Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/25/2008

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, gibt es wieder einige Mitteilungen und Veränderungen. Ich beginne mit dem Hinweis, dass die Kollegin Ilse Falk am vergangenen Sonntag ihren 65. Geburtstag gefeiert hat. Wir alle übermitteln ihr auf diesem Weg gute Wünsche. ({0}) Nicht ganz so erfreulich ist, dass die SPD-Fraktion mitgeteilt hat, dass die Kollegin Gabriele Groneberg ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt hat. Als Nachfolgerin wird die Kollegin Marianne Schieder vorgeschlagen. Auch die Fraktion Die Linke bittet um einen Wechsel bei den Schriftführerinnen und Schriftführern. Für die Kollegin Sabine Zimmermann soll die Kollegin Karin Binder das Amt der Schriftführerin übernehmen. Ich stelle fest, dass wir außer dem allgemeinen Bedauern über das Ausscheiden der Kolleginnen mit den vorgeschlagenen Veränderungen einverstanden sind. - Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die Kolleginnen Marianne Schieder und Karin Binder zu Schriftführerinnen gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte erweitert werden soll: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Pakistan stabilisieren - Völkerrecht beachten ({1}) ZP 2 Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister der Finanzen zur Lage der Finanzmärkte ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Hartfrid Wolff ({2}), Gisela Piltz, Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern ({3}) - Drucksache 16/9091 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({4}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid Wolff ({5}), Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit sofort und unbeschränkt in der Bundesrepublik Deutschland gewähren - Drucksache 16/10310 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({7}) a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Steuerautonomie in den Ländern ({8}) - Drucksache 16/10309 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({9}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Trittin, Kerstin Müller ({10}), Winfried Nachtwei, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kontraproduktive US-Operationen in Pakistan sofort einstellen - Umfassende Strategie zur Stabilisierung Pakistans entwickeln - Drucksache 16/10333 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({11}) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 6 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({12}) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({13}) Übersicht 12 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 16/10321 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle, Martin Zeil, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Novellierung des Vergaberechts für Bürokratieabbau nutzen - Bundesweit einheitliches Präqualifizierungssystem für Leistungen einführen - Drucksache 16/9092 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14}) Rechtsausschuss Aufgrund der Aufsetzung der Regierungserklärung zur Lage der Finanzmärkte verschieben sich die übrigen Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen jeweils nach hinten. Zusätzlich werden die Tagesordnungspunkte 6 und 7 getauscht. Die Tagesordnungspunkte 14 b und 35 werden abgesetzt. Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Ich mache außerdem auf die nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 172. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({15}) zur Mitberatung überwiesen werden. Erste Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Michael Kauch, Dr. Lukrezia Jochimsen und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts - Drucksache 16/8442 überwiesen: Rechtsausschuss ({16}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Sind Sie mit diesen vorgeschlagenen Änderungen einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 auf: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister der Finanzen zur Lage der Finanzmärkte Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Darüber besteht offenkundig Einvernehmen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung erhält nun der Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück. ({17})

Peer Steinbrück (Minister:in)

Politiker ID: 11004165

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Immer mehr Unsicherheiten, ja Ängste machen sich bei den Menschen breit, nicht nur in unserem Land, sondern fast weltweit. Viele fragen sich: Stehen wir vor dem Kollaps des Finanzsystems? Folgt aus der Krise an den Finanzmärkten eine globale Wirtschaftkrise nach einigen guten Jahren? Was heißt das für mich persönlich? Deshalb will ich am Anfang meiner Regierungserklärung zwei wichtige Feststellungen treffen: Erstens. Bislang hat das internationale Krisenmanagement funktioniert. Es ist nicht zu einem Kollaps des Weltfinanzsystems gekommen - und das, obwohl wir in den letzten Wochen an den Finanzmärkten eine weitere Zuspitzung der schlimmsten Bankenkrise seit Jahrzehnten erleben. Zweitens. Die Bürgerinnen und Bürger müssen keine Angst um ihr Erspartes haben. Ich möchte feststellen: Was wir erleben, ist ein Erdbeben in der internationalen Finanzarchitektur mit unvorstellbaren Wertberichtigungen bei einer ganzen Reihe von Banken. Schätzungen gehen davon aus, dass bisher Wertberichtigungen oder Abschreibungen in der Dimension von über 550 Milliarden US-Dollar erfolgt sind. Diesen steht eine Kapitalzufuhr von ungefähr 350 Milliarden US-Dollar gegenüber. Einzelne Banken sind darüber in den Abgrund oder an den Rand des Abgrunds geraten. Bei einigen Banken wird schonungslos aufgedeckt, dass sie keine tragfähigen Geschäftsmodelle haben. Ich habe in einer Regierungserklärung zur Lage auf den Finanzmärkten am 15. Februar 2008 etwas gesagt, was ich gerne wiederholen möchte: Es ist richtig, dass wir es in weiten Teilen der Welt und zulasten weiter Teile der Welt mit einer ernsthaften … Finanzmarktkrise zu tun haben … Sie wird uns das ganze Jahr 2008 beschäftigen. Sie ist kein deutsches Spezifikum. Sie birgt weitere, noch nicht behobene Risiken. Infektionsgefahren für die weltweite Konjunktur und die weltweite Wachstumsentwicklung sind nicht zu übersehen. Leider sind diese von mir damals beschriebenen Risiken eingetreten. Diese ernste globale Finanzmarktkrise wird tiefe Spuren hinterlassen. Sie wird das Weltfinanzsystem tiefgreifend umwälzen. Niemand sollte sich täuschen: Die Welt wird nicht wieder so werden wie vor dieser Krise. Wir müssen uns in nächster Zeit weltweit auf niedrigere Wachstumsraten und - zeitlich verschoben - auch auf eine ungünstige Entwicklung auf den Arbeitsmärkten einstellen. Die Fernwirkungen dieser Krise sind derzeit nicht absehbar, aber eines scheint mir höchstwahrscheinlich: Die USA werden ihren Status als Supermacht des Weltfinanzsystems verlieren, nicht abrupt, nicht plötzlich, aber erodierend. Das Weltfinanzsystem wird multipolarer. In der neuen Finanzmarktwelt werden Handelsbanken und Staatsfonds aus Asien, insbesondere aus der Golfregion, ebenso ihren Anteil haben wie europäische Banken mit ihrem Universalbankenmodell - übrigens ein Modell, das sich derzeit gegenüber dem amerikanischen Trennbankenmodell als sehr überlegen erwiesen hat. ({0}) Seit dem Platzen der Immobilienblase - Sie erinnern sich an den Sommer letzten Jahres - sind vier Erschütterungswellen buchstäblich durch das Weltfinanzsystem gerollt. Im Juli/August 2007 kam es ausgehend von der US-Subprime-Krise zu massiven Verlusten bei Bear Stearns und der britischen Bank Northern Rock. Gleichzeitig mussten in Deutschland Rettungsaktionen für die IKB und die Sachsen LB mit dem Ziel organisiert werden, einen weitergehenden Schaden auch für den Finanzplatz Deutschland zu vermeiden. Das ist uns gelungen. Ende 2007 meldeten US-Banken Milliardenabschreibungen. Zugleich ergaben sich ernste Liquiditätsengpässe für Banken, worauf Staatsfonds als Kapitalgeber einspringen mussten. Wir stellen plötzlich fest, dass sich die Debatte über die Aktivitäten von Staatsfonds innerhalb von zwölf Monaten ziemlich geändert hat. ({1}) Ohne die Bereitschaft dieser Staatsfonds, insbesondere Schweizer und amerikanische Banken zu rekapitalisieren, hätten wir es nicht mit einem Rand des Abgrunds zu tun, sondern wir wären tief drin. Im März 2008 rettet die amerikanische Zentralbank, die Fed, Bear Stearns - nach den größten Marktpreisverlusten, die es je in einem Monat gab -, und in diesem - ich nenne es so - schwarzen September 2008 geht schließlich die viertgrößte amerikanische Investmentbank, die über 150 Jahre alte Bank Lehman Brothers, in die Insolvenz. Wenige Tage später wird der zweitgrößte Versicherer der Welt, die US-amerikanische AIG, mit 85 Milliarden US-Dollar ebenso quasi verstaatlicht wie zuvor die beiden US-Hypothekenfinanziers Fannie Mae und Freddie Mac mit 200 Milliarden US-Dollar. Als das alles nicht ausreicht, legt die US-Regierung mit dem unglaublichen Volumen von 700 Milliarden US-Dollar das größte Rettungsprogramm in der Geschichte der internationalen Finanzmärkte auf. Wir alle schauen gespannt in die USA, um zu erfahren, wie die beiden Häuser des Kongresses mit diesem Vorschlag der amerikanischen Regierung umgehen. Die steht unter einem erheblichen Zeitdruck. Das letzte Mal in der laufenden Legislaturperiode werden beide Häuser morgen tagen. Insgesamt tritt die US-Regierung mit über 1 Billion US-Dollar ein, um die Finanzmarktkrise zu bewältigen. Vieles habe ich noch gar nicht mitgezählt, nämlich wenn die amerikanische Regierung Hypotheken von FannieMae- und Freddie-Mac-Kunden aufkaufen sollte. Ich will darauf hinweisen, dass das ein ungeheures Ausmaß ist, auch wenn Sie daran denken, dass es vor ungefähr zwölf Monaten noch 24 Institute in den USA gab, die inzwischen entweder pleitegegangen sind, aufgekauft worden sind, verheiratet worden sind oder schlicht und einfach verschwunden sind - 24 Finanzdienstleister. Bis vor einem halben Jahr gab es an der Wall Street fünf, vielleicht sechs große Investmentbanken; heute gibt es da keine mehr. Der Blick darauf, was die Amerikaner an Steuergeld bereitstellen, darf gelegentlich auch einen Vergleich mit dem erlauben, was wir in Deutschland gemacht haben. Wenn wir die 1 Billion Dollar, die der Steuerzahler in den USA aufbringen muss, in Bezug setzen zu den 1,2 Milliarden Euro Steuergeldern aus dem Bundesetat für die IKB, dann gerät vielleicht manche Debatte, die wir in den letzten Monaten geführt haben, in eine größere Balance. ({2}) Ich darf auch daran erinnern, dass es die britische Regierung im Fall von Northern Rock wahrscheinlich mit Belastungen in der Größenordnung von 80 bis 100 Milliarden Pfund zu tun haben wird. Trotz aller Vorhersagen, dass die Krise nicht rasch vorüber sein werde, war ein solcher Reigen von Notübernahmen und Quasiverstaatlichungen - und das in den USA, dem Hort der Marktwirtschaft und einer lautstark vorgetragenen neoliberalen Grundüberzeugung oder Insolvenzen nicht zu erwarten. Die USA - darauf lege ich gesteigerten Wert - sind der Ursprung der Krise, und sie sind der Schwerpunkt der Krise. Es ist nicht Europa, und es ist nicht die Bundesrepublik Deutschland. ({3}) Dort wurden Hypothekenkredite an nicht kreditwürdige Kreditnehmer ohne jegliche Sicherheiten vergeben. Dort wurden die immensen Kreditrisiken anschließend durch Verbriefungsgeschäfte unkenntlich gemacht. Dort nahm das Rennen nach Rendite seinen Anfang. Von dort aus hat sich die Finanzmarktkrise wie ein giftiger Ölteppich weltweit ausgebreitet, zunehmend auch in Richtung Europa, wenngleich das Volumen der bislang bekannten Verluste in Europa in keiner Weise mit den Zahlen vergleichbar ist, die ich, bezogen auf die USA, nur andeutungsweise schon genannt habe. Dennoch: Auch namhafte europäische Banken mussten milliardenschwere Wertberichtigungen vornehmen, nicht nur in Deutschland, zum Beispiel Crédit Agricole in Frankreich, Société Générale in Frankreich und - sehr stark getroffen - UBS in der Schweiz mit Verlusten von sage und schreibe 44 Milliarden US-Dollar. Damit hat die UBS europaweit mit Abstand die größten Verluste. Die Krise hat inzwischen Finanzdienstleister in ganz Europa erfasst. Das zeigen weitere Beispiele, die ich jetzt gar nicht benennen will. Was heißt das alles für Deutschland? Der deutsche Bankensektor wird von den krisenhaften Entwicklungen nicht verschont. Viele Institute sind betroffen, nicht nur die IKB, sondern auch eine Reihe von Landesbanken. Aber es wäre ein Fehler, anzunehmen, dass ausschließlich oder vornehmlich öffentlich-rechtliche Banken von dieser Entwicklung betroffen sind. Es sind alle drei Säulen betroffen, allerdings mit einem großen Unterschied, nämlich dass es eine ganze Reihe privater Geschäftsbanken und auch anderer Banken, gerade unter den Genossenschaftsbanken, gibt, die mit Blick auf ihre Ertragskraft und ihre Eigenkapitalbasis die Entwicklung sehr viel besser verkraften können als die von mir zuvor genannten Institute. ({4}) Zum Glück halten sich die Engagements deutscher Banken bei Lehman Brothers in einem überschaubaren Rahmen und sind nach Aussage der BaFin und auch nach Aussage der Bundesbank verkraftbar. Ich füge allerdings hinzu: Wenn der zweitgrößte Versicherer in den USA, den ich schon genannt habe, die AIG, von der amerikanischen Regierung und der amerikanischen Zentralbank nicht stabilisiert worden wäre, dann hätten wir sehr viel düstere Zeiten, weil sich auch viele deutsche und europäische Institute dort versichert haben. Insgesamt zeigt sich, dass das deutsche Dreisäulensystem im internationalen Vergleich relativ robust ist. Die deutsche Aufsichtsbehörde, die BaFin, ist sich sicher, dass die in den letzten Jahren gesteigerte Risikotragfähigkeit der deutschen Institute ausreicht, Verluste auszugleichen und die Sicherheit der privaten Ersparnisse zu gewährleisten. Deshalb sollten wir in diesem Bereich nicht durch eine falsche Wortwahl eine Panik auslösen. ({5}) Mit Blick auf die Realwirtschaft sind wir in Deutschland in der vorteilhaften Lage, dass sich unsere Unternehmen, insbesondere der auf Kreditfinanzierungen angewiesene Mittelstand, trotz Abschwungs und sich verschärfender Kreditkonditionen bisher nicht einer Kreditklemme gegenübersehen. Das denke ich mir nicht aus. Wenn Sie den Eindruck haben, das sei die Passage, die meine Abteilung für Agitation und Propaganda aufgeschrieben hat, sage ich Ihnen: Dies ist die Einschätzung des Bundesbankpräsidenten, und dies ist auch die Einschätzung des BDI-Präsidenten. Zumindest die beiden Koalitionsfraktionen konnten dies vor wenigen Tagen im Originalton vom Bundesbankpräsidenten, Herrn Weber, hören. ({6}) Dass es in Deutschland nicht zu einer Kreditklemme gekommen ist, haben wir - das will ich unterstreichen wesentlich dem Sparkassensektor zu verdanken. ({7}) Dieser Sparkassensektor hat im ersten Halbjahr 2008 mehr Kredite vornehmlich an den Mittelstand gegeben als im ersten Halbjahr 2007. In dieser größten Krise seit Jahrzehnten zeigt sich, dass das zu unserem Wirtschaftsmodell der sozialen Marktwirtschaft passende Universalbankensystem mit seinen drei Säulen der privaten Geschäftsbanken, der kommunalen Sparkassen und der regionalen Genossenschaftsinstitute wesentlich robuster ist, als es das angloamerikanische Trennbankensystem mit seiner überzogenen Renditefixierung war und ist. ({8}) Die vergleichsweise breite geschäftspolitische Aufstellung bewährt sich in der Krise. Vor allem bewährt es sich, dass wir in Deutschland nicht nur auf die kurzfristige Rendite geschaut haben. Wir haben uns der ausschließlichen Fixierung auf kurzfristige Renditen und auf immer weiter gesteigerte Quartalsgewinne in weiten Teilen unseres Bankensystems entzogen. Gerade dies ist einer der Gründe, meine Damen und Herren, warum wir auch gegenüber der Brüsseler Kommission dieses Dreisäulensystem für den Fall verteidigen sollten, dass es dort andere ordnungspolitische Vorstellungen gibt. ({9}) Gelegentlich habe ich die Befürchtung, dass eines Tages im Fokus dieser Brüsseler Kommission und der dortigen ordnungspolitischen Vorstellungen nicht nur das öffentlich-rechtliche Bankensystem, sondern auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk und die Sozial- und Wohlfahrtsverbände stehen könnten. ({10}) Wenn nach den Ursachen der Krise gefragt wird, dann lautet die Standardantwort, die US-HypothekenmarktBundesminister Peer Steinbrück krise, wie ich sie weiterhin nennen möchte, sei der klare Ursprung der gesamten Entwicklung. Einige weisen auch darauf hin, dass es nach den fürchterlichen Anschlägen vom 11. September 2001 eine Überversorgung mit Liquidität aufgrund der Zentralbankpolitik in den USA gegeben habe. Vordergründig ist dies alles richtig. Ich will aber darauf hinaus, dass die eigentlichen Ursachen tiefer liegen: in einer aus meiner Sicht unverantwortlichen Überhöhung des Laisser-faire-Prinzips gerade im angloamerikanischen Bereich. ({11}) Mit dem Laisser-faire-Prinzip meine ich im Hinblick auf das Finanzmarktsystem ein von staatlichen Regulierungen möglichst vollständig befreites Spiel der Marktkräfte. Die Argumentation der Laisser-faire-Vertreter war genauso falsch wie gefährlich: Lasst den Markt mal machen; er ist am effizientesten, wenn sich der Staat heraushält und auf Regulierungen vollständig verzichtet. - Der kurzfristige - vielleicht sollte ich besser sagen: kurzsichtige - Erfolg in Form zweistelliger Renditen und milliardenschwerer Boni für Investmentbanker und -manager schien ihnen recht zu geben. Darauf wollte man weder in New York noch in London verzichten. Kritische Hinterfragungen dieses Systems sowie Lösungsvorschläge, wie sie die Bundesregierung maßgeblich unter ihrer G-7-Präsidentschaft angestellt hat, wurden während dieser Präsidentschaft, aber auch während unserer EU-Präsidentschaft gelegentlich müde belächelt, wenn wir Glück hatten, ansonsten aber als typisch deutsche Regulierungswut abgetan. Von angloamerikanischer Seite wurde das dortige System mit einer Art Absolutheitsanspruch vertreten. Noch vor kurzer Zeit wurde ziemlich vehement auf die möglichst globale Übernahme dieses Modells gedrängt. Verhängnisvolle Folge war, dass die USA bei der Implementierung der stabilisierenden Basel-II-Bankenregeln sehr zögerlich vorgegangen sind, obwohl sie eigentlich das Copyright darauf hatten. ({12}) Die USA haben dies bis heute noch nicht umgesetzt, während die europäischen Banken es zum 1. Januar dieses Jahres taten. Eine weitere Folge war, dass die USA wegen ihrer langen Weigerung erst zehn Jahre nach Einführung der Financial-Stability-Assessment-Programme beim IWF eine Untersuchung ihres Finanzsystems haben wollten. Des Weiteren war die Folge, dass die USA anders als zum Beispiel Deutschland bislang die Investmentbanken nicht ausreichend reguliert und beaufsichtigt haben. Dies ändert sich jetzt gerade. ({13}) Schließlich war die Folge, dass, anders als in den meisten europäischen Ländern, in den USA keine Allfinanzaufsicht, sondern eine sehr stark zersplitterte Finanzaufsicht besteht, die jetzt von meinem amerikanischen Kollegen seit wenigen Monaten Gegenstand von sehr ambitionierten Reformanstrengungen ist. Dieses in weiten Teilen unzureichend regulierte System bricht gerade zusammen - nicht nur mit weitreichenden Folgen für den US-Finanzmarkt, sondern auch mit erheblichen Ansteckungseffekten für die übrige Welt. Einmal mehr scheint es in der Geschichte so zu sein, meine Damen und Herren, dass sich ein System, das maßlose Übertreibungen ermöglicht und geduldet hat, letztlich seine eigene Antithese schafft. ({14}) Wie bei einem Patienten, der unter akuten Kreislaufproblemen leidet, kommt es auch bei einer Finanzmarktkrise im Rahmen des akuten Krisenmanagements zuallererst darauf an, einen Kollaps zu verhindern. Dazu müssen lebenserhaltende Prozesse und Funktionen stabilisiert werden, die in Stresssituationen nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr ablaufen. Angesichts der in den letzten Tagen zugespitzten Situation in den USA hat die US-Regierung eine Reihe von Stabilisierungsmaßnahmen beschlossen, die ich ausdrücklich begrüße jenseits meines kritischen Blicks zurück, was in der Vergangenheit versäumt worden ist. Diese waren richtig, da sie das Ziel verfolgten, den Kollaps des US-Finanzmarktes und damit Schlimmeres auch für andere Länder und Regionen zu verhindern. An oberster Stelle steht das bereits von mir erwähnte 700 Milliarden Dollar schwere staatliche Rettungsprogramm. Es dient zum Aufkauf illiquider hypothekenbezogener Aktiva der Finanzinstitute. Wenn Sie so wollen, ist das eine riesige nationale „Bad Bank“, die dort in den USA eingerichtet worden ist. Jetzt muss allerdings der amerikanische Steuerzahler dafür zahlen, dass das Finanzmarktsystem trotz immer undurchsichtigerer Innovationen nicht ausreichend reguliert wurde. Ich bin sehr froh, dass der deutsche Steuerzahler bisher deutlich niedriger belastet worden ist und auch belastet wird. Die Kosten, die bisher bei der Stabilisierung der in Schwierigkeiten geratenen Banken entstanden sind, sind weitaus niedriger als die Kosten, die für unsere Wirtschaft entstanden wären, ({15}) wenn wir diese Stabilisierung nicht vorgenommen hätten. ({16}) Wie groß die Probleme in den USA aktuell sind, zeigt ein Vergleich mit dem Programm zur Beilegung der seinerzeitigen sogenannten Savings-and-Loans-Krise. Diese war Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre. Das damalige Rettungsprogramm der amerikanischen Regierung hatte einen Umfang von 3 Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsproduktes. Das, was die jetzt machen, verursachte bereits Kosten in Höhe von 5 Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsproduktes. Ich habe darauf hingewiesen: Die Wall Street wird nie wieder so sein, wie sie war. Bis vor wenigen Tagen gab es noch diese zwei Mohikaner unter den Banken: die Investmentbanken Goldman Sachs und Morgan Stanley. Beide haben sich gerade zu Instituten gewandelt, die wir als Universalbank bezeichnen würden. Meine Damen und Herren, die Entwicklungen bei den US-Investmentbanken Bear Stearns, Lehman Brothers, bei den beiden großen Hypothekenfinanzierern Fannie Mae und Freddie Mac und zuletzt bei dem Versicherungsunternehmen AIG spiegeln ein schwieriges Abwägungsproblem wider, das auch wir in Deutschland kennen. Vor allem die staatlichen Autoritäten stehen vor der schwierigen Abwägung zwischen dem Erhalt der Funktionsfähigkeit des Finanzmarktes auf der einen Seite und der Vermeidung einer Ausnutzung staatlicher Unterstützung durch Marktteilnehmer auf der anderen Seite. ({17}) Für Anhänger der sozialen Marktwirtschaft ist es selbstverständlich, dass der Marktmechanismus in beide Richtungen greifen muss: den Tüchtigen und denjenigen, die schnell Innovationen umsetzen, ihre Pioniergewinne zu überlassen und eine gute Entwicklung zu ermöglichen, aber diejenigen, die sich verzockt haben, auch zu bestrafen. Die Abwägung beginnt dann, wenn diejenigen, die man gerne durch den Marktmechanismus bestraft sehen möchte, eventuell so laut umfallen, dass andere in Mitleidenschaft gezogen werden. Staatliche Autoritäten müssen immer abwägen, und zwar unter Ungewissheit und bei unvollständiger Informationsbasis. Es ist etwas anderes, ob man ein halbes Jahr später schlau vom Rathaus herunterkommt oder ob man teilweise innerhalb von 24 oder 36 Stunden, wie ich es erlebt habe, zwischen der Gefahr systemischer Krisen für den gesamten Finanzmarkt und der Gefahr, von Marktteilnehmern ausgenutzt zu werden, abwägen muss - von solchen Marktteilnehmern, die darauf spekulieren, dass der Staat mit Steuergeldern oder die Notenbanken mit frischem Geld schon bereitstehen und intervenieren - will sagen: das Schlimmste verhindern - und somit das riskante Geschäftsgebaren dieser Marktteilnehmer quasi im Nachhinein noch belohnen. ({18}) Ich kritisiere die staatlichen Stellen in den USA für ihr spätes Vorgehen, aber ich begrüße ihr differenziertes Vorgehen. Staatliche Autoritäten in den USA haben nicht jedes Institut gerettet, aber sie haben dann eingegriffen, wenn es nicht nur im US-Interesse notwendig war, sondern auch um die Wahrnehmung von Verantwortung für das weltweite Finanzsystem ging. Dabei entbehren die Diskussionen um Rettungsaktionen diesseits und jenseits des Atlantiks nicht einer gewissen Pikanterie; ich könnte auch sagen: Scheinheiligkeit. ({19}) Da werden im Fall der USA die milliarden- und billionenschweren Rettungsaktivitäten der Regierung als Beleg für Tatkraft, tüchtiges Regierungsmanagement und Handlungsfähigkeit der Regierung gelobt. In Deutschland werden dagegen die eingesetzten Steuergelder und die Aktivitäten von Landesregierungen und der Bundesregierung als Versagen des Staates beklagt. ({20}) Das ist eine gewisse Beliebigkeit. ({21}) Da wird mein amerikanischer Kollege „Hank“ Paulson als „King Henry“ - ich gönne ihm das von Herzen - auf dem Titelblatt des Magazins Newsweek dargestellt. Damit möchte ich nicht suggerieren, mir müsse Gleiches widerfahren. ({22}) - Ich würde es auch nicht ablehnen. ({23})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Minister, vielleicht kann ich Ihnen zwischenzeitlich mit einer Sonderausgabe der Zeitschrift Das Parlament weiterhelfen. ({0})

Peer Steinbrück (Minister:in)

Politiker ID: 11004165

