keim erstickt wurde und wenigstens 6 000 Menschen ihre
Zu Protokoll gegebene Reden
Arbeit verloren haben. Vorfahrt für Arbeit sieht anders
aus, Frau Bundeskanzlerin!
Aber es geht ja auch noch weiter. Der renommierte
Wettbewerbsrechtler Wernhard Möschel bezeichnet den
Postmindestlohn als einen verbotenen und nichtigen Kartellvertrag, der gegen deutsches und europäisches Kartellrecht verstößt, und fordert das Bundeskartellamt zum
Handeln auf. Darüber hinaus sieht er die Bundesregierung hier sogar in der Regresspflicht. Das würde dann
wirklich dem Fass den Boden ausschlagen. Erst durch einen Rechtsbruch ein Monopol zementieren und dann auf
Steuerzahlers Kosten den Schaden reparieren. Hier kann
es für den Augenblick jetzt nur eine Handlungsoption geben: Der Postmindestlohn gehört ersatzlos gestrichen,
und zwar am besten gestern.
Der zweite wichtige Punkt betrifft die Frage der Umsatzsteuerbefreiung der Deutschen Post AG. Hier bahnt
sich mit der Kabinettsentscheidung von gestern die
nächste skandalöse Weichenstellung durch die Bundesregierung an. Ausgerechnet der angebliche Sparminister
Peer Steinbrück möchte freiwillig auf rund 500 Millionen
Euro an Einnahmen pro Jahr verzichten, um de facto an
der Umsatzsteuerprivilegierung der Deutschen Post AG
festzuhalten. Es ist doch völlig klar, dass auf lange Sicht
kein anderes Unternehmen in der Lage sein wird, die Anforderungen für die Erbringung von Universaldienstleistungen zu erfüllen. Vollends absurd wird es dann aber,
wenn künftig neben der Bundesnetzagentur nun auch
noch das Bundeszentralamt für Steuern postwettbewerbliche Prüfungen vornehmen soll. Im Übrigen darf nicht
unterschlagen werden, dass die Deutsche Post AG durch
die Aufhebung der Umsatzsteuerbefreiung im Gewerbekundenbereich bei den vorsteuerabzugsberechtigten
Kunden nunmehr sogar Wettbewerbsvorteile gegenüber
dem Status quo gewinnt.
Es bleibt deshalb dabei, die einfachste Lösung wäre
eine Umsatzsteuerpflicht für alle Unternehmen, davon
hätte dann auch der Bundeshaushalt etwas.
Unter dem Strich kann ich nur an alle Beteiligten appellieren, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Der
Wettbewerb muss endlich Einzug halten, die Monopole
sind zu schleifen. Dies ist im Interesse aller Bürger und
Steuerzahler, wenn auch vielleicht nicht im Sinne der Monopolisten. Denen sind wir als Abgeordnete aber auch
nicht verpflichtet.
„Für mehr Billigjobs und eine schlechtere Versorgung
der Verbraucher“ - das wäre eine ehrliche Überschrift
der FDP-Anträge gewesen, die heute beraten werden.
Denn was verbirgt sich hinter ihrer Forderung nach mehr
Wettbewerb? Die FDP will keine feste Anzahl von Briefkästen mehr garantieren und sie will den Post-Mindestlohn beseitigen, um nur zwei Punkte zu nennen. Von der
FDP ist man so etwas gewöhnt.
Tragisch ist nur, dass die Bundesregierung dazu keine
wirkliche Alternative bietet. Sicher, wir haben seit diesem
Jahr in Deutschland im Briefdienst einen Mindestlohn.
Dieser war nötig. Schließlich hat die Politik der Regierungen Merkel und Schröder zu der Ausbreitung von Billiglöhnen im Briefdienst beigetragen.
Union und SPD tönen, der Briefmarkt müsse liberalisiert werden, wir brauchten hier mehr Wettbewerb, wohlwissend, dass im Briefgeschäft die Personalkosten einen
Großteil der Unternehmensausgaben ausmachen und
deswegen der Wettbewerb über die niedrigsten Löhne
ausgetragen wird.
Die Bilanz der Privatisierung der Post und der Liberalisierung des Postmarktes in Deutschland ist katastrophal: 140 000 Arbeitsplätze hat bisher die Privatisierung
der Post vernichtet - oftmals Vollzeitarbeitsplätze mit ordentlichen Einkommen, die nun durch Billigjobs ersetzt
werden. Die Deutsche Post will in diesem Jahr alle ihre
Filialen schließen und zieht sich mit einem kompetenten
und qualifizierten Service aus der Fläche zurück. Die
Preise der Briefbeförderung für den Normalverbraucher
haben sich seit 2005 erhöht. Für Großkunden hat die Post
dagegen Rabatte angekündigt.
Aus dieser katastrophalen Bilanz der Privatisierung
hat die Bundesregierung jedoch keine Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil: Sie hat den Briefmarkt in Deutschland 2008 nun völlig für den Wettbewerb geöffnet. Sie arbeitet gegenwärtig daran, die Grundversorgung zu
verschlechtern.
Zugleich ist die Deutsche Post ein Global Player auf
dem Weltmarkt. Mit ihrem Abenteuer in den USA hat sie
in den letzten Jahren mehrere Milliarden Euro Verlust gemacht. Angesichts dieser Ergebnisse ist ein Kurswechsel
dringend nötig. Die Linke wird hier die Bundesregierung
unter Druck setzen. Schließlich zeigen die Nachbarländer
Deutschlands, dass es auch anders geht.
Die Niederlande haben die angekündigte vollständige
Marktöffnung zurückgezogen. In Frankreich zwangen
massive Proteste der Gewerkschaften den französischen
Präsidenten Sarkozy, seine Privatisierungspläne für die
Post auf Eis zu legen. Dort wird nun eine Volksabstimmung zur geplanten Börseneinführung der Post gefordert.
Wir sollten uns in Deutschland daran ein Beispiel nehmen. Der Postdienst ist nicht dafür da, Profite zu machen,
sondern dafür, die Bürgerinnen und Bürger ordentlich mit
Briefdienstleistungen zu versorgen. Dafür steht die Linke.
Die FDP fordert in ihrem Gesetzentwurf eine Stärkung
wettbewerblicher Strukturen auf dem Postmarkt. Das
hört sich zunächst gut an, und auch wir streben einen fairen und funktionierenden Wettbewerb an.
Mit Datum 1. Januar 2008 ist die Exklusivlizenz der
Deutschen Post AG aufgehoben worden. Wir haben dies
unterstützt, weil nur dadurch überhaupt Wettbewerb auf
dem Postmarkt entstehen kann. Die privaten Anbieter auf
dem teilliberalisierten Postmarkt hatten im Hinblick auf
die angekündigte vollständige Marktliberalisierung bereits erhebliche Investitionen getätigt.
Nach Auskunft der Bundesregierung auf unsere Kleine
Anfrage auf Drucksache 16/4979 aus dem letzten Jahr
Zu Protokoll gegebene Reden
Kerstin Andreae ({0})
erwartete die Bundesregierung von einer vollständigen
Liberalisierung die Entstehung neuer Arbeitsplätze sowie
ein qualitativ und quantitativ hochwertiges Angebot an
Postdienstleistungen bei sinkenden Preisen. Demnach
hat die bislang vollzogene Marktöffnung zu einer gestiegenen Dienstleistungsqualität sowie insgesamt tendenziell niedrigeren Preisen bei Briefen und Paketen geführt.
Zudem hat die Angebotsvielfalt zugenommen. Darüber
hinaus betont die Bundesregierung zu Recht, dass auch
trotz einer einseitigen Liberalisierung des deutschen
Postmarktes nicht von einem unfairen Wettbewerb ausgegangen werden kann.
Die Arbeitsplätze bleiben auch bei vollständiger Liberalisierung im Land - unabhängig davon, wer die Post
zustellt. Zudem zeigen die Erfahrungen aus bereits liberalisierten Ländern, dass auch bei vollständiger Marktöffnung keine signifikanten Umsatzeinbrüche für den
ehemaligen Monopolisten zu erwarten sind.
Allerdings besteht trotz der beschriebenen Erfolge der
erfolgten Teilliberalisierung berechtigte Kritik an teilweise unzureichenden Arbeitsbedingungen im teilprivatisierten Postgewerbe. Diese Kritik trifft sowohl einzelne
Wettbewerber als auch Subunternehmen, die im Auftrag
der Deutschen Post AG mit über 20 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Dienstleistungen erbringen und
deutlich unterhalb des Lohnniveaus der DPAG bezahlen.
Wir von Bündnis 90/Die Grünen sind der Auffassung,
dass Deutschland endlich zu verbindlichen Regelungen
für Mindestarbeitsbedingungen kommen muss, die die
Lohnspirale nach unten stoppen. Tarifverträge und die
Regelungskraft der Sozialpartner bieten keinen hinreichenden Schutz gegen Fehlentwicklungen mehr. In den
vergangenen Jahren haben tariflich organisierte Branchen mit sehr niedrigen Entgelten genauso zugenommen
wie tariflich nicht organisierte Bereiche mit Niedriglöhnen.
Nur umfassende Regelungen für Mindestarbeitsbedingungen, die alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
einbeziehen, sowohl tariflich organisierte wie nicht organisierte Wirtschaftsbereiche erfassen und die Tarifautonomie wieder stärken, können weiteres Lohndumping
verhindern und zuverlässig vor Armutslöhnen schützen.
80 Prozent der Bevölkerung und eine parlamentarische
Mehrheit hier im Bundestag haben sich klar für Mindestlöhne ausgesprochen. Auch das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Vergaberecht zeigt, wie dringend notwendig branchen- und regionalspezifische
Mindestlöhne sind, um Lohndumping unmöglich zu machen. Die FDP blendet diese Fakten in Ihrem Gesetzentwurf leider vollständig aus.
Die Sozialklausel im Postgesetz erfüllt eine wichtige
Funktion. Durch einen Wegfall dieser Klausel wäre Lohndumping Tür und Tor geöffnet. Die Folgen wären weitere
ergänzende Leistungen nach ALG II. Diese Art von Wettbewerb zulasten der Steuerzahler werden wir nicht mittragen.
Wettbewerbsverzerrungen sind aber auch die Folge
der unterschiedlichen steuerlichen Behandlung von
Marktteilnehmern bei Postdienstleistungen, die bereits
im Wettbewerb erbracht werden. Diese einseitige Steuerbefreiung benachteiligt private Konkurrenten der DPAG
im erheblichen Umfang. Mit der vollständigen Marktliberalisierung drohen durch die Steuerbefreiung weitere
Wettbewerbsverzerrungen. Wir fordern daher schon seit
langem, die ungleiche Umsatzbesteuerung der Marktteilnehmer auf dem Postmarkt zgunsten der Deutschen
Post AG zu beenden und die EU-Rechtsvorschriften eindeutig anzuwenden.
Welche Position die Bundesregierung in dieser Sache
vertritt, blieb uns über Monate verborgen. Zunächst war
unser Wirtschaftsminister Glos für, Finanzminister
Steinbrück gegen die Abschaffung der einseitigen Steuerprivilegierung. Vor wenigen Tagen sprach sich
Steinbrück dann überraschend auch für die Abschaffung
aus. Seit gestern wissen wir: Es bleibt doch weitgehend
alles beim Alten. Dieses Koalitionschaos schadet dem
Wirtschaftsstandort Deutschland. Wir benötigen wieder
Rechts- und Planungssicherheit für alle Beteiligten.
Faire Wettbewerbsbedingungen auf der einen Seite,
wirksame Mittel gegen Lohndumping auf der anderen
Seite. So lautet unsere Botschaft. Die FDP hat da in ihrem
Gesetzentwurf leider nicht genügend nachgedacht. Einfach nur alles dem Markt zu überlassen, das wäre die falsche Botschaft und würde zulasten der Steuerzahler gehen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/8906 und 16/8773 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Investitionszulagengesetzes 2010 ({0})
- Drucksache 16/10291 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Manfred Kolbe, CDU/
CSU, Simone Violka, SPD, Christian Ahrendt, FDP,
Roland Claus, Die Linke, und Peter Hettlich, Bündnis 90/
Die Grünen.
Mit dem Investionszulagengesetz 2010 wollen wir, wie
im Koalitionsvertrag festgelegt und auf der Klausurtagung der Bundesregierung in Meseberg im August 2007
nochmals bekräftigt, auch weiterhin Erstinvestitionen auf
dem Gebiet der östlichen Länder unterstützen. Das ist
auch gut so. Auch wenn der gesamtwirtschaftliche Aufschwung sehr gute Fortschritte gemacht hat, bleibt dennoch bis zur Angleichung an die wirtschaftlichen VerhältManfred Kolbe
nisse in den westlichen Ländern weiterhin viel zu tun.
Aufgrund der immer noch doppelt so hohen Arbeitslosigkeit in den östlichen Ländern ist die Verlängerung der
Investitionsförderung ein wichtiges Instrument, um in
Deutschland gleiche Wirtschaftsverhältnisse zu schaffen.
Mit diesem Investitionszulagengesetz 2010 legen wir für
das weitere Wirtschaftswachstum einen ordentlichen
Grundstein.
Die faktischen Kennzahlen der schwächeren ostdeutschen Wirtschaft sind: Die Arbeitslosenquote ist mit rund
13 Prozent doppelt so hoch wie im Westen. Auch der Abwanderungstrend von Ost nach West sowie ins Ausland ist
nach wie vor ungemindert. Per Saldo verloren die östlichen Bundesländer zuletzt jährlich über 50 000 zumeist
junger Fachkräfte. Die gesamtwirtschaftliche Leistung
Ostdeutschland beträgt zurzeit knapp 70 Prozent des
westdeutschen Niveaus. Dieses Investitionszulagengesetz
soll, gemäß dem Entwurf der Bundesregierung, zu Investitionszulagen in Höhe von 550 Millionen Euro im Jahr
2011, 770 Millionen Euro in 2012, 540 Millionen Euro
2013, 315 Millionen Euro 2014 und noch einmal 90 Millionen Euro 2015 führen. Wie in den vergangenen Jahren
werden dadurch sicherlich Investitionen von mehreren
Milliarden Euro in den östlichen Bundesländern angeregt.
Die Investitionszulage ist ein sehr beliebtes Förderinstrumentarium, das vom Handwerk und vom Mittelstand
sehr gern angenommen wird, weil es eine Rechtssicherheit
bietet, wie es kein anderes Förderinstrumentarium gewährt. Auch deshalb sollten wir die Gewährung der Investitionszulage fortsetzen. Sie ist unbürokratisch. Sie ist
nicht mit langen Genehmigungsverfahren verbunden.
Nach Art. 87 EG-Vertrag sind staatliche Beihilfen an
Unternehmen mit dem gemeinsamen Markt nur ausnahmsweise vereinbar. Solche Ausnahmen liegen - wie
beim Investitionszulagengesetz 2010 - vor, wenn es einen
entsprechenden zeitlichen und regionalen Bezug gibt.
Seitens der Europäischen Kommission wurde dies entsprechend für die östlichen Länder Deutschlands bestätigt. Lassen Sie mich im Folgenden einige Anmerkungen
zum Gesetzentwurf der Bundesregierung machen:
Erstens. Fördergebiet sind weiterhin die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, SachsenAnhalt, Thüringen und nun auch ganz Berlin.
Zweitens. Begünstigte Investitionen sind Erstinvestitionen, die mindestens fünf Jahre zum Anlagevermögen
eines Betriebs des verarbeitenden Gewerbes, der produktionsnahen Dienstleistungen oder des Beherbergungsgewerbes gehören. Erstinvestitionen bzw. Erstinvestitionsvorhaben sind die Errichtung einer neuen Betriebsstätte,
die Erweiterung einer bestehenden Betriebsstätte, die Diversifizierung der Produktion und die Vornahme einer
grundlegenden Änderung des gesamten Produktionsverfahrens. Die Investition muss mindestens fünf Jahre im
Betrieb verbleiben, um einen tatsächlich nachhaltigen
Beitrag zur Regionalentwicklung zu leisten. Begünstigte
Wirtschaftszweige sind wie bisher das verarbeitende Gewerbe, die produktionsnahen Dienstleistungen und das
Beherbergungsgewerbe.
Drittens. Investitionszeitraum ist die Zeit nach dem
Tage der Verkündung des Gesetzes bis zum 31. Dezember
2013.
Viertens. Der Fördersatz beträgt im Jahr 2009 12,5 Prozent, 2010 10 Prozent, 2011 7,5 Prozent, 2012 5 Prozent
und im Jahr 2013 2,5 Prozent.
Meiner persönlichen Meinung nach sollte diese
scharfe Degression nochmals überprüft werden. Die
Wirtschaft im Osten wächst seit 2003 langsamer als die
im Westen, und vor diesem Hintergrund ist ein Auslaufen
der Investitionszulage problematisch. Außerdem wäre im
letzten Förderjahr der Verwaltungsaufwand für die Betriebe und die öffentliche Hand dann höher als die eigentliche Förderung. Hier erhoffe ich mir im Gesetzgebungsverfahren die Prüfung der Einführung eine Veränderung
der Degression der Fördersätze, damit das Verhältnis von
Aufwand und Nutzen gewahrt bleibt.
Alles in allem setzt der vorliegende Entwurf der Bundesregierung für ein Investitionszulagengesetz 2010 ein
richtiges Signal an die Wirtschaft in den östlichen Ländern. Eine entsprechend schnelle Gesetzesberatung ist im
Sinne der dortigen Wirtschaft notwendig, um weitere Planungssicherheit zu erhalten. Hierfür sollten wir im Bundestag einen Beitrag leisten.
Obwohl wir uns bereits im Jahr 19 nach der Wende befinden und dank dem Engagement von Unternehmerinnen
und Unternehmern, aber auch von Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern und der Gewerkschaften, viele gut am
Markt etablierte Unternehmen im Osten entstanden sind,
ist der Aufbau Ost noch lange nicht abgeschlossen. Vierzig Jahre geplante Misswirtschaft lassen sich eben leider
nicht von heute auf morgen beseitigen, und der Nachholbedarf war ja auch riesig. Bevor die Wirtschaft richtig in
Schwung kommen konnte, mussten erst umfangreiche Infrastrukturmaßnahmen erfolgen. Nicht zu vergessen die
Rückstände bei Umwelt- und Arbeitsschutz und bei der
Infrastruktur der Versorgungsträger. Hier wurde in wenigen Jahren unglaubliches geleistet.
Als ein gutes und wirksames Instrument beim Aufbau
Ost hat sich dabei die Investitionszulage erwiesen. Daher
ist es sehr zu begrüßen, dass es für das Investitionszulagengesetz 2007, welches Ende des Jahres 2009 ausläuft,
mit dem jetzt einzubringenden Investitionszulagengesetz
2010 ein Nachfolgegesetz gibt, welches die Förderung
auch nach 2009 möglich macht und die geförderten Maßnahmen bis 2013 sicherstellt.
Bereits beim Investitionszulagengesetz 2007 waren intensive Verhandlungen mit den zuständigen Stellen in
Brüssel notwendig, die diesem Förderinstrument eher
skeptisch gegenüberstanden und nach wie vor -stehen.
Deshalb geht an dieser Stelle auch mein Dank an die, welche durch intensive Gespräche und Verhandlungen in
Brüssel dieses heute einzubringende Gesetz erst möglich
gemacht haben. Das ging aber nicht, ohne auf Forderungen der Gesprächspartner einzugehen. Eine Forderung
war die Festsetzung eines Endpunktes der Förderung und
ein degressiver Verlauf der Fördersätze bis zu diesem
Zu Protokoll gegebene Reden
Endpunkt. Dieser Forderung wird mit der vorliegenden
Ausgestaltung des Investitionszulagengesetzes 2010
Rechnung getragen, auch wenn ich als Ostdeutsche mir
gewünscht hätte, dass die Ausgestaltung weniger degressiv wäre und es auch keinen Endpunkt 2013 gäbe. Aber da
ich aus eigener Erfahrung die negative Einstellung der
Brüssler Kommission zu diesem Gesetz kenne, weiß ich,
wie gering dabei der Verhandlungsspielraum war. Ohne
diesen Kompromiss wäre bereits 2009 Schluss mit diesem
Förderinstrument.
Wir haben damit für den Osten viel gewonnen, und anstatt den Zugeständnissen nachzuweinen, sollten wir bis
2013 das Beste daraus machen. Nach wie vor fehlt es im
Osten nicht an Menschen mit innovativen Ideen, sondern
an finanziellen Mitteln, um diese Ideen in Arbeitsplätze
und Wirtschaftswachstum umzuwandeln.
Aufgrund der momentan herrschenden internationalen Finanzkrise kann man ja kaum glauben, dass die Banken häufig Kredite wegen zu hohen Risikos und fehlender
bzw. nicht ausreichender Sicherheiten verwehrten und
verwehren. Ich kann nur hoffen, dass diese Krise auch für
deutsche Banken heilsam ist und man sich dort einmal
überlegt, ob die Geschäftsphilosophie noch stimmt. Denn
wenn man in Banken Kredite für Firmenerweiterungen
wegen erhöhter Auftragseingänge für zu risikoreich hält,
gleichzeitig aber bei hochspekulativen Geldgeschäften
kräftig zuschlägt ohne auch nur den Hauch einer Absicherung, dann komme nicht nur ich ins Grübeln.
Neben anderen Förderinstrumenten wollen wir mit
diesem Gesetz weiter Unterstützung leisten. Die Beträge
zeigen, dass es sich bei dieser Unterstützung um ganz
schöne Brocken handelt. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf wird es zu folgenden Förderungen kommen: Im
Jahr 2011 sind es 550 Millionen Euro, im Jahr 2012
770 Millionen Euro, 2013 540 Millionen Euro, 2014
315 Millionen Euro und um Jahr 2015 wegen der degressiven Ausgestaltung noch einmal 90 Millionen Euro. Das
ist eine gute Nachricht für die Unternehmer, vor allem
aus Mittelstand und Handwerk, die in der Vergangenheit
bereits diese Förderung gern in Anspruch genommen haben, nicht zuletzt, weil sie rechtssicher, schnell und unbürokratisch ist. Das kann leider nicht jede Fördermöglichkeit von sich behaupten.
Dank dem Entgegenkommen von Brüssel konnte mit
dem Investitionszulagengesetz 2010 auch die Förderlücke abgeschafft werden. Möglich wurde das, weil die
Europäische Kommission am 6. August 2008 eine allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung verabschiedet
hat, wonach eine Förderung von kleinen und mittleren
Unternehmen im D-Fördergebiet, also Berlin, weiterhin
möglich ist. Vorher war eine Förderung in diesem Gebiet
auf bis Ende 2008 begonnene Investitionsvorhaben beschränkt.
Dadurch wurde ein nahtloser Übergang der Förderung für alle Gebiete ermöglicht. Neu ist auch, dass
kleine Unternehmen jetzt stärker gefördert werden. Für
Erstinvestitionen bei kleinen Unternehmen beträgt die Investitionszulage 20 Prozent der Bemessungsgrundlagen,
und für mittlere Unternehmen beträgt sie zukünftig
10 Prozent. Auch damit wird einer Forderung aus Brüssel
Rechnung getragen.
Wir werden uns im Ausschuss sicher noch ganz genau
mit diesen Veränderungen beschäftigen. Allerdings muss
es unser aller Ziel sein, dass ein Investitionszulagengesetz 2010 das Plenum verlässt, welches auch in Brüssel
seine Zustimmung findet. Denn wir sind auf diese Zustimmung angewiesen, wenn wir auch für die nächsten Jahre
den wirtschaftlichen Aufbau im Osten mit Fördermitteln
unterstützen wollen.
Die Fortführung von Investitionszulagenförderung
nach 2009 bis zum Ende des Jahres 2013 ist begrüßenswert. Die FDP-Fraktion wird der Verlängerung des Investitionszulagengesetzes daher erneut zustimmen.
Auch heute noch stellt die Förderung von betrieblichen Investitionen in den neuen Ländern ein zentrales
und vor allem verlässliches Instrument für die kleinen
und mittelständischen Unternehmen dar. Die degressive
Ausgestaltung der Fördersätze berücksichtigt hingegen
die Interessen der öffentlichen Haushalte und hat zum
Ziel, dass kontinuierlich eine Basis für eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung geschaffen wird. Die
Absicht, die Investitionszulage langfristig auslaufen zu
lassen, ist daher grundsätzlich erstrebenswert. Es bleibt
nur zu hoffen, dass die errechneten Staffelsätze für den
benötigten Wirtschaftsaufschwung ausreichen, um vor allem der Abwanderung und der hohen Arbeitslosigkeit
entgegenzuwirken.
Das noch geltende Investitionszulagengesetz 2007 hat
erstmals das Beherbergungsgewerbe berücksichtigt, was
im Hinblick auf die Attraktivität vieler Gebiete als Reiseziel ein wichtiger Schritt war. So konnte sich insbesondere
Mecklenburg-Vorpommern in den letzten Jahren zu einem
Topstandort im Deutschlandtourismus entwickeln. In Anbetracht dessen, dass Übernachtungsgäste und Tagesausflügler jedes Jahr fast 100 Millionen Aufenthaltstage in
Mecklenburg-Vorpommern verbringen und der Tourismus
damit mit einem Bruttoumsatz von über 3,5 Milliarden
Euro einen der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren darstellt,
wird die überragende Bedeutung von Investitionszulagen
klar. Daher freue ich mich ganz besonders, dass diese
Branche auch nach dem Investitionszulagengesetz 2010
weiterhin unterstützt wird.
Aus aktuellem Anlass möchte ich jedoch auf einen negativen Umstand bei Investitionszulagen hinweisen.
Wenn Kontrollmechanismen versagen, ist leider überall
dort, wo es um Rechtsansprüche auf Geld oder geldwerte
Vorteile geht, kriminellen Gemütern Tür und Tor geöffnet. Im konkreten Beispiel geht es um den Missbrauch
von Investitionszulagen. Wie dubios Mitarbeiter der Gemeindebehörden handeln können, zeigt der neue alte
Subventionsskandal im Finanzministerium MecklenburgVorpommerns.
Nach dem Investitionszulagengesetz 1999 galten die
Anschaffung und Herstellung neuer Gebäude als begünstigte Investitionen, wenn sie sich in besonders förderfähigen Gebieten befanden. Eine traurige Berühmtheit erlangten in diesem Zusammenhang die sogenannten
Zu Protokoll gegebene Reden
Kerngebiete. Diese dienen vorwiegend der Unterbringung von Handelsbetrieben. Für die Überprüfung des
Tatbestandsmerkmals „Kerngebiet“ genügt ein Blick in
den entsprechenden Bebauungsplan. Leider neigten in
den vergangenen Jahren einige Sachbearbeiter der Bauämter zur Bescheinigung solcher Kerngebiete, obgleich
dies nicht zutraf. Auf diese Weise erbrachte der vermeintlich Anspruchsberechtigte die erforderliche Bescheinigung der Gemeindebehörde und erwarb damit die Voraussetzungen für eine Investitionsmaßnahme. So gilt als
sicher, dass den Verantwortlichen im Finanzministerium
seit längerem bekannt ist, dass es überwiegend von 2000
bis 2003 insgesamt 48 Veranlagungen gab, die - diplomatisch ausgedrückt - Anlass zu Nachfragen gaben. In
mindestens drei Fällen wurde die Investitionszulage unrechtmäßig ausgezahlt. Weil sich hier die Aufklärung der
Betrugsfälle aus verschiedenen Gründen äußerst schwierig gestaltet, beschränke ich mich auf die obige Schilderung.
Man kann nur hoffen, dass diese Fälle zu den Ausnahmen gehören. Daher möchte ich gerne erläutern, warum
es auch 2008, 18 Jahre nach der Wiedervereinigung, erforderlich ist, die Förderungsdauer zu verlängern.
Die neuen Bundesländer sind auf ihrem Weg zu einer
wettbewerbsfähigen Wirtschaft seitdem ein beträchtliches Stück vorangekommen. Trotz dieser Erfolge sind
weiterhin offensichtliche Defizite vorhanden. Um Anschluss an das Niveau in den alten Bundesländern zu erreichen, ist ein mühsamer Weg zu durchschreiten, mit dem
kaum jemand zu Beginn des Umstrukturierungsprozesses
gerechnet hatte. Insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit
ist zu einer Belastungsprobe für die neuen Bundesländer
geworden, die es auch mittels Investitionszulagen abzubauen gilt. Weitere Probleme stellen die mangelnde Eigenkapitaldecke der Kleinunternehmen, die gerade die
mittelständische Landschaft in den neuen Bundesländern
prägen, und der damit mittelbar zusammenhängende
Rückzug der Geschäftsbanken aus der Kreditwirtschaft
insbesondere in Ostdeutschland dar. Ohne eine ausreichende Eigenkapitaldecke ist es schwierig, Erweiterungsinvestitionen vorzunehmen, die gerade in Zeiten einer wirtschaftlichen Erholung wichtig sind, um
Marktpositionen zu behaupten und selbstverständlich
auch auszubauen. Die Investitionszulage bleibt weiterhin
ein zentraler Bestandteil ihrer Finanzierbarkeit, weil die
Zulage den Anteil benötigter Fremdmittel reduziert. Nun
verbessert die Investitionszulage zwar nicht die Kreditversorgung, sie verbessert aber als direkte Unternehmensförderung die Kapitaldienstfähigkeit der Unternehmen. Auch unter diesem Gesichtspunkt kommt der
Verlängerung des Investitionszulagengesetzes weiterhin
eine hohe Bedeutung zu.
Alles in allem ist die Verlängerung des Investitionszulagengesetzes für den Aufbau Ost unerlässlich und damit
zwingend geboten.
Das Gesetz regelt eine Fortführung der Investitionsförderung in den neuen Bundesländern über das Jahr
2009 hinaus. Das begrüßen wir. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zutreffend hervorgehoben:
Der Bundesrat begrüßt den vorliegenden Gesetzentwurf. Er trägt den immer noch bestehenden
Defiziten der ostdeutschen Wirtschaft Rechnung
und ermöglicht daher auch in den nächsten Jahren
noch eine Fortsetzung der intensiven Investitionsförderung. Gleichzeitig aber wird ein Endpunkt für
dieses Förderinstrument festgelegt, indem ein degressiver Verlauf der Fördersätze nach 2009 festgeschrieben wird, der das endgültige Auslaufen der
Investitionszulage nach 2013 zum Ziel hat.
Weiterhin merkt der Bundesrat dazu an, dass die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ({0})
für ganz Deutschland eine hohe Bedeutung hat.
Dies gilt natürlich vor allem für einen großen Teil
der ostdeutschen Regionen, aber auch für Regionen
in Westdeutschland - auch hier gibt es viele Städte
und Gemeinden, die auf Grund struktureller Umbrüche mit hoher Arbeitslosigkeit und geringen
Steuereinnahmen kämpfen. Die Folge sind Haushaltsnotlagen und immer neue Schulden, die keine
Spielräume für dringend notwendige Maßnahmen,
insbesondere im Bereich der Infrastruktur, lassen.
Die GRW bietet das in Ost- und Westdeutschland
dringend benötigte Instrumentarium für die Verbesserung der wirtschaftsnahen Infrastruktur und die
Schaffung von Anreizen für Unternehmensansiedlungen und -erweiterungen und damit die Schaffung
neuer Arbeitsplätze.
Dies setzt aber auch eine angemessene und dem
ausgeweiteten Aufgabenspektrum angepasste Mittelausstattung voraus. Der Bundesrat erwartet von
der Bundesregierung, dass ein überwiegender Teil
der durch den vorliegenden Gesetzentwurf entstehenden Steuermehreinnahmen durch eine nachhaltige Aufstockung der GRW für die Instrumente der
Regionalen Strukturpolitik wieder zur Verfügung
gestellt wird.
Die Mittelausstattung der GRW ist seit 1998 drastisch verringert worden, obwohl sie durch die unmittelbare Abhängigkeit der Förderhöhe von der Anzahl
der neu geschaffenen oder gesicherten Arbeitsplätze
nachweisbar zielgenaue Effekte erzielt …“
Der vorliegende Entwurf verstetigt also die Trennung
zwischen Ost und West. Solange jedoch im Grundgesetz
die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse postuliert
wird, ist es politisch nahezu fahrlässig, die Investitionszulage für die neuen Länder ab 2009 kontinuierlich abzusenken, um sie dann nach 2013 auslaufen zu lassen. Natürlich unterstützt Die Linke die weitere Förderung,
gleichzeitig setzt sie sich jedoch gegen die Einstellung der
Investitionszulage nach 2013 und damit eines Instrumentes zur Förderung des Mittelstandes in den neuen Ländern ein. Denn niemand wird bezweifeln wollen, dass die
besondere Förderung gerade des ostdeutschen Mittelstandes notwendig ist, um den neuen Ländern zu dem
selbsttragenden Aufschwung zu verhelfen, der ihnen von
der Großen Koalition immer versprochen wird. Eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit, kaum Forschung und EntZu Protokoll gegebene Reden
wicklung, die Verfestigung prekärer Arbeitsverhältnisse,
ein geringeres Lohn- und Rentenniveau sprechen eine andere Sprache. Nun trifft es ja zu, dass aufgrund des ökonomischen Wandels auch in den alten Bundesländern
strukturschwache Regionen entstanden sind, die staatlicher Hilfe bedürfen. Dies aber zulasten der ostdeutschen strukturschwachen Regionen zu machen, spottet jeder nachhaltigen Politik Hohn. Hier wird offensichtlich
Ost gegen West bei der Wirtschaftsförderung ausgespielt.
Apropos sozial: Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass
durch die Kürzung der Investitionszulage und der Aufteilung der Gelder zwischen Ost und West irgendeine Strukturschwäche behoben werden kann? Wie sollen denn
durch die allgemeine Ausdünnung des Förderniveaus
die bestehenden und anwachsenden Probleme sinnvoll
und nachhaltig bekämpft werden? 49 der 50 strukturschwächsten Landkreise Deutschlands befinden sich laut
dem Prognos-Zukunftsatlas in den neuen Ländern. Anstelle den Osten erfolgreich zu fördern, wie es Die Linke
immer fordert, und die strukturschwachen Regionen im
Westen ebenso nachhaltig zu unterstützen, helfen Sie weder den Menschen im Osten noch im Westen. Dass diese
Regierung jedoch statt langfristig und finanzpolitisch
sinnvoll zu agieren, jeden finanzökonomischen Unsinn
mitmacht, ist den Steuerzahler leider schon mehr als
teuer zu stehen gekommen. Dass diese Regierung die
schwächeren Regionen - gleich ob Ost oder West - perspektivisch ihrem Schicksal überlässt, wird die Menschen
darin ebenfalls noch teuer zu stehen kommen. Dass Sie
dann jedoch versuchen, diesen von ihrer Politik mehrfach
benachteiligten Menschen ein X für ein U vorzumachen,
zeugt schlichtweg von schlechtem politischem Stil.
Die Fraktion Die Linke wird in den Ausschussberatungen Vorschläge zur nachhaltigen Verbesserung des Gesetzentwurfes einbringen.
Der wirtschaftliche Aufholprozess Ostdeutschlands
stagniert seit Mitte der 1990er-Jahre. Das Wirtschaftswachstum in den neuen Bundesländern lag selbst mitten
im konjunkturellen Aufschwung 2007 um 0,3 Prozent hinter dem Wachstum in den alten Bundesländern zurück.
Und auch für 2008 wird ein Wachstumsrückstand prognostiziert. Damit findet trotz aufwendiger Wirtschaftsförderung und rückläufiger Bevölkerungszahlen in
Ostdeutschland keine Angleichung des Bruttoinlandsproduktes pro Einwohner zwischen Ost und West statt. Das
Institut für Wirtschaftsforschung Halle errechnete, dass
bei diesem Tempo die Angleichung der Pro-Kopf-Einkommen noch 320 Jahre dauern wird.
Den neuen Ländern stehen nur noch bis 2019 überproportionale Finanzmittel aus dem Solidarpakt II zur Verfügung. Im sogenannten Korb 2 des Solidarpakts II sind
die überproportionalen Leistungen des Bundes an die
neuen Länder und Berlin zusammengefasst. Von dem zugesagten Gesamtvolumen in Höhe von 51 Milliarden
Euro bis 2019 sind im Zeitraum 2005 bis 2007 bereits
circa 16 Milliarden Euro abgeflossen.
Angesichts dieser ernüchternden gesamtwirtschaftlichen Erfolgsbilanz fordert Bündnis 90/Die Grünen schon
seit langem, dass die Wirtschaftsförderung des Bundes in
den neuen Bundesländern auf den Prüfstand gehört. Das
bedeutet, dass die uns noch verbleibenden 35 Milliarden
Euro des Korbes 2 des Solidarpakts II zielgerichteter und
wirksamer eingesetzt werden müssen.
Die Investitionszulage ist die volumenmäßig größte
Einzelmaßnahme innerhalb des Korbes 2. Anerkannte
Wirtschaftsinstitute und der Sachverständigenrat hatten
bereits vor der letzten Verlängerung der Investitionszulage im Jahr 2006 kritisiert, dass die Investitionszulage
aufgrund des Rechtsanspruchs zu geringe Steuerungsmöglichkeiten aufweist und zu viele Mitnahmeeffekte erzeugt. Einen erheblichen Missbrauch bei dieser Steuersubvention belegten die Nachschauen der Finanzämter in
Brandenburg und Thüringen. In Brandenburg forderten
die Finanzämter 24,2 Millionen Euro Investitionszulage
zurück - ein Viertel der beantragten Summe. In Thüringen waren es 13 Millionen Euro. Die anderen Bundesländer verzichten lieber auf derartige Nachschauen und nehmen den Missbrauch damit billigend in Kauf.
Geradezu skandalös ist, dass die Investitionszulage
weder statistisch erfasst noch evaluiert wird. Die Bundesregierung weiß weder, wer die Förderung beansprucht,
noch wie viel Unternehmen gefördert wurden, ob die Fördervoraussetzungen eingehalten oder die Förderungen
missbräuchlich in Anspruch genommen wurden.
Das ist ein verantwortungsloser Umgang mit Steuergeldern!
Mit der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur - GA - steht den neuen
Bundesländern dagegen ein Förderprogramm mit identischem Wirkungsmechanismus wie bei der Investitionszulage zur Verfügung. Auch bei der GA werden Investitionen in das Sachanlagevermögen bezuschusst.
Aber im Gegensatz zur Investitionszulage können die
Länder mit der GA regionale und sektorale Schwerpunkte
setzen und somit zielgerichtet fördern. Eine Verlängerung
der Investitionszulage, wie im vorliegenden Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD gefordert,
geht bei feststehenden Gesamtvolumen des Korbes 2 des
Solidarpakts II zulasten anderer, für die wirtschaftliche
Entwicklung in den neuen Bundesländern weitaus bedeutsamerer Maßnahmen.
Die noch zur Verfügung stehenden 35 Milliarden Euro
müssen vor allem in das ebenfalls im Korb 2 definierte
Politikfeld „Innovation, Forschung und Entwicklung,
Bildung“ fließen. Darüber hinaus müssen mit den Korb2-Mitteln verstärkt innovative Konzepte für die Entwicklung in peripheren Regionen Ostdeutschlands gefördert
werden.
Wir schlagen vor, dass zum Beispiel revolvierende
Fonds eingerichtet werden, aus denen zinsgünstige Darlehen mit Eigenkapital ersetzendem Charakter - Mezzanine-Finanzierungen - ausgereicht werden. Dadurch
können Mittel für eine nachhaltige Wirtschaftsforschung
auch über das 2019 hinaus sichergestellt werden.
Die Investitionszulage muss in eine Innovationszulage
umgewandelt werden. So werden statt verlängerter WerkZu Protokoll gegebene Reden
bänke Unternehmen mit strategischen Unternehmensfunktionen in Ostdeutschland gefördert.
Wir fordern darüber hinaus die Einrichtung eines zielund wirkungsorientierten Controllings der eingesetzten
Fördermittel und endlich die Fortschreibung der Fortschrittsberichte wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 16/10291 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Spieth, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Das Gesundheitssystem nachhaltig und paritätisch finanzieren - Gesundheitsfonds, Zusatzbeiträge und Teilkaskotarife stoppen
- Drucksache 16/10318 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Dr. Rolf Koschorrek,
CDU/CSU, Peter Friedrich, SPD, Dr. Konrad Schily,
FDP, Frank Spieth, Die Linke, Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen.
Seit 1989 gab es in Deutschland sechs Gesundheitsreformgesetze, deren Ziel es war, die Kosten bzw. den Kostenanstieg im Gesundheitswesen zu begrenzen. Darüber
hinaus gab es von 2001 bis 2006 fünf Gesetze zur Begrenzung der Arzneimittelkosten.
Das jüngste Reformgesetz, das GKV/WSG, das wir Anfang 2007 beschlossen haben, ist die bislang erste Reform
in unserem Gesundheitswesen, die für die Patienten statt
Leistungseinschränkungen sogar eine Erweiterung der
Leistungen, zum Beispiel im Bereich der Rehabilitation
und Palliativmedizin, bringt. Diesmal steht nicht die Kostenbegrenzung im Zentrum der Reform. Im Mittelpunkt
des GKV/WSG steht vielmehr der Wettbewerb unter den
GKV-Kassen und der Gesundheitsfonds mit dem Umbau
der gesamten Finanzierung, der Einnahmen- und Ausgabenseite unseres Gesundheitssystems.
Richtig ist: Die Union favorisiert nach wie vor das
Konzept der Gesundheitspauschale und die Abkopplung
der Gesundheits- von den Lohnkosten. Wir akzeptieren
den Gesundheitsfonds als Kompromiss und Wegmarke.
Der bundeseinheitliche Beitragssatz, den die Versicherten und ihre Arbeitgeber in den Fonds einzahlen, trägt
dazu bei, einen Finanzausgleich zwischen den Bundesländern und einen Ausgleich der bisherigen regionalen
Unterschiede in der medizinischen Versorgung zu schaffen. Nicht zuletzt machen wir mit dem Gesundheitsfonds
den Anfang zu einer Steuerfinanzierung von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben in der Krankenversicherung.
Der im vorliegenden Antrag kritisierte Zusatzbeitrag
wird in Form einer Nachzahlung oder Rückerstattung erhoben. Soweit sollten auch die Kollegen von der Fraktion
Die Linke das Gesetz und das Konzept des Gesundheitsfonds kennen und verstanden haben. Dieser Betrag sorgt
dafür, dass die GKV-Kassen in einen Wettbewerb untereinander treten. Er veranlasst die Kassen zur Reduzierung
ihrer Verwaltungskosten und bietet den Versicherten eine
erheblich höhere Transparenz bei den Kosten und Leistungen der Kassen, als wir sie jetzt im System haben.
Seine Höhe, das heißt, ob ein Plus oder ein Minus unterm
Strich steht, ist ganz wesentlich davon abhängig, wie
wirtschaftlich eine Kasse zu arbeiten vermag und welche
Leistungen sie den Versicherten bietet.
Der Zusatzbetrag, das heißt Nachzahlung oder Rückerstattung, ist unabhängig von dem Einkommen des Versicherten, und damit haben wir zumindest eine partielle
Abkopplung der Gesundheits- von den Lohnkosten.
Darüber hinaus sorgt der Zusatzbetrag zusammen mit
der ebenfalls im GKV/WSG neu geschaffenen Möglichkeit der Wahltarife dafür, dass die Versicherten sich die
Kasse verstärkt nach ihren persönlichen Prioritäten aussuchen können und werden. Das heißt, sie können unter
finanziellen Kriterien die kostengünstigste Kasse wählen
oder unter qualitativen Kriterien eine Kasse, die ihren individuellen Anforderungen und Bedürfnissen am besten
entspricht. Dies ist ein wichtiger, nach meiner Überzeugung schon lange überfälliger Schritt, mit dem der Versicherte im GKV-System vom pauschalen Beitragszahler
und Leistungsempfänger zum selbstbestimmten und verantwortlichen Akteur wird, der seine individuelle Entscheidung treffen und Einfluss nehmen kann. Umfragen
unter GKV-Versicherten zeigen seit einigen Jahren schon,
dass diese sich mehr Flexibilität und Gestaltungsmöglichkeiten für ihren Krankenversicherungsschutz wünschen. Dabei geht es nicht nur um die in dem vorliegenden Antrag der Linken kritisierten Selbstbeteiligungsoder Kostenerstattungstarife. Neben einer ganzen Reihe
von anderen Wahltarifen, können die gesetzlichen Kassen
jetzt zum Beispiel eben auch spezielle Tarife mit einer Erstattung für Naturarzneimittel anbieten. Früher gab es
solche Tarife lediglich in der privaten Krankenversicherung und war den privat Versicherten vorbehalten. Ein
solches Angebot stößt vor allem bei Frauen unter den
GKV-Versicherten auf Interesse, die zum Beispiel bei der
Techniker-Krankenkasse rund 90 Prozent der Versicherten in diesem Tarif ausmachen.
Ein weiterer zentraler Faktor im Konzept des Gesundheitsfonds ist die Erweiterung des bisherigen RSA zum
MorbiRSA. Durch ihn erhalten die Krankenkassen für die
chronisch Kranken unter ihren Versicherten einen finanziellen Ausgleich für den krankheitsbedingten erhöhten
Versorgungsbedarf. Der neue MorbiRSA erfüllt im Zusammenhang mit dem Gesundheitsfonds zwei zentrale
Funktionen: zum Einen schafft er faire und soweit als
möglich gleiche und gerechte Voraussetzungen für den
Wettbewerb unter den Kassen, zum Zweiten verlagert er
das Gesundheitsrisiko der Versicherten von den Ärzten
auf die Kassen, auch dies ist ein Schritt, der lange überfällig ist.
Schwierig ist die Frage der konkreten Ausgestaltung
des MorbiRSA, der laut Gesetz 50 bis 80 schwerwiegende
und kostenintensive Krankheiten umfassen soll, bei denen
die durchschnittlichen Ausgaben der betroffenen Versicherten um 50 Prozent höher liegen als bei den nicht betroffenen Versicherten.
Der „einfache“ RSA wurde 1994 im Zusammenhang
mit der Ausweitung des Kassenwahlrechts eingeführt.
Auch damals war es das Ziel, mit dem RSA Wettbewerbsverzerrungen zwischen den GKV-Kassen abzubauen. Er
berücksichtigte die Höhe der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder, die Zahl der beitragsfrei mitversicherten Familienmitglieder sowie das Alter und Geschlecht der Versicherten und die Zahl derjenigen, die
eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Diese überschaubare Anzahl konkreter Kriterien wurde 2002 ergänzt durch einen „Risikopool“ der Krankenkassen für
Versicherte mit besonders teuren Krankheiten und für
Versicherte, die zum Beispiel als Diabetiker an DiseaseManagement-Programmen teilnehmen.
Zurzeit arbeitet das BVA an der Gewichtung und Bewertung einer Auswahl von 80 Krankheitsgruppen mit
Hunderten von Einzeldiagnosen, die als Grundlage des
Finanzausgleichs unter den Krankenkassen dienen wird.
Es ist dringend erforderlich, dass alle Kriterien einer wissenschaftlichen Evaluation der Daten und Verteilungsmechanismen erfüllt sind, um zielgenau die Finanzmittel
der einzelnen Kasse vorausberechnen zu können.
Es wäre wünschenswert, dass auch die Fraktion Die
Linke im Interesse eines dauerhaft leistungsfähigen Gesundheitssystems einmal ihre ideologische Vorurteile und
linken Reflexe hintanstellt. Wer die Fakten kennt und
weiß, dass bei Fortbestehen des heutigen Systems der
Beitragssatz im Jahr 2050 auf 25 bis 29 Prozent ansteigen würden, der weiß auch, dass wir eine grundlegende
Reform in unserem Gesundheitswesen brauchen.
Wer den Gesundheitsfonds vorurteilsfrei und mit einer
gewissen Bereitschaft, auch einmal etwas Neues zu akzeptieren, betrachtet, der wird zu dem Fazit kommen: Der
Fonds enthält vernünftige, zukunftsweisende und tragfähige Regelungen für unser Gesundheitssystem. Er stellt
richtige Weichen für ein zukunftsfähiges System mit mehr
Eigenverantwortung und der Abkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnkosten. Der Gesundheitsfonds
wurde bereits - und das nicht ganz zu Unrecht - als „wohl
größte Veränderung seit dem Weltkrieg“ im Bereich der
Sozialpolitik bezeichnet. Unter organisatorischen Gesichtspunkten bedeutet dies eine große Herausforderung
für alle Beteiligten. Wir arbeiten auf Hochtouren daran.
Heute diskutieren wir im Deutschen Bundestag einen
Antrag der Linksfraktion, in dem der Gesundheitsfonds
abgelehnt wird, da er angeblich die „Entsolidarisierung
der Versichertengemeinschaft“ und eine „Privatisierung
von Gesundheitsrisiken“ betreibe, wie es in dem vorliegenden Papier heißt. Morgen debattieren wir an gleicher
Stelle über einen Antrag der FDP, der mit dem Gesundheitsfonds den angeblichen „Einstieg in ein staatlich zentralistisches Gesundheitswesen“ verbindet. Wie so häufig
in den Debatten um die Gesundheitsreform dieser Legislaturperiode trifft keines der populär klingenden Argumente beider Fraktionen zu. Im Gegenteil: Wir stärken
Solidarität und Wettbewerb im Gesundheitswesen zum
Wohle der Patientinnen und Patienten.
Zumindest die Linksfraktion weiß dies auch. Herr Kollege Spieth hat mehrfach an dieser Stelle den Gesundheitsfonds gelobt. Das System der einheitlichen Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung, das wir
mit dem Gesundheitsfonds begründen wollen, haben Sie
in der Plenardebatte vom 24. April 2008 im Deutschen
Bundestag als „einen der wenigen positiven Punkte der
letzten Gesundheitsreform“ bezeichnet. Und am 18. Januar 2008 haben Sie den Fonds sogar gegenüber den Vertreterinnen und Vertretern der FDP-Fraktion verteidigt.
Sie sagten damals - laut Plenarprotokoll -:
Der Gesundheitsfonds ist nicht das Problem.
Und weiter:
Unter anderem die FDP schlägt jetzt aus nachvollziehbaren Gründen auf den Sack Gesundheitsfonds.
Eigentlich meint sie etwas ganz anderes: Der FDP
geht es im Kern um die Stärkung von Privilegien
- das ist meine feste Überzeugung - und nicht darum, etwas mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen.
Genau um die Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit geht es uns mit der Einführung des Fonds, meine
Damen und Herren von der Linkspartei. Wir wollen mit
dem Gesundheitsfonds die Gerechtigkeit unter den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern stärken. Schon
heute leistet jede Krankenkasse beinahe identische Leistungen, der Beitragssatz variiert aber erheblich. Dies ist
unter Solidaritätsaspekten nicht länger hinzunehmen.
Auch nicht länger hinzunehmen ist die bisherige Risikoselektion der Krankenkassen, weshalb wir mit der Einführung des Gesundheitsfonds auch den Risikostrukturausgleich verbessern. Dies wird die Solidarität in
unserem Gesundheitssystem ebenfalls spürbar stärken.
Mit dem Gesundheitsfonds setzen wir dem Wettbewerb
im Gesundheitswesen einen starken, verlässlichen Rahmen, der für mehr Gerechtigkeit unter den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern führen wird. Bei gleichen
Beitragssätzen und nahezu identischen Leistungen im
Krankheitsfall verbessern wir für die Menschen die Vergleichbarkeit einzelner Krankenkassen spürbar. Heute
noch haben wir einen Wettbewerb um gesunde, möglichst
junge und bestenfalls einkommensstarke Versicherte, die
der Krankenkasse viel Geld einbringen und wenig kosten.
Ab dem neuen Jahr werden wir einen neuen Wettbewerb
unter den Krankenkassen um möglichst gute Leistungen
für die Versicherten erleben. Wenn die Beitragssätze für
alle Kassen gleich sind, wird sich der Wettbewerb unter
den Krankenkassen auf möglichst gute Leistungen im
Krankheitsfall und zur Vermeidung von Krankheiten sowie auf eine hohe Kundenorientierung konzentrieren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Patient und die Patientin an sich werden im Mittelpunkt der Bemühungen stehen - und nicht ein möglichst
junger, möglichst gesunder oder möglichst zahlungskräftiger Versicherter. Heute noch ist die Risikoselektion der
Krankenkassen ein Wettbewerbsinstrument. Das ist unsolidarisch, deshalb beenden wir dieses System.
Zudem werden wir einen Wettbewerb um die Vermeidung des Zusatzbeitrages erleben. Es ist doch ganz logisch, dass keine Kasse den Zusatzbeitrag erheben will,
sondern interne Betriebskosten soweit als möglich senken
und die Wirtschaftlichkeitsreserven zu heben versuchen
wird, um den Zusatzbeitrag zu vermeiden. Umfragen legen nahe, dass ein Drittel der Versicherten von ihrem außerordentlichen Kündigungsrecht Gebrauch machen und
zu einer anderen Kasse wechseln werden, sofern ihre bisherige Kasse einen Zusatzbeitrag erheben möchte. Da ist
es doch ganz klar, dass alle Kassen sich auf diesen Wettbewerb um möglichst gute Leistungen für die Versicherten und um eine möglichst wirtschaftliche Versorgung
einlassen werden.
Für die Versicherten wird bei der Entscheidung für
oder gegen eine Krankenkasse viel stärker als bislang das
Preis-/Leistungsverhältnis im Mittelpunkt ihrer Entscheidung stehen. Ist der Preis bei allen gleich, rückt die Leistung in den Vordergrund. Die Krankenkassen überlassen
wir aber auch nicht einfach nur sich selbst und dem Wettbewerb. Vielmehr öffnen wir den Kassen erweitere Handlungsmöglichkeiten für eine möglichst wirtschaftliche
Versorgung ihrer Versicherten. Die Kassen können beispielsweise Leistungen ausschreiben, Rabattverträge abschließen und Wahltarife anbieten. Damit führen wir die
Krankenkassen in eine neue Verantwortung als aktive Akteure des Gesundheitssystems.
Mit dem Gesundheitsfonds, meine Damen und Herren
von der Linksfraktion und von der FDP, schaffen wir einen solidarischen Wettbewerb im Sinne der Versicherten.
Der Wettbewerb ist solidarisch, weil er für alle Versicherten die gleichen Bedingungen schafft. Aber wir schaffen
trotzdem einen Wettbewerb der Kassen untereinander, der
sich aber nicht negativ auf die Versicherten auswirken
wird. Deshalb bringt uns der Antrag der Linksfraktion,
der unserer Debatte zugrunde liegt, nicht voran. Und deshalb kann man auch den Widerstand der FDP gegen den
Fonds nicht verstehen. Wir verbinden genau die beiden
Werte, die ihre beiden Parteien gegeneinander auszuspielen versuchen. Messen Sie uns am Ergebnis, den die Einführung des Fonds mit sich bringen wird.
Der Antrag der Fraktion Die Linke ist völlig einseitig
aufgebaut. Er zielt expressis verbis auf die Einführung einer Bürgerversicherung, die staatlich administriert werden soll, ab. Auf den Gesundheitsfonds bezogen findet
sich im Antrag ein richtiger Satz: „Der Gesundheitsfonds
löst keine Probleme, sondern schafft nur neue“. Diesem
Satz können wir uns anschließen, allerdings mit völlig anderer Begründung.
Es muss Gestaltungsfreiheit geschaffen werden, nicht
staatliche Verwaltung, die meistens eine Mangelverwaltung ist. Wir benötigen eine ganzheitliche Souveränität
der Bürger als Versicherte mit voller Eigenverantwortung
und einem Höchstmaß an wirtschaftlicher Transparenz.
Erreichen wir dies nicht, wird die Therapiefreiheit und
Freiberuflichkeit bald auf der Strecke bleiben. Die zu diesem Thema unterbreiteten Vorschläge der FDP weisen in
die richtige Richtung.
Wir lehnen den Antrag der Fraktion Die Linke ab.
Vor 125 Jahren wurde die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland geschaffen. Sie war Vorbild für
den Aufbau der Krankenversicherung in vielen europäischen Ländern. Dieses Erfolgsmodell wird in seinen
Grundfesten seit 20 Jahren erschüttert. Gerade in den
letzten fünf Jahren gab es eine Lawine von Leistungskürzungen. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz 2004
- eineinhalb Jahre vor dem offiziellen Beginn der Großen
Koalition - wälzten SPD und Union zusammen mit den
Grünen Gesundheitskosten auf die Versicherten ab. So
wurden einige Leistungen ganz gestrichen und bei anderen müssen wir jetzt erheblich zuzahlen. Das Konzept der
Schröder’schen Agenda-2010-Politik, „den Armen nehmen, den Reichen geben“, wird auch in der Großen Koalition fortgesetzt.
Die neue Sozialstaatsdoktrin lautet „Senkung der
Lohnnebenkosten“. Im GKV-Modernisierungsgesetz ist
siebenmal das Wort „Lohnnebenkosten“ zu lesen und
dass diese für die Arbeitgeber gesenkt werden sollen. Die
logische Schlussfolgerung ist, dass Arbeitnehmer und
Rentner alleine zahlen.
Konkret wurden das Sterbegeld, das Entbindungsgeld
und die Kostenübernahme rezeptfreier Medikamente aus
dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen
gestrichen.
Nur noch in Ausnahmefällen, bei extrem starken Sehbehinderungen werden die Kosten für Brillen übernommen. Die künstliche Befruchtung wird nur noch zur Hälfte
gezahlt und auch maximal mit drei Versuchen statt wie zuvor vier. Sterilisationen werden nur noch übernommen,
wenn sie medizinisch notwendig sind. Die Übernahme
der Kosten für Fahrten zum Arzt oder ins Krankenhaus
wurde gestrichen und/oder erheblich eingeschränkt.
Ganz neu eingeführt wurden Eintrittsgebühren zu
Arztpraxen, Zahnarztpraxen und zu Notfalldiensten.
Diese 10 Euro Praxisgebühr pro Quartal können sich
aufsummieren auf bis zu 120 Euro im Jahr.
Krankenhausaufenthalte und Kuren kosten seither
10 Euro am Tag und bis zu 280 Euro im Jahr. Gleiches gilt
für häusliche Krankenpflege. Zuzahlungen für Medikamente wurden auf 5 bis 10 Euro je Packung angehoben.
Für Hilfsmittel und Heilmittel muss man ebenfalls 5 bis
10 Euro pro Verordnung hinlegen.
Der Durchschnittsverdiener in der gesetzlichen Krankenversicherung mit circa 2 600 Euro kann bei Anwendung aller vorgenannten Regelungen mit über 600 Euro
im Jahr zusätzlich zu seinem Krankenversicherungsbeitrag belastet werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Neu ist auch, dass auch die Geringverdiener nun
grundsätzlich Zuzahlungen zahlen müssen. Die Härtefallregelung wurde abgeschafft. Würde die Regelung von
Norbert Blüm noch gelten, brauchten Menschen mit einem Einkommen bis etwa 1 000 Euro nicht zuzahlen.
Dank der Politik der Bundesregierung gibt es ohne Cash
heute keine Behandlung mehr.
Doch damit nicht genug: Ohne Arbeitgeberbeitrag finanzieren die Arbeitnehmer und Rentner seit Mitte 2005
das Krankengeld und den Zahnersatz, Durch einen juristischen Kniff wurde es möglich, Rentner de facto für
Krankengeld zahlen zu lassen, obwohl ein Rentner natürlich niemals Krankengeld bezieht. Dazu wurde ein Sonderbeitrag in Höhe von 0,9 Prozent des Einkommens eingeführt, den die Versicherten ohne Beteiligung der
Arbeitgeber zu zahlen haben. Damit wurde der Grundsatz
der paritätischen Finanzierung, also das Prinzip halbehalbe, erstmals direkt abgeschafft.
Dieser Sonderbeitrag kostet die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung 9 Milliarden Euro, also jeden Beitragszahler durchschnittlich zusätzlich 180 Euro
pro Jahr.
Mit der „Reform“ 2007, dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, wurde der Weg der einseitigen Belastung
konsequent fortgesetzt. Der geplante Gesundheitsfonds,
der zum 1. Januar 2009 in Kraft treten soll, wird es nicht
schaffen, dass endlich alle für die gleiche Leistung auch
den gleichen prozentualen Anteil ihres Einkommens zahlen.
CDU/CSU und SPD haben beschlossen, dass die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen zulasten der Versicherten gehen. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es ein
komplexes Konstrukt innerhalb des Gesundheitsfonds:
Anfang 2009 sollen die Krankenkassen 100 Prozent ihrer
Ausgaben aus dem Fonds erhalten. Schon Ende 2009
werden die Einnahmen des Fonds dazu nicht mehr ausreichen. Aber die Beiträge werden erst wieder erhöht,
wenn die Kosten zu weniger als 95 Prozent gedeckt sind.
Nach unseren Berechnungen wird dies voraussichtlich
2012 oder 2013 der Fall sein. Da aber die Kostensteigerungen bei Ärzten, Krankenhäusern und Medikamenten
weiter stattfinden werden, haben die Kassen nur eine
Alternative: Sie müssen den sogenannten Zusatzbeitrag
erheben. Dies kann auch in Form einer „kleinen Kopfpauschale“ erfolgen. Ab 2010 werden alle Kassen voraussichtlich Zusatzbeiträge von ihren Versicherten verlangen müssen.
Und natürlich: Die Lohnnebenkosten-Senkungs-Ideologie wirkt weiter: Es zahlt erneut nur der Versicherte!
Das sind weitere bis zu 10 Milliarden Euro, die nicht
mehr paritätisch finanziert werden. Diese politische Entscheidung belastet jeden Beitragszahler mit durchschnittlich 200 Euro pro Jahr. Halbe-halbe? Das war einmal!
Die Linke ist gegen diesen Gesundheitsfonds, weil er
den falschen Weg von Rot-Grün unter Schwarz-Rot fortsetzt. Diese Politik führt zu steigenden Kosten für Arbeitnehmer, Rentner, Arbeitslose Studenten, aber nicht zu einer besseren Gesundheitsversorgung.
Die politisch gewollten Mehrbelastungen kosten insgesamt jeden Beitragszahler zusätzlich durchschnittlich
466 Euro pro Jahr. Die Arbeitgeber freuen sich über satte
Entlastungsgeschenke. Die Linke lehnt diese Art der gesetzlich verordneten Umverteilung von unten nach oben
ab.
Wir wollen stattdessen eine solidarische Bürgerinnenund Bürgerversicherung. Das heißt: Wir wollen, dass
jede und jeder, egal ob angestellt, selbstständig, Rentner,
Beamter, Pensionär, arbeitslos, Student oder Politiker in
der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung
abgesichert ist. Jeder zahlt den gleichen Prozentsatz seines gesamten Einkommens als Beitrag. Bei Erwerbseinkommen zahlt der Arbeitgeber wieder die Hälfte der Beiträge.
Wenn dann alle aus allen Einkommensarten die Gesundheitsversorgung finanzieren, und nicht nur Erwerbstätige und Rentner, dann kann der Beitragssatz deutlich
gesenkt werden. Statt mit 15,5 Prozent unter den Bedingungen dieses Gesundheitsfonds, käme das Bürgerversicherungsmodell rechnerisch mit 8,6 Prozent Beitragssatz
aus und das bei gleichen Leistungen. Da wir die Zuzahlungserhöhungen und Leistungskürzungen der letzten
Jahre wieder rückgängig machen und den medizinischen
Fortschritt für alle gewähren wollen, ist ein Beitragssatz
von etwa 10 Prozent für alle erforderlich. Solidarität
rechnet sich!
Vor vier Wochen hat die Bundesfamilienministerin den
gesetzlich Krankenversicherten einen guten Rat auf den
Frühstückstisch gelegt. Per Sonntagszeitung teilte sie ihnen mit, dass sie ihre Krankenkasse verlassen sollen,
wenn diese einen Zusatzbeitrag von ihnen verlangt; denn
den müssten nur solche Kassen verlangen, die schlecht
wirtschaften. Gut wirtschaftende Kassen könnten ihren
Versicherten Geld zurückgeben.
Dieser Sonntagsgruß der Ministerin passte sich nahtlos in die gewohnte Rhetorik der Koalition ein, wenn die
Sprache auf den Zusatzbeitrag kommt. Der wird der Öffentlichkeit als Gradmesser für die Wirtschaftlichkeit einer Krankenkasse verkauft.
Das ist selbstverständlich Unsinn, weil die Konstruktion des Zusatzbeitrags dessen Höhe von ganz anderen
Faktoren abhängig macht als vom verantwortungsvollen
Umgang einer Krankenkasse mit Versichertengeldern.
Der Koalition wurde schon während des Gesetzgebungsverfahrens durch von ihr selbst bestellte Gutachter gezeigt, dass durch die Kombination von Zusatzbeitrag und
1-prozentiger Belastungsobergrenze die Höhe des Zusatzbeitrags bzw. der Beitragsrückerstattung davon bestimmt wird, wie viel oder wenig die Mitglieder einer
Kasse verdienen. Eine Kasse mit vielen Geringverdienern
muss einkalkulieren, dass viele ihrer Mitglieder den Zusatzbeitrag nicht vollständig bezahlen können. Diese Beitragsausfälle muss sie dann durch einen höheren Zuschlag - und damit durch die Belastung ihrer besser
verdienenden Mitglieder - wieder ausgleichen. Diesen
Zusammenhang kann sie auch durch noch so gutes Wirtschaften nicht außer Kraft setzen. Von diesen ErkenntnisZu Protokoll gegebene Reden
sen hat sich die Koalition aber nicht beirren lassen und
die Gutachten einfach in den Schreibtisch gesteckt.
Unsinn ist das Gerede vom Zusatzbeitrag als Gradmesser der Wirtschaftlichkeit aber vor allem, weil für die
Koalition dieser Zuschlag ein zentraler Bestandteil der
künftigen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Ab dem Jahr 2010 soll der Gesundheitsfonds
nur noch 95 Prozent der Leistungsausgaben der Krankenkassen finanzieren müssen. Die restlichen 5 Prozent - das
entspricht nach heutigem Stand einem Betrag von
7,5 Milliarden Euro - soll dann über Zusatzbeiträge aufgebracht werden.