Dann müssten wir darüber diskutieren, Herr Präsident, wie viel von der Auflage ich aufkaufen dürfte. ({0}) Verstehen Sie mich jenseits dieses ironischen Ausfluges nicht falsch: Wir brauchen in der Tat keine Titelbilder. Was ich aber einfordere oder - das ist etwas bescheidener - erbitte, sind etwas mehr Ausgewogenheit und etwas weniger Beliebigkeit in der politischen Diskussion. ({1}) Das, was die Amerikaner im Großen machen, haben wir, bezogen auf die Banken, die in Deutschland in Verlegenheit gekommen sind, im Kleinen gemacht: die Landesregierungen in ihren Verantwortungen, was die Landesbanken betrifft, der Bund mit Blick auf seine indirekte, aber bestehende Verantwortung über die KfW bei der IKB. Deshalb und weil die Verhältnisse bei uns anders sind, ist ein Programm, das dem ähnlich ist, das die Amerikaner aufgelegt haben, in Deutschland oder in Europa nicht sinnvoll und auch nicht notwendig. Das ist der Grund dafür gewesen, warum wir im Namen der Bundesregierung über dieses Wochenende - bis hin zu einer großen Telefonkonferenz der G-7-Finanzminister und Notenbankgouverneure - für Deutschland die Übernahme eines solchen Programms und die Beteiligung abgelehnt haben. ({2}) Das bedeutet nicht, dass die deutsche Politik untätig ist. Im Gegenteil: Das Bundesfinanzministerium, die Aufsichtsbehörde BaFin und die Deutsche Bundesbank stehen in einem sehr engen Kontakt mit ihren jeweiligen internationalen Partnerbehörden und den Spitzen der deutschen Kreditwirtschaft. Das Krisenmanagement in Deutschland hat bisher funktioniert. Ich wiederhole das, was ich in einer meiner beiden Haushaltsreden gesagt habe: Ich bedanke mich namentlich bei der Deutschen Bundesbank und der BaFin - an ihrer jeweiligen Spitze bei Herrn Weber und Herrn Sanio - für das bisher entwickelte Krisenmanagement. ({3}) Für den heutigen Nachmittag habe ich die wichtigsten Vertreter der deutschen Finanzwirtschaft zu einem Meinungsaustausch eingeladen. Ich möchte nicht, dass dies zu einem Krisengipfel hochstilisiert - mein Sohn würde „hochsterilisiert“ sagen - wird. Vielmehr ist es ein ganz normales Gespräch, in dem es darum geht, wie die Lage ist und welche Schlussfolgerungen wir zu ziehen haben. Ich möchte mich in diesem Gespräch mit den Vertretern von Banken und Versicherungen insbesondere auf meinen wichtigen Termin am 10. und 11. Oktober in Washington vorbereiten; dann werden nämlich im Rahmen des G-7-Finanzministertreffens und des IMFs all diese Themen auf der Tagesordnung stehen. Zum wirksamen aktuellen Krisenmanagement gehört auch, dass die BaFin ein Veräußerungs- und Zahlungsverbot zur Sicherung der Vermögenswerte gegenüber der Lehman Brothers Bankhaus AG hier in Deutschland erlassen hat. Das ist konkretes Krisenmanagement. Außerdem hat die BaFin in Abstimmung mit anderen Aufsichtsbehörden einen sehr wichtigen Schritt vollzogen: Sie hat am vergangenen Freitag ein sofortiges Verbot von Leerverkäufen von Aktien führender Unternehmen der Finanzbranche erlassen. ({4}) In meinem Schlussteil, in dem es darum geht, wie das zukünftige Krisenmanagement aussieht, werde ich meine Position dahin gehend erläutern, ob wir nicht generell ein solches Verbot von Leerverkäufen verabreden sollten. ({5}) Eines scheint mir völlig klar zu sein: Um das in den und gegenüber den Finanzmärkten und ihren Akteuren massiv verloren gegangene Vertrauen wieder zurückzugewinnen, wird es bei weitem nicht ausreichen, nur ein Krisenmanagement zu entwickeln. ({6}) Krise bewältigen und dann wieder zur Tagesordnung übergehen - das wird nicht reichen. Es geht um zwei Seiten einer Medaille: Zum einen müssen wir jetzt Krisenmanagement betreiben. Zum anderen geht es darum, wie wir eine Wiederkehr einer ähnlich oder sogar gleichgearteten Krise vermeiden - ohne genau zu wissen, wie diese aussieht. Es geht um nicht mehr und nicht weniger, als die Finanzmärkte sozusagen neu zu zivilisieren und auf diesem Wege vergleichbare Krisen in Zukunft möglichst zu verhindern oder zumindest in ihrer Schärfe zu begrenzen. Wie können wir das erreichen? Sicherlich nicht allein durch moralische Appelle gegen exzessive Übertreibungen und eine spekulative Zügellosigkeit. Eine wirksame mittel- bis langfristige Antwort auf die Krise kann deshalb nicht allein in erneuten Selbstverpflichtungserklärungen oder Selbstregulierungen der Finanzmarktindustrie liegen. Das reicht nicht. ({7}) Die mir wichtige Antwort ist eine stärkere Regulierung auf internationaler Ebene, weil sie sich weitgehend der nationalstaatlichen Reichweite entzieht. ({8}) Dabei müssen wir - das ist eine weitere häufig in Vergessenheit geratene Nachricht - keineswegs bei Null anfangen, sondern wir können auf bereits erreichten Fortschritten aufbauen. Dies ist nicht zuletzt - das sei mit einem gewissen Stolz, aber auch im Brustton der Überzeugung gesagt - das Verdienst dieser Bundesregierung. ({9}) Ich will dabei nicht unerwähnt lassen, dass Bundeskanzler Schröder damals bei dem Weltwirtschaftsgipfel in Gleneagles dieses Thema mit auf die Tagesordnung gesetzt hat. ({10}) Aber wir waren es, unter unserer G-7- und EU-Präsidentschaft, die im ersten Halbjahr 2007 das Thema einer stärkeren Regulierung der Finanzmärkte auf die internationale Agenda gesetzt haben, immerhin mit dem Erfolg, dass in einem mühsamen Lernprozess internationale Gremien jetzt - natürlich in dem Entsetzen über die Finanzmarktkrise - weitreichenden Maßnahmen zur Krisenprävention zugestimmt haben und sehr zielstrebig auch die Umsetzung dieser Maßnahmen betreiben, um Krisen dieser Art zukünftig zu vermeiden. Weil das so ist, macht es überhaupt keinen Sinn, wenn Experten oder diejenigen, die sich dafür halten, nun täglich eine Kakofonie an zusätzlichen Vorschlägen darüber anstimmen. Es kommt auf die Umsetzung der Maßnahmen an, die wir beschlossen haben. Das ist die Herausforderung. ({11}) Ich höre jetzt, ich müsste mit Blick auf die Bewältigung der derzeitigen Krise so schnell wie möglich die Eigenkapitalregeln verschärfen. Das kann jedoch absolut kontraproduktiv sein, weil ich damit noch weitere Institute in den Orkus werfen würde. ({12}) Sauber wird die Treppe natürlich nur dann, wenn wir sie mit dem regulatorischen Besen von oben nach unten kehren. Das heißt, zuallererst sind regulierende Maßnahmen notwendig, die weltweit gelten. Auf der nächsten Ebene brauchen wir ein gemeinsames Spielfeld in Europa. Dann erst steht an, dass wir das auf nationalstaatlicher Ebene, kompatibel mit dem, was auf internationaler Ebene verabredet worden ist, auch in Rechtsetzungsschritten vollziehen müssen. Bereits kurz nach Beginn der Finanzmarktturbulenzen hat Deutschland im September 2007 das Forum für Finanzmarktstabilität - das ist das Financial Stability Forum - gebeten, nicht nur eine Analyse vorzunehmen, sondern Empfehlungen an uns zu adressieren, wie ähnliche Krisen in Zukunft verhindert werden können. Mir war wichtig, dass es zu einer Stärkung der Eigenkapitalanforderungen, einer Verbesserung des Liquiditätsund Risikomanagements, einer Erhöhung der Transparenz sowie zu Reformen bei den Ratingagenturen kommt, die bei der Entstehung dieser Krise nun wahrlich eine wenig rühmliche Rolle gespielt haben. ({13}) In meinem Schreiben an meinen japanischen Amtskollegen, der den Vorsitz der G-7-Finanzminister Anfang dieses Jahres von uns übernahm, habe ich diese Bereiche, in denen wir Verbesserungen brauchen, weiter ausgeführt. Vor allem habe ich mehr generelle Eigenkapitalpuffer als Stoßdämpfer für das Finanzmarktsystem vorgeschlagen. In der Tat war ich angenehm überrascht, dass im April 2008 unter dem Vorsitz des italienischen Notenbankpräsidenten Mario Draghi das Financial Stability Forum bemerkenswerte Empfehlungen nicht nur vorgelegt hat, sondern sie anschließend auch beschlossen worden sind, unter Einbeziehung der angloamerikanischen Freunde. Inzwischen hat die Umsetzung der Empfehlungen gute Fortschritte gemacht. Die Bundeskanzlerin hat dies während des Weltwirtschaftsgipfels in Heiligendamm weiter mit vorangebracht. Das ist eine Abfolge von Terminen gewesen. Die vom Financial Stability Forum ausgearbeiteten 100-Tage-Prioritäten sind weitgehend umgesetzt. Sie umfassen wichtige Maßnahmen wie zum Beispiel die Offenlegung der Risiken durch die Banken, die Vorlage einer überarbeiteten Leitlinie für das Liquiditätsmanagement durch den Baseler Bankenausschuss sowie die Überarbeitung des Verhaltenskodex für Ratingagenturen durch eine Einrichtung, die IOSCO heißt. Aber die Umsetzung dieses Verhaltenskodex wird von Externen zu überprüfen sein, nicht von ihr selber. ({14}) Auch mit der Umsetzung der übrigen Empfehlungen geht es planmäßig voran. So hat beispielsweise der Baseler Bankenausschuss ein Konsultationspapier zur Berechnung des spezifischen Risikos im Handelsbuch der Banken vorgelegt. Der Ausschuss hat zudem angekündigt, noch in diesem Jahr eine Leitlinie für eine Stärkung der Eigenkapitalanforderungen für bestimmte strukturierte Finanzprodukte und Liquiditätslinien an Zweckgesellschaften vorzulegen. Eine überarbeitete europäische Bankenrichtlinie wird eines Tages von Ihnen beraten werden müssen bei der Übertragung in nationalstaatliches Recht. Verständlicher ausgedrückt: Was wir bisher erlebt haben, ist, dass es viele Banken gibt, die sehr komplizierte Produkte außerhalb der Bilanzen geführt haben. Die Hauptanstrengung geht dahin - ganz banal ausgedrückt -, ihnen dies nicht mehr zu erlauben, sondern dieses Engagement in die Bilanzen zurückzuholen ({15}) mit der Anforderung, dass dann Eigenkapitalunterlegungen notwendig sind. Das ist die disziplinierende Klammer für Bankmanager, mit dem Geld vorsichtiger umzugehen. ({16}) Bei dem schon erwähnten nächsten Treffen in Washington Mitte Oktober werden wir einen umfangreichen Bericht über den Stand der Umsetzung der Empfehlung des Financial Stability Forums erhalten, und gleichzeitig werden wir beraten, welche weiteren Maßnahmen ergriffen werden müssen, unter anderem durch eine verbesserte Zusammenarbeit des Internationalen Währungsfonds und des Financial Stability Forums im Sinne einer Art Frühwarnsystem, wie wir es jüngst vorgeschlagen haben. Größe und Tiefe der Krise verlangen, nicht bei dem stehen zu bleiben, was wir bereits im Frühjahr richtig erkannt und beschlossen haben. Auch in der Europäischen Union setzt sich Deutschland schon seit einigen Monaten energisch und erfolgreich für eine Stärkung der Finanzstabilität ein. Nach Ausbruch der Krise im Bankensektor vor einem Jahr hat der ECOFIN-Rat am 9. Oktober 2007 ein Arbeitsprogramm zur Stärkung der Effizienz und zur Stabilität beschlossen. Diese sogenannte ECOFIN-Roadmap enthält zahlreiche Maßnahmen, um Schwachstellen der internationalen Finanzmärkte zu beseitigen. Bei diesen Maßnahmen geht es darum, die Aufsicht über die Finanzmärkte und das grenzüberschreitende Krisenmanagement zu stärken, die Transparenz an den Finanzmärkten zu erhöhen, Aufsichtsregeln zu Kapitalanforderungen und das Risikomanagement zu stärken. Ich werde gerne über den Finanzausschuss und den Haushaltsausschuss eine Vorlage liefern, damit alle Parlamentarier in der Lage sind, diesen Maßnahmenkatalog im Einzelnen nachzuvollziehen. Auch bei der Umsetzung dieser Roadmap gibt es Fortschritte. Einige grenzüberschreitende Gruppen der Aufsichtsbehörden sind bereits eingerichtet. Ein Memorandum of Understanding zwischen den europäischen Aufsichtsbehörden, Zentralbanken und Finanzministerien ist bereits unter der slowenischen Präsidentschaft beschlossen worden. In Deutschland - um jetzt auf die nationale Ebene zu kommen - hat das dreisäulige Universalbankensystem wichtige Stabilisierungsfunktionen übernommen; ich sagte es bereits. Je fragiler die Situation auf den internationalen Finanzmärkten wird, desto mehr sollten wir dankbar sein, dass wir im dreigliedrigen deutschen Bankensystem Sparkassen haben, die eben nicht, wie es Mark Twain einmal formuliert hat, bei schönem Wetter Regenschirme ausgeben, die sie bei den ersten Regentropfen wieder zurückhaben wollen. ({17}) Auch und gerade vor dem Hintergrund dieser wichtigen realwirtschaftlichen Funktion der Sparkassen und auch der Genossenschaftsbanken, die ich in diesem Zusammenhang nicht vergessen will, als Stabilitätsanker und angesichts der extremen Nervosität auf den Märkten kann ich der EU-Kommission nur dringend raten, das laufende Beihilfeverfahren mit einer solchen Verantwortung zu führen, die die derzeitigen Schwierigkeiten auf den Finanzmärkten insgesamt berücksichtigt. ({18}) Das heißt nicht, dass bei den Landesbanken alles beim Alten bleiben soll. Ich will das deutlich sagen. Wer es bis heute noch nicht wahrhaben wollte, dem hat spätestens die Finanzmarktkrise mit aller Wucht gezeigt, dass das traditionelle Geschäftsmodell der Landesbanken nicht mehr den Anforderungen der heutigen Zeit entspricht. Deshalb muss es jetzt darum gehen, für einen konsolidierten Landesbankensektor neue Geschäftsmodelle zu definieren, mit denen die Landesbanken übermäßig hohe Risiken von hoch volatilen Kapitalmarktgeschäften vermeiden - ich habe nie verstanden, warum das ihr eigentliches Geschäft sein sollte -, nachhaltig angemessene Erträge erwirtschaften und die Sparkassen in ihrem Leistungsspektrum für die Kunden wirksam unterstützen können. ({19}) Dazu bedarf es nicht sieben selbstständiger Landesbanken in Deutschland. Schon seit langem sind hier die Bundesländer gefordert. Sie müssen regionale politische Egoismen überwinden und sich endlich überregionalen Zusammenschlüssen öffnen, um den Verbund der Sparkassen-Finanzgruppe und damit das deutsche Bankensystem insgesamt nachhaltig zu stärken. ({20}) Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Ich warne alle Beteiligten vor Planspielen mit falschen Annahmen. Vom Bund ist bei der Bereinigung der Probleme im Landesbankenbereich keine finanzielle Unterstützung zu erwarten. ({21}) Die Hausaufgaben müssen diejenigen machen, die Anteilseigner oder - als Großväter - immer noch die Gewährträger dieser Institute sind. Um mehr Rationalität in den Finanzmarkt zu bringen und um den Risiken entgegenzuwirken, die mit Finanzinvestitionen für Unternehmen und die Gesamtwirtschaft einhergehen, meine Damen und Herren, hat die Bundesregierung vor einigen Monaten das sogenannte Risikobegrenzungsgesetz eingeführt. Ich erinnere daran: Dies ist eine Reaktion auf das gewesen, was wir seit dem letzten Sommer erleben. Ich will das nicht im Einzelnen ausführen, weil mir die Zeit davonläuft, aber ich wäre sehr dankbar, wenn mit Ihrer Unterstützung die wesentlichen inhaltlichen Bestandteile dieses Risikobegrenzungsgesetzes noch einmal, und zwar im Sinne des Konsumentenschutzes und übrigens auch des Arbeitnehmerschutzes sowie einer erhöhten Transparenz, an die Beschäftigten und ihre Arbeitnehmervertreter in Form von Daten und Informationen weitergegeben werden, die ihnen mehr Sicherheit für ihren Arbeitsplatz geben. ({22}) Meine Damen und Herren, es gibt nichts zu beschönigen: Wir befinden uns mitten in der schwersten Finanzkrise seit Jahrzehnten, in der wir allerdings den SuperGAU, den Kollaps des Weltfinanzsystems bisher verhindern konnten. Niemand - kein Ökonom, kein Finanzminister, kein Zentralbankchef dieser Welt - wird Ihnen mit Bestimmtheit sagen können, wie lange wir noch mit dieser Krise und ihren Begleiterscheinungen leben müssen. Wenn jemand behauptet, er sehe Licht am Ende des Tunnels, dann kann es ihm passieren, dass es die Lichter des entgegenkommenden Zuges sind. ({23}) Ich appelliere, auch