Das heißt, weil die Koalition keine vernünftige Finanzreform der Krankenversicherung hinbekommen hat,
greift sie den Versicherten tief in die Tasche. Damit es
aber niemand merkt, ruft sie selbst am lautesten: „Haltet
den Dieb!“ Dabei werden die Versicherten die Auswirkungen des Zusatzbeitrags nicht nur in ihren Geldbeuteln
spüren. Durch ihre Ratschläge, sich bei der Kassenwahl
vor allem an Zusatzbeitrag und Rückerstattung zu orientieren, fördert die Bundesregierung eine Schnäppchenmentalität, die in der Gesundheitsversorgung nichts zu
suchen hat. Die Krankenkassen setzt sie damit wiederum
unter Druck, die Erhebung des Zusatzbeitrags so lange
wie nur irgend möglich hinauszuzögern. In den nächsten
beiden Jahren werden die Kassen vor allem darum konkurrieren, wer den längsten Atem hat und möglichst lange
ohne Zuschlag auskommt. Das wird zu einem rigiden
Sparregime in den Kassen führen. Patientinnen und Patienten, die auf besonders teure Therapien angewiesen
sind, werden das zu spüren bekommen. Für innovative
Versorgungsformen, die erst einmal Anlaufkosten verursachen, wird kein Geld übrig sein.
Eine veränderte Grenzziehung zwischen eigenverantwortlich und solidarisch zu tragenden Lasten kann kein
Tabu sein. Das gilt auch, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Linken, für die Reduzierung der Lohnnebenkosten. Allerdings muss es dafür gute Gründe geben und die
dafür verantwortlichen Politikerinnen und Politiker müssen auch bereit sein, für diese Gründe und die von ihnen
ergriffenen Reformmaßnahmen einzustehen. Das ist bei
der Gesundheitsreform 2004 der Fall gewesen. Angesichts der Situation auf dem Arbeitsmarkt haben wir uns
damals bewusst dafür entschieden, die Parität zu verschieben und Selbstbeteiligungen auszubauen. Und wird
haben diese Reformen damals auch offen vertreten. Vieles
Weitere ist im Rahmen der Agenda 2010 dazugekommen.
Ein Blick auf die Arbeitslosenzahlen zeigt, dass diese Politik erfolgreich war.
Allerdings ist die Situation heute eine sehr viel andere.
Gesundheitsfonds und Zusatzbeitrag sind nicht zustande
gekommen angesichts steigender Arbeitslosenzahlen und
zu hoher Arbeitskosten. Mit Problemen im Gesundheitswesen oder in anderen gesellschaftlichen Bereichen haben sie nichts zu tun. Tatsächlich sind sie Ausdruck einer
Koalition, die so in ihren inneren Widersprüchen gefangen ist, dass sie sich nur noch mit sich selbst beschäftigt.
Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass diese Reform der Koalition so peinlich ist, dass sie es nicht gewesen sein will.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/10318 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Gesundheit und zur Mitberatung an
den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sowie an
den Ausschuss für Arbeit und Soziales zu überweisen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren
Wettbewerb
- Drucksache 16/10145 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Dr. Günter Krings, CDU/CSU, Dirk Manzewski, SPD,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP, Ulla Lötzer,
Die Linke, Nicole Maisch, Bündnis 90/Die Grünen, und
des Parlamentarischen Staatssekretärs Alfred
Hartenbach.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/10145 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({1}), Winfried Nachtwei, Marieluise
Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für klare menschen- und völkerrechtliche
Bindungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr
- Drucksache 16/8402 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Holger
Haibach, CDU/CSU, Christoph Strässer, SPD, Florian
Toncar, FDP, Dr. Norman Paech, Die Linke, Volker Beck
({4}), Bündnis 90/Die Grünen, und des fraktionslosen
Gert Winkelmeier.
1) Anlage 14
Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr leisten seit
vielen Jahren in Auslandseinsätzen einen wichtigen Beitrag nicht nur für die Sicherheit Deutschlands, sondern
auch für den Schutz der Menschenrechte. Sie nehmen teil
an humanitären und friedenssichernden Missionen und
sorgen durch ihre Präsenz für den notwendigen Schutz,
der in einer Krisenregion erst die unabdingbaren Voraussetzungen für den Wiederaufbau schafft: Stabilität und Sicherheit! Dafür gebührt ihnen unser tief empfundener
Dank.
Militärisches Handeln findet allerdings nicht im luftleeren Raum statt. Das bedeutet, dass das Handeln von
Soldatinnen und Soldaten von verschiedenen Faktoren
abhängig ist: vom Einsatzgebiet, von der Aufgabenstellung und nicht zuletzt von den anderen Akteuren vor Ort ob feindlich, freundlich oder neutral. Militärisches Handeln wird schließlich nicht alleine von der Bundeswehr
geleistet, sondern in der Regel in Zusammenarbeit mit
anderen Partnern im Rahmen der UN, der EU oder der
NATO.
Vor diesem Hintergrund entstehen neue Fragestellungen und Probleme, die der Antrag, den wir heute debattieren, aufgreift. Diese Fragestellungen sind auch deshalb wichtig, weil die Bundeswehr über mehr als vier
Jahrzehnte nicht in Auslandseinsätze eingebunden war
und sich somit viele Fragen bis Mitte der 90er-Jahre einfach nicht gestellt haben.
Ich möchte in diesem Zusammenhang eine Bemerkung
vorausschicken: Jeder militärische Einsatz, der auf den
Schutz der Menschenrechte zielt, verliert in dem Augenblick dramatisch an Legitimation, in dem die militärisch
Handelnden Mittel und Wege nutzen, die den Menschrechten zuwiderlaufen. Schon aus dieser Erwägung
heraus - ohne auf die zwingende moralische Notwendigkeit zur Einhaltung der Menschenrechte einzugehen muss sich das Handeln der internationalen Staatengemeinschaft und damit eben auch der Bundeswehr an menschenrechtlichen Standards orientieren. Ich bin der festen
Überzeugung, dass der Bundesverteidigungsminister, die
militärische Führung der Bundeswehr und auch die Soldatinnen und Soldaten sich dieser Tatsache bewusst sind
und auch in den allermeisten Fällen danach ihr Handeln
ausrichten.
Es ist jedoch nicht zu bestreiten, dass es in der Vergangenheit vereinzelt zu nicht hinnehmbaren Verletzungen
dieser Prinzipien gekommen ist. Diese müssen aufgeklärt
und die Ursachen hierfür beseitigt werden. Es ist mir allerdings wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich tatsächlich um Einzelfälle und nicht um ein „Massenphänomen“ handelt.
Dennoch hat der vorliegende Antrag insofern seine
Berechtigung, als er die Schwerpunkte anspricht, die für
ein an menschenrechtlichen Standards orientiertes Handeln entscheidend sind: entsprechende Ausbildung, klare
Befehlsstrukturen und ebenso klare Vorgaben für das Verhalten im Einsatz. Allerdings versucht der Antrag, den
Anschein zu erwecken, diese Punkte seien bisher vernachlässigt oder gar nicht beachtet worden. Und diesen
Versuch kann man getrost und mit guten Gründen als gescheitert ansehen.
Gehen wir die Punkte im Einzelnen durch: „Klarheit
über die menschen- und völkerrechtlichen Bindungen und
die Grenzen des zulässigen Vorgehens bei Auslandseinsätzen zu schaffen“, wie es der erste Punkt Ihres Antrags
fordert, ist doch mindestens genauso eine Herausforderung an den Deutschen Bundestag wie an die Bundesregierung. Wenn dem nicht so wäre, dann hätten wir als Abgeordnete im Rahmen der Mandatsverlängerung, aber
auch im Rahmen unserer Mitwirkungsrechte im Wege des
Parlamentsbeteiligungsgesetzes unsere Arbeit schlecht
gemacht. Diesen Eindruck habe ich aber vor dem Hintergrund der intensiven, oft kritischen Debatten in diesem
Haus und der noch intensiveren Arbeit in den beteiligten
Ausschüssen nicht.
Sie fordern weiterhin, dass Soldatinnen und Soldaten
bei Auslandseinsätzen nicht durch Befehle Vorgesetzter in
eine Lage gebracht werden sollen, in der sie zu Handlungen angehalten werden, die völker- und menschenrechtlichen Standards widersprechen. Diese Forderung ist, so
richtig sie sein mag, doch ein wenig banal. Das Verbot
von Befehlen, die gesetzlichen Bestimmungen zuwiderlaufen, ist ein alt hergebrachter Grundsatz der Bundeswehr und gilt im In- wie im Ausland. Das soll nicht heißen, dass es solche Fälle nicht hin und wieder gibt. Aber
die Regelungen, die solches verbieten, gibt es eben auch.
Ich verweise hier nur auf § 10 Abs. 4 des Soldatengesetzes, der es deutschen Soldaten verbietet, strafrechtswidrige Befehle anzunehmen und auszuführen. Konkret heißt
es: „Er ({0}) darf Befehle nur zu dienstlichen
Zwecken und nur unter Beachtung der Regeln des Völkerrechts, der Gesetze und der Dienstvorschriften erteilen.“
Hier wird das Völkerrecht ausdrücklich erwähnt.
Im Übrigen will ich an dieser Stelle betonen und deutlich machen, dass die Bundeswehr schon seit langer Zeit
ihre Soldatinnen und Soldaten intensiv auf Auslandseinsätze vorbereitet und dass dabei der Aspekt „Einhaltung
von menschenrechtlichen und völkerrechtlichen Standards“ eine wichtige Rolle spielt. Ich möchte in diesem
Zusammenhang auf das VN-Ausbildungszentrum der
Bundeswehr in Hammelburg verweisen. Da diese Einrichtung über eine Homepage verfügt, kann man sich im
Internet über die Aktivitäten informieren, die unternommen werden, um militärisches und ziviles Personal für
Einsätze im Rahmen der UN zu schulen. Dabei kann man
auch feststellen, dass es eine intensive Zusammenarbeit
auch mit Institutionen der Zivilgesellschaft und auch mit
dem Zentrum für internationale Friedenseinsätze gibt. Insofern werden hier unter anderem genau die Inhalte vermittelt, die in dem vorliegenden Antrag eingefordert werden.
Darüber hinaus werden die Einsatzkräfte auch mit sogenannten Taschenkarten ausgestattet, die ihnen in Kurzform im Einsatzfall als Informationsquelle über die Grenzen ihres Handelns zur Verfügung stehen.
Für uns als CDU/CSU-Fraktion ist klar, dass wir die
Einsätze der Bundeswehr und das Verhalten der Soldatinnen und Soldaten immer im Einklang mit den Standards
des Völkerrechts und der Menschenrechte sehen wollen.
Dass dies, besonders bei dem letztem Punkt, den der Antrag erwähnt, nämlich der Zusammenarbeit mit anderen
Zu Protokoll gegebene Reden
militärischen Verbänden aus anderen Nationen, manchmal zu schwierigen Situationen geführt hat und vielleicht
auch führen wird, ist klar. Aber auch hier sollten wir uns
davor hüten, Verbündete sozusagen unter Generalverdacht zu stellen, auch wenn bestimmte Vorfälle in der Vergangenheit Besorgnis erregt haben.
Die Verantwortung, die Bundeswehr im Rahmen des
Völkerrechts und in Übereinstimmung mit menschenrechtlichen Standards operieren zu lassen, sehen wir in
gleicher Weise wie die Antragsteller. Der Eindruck, hier
werde zu wenig getan, wird aber von uns nicht geteilt.
Schließlich haben wir als Parlament die Verantwortung,
Ja oder Nein zu sagen zu einem Einsatz. Diese Verantwortung schließt die Prüfung der Frage mit ein, ob der jeweilige Einsatz vertretbar ist und im Einklang mit den
oben genannten Grundsätzen steht.
Die Bundesrepublik Deutschland ist seit vielen Jahren
Vollmitglied der Vereinten Nationen. Mit dem Beitritt haben wir die Geltung der Charta anerkannt, und zwar insgesamt und nicht nur in Teilbereichen. Anerkannt haben
wir damit auch Kapitel VII, wonach bei „Bedrohung“
oder einem „Bruch des Friedens oder einer Angriffshandlung“ auch militärische Sanktionsmaßnahmen nach
Art. 42 durchgeführt werten können, wenn andere Maßnahmen nach Art. 41 VN-Charta unzulänglich sind oder
sein würden. Unter diesen Obliegenheiten muss auch
Deutschland sich der Verantwortung als Mitglied der
Vereinten Nationen stellen und bei Vorliegen der völkerrechtlichen Voraussetzungen politisch entscheiden, ob
und in welchem Umfang nach entsprechender Anforderung die Bundeswehr sich an derartigen friedenssichernden Maßnahmen der Vereinten Nationen beteiligt. Die
einfache wie populistische Forderung „Keine Auslandseinsätze der Bundeswehr“ ist insofern verantwortungslos, die Bundeswehr ist fester Bestandteil internationaler
Bündnissysteme.
Sie übernimmt seit Jahren wichtige internationale Verantwortung und leistet mit ihren Auslandseinsätzen einen
wichtigen Beitrag zur Friedenssicherung in Krisenregionen. Sie unterstützt die Vereinten Nationen bei der Wahrung der Menschenrechte, bei der Herstellung und
Wahrung der Sicherheit in Krisengebieten und schafft damit Räume für zivile Organisationen bei der Auslieferung
humanitärer Hilfsgüter und zum zivilen Wiederaufbau.
Dabei finden militärische Einsätze nicht in rechtsfreien
Räumen statt. Im Zentrum jedes Einsatzes muss die Wahrung der Menschenrechte stehen, wie sie sich aus den
Grundsätzen des humanitären Völkerrechts, aber auch
aus den Wertentscheidungen unseres Grundgesetzes ergeben. Sicherheitspolitik kann nur dann glaubwürdig
sein, wenn sie bereit und fähig ist, Freiheit und Menschenrechte auch durchzusetzen - und vor allem auch
selbst danach zu handeln.
Deshalb geht die grundsätzliche Stoßrichtung des Antrages auch unter dem Aspekt einer notwendigen sachlich
und öffentlich geführten Debatte zu diesem Thema in
Ordnung. Wir müssen uns in Zukunft verstärkt die Fragen
stellen: Wie weit reichen die Menschenrechtsverpflichtungen der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen? Wie werden die Soldaten informiert und geschult? Wie kann die
Einhaltung der Verpflichtungen kontrolliert werden? Das
sind Fragen, mit denen sich die zuständigen Ressorts und
der Deutsche Bundestag weiter zu beschäftigen haben.
Vor einigen Monaten berichtete das Magazin „Der
Spiegel“ von einem Einsatz der Krisenreaktionkräfte in
Afghanistan. Die Einheit sollte einen Taliban-Kommandeur dingfest machen, auf dessen Konto eine Reihe von
Sprengfallen ging. Er wurde ausfindig gemacht, die Operation wochenlang geplant. Kurz vor dem Zugriff wurden
die Pläne entdeckt. Der Verdächtige entkam, obwohl er
hätte getötet werden können. Deutsche Soldaten beteiligen sich nicht am Targeting - dem gezielten Ausschalten
von Feinden. Andere Nationen sehen das anders, was
durchaus zu Reibungspunkten und Zielkonflikten führt.
Die deutschen Soldaten brauchen Klarheit und Rechtssicherheit für ihr Handeln. Das gilt auch für die Gewahrsam- und Festnahme von Personen. Wie lange dürfen
diese festgehalten werden, wem dürfen sie übergeben
werden, welche Regeln gelten? Nach einem von Amnesty
International vorgelegten Afghanistan-Report sei zum
Beispiel nicht auszuschließen, dass überstellte Personen
von afghanischer Seite misshandelt würden. Aus diesem
Grunde wird derzeit auch ein Abkommen zwischen
Deutschland und Afghanistan vorbereitet, um sicherzustellen, dass an staatliche afghanische Behörden zu übergebende Personen nach den internationalen und vertraglichen menschenrechtlichen Verpflichtungen behandelt
werden und die Todesstrafe nicht an ihnen vollstreckt
wird. Dies ist zur Herstellung von Rechtssicherheit dringend erforderlich, sogenannte Diplomatische Zusicherungen reichen hierfür nach meinem Verständnis nicht
aus.
Die Verpflichtung auf das Grundgesetz war und ist eines der Gründungsprinzipien der Bundeswehr. Bundeswehrsoldaten sind wie jeder andere Bürger auch den
Werten des Grundgesetzes verpflichtet - auch bei Auslandseinsätzen. Es gibt keinen begründeten Zweifel daran, dass die Bundeswehr nicht alles unternimmt, die Einhaltung des Völkerrechts und der Menschenrechte zu
gewährleisten. Die Ausrichtung ihres Handelns an die
Einhaltung der elementaren Menschenrechte gehört zum
Selbstverständnis der Soldatinnen und Soldaten. Gleichzeitig stellt der „Staatsbürger in Uniform“ den demokratischen Gegenentwurf zum unkritischen Befehlsempfänger dar.
Dabei sind zwei Ebenen zu unterscheiden - zum einen
die Ebene der dienstrechtlichen Vorgaben, zum anderen
die Ebene des höherrangigen Rechts. Die Soldatinnen
und Soldaten werden im Rahmen ihrer Ausbildung, einsatzlandspezifisch vor jedem Auslandseinsatz und auch
während des Einsatzes über die Grundlagen des Humanitären Völkerrechts und des Internationalen Rechts ausgebildet. Auf die allgemeinen und besonderen Bestimmungen beim Festhalten oder Festnehmen von Personen
wird in den sogenannten Taschenkarten, die den Soldatinnen und Soldaten zur Verfügung gestellt werden, eingegangen. Die Rechtsgarantien für Personen, die bei
Auslandseinsätzen der Bundeswehr in Gewahrsam genommen werden, wurden unter anderem in einem Befehl
Zu Protokoll gegebene Reden
vom 26. April 2007 im Einzelnen aufgeführt. Doch letztlich stellen die zentralen Dienstvorschriften der Bundeswehr eine untergesetzliche Normbasis ohne Außenwirkung dar.
Deshalb bleibt weiter zu fragen, inwieweit auf der
Ebene des höherrangigen Rechts Grundrechte aus dem
Grundgesetz oder völkerrechtliche Verpflichtungen wie
die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte oder der Internationale Pakt über bürgerliche und
politische Rechte mittelbar oder besser unmittelbar Anwendung finden.
Die Bundesregierung erklärt dazu, bei Einsätzen der
Bundeswehr im Ausland, insbesondere auch im Rahmen
von Friedensmissionen, sichere Deutschland allen Personen, soweit sie der Herrschaftsgewalt der Bundeswehr
unterstehen, die Gewährung der im Zivilpakt anerkannten Rechte zu. Diese Erklärung stößt bei großen Teilen
der Nichtregierungsorganisationen zu Recht auf Kritik.
Juristisch spitzfindig verberge sich hinter der Erklärung
nur eine Zusicherung der Paktrechte. Im Umkehrschluss
könne man daraus schließen, dass die völkerrechtlichen
Regelungen eigentlich keine unmittelbare Anwendung
fänden, man sich aber freiwillig bereit erkläre, sie anzuwenden. Außerdem würden die Rechte nur Personen
zugesichert, die der deutschen Herrschaftsgewalt unterstehen. Die Bundesregierung vertrete die Auffassung, die
Bundeswehr übe ausschließlich Hoheitsgewalt der Vereinten Nationen aus, wenn sie im Rahmen eines Mandats
des Sicherheitsrates handele, sodass die Grundrechte, die
EMRK und der Zivilpakt keine Anwendung fänden. Denn
auf Handlungen der Vereinten Nationen finden insbesondere internationale Menschenrechtsabkommen keine Anwendung, weil nur Staaten Vertragspartner dieser Übereinkommen sind. In diesem Fall würde nur das zwingende
Völkerrecht gelten, dessen Schutzstandard unter dem der
Menschenrechtsabkommen liegt. Eine solche Positionierung halte ich für unzureichend, relativiert sie doch den
Charakter und die Verbindlichkeit der von uns ratifizierten Übereinkommen.
Gerade in den Rechtswissenschaften finden auch andere Auslegungen Gehör. Für Einsätze der Bundeswehr
nach Art. 24 Abs. 2 GG, der für internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen gilt, dürfen keine Hoheitsrechte vollständig übertragen werden. Beim Einsatz
multinationaler Kontingente übertragen die Entsendestaaten nicht die vollständige Kommandogewalt. Auch
Bundesregierung und Bundestag gehen schließlich davon
aus, dass sie das Recht haben, für Auslandseinsätze der
Bundeswehr nationale Bedingungen und Beschränkungen vorzusehen. Neben dem Mandat der Vereinten Nationen existiert also auch ein nationales Mandat. Es gelte
eine Mehrebenenverantwortlichkeit. Aus diesem Grund
bestehe kein Anlass, die Grundrechte des Grundgesetzes
auf extraterritoriale Handlungen der Bundeswehr nicht
anzuwenden. Die Solange-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und die Bosphorus-Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte lassen
es sogar geboten erscheinen, jeweils zu überprüfen, ob in
materieller Hinsicht ein vergleichbarer Grundrechtsschutz besteht. Es bleibt zu überprüfen, ob und inwieweit
kontextbezogen Modifikationen des Schutzumfanges zulässig sind. Modifikationen können sich im Rahmen der
Verhältnismäßigkeitsprüfung oder mit Blick auf die
praktische Konkordanz im Widerstreit mit anderen
Grundrechten und Verfassungsgütern ergeben. Doch im
Ergebnis gilt die Verpflichtung der Gewährleistung des
höchstmöglichen Schutzniveaus, und zwar verbindlich
und ausnahmslos.
Ein weiterer zentraler Punkt ist die unmittelbare Anwendbarkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Zivilpaktes. Im Fall Saramati hat der EGMR
entschieden, die Menschenrechtskonvention sei nicht anwendbar, weil nationale Kontingente bei Friedensmissionen der Vereinten Nationen ausschließlich deren Hoheitsrechte ausüben wurden. Die Entscheidung wurde zu
Recht mit Verwunderung aufgenommen, da das Gericht
zum einen nicht die Frage aufwarf, ob nationale Kontingente parallel auch nationale Hoheitsgewalt ausüben,
zum anderen weil der Gerichtshof von seiner eigenen
Rechtsprechung abwich, wonach es bei der Anwendung
der Menschenrechtskonvention bleibt, wenn ansonsten
kein gleichwertiger Menschenrechtsschutz gewährleistet
wäre. Aus der Intension der Konvention heraus dürfe kein
schutzloser menschenrechtsfreier Raum geduldet werden.
Die aktuelle Debatte in der Zivilgesellschaft und
Fachöffentlichkeit zeigt, dass noch nicht auf alle Fragen
und Herausforderungen die abschließenden Antworten
gefunden wurden, weder von juristischer Seite, was auch
auf sich widersprechende Urteile der nationalen und internationalen Gerichte zurückzuführen ist, noch von
politischer Seite. Richtig ist es, auf konkrete Fragen im
Rahmen jeden Einsatzes auch pragmatische Antworten
zu suchen, wie die Verhandlungen mit der afghanischen
Regierung über ein Abkommen zur Überstellung festgenommener Personen. In der Fachöffentlichkeit ist in der
Diskussion den verfahrensrechtlichen Schwierigkeiten
bei vorübergehend festgehaltenen Personen und der gegebenenfalls gebotenen Richtervorführung mit einer Zuordnung von Richtern im Einsatzgebiet oder der Möglichkeit der Videokonferenz zu begegnen. Gleichzeitig gilt es
aber auch, quasi auf der Metaebene die menschen- und
völkerrechtlichen Rahmenbedingungen weiter zu konkretisieren. Dazu gehören sicherlich auch die Überlegungen
einer expliziten Verankerung der Menschenrechte in den
Mandaten der Vereinten Nationen und des Bundestages,
ein Weg, den ich vom Ansatz her nachdrücklich befürworte. Grundsätzlich bin ich auch der Auffassung: je konkreter die Mandatierung erfolgt, je mehr Wert auf den zivilen Wiederaufbau, auf Nation Building und Capacity
Building gelegt wird, je konkreter die Menschenrechte
Verankerung finden, desto besser.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch abschließend darauf hinweisen, dass der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe anlässlich des 60. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
plant, im Dezember eine Anhörung zum Thema „Menschenrechte und extraterritoriale Staatenpflichten“
durchzuführen. Das Thema bleibt also auf der politischen
Agenda, ich freue mich auf eine sachgerechte und angemessene Debatte in den Ausschüssen. Alle Beteiligten,
insbesondere auch die Soldatinnen und Soldaten, die in
solchen Einsätzen viel riskieren müssen, haben Anspruch
Zu Protokoll gegebene Reden
auf Klarheit und Rechtssicherheit. Den kann nur die
Politik schaffen.
Der vorliegende Antrag lenkt die Aufmerksamkeit auf
die Frage, welche völker- und menschenrechtlichen
Grundsätze die Soldaten der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen binden. Damit soll sichergestellt werden, dass
die Soldaten die Menschenrechte der Bevölkerung im
Einsatzland achten. Zudem soll die Truppe klare Handlungsanweisungen erhalten, um zu verhindern, dass die
Soldaten möglicherweise an Aktionen beteiligt werden,
die ihr Mandat überschreiten und für die sie später zur
Rechenschaft gezogen werden. Die Sicherstellung beider
Ziele ist unerlässlich, um die Unterstützung der Bevölkerungen für die Präsenz der Bundeswehr in Einsatzgebieten zu bewahren und so zur Sicherheit der Soldaten beizutragen.
Auch wenn der vorliegende Antrag sich mit einer
wichtigen Thematik befasst, wählen die Grünen leider einen Zungenschlag, der dem engagierten Verhalten der
deutschen Soldaten nicht gerecht wird. Der Antrag impliziert ein breites Fehlverhalten der Bundeswehr bei
Auslandseinsätzen. Die Formulierungen erwecken den
Eindruck, als ob die Soldaten ohne menschen- und völkerrechtliche Bindungen bei Auslandseinsätzen vorgehen
würden. Ferner unterstellen sie, dass bei Auslandseinsätzen grund- und menschenrechtliche Verpflichtungen nicht
eingehalten werden und Soldaten möglicherweise zu
Handlungen angeleitet werden, für die sie später strafrechtlich belangt werden können. Diese Prämissen treffen
nicht zu. Richtig ist jedoch, dass der Dienstherr in einigen
Fällen in seiner Befehlslage Unklarheit für die Soldaten
geschaffen hat, die behoben werden müssen.
Zur Rechtslage ist zu sagen, dass die Soldaten der
Bundeswehr wie alle anderen deutschen Bürger an das
deutsche Grundgesetz gebunden sind, in dem es in Art. 1
Abs. 1 GG heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Bedeutsam ist auch, dass die Bundeswehr als Teil
der deutschen öffentlichen Gewalt bei Handlungen im
Ausland nicht nur den Verpflichtungen der völkerrechtlich normierten Menschenrechte unterliegt, sondern auch
in die durch Art. 1 Abs. 3 GG normierte Bindung an die
deutschen Grundrechte einbezogen ist.
Die Antragssteller führen am Anfang des Begründungsteils treffend aus: „Auslandseinsätze der Bundeswehr sind zwingend an das Völkerrecht und die Menschenrechte gebunden“. Seit ihrer Gründung gilt für die
Soldaten der Bundeswehr, dass Befehlen, die das humanitäre Völkerrecht verletzen, nicht Folge zu leisten ist.
Dabei ist weder die Erteilung solcher Befehle noch ihre
Ausführung erlaubt.
Ich möchte an dieser Stelle unterstreichen, dass das
Verhalten der deutschen Soldaten bei Auslandseinsätzen
den grund- und völkerrechtlichen Verpflichtungen gerecht wird. Vereinzelte Fälle von individuellem Fehlverhalten sind konsequent geahndet worden.
In der Befehlslage hat das Bundesministerium der Verteidigung jedoch nicht immer die notwendige Sorgfalt
walten lassen. Dazu möchte ich Ihnen ein Beispiel geben:
Das Bundesverteidigungsministerium stellt den Soldaten
wichtige Informationen oder Merksätze in Form von sogenannten Taschenkarten zur Verfügung. Dies sind kompakte Faltblättchen, welche die Soldaten griffbereit bei
sich tragen sollen. In der 2006-er Ausgabe der Taschenkarte mit dem Titel „Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten“ wurde die Anweisung, dass die Soldaten der Bundeswehr die Regeln des humanitären
Völkerrechts zu beachten haben, durch den Zusatz „soweit praktisch möglich“ eingeschränkt. Solche Fehler
dürfen nicht vorkommen. Das Verteidigungsministerium
ersetzte diese Textfassung im Juni 2008 durch eine Formulierung, die die vorbehaltlose Geltung des humanitären Völkerrechts wieder festschreibt.
Der Antrag der Grünen geht auch auf die Behandlung
von festgenommenen Personen durch die Bundeswehr
ein. Das Bundesministerium der Verteidigung hat letztmalig durch den Befehl vom 26. April 2007 die Behandlung von Gefangenen durch die Bundeswehr geregelt.
Mit diesem Befehl reagierte die Bundesregierung auf einen Antrag der FDP-Bundestagsfraktion auf Drucksache 16/2096 vom 30. Juni 2006. Es waren die Liberalen,
die sich bereits vor über zwei Jahren mit diesem Themenkomplex befasst haben. Insofern hinken die Grünen der
Debatte deutlich hinterher. Der Befehl des Ministeriums
legt die menschenrechtskonforme Behandlung von Gefangenen fest. Da die Bundeswehr in Afghanistan keine
Gefängnisse betreibt, werden Gefangene bisher an die
örtlichen Behörden überstellt. Der angesprochene Befehl
legt dazu fest: „Die Übergabe der in Gewahrsam genommenen Personen an Sicherheitskräfte aus Drittstaaten ist
untersagt, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die
Beachtung menschenrechtlicher Mindeststandards nicht
gewährleistet ist.“ Auch wenn der angesprochene Befehl
einen Fortschritt bedeutet, besteht ein Defizit fort. So verlässt sich die Bundesregierung bei Überstellungen von
Gefangenen weiterhin auf diplomatische Versicherungen
des Empfängerstaates, anstatt sich durch regelmäßige,
unangekündigte Kontrollbesuche ein eigenes Bild über
die Haftbedingungen von überstellten Gefangenen zu machen. Also besteht hier noch Verbesserungsbedarf. Auf
dieses Defizit zielt der vorliegende Antrag der Grünen jedoch leider nicht ab.
In der Summe erweckt der Antrag der Grünen den Eindruck, dass die Einsätze der Bundeswehr nicht in einem
klaren menschen- und völkerrechtlichen Rahmen stattfänden. Ferner seien die Soldaten der Gefahr ausgesetzt,
zu Handlungen herangezogen zu werden, für die sie später strafrechtlich belangt werden könnten. Diese von den
Antragsstellern vermutete rechtswidrige Praxis existiert
so nicht. Daher zielt der Kern des Antrags ins Leere.
Dennoch muss das Bundesministerium der Verteidigung weitere Verbesserungen in der konkreten Befehlslage
vornehmen. Dies gilt insbesondere für die Sicherstellung
der rechtsstaatlichen Behandlung von Gefangenen nach
Überstellungen durch deutsche Stellen im Ausland. Die
FDP hat auf diese Lücke bereits vor zwei Jahren aufmerksam gemacht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der in dem Antrag enthaltene Zungenschlag ist ein
sprachlicher Duktus, der dem pflichtbewussten und engagierten Einsatz unserer Soldaten nicht gerecht wird. Daher lehnen wir diesen Antrag der Grünen ab.
In ihrem Antrag fordert die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen menschen- und völkerrechtliche Standards für
die Einsatzregeln der Bundeswehrsoldaten in Auslandseinsätzen. Diese müssen aber nicht nur mit dem Menschen- und Völkerrecht, sondern auch mit dem Grundgesetz vereinbar sein. Ebenfalls soll die Bundesregierung
sich verpflichten, ihre Soldatinnen und Soldaten vor Einsätzen, die mit den Menschen- und Völkerrechten sowie
mit dem Grundgesetz nicht kompatibel sind, zu bewahren.
Das findet in vielen Punkten unsere Zustimmung. Allerdings gibt es einen zentralen Punkt, der unserer Auffassung nach fehlt: die generelle Vereinbarkeit von Auslandseinsätzen mit dem Völkerrecht. So fordert Die Linke
seit langem, dass Auslandseinsätze nur dann gestattet
werden, wenn sie völkerrechtskonform sind. Leider war
und ist dies bis dato nicht immer der Fall. Sie erinnern
sich nicht gerne daran: Aber die Bombardierung Jugoslawiens war ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht.
Der damalige Außenminister Fischer hat seinerzeit mit
dem untauglichen Argument der sogenannten humanitären Intervention versucht, den Überfall völkerrechtlich zu
rechtfertigen. Es lag jedoch weder ein Fall der Selbstverteidigung noch ein Mandat des UN-Sicherheitsrats vor.
Das war eine dreiste Verletzung des Völkerrechts. Die
NATO hat Soldatinnen und Soldaten in einen völkerrechtswidrigen Krieg geschickt, in dem zudem zahlreiche
Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung begangen
wurden.
Aber auch der gegenwärtige Einsatz im Rahmen des
Antiterrorkampfes der OEF in Afghanistan ist völkerrechtlich nicht gedeckt. Auch wenn man mit Art. 51 der
UN-Charta argumentiert - nach sieben Jahre Besatzung
in Afghanistan ist der Verteidigungsfall längst hinfällig
geworden.
Und selbst die indirekte Beteiligung der Bundeswehr
am Irakkrieg ist völkerrechtlich nicht gedeckt. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Fall Pfaff eindeutig bestätigt, dass die Unterstützungsleistung gegen das Völkerrecht verstieß. Das BVerwG sagt in seinen Leitsätzen sehr
deutlich, ich zitiere:
6. … Für den Krieg konnten sich die Regierungen
der USA und des UK weder auf sie ermächtigende
Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates noch auf das in
Art. 51 UN-Charta gewährleistete Selbstverteidigungsrecht stützen.
7. Weder der NATO-Vertrag, das NATO-Truppenstatut, das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut noch der Aufenthaltsvertrag sehen eine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland vor,
entgegen der UN-Charta und dem geltenden Völkerrecht völkerrechtswidrige Handlungen von
NATO-Partnern zu unterstützen.
Wenn ein Auslandseinsatz der Bundeswehr völkerrechtskonform ist, so müssen es auch die Regeln für die
Soldatinnen und Soldaten sein. So wird in dem Antrag
richtig festgestellt, dass es der Bundesregierung bisher
nicht gelungen ist, „die menschen- und völkerrechtlichen
Grenzen und Bindungen bei Auslandseinsätzen klar zu
definieren und erlaubtes von unerlaubtem Handeln deutlich abzugrenzen.“ Die Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr sind zwar mit einer sogenannten Taschenkarte ausgestattet, aber diese lässt genug Spielräume, das
humanitäre Völkerrecht zu brechen. Deutsche Soldatinnen und Soldaten laufen deshalb permanent Gefahr, das
humanitäre Völkerrecht zu brechen: bei Gefangennahmen und bei der Behandlung von Gefangenen, mit der
Auslieferung von Gefangenen an Dritte und mit den Aufklärungsflügen. Die Kriegsführung der USA in Afghanistan hat schon seit langem und in unerträglichem Maße
die Regeln des humanitären Völkerrechts verletzt. Und je
tiefer sich die Bundeswehr in diesen Krieg hineinziehen
lässt, umso stärker läuft sie Gefahr, sich in die gleiche
völkerrechtswidrige Kampfführung zu verstricken.
Nach dem humanitären Völkerrecht sollte bei jedem
Einsatz der Schutz der Zivilbevölkerung oberstes Gebot
sein. Dies ist oft nicht der Fall, wie wir in Afghanistan fast
täglich sehen. Bundesregierung und NATO sprechen von
Kollateralschäden, wenn sie Tote in der Zivilbevölkerung, die Zerstörung von Krankenhäusern und wichtiger
Infrastruktur meinen. Dies ist nicht nur eine zynische Verharmlosung, sondern auch eine Verschleierung der Tatsache, dass diese Kampfeinsätze sich außerhalb des Völkerrechts bewegen.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verfehlt zwar unserer Meinung nach das Kernproblem von
Auslandseinsätzen und sogenannten Friedensmissionen.
Dennoch ist es schon ein Fortschritt, dass er sich mit den
Einsatzregeln für Soldatinnen und Soldaten auseinandersetzt und die Bundesregierung auffordert, hier Klarheit zu
schaffen. Dies verlangt der vorliegende Antrag, und er
findet deshalb unsere Zustimmung.
Es ist schon bemerkenswert, dass wir die Bundesregierung auffordern müssen, endlich Klarheit über die menschen- und völkerrechtlichen Bindungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr zu schaffen. Auslandseinsätze
der Bundeswehr - auch schwierige und gefahrvolle - finden ja schon seit einigen Jahren statt. Erst in den vergangenen Woche haben wir die Verlängerung der deutschen
Beteiligung an den UN-Einsätzen im Sudan und vor der
libanesischen Küste beschlossen. Die Beratung über die
Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan
steht im kommenden Monat an.
Umso beachtlicher ist es, dass es weiterhin keine Klarheit über den rechtlichen Rahmen dieser Einsätze gibt.
Dies stellt nicht nur der Bundesregierung ein Armutszeugnis aus, sondern auch die beteiligten Soldaten vor
große Probleme.
Nach Art. 1 des Grundgesetzes binden die Grundrechte die vollziehende Gewalt, also auch die Streitkräfte,
und zwar auch, soweit die Wirkungen ihrer Betätigung im
Ausland eintreten. Einen territorialen Vorbehalt kennt
das Grundgesetz nicht. Diese Feststellung ist auch in eiZu Protokoll gegebene Reden
Volker Beck ({0})
nem anderen aktuellen Kontext von Bedeutung: Bei Einsätzen außerhalb des deutschen Staatsgebiets, beispielsweise auf Hoher See im Rahmen von FRONTEX zur
Abwehr unerwünschter Zuwanderung.
Im Hinblick auf den Einsatz der Bundeswehr im Ausland geht es um ganz konkrete Sachverhalte von großer
praktischer Relevanz: Dürfen Personen festgenommen
und festgehalten werden? Wenn ja, auf welcher Rechtsgrundlage und für welche Dauer? Wie steht es mit dem
Gesetzesvorbehalt und dem Richtervorbehalt? Dürfen
Festgenommene an andere Institutionen überstellt werden? Insbesondere letztere Frage stellt sich aktuell in Afghanistan, wenn Personen an den afghanischen Geheimdienst überstellt werden. Wie will die Bundesregierung
sicherstellen, dass sie nicht gefoltert werden, ein faires
Gerichtsverfahren erhalten und nicht zum Tode verurteilt
und hingerichtet werden? Denn eines muss unmissverständlich klar sein: Jegliche deutsche Unterstützungsleistungen - auch unterhalb der direkten Übergabe selbst
ergriffener Verdächtiger - begründen im Falle von Verstößen gegen die Menschenrechte eine Mitverantwortung. Deutsche staatliche Gewalt darf keine Beihilfe zur
Folter oder unrechtmäßiger Inhaftierung leisten!
Der Untersuchungsausschuss zu Murat Kurnaz und
dem Einsatz der KSK in Afghanistan im Jahre 2002 hat in
der vergangenen Woche seine abschließende Sitzung abgehalten. Sein Bericht wird uns hier im Hause noch beschäftigen. Schon jetzt lässt sich aber sagen: Der Ausschuss hat die Erkenntnis zu Tage gefördert, dass die
Sondereinsatzkräfte damals nach Afghanistan beordert
wurden, ohne dass diese Fragen auch nur ansatzweise
geklärt waren. Das hat zu den bekannten Problemen geführt, unter anderem dem fragwürdigen Einsatz deutscher Soldaten bei der Bewachung von Personen, die im
US-Gefangenenlager in Kandahar interniert wurden, bevor sie widerrechtlich nach Guantanamo verschleppt
wurden.
Erst im Jahre 2007 wurden durch einen Befehl des Verteidigungsministeriums grundlegende Handlungsanweisungen an die Soldaten gegeben: Festgenommene sind
menschlich zu behandeln, müssen versorgt und dürfen
nicht gefoltert werden.
So begrüßenswert wie selbstverständlich diese Anweisungen sind, fällt doch auf, dass sie jegliche Bezugnahme
auf die Grundrechte des Grundgesetzes, die Europäische
Menschenrechtskonvention ({1}) oder Normen des
humanitären Völkerrechts vermeiden. Dadurch wird die
Unsicherheft darüber, welchem Rechtsregime das Handeln unterliegt, eher noch vergrößert. Gelten die Grundrechte des Grundgesetzes? Gelten die internationalen
Abkommen zum Schutz der Menschenrechte? Unterliegt
der Einsatz den Regeln des humanitären Völkerrechts?
Der sogenannte bewaffnete Kampf gegen Straftäter,
wie der Einsatz von der Bundesregierung bezeichnet
wird, findet mangels Festlegung in einer rechtlichen
Grauzone statt. Das Konstrukt der „Strafverfolgung mit
militärischen Mitteln“ führt dazu, die rechtlichen Grundlagen des Einsatzes zu vernebeln und sich von rechtlichen
Bindungen zu lösen.
Der ehemalige Beauftragte der Bundesregierung für
Menschenrechtsfragen im Bundesministerium der Justiz.
Stoltenberg, hat jüngst in einer juristischen Fachzeitschrift erneut den Finger in die Wunde gelegt und gefordert, die Bundesregierung solle unmissverständlich zum
Ausdruck bringen, dass sie bei Auslandseinsätzen der
Bundeswehr die grundsätzliche Geltung der Grundrechte
des Grundgesetzes sowie die Anwendbarkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention ({2}) und des
UN-Zivilpakts anerkennt.
Denn die Grundrechte des Grundgesetzes finden auch
dann Anwendung, wenn Handlungen der deutschen öffentlichen Gewalt außerhalb des deutschen Staatsgebietes stattfinden. Allein aus der Eingliederung in eine internationale Organisation oder aus der Zusammenarbeit mit
Sicherheitskräften anderer Staaten folgt keine Veränderung des grundrechtlichen Prüfungsmaßstabs. Auch für
die Ausübung von deutscher Hoheitsgewalt im Ausland
gibt es keine grundrechtsfreien Räume.
Nicht nur der Deutsche Bundestag braucht Klarheit
über den Umfang und die rechtlichen Grenzen eines von
ihm zu verantwortenden Auslandseinsatzes. Insbesondere
die beteiligten Soldatinnen und Soldaten benötigen
Rechtssicherheit. Sie dürfen nicht in rechtlichen Grauzonen operieren, und sie dürfen nicht im Unklaren gelassen
werden, ob ihr Vorgehen rechtlich zulässig ist oder einen
Rechtsverstoß darstellt
Als ich den vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen durchgelesen hatte, war ich versucht, wie die
Götter in der Odyssee in homerisches Gelächter auszubrechen.
Ich möchte kreativ zitieren:
Jetzo standen die Götter, die Geber des Guten, im
Vorsaal; und ein langes Gelächter erscholl bei den
seligen Göttern, als sie die Künste sahn des klugen
Erfinders Volker Beck.
Ich habe mir das Lachen allerdings verkniffen, denn
dazu ist das Thema viel zu ernst. Schon der erste Satz des
Antragsbegehrens hat es in sich. Da ist von der „völkerrechtlich korrekten“ Mandatierung von Auslandseinsätzen
die Rede, als ob das bisher alles völlig in Ordnung gewesen
wäre: vom gegen die Charta der UNO verabschiedeten
Vorratsbeschluss am 16. Oktober 1998 zum Luftkrieg gegen Jugoslawien bis zur Beteiligung der Bundeswehr an
der Operation Enduring Freedom. Demnächst, im November, werden wir wieder erleben, dass alle Befürworter
und auch die möglichen grünen Gegner einer OEF-Mandatsverlängerung wahrheitswidrig Stein und Bein behaupten, die Resolutionen 1368 und 1373 ließen die Anwendung militärischer Gewalt zu. Ich sage hier jetzt
schon einmal an die Adresse der Bundesregierung: Legen
Sie dem Deutschen Bundestag nicht zum x-ten Mal einen
Antrag vor, der sich auf eine nicht existierende Rechtsgrundlage beruft!
Zurück zum heutigen Antrag. Es ist einfach unglaublich, mit welcher Chuzpe Sie, die Grünen, hier argumentieren. Jahrelang haben Sie sich ohne Widerstand von IhZu Protokoll gegebene Reden
rem informellen Anführer „an der Nase der humanitären
Intervention“ - so der vorwurfsvolle Bundestags-Originalton Fischer an die Regierung des Bundeskanzlers
Kohl im Jahre 1995 - in Kriege führen lassen, um die Regierungsbeteiligung nicht aufs Spiel zu setzen. Und nun
entdecken Sie Mängel bei der Einhaltung der Standards
des humanitären Kriegsvölkerrechts, die Sie längst hätten
abstellen können. Denn Sie trugen doch länger Regierungsverantwortung als die jetzige Koalition. Unter Ihrer
aktiven Mitwirkung hat doch der Kriegskurs dieses Landes begonnen. Sie haben doch den Nachkriegskonsens
Deutschlands aufgekündigt, dass von deutschem Boden
nie wieder Krieg ausgehen sollte, weil Herr Fischer sonst
nicht hätte Außenminister werden können. Allein aus diesem Grunde haben Sie den Bürgerkrieg im Kosovo zum
Genozid umgelogen und die Basis dafür gelegt, dass
Art. 26 des Grundgesetzes, das Verbot des Angriffskrieges, droht, zur Worthülse zu verkommen.
Damit jetzt keine Missverständnisse aufkommen: Das
Anliegen des Antrags unterstütze ich. Selbstverständlich
dürfen unsere Soldaten nicht in rechtlichen Grauzonen
allein gelassen werden. Und selbstverständlich haben
Regierung und Bundeswehrführung alles zu tun, um ein
völkerrechtlich einwandfreies Verhalten sicherzustellen.
Da gibt es in der Tat Mängel, die abgestellt werden
müssen. Das gebietet schon allein die Pflicht zur Fürsorge.
Aber - das ist doch der entscheidende Punkt -: Diese
Fürsorge fängt hier im Deutschen Bundestag an. Hier
wird über die Auslandseinsätze der Bundeswehr entschieden. Und dies darf nur auf einer glasklaren Rechtsgrundlage erfolgen. Das ist jenseits der politischen Beurteilung
des Einzelfalls über die Parteigrenzen hinweg unser aller
Verantwortung und Verfassungspflicht. Beidem ist die
Mehrheit hier im Parlament seit 1998 nur in Einzelfällen
gerecht geworden. Das kann natürlich auch nicht gelingen, wenn die eigentlichen Gründe für einen militärischen Einsatz nicht benannt und stattdessen Vorwände
konstruiert werden. Die erste Lüge gebiert dann automatisch die nächste.
Die Fraktion der Antragsteller hat 1998 mehrheitlich
entschieden, dass sich die Piloten der ECR-Tornados an
Operationen beteiligen, die nach den für deutsches Handeln geltenden Normen nicht zulässig waren. Nun fordern
sie, dass dies künftig nicht mehr der Fall sein dürfe; und
begründen Ihren Antrag mit der völlig richtigen Aussage:
„Auslandseinsätze der Bundeswehr sind zwingend an das
Völkerrecht ... gebunden.“ Das will ich gerne als Ausdruck eines Lernprozesses in der Opposition werten, und
ich hoffe, dass ich Sie bei künftigen Entscheidungen nicht
mehr daran erinnern muss.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8402 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Vorschriften auf dem Gebiet des ökologischen Landbaus an die Verordnung ({0})
Nr. 834/2007 des Rates vom 28. Juni 2007 über
die ökologische/biologische Produktion und
die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen und zur Aufhebung der
Verordnung ({1}) Nr. 2092/91
- Drucksache 16/10174 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Marlene
Mortler, CDU/CSU, Gustav Herzog, SPD, HansMichael Goldmann, FDP, Dr. Kirsten Tackmann, Die
Linke, Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.
Wir führen heute zu später Stunde keine Diskussion um
die Henne und das Ei, und wir stellen auch nicht die
Frage, ob Biolebensmittel nun zu einer gesünderen Lebensweise führen als konventionell produzierte Lebensmittel. Nein, wir befassen uns heute in erster Lesung mit
der Anpassung der Vorschriften des Öko-Landbaugesetzes und des Öko-Kennzeichengesetzes an die geänderten
EG-rechtlichen Bestimmungen. Es ist notwendig und erforderlich, die Märkte zu beobachten und legislative Rahmenbedingungen an die Bedürfnisse anzupassen.
Schauen wir uns einmal die Daten an. 2007 konnte der
ökologische Landbau in Deutschland sowohl beim Zuwachs der ökologisch bewirtschafteten Flächen als auch
bei der Zahl der ökologisch wirtschaftenden landwirtschaftlichen Unternehmen ein deutliches Wachstum erzielen. Dies geht aus den Jahresmeldungen der Länder
über den ökologischen Landbau für 2007 hervor. Sehr gut
vertreten war wieder einmal mein Heimatland Bayern.
Für das erste Halbjahr 2008 sieht die Lage etwas ernüchternder aus. Wachsende Kaufunlust und durch Rohstoffengpässe gestiegene Lebensmittelpreise kennzeichnen
aktuell den Markt.
Erste Zeitungsartikel fragen nach dem Anfang vom
Ende des Biobooms. So schwarz malen möchte ich hier
nicht, sondern eher von einer Konsolidierungsphase
sprechen. Die Branche holt wohl nur Luft für die nächsten
Erfolgsmeldungen. Warnen möchte ich diejenigen, die revolutionäre Neuerungen vom vorliegenden Gesetzentwurf erwarten und einfordern. Die vorgesehenen Änderungen sind lediglich aufgrund von EU-Vorgaben
erforderlich. Bewährt hat sich in Deutschland die bundesweite Zulassung privater Kontrollstellen. Diese werden jetzt mit der Einführung des Elements der Aufgabenübertragung verknüpft.
Die neue Struktur des Ökokontrollsystems der Europäischen Union wird nunmehr in die amtliche Kontrolle der
Einhaltung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts soMarlene Mortler
wie der Bestimmungen über Tiergesundheit und Tierschutz eingebettet. Begrüßenswert ist die durch die EGÖko-Basisverordnung geschaffene neue Möglichkeit, eigene nationale Vorschriften für die Kennzeichnung von
ökologischen Erzeugnissen in Einrichtungen der AußerHaus-Verpflegung und deren Kontrolle zu erlassen. Wir
wollen dies schnellstmöglich umsetzen.
Wenn ich schon beim Thema Kennzeichnung bin, muss
ich kritisch hinterfragen, warum die EU unbedingt ein
einheitliches verpflichtendes Biosiegel vorschreiben
möchte. Es soll ab 1. Juli 2010 zusätzlich auf alle Produkte gedruckt werden. Ich sehe für unsere Verbraucher
keine Vorteile. Wichtig ist für mich, das deutsche Biosiegel weiterzuentwickeln, auch gegen den Widerstand des
Deutschen Einzelhandels und einiger Anbauverbände.
Derzeit enthält das Biosiegel lediglich die Information,
dass das entsprechende Ökoprodukt nach den Richtlinien
der EG-Öko-Verordnung produziert und kontrolliert
wurde. Die Transparenz der Herkunft der Ökoprodukte
hat aber eine hohe Bedeutung. Daher ist die ablehnende
Reaktion des Bioland-Verbandes zur geforderten Weiterentwicklung des Biosiegels völlig unverständlich.
Der Verbraucher hat ein Recht, von allen Bioprodukten zu erfahren, woher die enthaltenen Nahrungsmittelrohstoffe stammen. Deshalb muss die Angabe über die
Herkunft als eigenständige Information in Kombination
mit dem Biosiegel verpflichtend sein. Hiervon würden
alle profitieren: Bauern, Verarbeiter, Handel und Verbraucher; denn ein Mehr an Transparenz sorgt nicht nur
für eine bessere Information, sondern letztlich auch für
mehr Sicherheit.
Weiterer Änderungsbedarf im Öko-Landbaugesetz ergibt sich aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs
über Niederlassungserfordernisse für Kontrollstellen aus
dem EU-Ausland im Öko-Landbaugesetz. Streichungen
sind hierzu erforderlich. Dies trägt auch Anforderungen
der EU-Dienstleistungsrichtlinie Rechnung. Die konzeptionellen Überlegungen für die kontinuierliche Überwachung von Kontrollstellen in Drittländern durch die EUKommission mit Unterstützung der Mitgliedstaaten stecken noch in der Anfangsphase. Dessen ungeachtet ist
Deutschland gezwungen worden, die Forderung aufzugeben, nur Kontrollstellen mit Sitz oder Niederlassung im
Inland zuzulassen. Weiter müssen Straf- und Bußgeldvorschriften überarbeitet und an die neue EG-Öko-Basisverordnung angepasst werden.
Die Ideen des Bundesrates müssen wir uns in der Ausschussberatung sorgfältig ansehen. Eventuell können sie
dann noch in unsere Beschlussempfehlung mit aufgenommen werden. Der Agrarausschuss des Bundesrates hat in
seiner Sitzung vom 16. Juni 2008 beispielsweise einen
Antrag Bayerns mit großer Mehrheit beschlossen. Er
sieht vor, dass die Zollbehörden die Kontrollstellen der
Länder über die Einfuhr von Ökowaren aus dem Ausland
informieren. Der Antrag Bayerns wurde maßgeblich vom
Land Hamburg unterstützt, da es Hauptumschlagspunkt
für Importe ist. Die Kontrollstellen würden zeitnah einen
Überblick erhalten und könnten so ein Risikomanagement durchführen. Außerdem würden die Zollbehörden
ab dem 1. Januar 2009 unterstützt, wenn sie klären müssen, ob es sich bei dem Import um ein konformes, also der
EU-Öko-Verordnung entsprechendes Produkt, oder um
ein gleichwertiges, also nicht zu 100 Prozent der EUÖko-Verordnung entsprechendes Produkt handelt.
Erfreulich ist, dass die vorgesehenen Änderungen im
Gesetzentwurf keine finanziellen Auswirkungen auf die
allseits belasteten öffentlichen Haushalte haben, und
dass sie mit keiner Ausweitung der behördlichen Tätigkeit
bei Bund und Ländern einhergehen. Die Union meint es
ernst mit dem Thema Bürokratieabbau: Wir sehen daher
den Vorschlag kritisch, eigens einen Beirat zur Interpretation und Umsetzung der EU-Öko-Verordnung zu schaffen. Die Einrichtung eines weiteren Gremiums ist nicht
nötig. Schließlich tauschen sich die zuständigen Referenten der Länder ohnehin bei regelmäßigen Treffen intensiv
über Erfahrungen ihrer Ressorts aus. Ein Mehr an Bürokratie ist überflüssig und wird es mit uns nicht geben.
Wir beraten heute über ein neues Gesetz zur Anpassung der Vorschriften für den ökologischen Landbau.
Hierbei reden wir über einen der kräftigsten Wachstumsmärkte, die wir haben - auf der Welt, in Europa und vor
allem in Deutschland. Das nach wie vor ungebrochene
Wachstum geht auf eine immer größer werdende Anzahl
von Konsumentinnen und Konsumenten zurück, die bereit
sind, für Zusatzleistungen höhere Preise zu zahlen.
Dass das Umsatzplus im ersten Halbjahr 2008 „nur“
noch 3,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr beträgt - was
manch einer schon gerne als schwächelnden Markt oder
das Ende des Biotraums verkauft - findet seine Ursachen
zum großen Teil auch darin, dass wir in diesem Jahr
schon Angebotsengpässe am Markt verzeichnen. Es wird
mehr nachgefragt, als nachgeliefert werden kann. Zudem
macht sich der allgemeine Rückgang der Kaufkraft bemerkbar, und das lenkt den Verbraucher auch schon einmal in die niederpreisigen, aber gleichen Regale.
Deutschland hielt auch 2007 mit einem Umsatz von
5,45 Milliarden Euro und einem Bio-Anteil von 3 Prozent
am gesamten Lebensmittelmarkt mit Abstand Platz 1 der
größten Absatzmärkte in Europa. Auch wenn andere Mitgliedstaaten in Europa große Zuwächse verzeichnen, ist
und bleibt Deutschland die größte und für viele Importeure wichtigste Absatzregion in Europa.
Das ist erfreulich, und es ist gewollt. Wir haben diese
Entwicklung nicht nur als Glanzleistung der beteiligten
Wirtschaft beobachtet, sondern auch politisch unterstützt
und befördert. Das Bundesprogramm Ökolandbau und
speziell das Biosiegel hat durch seine geschaffene Transparenz die Nachfrage nach Bioprodukten verstärkt.
Das Vertrauen der Verbraucher ist eine der wichtigsten Grundlagen für den wachsenden Absatz, Vertrauen in
die Annahme, dass Bioprodukte einen Mehrwert an gesellschaftlich gewollten Leistungen für unsere Umwelt
und die Nachhaltigkeit haben. Dieses Vertrauen ist gerechtfertigt, und, man darf dabei nicht vergessen, dass
der Sektor auch einem strengen Kontrollregime unterliegt. Vertrauen ist gut, Kontrolle noch besser.
Doch ein Nachfrageüberhang bringt nicht nur steigende Preise mit sich, sondern auch unerwünschte TrittZu Protokoll gegebene Reden
brettfahrer, die mit krimineller Energie den schnellen
Profit suchen und damit des Vertrauen in eine ganze
Branche riskieren. Hier brauchen wir eine eng verzahnte
Kontrolle, nicht nur der Kontrollstellen, sondern auch ein
brancheninternes Selbstverständnis, das Trittbrettfahrern die Luft dünn werden lässt.
Auch brauchen wir mehr Landwirte, die auf ökologische Wirtschaftsweise umstellen und so den Nachfragedruck abfedern. Der Ökolandbau ist ein wichtiger und
wachsender Teil der Landwirtschaft. 865 000 Hektar der
landwirtschaftlichen Nutzfläche in Deutschland wurden
2007 ökologisch bewirtschaftet. Das sind 5,1 Prozent,
Tendenz weiter steigend, da immer mehr Landwirte sehen, dass wir es hier mit einem stabilen Markt zu tun haben.
Wir brauchen mehr Landwirte, die umstellen. Nicht
nur, um den Importanteil wieder zu senken und somit die
Vorteile der Regionalität zu stärken, sondern auch, um
die gesellschafts- und umweltpolitischen Vorteile nicht zu
exportieren. Wir wollen die Mehrbeschäftigung im ökologischen Landbau hier haben, wir wollen unsere natürlichen Ressourcen hier schonen, wir wollen die Wertschöpfungskette hier ausschöpfen, und wir wollen unserer
Umwelt Schäden ersparen, unsere Biodiversität schützen
und die bunte Vielfalt in unseren ländlichen Räumen befördern.
Aus diesen Gründen stehen wir auch jetzt hier; denn
um all dieses zu erreichen, müssen wir auch die rechtlichen Grundlagen weiterentwickeln. Am 28. Juni 2007 hat
der Rat die lange verhandelte EU-Verordnung 834/2007
angenommen. Diese löst die lang und gut gediente Ökobasisverordnung 2092/91 ab. Das macht es notwendig,
unser Ökolandbaugesetz in verschiedenen, doch zumeist
unstrittigen Punkten anzupassen.
Die Vorlage der Bundesregierung greift auf, was notwendigerweise und mit wenig Spielraum umzusetzen ist.
Neben den Folgeänderungen aus der neuen Basisverordnung geht es auch um die Umsetzung des anhängigen
EuGH-Urteils zur derzeit vorgeschriebenen Niederlassungspflicht ausländischer Kontrollstellen. Die Umsetzung des EuGH-Urteils beschert uns einen sehr engen
Zeitplan für das parlamentarische Verfahren, das wir
pünktlich zum 1. Januar 2009 umgesetzt haben müssen.
Das war Grund für mich, schon frühzeitig die Gespräche aufzunehmen, nicht nur überfraktionell hier im
Hause sondern auch mit den Wirtschaftsbeteiligten und
der Bundesregierung. Besonderes Augenmerk bekam hier
die vielfach heterogene Umsetzung und Interpretation
der Kontrollvorschriften durch die Länder und die
schwierige Lage der beauftragten Kontrollstellen. Besonders in verschiedenen Bundesländern tätige Kontrollstellen berichten von erheblichen Problemen, für die wir
noch nach Lösungen suchen. Auch prüfen wir noch verschiedene Möglichkeiten, um die Kontrollqualitäten noch
besser zu machen, als sie heute schon sind, ohne einen
Zusatzaufwand zu produzieren.
Hierüber und über die Vorschläge der Länder werden
wir in den Ausschussberatungen ausführlich beraten, um
in der Sache konstruktiv weiterzukommen. Der Zeitdruck
lässt uns zwar wenig Spielraum, doch die bisherige gute
Zusammenarbeit über die Fraktionsgrenzen hinweg
macht mir Hoffnung auf einen guten und schnellen Abschluss des parlamentarischen Verfahrens.
Wegen der geänderten Rechtslage in der EU müssen
wir das Öko-Landbaugesetz ändern. Ich hätte mir gewünscht, dass die Regierung die Gelegenheit beim
Schopfe packt, die Mängel, die seit über einem Jahr diskutiert werden, mit dieser Novelle abzuräumen.
Wir dürften uns doch in diesem Hause alle einig sein,
dass es für eine erfolgreiche Zukunft der ökologischen
Landwirtschaft unerlässlich ist, dass die Verbraucher
Vertrauen in die Qualität der Produkte haben. Gerade angesichts steigender Importe ist es wichtig, dass die Kontrollen transparent und effektiv sind. Und doch hapert es
in dem Gesetzentwurf gerade in diesem Punkt an der notwendigen Klarheit.
Sowohl der Bauernverband als auch der Bundesverband Ökologischer Landbau und die Vereinigung der
Kontrollstellen haben bereits im Vorfeld darauf hingewiesen, dass die bisherige Rechtspraxis geprägt ist von Zersplitterung zwischen den einzelnen Bundesländern. Diese
Zersplitterung wirkt sich natürlich auf die Kontrollstellen
und die auf die Ökobauern umgelegten Kosten aus. Deswegen ist es dringend erforderlich, einen bundeseinheitlichen Rahmen vorzugeben, um Wettbewerbsnachteile
der deutschen Ökobauern gegenüber der europäischen
Konkurrenz abzubauen. Derzeit haben wir Dreifachprüfungen durch unterschiedliche staatliche Stellen oder Institutionen, die staatlich überwacht werden.
Selbstverständlich sind die Lebensmittel- und damit
auch die Ökokontrollen Ländersache. Doch bei allem Bekenntnis zum deutschen Föderalismus dürfen die
Ökokontrollen nicht in Kleinstaaterei verharren. Die kostenträchtigen und zeitintensiven Doppel- und Dreifachprüfungen müssen endlich ein Ende haben. In diesem
Punkt muss der Gesetzentwurf dringend nachgebessert
werden.
Auch die Forderung des BÖLW nach einem nationalen
Beirat für die Interpretation und Umsetzung der EG-ÖkoVerordnung sollte im Ausschuss noch einmal ernsthaft geprüft werden. Denn die Novelle sollte das Ziel haben, die
Überregulierung abzubauen, die Prüfqualität effizienter
zu erreichen und damit die Kontrollen kostengünstiger
und transparenter zu gestalten.
Im Übrigen muss künftig auch verhindert werden, dass
ungeprüfte angebliche oder tatsächliche Ökoprodukte in
den Markt gelangen; das setzt die Glaubwürdigkeit der
gesamten Branche aufs Spiel.
Im weiteren Verfahren gilt es also noch, intensiv in den
Gesetzestext einzusteigen, um die erkannten Schwächen
auszuräumen. Es bleibt zu hoffen, dass die Große Koalition sich einsichtig zeigt.
Es gab nicht viele Beispiele für einen derart geschlossenen inner- und außerparlamentarischen Protest gegen
Zu Protokoll gegebene Reden
einen Verordnungsvorschlag der EU-Kommission wie vor
einem Jahr gegen den Entwurf einer neuen Verordnung
zum ökologischen Landbau. Dieser Protest hat zu Veränderungen geführt, die auch für deutsche Bio-Bäuerinnen
und -Bauern sowie Verbraucherinnen und Verbraucher
tragbar sind. EU-Verordnungen müssen auf nationaler
Ebene umgesetzt werden. Der hier vorliegende Gesetzentwurf dient der Umsetzung der neu gefassten EU-Verordnung zur Kontrolle und Kennzeichnung von Ökoprodukten.
Dass die EU-einheitliche Kennzeichnung von Ökoprodukten auf das Jahr 2011 verschoben wird, kann man bedauern. Aber es ist immer noch die bessere Entscheidung
angesichts der Situation, dass es noch immer kein einheitliches Siegel gibt, das in der Lage ist, die Kriterien in
Sachen Verbrauchervertrauen und Erkennbarkeit zu erfüllen. Die Kommission hat nun vorgeschlagen, der Entwicklung eines Siegels mehr Zeit zu geben und diese mit
einem EU-weiten Wettbewerb zu verbinden. Wir werden
darauf achten, dass das dann auch zu einem akzeptablen
Ergebnis führt. Der Markt für Ökoprodukte boomt. Über
die vergangenen Jahre konnten zweistellige Zuwachsraten im Verbrauch registriert werden. Es gibt hierzulande
unterdessen kein Unternehmen im Lebensmitteleinzelhandel mehr, das nicht Ökoprodukte anbietet. Das ist
durchaus eine erfreuliche Entwicklung und widerspricht
so mancher Behauptung, den Menschen wäre es letztlich
egal, was sie essen, Hauptsache es ist billig. Wobei die
allgemeine Armutsentwicklung die Entscheidungsspielräume vieler Menschen deutlich einschränkt.
Dennoch ist es Realität: Nicht zuletzt aufgrund eines
staatlich anerkannten Kontrollsystems genießen Ökoprodukte ein großes Vertrauen bei den Verbraucherinnen und
Verbrauchern. In den vielen Kontrolluntersuchungen, die
zum Beispiel für Obst, Gemüse oder Fleisch außerhalb
der biointernen Richtlinienkontrollen laufen, fallen Bioprodukte meist positiv auf. Wobei hier nicht nur die Qualität der Produkte, sondern die ökologische Erzeugung im
Mittelpunkt steht.
Dieser großen Beliebtheit auf dem Lebensmittelmarkt
hinkt die einheimische Erzeugung von Bioprodukten hinterher. Das Wachstum in der landwirtschaftlichen Erzeugung und in der Weiterverarbeitung stagniert. Die Folge:
Immer mehr Ökoprodukte und auch Rohstoffe werden importiert. Das ist bedauerlich, liegt der Flächenanteil bundesweit doch gerade einmal bei 5 Prozent.
Die Linke unterstützt das Ziel, das schon von der rotgrünen-Regierung formuliert wurde, bis 2020 einen Anteil von 20 Prozent Bio auf dem Acker zu haben. Nur muss
seitens der Politik mehr getan werden, um dieses Ziel zu
erreichen. Als neue Barriere erweisen sich übrigens die
spekulativen Pacht- und Bodenpreiserhöhungen, zu denen auch der Verkauf ehemals volkseigener Flächen
durch die BVVG beiträgt. Gerade der Ökolandbau ist auf
eine verlässliche Verfügbarkeit des Bodens angewiesen.