angesichts des bislang erfolgreichen Krisenmanagements, an alle Verantwortlichen in der Politik und in den drei Säulen des deutschen Bankensystems: Dies ist nicht der Zeitpunkt für kleinliche Diskussionen und kleinteilige Hakeleien, mit denen man versucht, auf Kosten des vermeintlichen Wettbewerbers kurzfristige Geländegewinne zu erzielen. Ich bin sehr an einer geschlossenen Aufstellung des deutschen Finanzsektors in Brüssel interessiert. ({24}) Es ist der Zeitpunkt, um gemeinsam, mit vereinten Kräften durch die Krise durchzukommen und gleichzeitig das globale Finanzsystem stabiler zu machen, nicht nur im Interesse der Finanzwirtschaft, sondern viel mehr noch im Interesse der Verbraucher, der Wirtschaft, aller Menschen in unserem Land. Eine Erkenntnis aus der Krise lässt sich jetzt ziehen: Die Wall Street, das Epizentrum dieser Krise, wird nicht mehr das sein, was sie in den letzten Jahrzehnten war. Eine weitere Erkenntnis ist, dass wir nach der Bankrotterklärung des in weiten Teilen des Finanzmarktes in den letzten Jahrzehnten dominierenden Laisser-faire-Kapitalismus neue „Verkehrsregeln“ brauchen, wie Helmut Schmidt es jüngst formuliert hat. Er macht darauf aufmerksam, dass wir für den internationalen Luftverkehr Verkehrsregeln haben, aber für die internationalen Finanzmärkte nicht. ({25}) Diese neuen „Verkehrsregeln“, an denen wir im G-7wie auch im europäischen Bereich intensiv arbeiten, können nur handlungsfähige staatliche Institutionen schaffen und durchsetzen, die sich international koordinieren, und zwar zum Wohle aller, der strauchelnden Finanzinstitutionen genauso wie der Privatanleger, die sich zu Recht nach mehr staatlicher Sicherheit auf den Finanzmärkten sehnen. Ich teile deshalb dezidiert die Auffassung von Herrn Röttgen, dass die Finanzmarktkrise die Idee der sozialen Marktwirtschaft auf lange Sicht weltweit stärken könnte. ({26}) Auch ich sehe in den Turbulenzen auf den Finanzmärkten nicht das Ende der marktwirtschaftlichen Ordnung, aber die Krise zeigt eindeutig die Notwendigkeit und Aktualität von staatlichem Handeln, das den Märkten Spielregeln geben und damit auch Grenzen setzen muss. ({27}) In den vergangenen Jahren wurde viel über Staatsversagen geredet und geschrieben, manches zu Recht. Ich weiß aus eigenem Erleben, dass staatliches Handeln keineswegs immer effizient abläuft. Aber es wurde zu wenig über Marktversagen geredet. ({28}) Dass es dies real gibt, und zwar mit gravierenden Auswirkungen auf das Leben aller, erleben wir gerade. Weder der bloße Ruf nach mehr Staat noch der simple Glaube an den wettbewerblichen Markt wird der Aufgabe gerecht, vor der wir stehen, nämlich Wirtschaft so zu gestalten, dass alle an einem stabilen, möglichst krisenfreien Wachstum teilhaben können. Staatliche Institutionen müssen im internationalen Verbund Rahmen setzen, Regeln definieren und für ihre Einhaltung sorgen. Die Marktteilnehmer müssen diesen Rahmen kreativ ausfüllen, nicht getrieben von Gier und Kurzatmigkeit, sondern von Verantwortung für die Gesellschaft. ({29}) Das ist unser, das ist mein Verständnis von sozialer Marktwirtschaft. Das grenzt sich ab von jedem Neoliberalismus und jedem Neoetatismus. Neue „Verkehrsregeln“ für den Finanzmarkt sind notwendig. Was heißt das konkret? Damit will ich mit einigen Punkten zum Schluss kommen. Erstens. Wir müssen zukünftig verhindern, dass Risiken durch Finanzinnovationen außerhalb der Bilanz platziert werden können; davon sprach ich schon. ({30}) Wir wollen, dass die Banken Risiken eingehen können - das ist prägend für das Bankengeschäft -, aber nur solche, die sie mit ausreichend Eigenkapital unterlegt und in der Bilanz aufgeführt haben. Nur solche Transparenz schützt vor Krisen wie der gegenwärtigen. Das bedeutet nicht, in Zukunft Finanzinnovation zu verhindern, aber es bedeutet, sie transparent zu machen, und zwar auch den Prozess ihrer Entstehung. Zweitens. Wir brauchen höhere Liquiditätsvorsorge bei den Banken. Eines der Hauptprobleme ist der Mangel an Liquidität gewesen. Diejenigen, die Liquidität haben, sitzen darauf wie eine Glucke, und diejenigen, die keine haben, japsen und kriegen kaum noch Luft, weil ihnen im Interbankenverkehr diese Liquidität nicht gegeben wird. Drittens. Es muss internationale Standards für eine stärkere persönliche Haftung der verantwortlichen Finanzmarktakteure geben. ({31}) Viertens. Wir müssen wieder zu einem engeren Zusammenhang zwischen Risiko und Rendite kommen. Das heißt auch, es muss endlich Schluss sein mit dem wahnsinnigen Streben nach immer höheren Renditen ein Quartal nach dem anderen. Allen Beteiligten muss klar sein, dass sich Renditen von 25 Prozent nicht erzielen lassen, wenn nicht unverhältnismäßig hohe Risiken eingegangen oder andere Marktteilnehmer vorsätzlich beschädigt werden. ({32}) Ein solches Renditerennen führt früher oder später zum Zusammenbruch der Märkte, weil es nur auf Kosten anderer geht. Es ist schizophren, ({33}) wenn die Anreiz- und Vergütungssysteme der Banken die Jagd nach Umsatzvolumen und Renditen befeuern, ohne die dabei eingegangenen Risiken zu berücksichtigen. Das wollen wir ändern. Das ist auch eine Aufgabe der Beteiligten selbst. Solange weiterhin zunehmend variable Gehaltsbestandteile in Wirklichkeit das Volumen der Vergütung von Bankmanagern ausmachen, so lange wird die Jagd weitergehen, so lange werden sie weiter versuchen, so viel Volumen wie möglich zu akquirieren, weil davon ihre Boni, ihre variablen Vergütungsbestandteile, abhängig sind, so lange werden sie den Blick nicht darauf lenken, welche Risiken sie sich damit gleichzeitig an den Hals ziehen. ({34}) Fünftens. Wir brauchen eine deutlich engere Zusammenarbeit zwischen dem Financial Stability Forum und dem Internationalen Währungsfonds. In meinen Augen sollte der IWF - er ist neben der Weltbank die letzte Institution, die vom Bretton-Woods-System übrig geblieben ist - die Kontrollinstanz für die Einhaltung weltweiter Finanzmarktstandards werden. Wir haben diese Institution. Vor dem Hintergrund des Rückgangs ihrer traditionellen Aufgaben läuft sie zunehmend ein bisschen ins Leere. Die Überwachung, die Kontrolle weltBundesminister Peer Steinbrück weiter Finanzmarktstandards wäre eine neue Aufgabe für diese bestehende, geachtete Institution. ({35}) Sechstens. Im Sinne von mehr Transparenz und Stabilität auf den Finanzmärkten müssen wir gemeinsam auf internationaler Ebene zu einem Verbot rein spekulativer Leerverkäufe kommen. ({36}) Siebtens. Um wieder ein nachhaltiges Risikobewusstsein bei den Banken zu erreichen, werde ich mich bei dem bevorstehenden G-7-Treffen in Washington dafür einsetzen, dass Kreditrisiken, die die Banken eingehen, von diesen nicht mehr zu 100 Prozent verbrieft und damit weitergereicht werden können. ({37}) Das ist eine Maßnahme, die schwer zu erklären ist, die aber ihre Auswirkungen hat. Aus meiner Sicht sollte das veräußernde Institut verpflichtet werden, zukünftig immer bis zu 20 Prozent der eingegangenen Kreditrisiken in den eigenen Büchern zu führen, und nicht berechtigt sein, sie in Form von irgendwelchen Derivaten weiterzureichen. Achtens. Ich werde mich bei den europäischen Partnern für eine weitere europäische Harmonisierung der Aufsicht stark machen. Ich warne aber davor, zu glauben, dass man mit einem riesigen Wurf, quasi mit einem Urknall eine europäische Aufsichtsbehörde schaffen könnte, nach dem Motto: Wenn wir ein Problem haben, gründen wir einen neuen Club. Das wird ein eher evolutionärer Vorgang sein müssen: ausgehend von dem, was wir schon in Gang gesetzt haben, über die Colleges of Supervisors und die Gruppenaufsicht. Dass vielleicht in zehn Jahren eine gemeinsame europäische Institution ähnlich der EZB steht, will ich nicht ausschließen. Einige in diesem Saal kommen vielleicht zu dem Ergebnis: Es ist die EZB. ({38}) Das könnte sein. Ich bitte aber darum, in dieser Situation nicht gleich wieder mit Vorschlägen zu kommen, die erkennbar übers Knie gebrochen wurden. Ich bin zuversichtlich, dass diese acht erwähnten Punkte, die im Wesentlichen „Verkehrsregeln“ enthalten, dazu führen können, dass zukünftige Finanzkrisen nicht die Sprengkraft entwickeln, wie das aktuell der Fall ist. Lassen Sie mich abschließend einige Bemerkungen bezogen auf die deutsche Wirtschaft und die öffentlichen Haushalte machen. In Übereinstimmung mit dem Bundesbankpräsidenten sehe ich keine Kreditklemme, aber ich sehe eine Verschärfung von Kreditkonditionen, die sich natürlich auch auf die Realwirtschaft auswirken werden. Die Bürger müssen keine Angst um ihr Erspartes haben. Unsere Realwirtschaft wird in Mitleidenschaft gezogen. Die Abwärtsrisiken für die Konjunktur sind nicht zu ignorieren. In welchem Ausmaß die öffentlichen Haushalte davon betroffen sind, liegt allerdings an mehreren Faktoren. Es liegt weniger an der realen Wachstumsrate und sehr viel mehr an der nominalen Wachstumsrate. Es liegt vornehmlich auch an der Entwicklung des Arbeitsmarktes. Davon ist abhängig, wie die tatsächlichen Steuereinnahmen sind. Ich darf Ihnen berichten: Bisher - jedenfalls im laufenden Jahr - sind diese Steuereinnahmen von diesen Abwärtsrisiken für die Konjunktur nicht berührt. Es ist auch davon abhängig, wie die Elastizitäten sind. Es geht um die Effekte einer abnehmenden Wachstumsrate auf die staatlichen Einnahmen und auf die Arbeitsmärkte. Wir sind dort als Volkswirtschaft in den letzten Jahren besser geworden. Es liegt auch daran, wie flexibel wir sind, wieder Fahrt aufzunehmen, wenn sich die Rahmendaten wieder etwas verbessern. Wir sind immer noch, aber immer weniger von der Entwicklung in den USA abhängig. Andere dynamische Weltregionen tragen mehr und mehr dazu bei, dass die deutschen Exportaktivitäten sehr viel differenzierter in der Welt laufen und wir deshalb gegenüber den Einschlägen, die über den Atlantik kommen, unabhängiger sind. Die neue Wachstumsprojektion der Bundesregierung erfolgt Mitte Oktober. Die Steuerschätzung kommt Anfang November. Ich sage: Diese bleiben abzuwarten, ehe jemand versucht, mit eigenen Schätzungen Schlagzeilen zu machen. Die Bundesregierung wird ihren Kurs beibehalten, ihren Planungen keine zweckoptimistischen Eckpunkte zugrunde zu legen. Damit sind wir in den letzten drei Jahren gut gefahren. ({39}) Das wird natürlich Einfluss auf die Haushaltsberatungen haben und auch manche Wunschzettel oder eilfertige Versprechen aushebeln. Der Kurs der Bundesregierung, die Konsolidierung fortzusetzen, die automatischen Stabilisatoren zur Geltung zu bringen, gegenfinanzierte Entlastungen für die Bürgerinnen und Bürger zu finanzieren und Zukunftsinvestitionen zu tätigen, bleibt richtig. Die Tugenden, die Max Weber vor hundert Jahren für einen Politiker beschrieben hat, sind aktueller denn je: Leidenschaft, Verantwortungsbewusstsein und Augenmaß. Vielen Dank für Ihr Zuhören. ({40})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder wird für angemessen halten, dass ich bei der außerordentlich komplizierten und gleichzeitig besonders wichtigen Materie erst gar nicht den Versuch unternommen habe, auf die Differenz zwischen der angemeldeten und der tatsächlichen Redezeit aufmerksam zu machen. Ich will darauf hinweisen, dass ich das für die erste Runde der jeweiligen Fraktionsredner ähnlich halten möchte, mit der aus18978 Präsident Dr. Norbert Lammert drücklichen Bitte, das jetzt nicht als Generalgenehmigung für beliebige Festansprachen misszuverstehen. ({0}) Nun eröffne ich die Aussprache und erteile als Erstes das Wort dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms für die FDP-Fraktion. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Ich glaube, das Thema gibt keinen Anlass zu Festansprachen; dazu ist es zu ernst. Deswegen möchte ich sagen, Herr Bundesfinanzminister Steinbrück: Ihrer Analyse insbesondere im ersten Teil der Rede, aber auch Ihren Bemühungen, zu internationalen Standards der Regulierung im Finanzmarkt zu kommen, stimmt die FDP-Opposition ausdrücklich zu. Daran ist keine Kritik zu äußern. ({0}) Enttäuscht sind wir allerdings, dass Sie kein Wort der Selbstkritik dazu geäußert haben, dass es auch hier Fehlverhalten und Staatshaftung gibt. ({1}) Die spannende Frage, ob das nun eigentlich Staatsversagen oder Marktversagen ist, beantworte ich völlig anders als Sie. Wenn Sie Ihre Analyse noch einmal durchlesen würden, kämen Sie zu demselben Ergebnis wie ich. Denn Sie haben gesagt, dass es gerade in den Vereinigten Staaten ein völlig unzureichendes Regulierungssystem gegeben hat. Das ist ein Fehler des Staates und nicht des Marktes. ({2}) Wenn Sie sich anschauen, was die Ursache dieser Krise in den Vereinigten Staaten - da liegt die Ursache war, dann erkennen Sie: Es war eindeutig Staatsversagen. Das Wichtigste war, dass die amerikanische Zentralbank unter Greenspan zu lange zu viel zu billiges Geld zur Verfügung gestellt hat, sodass diese spekulativen Blasen finanziell überhaupt erst möglich geworden sind. ({3}) Ein Weiteres war, dass das Programm der amerikanischen Bundesregierung unter Bush, Häuser für jedermann erschwinglich zu machen - es wurde angekurbelt durch Subventionen, durch Steuerbegünstigungen und durch den Zwang, Freddie Mac und Fannie Mae zu großen Finanzierungskartellen zusammenzuschließen - erst dazu geführt hat, dass diese verrückte Finanzierungssituation in den USA entstehen konnte: Menschen, die niemals in der Lage waren, auch nur 1 Dollar für ein Haus zu bezahlen, geschweige denn Zinsen zu tilgen, wurden Häuser übereignet. Das wäre in Deutschland, auch rechtlich, überhaupt nicht möglich gewesen. Was in den Vereinigten Staaten geschehen ist, war eindeutig Staatsversagen. ({4}) Was hat uns dann in diese Probleme hineingezogen? Man hat schöne Pakete, in denen schlechte Kredite mit guten Krediten vermischt worden sind, geschnürt. Die amerikanischen Ratingagenturen - wir haben leider nur amerikanische Ratingagenturen - haben darauf „Triple A“ gestempelt. Dann sind diese Pakete den Anlegern in der ganzen Welt angeboten worden, und die haben natürlich zugegriffen. Wenn das im privaten Bereich geschehen ist, dann müssen sie dafür eben geradestehen. So ist das in Deutschland auch. Damit bin ich schon bei der deutschen Situation. Wenn aber deutsche Staatsbanken dieses Geschäft betreiben, dann haben wir als Opposition die Aufgabe, uns vor den Steuerzahler zu stellen, der da in Haftung genommen wird. ({5}) Herr Finanzminister, Sie betonen immer wieder, Ihr Haushalt sei bis jetzt nur um 1,2 Milliarden Euro belastet worden. Das ist zwar rechnerisch und buchhalterisch richtig; aber in Wirklichkeit haben Sie - das geben Sie auch zu - einen Schutzschirm von mindestens 10 Milliarden Euro aufgespannt, wofür der Steuerzahler geradestehen muss. ({6}) Weil Sie das nicht Ihrem Haushalt entnehmen wollen, haben Sie mittlerweile buchhalterische Kunstgriffe vorgenommen: Bei der KfW haben Sie etwas getan, was nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Bilanzierung in Deutschland überhaupt nicht zulässig wäre. Wenn ich bei meiner Kaufmannsgehilfenprüfung als Bankkaufmann 1964 das geraten hätte, wäre ich mit Pauken und Trompeten durchgefallen. Sie haben nämlich gesagt: Die jetzt eingetretenen Verluste werden mit möglichen Gewinnen in der Zukunft verrechnet. Das widerspricht dem Vorsichtsprinzip total. Das ist nicht zulässig. Das ist ein Buchhaltertrick, den Sie anwenden, damit Sie das alles vorerst aus Ihrem Haushalt heraushalten können. ({7}) Nun will ich noch einmal auf die Punkte zu sprechen kommen, bei denen die Bundesregierung in der Haftung ist. Angefangen hat es damit, dass sie die Beteiligung an der IKB überhaupt eingegangen ist. Das ist 2001 unter Hans Eichel, Ihrem Vorgänger, geschehen. Damals geschah dies mit der interessanten Begründung, man wolle abwehren, dass eine ausländische Bank die IKB in Besitz nehmen könne. Damals ging es um die Royal Bank of Scotland, immerhin eine europäische Bank. Im Endeffekt haben Sie doch - auch auf Druck aus dem Parlament hin - die IKB verkaufen, das heißt quasi verschenken müssen, und zwar an wen? An Lone Star, an eine amerikanische Heuschrecke, und das, obwohl Sie nur eine Woche vorher ein Gesetz erlassen haben, durch das die Beteiligung an solchen Fonds eingeschränkt werden soll. Auch das ist ein Widerspruch, den der Betrachter überhaupt nicht auflösen kann. ({8}) 2005 hätten Sie die Chance gehabt, die IKB zu verkaufen. Wir haben es Ihnen empfohlen. Sie hätten einen Milliardengewinn einstreichen können. Nun haben Sie 10 Milliarden Euro Verlust gemacht. ({9}) Herr Präsident, ich bitte darum, dass diese Privatgespräche auf der Regierungsbank aufhören. Wenn das Parteipräsidium der SPD tagen will, dann kann es das außerhalb des Parlaments machen. ({10}) Das ist hier ein Haus für alle Parteien. ({11}) Was haben Sie seitdem getan? Die Krise ist nicht erst im Juni/Juli letzten Jahres aufgeschienen, sondern die ersten Anzeichen dafür gab es schon im Februar 2007, als die HSBC-Bank - für die, die sie nicht kennen: Hongkong and Shanghai Banking Corporation - die ersten Gewinnwarnungen herausgegeben hat. Es folgten jeden Monat weitere Warnungen. Ein vorsichtiger Banker und eine vorsichtige Aufsicht hätten natürlich schon in diesem Moment geschaut: Können auch wir betroffen sein? - Erst im Juli 2007, als die Bude bereits gebrannt hat, sind Sie aufgewacht. Danach hat es verschiedene Abschirmungsrunden gegeben. Nach jeder Runde war klar, dass man nicht wusste, wie hoch das Risiko wirklich ist. Selbst bis heute weiß man das nicht richtig, sonst hätte nicht das eintreten können, was jetzt gerade in diesem Monat eingetreten ist, nämlich die Überweisung an Lehman Brothers in Höhe von 350 Millionen Euro, obwohl sie schon pleite waren. Das sind doch ein drastisches Versäumnis und ein Fehler der Aufsicht. ({12}) Ich habe bewusst den Bericht des Rechnungshofes nicht eingesehen, den wir Abgeordnete nur unter Aufsicht lesen dürfen. Ich möchte mir nicht vorwerfen lassen, aus einem geheimen Bericht zu zitieren, und ich wusste: Am nächsten Tag steht es sowieso in der Zeitung. Schauen Sie heute in die Zeitung, da steht alles drin. Der Rechnungshof hat schon im Jahre 2003 auf die Organisations- und Aufsichtsprobleme bei der KfW hingewiesen. Diese Vorwürfe wiederholt er jetzt. Seit seiner Warnung 2003 hat sich nichts geändert. Was aber viel schlimmer ist: Seit dem Eintreten der Krise - spätestens im Juli 2007 - hat sich ebenfalls nichts geändert. Die Aufsicht ist weiterhin so dilettantisch wie zuvor betrieben worden. ({13}) Es sind immer dieselben Personen, die das machen. Auch darauf weist der Rechnungshof hin. Da heißt es ganz klar: Gibt es keine Interessenkonflikte, wenn für die Aufsicht der KfW und für die Aufsicht der BaFin dieselbe Person aus dem Finanzministerium zuständig ist, die auch im Aufsichtsrat der IKB sitzt? Das kann doch nicht gut gehen. Diese Person überwacht sich ja selbst. Sie kann ja gar nichts aufdecken. Wie soll sie das machen? Das müsste dann ein Wunderkind sein. Die Frage ist: Was haben Sie in dieser Zeit getan? Ich habe darauf hingewiesen: Sie haben die IKB verkauft. Sie haben nicht gesagt, was Sie mit der IPEX machen, mit der Sie die gleichen Probleme haben. Auch diese müsste privatisiert werden. ({14}) Sie haben bis heute nicht gesagt, was Sie mit der KfW machen. Bleibt das eine Behörde, oder wird das eine Bank, die der Bankenaufsicht - das wäre dringend notwendig -, insbesondere der unabhängigen Aufsicht der Deutschen Bundesbank unterstellt wird? Wie werden die Aufsichtsstrukturen verändert? Die Antworten auf all diese Fragen sind Sie schuldig geblieben. Aber auch das gehört zur Abrechnung und zur Analyse. Deswegen sage ich: Da sind Fehler passiert, die nicht hätten passieren dürfen und längst hätten korrigiert sein müssen. ({15}) In der heutigen Ausgabe der FAZ schreibt Bettina Schulz aus London: Aber die Kritik muss an der Aufsicht ansetzen. Das ist für Politiker freilich ein brenzliges Thema: Die Banken- und Marktaufsicht hat an jedem einzelnen Finanzplatz katastrophal versagt. Weder die deutsche Bafin noch die britische FSA, die amerikanische Federal Reserve oder die SEC haben erkannt, dass es Geschäftsmodelle gab, die gefährliche Schneeballeffekte auslösen könnten. Ich kann dem nur zustimmen. Das ist das Staatsversagen der Bundesregierung und des Bundesfinanzministers, der nach KfW-Gesetz im Benehmen mit dem Bundeswirtschaftsminister für die Aufsicht der KfW zuständig ist. ({16}) - § 12 des KfW-Gesetzes - ich zitiere -: Das Bundesministerium der Finanzen übt die Aufsicht über die Anstalt im Benehmen mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie aus. ({17}) Dies sind Sie bei Ihrer Arbeit schuldig geblieben. Ich will zum Abschluss noch etwas zur Verantwortung sagen. Einige Landesbanken und die dazugehörigen Regierungen haben in diesem Bereich drastisch versagt. Sachsen hat dadurch einen Schaden von um die 5 Milliarden Euro verursacht. Als Folge sind immerhin der Finanzminister und schließlich auch der Ministerpräsident Milbradt zurückgetreten, nicht nur deshalb, aber auch deshalb. Ein anderes Beispiel ist die Bayerische Landesbank. In der Bayerischen Landesbank setzt sich die Hälfte des Verwaltungsrates aus Mitgliedern der bayerischen Landesregierung zusammen. Der Kohortenführer ist Finanzminister Erwin Huber. Vor der Kommu18980 nalwahl hat er versucht, zu vertuschen, welcher Schaden im März dieses Jahres entstanden ist; ({18}) bei der Kommunalwahl hat er natürlich eine Niederlage erlitten. Jetzt, vor der Landtagswahl, wird wieder nicht klar gesagt, welche zusätzlichen Belastungen durch die Beteiligung an Lehman Brothers auf die Bayerische Landesbank zukommen werden. ({19}) Am kommenden Sonntag muss er sich erneut dem Wähler stellen. Warten wir einmal ab, welches Urteil die bayerischen Wähler sprechen werden. ({20}) Schließlich frage ich die Bundesregierung: Wie stehen Sie zu Ihrer Verantwortung? Was sagen Sie dazu? Zumindest ein Wort der Entschuldigung beim Steuerzahler wäre angemessen gewesen. Das erwarten wir von Ihnen. ({21})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Michael Meister ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte für die Unionsfraktion zunächst einmal sagen: Ich halte es für richtig und begrüße es ausdrücklich, dass der Bundesfinanzminister heute Morgen für die Bundesregierung eine Regierungserklärung zu diesem Thema abgegeben hat und dass wir die Gelegenheit haben, über diese wichtigen und bewegenden Ereignisse eine Aussprache zu führen. Ich halte es auch für richtig, dass wir das an diesem Ort und sehr zeitnah tun. Wie wir heute Morgen gehört haben, haben wir es mit Sicherheit mit einer der größten Finanzkrisen der Weltgeschichte zu tun. Wenn man sich andere Finanzkrisen der vergangenen 400 Jahre vor Augen führt, wird allerdings deutlich, dass die Mechanismen, über die wir heute verfügen, besser sind als in früheren Zeiten. Deshalb können wir mit dieser Diskussion auf einem ganz anderen Niveau starten, als man es in den 30er-Jahren - Stichwort: Schwarzer Freitag - oder in den 80er-Jahren hätte tun können. Das sollten wir zur Kenntnis nehmen, damit wir wissen, wovon wir bei dieser Diskussion ausgehen. Viele Menschen in unserem Land machen sich verständlicherweise Sorgen, was mit ihren Spareinlagen geschieht. Ich glaube, wir haben in allen drei Säulen unseres Bankensystems Vorkehrungen getroffen, die gewährleisten, dass diese Sorgen unbegründet sind. Auch das sollten wir klar und deutlich sagen, um nicht für Verunsicherung zu sorgen. In der Realwirtschaft macht man sich im Hinblick auf die Kreditfinanzierungen von Unternehmen Sorgen. Ich stimme dem Finanzminister ausdrücklich zu, dass sich die Kreditversorgung unserer mittelständischen Wirtschaft trotz Krise verbessert hat. ({0}) An dieser Stelle möchte ich den Akteuren in diesem Bereich, die natürlich auch den Eigenkapitalvorschriften Rechnung tragen müssen, dafür meinen Dank sagen. Da mit AIG auch ein großer Versicherer von der Finanzkrise betroffen ist, will ich noch eine Bemerkung zur Altersversorgung machen. Möglicherweise werden nicht alle Renditeerwartungen erfüllt, die man in der Vergangenheit hatte. Aber auch hier besteht kein Anlass zur Sorge. Wir können den Menschen sagen: Neben der gesetzlichen Rente gibt es sowohl im betrieblichen als auch im privaten Bereich Altersvorsorgeinstrumente, die auch in der Krise funktionieren. Diese Instrumente dürfen wir in der aktuellen Debatte nicht diskreditieren. ({1}) In der jetzigen Situation heißt es, wir müssten die soziale Marktwirtschaft hinterfragen. Ich glaube, dass die soziale Marktwirtschaft durch diese Krise bestätigt wird. Wir treten für Märkte ein, auf denen klare Rahmenbedingungen und Regelwerke gelten. Was wir nicht wollen, ist die Beseitigung der Märkte. Was wir auch nicht wollen, ist die Beseitigung der Regeln. ({2}) Vielmehr müssen wir über die Fragen diskutieren: Wie können wir diese Regeln vor dem Hintergrund der Probleme, mit denen wir es jetzt zu tun haben, neu adjustieren, und wie können wir die vorhandenen Regelwerke internationalisieren? Denn als nationaler Gesetzgeber würden wir uns überheben, wenn wir versuchen würden, diese Probleme allein zu lösen. ({3}) Ich plädiere dafür, dass wir versuchen sollten, unser Modell der sozialen Marktwirtschaft bzw. zumindest seine Grundprinzipien in andere Länder und internationale Organisationen zu exportieren, um im Hinblick auf die Herausforderungen auf den Märkten ein etwas größeres Sicherheitsnetz zu schaffen. Insofern glaube ich, dass in dieser Krise auch eine Chance zu sehen ist. ({4}) Ich denke, heute diskutieren wir über die Herausforderungen der internationalen Finanzkrise unter wesentlich besseren Konditionen, als es zu Beginn der Amtszeit dieser Bundesregierung möglich gewesen wäre. Wir haben ein deutlich größeres Wirtschaftswachstum als in den Jahren zuvor. Wir haben eine deutliche Besserung am Arbeitsmarkt zu verzeichnen. Wir haben eine viel entspanntere Haushaltssituation, wenngleich sie noch nicht in Ordnung ist. Und unsere Wirtschaft befindet sich in struktureller Hinsicht in einer deutlich besseren Verfassung, als es früher der Fall war. Man muss sich einmal die Frage stellen, was geschehen wäre, wenn uns eine solche Krise im Jahre 2005 ereilt hätte, als die Konditionen unserer Wirtschafts- und Arbeitsmarktverfassung noch anders aussahen. Ich glaube, die Probleme und die Auswirkungen im Lande wären wesentlich größer gewesen. An dieser Stelle sind wir ein Stück weit besser geworden. ({5}) Ich möchte auch ausdrücklich unterstreichen, dass wir nicht erst nach Auftreten der Krise damit begonnen haben, über die Krise zu diskutieren, sondern dass wir vorher gehandelt haben. Die Tagung in Heiligendamm und die Vorbereitungen dafür lagen vor Beginn der Krise. Wenn wir uns das Hauptphänomen der Krise anschauen, dann stellen wir fest, dass es eine Vertrauenskrise zwischen den Akteuren ist. Deshalb muss man sich die Frage stellen, wie man neues Vertrauen erzeugen kann. Das kann man durch Offenheit und Transparenz erreichen. Deshalb ist der Ansatz, für mehr Transparenz in den Märkten zu werben - das war der Ansatz der Bundesregierung, Herr Finanzminister und Frau Bundeskanzlerin -, die