Steigende Preise für konventionelle Agrarrohstoffe
und die Verdienstmöglichkeiten durch das Energie-Einspeise-Gesetz haben die Verdienstoptionen für die Landwirtschaftsbetriebe erweitert, auch wenn die Wirkung
durch explodierende Betriebsmittel- und Pachtpreise teilweise wieder zunichte gemacht wird. Wo es dennoch einen Zugewinn gibt, ist das auch in Ordnung. Nur reduziert sich damit auch die Bereitschaft, ökologisch zu
wirtschaften. Anders gesagt: Die Umstellungsförderung
und die Marktanreize für den Ökolandbau haben in der
bisherigen Höhe keine ausreichende Wirkung mehr. Für
Die Linke bedeutet das, dass positive Potenziale für Einkommen und Arbeitsplätze in den ländlichen Räumen
nicht genutzt werden. Ökolandbau ist auf die Fläche und
die Tierhaltung bezogen arbeitsintensiver und bringt wegen des höheren Preisniveaus der Erzeugnisse eine höhere Wertschöpfung. Die betrieblichen Einkommen der
Biobetriebe lagen in den Agrarberichten der letzten Jahre
immer deutlich über denen der konventionellen Vergleichsbetriebe. Nur reicht das allein offensichtlich nicht,
um mehr Betriebe zur Umstellung zu motivieren.
Denn die zwei- bis dreijährige Umstellungszeit ist sehr
schwierig: Das Ertragsniveau sinkt, die Ernte darf nur
als Umstellungsware verkauft werden, und das optimale
und standortangepasste Bewirtschaftungssystem muss oft
erst entwickelt werden. Eine schwierige Phase, die mit
hohen Risiken verbunden ist, auch wegen fehlender Kontinuität und Verlässlichkeit der politischen Rahmenbedingungen. Auf der anderen Seite wächst die Nachfrage nach
Ökoprodukten, und das nicht nur in Deutschland, auch
andere EU-Länder ziehen nach, allen voran Skandinavien, Tschechien, aber auch die Beneluxstaaten und
Frankreich. Ökoprodukte werden inzwischen in ganz
Europa produziert und konsumiert. Ein einheitliches
Regelwerk für die Erzeugung und Vermarktung von Ökoprodukten in Europa ist daher unumgänglich und eine zügige nationale Umsetzung im Interesse aller. Minister
Seehofer muss darüber hinaus dazu beitragen, dass der
einheimische Ökolandbau seine sozialen und ökologischen Potenziale erschließen kann.
Der Biomarkt in Deutschland boomt. Das vierte Jahr
in Folge wachsen die Umsätze für Bioprodukte zweistellig. 2007 waren es 15 Prozent. Ein Segen für unsere Landwirtschaft? Leider nein. Die Schere zwischen Kundennachfrage und Angebot an deutschen Bioprodukten geht
immer weiter auseinander. Denn die Zahl ökologisch
wirtschaftender Betriebe erhöhte sich nur um 2,8 Prozent.
Die ideologische Landwirtschaftspolitik der Union
verschenkt lieber Jahr für Jahr Marktanteile ans Ausland, anstatt mit einer dringend benötigten Erhöhung der
Umstellungs- und Beibehaltungsprämie den deutschen
Bauern neue Einkommensmöglichkeiten zu sichern.
Besonders gravierend sind für die Biobauern die der
Kompromisspolitik von Bundeskanzlerin Merkel geschuldeten massiven Kürzungen der Gelder für die sogenannte
zweite Säule der gemeinsamen Agrarpolitik. Seit 2007
fehlen damit für die ländlichen Räume jährlich 300 Millionen Euro EU-Mittel und weitere 100 bis 200 Millionen
Euro aus den Etats von Bund und Ländern.
Bund und Länder haben den Rotstift bei den Prämien
für Ökolandwirte angesetzt. Ökobetriebe mussten ab
2007 auf bis zu 40 Prozent ihrer Förderung verzichten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Diese drastische Verschlechterung der Wettbewerbsbedingungen schreckt nun Landwirte von der Umstellung
ab, obwohl sie die wachsende Nachfrage gerne bedienen
würden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, legen
Sie endlich Ihre ideologischen Scheuklappen ab und
schauen Sie auf die Fakten. Die herausragenden Leistungen des Ökolandbaus für Klima, Umwelt und Natur, für
die Entwicklung der ländlichen Räume weltweit sowie für
die Ernährungssicherung und Lebensmittelqualität sind
klar und deutlich belegt. Beenden Sie Ihre Blockade der
dringend benötigten finanziellen Aufstockung der zweiten
Säule im Rahmen der aktuellen Überprüfung der europäischen Agrarpolitik. Beenden Sie endlich Ihre fadenscheinige Argumentation um die Verlässlichkeit. Denn den
Landwirten, die sich mit der Erbringung gesellschaftlicher Leistungen zum Beispiel im Bereich des Naturschutzes, ein zweites Standbein erarbeitet hatten, haben Sie mit
den Kürzungen bei der zweiten Säule jegliche verlässliche Grundlage entzogen. Ihre Politik ist keine Bauernpolitik, sondern Klientelpolitik für rationalisierte Großbetriebe und die Agrarindustrie, und zwar auf Kosten der
bäuerlichen Betriebe und der Landwirte, die im Einklang
mit der Natur wirtschaften wollen.
Auch das heute vorliegende Öko-Landbaugesetz ist
kein Ruhmesblatt. Obwohl die Ökobranche uns eindrücklich auf Probleme mit dem Gesetz hinweist, lehnen Sie es
ab, gemeinsam mit den Länderagrarministern noch einmal nachzubessern.
So bestehen in Deutschland seit geraumer Zeit erhebliche Probleme mit der uneinheitlichen Interpretation der
EG-Öko-Verordnung, sei es bei der Biokennzeichnung
von verarbeitetem Fisch aus Wildfang, der Etikettierung
von Ökolebensmitteln oder der Verwendung von Aromen.
Entscheidungen hierzu werden auf den Verwaltungsebenen der Länder und nicht im Bund und schon gar nicht in
Zusammenarbeit zwischen Behörden, Branche und Wissenschaft getroffen. Diese uneinheitliche Interpretation
führt jedoch zu enormen Wettbewerbsverzerrungen und
damit zu Nachteilen für die Branche.
Im Gesetz wird außerdem versäumt, die Rolle und die
Aufgaben der Kontrollstellen sowie die Rechte und
Pflichten der Unternehmen im Rahmen der Kontrolle
rechtssicher zu definieren. Dies zementiert die sehr unterschiedliche Handhabung in den Bundesländern, die in
der Branche und bei den Kontrollstellen zu hohen zusätzlichen Belastungen und Unsicherheiten führt.
Ein Problem stellt auch dar, dass es keinen Überwachungsmechanismus gibt, um Unternehmen, die ihre Produkte als „Bio“ bezeichnen, obwohl sie nicht nach EGÖko-Verordnung kontrolliert werden, zu identifizieren
und zu sanktionieren.
Bessern Sie deshalb nach. Schaffen Sie gleiche Bedingungen für die deutschen Ökolandwirte und die Hersteller von Bioprodukten in allen Bundesländern.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/10174 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Michael Leutert, HüseyinKenan Aydin, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für die soziale Rehabilitation von Kindersoldaten eintreten
- Drucksachen 16/6358, 16/8789 Berichterstattung:
Abgeordnete Hartwig Fischer ({1})
Burkhardt Müller-Sönksen
Volker Beck ({2})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hartwig
Fischer ({3}), CDU/CSU, Angelika Graf ({4}), SPD, Burkhardt Müller-Sönksen, FDP, Michael
Leutert, Die Linke, Volker Beck ({5}), Bündnis 90/Die
Grünen.
Wir debattieren hier heute über den Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für die soziale Rehabilitation von Kindersoldaten eintreten“. Aber leider steckt in
dem Antrag nicht einmal ansatzweise das drin, was oben
draufsteht.
Nein, vielmehr benutzt die Fraktion Die Linke das
Thema Kindersoldaten, um Ihre antiamerikanischen Ansichten kundzutun.
Im Antrag wird das Schicksal des jungen Omar Khadr
beschrieben, welcher als 15-jähriger Kindersoldat durch
die amerikanischen Streitkräfte in Afghanistan gefangen
genommen und in Guantánamo inhaftiert wurde. Mehr ist
zu dem Thema „Kindersoldat“ und „Rehabilitierung“ in
dem Antrag nicht zu lesen.
Vielmehr macht die Linke nochmals deutlich, dass sie
noch heute den Ansichten der SED nachhängt, die in den
Vereinigten Staaten von Amerika den Erzfeind gesehen
hat. Aber der Kalte Krieg ist zum Glück vorbei.
Durch den Antrag wird nicht nur das Thema Kindersoldaten missbraucht, nein, er ist auch noch schlecht recherchiert. Es wird nämlich einfach nicht erwähnt, dass
der angesprochene Omar Khadr bereits volljährig ist.
Des Weiteren ist Herr Khadr kanadischer Staatsbürger,
und Kanada hat sich bis heute geweigert, Herrn Khadr in
Kanada aufzunehmen. Allein das zeigt, dass dieser Antrag so schlecht und widersprüchlich ist, dass die Linke
nicht wirklich erwarten kann, dass die Fraktionen dieses
Hauses auf einen solchen populistischen Antrag hereinfallen.
Hartwig Fischer ({0})
Und ich muss Ihnen sagen, dass das Thema dafür viel
zu wichtig ist. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen
werden weltweit noch immer 250 000 Kinder als Soldaten
missbraucht. Besonders gravierend ist die Situation in
Ländern wie Kolumbien, Burma oder der Demokratischen Republik Kongo. Erst gestern erreichten uns neue
Nachrichten, dass im Osten der Demokratischen Republik Kongo Hunderte von Kindern verschollen sind. Es
wird berichtet, dass die Kinder durch die Rebellengruppe
von Laurent Nkunda entführt worden sind und nun als
Kindersoldaten oder Sexsklaven missbraucht werden.
Aber Deutschland verschließt seine Augen nicht vor
dieser Tatsache. Ich selber habe im Grenzgebiet zwischen
Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo Projekte der Gesellschaft fürTechnische Zusammenarbeit
- GtZ - besucht, die Kindersoldaten resozialisieren. Das
geht allerdings nur, wenn sich die Anführer der Rebellen
und somit der Kindersoldaten ergeben. Erst dann haben
die Kinder die Möglichkeit, in die Gemeinschaft zurückzukehren, aus der sie oft geraubt wurden.
Auf diesem schweren Weg müssen wir die Kinder unterstützen. Wir müssen ihnen zeigen, dass es ihnen nicht
besser geht, wenn sie eine Waffe in der Hand halten. Wir
müssen ihnen in ihrer jeweiligen Gesellschaft Wege aufzeigen, auf denen sie sich entwickeln können. Und da hilft
uns ein solcher Antrag, wie ihn heute die Linke hier vorlegt, nicht weiter.
Ich glaube, dass ich hier für fast alle Abgeordneten des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
sagen kann, dass wir eine Position bezüglich der Kindersoldaten haben, die weit über diesen Antrag hinausgeht.
Wir verurteilen den Missbrauch von Kindern als Kindersoldaten zutiefst. Daher muss es in unserem Interesse
sein, dass Thema ernst zu diskutieren. Wir müssen es auch
bei unseren Besuchen in den Ländern und bei Regierungsgesprächen ansprechen. Nur so und nicht durch solche hetzerischen Anträge wie der der Linken können wir
eine Verbesserung für die Kinder vor Ort erreichen.
Im vorliegenden Antrag geht es nicht, wie der Titel
glauben macht, allgemein um die soziale Rehabilitation
von Kindersoldaten. Vielmehr wird das bedauerliche
Schicksal eines minderjährig inhaftierten und aus Afghanistan nach Guantanamo verschleppten kanadischen
Staatsbürgers herangezogen, um daraus abgeleitet an die
Bundesregierung allgemeine Forderungen bezüglich des
Umgangs mit den USA zu stellen.
Ich bin der Meinung, dass es einer im Parlament vertretenen Partei möglich sein muss, einen von ihr formulierten Antrag auch mit einem Titel zu versehen, der hält
was er verspricht und nicht in die Irre führt. Ein irreführender Titel ist für mich bereits ein hinreichender Grund,
einen Antrag abzulehnen.
Warum sehe ich das so hart? Es ist wirklich schwierig,
zu Ihrem Antrag Stellung zu nehmen. Denn wozu sollen
wir eigentlich Stellung nehmen? Sollen wir zu Ihrer in der
Überschrift geäußerten angeblichen Absicht Stellung
nehmen, Kindersoldaten sozial zu rehabilitieren - dafür
sind wir sicher alle -, oder zu der im Text geäußerten Aufforderung, die USA darauf aufmerksam zu machen, dass
die inhaftierten Minderjährigen in Guantanamo entlassen werden müssen, oder zur Forderung, dass die Bundesregierung die Vereinigten Staaten an die Einhaltung
des Fakultativprotokolls zum Übereinkommen über die
Rechte des Kindes erinnern soll?
Den Eiertanz der Linken, wie er sich während der Antragsberatungen im Ausschuss für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe zugetragen hat, möchte ich gern an dieser Stelle darlegen: Die Fraktion Die Linke wollte nicht
akzeptieren, dass wir den Antrag mit dem Verweis auf einen unpassenden Titel ablehnen würden. Sie meinten, sie
hätten den Antrag aber ganz bewusst auf Kinder, die in
Guantanamo inhaftiert sind, abgestellt. Erinnern Sie sich
an den Titel Ihres eigenen Antrages? Guantanamo kommt
darin nicht vor.
Weiter argumentierten Sie, dass die Forderung,
Guantanamo zu schließen, zu einer Ablehnung des Antrages geführt hätte. Als Begründung hätten wir vorgetragen, dass dies im Ausschuss schon mehrmals untermauert
worden ist. Das ist korrekt. Aber ich frage Sie: Muss man
Dinge, die man längst festgeschrieben hat, wirklich immer wieder beschließen?
Lassen Sie mich Folgendes klarstellen: Wir, die Fraktion der SPD und auch die Bundesregierung, wollen, dass
Guantanamo endlich geschlossen wird. Die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister haben das in Gesprächen mehrfach gegenüber der amerikanischen Regierung
deutlich gemacht. Diese Ansicht teilen wohl alle hier im
Bundestag vertretenen Fraktionen. Dieses Lager hätte
niemals eröffnet werden dürfen. Dort werden alle Menschenrechte mit Füßen getreten. Guantanamo ist eines
demokratisch gewählten amerikanischen Präsidenten
und der Regierung der ältesten Demokratie der Welt unwürdig und schädigt das Ansehen der westlichen Welt
nachhaltig immens.
Und gerade weil wir uns da alle einig sind, finde ich es
sehr bedauerlich, dass Sie diese Angelegenheit populistisch zweckentfremden, denn die fehlende handwerkliche
Qualität bei der Erstellung Ihres Antrages zeigt, dass Sie
dieses Thema leider nicht so ernst nehmen, wie wir alle es
sollten.
Den jungen Mann, Omar Khadr, den Sie in ihrem Antrag erwähnen, hat ein solches Schicksal ereilt, dass wohl
keiner von uns mit ihm tauschen wollte. Sein Beispiel in
Ihrem Antrag aufzugreifen, ist aus mehreren Gründen
dennoch schwierig: Er war zum Zeitpunkt seiner Verhaftung 15 Jahre alt, also minderjährig. Wäre er als Minderjähriger entlassen worden, hätte sich seine Rückführung
wohl einfacher gestaltet. Doch heute ist er volljährig.
Und genau hier liegt das Problem, denn die Kanadier
verlangen erst eine gerichtliche Verhandlung, weil sie einen verurteilten Terroristen nicht mehr zurücknehmen
wollen, einen unschuldig Verschleppten aber wohl. Ein
solches Verfahren scheint aber noch immer in weiter
Ferne zu liegen.
Sie sehen, wie schwierig dieses Feld und jeder Einzelfall sind. Rechtspolitisch gesehen ist dieser Fall beiZu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({0})
spielsweise eine Angelegenheit zwischen den Kanadiern
und den USA. Deutschland ist sich - der fehlenden formalen Zuständigkeiten zum Trotz - seiner moralischen
Verantwortung bewusst und aus diesem Grunde nicht untätig. Der Außenminister und die Bundeskanzlerin bringen dieses Thema in diplomatischen Gesprächen immer
wieder mit dem Blick fürs Ganze aufs Tableau.
Ich hoffe sehr, dass ein neuer US-Präsident die Situation wandelt und dass die USA ihren Verpflichtungen, die
sich aus dem Fakultativ-Protokoll zum Übereinkommen
über die Rechte des Kindes ergeben, nachkommen,
Guantanamo schließen, den Verschleppten ein rechtsstaatliches Verfahren vor einem ordentlichen Gericht ermöglichen, die Unschuldigen entschädigen und die tatsächlich Schuldigen bestrafen.
Wir sind uns alle darin einig, dass wir Politikerinnen
und Politiker uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen Menschenrechtsverletzungen jeglicher Art
einsetzen müssen. Dies trifft insbesondere für Kinder als
eine besonders schutzbedürftige Gruppe zu. Im Einklang
mit der Kinderrechtskonvention der VN von 1990 und den
menschenrechtlichen Grundsätzen der Freien Liberalen
setze ich mich neben der Schutzbedürftigkeit auch für die
Rechtsansprüche von Kindern ein.
Die Fraktion Die Linke greift in ihrem Antrag die Problematik der Kindersoldaten auf. Im Positionspapier der
FDP-Bundestagsfraktion „Menschenrechte. Universal,
unteilbar, bedroht“ setzen wir uns intensiv mit dem
Thema auseinander:
Es ist in vielen Ländern trauriger Alltag, dass Kinder als Kindersoldaten - darunter bis zu 40 Prozent
Mädchen - missbraucht werden. Ihre Zahl wird auf
weltweit rund 300 000 geschätzt, wobei nicht nur
Rebellengruppen wie die „Lord’s Resistance Army“
({0}) in Uganda,
- aktuelle Anmerkung: Erst am 23. September 2008 berichtete dpa, dass ugandische Rebellen 90 Kinder in
Nordostkongo verschleppten und sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Kämpfen gezwungen werden -,
die „Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia“ ({1}) in Kolumbien oder Milizen im Kongo
Kinder rekrutieren, sondern auch einige reguläre
Armeen, wie zum Beispiel die Streitkräfte in Burma/
Myanmar. Oftmals werden sie vergewaltigt und unter dem Einfluss von Drogen zum Kämpfen gezwungen. Diese menschenverachtende Praxis einiger
Bürgerkriegsparteien steht in eklatantem Widerspruch zur Allgemeinen Menschenrechtserklärung
der Vereinten Nationen sowie zum Internationalen
Pakt für bürgerliche und politische Rechte.
Auf dieser Grundlage fordern wir Liberale, dass
„der Einsatz von Kindersoldaten von den UN erfasst und vom Internationalen Strafgerichtshof in
Den Haag konsequent verfolgt werden muss. Eine
effektive Prävention gegen ungesetzliche Rekrutierung kann durch die Sicherstellung des Schulbesuchs, die Vermeidung von Familientrennungen,
Früherkennungs-, Schutz- und Zusammenführungsprogramme für Kinder, die von ihren Familien getrennt wurden, sowie Bildungs- und Berufsausbildungsprogramme erreicht werden.
In ihrem Antrag fordert Die Linke, die USA dazu aufzufordern, ihren Verpflichtungen nachzukommen, die sich
aus der Unterzeichnung des Fakultativprotokolls zum
Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend
die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten
ergeben. Die Linke bezieht sich auf den Fall des kanadischen Staatsbürgers Omar Khadr, der 15-jährig von der
US-Armee nach einem Angriff in Afghanistan festgenommen und später nach Guantánamo gebracht wurde. Da
die USA gemäß Art. 6 Abs. 3 des Fakultativprotokolls zum
Zeitpunkt der Festnahme Hoheitsgewalt über den Inhaftierten ausübten, waren sie verpflichtet, erforderlichenfalls jede geeignete Unterstützung zur physischen und
psychischen Genesung und sozialen Wiedereingliederung
zu ergreifen. Omar Khadr soll von den USA freigelassen
und als ehemaliger Kindersoldat wieder in die Gesellschaft integriert werden.
Leider ist es der FDP-Bundesfraktion nicht möglich,
diesen Antrag zu unterstützen. Lassen Sie mich dies kurz
erläutern:
Erstens. Wir fordern eine umfassende Auseinandersetzung bezüglich der Einbeziehung von Minderjährigen in
Kampfhandlungen, wo auch immer diese geschehen. Eine
Konzentration auf Einzelfälle, wie sie hier im Antrag der
Linken vorgestellt werden, entspricht nicht dem Ausmaß
dieser brisanten Menschenrechtsverletzung an Kindern
und Jugendlichen. An dieser Stelle verweise ich auf den
umfangreichen Bericht „Global Report 2008“ der Coalition to Stop the Use of Child Soldiers, einem Zusammenschluss internationaler Organisationen. Dieser Bericht
dokumentiert die Rekrutierungspraxis und den Einsatz
minderjähriger Soldaten sowie ihre Entlassung und
Reintegration in 197 Ländern.
Zweitens. In Bezug auf die Kinderrechte in den Vereinigten Staaten von Amerika fordern wir nachdrücklich
eine vorbehaltlose Ratifizierung der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen durch die USA. Es ist für
uns Liberale in keiner Weise zu akzeptieren, dass die USA
als eines der weltpolitisch bedeutendsten Länder die Kinderrechtskonvention nicht unterstützen und neben Somalia zu den beiden letzten Ländern gehören, die dieser fast
universell unterzeichneten VN-Konvention nicht beigetreten sind.
Drittens. Außerdem geht uns der Antrag nicht weit genug. Die FDP steht den Haftgründen und den Haftbedingungen in Guantánamo kritisch gegenüber und plädiert
schon länger für eine sofortige Schließung des US-Gefängnisses auf Kuba. Dieser Aspekt kommt im Antrag
überhaupt nicht zur Sprache.
Der Antrag der Linken ist für uns Liberale somit insgesamt nicht weitgehend genug. Er lässt viele Aspekte unbeachtet und ist deshalb abzulehnen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit der Ablehnung des von der Linken eingebrachten
Antrages, sich für Omar Kahdr einzusetzen, beweist die
Große Koalition einmal mehr, dass sie bei Menschenrechtsverletzungen mit zweierlei Maß misst. Gerade vor
dem Hintergrund der Geschichte dieses GuantanamoHäftlings erscheint mir eine auch nur irgendwie geartete
juristische wie auch politische Abwägung unangebracht.
Dieser junge Mann hat wahrscheinlich in Afghanistan
an Gefechten gegen Truppen der USA teilgenommen.
Aber dieser junge Mann war zum Zeitpunkt der Kämpfe
gerade einmal 15 Jahre alt. Sieht man sich dazu seine
Biografie etwas genauer an, dann wird auch schnell klar,
warum er da kämpfte, wo er kämpfte.
Es ist gute deutsche Rechtstradition, gerade im Jugendstrafrecht und auch im Jugendstrafvollzug zum einen
den Grundsatz der Resozialisierung und Erziehung in den
Mittelpunkt zu stellen und sich zum anderen im Gerichtsprozess die Biografie des beschuldigten Minderjährigen
genauer anzusehen, um die Geschichte, wie und warum
er zur Straftat gekommen ist, zu verstehen. Ich denke, Sie
stimmen mir zu, wenn ich behaupte, dass Guantanamo
diese Anforderungen nicht erfüllt.
Natürlich habe ich zur Kenntnis genommen, dass Sie
Guantanamo missbilligen und die Schließung des Lagers
fordern. Nur wird diese allgemeine Forderung genau diesem Einzelfall, diesem jungen Mann nicht gerecht. Hier
hätte ich mir gewünscht, dass Sie sich für diesen jungen
Mann stark machen und die Bundesregierung auffordern,
sich für eine schnellstmögliche und rechtsstaatlich angemessene Lösung des Falls einzusetzen.
Und dies kann nur heißen:
Erstens. Die USA muss nachdrücklich aufgefordert
werden, alle durch sie in Guantanamo inhaftierten Minderjährigen freizulassen und geeignete Maßnahmen zur
sozialen Wiedereingliederung zu ergreifen.
Zweitens. Die USA muss nachdrücklich aufgefordert
werden, ihren Verpflichtungen, die sich aus dem Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des
Kindes betreffend die Beteiligung an bewaffneten Konflikten ergeben, nachzukommen.
Schaut man sich jedoch Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses zum Antrag genauer an und versucht man, die Argumente, die SPD und Grüne im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe gegen
den Antrag vorbringen, nachzuvollziehen, dann kann
man nur verwundert den Kopf schütteln. Zum einen argumentiert die SPD, dass sie generell für die Schließung von
Guantanamo ist und deshalb keine Einzelforderungen
aufgestellt werden dürfen, die man nicht überblicken
kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
traue ihnen ohne Weiteres zu, diesen konkreten Fall zu
überblicken.
Der dem Antrag zugrunde liegende Sachverhalt ist so
klar und eindeutig, dass die Gegenargumente seitens der
SPD nur vorgeschoben sein können.
Ein weiteres Argument, welches von der SPD vorgebracht worden ist, um dem Antrag nicht zuzustimmen, ist,
dass sich der Antrag der Linken auf Minderjährige bezieht, der im Antrag benannte Mensch nunmehr jedoch
volljährig sei. Hier aber übersieht die SPD Punkt zwei
unseres Antrages.
Wir sind uns wohl darüber einig, dass die Pubertät ein
einschneidender Abschnitt im Leben eines Menschen ist.
Wenn man diese Zeit dann auch noch in Guantanamo verbringen muss, ist dies wohl nicht sehr förderlich.
Da Omar Kadhr nun in Guantanamo volljährig geworden ist, glaubt die SPD nunmehr, den Antrag ablehnen zu können. Durch den Fall Omar Kadhr wird exemplarisch gezeigt, wie im Kampf gegen den sogenannten
internationalen Terrorismus Menschenrechte keinerlei
Beachtung mehr finden und selbst auf besonders Schutzbedürftige keine Rücksicht mehr genommen wird. Die
Intention hinter diesem Antrag bleibt aber, zum einen
Minderjährige sofort freizulassen, und zum anderen Menschen, die zur Zeit ihrer Inhaftierung minderjährig waren, die Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen, die
sie ohne Zweifel benötigen und zu denen sich die Völkerrechtsgemeinschaft im benannten Fakultativprotokoll
verpflichtet hat.
Es ist und bleibt Aufgabe des Parlamentes, die Regierung hierzu zu verpflichten.
Dass dies nicht geschehen ist, dass Koalition, FDP
und Grüne diesem jungen Mann die ihm zustehende Hilfe
versagten, bleibt rätselhaft. Ich habe dafür keine Erklärung. Die vorgebrachten Gegenargumente können nicht
überzeugen. Sie sind zynisch.
Die Zahl der Kindersoldaten wird weltweit auf
250 000 geschätzt. Minderjährige werden dabei sowohl
von regulären Armeen als auch von Rebellengruppen rekrutiert. In den meisten Fällen handelt es sich um
Zwangsrekrutierungen. Größte Anstrengungen sind notwendig, um den Minderjährigen, die heute in bewaffneten
Konflikten als Soldaten eingesetzt werden, die Rückkehr
in ein ziviles Leben zu ermöglichen.
Auch in der Bundesrepublik leben Kindersoldaten. Seit
1991 hält die Bundesregierung ihren Vorbehalt gegen die
UN-Kinderrechtskonvention aufrecht und verweigert dadurch Flüchtlingskindern international anerkannte Mindestrechte. Der mehrfachen Aufforderung durch den Bundestag, diese Vorbehaltserklärung zurückzunehmen,
verweigert sich die Bundesregierung. Damit bleibt die
Möglichkeit, Flüchtlingskinder weiter drangsalieren zu
können, bestehen.
Der Umgang der deutschen Behörden mit geflüchteten
Kindersoldaten ist beschämend. Dies gilt selbst dann,
wenn die Kinder schlimmste körperliche und seelische
Verletzungen erlitten haben, bei der Rückkehr in ihr Land
verfolgt würden und unter Lebensgefahr stünden. Sie
werden in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen nicht
als Flüchtlinge anerkannt, sondern erhalten eine Duldung, also eine ausgesetzte Abschiebung.
Auf die Große Anfrage unserer Fraktion zum Thema
Kinderrechtskonvention antwortete die Bundesregierung
Zu Protokoll gegebene Reden
Volker Beck ({0})
im Juli 2007, dass sie eine Rücknahme dieses Vorbehalts
gegen die UN-Kinderrechtskonvention zum einen für
nicht erforderlich, zum anderen für „migrationspolitisch
bedenklich“ halte, „da sie zu einem Anstieg der Einreise
unbegleiteter minderjähriger Ausländer“ führen könne.
Dies ist zynisch und inhuman. Wer aufgrund des Titels des
Antrages der Linken „Für die soziale Rehabilitation von
Kindersoldaten eintreten“ erwartet hat, der Antrag
würde sich mit Kindersoldaten und den Herausforderungen ihrer Rehabilitation beschäftigen, wird enttäuscht.
Eines ist klar: Omar Khadr und auch die anderen inhaftierten Minderjährigen müssen endlich aus Guantanamo freigelassen und bei ihrer Rehabilitation unterstützt werden. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung
dies gegenüber den USA deutlich machen würde. Das Video der Befragung von Omar Kahdr, das vor kurzem veröffentlicht wurde, zeigt, dass in Guantanamo nicht nur
gegen geltendes US-Recht verstoßen wird, sondern auch
gegen jegliches internationales Recht zum Schutz von
Kindern.
Gleichwohl präsentiert die Linke mit ihrem Antrag
einmal mehr eine Mogelpackung. Man nimmt Ihnen Ihr
Engagement für Omar Khadr nicht ab. Das Thema Kindersoldaten wird von Ihnen nur benutzt, um die USA zu
kritisieren. Das ist schäbig. Bei aller Anteilnahme am
Schicksal von Omar Khadr findet sich in dem Antrag kein
einziges Wort der Verurteilung der Taliban für deren Einsatz jugendlicher Kämpfer. Kein einziges Wort geht auf
die 250 000 Kindersoldaten ein, die übrigens auch in ehemals sozialistischen Bruderstaaten wie Angola oder
Birma zum Einsatz gekommen sind, kein Wort geht auf die
skandalöse Haltung der Bundesregierung zur Kinderrechtskonvention ein.
Meine Fraktion wird sich bei der Abstimmung über
diesen Antrag enthalten. Offenbar war der Drang der alten Kader bei den Linken, den USA eins auf die Mütze zu
geben, wieder einmal stärker. Sie sollten sich für ihren instrumentellen Umgang mit Menschenrechtsthemen schämen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8789, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6358 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU
und FDP bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen
und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes und zur Änderung anderer Vorschriften ({0})
- Drucksachen 16/10292, 16/10332 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Enak Ferlemann, CDU/CSU, Petra Weis, SPD, Patrick
Döring, FDP, Heidrun Bluhm, Die Linke, Peter Hettlich,
Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentarischen
Staatssekretärs Uli Kasparick.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 16/10292 und 16/10332 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Lazar, Volker Beck ({2}), Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Verbot der Nazi-Jugendorganisation „Heimattreue Deutsche Jugend e.V.“ prüfen
- Drucksache 16/9801 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Kristina
Köhler, CDU/CSU, Gabriele Fograscher, SPD, Christian
Ahrendt, FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, Monika Lazar,
Bündnis 90/Die Grünen, und des fraktionslosen Kollegen Gerd Winkelmeier.
Halten wir zunächst fest: Die Heimattreue Deutsche
Jugend ist ein neonazistischer Verein mit engen Verknüp-
fungen ins rechtsextremistische Spektrum. Daran gibt es
nach den veröffentlichten Erkenntnissen der Verfassungs-
schutzämter keinen Zweifel. So wurden bundesweit so-
wohl Verbindungen zur NPD als auch zu der neonazisti-
schen Kameradschaftsszene festgestellt. Nicht umsonst
gilt die HDJ vielen Experten zumindest als in der Tradi-
tion der 1994 verbotenen rechtsextremistischen „Wiking-
Jugend“ stehend.
Zielsetzung der HDJ ist es - ich zitiere aus dem neues-
ten Bericht des Verfassungsschutzes -, „über zunächst
unpolitisch erscheinende Aktivitäten Jugendliche und
Kinder an rechtsextremistisches Gedankengut heranzu-
führen“. Die Indoktrination und die Aufhetzung von Kin-
dern und Jugendlichen ist eine der Hauptaktionsfelder al-
ler Formen des Extremismus; sie ist wahrscheinlich
1) Anlage 15
Kristina Köhler ({0})
zugleich die widerlichste. Als die Polizei vor wenigen
Monaten ein HDJ-Zeltlager in Mecklenburg-Vorpommern aufgelöst hatte, fand man dort nicht nur verbotene
NS-Symbole, sondern auch unterschiedliche Medien wie
Kassetten und Landkarten, die klar dafür sprechen, dass
hier die Kindern mit rechtsextremen Inhalten auf einen
tiefbraunen Weg gebracht werden sollen.