zentrale Aussage, um neues Vertrauen in den Märkten zu erzeugen und damit die Akteure wieder handlungsfähig zu machen. ({6}) Ich hoffe, dass durch diese Krise auch die Chance eröffnet wird, die Reserviertheit, die wir in Großbritannien und den USA damals verspürt haben, ein wenig zu verringern, damit wir damit vorankommen, das, womit damals begonnen wurde, dauerhaft zu implementieren und damit mehr Transparenz und Vertrauen zu erreichen. Ich will ausdrücklich sagen: Finanzmärkte sind für sich genommen nichts Böses. Sie tragen wesentlich zum Wohlstand unserer Gesellschaft bei: zum einen direkt über diejenigen, die dort beschäftigt sind - wir reden immerhin über 1,5 Millionen Menschen in Deutschland, die in diesem Sektor beschäftigt sind; diese Arbeitsplätze und den Anteil am Bruttoinlandsprodukt können wir nicht einfach wegdiskutieren -, und zum anderen natürlich, indem dadurch Geschäfte in der Realwirtschaft möglich sind und sich finanzieren lassen. Deshalb brauchen wir die Finanzmärkte, aber wir müssen aufpassen, dass diese Finanzmärkte dauerhaft, nachhaltig und funktionsfähig sind. Darüber müssen wir diskutieren - und nicht gegen die Finanzmärkte. ({7}) Eine Reihe von Schwächen sind erkennbar geworden. Ich will ausdrücklich darauf hinweisen: Es gäbe das Problem mit der IKB nicht in dieser Weise, wenn Basel II bei uns in Deutschland nicht erst zum 1. Januar 2008 umgesetzt worden wäre; denn das, was bei der IKB gemacht wurde und keinen Niederschlag in der Bilanz gefunden hat, wäre nicht möglich gewesen, wenn Basel II schon gegolten hätte. Wir müssen uns dabei auch einmal selbst fragen, ob wir dafür nicht ein paar Tage zu lang gebraucht haben. ({8}) Vor diesem Hintergrund will ich aber auch sagen, dass es eine ganze Reihe von Akteuren gibt - insbesondere in den USA -, die Basel II immer noch nicht umgesetzt haben. Deshalb ist es dringend notwendig, dass darauf gedrungen wird, diese Regeln hinsichtlich der Anforderungen an das Eigenkapital umzusetzen und die Möglichkeit aufzuheben, etwas zu tun, was sich nicht in der Bilanz niederschlägt. Auch dafür müssen wir diesen Anlass direkt nutzen. ({9}) Ich will die Rolle der Europäischen Zentralbank ansprechen. Ich glaube, dass dort richtigerweise eine Doppelstrategie verfolgt wird. Aus meiner Sicht blenden wir die Inflation gegenwärtig zu stark aus. Damit liegt auch eine weltweite Herausforderung vor uns, weil es sie nicht nur in einigen Ländern, sondern insgesamt - um den Globus herum - gibt und weil sie nicht mehr über niedrige Lohnangebote in einigen Entwicklungs- oder Schwellenländern bekämpft wird. Deshalb werden wir uns mit der Herausforderung Inflation beschäftigen müssen. Es ist hochgradig gefährlich, das Ziel der Inflationsbekämpfung in der Krise aufzugeben. Ich möchte ausdrücklich hervorheben: Die Europäische Zentralbank tut das nicht. ({10}) Sie versucht, die Inflation zu bekämpfen und die Märkte gleichzeitig mit der notwendigen Liquidität zu versorgen. Diese Doppelstrategie - beide Ziele im Auge zu haben und zu verfolgen - ist zu loben. Deshalb unterstützen wir diese Strategie unserer Zentralbank ausdrücklich. ({11}) Ich möchte an dieser Stelle sagen: Wir möchten uns auch herzlich für den Rat und die Unterstützung unserer beiden Aufsichtsinstitutionen - Notenbank und BaFin bedanken. Man kann sehr wohl die Frage stellen, ob dort im Detail alles richtig gemacht wird. Meine Erfahrung ist: In dieser Krisensituation waren sowohl der Rat als auch die Handlungsfähigkeit wertvoll. Dadurch wurde geholfen, die eine oder andere Verschlimmerung der Krise zu vermeiden. Das sollte man bei aller Kritik, die an der einen oder anderen Stelle vorgetragen wird, auch einmal positiv hervorheben. ({12}) Lieber Kollege Solms, ich schätze Sie im Finanzausschuss sehr als Finanzfachmann. Ich rate aber sehr wohl dazu, die Frage zu stellen, wie die Rolle der KfW in Deutschland in Zukunft aussehen wird. Was ist die Aufgabe der KfW? Beschränkt sie sich auf das Fördergeschäft, oder gibt es noch weitere Aufgaben? Wir müssen auch die Frage stellen, unter welchem Aufsichtsregime die Aufgaben nach dem Kreditwesengesetz wahrgenommen werden. Wir müssen auch fragen, ob die derzeitigen Regelungen im KfW-Gesetz dem entsprechen, was wir als künftige Rolle der KfW sehen. Das ist aus meiner Sicht wichtig und richtig, und wir sollten es in Ruhe bedenken. Weil daraus neue Erkenntnisse erwachsen, wird es Veränderungen geben müssen. Ich rate aber dringend dazu, nicht so zu tun, als hätten die internationale Finanzkrise und ihre Auswirkungen nur mit der KfW zu tun. Wir werden dem Thema nicht gerecht, wenn wir es nur auf diesen einzelnen Punkt verengen. Ich bitte deshalb darum, dass wir die Aufgaben lösen, uns aber gleichzeitig auch darum kümmern, wie wir die Finanzkrise insgesamt vernünftig aufarbeiten können. Ich bin der Meinung - darin teile ich ausdrücklich die Position von Herrn Steinbrück -, dass uns die Auswirkungen auf das Einlagensicherungssystem, auf andere Banken, die dort Einlagen hatten, und auf die Finanzierung der Realwirtschaft deutlich mehr Steuergelder für die Rettungsaktion gekostet hätten, wenn wir die IKB nicht in der jetzigen Form erhalten hätten. ({13}) Deshalb ist in der Gesamtabwägung vielleicht ein einzelner Detailschritt kritikfähig, aber die gesamte Richtung ist aus meiner Sicht ausdrücklich zu unterstützen. ({14}) Das Thema Landesbanken ist bereits angesprochen worden. Ich glaube, dass es für die Zukunft dringend notwendig ist, nachhaltige und tragfähige Geschäftsmodelle zu entwickeln, und dass es dazu anderer Strukturen bedarf. Ich rate aber dazu, dass wir als Bundestagsabgeordnete und als Bund diesen Prozess dort, wo wir gefordert sind, wohlwollend begleiten und unterstützen. Ich weise aber darauf hin, dass diese Institute keine Bundesbanken, sondern Landesbanken sind. Deshalb sollten bitteschön zunächst einmal die Eigentümer ihre Verantwortung wahrnehmen, bevor wir Fragen und Probleme diskutieren, für deren Lösung wir gar nicht direkt zuständig sind, sondern bei denen wir höchstens Hilfestellung leisten können. Insofern sollten wir unsere Rolle an dieser Stelle richtig verstehen. ({15}) - Dieser Zwischenruf mag ein guter Beitrag zum bayerischen Landtagswahlkampf sein. Ob er uns in der Krise hilft, bezweifele ich. Ich will noch einmal die Frage der Bankenaufsicht aufgreifen. Ich glaube, dass es richtig ist, dass wir eine engere Zusammenarbeit der nationalen Aufseher brauchen. An der Stelle müssen auch Vorkehrungen für Krisensituationen getroffen werden. Wenn freitagnachmittags eine Krisensituation eintritt, dann geht es nicht an, dass man erst montagmorgens beginnt, zu recherchieren, wer die zuständigen Gesprächspartner sind. Es muss Pläne geben, wie man in solchen Krisenfällen vorzugehen hat. Es sind auch Überlegungen notwendig - darin unterstütze ich Herrn Steinbrück ausdrücklich -, welche Rolle die Europäische Zentralbank in der Finanzaufsicht auf europäischer Ebene spielen kann. Auch diese Aufgabe müssen wir lösen. Ich unterstütze für meine Fraktion ausdrücklich, dass wir beim Rating verbindliche Spielregeln brauchen. Es geht nicht an, dass jemand Produkte kreiert und gleichzeitig in diesem Bereich die Bewertungen vornimmt. ({16}) Das ist nicht akzeptabel. Deswegen brauchen wir verbindliche und überwachbare Kontrollmechanismen. Ich teile auch ausdrücklich die Auffassung in der Frage der Eigenkapitalunterlegung: Es kann nicht sein, dass Finanzprodukte risikofrei gehandelt werden können. Notwendig ist vielmehr eine Eigenkapitalunterlegung, durch die derjenige, der Finanzprodukte auf den Markt bringt, ein Eigenrisiko trägt. Insofern hoffe ich, dass wir heute die Chance nutzen, unser System nicht kleinzureden. Wir sollten vielmehr die Chance nutzen, die in dieser Krise liegt, Erkenntnisse zu gewinnen, um die Märkte für die Zukunft weiter zu stabilisieren. Ich würde mich freuen, wenn auch diese Debatte dazu einen Beitrag leisten würde. Vielen Dank. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist Oskar Lafontaine für die Fraktion Die Linke. ({0})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, dass mit dem Wort „Finanzmarktkrise“ die Krise, über die wir heute reden, nicht ausreichend beschrieben ist. Nach unserer Auffassung geht es nicht um eine ökonomische Krise, sondern um eine Krise der geistigen und moralischen Orientierung der westlichen Industriegesellschaften. ({0}) Um verständlich zu machen, was ich damit meine, will ich zuerst darlegen, wie das Ganze begonnen hat und wie vor einigen Jahren die Auffassung der großen Mehrheit derjenigen, die an der Diskussion teilgenommen haben, war. Im Jahre 1996 hat der Bundesbankpräsident Tietmeyer vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos gesprochen. Dort sagte er, gerichtet an die Politiker und Wirtschaftsführer, die dort versammelt waren: Meine Herren, Sie alle sind jetzt der Kontrolle der internationalen Finanzmärkte unterworfen. - Wenn heute ein Bundesbankpräsident so etwas sagte, würde er wahrscheinlich gleich in eine Heilanstalt eingeliefert werden. Aber damals wurde diese Aussage mit großem Beifall von allen Versammelten aufgenommen. Sie fand auch großen Anklang in der deutschen Öffentlichkeit. Man sieht: Die damalige Überzeugung und Auffassung war tatsächlich, dass die internationalen Finanzmärkte alles richtig regeln, dass sie die richtigen Findungsprozesse in Gang setzen werden, während die Politik nichts anderes zu tun hat, als diesen Findungsprozessen Rechnung zu tragen und ihnen zu folgen. Wer ein Zeugnis von einem relativ kritischen Politiker von der linken Seite haben will, dem möchte ich Joschka Fischer zitieren, der in den damaligen Auseinandersetzungen gesagt hat: Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ihr Politik gegen die internationalen Finanzmärkte machen könnt! - Wenn Sie nur diese zwei Aussagen als Beispiel nehmen, dann stellen Sie fest, in welchem Ausmaß man sich damals geirrt hat und wie sehr die Fehlorientierung der Politik durch die internationalen Finanzmärkte erzwungen wurde. Für uns war dies ein Prozess, den ich wie folgt beschreiben möchte: Das war eine Verabschiedung von der Demokratie und vom Sozialstaat. Die Folgen tragen wir alle heute. ({1}) Wenn ich von der Verabschiedung von der Demokratie durch die internationalen Finanzmärkte spreche, dann will ich auf die Definition der Demokratie zurückkommen, die entscheidend ist, um das beurteilen zu können. Demokratie ist nicht nur ein formaler Prozess. Viele glauben, es sei Demokratie, wenn man regelmäßig zur Wahlurne gehen könne. Ich wiederhole, dass die klassische Definition der Demokratie von den Ergebnissen her kam. Wir bezeichnen eine gesellschaftliche Ordnung dann als demokratisch, wenn die Entscheidungen so getroffen werden, dass die Interessen der Mehrheit bei den Entscheidungen berücksichtigt werden. Genau dies ist nicht eingetreten, sondern das glatte Gegenteil. Deshalb ist die Demokratie nachweislich verabschiedet worden. ({2}) Das glatte Gegenteil besteht in dem, was Sie, Herr Bundesfinanzminister, offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmen wollen, nämlich dass die Reallöhne, die Renten und die sozialen Leistungen - das ist ein einmaliger Vorgang - trotz einer wachsenden Wirtschaft und der Prozesse, die ich hier nur kurz ansprechen kann, fallen. Genau das ist eingetreten. Inhaltlich wird die große Mehrheit der Menschen nicht mehr an der wachsenden Wirtschaft beteiligt. Wir haben aufgrund des Regimes der internationalen Finanzmärkte keine soziale Marktwirtschaft mehr. ({3}) - Jemand hat gerade „dummes Zeug“ dazwischengerufen. Am Schluss seiner Ausführungen hat der Bundesfinanzminister genau das, was ich beschrieben habe, gesagt. Das sei seine Vorstellung von sozialer Marktwirtschaft. Wenn das aber seine Vorstellung von sozialer Marktwirtschaft ist, dann müsste er zumindest zur Kenntnis nehmen, dass es ihm bisher nicht gelungen ist, diese zu realisieren. Nun stellt sich die Frage, wie man die geistig-moralische Umorientierung der Gesellschaft - das ist immer ein ganz schwieriger Prozess - überhaupt in Gang setzen kann. Niemand wird darauf eine Antwort geben können, die weiter trägt als von hier bis zur nächsten Festveranstaltung. Aber im Grunde genommen muss man zuerst die Frage aufwerfen: Ist beispielsweise die Forderung nach Transparenz geeignet, den Prozessen zu begegnen? Ich sage: Transparenz hat nur dann einen Sinn, wenn aus ihr irgendwelche Konsequenzen abgeleitet werden. ({4}) Wenn man feststellt, dass alles ganz schlimm sei, dann mag Transparenz herrschen. Aber dann macht Transparenz keinen Sinn. Man muss auch nicht die großartigen Finanzinnovationen verstehen, um zu erkennen, was eigentlich los war. Ganz zum Schluss haben Sie leise etwas zu den Renditeerwartungen gesagt. Aber wir alle wussten seit vielen Jahren das, was fast täglich auf den Wirtschaftsseiten der Zeitungen stand: Wir, der Betrieb oder die Bank, wollen eine Kapitalrendite von 25 Prozent. - Sie haben das jetzt als schizophren bezeichnet. Herr Bundesfinanzminister, Sie hätten früher sagen müssen: Das ist verrückt. ({5}) Das einfache Beherrschen der Prozentrechnung hätte zu der Überlegung führen können, dass dann, wenn der ganze Kuchen nur um 2 bis 3 Prozent größer wird, nicht manche Kuchenstücke um 25 Prozent größer werden können. ({6}) Dies ist das, was ich als geistig-moralische Dimension bezeichne und was hier eben sichtbar geworden ist. Dass man eine Elite hatte, die völlig durchdrehte, kann man sich an folgendem Beispiel klarmachen: Stellen Sie sich vor, ein älterer Mann oder eine ältere Frau wäre