Ein Kamerateam, welches eines dieser Zeltlager
filmte, zeigt Bilder, auf denen Zelte mit dem Schild „Führerbunker“ beschriftet waren und auf denen sich Kinder
mit dem Hitlergruß begrüßten. Über die Gesinnung, welche dort verbreitet wird, kann es also kaum Zweifel geben.
Gleiches gilt für das HDJ-Magazin „Funkenflug“,
welches das Motto „Jung - stürmisch - volkstreu“ trägt.
In diesem Heft fanden die Verfassungsschutzämter antisemitische und den Nationalsozialismus verherrlichende
Inhalte.
Die HDJ ist also kein harmloser Pfadfinderverein,
auch wenn sie immer wieder versucht, sich als solcher
darzustellen. Die HDJ ist vielmehr ein rechtsextremistischer Verein, der unter Vorspiegelung jugendpflegerischer Tätigkeit Kinder und Jugendliche ideologisiert.
Umso wichtiger ist die öffentliche Aufklärung über die
HDJ. Auf ihrer Homepage versucht der Verein nämlich,
gezielt auch Kinder und Jugendliche zu werben, die außerhalb des rechtsextremistischen Spektrums stehen. Er
sucht gezielt nach Grundstücken, auf denen Lager stattfinden können, nach Räumen für Heimatabende etc. Jedem, der diesen Verein unterstützt, muss klar sein, was er
da tut. Er unterstützt keine demokratische Jugendarbeit
und er unterstützt auch keine heimatverbundene Jugendarbeit. Denn die dort propagierte Heimat ist eine andere,
als wir sie alle kennen und uns wünschen.
Wenn wir über den Neonazismus in der HDJ reden,
muss eines freilich auch deutlich gemacht werden: Der
Rechtsextremismus-Vorwurf zielt auf die Köpfe dieses
Vereins, nicht auf die Kinder. Das möchte ich für meine
Fraktion klarstellen. Zumindest die 8- bis 14-Jährigen,
die in solche Zeltlager gesteckt werden, sind keine Täter,
sondern Opfer. Sie sind keine Rechtsextremisten, sondern
sie werden von Rechtsextremisten missbraucht. Sie werden auf ein Leben jenseits dieser Gesellschaft vorbereitet.
Auch wenn Sie es aus anderen Zusammenhängen kennen:
Was hier passiert, ist nichts anderes als der Versuch, eine
Parallelgesellschaft aufzubauen und die Kinder und Jugendlichen aus unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zu desintegrieren. Das können und das dürfen
wir nicht zulassen.
Dabei sollten wir uns auch nicht von der scheinbar geringen Größe dieser Organisation blenden lassen. Die
Zahlen variieren hier deutlich, aber in jedem Fall reden
wir von 100 bis 400 Mitgliedern. Es muss aber klar sein:
Jedes Kind, welches neonazistisch ideologisiert wird, ist
eines zu viel. Und jede Familie, die ihr Kind auf solche
Lager schickt, ist eine zu viel, zumal die Zahlen eher dafür sprechen, dass es gewisse Wanderungsbewegungen
aus der rechtsextremen Szene hin zur HDJ gibt. Die HDJ
scheint also zurzeit im organisierten Rechtsextremismus
sogar eher noch wichtiger zu werden. Das ist umso
schlimmer.
In den letzten Wochen und Monaten hat es von einigen
Seiten den Ruf nach einem Verbot der HDJ gegeben. Das
ist legitim, denn das Verbot ist und bleibt nun mal das
schärfste Schwert in der Auseinandersetzung mit extremistischen Vereinen. Deshalb liegt die Latte hier aber
auch um einiges höher, als das hier oftmals durchklingt.
Ich warne deshalb davor, wenn hier mancher Kollege aus
übertriebenem Geltungsbedürfnis so tut, als müsste der
Bundesinnenminister doch einfach nur par ordre de Mufti
entscheiden, die HDJ zu verbieten. Ein solches Verbot
muss aber - das wissen wir alle - hundertprozentig gerichtsfest sein. Ansonsten droht ein Propagandaerfolg für
den extremistischen Verein vor Gericht. Wie schwer ein
solcher Propagandaerfolg wirken kann, wissen wir alle.
Für die CDU/CSU kann ich sagen: Wir haben auch in
dieser Frage vollstes Vertrauen in das Bundesinnenministerium und in den Bundesinnenminister.
Die SPD-Bundestagsfraktion ist der Meinung, dass inzwischen ausreichend Gründe vorliegen, den Verein
„Heimattreue Deutsche Jugend e.V.“ zu verbieten. Der
Verein „Heimattreue Deutsche Jugend - Bund zum
Schutz für Umwelt, Mitwelt und Heimat e. V.“ - HDJ - ist
eine bundesweit tätige Jugendorganisation, die ein rassistisches Weltbild vertritt und durch eine rechtsextremistische Ideologie geprägt ist.
Mit mehreren Hundert Mitgliedern ist die HDJ, die im
Jahr 2001 aus dem 1990 gegründeten „Bund Heimattreuer Jugend“ hervorging, fester Bestandteil des rechtsextremen Spektrums in Deutschland und verfügt über umfangreiche szeneübergreifende Kontakte. Zudem gibt es
enge personelle Verflechtungen mit der NPD und der
neonazistischen Kameradschaftszene.
Ähnlich wie die im Jahre 1994 verbotene „Wiking Jugend“, man könnte die HDJ ebenso als deren Nachfolgeorganisation bezeichnen, zielt auch die HDJ mit ihrem sogenannten Lebensbund-Konzept darauf ab, Freizeitangebote für Familien und Kinder anzubieten, die der
Verbreitung antisemitischer und völkischer Ideologie dienen. Die HDJ ist bestrebt, ganze Familien an die rechtsextreme Szene zu binden, denn nach Eigendarstellung der
HDJ sollen bereits „Kleinstkinder“, aber auch Jugendliche für den Rechtsextremismus rekrutiert und nach Familiengründung ein Ausscheiden aus der rechtsextremistischen Szene verhindert werden.
Besonders durch die im Internet zum Beispiel auf
„youtube“ veröffentlichten Werbefilme versucht die Organisation gezielt, neue junge Mitglieder zu werben. Der
Verein veranstaltet Zeltlager, Fahrten und Wanderungen
mit dem Zweck einer paramilitärischen Ausbildung der
Kinder und Jugendlichen. Durch ideologische Schulungen und die Ausübung militärischer Rituale wird für die
Kinder eine völkisch-nationalistische Parallelwelt geschaffen.
Nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz betreibt die HDJ - ich zitiere - „unter VorspiegeZu Protokoll gegebene Reden
lung einer jugendpflegerischen Tätigkeit … eine gezielte
Ideologisierung ihrer Mitglieder“. Weiterhin weist der
Verfassungsschutz darauf hin, dass die HDJ versucht,
ihre rechtsextremistische, nationalistische Ideologie hinter einer Selbstcharakterisierung als traditionsbewusst
und wertorientiert zu verbergen.
Als die Polizei im August 2008 erstmals ein Zeltlager
der HDJ im Landkreis Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt auflöste,
wurden bei den allesamt uniformierten Teilnehmern zahlreiche Gegenstände mit Symbolen der rechten Szene sichergestellt. Die Polizei erklärte dazu, dass die bei der
Durchsuchung aufgefundenen und sichergestellten Unterlagen belegen würden, dass die gezielte Verbreitung
rechtsextremistischer Inhalte den Tagesablauf der Teilnehmer bestimme und die Kinder im Zeltlager mit nationalistischem Gedankengut regelrecht beschult würden.
Trotz des 2007 erlassenen Uniformierungsverbotes
durch das Bundesministerium des Innern zeichnen sich
die Auftritte der HDJ durch Uniformen oder uniformähnliche Pflichtkleidung, oftmals mit Verbands- und Sonderzeichen, aus. Im Stile militärischer Abzeichen erkennt
man das Führungspersonal durch farbige Balken am
Oberarm der Hemden. Fahnenappelle, das Marschieren
in Reih und Glied sowie Fanfarenzüge konstituieren zudem den paramilitärischen Charakter der HDJ. Eine von
der HDJ beim Bundesministerium des Innern beantragte
Ausnahmegenehmigung vom in Deutschland geltenden
generellen Uniformierungsverbot ist mit der Begründung
abgelehnt worden, dass „eine Gesamtschau der Aktivitäten ergibt, dass die politische gegenüber der jugendpflegerischen Betätigung überwiegt.
Ungeachtet des Verbotes und unbeeindruckt posieren
die Mitglieder der HDJ weiterhin in Uniformen oder uniformähnlichen Kleidungsstücken in Werbefilmen, Kalendern oder im Verbandsorgan „Funkenflug“. In Ausgabe
4/2007 dieses Verbandsorgans wurden alle Mitglieder
dazu aufgefordert, sich nicht an das Uniformierungsverbot zu halten. Das ist ein Zeichen dafür, dass sich die HDJ
nicht an die Einhaltung von Recht und Gesetz hält. Außerdem finden sich in dieser Zeitung stark geschichtsrevisionistische, rassistische und antisemitische Inhalte.
Die HDJ lehnt unsere freiheitlich demokratische
Grundordnung strikt ab. Auch tolerantes Verhalten gegenüber Schwächeren wird im „Funkenflug“ 2/2006 als
niedere Charaktereigenschaft eingestuft. Laut Bundesamt für Verfassungsschutz werden in dem Verbandsorgan
der HDJ Texte publiziert, „in denen der Nationalsozialismus verherrlicht wird sowie antisemitische Einstellungsmuster deutlich werden.“
Inzwischen ermittelt auch die Staatsanwaltschaft zum
wiederholten Male wegen Volksverhetzung, Verwendung
verfassungsfeindlicher Symbole, Verstoßes gegen das
Uniformverbot, Körperverletzung sowie Bildung bewaffneter Gruppen.
Ich meine, es ist Zeit, das längst überfällige Verbot
auszusprechen. In diesem Zusammenhang begrüße ich
den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Jahressteuergesetz 2009, der in § 51 Abgabenordnung neu regelt,
dass extremistische Vereine von der Gemeinnützigkeit
ausgeschlossen werden sollen. Eine Steuervergünstigung
setzt voraus, dass die Körperschaft nach ihrer Satzung
und ihrem tatsächlichen Handeln keine Bestrebungen gegen unsere freiheitlich demokratische Grundordnung fördert oder dem Gedanken der Völkerverständigung zuwiderläuft.
Durch diese längst überfällige Regelung in der Abgabenordnung wird ein wichtiger Beitrag geleistet, den
rechtsextremistischen Organisationen finanziellen Spielraum zu nehmen. Solche rechtsstaatlichen Schritte sind
neben repressiven und präventiven Maßnahmen wichtig
im Kampf gegen den Rechtsextremismus und extremistische Bestrebungen. Doch wo Verbote von extremistischen
Vereinen nötig sind, sollte der Bundesinnenminister nicht
zögern, diese auch zügig auszusprechen.
Die Forderung nach einem Vereinsverbot der Heimattreuen Deutschen Jugend, HDJ, die die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem heute zur Debatte stehenden
Antrag stellt, zeigt das Bedürfnis, aber auch die Notwendigkeit, rechtsextremistische Aktivitäten und Bestrebungen konsequent und nachhaltig zu bekämpfen. Diese Forderung hat die FDP-Fraktion als Gegenstand einer
laufenden parlamentarischen Initiative ebenfalls zum
Ausdruck gebracht. Es besteht Einigkeit darüber, dass die
HDJ verboten gehört.
Positiv hervorzuheben ist, dass das gegen die HDJ
ausgesprochene Uniformverbot im Falle des Zuwiderhandelns im Benehmen mit den zuständigen Landesbehörden durchgesetzt wird. Fast wäre der Antrag
allumfassend, beinhaltete er die Prüfung des Gemeinnützigkeitsstatus - dies ändert aber nichts an dessen Zustimmungswürdigkeit.
Auf der Homepage der HDJ ist nämlich zu lesen, dass
sich der Verein über Spenden finanziert. Daher liegt die
Vermutung nahe, dass der rechtsextremistische Verein als
gemeinnützig anerkannt ist und dadurch steuerliche Vorteile erlangt. An dieser Stelle möchte ich nur an den Verein Collegium Humanum erinnern, der über Jahre vom
zuständigen Finanzamt als gemeinnützig eingestuft
wurde. Für diejenigen, die es nicht mehr wissen: Collegium Humanum war ein rechtsextremistischer Verein, der
erst durch massiven politischen und medialen Druck im
Mai dieses Jahres nach über 40 Jahren seines Bestehens
verboten worden ist. Mir drängt sich daher die Frage auf,
ob rechtsextremistische Vereine in Deutschland eine Art
Bestandschutz genießen.
Neben der HDJ gibt es noch weitere Vereine, die im
Verfassungsschutzbericht aufgeführt werden und bei denen der Verdacht besteht, dass sie mit ihren Aktivitäten
die freiheitliche demokratische Grundordnung bedrohen.
Wie erklärt man sich, dass Extremisten ganz besonders
aus dem rechten, aber auch aus dem linken Lager ungehindert ihr Unwesen treiben? Dieser Zustand ist in einem
demokratischen Rechtsstaat schlichtweg inakzeptabel.
Der Jugendverein „für alle deutschen Mädel und Jungen
im Alter von 7 bis 29 Jahren“ ist hochgefährlich, nicht zuletzt weil er über zunächst unpolitisch erscheinende AktiZu Protokoll gegebene Reden
vitäten Jugendliche und Kinder an rechtsextremistisches
Gedankengut heranführt. Dabei wird eine jugendpflegerische Tätigkeit vorgespiegelt, in Wahrheit jedoch eine
gezielte Ideologisierung im Sinne einer nationalsozialistischen Gesinnung betrieben.
Eine der Haupttätigkeiten der HDJ ist die Organisation von Freizeitcamps im Sinne einer „paramilitärischen
Ausbildung der Jugend.“ So wurde beispielsweise Anfang August ein von der HDJ organisiertes Ferienlager
bei Hohen Sprenz in Mecklenburg-Vorpommern polizeilich aufgelöst. Hakenkreuze, uniformierte Kinder und nationalsozialistische Lehrinhalte sprachen dort eine deutliche Sprache. In diesen Freizeitcamps wird offenbar die
NS-Zeit durch Anlehnung an nationalsozialistische Insignien und Flaggenspiele als „selbstbewusster und unverkrampfter“ Umgang mit der Vergangenheit belebt.
Mit mehreren Hundert Mitgliedern ist die HDJ ein fester Bestandteil der rechtsextremistischen Szene. Dabei
hat die Heimattreue Deutsche Jugend, HDJ, nach Erkenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz ihre
Wurzeln in der Wiking-Jugend, WJ. Es bestehen neben
gemeinsamen Themen auch personelle Verbindungen zu
der verbotenen Jugendorganisation, die erst nach 42 Jahren ihres Bestehens verboten wurde.
Wie die Historie aufzeigt, lässt sich die Bundesregierung in diesen Angelegenheiten öfter Zeit. Wie bereits erwähnt, hat es beim Collegium Humanum ähnlich lange
gedauert. Dies ist genau der Dreh- und Angelpunkt für
die Unzulänglichkeit der Bundesregierung bei der Bekämpfung des Radikalismus. Anstatt sich auf das rechtsextremistische Umfeld zu konzentrieren, befasste sie sich
viel zu lange mit einem aussichtslosen NPD-Verbotsverfahren.
Die HDJ wird bereits vom Verfassungsschutz beobachtet und ein Vereinsverbot vom Bundesministerium des Innern hoffentlich konsequent vorbereitet. Jedoch muss ich
betonen, dass das rechtsstaatliche Instrument des Vereinsverbotes nicht das Allheilmittel darstellt. Die Politik
muss auch mit vollem Engagement an der Bekämpfung
der Ursachen von Rechtsradikalismus arbeiten. Ein
wichtiges Ziel soll daher ebenfalls sein, über Rechtsextremismus nicht mit dem erhobenen Zeigefinger zu
informieren, sondern auf Aufklärung und nachhaltige
Prävention zu setzen. So muss der Populismus, der von
den „Rechten“ praktiziert wird, entlarvt werden.
Was Rechtsextreme vor Ort machen, ist nichts anderes,
als die Sorgen der Bürger für die Durchsetzung ihrer demokratiefeindlichen Ziele auszunutzen. Es ist daher die
Pflicht der Demokraten, die Probleme in unserem Land
offen anzusprechen. Nur durch einen ehrlichen Dialog,
ehrliche Lösungen und Konzepte können wir den Bürgern
die Absurdität der „rechten“ Scheinlösungen klarmachen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Bürger diese
Offenheit langfristig honorieren werden. Die Bürger müssen das Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie auch für
den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verantwortlich sind.
Der Verherrlichung des Nationalsozialismus muss
konsequent entgegengetreten werden, und Maßnahmen
zur Prävention und Strafverfolgung müssen vollumfänglich ausgeschöpft werden.
Dieser Sommer hat wieder einmal gezeigt, dass die
Heimattreue Deutsche Jugend ein wichtiger Teil des organisierten Neofaschismus ist. Ein von ihr veranstaltetes
Sommerlager wurde von der Polizei aufgelöst, nachdem
die Neofaschisten dort gegen das Uniformierungsverbot
verstoßen hatten. Doch nicht immer sind aufmerksame
Bürgerinnen und Bürger zur Stelle, die gegen ein solches
Treiben vorgehen. Von einzelnen Strafverfahren wird sich
die Heimattreue Deutsche Jugend nicht in ihren Umtrieben abbringen lassen. Auch die Fraktion Die Linke setzt
sich deshalb mit einem Antrag für das Verbot dieser neofaschistischen Organisation ein.
Mit mehreren hundert Mitgliedern und einem bundesweiten Organisationsnetz stellt die HDJ eine der größten
und wichtigsten Nachwuchs- und Rekrutierungsorganisationen der neofaschistischen Szene in Deutschland dar.
Es liegen längst ausreichende Beweise dafür vor, dass die
HDJ eine Nachfolgeorganisation der 1994 vom Bundesinnenministerium verbotenen Wiking-Jugend darstellt.
So war der „Bundesführer“ der HDJ, Sebastian Räbiger,
bis zum Verbot der Wiking-Jugend Leiter von „Gau Sachsen“. Auch weitere Spitzenfunktionäre der Wiking-Jugend finden sich heute an führender Stelle in der HDJ
wieder.
Schon die neonazistische Wiking-Jugend, die sich ganz
bewusst an ihr Vorbild, die SS-Division „Wiking“ anlehnte, war seit ihrer Gründung 1952 jahrzehntelang in
der BRD unbehelligt geblieben. Doch schließlich musste
die Bundesregierung zugeben, dass die Wiking-Jugend
das Ziel verfolgte, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen. Viel zu lange haben die staatlichen Behörden anschließend das braune Treiben der HDJ als Nachfolgeorganisation der Wiking-Jugend schlicht ignoriert. Nicht
Polizei und Verfassungsschutzbehörden, sondern engagierte Einzelpersonen haben die Aktivitäten der HDJ in
diesem Sommer öffentlich gemacht.
Die HDJ bietet einen wichtigen Anlaufpunkt für neofaschistische Familien, die bei ihr im Freizeit- und Jugendbereich umfassende Angebote finden. Des Weiteren
wird somit der Etablierung einer rechtsextremen Parallelwelt Vorschub geleistet. Kinder und Jugendliche aus
neonazistischen Elternhäusern werden dort bei Lagerfeuerromantik mit der menschenverachtenden Ideologie der
Neonazis, mit rassistischem und antidemokratischem Gedankengut indoktriniert. Paramilitärische Ausbildung,
die von der HDJ sogenannte soldatische Erziehung, ist
wichtiger Bestandteil ihrer Kinder- und Jugendcamps.
Selbst Scheinhinrichtungen werden in Wehrsportübungen
vollzogen.
Die HDJ operiert in enger Verbindung mit der NPD
und den Neonazikameradschaften sowie anderen rechtextremen Gruppierungen. Immer wieder treten führende
Funktionäre der NPD als Schulungsleiter bei der HDJ
auf. Der inzwischen zum stellvertretenden NPD-Vorsitzenden aufgestiegene Jürgen Rieger stellte jahrelang seinen Hof in der Lüneburger Heide für Versammlungen der
Zu Protokoll gegebene Reden
HDJ zur Verfügung. Im Gegenzug übernehmen ältere
HDJ-Mitglieder immer wieder Ordnerfunktionen bei
NPD-Veranstaltungen oder treten dort mit Kulturbeiträgen auf.
Das Vorbild der HDJ ist eindeutig die Hitlerjugend.
Jahreskalender der HDJ verzeichnen den Geburtstag von
Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß. Die HDJ beteiligt sich
an einem jährlichen Gedenkmarsch, der dem Nazi-Idol,
SA-Mann Horst Wessel, gewidmet ist. Ihre Zelte tragen
Namen wie „Führerbunker“ und selbst Hakenkreuzsymbole wurden bei der Durchsuchung eines Zeltlagers gefunden. Bei den Lagern und Veranstaltungen der HDJ
wird im Sinne ihres „soldatischen Erziehungsideals“
Uniform getragen. Über das allgemein geltende Uniformverbot im Versammlungsgesetz setzt sich die Gruppierung hinweg.
Ein Verbot allein ist selbstverständlich nicht ausreichend. Gesellschaftliches Engagement ist weiterhin die
zentrale Säule des Kampfs gegen rechts. Vorbildlich sind
in diesem Zusammenhang eine Elterndemonstration in
Detmold gegen die Verführung von Kindern und Jugendlichen durch die HDJ-Einheit Hermannsland, oder Hinweise aufmerksamer Bürger, die zur raschen Auflösung
eines HDJ-Camps in Hohen Spenz führten. Begrüßenswert ist zudem die Entfernung eines HDJ-Führers aus
dem Technischen Hilfswerk in Greifswald. Denn gerade
bei der politischen Jugendarbeit gilt die antifaschistische
Losung „Wehret den Anfängen“.
Ich will am Schluss aber auch noch auf das Verhalten
der Regierungskoalition zu sprechen kommen. Von allen
drei Oppositionsfraktionen lagen dem Innenausschuss in
seiner gestrigen Sitzung Anträge zu diesem Thema vor.
Eine Entscheidung wurde aber vertagt. Offensichtlich ist
den Regierungsfraktionen das Thema „Kampf gegen
Rechtsextremismus“ nicht wichtig genug, um einmal die
parlamentarischen Spielchen sein zu lassen und einem
Antrag der Opposition zuzustimmen. Dieses Verhalten ist
wirklich ungeheuerlich. Die Beratungen über ein Verbot
der HDJ müssen jetzt zügig zu einem Ende geführt werden. Dafür wird sich meine Fraktion weiter entschieden
einsetzen.
Nazi-Kinderlager haben in unserem Land nichts zu suchen. Darin besteht sicher bei allen demokratischen Politikerinnen, und Politiker Einigkeit. Dennoch gibt es den
Verein Heimattreue Deutsche Jugend e. V. Unter seinem
Vereinsdach haben sich Rechtsextreme zusammengetan
und umgarnen Kinder und Jugendliche. mit Freizeitangeboten wie zum Beispiel Zeltlagern, Kanufahrten, Wanderungen und Lagerfeuern. Das weckt Gemeinschaftssinn,
bringt Spaß und Abenteuer. Langsam werden Heranwachsende in die Gruppe integriert und geraten so
schleichend in den Dunstkreis aggressiver Nazi-Ideologie
hinein.
Der Verein Heimattreue Deutsche Jugend e. V., kurz
HDJ genannt, verfügt über .eine feste Einbindung in die.
rechtsextreme Szene und hält Kontakt zu Kameradschaften, Parteien und anderen Vereinen. Die HDJ ist bundesweit aktiv und gut organisiert. Ihre Bundesgeschäftsstelle
befindet sich in Berlin; koordiniert wird die Arbeit über
vier sogenannte Leitstellen, welche sich wiederum in
mehrere sogenannten Einheiten unterteilen.
Ideologisch bekennt sich die HDJ zum sogenannten
Neuheidentum, welches teilweise ein rassistisches Weltbild und nationalistische „Blut- und Bodenmythen“ verherrlicht. Der Bezug zum Nationalsozialismus lässt sich
nicht leugnen. Dies belegen auch Fotos und Filmaufnahmen mutiger Journalistinnen und Journalisten. Dort sieht
man zum Beispiel HDJ-Zelte mit Aufschriften wie „Führerbunker“ und „Germania“. Kinder begrüßen einander
und ihre Ausbilder mit dem Hitlergruß. Fahnenappelle,
Wehrsportübungen, Fackelmärsche bereiten auf paramilitärische Schulungen und Nazi-Propaganda vor.
Bei ihren gemeinsamen Veranstaltungen tragen die
HDJ-Mitglieder eine uniformartige Kleidung mit militärisch anmutenden Verbands- und Sonderabzeichen. Dies
ist im Versammlungsrecht verboten; im Jahr 2007 untersagte das Bundesinnenministerium der HDJ ausdrücklich das Tragen von Uniformen. Die Organisation nimmt
das jedoch nicht ernst. In ihrem Kalender „Unser Leben
2008“ sowie einem Internet-Werbefilm sind weiterhin
uniformierte Mitglieder zu sehen.
Die HDJ selbst beschreibt sich auf ihrer Internetseite
als „traditionsbewusst und werteorientiert“. Ihr Selbstverständnis wird in folgendem Zitat deutlich:
Wir sind uns unserer eigenen Herkunft und der Geschichte unseres Volkes bewusst Als junge Deutsche
können wir so manches aus den Erfahrungen unserer Vorfahren lernen. Dies gelingt aber nur, wenn
wir uns selbstbewusst und unverkrampft der eigenen Vergangenheit stellen.
Völlig „unverkrampft“ knüpfen sie denn auch an die
Traditionen der Hitlerjugend an. Gegen einen ihrer Führer ist zum Beispiel ein Verfahren anhängig wegen Vorführung des antisemitischen NS-Propagandafilms „Der
ewige Jude“ in einem Freizeitlager. Ewiggestrige Werte
und Geschichtsverfälschung verbreiten sie zudem in ihrer
vierteljährlichen Broschüre „Funkenflug - jung - stürmisch - volkstreu“. Dort wird auch über das staatliche
Uniformverbot gespottet und betont, dass man trage, was
man wolle.
Die HDJ muss als eine Nachfolgeorganisation der
1994 verbotenen Wiking-Jugend angesehen werden. Es
sind personell und inhaltlich deutliche Kontinuitäten zu
beobachten, wie auch die Bundesregierung bestätigte. Es
gab schwerwiegende Gründe, die Wiking-Jugend zu verbieten. Dass ihre Anhänger heute unter anderem Vereinsnamen wieder auf Seelenfang gehen, können wir nicht akzeptieren. Deshalb fordert die grüne Bundestagsfraktion
in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, die Voraussetzungen eines HDJ-Verbotes zu prüfen und bei positivem
Prüfergebnis - wovon wir ausgehen - den Verein zu verbieten. Zu lange hat der Staat diesen Neonazis freie Hand
gelassen. Das ist verschenkte Zeit, in der Kindern und Jugendlichen eine gefährliche Gehirnwäsche verpasst wird.
Ziel der HDJ ist es, genügend Hass gegen unser demokratisches System, zu schüren, um dieses schließlich stürzen zu können. Bei ihren Treffen und Ferienlagern rekruZu Protokoll gegebene Reden
tieren sie dazu gezielt eine „Nachwuchsarmee“. Wir
dürfen diesem Treiben nicht länger zusehen! Der Verein
Heimattreue Deutsche Jugend e. V. muss schnellstmöglich verboten werden Es freut mich persönlich sehr, dass
auch FDP und Linksfraktion in ihren Anträgen gleichlautende Forderungen erheben und auch aus der Großen
Koalition positive Signale zu hören sind. Im Fall der HDJ
ist ein Konsens aller demokratischen Kräfte im Bundestag also sogar zwischen Opposition und Koalition erreicht.
Einen solchen Konsens wünschte ich mir auch bei der
Ausgestaltung der Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus. Verböte sind ja nur geeignet als Mittel zur
Schadensbegrenzung. Repressive Maßnahmen, wie zum
Beispiel Verbote, bringen nicht automatisch mehr Demokratie mit sich. Dafür brauchen wir attraktive demokratische Angebote für Kinder, Jugendliche und deren Eltern. Denn wo die Menschen sozial und kulturell
eingebunden werden und sich vom Staat wertgeschätzt
fühlen, können Nazis gar nicht erst landen.
Man spreche nicht über Verbote, man spreche sie aus.
Aber warum passiert dann nichts? Seit Jahren liegen die
Beweise offen, aber die rechtsextreme Heimattreue Deutsche Jugend kann weiterhin ungestört ihr Unwesen
treiben. Es reicht eigentlich schon, bei Wikipedia die personellen Übereinstimmungen zwischen der 1994 verbotenen „Wiking-Jugend“ und der HDJ zu lesen, um zu erkennen, dass sie de facto deren Nachfolgeorganisation
ist. Genau das aber war mit dem Verbot ebenfalls untersagt worden.
Ich verstehe das Zögern des Herr Minister nicht. Ob
nun im ARD-Magazin „Panorama“ oder in den im Internet abrufbaren Werbefilmen für die HDJ: Es lassen sich
ausreichend Gründe finden, diesen rechten Hetzern das
Handwerk zu legen. Die Opfer, über die wir hier sprechen, sind Kinder. Sechsjährige werden schon zum
Strammstehen gezwungen, auch bei Schnee und Kälte,
wie es, ein Jugendherbergsbetreiber in Franken beobachtet hat. Einer der Propagandafilme wurde im Übrigen in
dieser Burg in Wunsiedel gedreht, ohne Wissen des oder
Genehmigung durch den Hausherren.
Seit Mitte 2007 besteht wenigstens ein Uniformverbot
für die HDJ, das diese allerdings alles andere als ernst
nimmt: „Wir entscheiden immer noch selbst, welche Kleidungsstücke wir tragen.“ Es wäre an den Ländern, dem
Verstoß gegen das Verbot nachzugehen, aber es passiert
nichts. Dabei liegen inzwischen ausreichend Beweise vor,
dass die HDJ in mehreren Fällen gegen das Verbot verstoßen hat.
So berichtet beispielsweise ein Herbergsvater aus dem
rheinland-pfälzischen St. Goarshausen, in der Nähe von
Koblenz, dass in seiner Herberge zum Jahreswechsel
2007/2008 114 mehr oder weniger gleich gekleidete Kinder ihr Winterlager abgehalten hätten. Veranstalter war
die Heimattreue Deutsche Jugend. Ist das keine Uniformierung?
Dieser Herbergsvater schildert zudem seine Eindrücke einer paramilitärischen Atmosphäre; eine andere
Mitarbeiterin spricht von Straf-Liegestützen gegen einzelne Teilnehmer des Lagers. Wir sprechen hier weiterhin
über Kinder. Inzwischen liegen nämlich auch Bilder vor,
die zeigen, wie Ausbildungslagers eine Hinrichtung
nachstellen.
Es ist schlicht nicht mehr verantwortbar, dass die Organisation ungehindert Kinder zu strammen Neonazis heranzieht. Hier muss der Rechtsstaat endlich eingreifen;
denn es geht um die freiheitliche demokratische Grundordnung dieses Landes, die von derartigen Vereinen untergraben wird. Intern machen die Mitglieder doch gar
kein Hehl aus ihrer Einstellung. Als inhaltlicher Bezugspunkt dient dabei der Nationalsozialismus, dessen Ideologieelemente sich wie ein roter Faden durch die Aktivitäten der HDJ ziehen. Ein völkischer Nationalismus ist
ebenso zu erkennen wie die Verherrlichung des Todes
oder die Kritik an der Gleichheit der Menschen.
Wenn sich aber die Justiz - in diesem Fall die Staatsanwaltschaft Rostock, die die Ermittlungen wegen der
Vorfälle in dem im August aufgelösten HDJ-Sommerlager
einstellte - darauf zurückzieht, dass es gegen privat genutzte verbotene Symbole keine Handhabe gebe, dann
muss das lnnenministerium endlich handeln.
Irgendwann muss jeder Prüfvorgang ein Ende haben.
Der Verfassungsminister Dr. Schäuble sollte der HDJ
endlich das Handwerk legen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache16/9801 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Winfried Nachtwei, Alexander
Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Zeitbombe der Munitionsaltlasten in
Nord- und Ostsee entschärfen
- Drucksache 16/9103 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Ingbert
Liebing, CDU/CSU, Detlef Müller, SPD, Dr. Christel
Happach-Kasan, FDP, Lutz Heilmann, Die Linke, und
Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.
Die Problematik, mit der wir uns heute beschäftigen,
ist seit Jahren in vielen Variationen Thema in den Medien.
Besonders in den Sommermonaten reicht die Bandbreite
der Berichterstattung von der eindringlichen Warnung,
sich überhaupt der Nord- oder Ostsee zu nähern, bis hin
zur völligen Entwarnung. Was also sind die Fakten, wenn
wir von Munitionsaltlasten vor der deutschen Küste sprechen?
Fakt ist, dass tatsächlich Grund zur Sorge besteht. Unbestritten ist, dass es in regelmäßiger Folge zu Unfällen
kommt, die auf versenkte Kriegsmunition zurückzuführen
sind. Dies sind bis heute auch an der Ostsee, die besonders betroffen ist, glücklicherweise Einzelfälle. Dennoch:
Gerade vor ein paar Tagen haben Mitarbeiter eines Bauernhofs in Timmendorf erst wieder ein 4 Meter langes
Torpedoteil aus dem Wasser gefischt. Der Strand musste
von der Polizei abgesperrt werden, und es dauerte mehrere Stunden, bis der Kampfmittelräumdienst Entwarnung geben konnte.