zu einer Bank oder Sparkasse gegangen, hätte gesagt, er bzw. sie habe 2 000, 3 000 Euro gespart und wolle jetzt 25 Prozent Zinsen. Die Bankangestellten hätten einen Knopf gedrückt und irgendeinen hilfreichen Geist aus dem Hause gebeten, diesem Mann bzw. dieser Frau zu helfen, weil er bzw. sie geistig verwirrt sei und nach Hause oder in ein Altersheim gebracht werden müsse. Wenn aber Herr Ackermann oder sonst jemand so etwas sagt, dann wird Beifall gespendet. Dies ist Ausdruck der moralischen Verwerfung unserer Gesellschaft. ({7}) Diese Verwerfung ist aber nicht nur festzustellen, sondern sie hatte auch erhebliche Implikationen für die gesellschaftliche Entwicklung in den letzten Jahren. Die gesellschaftliche Entwicklung in den letzten Jahren habe ich doch beschrieben. Was bedeutete denn die Aussage „Sie sind alle der Kontrolle der internationalen Finanzmärkte unterworfen, und wir haben keine Möglichkeit, irgendetwas dagegen zu tun“? Es wurde doch auch hier in diesem Parlament immer wieder gesagt: Wer nicht so oder so handelt, den bestrafen die Märkte. - Man müsste einmal googlen, um herauszufinden, wie viele von Ihnen oder wie viele frühere Kolleginnen und Kollegen immer wieder gesagt haben: Wer nicht Sozialabbau betreibt, den bestrafen die internationalen Finanzmärkte. - Das war die ständige Rede in vielen Parlamenten, auch im Deutschen Bundestag. ({8}) Deshalb gibt es nicht nur Folgen für die Sicherheit der Einlagen der Bankkundinnen und Bankkunden - ich will gar nicht von der Immobilienentwicklung sprechen, übrigens auch der hier in Berlin -, von denen hier gesprochen wird; vielmehr sind die Hauptbetroffenen die Bürgerinnen und Bürger, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Rentnerinnen und Rentner und die Empfänger sozialer Leistungen, die aufgrund dieser Unterwerfung unter die internationalen Finanzmärkte mit fallenden Löhnen, fallenden Renten und sinkenden sozialen Leistungen bezahlen müssen. Das ist der gesellschaftliche Zusammenhang. ({9}) Dass Sie, Herr Bundesfinanzminister, immer noch keine Lehren daraus gezogen haben, haben Sie in Ihrer Haushaltsrede zu Protokoll gegeben. Dort reden Sie in einer Situation - man fasst es nicht -, in der der amerikanische Finanzminister - Sie haben das richtig dargestellt 5 Prozent des Sozialproduktes einsetzen muss, um die Märkte zu stabilisieren, von einer weiter sinkenden Staatsquote. Man fasst es manchmal nicht! ({10}) - Das Lachen wird Ihnen noch vergehen, Herr Bundesfinanzminister. Sie werden sich mit dieser Prognose lächerlich machen. Das bitte ich zu Protokoll zu nehmen und dick zu unterstreichen. ({11}) Eine weiter sinkende Staatsquote - das ist die Sprache der internationalen Finanzmärkte, die Sie in Ihrer Haushaltsrede gebrauchten; denn deren Credo ist: Je weiter die Staatsquote sinkt, umso besser geht es den internationalen Finanzmärkten. ({12}) Das haben Sie jetzt selbst zu Protokoll gegeben. Sie haben zu Protokoll gegeben, dass dann, wenn wir eine Staatsquote wie vor einigen Jahren hätten, die jährlichen Ausgaben 114 Milliarden Euro höher wären. Wissen Sie jetzt, warum wir andere Leistungen für Sozialhilfeempfänger haben, warum die Renten nicht steigen und warum wir keine Investitionen in die öffentliche Infrastruktur tätigen? ({13}) Genau diese fehlerhafte Philosophie ist die Ursache für diese schlimme Fehlentwicklung. ({14}) Das Hauptproblem ist aufgrund des Imperativs der internationalen Finanzmärkte die Privatisierung der Sozialversicherungssysteme. Ich wiederhole hier: Privare heißt berauben. Die Privatisierung der Sozialversicherungssysteme hat dazu geführt, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Rentnerinnen und Rentner erhebliche Verluste in Kauf nehmen müssen. Wie man auf so etwas stolz sein kann, entzieht sich unserer Kenntnis. ({15}) In dem gleichen Zuge hat man dann die Sicherheit, nach der jetzt wieder gerufen wird, nämlich die staatlich garantierte Rente immer mehr in Misskredit gebracht und erzählt: Nur dann, liebe Rentnerinnen und Rentner, wenn ihr den internationalen Finanzmärkten vertraut und wenn ihr euch privat versichert, werdet ihr die Kapitalrenditen haben, mit denen ihr euren Lebensabend gestalten könnt. - Das war doch die Philosophie, nach der hier die Rentengesetzgebung erfolgt ist. Sie wollen alles das heute nicht mehr wahrhaben, aber es ist eine Tatsache. ({16}) Wenn Sie das nicht wahrhaben wollen, dann schauen Sie sich die Ergebnisse Ihrer Rentenformel an. Die Ergebnisse Ihrer Rentenformel werden wir hier immer wieder vortragen, bis Sie irgendwann einmal akzeptieren, dass die Ergebnisse zum Handeln zwingen. Die Ergebnisse der Rentenformel sind, dass jemand, der 1 000 Euro im Monat verdient, also im Niedriglohnsektor beschäftigt ist - dieser wird aufgrund der Unterwerfung unter die internationalen Finanzmärkte in Deutschland immer größer; er ist mittlerweile der größte aller Industriestaaten -, eine Rentenerwartung von 400 Euro hat. Das ist eine Schande. Diese Rentenformel darf nicht bestehen bleiben, auch wegen der internationalen Finanzmärkte nicht. ({17}) Der OECD-Durchschnitt ist nicht 400 Euro, sondern 730 Euro. In unserem Nachbarstaat Dänemark, der auch auf diesem Globus liegt, also ebenfalls den Zwängen der Globalisierung unterworfen ist, sind es 1 200 Euro. Man muss das dreimal lesen. Man glaubt es ja gar nicht. ({18}) - Der Zwischenruf war richtig. Lest es nach! Die Frage ist, warum wir in Deutschland eine solche Sonderentwicklung haben. Immer mehr Menschen merken, dass das Unterwerfen unter die internationalen Finanzmärkte ein Fehler war. Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, werden dafür bei den nächsten Wahlen die Quittung bekommen. Warten Sie nur ab! ({19}) Dasselbe gilt natürlich auch für die Lohnentwicklung. Sinkende Löhne bei steigendem Sozialprodukt, das gab es noch nie. Die Unterwerfung unter die internationalen Finanzmärkte mit dem Imperativ „Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung“ führte dazu, dass die Löhne immer weiter ins Rutschen kamen. Wir haben jetzt Leiharbeit: Deregulierung. Wir haben jetzt befristete Arbeitsverträge: Deregulierung. Wir haben jetzt Minijobs und Midijobs: Deregulierung. Wir fummeln am Kündigungsschutz herum: Deregulierung. Wir fummeln an den Tarifverträgen herum: Deregulierung. Wir haben auch die Finanzmärkte dereguliert. Die Parole der Zeit ist nicht mehr Deregulierung - der Irrglaube des Neoliberalismus -, sondern ein Staat, der reguliert, im Interesse der Menschen, der Bürgerinnen und Bürger. ({20}) - Ach Gott, wie erbärmlich! Ich muss das wiederholen. Hier schreit ein Kollege, Herr Hinsken, glaube ich, dazwischen, das sei Kommunismus. Gerade hat der Finanzminister doch gesagt, man müsse regulieren. Ja sitzt denn ein Kommunist auf der Regierungsbank? ({21}) Machen Sie sich doch nicht lächerlich! Die ganze Welt erkennt jetzt, dass Regulierung auf den internationalen Finanzmärkten notwendig ist, und Sie diffamieren oder diskreditieren die Forderung nach Regulierung als Kommunismus. Man fasst es wirklich nicht mehr. Zu der Frage, was zu tun ist, möchte ich jetzt einige Punkte ansprechen. Erstens zu einem Punkt, von dem Sie, Herr Bundesfinanzminister, nicht gesprochen haben. Wir sind der Überzeugung - das möchte ich hier für meine Fraktion noch einmal erklären -, dass das Wechselkursregime heute völlig falsch ist, da es zu Spekulation verleitet, und dass daher ein seit 20 Jahren auf dem Tisch liegender Vorschlag aufgegriffen werden muss, nämlich die Stabilisierung der Wechselkurse der Leitwährungen, wozu mittlerweile auch die chinesische Währung gehört. Es geht um Zielzonen, die international bereits seit vielen Jahren gefordert werden. Der Nobelpreisträger Robert Mundell hat sie kürzlich in einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wieder gefordert. Solange Sie dazu nichts sagen, so lange werden Sie den ersten Einbruch nach dem Zusammenbruch des BrettonWoods-System nicht in Angriff nehmen. ({22}) Das Zweite ist die Regulierung des internationalen Kapitalverkehrs. Das hatte der Herr Schmidt gemeint, Herr Bundesfinanzminister. Er hat schon vor 20 Jahren gesagt, dass man wie im Autoverkehr, wie im Schiffsverkehr und wie im internationalen Flugverkehr Regeln braucht. Oder nehmen Sie einen Spekulanten wie Soros, der gesagt hat: Wenn schon das Kapital in wenigen Monaten in eine kleine Volkswirtschaft hineinfließen kann - das war damals die Krise in Thailand -, dann muss man zumindest Ventile haben, damit das flüchtige Kapital nicht von einem Tag auf den anderen wieder abfließt und so die ganze Volkswirtschaft ruiniert. - Also, die Kontrolle des internationalen Kapitals ist die zweite Forderung, die ich hier vortragen möchte. ({23}) Die dritte Forderung ist das Austrocknen der Steueroasen. Sie glauben doch nicht, dass Sie die Dinge in den Griff bekommen, dass Sie Ordnung in die internationalen Finanzmärkte bekommen, wenn sich viele Industriestaaten augenzwinkernd weiter Steueroasen halten, in denen Geld gewaschen wird und sich nicht versteuertes Geld immer mehr anhäuft. ({24}) Zu begrüßen ist, dass jetzt endlich erkannt ist: Man muss die Ratingagenturen zumindest kontrollieren. Wir sagen: Die Ratingagenturen gehören in gesellschaftliche Verantwortung. So wie es nicht sinnvoll wäre, die Zulassung von Medikamenten der Pharmaindustrie zu überlassen, so wenig ist es sinnvoll, die Zulassung von Finanzprodukten der Finanzindustrie zu überlassen. ({25}) Das ist eine unmögliche Vorgehensweise. Es ist anerkennenswert, dass man das jetzt wenigstens erkannt hat. Natürlich brauchen wir internationale Regeln der Bankenaufsicht. Die sind schon seit Jahrzehnten in Arbeit. Es sind einige Verbesserungen erreicht worden. Aber sie haben offensichtlich nicht ausgereicht; sonst hätten wir die Fehlentwicklungen jetzt nicht. Solche Regeln haben nur dann Sinn, wenn sich alle daran halten; davon - das muss ich fairerweise sagen - war schon die Rede. Kommen wir zu der eigenen Verantwortung. Es ist immer wunderbar, dass man auf die internationale Finanzregulierung zeigt und die eigene Verantwortung nicht gelten lassen will. Da kann ich den Redner der FDP unterstützen. Sie hätten einmal über Ihre eigene Verantwortung sprechen müssen. Ich möchte anführen, dass im Koalitionsvertrag genau das gefordert worden ist, was Sie hier kritisieren. Ich lese Ihnen einmal vor, was im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SDP unter dem Stichwort Finanzmarktpolitik steht: Produktinnovationen und neue Vertriebswege müssen nachdrücklich unterstützt werden. Wenn man beim Geldhandel schon von Produktinnovationen spricht, dann ist höchste Vorsicht geboten. Dazu wollen wir die Rahmenbedingungen für neue Anlagenklassen in Deutschland schaffen. Hierzu gehören … der Ausbau des Verbriefungsmarktes … ({26}) Das ist genau der Schrott, der bei der IKB gehandelt wurde, wo auch noch ein Staatssekretär dabei saß. Sie haben es doch ermöglicht, dass dieser Schrott gehandelt wurde. ({27}) Das steht hier im Koalitionsvertrag. Wieso sagen Sie dazu nichts? Sie stehen hier völlig mit in der Verantwortung. Dasselbe gilt natürlich für die Hedgefonds, die allerdings unter der Vorgängerregierung zugelassen worden sind. Nachdem Sie die Folgen von Hebelwirkungen erkannt haben, hätten Sie längst etwas unternehmen müssen, um dieses Treiben zu beenden, dass man sich zu 1 Euro 40 Euro hinzu leiht und damit Finanzmärkte oder ganze Unternehmen in Unordnung bringt. ({28}) Warum haben Sie nichts unternommen? Es ist ja jetzt so passend, auf die USA zu zeigen und zu sagen, dort sei alles ganz schlimm gewesen. Nein, packen Sie sich an die eigene Nase; dann haben Sie genug in der Hand, Herr Bundesfinanzminister! Stellen Sie sich einmal Ihrer eigenen Verantwortung! ({29}) Was die Zweckgesellschaften angeht, ist es ja gut, dass über Basel irgendetwas gekommen ist. Sie saßen die ganze Zeit über dabei, vertreten durch Ihren Staatssekretär, als die Risiken in den Zweckgesellschaften versteckt worden sind. Machen Sie deswegen hier nicht den Clown, Herr Bundesfinanzminister. Sie tragen die Verantwortung für diese Fehlentwicklung und können nicht immer so tun, als säßen Sie zwar dabei, hätten aber keine Verantwortung. Ihr Name ist doch nicht Hase; so viel ich weiß, ist er immer noch Steinbrück. ({30}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir stellen jetzt fest, dass die Formel von der Überlegenheit freier Märkte an die Wand gefahren wurde und dass wir jetzt nicht mehr der Kontrolle der internationalen Finanzmärkte unterworfen sind, sondern dass die internationalen Finanzmärkte uns zwingen, aufgrund der Fehlentwicklungen Entscheidungen zu treffen, die kontraproduktiv sind und die wir gar nicht treffen wollten, weil sie mit großen Verlusten verbunden sind, deren Ausmaß noch niemand absehen kann. Wir haben jetzt gelernt, dass die Aussage, wir könnten nicht gegen die internationalen Finanzmärkte regieren, umgedreht werden muss: Wir müssen gegen die internationalen Finanzmärkte regieren, um endlich wieder Ordnung in das System zu bringen. ({31}) Im Grunde genommen geht es bei dieser Fragestellung zunächst natürlich um die Stabilisierung der internationalen Finanzmärkte. In Bezug darauf ist eine Reihe von Entscheidungen der letzten Zeit richtig gewesen; nicht alle, aus Zeitgründen kann ich darauf nicht weiter eingehen. Das Thema, um das es hier geht, fasse ich in einem Satz zusammen: Es geht hier um die Wiederherstellung der Demokratie und des Sozialstaats. ({32})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der nächste Redner ist Ludwig Stiegler für die SPDFraktion.