Die Wissenschaft ist sich hingegen nicht einig, wie das
Gefahrenpotenzial einzuschätzen ist. Grundsätzlich lassen sich in der Betrachtung der Thematik drei wesentliche Probleme definieren:
Erstens. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs wurde im großen Stil Kriegsmunition in Küstengewässern versenkt. Zuweilen geschah dies chaotisch,
was angesichts der Gesamtsituation im Nachkriegsdeutschland nicht verwundert. Die genaue Lage dieser
Altlasten ist in den seltensten Fällen bekannt. Wenn es zur
damaligen Zeit Aufzeichnungen gegeben hat, stimmen
diese aufgrund der Meeresströmung kaum noch mit der
Realität überein. Größere Mengen Munition sind zudem
nicht wie vorgesehen an besonders tiefen Stellen versenkt
worden. Entsprechend verstreut liegen heute die Kampfstoffe am Meeresboden. Zusätzlich besteht Gefahr durch
im Krieg verlegte Minen und auch durch gesunkene
Kriegsschiffe, deren Waffen- und Munitionsbestand in der
Regel nicht erfasst ist.
Zweitens. Der Forschungsstand zur Gefährdung von
Mensch und Natur ist niedrig. Für die Küsten bestehe im
Moment kaum eine Bedrohung, weil sich viele Gifte im
Wasser schnell verflüchtigten, sagt etwa der finnische
Forscher Tapani Stipa vom Finnish Institute of Maritime
Research in Helsinki. Er betont aber, auch sein Kenntnisstand sei gering. Hingegen hält der Meeresforscher
Stefan Nehring, der eine viel beachtete Studie zum Thema
herausgegeben hat, die verklappte Munition für eine Zeitbombe. Toxikologen der Universität Kiel befürchten, dass
sich Gifte aus Brandbomben und Gasmunition über die
Nahrungskette in Tieren anreichern könnten. Aber auch
die kritischen Stimmen bestätigen schlussendlich, dass
die bisherigen Erkenntnisse vollkommen unzureichend
sind.
Drittens. Die oftmals erhobene Forderung, die Munition umgehend zu bergen, könnte das Problem verschärfen, statt es zu lösen und zu einer erheblichen Gefährdung
sowohl für das Ökosystem Meer als auch für den Menschen führen. Führende Experten haben wiederholt auf
die Gefahren einer möglichen Bergung hingewiesen.
Nach 60 Jahren sind viele der Ummantelungen durchgerostet, ein Einsammeln birgt daher im Zweifel unkalkulierbare Risiken. Und eine mögliche Sprengung kann
wiederum wegen des damit verbundenen Lärms möglicherweise gravierende Gefahren für die insbesondere in
der Ostsee ohnehin gefährdeten Meeressäuger haben.
Die vordringlichste Aufgabe besteht also zunächst in
der Erfassung der Menge und Lage der versenkten Munition sowie in der wissenschaftlichen Bewertung der möglichen Gefährdung. Was wir brauchen, ist eine verlässliche Gefährdungsabschätzung.
Unabhängig von der Sache selbst stellt sich aber zunächst die Frage der Zuständigkeit. Die Beseitigung von
Kampfmitteln aus der Zeit der Weltkriege ist als Gefahrenabwehr nach der föderalen Kompetenzverteilung des
Grundgesetzes eine Aufgabe der Länder. Für das Aufspüren und die Bergung von Kampfmitteln im Meer ist daher
grundsätzlich das jeweilige Küstenland zuständig. Der
Bund veranlasst die Beseitigung von Kampfmitteln, wenn
diese die Sicherheit des Schiffsverkehrs beeinträchtigen.
Ungeklärt ist, wie mit Kampfmitteln verfahren wird, die
außerhalb der deutschen Hoheitsgewässer liegen - dies
trifft auf den größten Teil der bekannten Munitionsaltlasten zu. Einerseits ist die Gefahrenabwehr also Sache des
Bundes. Andererseits ist der Schutz für Badende, Sporttaucher und Fischer, die sich außerhalb der Seewasserstraßen bewegen, Ländersache, obwohl es sich um die
gleiche Gefahr, nämlich Kampfmittel aus dem Zweiten
Weltkrieg, handelt. Dieser Wirrwarr an Zuständigkeiten
und zu beachtender Gesetze muss beendet werden. Hier
gab es in der Vergangenheit Versäumnisse, und hier besteht Handlungsbedarf. Insbesondere trifft dies auf die
Koordination von Maßnahmen des Bundes mit denen der
Länder zu.
Dieses Problem ist keineswegs neu. Schon 1999 gab es
Ergebnisse einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Aber offensichtlich sind Probleme ungelöst geblieben. Aber Sie
als grüne Antragsteller müssen sich schon an Ihre eigene
Vergangenheit erinnern lassen: Im November 2001 kam
die damalige rot-grüne Bundesregierung zu der Einschätzung, dass angesichts der Menge der versenkten
Munition und ihrer weiten Verbreitung eine Bergung weder technisch durchführbar noch finanziell realisierbar
sei. Eine unmittelbare Gefahr - so der Bericht - gehe von
der Munition auch grundsätzlich nicht aus, da sie regelmäßig mit einer bis zu mehreren Metern starken Sedimentschicht überdeckt sei. Nachzulesen ist dies in der
Drucksache 14/7277. Der Tenor des heute vorliegenden
Antrages, dass hier ein vergleichsweise neues Problem
vorliegt und die jetzige Bundesregierung etwa versäumt
hat, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, wird mir
angesichts der Faktenlage nicht ganz verständlich. Schon
im Jahr 2000 hatte die CDU-Fraktion im schleswig-holsteinischen Landtag eine Anfrage an die damalige rotgrüne Landesregierung gestellt. Die Antwort des damaligen grünen Umweltministers Klaus Müller: „In den deutschen Hoheitsgewässern der Ostsee wurde keine Kampfmunition versenkt, so dass hier auch keine Bedrohung
vorhanden ist.“ Aus den verschiedenen Antworten aus
dem Hause Müllers ergibt sich, „dass hier kein HandZu Protokoll gegebene Reden
lungsbedarf gegeben ist“. Nachzulesen ist das in der
Landtagsdrucksache 15/479.
Es passt nicht zusammen, wenn die Grünen heute zum
Handeln drängen, während Sie in Ihrer eigenen Regierungsverantwortung das Thema unter den Teppich gekehrt haben. Dazu passt auch nicht, dass Sie heute einen
20 Punkte umfassenden Maßnahmenkatalog vorlegen,
obwohl doch eine Ihrer sicherlich berechtigten Forderungen nach Gefährdungsabschätzung ausdrücklich sagt,
dass wir noch deutlich mehr Erkenntnisse brauchen, bevor wir falsche Maßnahmen ergreifen. Wir brauchen eine
gemeinsame Lösung - in der Sache selbst genauso wie im
Kompetenzgerangel. Es gibt viele Versuche einer vernünftigen Lösung, zum Beispiel auch durch die schleswig-holsteinische Landesregierung in Verantwortung von
Umweltminister Christian von Boetticher. Wir brauchen
langfristig tragfähige Lösungen, aber keine unausgegorenen Schnellschüsse.
Einige Forderungen aus dem vorliegenden Antrag
sind daher zum Teil bereits Realität, andere illusorisch
und mit den Mitteln des Bundes kaum zu verwirklichen:
Das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie hat
Bestandsaufnahmen über Munitionsversenkungsgebiete
in Nord- und Ostsee durchgeführt. Die bekannten Versenkungsgebiete sind seit langem in den amtlichen Seekarten
gekennzeichnet. Darüber hinaus wird bei Baumaßnahmen an Seewasserstraßen der Baustellenbereich regelmäßig untersucht, um Personen- und Sachschäden vorzubeugen. Innovative Methoden im Umgang mit den
Munitionsaltlasten werden längst erfolgreich angewandt etwa im vergangenen April durch Probesprengungen östlich der Kieler Außenförde. Eine Offenlegung sämtlicher
Koordinaten oder auch nur eine annähernd verlässliche
Datenbasis über Art und Umfang versenkter Giftstoffe
aus Zeiten der Sowjetunion einzufordern, brächte kaum
verwertbare Ergebnisse, ebenso wie einseitige Vorschläge an die Russische Föderation zur „Entsorgung
militärischer Altlasten im Raum Kaliningrad“. Vielmehr
brauchen wir gemeinsame Lösungen aller Ostseeanrainer etwa im Rahmen von HELCOM oder dem Ostseerat.
Ich denke, wir alle stimmen darin überein, dass das
Problem der versenkten Munitionsaltlasten aus dem
Zweiten Weltkrieg auf die Tagesordnung gehört. Die ökologischen und im Übrigen auch die wirtschaftlichen Folgen einer Vernachlässigung dieser Thematik wären äußerst bedenklich. Daher muss das Kompetenzgeflecht
aufgelöst und der Meeresboden langfristig zentral koordiniert nach versenkter Munition abgesucht werden.
Ganz wesentlich ist, dass Sanierungskonzepte für die am
stärksten belasteten Seegebiete entwickelt und umgesetzt
werden. Nicht zuletzt die touristische Wirtschaft unserer
Küste, aber auch die Fischerei ist an einer Lösung dieses
Themas interessiert.
Der Antrag der Grünen ist einerseits scheinheilig, weil
Sie Ihre eigenen Versäumnisse in Ihrer Regierungszeit
verschweigen. Andererseits handelt es sich um ein objektives Problem, das gelöst werden muss. Es ist eine komplexe Thematik, die nicht mit Schnellschüssen zu erledigen ist. Wir brauchen eine Schrittfolge: erstens Klärung
der Kompetenzen, zweitens Gefährdungsabschätzung,
drittens Maßnahmenkatalog, viertens internationale Verständigungen.
Ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen einer
Lösung einen deutlichen Schritt näherkommen können.
Seit mehr als 60 Jahren bergen Nord- und Ostsee ein
gefährliches Sprengstoffpotenzial, denn an zahlreichen
Stellen liegen auf dem Meeresgrund oftmals stark giftige
Munitionsreste aus dem Zweiten Weltkrieg.
In der Hektik der letzten Kriegstage hatten deutsche
Soldaten die Munition versenkt, damit sie nicht den Alliierten in die Hände fällt. Weil die Kapitäne früher nach
der Anzahl der Entsorgungsfahrten bezahlt wurden, waren diese sehr engagiert und kippten deshalb die gefährliche Fracht häufig schon auf dem Weg zum Versenkungsgebiet über Bord.
Wer damit gerechnet hätte, dass diese Praxis nach
Ende des Krieges der Vergangenheit angehört hätte,
wurde bitter enttäuscht. Die unkontrollierte Entsorgungspraxis wurde von den Alliierten einfach übernommen und
in noch viel größerem Maße durchgeführt. Bis 1948 bezahlten die Alliierten einfache Fischer dafür, Munitionsreste in ausgewiesenen Seegebieten zu versenken. Dabei
handelte es sich um Bomben, Granaten und ganze Container - gefüllt mit einer tödlichen Fracht aus Senfgas,
Phosgen oder Sarin. Allein auf dem Meeresgrund der
Ostsee sollen in Fässern, Bomben etc. bis heute mindestens 65 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe wie Senfgas,
Tabun, Zyklon B und Sarin lagern.
Hinzu kommt, dass nach Meinung von Experten nach
dem letzten Krieg zusätzlich mehrere hunderttausend
Tonnen konventioneller Munition in der Nord- und Ostsee
versenkt wurden. Diese verklappten Kampfmittel führen
bis heute vereinzelt bei der Schleppnetzfischerei zu Problemen.
Die Problematik wird noch zusätzlich dadurch verschärft, dass die Giftladungen, wie bereits erwähnt, häufig weit vor Erreichen der angeordneten Versenkungsstellen über Bord gelassen wurden, sodass heute niemand
mehr weiß, wo sich die Altlasten wirklich befinden. Hinzu
kommt, dass seit Jahren durch die Grundschleppnetzfischerei die Munitionsreste immer weiträumiger verteilt
werden.
Auch existieren bis zum heutigen Zeitpunkt keine verlässlichen Schätzungen darüber, wie viele Minen, Torpedosprengköpfe, Bomben und Giftgasgranaten sich in
Küstennähe wirklich auf dem Meeresboden befinden.
Dies alles stellt ein bedrückendes Szenario dar, und ich
halte es für gut, dass der Antrag der Grünen das Thema
der Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee wieder in unser Blickfeld rückt. Ich halte auch die Forderung der Grünen für richtig, dass wir eine klare Regelung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern brauchen, weil
sich Bund und Länder oftmals gegenseitig die Verantwortung für die Entsorgung der Altlasten zugeschoben haben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Detlef Müller ({0})
Allerdings, und das sage ich auch deutlich, halte ich
auch nichts von übertriebener Panikmache. Wir haben es
ja nicht mit einer plötzlich aufgetretenen Gefahr zu tun,
sondern das Problem ist schon lange bekannt. Die Bundesregierung ist in dieser Angelegenheit nicht untätig gewesen. Und viele Forderungen, die im Antrag der Grünen
enthalten sind, werden in der Praxis bereits umgesetzt. So
ist Deutschland als Mitglied des OSPAR-Abkommens seinen Verpflichtungen nachgekommen. Die Abfrage und
Bewertung erfolgt dazu alle drei Jahre, zuletzt in diesem
Jahr, unter anderem als Beitrag zu einer Bewertung im
Rahmen des OSPAR-Qualitätszustandsberichts 2010.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, bevor Sie nach einer gesetzlichen Meldepflicht für alle Unfälle mit Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee rufen,
hätten Sie sich lieber mal kundig gemacht. Bei den Ländern bestehen längst etablierte Meldewege. Im Falle von
Niedersachsen erfolgt dies zum Beispiel über die Behörden der Gefahrenabwehr. Die Ordnungsverwaltungen
der Städte und Gemeinden oder die Polizei werden bei einem Fund von Munition tätig. Die Beseitigung der Munition obliegt dann der Verantwortung des Kampfmittelbeseitigungsdienstes. Im Bereich der niedersächsischen
Küste gibt es sogar noch einen zweiten Meldeweg - eine
Direktmeldung durch Küstenfischer direkt an den Kampfmittelbeseitigungsdienst.
Sie fordern in Ihrem Antrag auch gründliche Untersuchungen. Wir haben ja bereits Forschungsberichte vorliegen, die nach bisherigem Stand keine unmittelbare
Gefahr für Menschen, die Meeresumwelt oder die Küstenregion befürchten. Diese sind im Rahmen der von
HELCOM und OSPAR zusammengetragenen Informationen auch öffentlich zugänglich.
So haben zum Beispiel Untersuchungen für das Bornholm- und Gotlandbecken ergeben, dass in den Becken
der Ostsee Munitionsaltlasten weitgehend mit Sediment
bedeckt wurden, soweit sie nicht schon beim Einbringen
in das weiche Oberflächensediment eingesunken sind.
Aufgrund der geringen Bodenströmungen sind Freilegungen der Munitionsaltlasten hierbei nicht zu erwarten.
Auch die Gefahr des Durchrostens der in der Ostsee lagernden und mit chemischen Kampfstoffen gefüllten Fässer wurde untersucht. Aufgrund der physikalisch-chemischen Eigenschaften der versenkten Kampfstoffe und der
hydrographischen Gegebenheiten in den Versenkungsgebieten kann man davon ausgehen, dass für das Wasser
keine großräumige Gefährdung entsteht. Die schwer abbaubaren Verbindungen sind nämlich meist sehr schlecht
wasserlöslich, sodass sie im Sediment - also am Boden verbleiben. Nur in der Nähe der Versenkungen ist lokal
begrenzt mit höheren Konzentrationen zu rechnen. Die
besser löslichen Verbindungen wie Phosgen oder Lost
werden relativ schnell im Wasser zu unschädlichen Verbindungen abgebaut. Daher sind im Wasser keine höheren Konzentrationen zu erwarten.
Auch sind die gefährlichen Gebiete in allen Seekarten
vermerkt. In den amtlichen Seekarten sind im deutschen
Teil der Ostsee zum Beispiel dreizehn Gebiete als „Unrein ({1})“ eingezeichnet. Eine Eintragung erfolgt,
wenn als zuverlässig angesehene Quellen das für die Erstellung der Seekarten zuständige Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie ({2}) auf Munitionsfunde
hinweisen. Die Kennzeichnung in den Seekarten und ergänzende Warnhinweise, zum Beispiel, dass Ankern und
Fischen verboten sind, warnt die Schifffahrtstreibenden
und insbesondere die Fischer und soll somit das Unfallrisiko reduzieren. Auch die Bundesmarine ist angewiesen, die zuständigen Stellen kontinuierlich über Munition
und Kampfmittel, die zum Beispiel im Rahmen des jährlichen multinationalen Ostseemanövers „Open Spirit“ geortet werden, zu informieren.
Trotzdem, und auch das gehört auch zur Wahrheit, fahren einige Fischer in diese eigentlich gesperrten Bereiche, um dort zu fischen, weil sich in diesen Bereichen
Rückzugsgebiete der Fische befinden und sie deshalb auf
eine höhere Fangquote hoffen. Diese Fischer verhalten
sich illegal, sie gehen bewusst ein hohes Risiko ein, weil
es natürlich passieren kann, dass sich Granaten in den
Schleppnetzen verfangen können.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass nach den
uns vorliegenden Berichten zumindest hinsichtlich der
Munitionsaltlasten keine großräumige Gefährdung in Relation zur gesamten Schadstoffbelastung zu erwarten ist.
In diesem Zusammenhang verweise ich auf die Antwort
der Bundesregierung in der Drucksache 16/353. Nach
dem HELCOM-Abschlussbericht besteht nach den vorliegenden Kenntnissen demnach kein weitreichendes Risiko durch im Wasser gelöste Kampfstoffe für die Umwelt
der Ostsee.
Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass viele
Forderungen im Antrag der Grünen bereits längst Realität und deshalb überflüssig sind. Sie dienen nur der Panikmache, dies können wir allerdings bei diesem zugegeben sensiblen Thema nicht gebrauchen.
Trotzdem bedarf es in Zukunft vor allem einer besseren
Verzahnung und Kompetenzzuweisung zwischen Bund
und Ländern, es darf kein Kompetenzwirrwarr mit eventuellen Sicherheitsrisiken für die Bürger geben. Der Föderalismus in unserem Land darf uns an dieser Stelle
nicht behindern!
Die Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee sind seit
Jahrzehnten ein schwer abschätzbares Risiko für Umwelt
und Gesundheit von Menschen. Fischer können bei Munitionsfunden, Urlauber durch die Verwechselung von
Phosphor mit Bernstein gefährdet werden. In der letzten
Woche wurde auf dem Timmendorfer Strand ein mehrere
Meter langes Mittelteil eines Torpedos angespült. Die
Beispiele zeigen: Wir werden mit diesen Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkriegs noch viele Jahrzehnte leben müssen.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat in dieser wie auch in
der vorletzten Legislaturperiode die Bundesregierung in
Kleinen Anfragen nach ihren Kenntnissen, Bewertungen
und Maßnahmen befragt ({0}).
Doch weder die jetzige schwarz-rote, noch die vorherige
rot-grüne Regierung erwiesen sich als besonders auskunftsfreudig. Wenn Nord- und Ostsee betroffen sind, halZu Protokoll gegebene Reden
ten sich die jeweiligen Bundesregierungen für nicht zuständig. Jüngstes Beispiel: Drei Wochen hat es gedauert,
bis das illegale Versenken von Felsblöcken auf dem Außenriff von Sylt beendet wurde. Jeder in der Regierung
wusste, es ist illegal, doch gegen den Zustandsstörer
Greenpeace wollte keiner tätig werden, obwohl der
Rechtsbruch offensichtlich war und der Schutz von FFHGebieten durch die Duldung eines solchen Rechtsbruchs
ein Präzedenzfall wäre, der den Schutz von FFH-Gebieten erschwerte.
Im vergangenen Sommer fand in Berlin die 16. Ostseeparlamentarierkonferenz statt. Im Juli haben wir auf
der Grundlage zweier Anträge der Koalition sowie eines
umfassenden Antrags der FDP mit dem Titel „Zukunftschancen des Ostseeraums - Wirtschaft; Ökologie; Kultur
und Tourismus“ über die Ostsee debattiert ({1}). In diesen Zusammenhang gehört
selbstverständlich auch das Thema Munitionsaltlasten,
das von uns auch berücksichtigt wurde.
Ein Jahr später nun spricht Bündnis 90/Die Grünen
von der „Zeitbombe der Munitionsaltlasten in Nord- und
Ostsee“, so der Titel des Antrags. Vor einem Jahr war die
Ostsee den Grünen nicht einmal einen eigenen Antrag
wert, und jetzt auf einmal sind die seit über 60 Jahren auf
dem Grund der Ostsee liegenden Munitionsaltlasten eine
Zeitbombe. Als Herr Trittin Umweltminister war, hat
diese sogenannte Zeitbombe wohl auch schon getickt,
aber der damalige Umweltminister hat dennoch absolut
nichts unternommen. Dafür stellen die Grünen jetzt einen
Katalog mit 20 Forderungen auf. Das ist entweder das
Eingeständnis, dass sie selbst auf dem Gebiet nichts geleistet haben, oder ein weiteres Beispiel für die bei den
Grünen zum Politikstil gehörende Panikmache. Wir sollten uns nichts vormachen: Wir können auch bei hohem
Mitteleinsatz das Problem nicht aus der Welt schaffen,
aber auch wir als FDP haben Vorschläge für einen besseren Umgang mit dem Problem.
Nach offiziellen Unterlagen des Munitionsbergungsdienstes Mecklenburg-Vorpommern verfehlten über
600 Tonnen Sprengbomben und etwa 110 Tonnen Brandbomben bei der Bombardierung der Heeresversuchsanstalt für Raketenforschung in Peenemünde ihr Ziel und
fielen in direkter Küstennähe ({2}) in die Ostsee. Berechnungen des Munitionsbergungsdienstes ergaben, dass sich circa 60 Tonnen
weißer Phosphor in dieser Bombenfracht befunden haben. Weißer Phosphor ist im Meer persistent, das heißt, er
wird nicht natürlich abgebaut und ist auch nach Jahrzehnten noch vollständig vorhanden. Der Schwerpunkt
für Unfälle mit Phosphor liegt an den Stränden im nordöstlichen Bereich von Usedom, wo phosphorhaltige
Brandmittel regelmäßig angeschwemmt und mit Bernstein verwechselt werden, was zu schweren Verbrennungen führen kann.
Nach dem Krieg haben die Alliierten chemische
Kampfmittel in großen Mengen in der Ostsee verklappt.
In Fässern, Bomben etc. lagern bis heute mindestens
65 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe wie Senfgas, Tabun, Zyklon B und Sarin auf dem Meeresgrund der Ostsee. Nach Meinung von Experten ({3}) wurden nach dem letzten
Krieg zusätzlich mehrere Hunderttausend Tonnen konventioneller Munition in der Ostsee versenkt. Diese verklappten Kampfmittel führen bis heute besonders bei der
Schleppnetzfischerei zu Problemen.
Die Bundesregierung ist bisher von der Einschätzung
ausgegangen, dass von den Munitionsaltlasten keine Gefahr ausgehe. Sie stützt sich dabei auf Angaben der
HELCOM von 1994, dass ein Großteil der in der Ostsee
versenkten Munitionsaltlasten in Wassertiefen zwischen
70 und 120 Metern, im Skagerrak zwischen 200 und
700 Metern liege. In diesen Wassertiefen herrscht meist
eine stabile Wassermassenschichtung mit einer nur
schwachen Bodenströmung, weshalb der vertikale Stofftransport sehr gering ist, sodass keine direkte Gefahr von
der Altmunition ausgeht.
Die Bergung von Munitionsaltlasten aus dem Meer ist
mit einem sehr hohen Risiko für das Ökosystem verbunden, da durch mechanische Beschädigungen größere
Mengen der Kampfstoffe freigesetzt werden könnten, so
das Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für
Umweltfragen aus dem Jahr 2004.
Die Bundesregierung bezeichnet die Kennzeichnungen
gefährdeter Gebiete als ausreichend. Verletzungen von
Touristen zeigen jedoch, dass diese besser über das Risiko informiert werden müssen, das in der Verwechselung
von Phosphor mit Bernstein liegt. Die Bundesregierung
ist außerdem in der Pflicht, für mehr Aufklärung und
Transparenz im Zusammenhang mit der möglichen Gefährdung der Ostsee durch Munitionsaltlasten zu sorgen.
Angesichts der regelmäßig wiederkehrenden öffentlichen
Diskussion über die Altlasten in der Ostsee wäre eine abgestimmte Informationspolitik von Bund und Ländern
über das Thema sinnvoll und vertrauensbildend. Auch die
Einführung einer deutschlandweiten Meldepflicht für
Unfälle mit Munitionsaltlasten an Stränden und in der Fischerei ist sinnvoll und überfällig. Dänemark hat eine
solche Meldepflicht.
Es drängt sich der Gedanke auf, dass die Bundesregierung die Sorgen von Bevölkerung und Fachleuten nicht
ernst nimmt. Hier besteht Handlungsbedarf, den die Bundesregierung entweder bisher nicht gesehen hat oder
nicht sehen will. Da die Bundesregierung sich bisher als
weitgehend handlungsunwillig erwiesen hat, ist es gut,
dass jetzt immerhin in Schleswig-Holstein eine Arbeitsgruppe gebildet wurde, die sich mit den Munitionsaltlasten im Meer beschäftigt und dabei hoffentlich zu befriedigenden Ergebnissen kommen wird.
Vergraben, Versenken und Vergessen ist das Rezept aller bisherigen Bundesregierungen für unseren Sondermüll. Seit kurzem hält das Endlager Asse II die Öffentlichkeit in Atem. Wie hier gepfuscht und vertuscht wurde,
ist atemberaubend. Aber auch „gewöhnlicher“ Müll beschäftigt uns immer wieder, wenn Wohnungen auf alten
Müllkippen gebaut wurden. Eine besondere Gefahr stellt
die halbe Million Tonnen Altmunition dar, die seit Jahrzehnten auf dem Grund von Nord- und Ostsee verfallen.
Die haben entweder im Krieg ihr Ziel verfehlt. Oder sie
Zu Protokoll gegebene Reden
wurden nach dem Krieg von Ost wie West einfach im
Meer entsorgt. Sieht ja keiner, war wohl die Devise.
Atommüll sieht man auch nicht. Aber dass der gefährlich
ist, bestreitet nicht einmal die Atompartei CSU.
Minen, Torpedos, Granaten und ungezählte Bomben
der Kategorie „Großkampfstoffe“ sind extrem gefährlich. Das, was die Bomben im Krieg zum Glück nicht geschafft hatten, nämlich Schiffe zu versenken, das kann
aber heute jederzeit passieren. Außer durch spontane Detonationen explodieren Bomben auch dann, wenn am
Meeresboden schleifende Schiffsanker dagegenstoßen.
Da kann auch mal ein Schiff untergehen.
Besonders gefährdet sind Fischer, die mit ihren Netzen
die Bomben an Bord holen. Erst im Frühjahr starben drei
niederländische Fischer, als eine Bombe an Deck ihres
Schiffes explodierte. Wenn sie nicht explodieren, dann
zerfallen die Bomben an Deck. Atemnot, Erstickungen
und Verätzungen sind die Folge, wenn Giftstoffe, die in
den Bomben sind, freigesetzt werden.
Für Badende und Erholungssuchende besteht die Gefahr von Verbrennungen durch an Strände gespülte Phosphorteilchen alter Brandbomben. Diese sind leicht mit
Bernstein zu verwechseln. Sobald der Phosphor jedoch
getrocknet ist, verursacht er starke Verbrennungen.
Das Ökosystem ist ebenso betroffen. Fische und Pflanzen nehmen die Gifte auf, viele Fische verenden daran.
Insbesondere die am Meeresboden lebenden Flundern
sind betroffen. Und wer isst nicht gerne einmal die Ostseescholle? Sie sollte aber nicht vergiftet sein.
Seit dem Zweiten Weltkrieg sind bislang 581 Menschen
zu Schaden gekommen. 283 Todesfälle sind zu beklagen.
Wir reden hier also nicht über irgend so ein spinnertes
Ökothema, wie das manche vielleicht abtun wollen. Wir
reden hier ganz konkret über die Rettung von Menschenleben. Und was passiert? Nichts. Dabei sind viele Lagerstätten bekannt. Und technisch ist die Bergung, wenn
auch aufwendig, möglich. Aber statt Menschenleben zu
retten erleben wir seit Jahren einen kleinkarierten Streit
zwischen Bund und Ländern. Dabei geht es - worum auch
sonst - ums Geld.
Offiziell geht es natürlich um die formale Zuständigkeit. Aber wer die hat, muss eben auch die Bergung der
Munition zahlen. Derzeit ist nur die Gefahrenabwehr für
den Schiffsverkehr dem Bund zugewiesen. Die Abwehr
von Gefahren für Badende, Sporttaucher und Fischer außerhalb der Seewasserstraßen hingegen ist Ländersache.
Den Verletzten oder den Angehörigen der Toten ist es
aber völlig egal, ob nun der Bund oder die Länder Schuld
haben, dass eine Bombe auf einem Schiff explodiert. Es
kann nicht sein, dass für jede Bombe die Zuständigkeit erneut geprüft werden muss. Dann passiert nämlich lange
erst einmal gar nichts. Ich fordere deshalb, dass die
einheitliche Zuständigkeit des Bundes hergestellt wird.
Warum? Es handelt sich überwiegend um ehemals reichseigene Munition aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Rechtsnachfolger des deutschen Reiches ist unbestritten der
Bund. Der Bund ist Eigentümer der Gewässer vor den
Küsten. Und die Länder sind damit schlicht finanziell
überfordert. Deshalb unterstütze ich den Antrag der Grünen. Der ist zwar etwas schwammig formuliert, aber in
der Sache richtig.
Deswegen meine konkreten Forderungen an die Bundesregierung:
Erstens. Innerhalb des nächsten halben Jahres soll der
Bund die alleinige Zuständigkeit für Munitionsaltlasten
in Nord- und Ostsee übernehmen.
Zweitens. Es ist innerhalb des nächsten Jahres eine
umfassende öffentliche Meldepflicht für Sprengstofffunde, Munitionsunfälle sowie Munitionsverluste einzuführen.
Drittens. Spätestens in einem Jahr ist mit der umfassenden und einheitlichen Katalogisierung und Kartografierung aller Munitionsfunde zu beginnen.
Viertens. Sofort ist mit der raschen und systematischen
Bergung und dem Unschädlichmachen der Altmunition
zu beginnen.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
Sie könnten hier noch einmal Tatkraft demonstrieren.
Oder wollen Sie sich bis zum Ende der Legislaturperiode
nur noch streiten?
Last but not least frage ich die Bundesregierung:
Wurde die Ortung und Bergung von Munition bei den
Kosten der Fehmarnbelt-Querung eingerechnet? Im Fehmarnbelt liegt meines Wissens jedenfalls eine Menge davon rum.
60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sollte neben dem
geschichtlichen Aspekt endlich auch damit begonnen
werden, die äußerst realen explosiven Hinterlassenschaften der Nazi-Diktatur aufzuarbeiten. Es muss Schluss
sein mit dem Verbrennen, dem Vergraben und dem Vergessen.
Auf den Böden von Nord- und Ostsee rosten noch immer mindestens 700 000 Tonnen Munition und Kampfstoffe aus dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit danach.
Seit 1945 sind mindestens 581 Menschen Opfer von Unfällen geworden, 283 Menschen verloren ihr Leben.
Heute geht von den tickenden Zeitbomben eine erhebliche
Gefahr für Mensch, Umwelt, Fischerei und Tourismus
aus. Regelmäßig werden Munitionsrückstände an deutsche Strände gespült. Dort stellen sie nicht nur eine erhebliche Gefahr für Urlauber und Badegäste, sondern
auch für die touristische Attraktivität ganzer Regionen
dar.
Auch die Schifffahrt ist in erheblichem Maße betroffen: Fischer finden in ihren Netzen nach Angaben des
Umweltgutachters Dr. Stefan Nehring durchschnittlich
3 000 Kilogramm Munitionsrückstände im Jahr, mehrere
Fischkutter sanken bis heute. Der letzte große Unfall ereignete sich 2005, als drei niederländische Fischer getötet wurden. Große Fanggebiete in der Nordsee sind bereits für die Fischerei gesperrt. Kartierungen - wenn
überhaupt vorhanden - erlauben es nur bedingt, Rückschlüsse auf die tatsächliche Gefährdung von Gebieten zu
Zu Protokoll gegebene Reden
ziehen: Durch Meeresströmungen kommt es zu teilweise
erheblichen Abweichungen zwischen angegebenen Gefährdungsgebieten und tatsächlichen Fundstellen.
In einer der meist frequentiertesten Wasserstraßen der
Welt, der Kadetrinne, liegt das Wrack eines Kriegsschiffes mit mindestens drei Bomben an Bord. Rund 200
Schiffe passieren täglich die schwer schiffbare Passage,
die durch ein ökologisch hoch sensibles Gebiet führt, darunter viele Öltanker. Ein Unfall an dieser Stelle hätte katastrophale Folgen für die Meeresumwelt.
Die Antwort auf meine Kleine Anfrage „Munitionsaltlasten in der Kadetrinne“ vom 27. Juni 2008 ist bezeichnend für das bisherige Vorgehen der Bundesregierung in
Sachen Munitionsrückstände: Mit dem Hinweis darauf,
dass die Kadetrinne innerhalb der deutschen Ausschließlichen Wirtschaftszone ({0}) läge, dort Internationales
Seerecht gelte, welches die Rechte und Pflichten nicht
klar regele, weist die Bundesregierung jede Zuständigkeit
von sich.
Sollte von den Bomben eine Gefahr für die Schifffahrt
ausgehen, was zum heutigen Zeitpunkt keinesfalls ausgeschlossen werden kann, wäre die Bundesregierung jedoch
durch die von ihr geschlossenen internationale Verträge
zwingend zum Handeln verpflichtet. Zu diesem Ergebnis
kommt eine von mir in Auftrag gegebene Untersuchung
des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages.
Die Bundesregierung hat sich in der Vergangenheit als
unfähig erwiesen, sich dem Problem der Munitionsaltlasten in einem Maße anzunehmen, welches der Risiken und
Gefahren auch nur ansatzweise gerecht wird: Nach wie
vor sind die Kompetenzenregelungen zwischen Bund,
Ländern und Behörden auf der einen Seite, zwischen der
Bundesrepublik Deutschland, anderen Meeresanrainern
und der Europäischen Union auf der anderen Seite völlig
unzureichend geregelt. Grundlegende Daten für die Bewertung der von den Munitionsrückständen ausgehenden
Gefahren und Risiken sowie offizielle Statistiken über Unfälle fehlen noch immer. So ist unklarer denn je, welche
reellen Gefahren von den Munitionsaltlasten für die Meeresumwelt und den Menschen, für die Fischerei und Unterwasserbauvorhaben wie der Ostseepipeline tatsächlich ausgehen. Anstatt endlich zu handeln, betreibt die
Bundesregierung frei nach dem Motto „Aus den Augen,
aus dem Sinn“ ein gefährliches Spiel.
Meine Fraktion fordert die Bundesregierung seit langem dazu auf, endlich klare Zuständigkeiten zu benennen,
Statistiken als Grundlage einer seriösen Bedrohungsanalyse für Mensch und Umwelt zu erstellen, eine deutlich
verbesserte Informationspolitik zu betreiben und effektive
Sicherungsmaßnahmen, die die größten Risiken einzudämmen in der Lage sind, vorzunehmen.
Die Zeit drängt: Die Durchrostung der Kampfmittel
schreitet weiter voran, Spreng- und Kampfstoffe werden
verstärkt freigesetzt. Kürzlich stellten Kieler Toxikologen
eine zunehmende Konzentration von Arsen in Ostseeschollen fest. Sowohl der Mensch, der diese Giftstoffe
über die Nahrungskette aufnimmt, als auch die Meeresumwelt sind zunehmend gefährdet.
Mit unserem Antrag, der eine Reihe ganz konkreter
Maßnahmen enthält, fordern wir die Bundesregierung
nochmals entschieden dazu auf, sich der Problematik der
tickenden Zeitbomben in unseren Meeren - sowohl auf
deutscher als auch auf europäischer Ebene - endlich anzunehmen. Die Bundesregierung muss sich gegenüber
der Europäischen Kommission im Rahmen der Europäischen Meerespolitik für effektive Managementkonzepte
und klare Kompetenzzuweisungen einsetzen. Ein Aktionsprogramm unter Einbeziehung aller Ost- und NordseeAnrainerstaaten ist lange überfällig. Die Sanierung der
Ost- und Nordsee ist nur als Gemeinschaftsaufgabe der
Anrainerstaaten zu realisieren. Weitere Untersuchungen
und wissenschaftliche Forschungen müssen dringend
durchgeführt werden. Wenn vier Meter lange Torpedos an
deutsche Strände gespült werden, muss selbst die Bundesregierung endlich begreifen, dass die Zeit des Wegguckens
ein für allemal vorbei ist.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache16/9103 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard
Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Arbeitslosengeld II unbürokratisch berechnen und auszahlen - Rechts- und Planungssicherheit für Leistungsbeziehende schaffen
- Drucksachen 16/7838, 16/8445 Berichterstattung:
Abgeordneter Stefan Müller ({1})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Karl Schiewerling,
CDU/CSU, Angelika Krüger-Leißner, SPD, Dirk Niebel,
FDP, Katja Kipping, Die Linke, und Markus Kurth,
Bündnis 90/Die Grünen.
Mit diesem Antrag spricht sich die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen grundsätzlich für die Beibehaltung des Prinzips pauschalierter Sozialleistungen aus.
Die Pauschalierung ist ein wichtiges Prinzip im SGB II.
Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat dies gefordert und in die Reform der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe mit hineingeschrieben; zum einen deshalb, weil
die pauschalierte Regelleistung mehr Selbstständigkeit
für Leistungsbeziehende bedeutet, zum anderen, weil Sozialverwaltungen von aufwendigen Einzelfallprüfungen
verschont bleiben.
Soweit abweichend von der Pauschalisierung der Regelleistung die Schaffung individueller Sonderbedarfe,
insbesondere auch für Kinder und Jugendliche, gefordert
wird, lehnen wir das grundsätzlich ab. Man kann individuellen Einzelfällen nicht durch eine gesetzliche Verordnung gerecht werden, ohne ein System aufbauen zu müssen, das hinterher kaum noch zu durchblicken ist. Zudem
kann man nicht gleichzeitig bürokratische Einzelfallprüfungen bemängeln und auf der anderen Seite einen Anspruch auf individuelle Mehraufwandsentschädigung
fordern. Diese Ansprüche müssten ebenfalls durch die
Jobcenter überprüft werden, die bereits mit bürokratischen Einzelfallprüfungen überfrachtet sind.
Sie kritisieren in ihrem Antrag die Arbeitslosengeld-IIVerordnung. Die Berücksichtigung von Sachleistungen,
etwa der unentgeltlich bereitgestellten Verpflegung, ist
erforderlich, weil die Betroffenen insoweit Leistungen erhalten, die den Lebensunterhalt teilweise sichern und
dem gleichen Zweck wie die Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch dienen.
Würde keine Anrechnung erfolgen, würden die Betroffenen insoweit doppelte Leistungen erhalten.
Die Neuregelung enthält aber auch eine Bagatellgrenze, die Härten vermeiden und die Verwaltung von der
Rückforderung kleinerer Beträge entlasten soll: Erst
wenn das Einkommen aus dem Sachbezug der bereitgestellten Verpflegung in einem Monat einen Betrag in
Höhe von derzeit 83,28 Euro monatlich übersteigt, wird
es nach Abzug der Zuzahlungen als notwendige Ausgaben als Einkommen berücksichtigt.
Da die durchschnittliche Dauer eines Krankenhausaufenthaltes in Deutschland bei 8,5 Tagen liegt, wird für
die überwiegende Zahl der Betroffenen mit der Rechtsverordnung die Klarheit geschaffen, dass es zu keiner
Minderung der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende kommt.
Mit der Bagatellgrenze ist auch sichergestellt, dass
beispielsweise ein kostenloses Mittagessen in der Schule
oder im Kindergarten nicht als zusätzliches Einkommen
angerechnet wird.
Die Forderung der Grünen nach einer Nichtanrechnung karitativer Zuwendungen wie beispielsweise Lebensmittel- oder Möbelspenden ist bereits geltende
Rechtslage und ist somit erfüllt.
Ich finde die ganze Diskussion um Sonderbedarfe und
die Höhe des Regelsatzes überflüssig. Immer wieder heißt
es, die Kinderregelsätze seien unzureichend und ihre Bemessung nicht sachgerecht, und deshalb sei eine Erhöhung notwendig. Derzeit beziehen etwa 2,1 Millionen
Kinder bis 17 Jahren Leistungen nach dem SGB II und
etwa 16 000 nach dem SGB XII. Fälschlicherweise werden diese Kinder immer als arm bezeichnet. Würde man
der Forderung nachkommen und die Kinderregelsätze erhöhen, würde wegen der steigenden Zahl der Anspruchsberechtigten die Zahl der so definierten „Armen“ nicht
sinken sondern steigen. Im Übrigen ist das Sozialgeld für
Kinder in der Grundsicherung deutlich höher als das
Kindergeld, das die Familien erhalten, die knapp über
den Sätzen des SGB II liegen.
Wir müssen vielmehr dafür Sorge tragen, dass allen
erwerbsfähigen Menschen - und somit den Eltern dieser
Kinder - eine Chance auf Erwerbsarbeit eröffnet wird.
Dahinter steht auch die Grundüberzeugung, wie sie unter
anderem auch in der katholischen Soziallehre deutlich
wird, dass staatliche monetäre Zuwendungen allein nicht
zum Zustand sozialer Gerechtigkeit führen. Bloße Alimentation stellt menschenwürdige Lebensbedingungen
und gerechte Verwirklichungschancen noch nicht sicher.
Sie kann sogar das Gegenteil bewirken, wenn sie zu Passivität führt.
Die Menschen brauchen verlässliche, langfristig angelegte Hilfestrukturen und Personen, die sie begleiten.
Das verlangt gesicherte Finanzen und Rahmenbedingungen. Bund, Länder und Kommunen sind gefordert.
Statt Leistungsausweitung ist es zielgerichteter, den
Langzeitarbeitslosen eine Perspektive dahingehend zu
eröffnen, dass sie einen Job bekommen und am Erwerbsleben teilnehmen können. Das ist und muss das Ziel der
Grundsicherung für Arbeitsuchende sein.
Im Mittelpunkt der Grundsicherung steht die Aktivierung der Hilfeempfänger. Das große Ziel ist, nicht vom
Staat finanziell abhängig zu sein, sondern aus eigener
Kraft das Leben zu finanzieren. Das ist auch menschenwürdiger.
Zunächst das Positive: Die Grünen stehen weiterhin
zur Pauschalierung der Regelleistungen. Das ist erfreulich, schließlich haben wir das mal zusammen beschlossen.
Früher mussten die Betroffenen wegen jeder noch so
kleinen Kleinigkeit beim Sozialamt um Bewilligung bitten. Dieser Praxis haben wir gemeinsam einen Riegel
vorgeschoben. Die Vorteile unserer Entscheidungen, das
Arbeitslosengeld II stärker zu pauschalieren als die alte
Sozialhilfe, sind offensichtlich: geringerer Verwaltungsaufwand und damit Bürokratieabbau, größere Entscheidungsfreiheit der Betroffenen und Transparenz.
Das war es dann aber auch schon mit den positiven Aspekten im Antrag der Grünen. Denn ansonsten zeichnet
der Antrag ein unvollkommenes Bild. Zum einen bemängeln Sie bürokratische Einzelfallprüfungen und fordern
eine stärkere Pauschalierung. Zum anderen fordern Sie
aber die Berücksichtigung individueller Mehrbedarfe.
Ihr Beispiel verdeutlich das: Mögliche Mehrbedarfe
könnten durch den Kauf von Kleidung in Übergröße entstehen. Da frage ich Sie, was gilt als Übergröße? Wollen
Sie festlegen, ob nun XL oder XXL als Übergröße gilt? Ist
es nicht so, dass manchmal XL passt und manchmal XXL?
Gilt das eine Sweatshirt dann als Mehrbedarf und das andere nicht? Stellen Sie sich vor, die Fallmanager müssten
sich jeden Kassenzettel zeigen lassen, um zu kontrollieren, in welcher Größe Kleidungsstücke gekauft wurden.
Dieser Vorschlag trägt mit Sicherheit nicht zum Bürokratieabbau bei. Bereits heute schon äußerst knappe personelle Ressourcen in den Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen würden zusätzlich gebunden. Der Auftrag,
Menschen Alternativen zum ALG-II-Bezug aufzuzeigen
Zu Protokoll gegebene Reden
und sie in Arbeit zu vermitteln, würde vernachlässigt. Ich
möchte nicht, dass wir Arbeitslosigkeit verwalten, sondern wir müssen sie aktiv bekämpfen.
Lassen Sie mich in dem Zusammenhang etwas zu den
Bedarfen von Kindern sagen. Ich unterstelle mal, dass jeder hier in diesem Saal sich der Bedeutung von Kindern
in unserer Gesellschaft bewusst ist. Ich unterstelle auch,
dass jeder sich der Bedeutung von Kinderarmut bewusst
ist. Keine Frage, Kinderarmut gründet sich in der Regel
in der Armut der Eltern. Aber es ist nicht nur ein finanzielles Problem. Es ist auch ein Problem fehlender Chancengleichheit in der Bildung und der gesellschaftlichen
Teilhabe. Die Auffassung, dass allein monetäre Anreize
das Problem der Kinderarmut lösen, halte ich für falsch.
Wir müssen andere Wege beschreiten.
Die SPD - als treibende Kraft in dieser Koalition - ist
da auf dem richtigen Weg. Denn entgegen den Widerständen aus der konservativen Ecke haben wir mit dem Elterngeld zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf beigetragen. Und bereits nach einem Jahr können wir
sagen: Das Eltergeld kommt gut an.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Kinderbetreuung.
Mit dem Kinderförderungsgesetz, das wir am morgigen
Freitag in erster Lesung behandeln, haben wir einen
Rechtsanspruch für jedes Kind auf einen Betreuungsplatz
durchgesetzt. Das gilt ab 2012. Auch die Zusage von Peer
Steinbrück einer Beteiligung des Bundes an den Betriebskosten der Kitas macht deutlich: Wir meinen es ernst mit
unseren Kindern. Wir haben in diesem Bereich viel getan.
Und wenn Sie mich jetzt fragen, ob wir genug getan haben, dann sage ich Ihnen, man kann nie genug tun! Dennoch bin ich froh über das, was wir erreicht haben.
Ein Wort noch zum Kindergeld. Für uns Sozialdemokraten ist klar: Jedes Kind ist uns gleich viel wert. Eine
Staffelung des Kindergeldes nach erstem, zweitem oder
drittem Kind, wird es mit uns nicht geben. Darüber hinaus ist es nur richtig, den Existenzminimumbericht der
Bundesregierung in die Entscheidungsfindung mit einzubeziehen. Warten wir ihn ab - diskutieren dann und handeln zielorientiert.
Lassen Sie mich zurückkommen zum Antrag. Es ist ärgerlich, wie Sachverhalte einfach falsch dargestellt werden. Der Antrag zeichnet nicht nur ein unvollständige
sondern auch ein falsches Bild. Fakt ist, mit der Arbeitslosengeld-II-Verordnung ist eine Klarstellung der geltenden Rechtslage erfolgt. Mit anderen Worten, die Verordnung bedarf keiner Klarstellung, sie ist die Klarstellung!
Und insbesondere bei dem von Ihnen angesprochenen
Problem der Anrechnung von Verpflegung wurde Rechtsklarheit geschaffen. Grundsätzlich gilt Verpflegung als
Einkommen bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II.
Damit ist klar, dass es sich hier nicht um eine Absenkung
der Regelleistung handelt oder ein Bedarf abweichend
festgesetzt wird. Die Berücksichtigungen von Einkommen
und Vermögen sind Grundprinzipien des Leistungsbezuges im SGB II. Einkommen und Vermögen sind Ausdruck
der eigenen Leistungsfähigkeit und daher zu berücksichtigen. Ein doppelter Leistungsbezug wird verhindert. Das
ist auch eine Frage der Gerechtigkeit.
Trotz dieser prinzipiellen Überlegungen gilt unser
Blick immer den Betroffenen, insbesondere bei der von
Ihnen angesprochenen Verpflegung bei einem Krankenhausaufenthalt. Wir haben mit der Einführung der Bagatellgrenze von derzeit 83,28 Euro soziale Härten vermieden. Diese gilt grundsätzlich pro Monat. Das heißt in der
Praxis, für einen Patienten, der ein Jahr lang den
Höchstregelsatz an Arbeitslosengeld II bezieht, wird die
Vollverpflegung erst ab dem 21. Tag des Aufenthaltes
angerechnet. Bei einer durchschnittlichen Krankenhausaufenthaltsdauer von 8,5 Tagen ist ein Großteil von der
Anrechnung gar nicht betroffen.
Lassen sie mich abschließend noch zur Anpassung der
Regelsätze etwas sagen. Als Grundlage für Anpassungen
der Regelsätze brauchen wir valide Daten, die nach einem verlässlichen und transparenten Verfahren bestimmt
werden. Willkür ist hier nicht geboten. Richtig ist, dass
sich das Verfahren der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zur Ermittlung der Regelsätze bewährt hat.
Richtig ist aber auch, dass der Zeitraum, diese Daten nur
alle 5 Jahre zu erheben, zu lang ist. Ein Zeitraum von maximal 3 Jahren ist denkbar. Die Veränderungen vollziehen sich einfach schneller als zu früheren Zeiten.
Zum Ende des Jahres erwarten wir die Ergebnisse der
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008. Darüber
hinaus prüft das BMAS derzeit die Auswirkungen der aktuellen Preisentwicklung für Empfänger von ALG II. Auf
Grundlage der Ergebnisse werden wir dann über eine Anpassung der Regelsätze reden und entsprechend handeln.
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende sollte den bürokratischen Aufwand bei der Antragsbearbeitung von
Arbeitslosen- und Sozialhilfe eindämmen und Verwaltungskosten einsparen. Dennoch steigt die Klageflut an
den Sozialgerichten seit Jahren, weil viele Details im Gesetz ungeklärt geblieben sind. Die meisten Fälle drehen
sich um die Bedarfsberechnung, die Anrechnung von Einkommen und Vermögen, angemessene Wohnungskosten
und Sanktionen. Diese Verfahren kosten die Zeit und das
Geld aller Beteiligten. Die Gerichte geben bei ähnlichen
Fallgestaltungen in Einzelfällen den Betroffenen Recht,
in anderen machen sie eine Ablehnung nachvollziehbar.
Das zeigt, wie groß die Unsicherheit ist.
In diesem Antrag wird gefordert, die Arbeitslosengeld II-Sozialgeld-Verordnung des Arbeitsministeriums,
die seit 1. Januar 2008 in Kraft ist, nach dem Grundsatz
pauschalierter Regelleistungen zu überarbeiten. Außerdem sollen Verpflegungsleistungen bei stationären Aufenthalten grundsätzlich nicht als Einnahme auf die Regelleistung angerechnet werden.
Die FDP hat sich für die Pauschalierung von Sozialleistungen eingesetzt. Die pauschalierten Regelsätze geben den Menschen die Freiheit, ihr Geld so einzusetzen,
wie sie es brauchen. Deshalb unterstützen wir auch die
grundsätzliche Forderung, bedürftigkeitsabhängige Sozialtransfers weitgehend zu pauschalieren. Das ist eine
Maßnahme zur Schaffung größerer Transparenz und
Rechtsklarheit.
Leider weicht der Antrag von dieser Forderung wieder
ab. Er hebt hervor, dass das Prinzip der individuellen BeZu Protokoll gegebene Reden
darfsdeckung durch die Pauschalierung nicht ausgehebelt werden darf. Dabei scheint es auch wieder weniger
um Entbürokratisierung und Vereinfachung zu gehen als
darum, einen höheren Leistungsumfang bei den Arbeitslosengeld-II-Beziehern zu erreichen. Dies wird belegt
durch die Formulierung, dass die Bundesregierung es
versäumt, durch die Festlegung bedarfsgerechter Regelsätze das soziokulturelle Existenzminimum sicherzustellen, und die Forderung, bereitgestellte Verpflegungsleistungen grundsätzlich nicht auf die Regelleistung als
Einnahme anzurechnen.
Die gute Arbeitsmarktlage ist an den ALG-II-Empfängern vorbeigegangen. Ihre Situation hat sich nicht wesentlich verbessert. Eine schnellere Vermittlung in Beschäftigung hat nicht stattgefunden. Das Personal ist mit
Verwaltungs- statt Vermittlungsaufgaben befasst. Weder
wurden neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze
für Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose geschaffen, noch wurden die Anreize zur Arbeitsaufnahme attraktiv gesetzt. Statt einen geregelten Niedriglohnsektor einzuführen, der auch diesen Menschen die Chance auf
Beschäftigung gibt, werden weitere Arbeitsplätze durch
die geplante Einführung von flächendeckenden Mindestlöhnen gefährdet. Mindestlöhne werden Arbeitsplätze in
die Schwarzarbeit verdrängen und dadurch die Chancen
von Langzeitarbeitslosen verschlechtern.
Auch das Chaos bei der Betreuung von Langzeitarbeitslosen durch Arbeitsagenturen, Kommunen und Arbeitsgemeinschaften muss beendet werden. Wir wollen,
dass alle Arbeitslosen in kommunalen Jobcentern betreut
und beraten werden, weil die Kommunen besser auf individuelle Problemlagen und den regionalen Arbeitsmarkt
reagieren können. In dieser Auffassung werden wir von
vielen Optionskommunen unterstützt; nur die Bundesregierung weigert sich, dies zur Kenntnis zu nehmen.
Das Arbeitslosengeld soll und kann durch Hinzuverdienste aufgestockt werden. Statt ständig einen höheren
Leistungsbezug zu fordern, sollte alles unternommen
werden, um den Betroffenen eine Perspektive auf Beschäftigung zu geben. Die Aufnahme einer auch nur gering entlohnten Beschäftigung muss gegenüber der alleinigen Inanspruchnahme staatlicher Transferleistungen
attraktiver werden. Dazu müssen auch die bestehenden
Regelungen zur sozialen Absicherung vereinfacht und unbürokratischer ausgestaltet werden.
Unser Bürgergeld-Konzept bedeutet den notwendigen
Systemwechsel. Unser Bürgergeld-Konzept ist ein transparentes Steuer- und Transfersystem aus einem Guss und
bietet einen gleitenden und lohnenden Übergang in die
Erwerbstätigkeit. Das Bürgergeld stellt ein Mindesteinkommen für jeden sicher, und zugleich schafft es zusätzliche Anreize, durch Arbeit ein höheres Netto-Einkommen
zu erzielen. Damit ist es gerechter und wirksamer als jede
Mindestlohnregelung. Das Bürgergeld muss individuell
ausgestaltet werden, je nach Lebenssituation. Das Bürgergeld muss so berechnet werden, dass es bezahlbar
bleibt und eine hinreichende Versorgung gewährleistet.
Leistungsbezieher brauchen eine andere Perspektive
als mehr Anträge für mehr Leistung, sie brauchen eine
Perspektive auf einen Arbeitsplatz. Wir brauchen auch
für diejenigen, die die finanzielle Grundlage des Leistungsbezuges sichern, eine andere Perspektive. Die Menschen in der Mitte der Gesellschaft müssen entlastet statt
immer weiter belastet werden. Sie fragen sich zu Recht,
warum der Aufschwung bei ihnen nicht angekommen ist,
wo der Abschwung schon vor der Tür steht.
Sowohl die grundsätzlichen Erwägungen als auch die
konkreten Forderungen des Antrags 16/7838 werden von
meiner Fraktion geteilt. Insbesondere bedarf es einer
dringenden und gründlichen Überarbeitung der ALG-IIVerordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur
Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen im
Sinne des Grundsatzes pauschalierter Leistungen, die wir
aktuell als vollkommen falsch konzipiert betrachten.
Auch sind wir nach wie vor der Auffassung, dass Verpflegungsleistungen bei stationären Aufenthalten oder
Teilverpflegungen in Kindertagesstätten und Schulen
grundsätzlich nicht auf die Regelleistung angerechnet
werden dürfen. Dahin gehende Forderungen hat meine
Fraktion ja auch immer wieder in eigenen Anträgen erhoben, so bereits mehrfach die deutliche Anhebung des
Regelsatzes, die Berücksichtigung kinder- und jugendspezifischer Bedarfe und zuletzt die Nichtanrechnung von Verpflegung bei stationärem Aufenthalt auf die
Regelleistung. Hier teilen wir die Sicht der Grünen, dass
eine solche Anrechnung - auch jenseits einer Bagatellgrenze - dem Grundsatz der Pauschalierung widerspricht, und weisen die Interpretation des Ministeriums
({0}), dass
mit der Verordnung dem Votum des Petitionsausschusses
weitgehend entsprochen wurde, aufs Schärfste zurück.
Insbesondere möchte ich noch einmal hervorheben,
dass wir eine Ermessensentscheidung durch die Grundsicherungsträger bei der Überprüfung der Betriebsausgaben von Selbstständigen, die ergänzendes ALG II beziehen, ablehnen. Statt noch mehr unangemessenen
bürokratischen Aufwand zu erzeugen, indem ein Streit um
jeden Bleistift und jede Druckerkartusche stattfindet,
sollte bei der Berechnung von Einkommen und der Absetzung von Betriebsausgaben von selbstständig Tätigen das
Steuerrecht zum Maßstab gemacht werden und nicht, wie
in der Verordnung vorgesehen, eine zweite Prüfung durch
das Jobcenter vollzogen werden.
So hätten die Jobcenter auch mehr Freiraum, um sich
auf eine deutlich verbesserte Beratung und Vermittlung
von Hilfesuchenden zu konzentrieren. Denn aktuell lässt
die Beratungsqualität in staatlichen bzw. amtlichen Stellen immer noch sehr zu wünschen übrig.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf unsere
Forderungen nach der Stärkung von unabhängigen Beratungsstellen aufmerksam machen; denn sehr viele Hilfesuchende wenden sich in ihrer Not an solche Einrichtungen und suchen dort Rat und Unterstützung. Einer
unserer Vorschläge dazu ist, zum Beispiel diese Einrichtungen mit qualifiziertem Personal zu verstärken. Das
hätte zudem die Konsequenz, dass die Jobcenter etwas
entlastet würden.
Weitere positive und weitreichende Effekte kann die
Bundesregierung aber vor allem dadurch erzielen, indem
Zu Protokoll gegebene Reden
als erster Schritt die Regelsätze bei Hartz IV endlich in
Richtung einer armutsfesten Grundsicherung und in
Übereinstimmung mit dem geltenden Recht auf 435 Euro
pro Monat angehoben werden. In einem zweiten Schritt
muss dann eine repressionsfreie soziale Grundsicherung
eingeführt werden, die diesen Namen auch wirklich verdient.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
({0}) hat zum 1. Januar 2008 eine neue Verordnung
zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosen II/Sozialgeld, kurz: ALG-II-Verordnung, auf den
Weg gebracht. Diese Verordnung klingt nicht nur bürokratisch, sie enthält auch Regelungen, die selbstständigen Leistungsbeziehern eigene unternehmerische Entscheidungen nahezu unmöglich machen. Seit dem
1. Januar 2008 soll der Abzug von Betriebsausgaben
nicht mehr nach den Maßstäben des Steuerrechtes erfolgen, sondern weitgehend dem Ermessen der Fallmanager
in den Jobcentern unterliegen. Mit dieser Vorgabe werden nicht nur die Leistungsbehörden, sondern auch die
Selbstständigen im ALG-II-Bezug über Gebühr belastet.
Zum einen sind die Fallmanager für unternehmerisches
Handeln nicht ausgebildet. Zum anderen sind Selbstständige aufgrund der neuen Regelung gezwungen, eine doppelte Buchführung ganz eigener Art aufzustellen: eine für
das Finanzamt und eine für die Sozialbehörde.
Die Zahl der Selbstständigen ist seit Einführung des
Arbeitslosengeld II kontinuierlich gestiegen. Allein im
Zeitraum von Januar 2007 bis April 2008 stieg die Zahl
der selbstständig tätigen Leistungsbeziehenden, die nicht
ohne ein ergänzendes ALG II über die Runden kommen,
von 56 250 auf 96 940 Personen. Ohne das Abschreckungsinstrument der ALG-II-Verordnung wäre die Zahl
der selbstständig tätigen Leistungsbeziehenden voraussichtlich deutlich höher. Das Arbeitslosengeld II hat demnach für Selbstständige eine zunehmende Bedeutung und
wichtige Unterstützungsfunktion. Gleichwohl gängelt das
BMAS den unternehmerischen Geist. Wieder einmal wird
das überbordende Kontrollbedürfnis des BMAS getragen
vom Gedanken des Sozialmissbrauchs. Dabei kann von
Sozialmissbrauch im großen Stil keine Rede sein. Tatsächlich sind die aufgedeckten Missbrauchsfälle rapide
zurückgegangen. In 2005 waren es noch 206 000 Fälle,
2007 wurden 87 000 Fälle nachgewiesen. Bis Juli dieses
Jahres hat die Bundesagentur für Arbeit nur noch
9 000 ungerechtfertigte Zahlungen erfasst. Bundesarbeitsminister Scholz wäre deshalb gut beraten, wenn er
die Selbstbestimmungsrechte der ALG-II-Beziehenden
- hier der Selbstständigen - stärken würde, damit diese
die notwendige Handlungsfreiheit gewinnen, sich selbst
aus dem Leistungsbezug zu befreien.
In dem hier zur Diskussion stehenden Antrag betonen
Bündnis 90/Die Grünen die Notwendigkeit einer pauschaliert ausgezahlten Regelleistung. Das Prinzip pauschalierter Regelleistungen wurde erstmals mit den sogenannten Hartz-Reformen eingeführt. Unserer Meinung
nach ist es nach wie vor sinnvoll, Sozialtransfers wie das
Arbeitslosengeld II als pauschalen Betrag auszuzahlen.
Dies schafft Planungssicherheit für die Leistungsbeziehenden und entlastet die Leistungsbehörden von bürokratischen Einzelentscheidungen, vorausgesetzt, die Regelleistungen sichern das soziokulturelle Existenzminimum.
Vor diesem Hintergrund wurde zum 1. Januar 2005 das
Arbeitslosengeld II eingeführt. Bedauerlicherweise ist
die Bundesregierung auch im dritten Jahr nach Einführung dieser Leistung nicht in der Lage, die notwendigen
Anpassungen vorzunehmen. Weder wurden die Regelleistungen auf ein existenzsicherndes Niveau angepasst,
noch werden sie unbürokratisch ausgezahlt. So hat das
BMAS trotz einer Vielzahl anderslautender Sozialgerichtsentscheidungen die Verrechnung von Krankenhauskost auf den Regelsatz in der hier zur Debatte stehenden
ALG-II-Verordnung festgeschrieben. Zwischenzeitlich
hat das Bundessozialgericht mit dem Urteil vom 18. Juni
2008 ({1}) jedoch grundsätzlich die
Möglichkeit verneint, die Regelleistung bei Gewährung
von Krankenhauskost zu kürzen. Das Bundessozialgericht hebt ausdrücklich den Grundsatz der Pauschalierung des Arbeitslosengeld II hervor und verneint die
Rechtsauffassung der Bundesregierung, dass das Bedarfsdeckungsprinzip Grundlage für die Kürzung der Regelleistung bei Gewährung von Krankenhauskost sei.
Die hier zur Debatte stehende Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung
von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosen II/
Sozialgeld stellt nicht nur eine bürokratische Gängelung
en détail dar, sie hält auch nicht, was ihr Titel verspricht.
Der Gesetzgeber hat das BMAS in seiner Verordnungsermächtigung lediglich dazu ermächtigt, zu regeln, „welche weiteren Einnahmen nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind“ ({2}). Genau deshalb heißt es im
Titel der Verordnung auch: „Nichtberücksichtigung von
Einkommen und Vermögen“. Gleichwohl regelt das
BMAS ohne die nötige Rechtsetzungskompetenz, welche
Einnahmen als Einkommen zu berücksichtigen sind, so
auch bei der Regelung zur Verrechnung von Krankenhauskost mit dem Regelsatz. Eine Vielzahl von Sozialgerichten hat in diesem Jahr wenige Monate nach Inkrafttreten der ALG-II-Verordnung dem BMAS die nötige
Rechtsetzungskompetenz in dieser Frage abgesprochen.
Dieser Eingriff in die Leistungsauszahlung müsse durch
ein Gesetz geregelt werden. Auch das Bundessozialgericht hat in der genannten Entscheidung deutliche Zweifel an der Rechtsetzungskompetenz des BMAS geäußert,
obwohl es in seiner Entscheidung nicht über die neue
ALG-II-Verordnung zu entscheiden hatte.
Trotz dieser erdrückenden juristischen Niederlage ist
das BMAS offenbar nicht bereit, sich die schweren handwerklichen Mängel der Verordnung einzugestehen und
die rechtswidrige Verordnungsregelung zurückzunehmen.
Aufgrund der nach wie vor bestehenden Rechtslage
musste die Bundesanstalt für Arbeit in der Geschäftsanweisung Nr. 28 vom 20. Juli 2008 die Leistungsbehörden
anweisen, die Entscheidung des Bundessozialgerichts
nicht anzuwenden. Die Sozialgerichte werden weiterhin
mit Klagen überhäuft, obwohl schon heute abzusehen ist,
dass das Bundessozialgericht in letzter Instanz auch die
neue Regelung zur Verrechung von Krankenhauskost auf
Zu Protokoll gegebene Reden
den Regelsatz in der zum 1. Januar 2008 gültigen ALG-IIVerordnung verwerfen wird.
Ich bitte Sie, mit uns der Uneinsichtigkeit von Arbeitsminister Scholz ein Ende zu bereiten. Ich fordere Sie auf,
unserem Antrag, die ALG-II-Verordnung im Sinne des
Grundsatzes unbürokratischer, pauschalierter Leistungsgewährung zu überarbeiten, zuzustimmen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8445, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/7838 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU bei Gegenstimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion der FDP angenommen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 26. September 2008,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und allen Mitarbeitern noch einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.