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir jetzt diese Zelebration von Selbstgerechtigkeit erlebt haben, ({0}) habe ich mir im Stillen gedacht: Oh, Oskar! ({1}) Denn der Herr war einmal ein mächtiger Mann in dieser Republik: Bundesfinanzminister und Parteivorsitzender der SPD. Er hat damals schon Ansätze gehabt, sich um die internationalen Märkte zu kümmern, und auch erste robuste Gespräche geführt. Nachdem er nicht über Nacht zum Erfolg kam, ist er abgehauen. ({2}) Peer Steinbrück hat an Max Weber erinnert. Max Weber hat einmal gesagt, Politik ist das Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich. Oskar Lafontaine hat damals geglaubt, es sei ein Soufflé. Als er dann auf Granit oder auf hartes Holz gestoßen ist, ist er geflüchtet. Der alte Cicero hätte gesagt: effugit, evasit, wie der alte Catilina, abgehauen. Aber hier jetzt selbstgerechte Reden halten! Er hätte der Sankt Michael eines guten Finanzsystems werden können. Stattdessen ist er der Luzifer der PDS geworden. ({3}) Das ist wirklich schade; denn nur wenige hier in diesem Hause hatten jemals eine solche Chance wie er, in Regierungsverantwortung die Welt so zu korrigieren, wie es dem eigenen Weltbild entspricht. Dazu gehören aber Marathonqualitäten: Ausdauer, Geduld und die Fähigkeit, wieder aufzustehen, nachdem man, wie jetzt die Amerikaner, ganz gewaltig auf die Nase gefallen ist. Wer aus der Verantwortung, die er übernommen hat, flüchtet - Gysi ist übrigens vom selben Typ -, sollte anderen keine Predigten halten, meine Damen und Herren. ({4}) Natürlich stimmt es auch mich heiter, wenn ich sehe, wie hier in Deutschland manche Liberale in und außerhalb der FDP ({5}) vom Deregulierer zum Regulierer werden, wie plötzlich die Bremser der Regulierung, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist, vom Bremserhäuschen auf den Führerstand der Lokomotive drängen. Das erinnert mich direkt an Bond-Filme; das ist Bond-like. Es passt auch zu den Geschehnissen auf den Finanzmärkten, auf welch abenteuerliche Weise hier versucht wird, sich an die Spitze zu setzen. Es waren Gerhard Schröder, Hans Eichel, Peer Steinbrück, die letzte und die derzeitige Bundesregierung, die im internationalen Gespräch mit den Engländern und den Amerikanern auf die Probleme hingewiesen haben. Nachdem Peer Steinbrück in der Haushaltsdebatte noch gemeint hat, ich hätte die Engländer vielleicht zu hart angegangen, habe ich mich gefreut, dass er mir heute ein Vorbild gegeben hat, wie heftig man auftreten und zugleich auf dem internationalen Parkett verkehren kann. Das hielt ich schon für eine tolle Sache. ({6}) Meine Damen und Herren, die Marktteilnehmer haben versagt. Die Marktdisziplin war verschwunden. Oskar Lafontaine hat wiederum nicht recht, wenn er sagt, Transparenz alleine würde nicht helfen. Vielmehr ist es so: Die Marktdisziplin hängt von der Transparenz ab. Wenn die Leute wissen, welche faulen Eier jemand im Nest hat, dann werden sie zögern, ihm noch Geld für den Kauf zusätzlicher fauler Eier zu geben. Deshalb ist Transparenz das Erste und das Notwendigste. ({7}) Nun zur Regulierung: Ich war mit dem Kollegen Poß seit etwa zehn Jahren jährlich bei der amerikanischen Community. Wenn ich mir überlege, was die uns erzählt haben! Wenn wir schüchtern und diplomatisch zurückhaltend Regulierungsprobleme angesprochen haben, dann wurde uns entgegnet: Alles sei bestens. Ich habe mir nun gestern Nacht die Anhörung von Paulson und Bernanke vor dem Senat angetan. Da sagte der Paulson plötzlich: Wir haben ein völlig überaltertes, kaputtes, mit vielen Löchern versehenes Regulierungssystem, das seiner Aufgabe nicht mehr gerecht geworden ist. Sie hatten aber damals die Macht, all dies zu vertuschen. Jetzt, nachdem sie auf die Nase gefallen sind, lassen sie endlich die Hosen herunter. Was man da sieht, ist nicht sehr schön. ({8}) Meine Damen und Herren, diese Eingeständnisse sind hilfreich, wenn wir mit den Amerikanern darüber reden, in welcher Form die europäischen Banken, die in Amerika aktiv waren, an der Rettungsaktion, die da jetzt abläuft, beteiligt werden. Ich denke, eine Regierung, unter deren Augen sich die Subprime-Krise bis 2007 entwickeln konnte und die zugeschaut hat, wie Betrüger Kredite ausgegeben und dann gebündelt weiterverkauft haben, sollte darüber nachdenken, wie alle Marktteilnehmer in der Welt, die man so hinters Licht geführt hat, entschädigt werden können. Das wäre die richtige Antwort und nicht die Behauptung, es sei eine Gnade, dass die europäischen Banken mit Niederlassungen in Amerika an der Bewältigung der Krise teilhaben könnten. Stichwort Ratingagenturen: Ich kann mich erinnern, welche Aufregung von gewisser Seite kam, als Joachim Poß und Jörg-Otto Spiller dieses Thema hier im Parlament zur Sprache gebracht haben, und wie viele sich als Schirmherren für die Ratingagenturen aufspielten. Jetzt ist endlich klar, dass diese Position unhaltbar ist. Oskar Lafontaine hat die Verbriefung angegriffen. Ich möchte ausdrücklich sagen, dass dies wieder so ein Irrtum ist. Eine anständige Verbriefung wie zum Beispiel der deutsche Pfandbrief oder die Standardisierung durch die TSI in Frankfurt, die es auf dem deutschen Bankenplatz gibt, ist ein Segen für die Finanzindustrie, weil die Menschen wissen, was sie einzahlen und zurückbekommen. Es geht also nicht um die Verbriefung als solche, sondern um betrügerische Aktivitäten im Umfeld der Verbriefung. Deshalb schlage ich vor, dass wir uns Gedanken über ein deutsches Verbriefungsgesetz und eine DIN-Norm über die Verbriefung machen, damit wieder Vertrauen in die Märkte zurückkehrt. ({9}) Dieses Originate to distribute Model ist in der jetzigen Phase gescheitert. Es ist übrigens bereits 2007 gescheitert. Denn wer die Indizes betrachtet, stellt fest, dass erst die Vintage 2007 zu diesen Problemen geführt hat. Meine Damen und Herren, der Finanzminister hat die Bilanzierungsregeln nicht angesprochen. Ich denke, auch um die Bilanzierungsregeln werden wir uns zu kümmern haben. Wenn die jetzige Situation unter dem Bilanzregime des soliden HGB erfolgt wäre, dann hätte die Beute in der Spitze nicht so groß und dann hätten die Abschreibungen in der Flaute nicht so groß sein können. Das jetzige sogenannte Fair Value Accounting ist weder fair noch beschreibt es einen Value. Es ist vielmehr das Ergebnis derer, die in Quartalen denken und schnelle Beute wegschaffen wollen. Darüber hinaus müssen wir uns darum kümmern, dass nicht private Standardsetzer die Buchführungsregeln bestimmen, sondern dass die Staaten da wieder ein maßgebliches Wort mitreden. Auch die Europäische Union darf sich ihre Bilanzregeln nicht von der Wall Street diktieren lassen, sondern muss eigene Bilanzregeln aufstellen. ({10}) Meine Damen und Herren, zum Stichwort Markt und Staat. Hier haben wir eben gelernt, dass all die Heldinnen und Helden, die in guten Zeiten keinen Staat sehen wollen, in schlechten Zeiten in die sicheren Häfen flüchten. Wenn bei ihnen die Angst die Gier verdrängt, dann kaufen sie Dollaranleihen, selbst wenn diese nur Promillesätze an Rendite abwerfen. Deshalb haben wir aufgrund dieser Krise das moralische Recht, dass wir eine klare Neuordnung auf den Märkten vornehmen. Schließlich hat bereits Kant gesagt, dass die Freiheit durch die Grenze definiert wird. Diesen Auftrag lassen wir uns nicht mehr nehmen. Uns steht in Amerika, in England und überall da, wo die Deregulierer gesiegt haben, nun ein Fenster der Gelegenheit offen; selbst unsere Liberalen und die Liberalen außerhalb der FDP sind regulierungsfromm geworden. Lasst uns dieses Fenster nutzen, damit wir zu Finanzmärkten kommen, die der Realwirtschaft und nicht der Spekulation dienen! ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun Fritz Kuhn für die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vorstellung, dass man ungezügelt Risiken eingehen kann, um persönliche Gewinne zu erzielen und volkswirtschaftliches Wachstum zu erzeugen, also dieses vermeintliche Perpetuum mobile einer finanzmarktgetriebenen Ökonomie unendlicher Renditen, ist gescheitert. Ich glaube, dass man das so nüchtern und klar sagen muss. Es ist natürlich nicht nur - das ist mir wichtig - ein technisches Problem von Regeln, sondern es ist auch ein moralisches und grundlegendes Problem von Gesellschaften, die sich dieser Vorstellung und Ideologie verschrieben haben. ({0}) Wenn Sie in der Realökonomie einer Industriegesellschaft zum Beispiel im Industriebereich im langjährigen Schnitt Renditen zwischen 8 und 12 Prozent erreichen können, dann ist die Vorstellung, dass Sie auf den Finanzmärkten Renditen von 25 Prozent erreichen können, eine Illusion. Was geschehen wird, wenn man dies glaubt, ist, dass die Risiken zurückschlagen, und das haben sie getan. Das eigentliche politische Problem besteht allerdings darin, dass die Risiken nicht bei denen zurückschlagen, die sie eingegangen sind - jedenfalls nicht in erster Linie -, sondern bei vielen Leuten, die mit den Risiken gar nichts zu tun hatten, zum Beispiel bei uns, den Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen, die die Zeche zahlen müssen. ({1}) Ich nenne einmal Zahlen, die die Dimension deutlich machen: Gerade wird in den Vereinten Nationen darüber diskutiert, dass zur Erreichung der Millennium Development Goals 70 Milliarden US-Dollar für ganz Afrika notwendig wären, also 10 Prozent von den 700 Milliarden US-Dollar, die jetzt zum Management der Finanzmarktkrise in den Vereinigten Staaten notwendig sind. Ich glaube, dieses Verhältnis sagt alles: Wir bringen die 70 Milliarden US-Dollar für Afrika anscheinend nicht auf - jedenfalls ist man nicht gewillt -, aber die 700 Milliarden US-Dollar bringt man auf; man muss sie aufbringen, weil sonst alles zusammenbricht. Über dieses moralische Missverhältnis müssen wir in der Tat reden. ({2}) Gescheitert ist eine neoliberale Konzeption einer Marktwirtschaft, die staatliche Regeln als Wachstumsbremsen versteht. Ich finde es übrigens interessant, dass sich zwei Parteien in Deutschland, nämlich die CDU und die FDP, anschicken, die nächste Regierung zu bilden, die sich genau dieser Ideologie immer verschrieben haben. Das muss an dieser Stelle auch einmal gesagt werden. ({3}) Früher war es, wenn es um Regeln oder gar Regulierungen für die Märkte ging, bei der CDU üblich, zu sagen, dies seien Fesseln für die Wirtschaft. Ich erinnere an eine Situation im Jahr 2001, als die Riester-Rente eingeführt wurde, und zwar mit strengen Kriterien - wir haben damals darüber gestritten - in Bezug auf Riesterfähige Produkte, weil wir verhindern wollten - das hat Lafontaine gerade vor lauter Aufregung übersehen -, dass das Geld der Leute, die für das Alter ansparen, in unregulierte, hochriskante Finanzanlagen gesteckt wird. Walter Riester hat damals Regeln und die entsprechende Zertifizierung gefordert, und wir haben das unterstützt. ({4}) Damals hat Frau Merkel, die jetzige Bundeskanzlerin, die sich heute für Regulierungen einsetzt, im Bundestag gesagt: Wir werden durch Ihre Reform ein bürokratisches Monstrum erleben mit einem zusätzlichen Zertifizierungsgesetz, mit Kriterien, von denen noch niemand weiß, wie sie erfüllt werden sollen, mit Fondsstrukturen, über die das „Wall Street Journal“ gestern nur einen einzigen Satz schreibt: „Die Ausgestaltung dieser Fonds geht in die total falsche Richtung.“ Das ist die Bewertung der internationalen Finanzwelt über das, was Sie hier vorgelegt haben. Das war Frau Merkel 2001: gegen den Versuch, privat für das Alter angespartes Geld in Deutschland durch klare Regulierung und Regeln zu schützen. Ich finde, Frau Merkel, da sollten Sie einmal einen Irrtum eingestehen, denn da lagen Sie völlig falsch. Heute reden Sie von Regulierungen, wir haben sie schon damals notwendigerweise gefordert. ({5}) Ich finde aber, Herr Lafontaine, was Sie hier veranstaltet haben, ist ein starkes Stück. Sie werfen alles in eiFritz Kuhn nen Topf. Das ist übrigens das Grundschema Ihrer politischen Rhetorik: Alles hängt mit allem zusammen, und deswegen muss alles in einen Topf. ({6}) Sie sagen, weil die Finanzmärkte - da sind wir nicht auseinander - jetzt versagt haben, sind auch alle anderen sozialen Reformen einfach nicht richtig, und deswegen muss man sie alle einkassieren. Was hat denn, bitte schön, das Problem in unserem Rentensystem, das auch ein Demografieproblem ist, da der Altersaufbau der Gesellschaft die Rentensysteme in der Zukunft instabil macht, mit der Finanzmarktkrise zu tun? Es hat gar nichts damit zu tun! ({7}) Deswegen werden wir die private Säule der Alterssicherung in Deutschland nicht zurücknehmen, nur damit Sie Ihre billigen populistischen Reden halten können. ({8}) Wir haben in Bezug auf den demografischen Wandel - so der OECD-Bericht zur Rente, den Sie einmal zur Kenntnis nehmen müssten - in Deutschland viel erreicht; aber was wir noch nicht erreicht haben, ist eine Prävention gegen aufwachsende Altersarmut. Da muss man tatsächlich etwas tun. Die richtige Antwort wäre gewesen, sich die Frage zu stellen, mit welcher weiteren Rentenreform wir es schaffen können, Renten über das Grundsicherungsniveau aufzuwerten; denn es kann in der Tat nicht sein, dass jemand, der sein Leben lang voll erwerbstätig war, nur das Grundsicherungsniveau der Rente erreicht. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schui?

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Herbert Schui (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003844, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Kuhn, ist Ihnen Folgendes bekannt: Wenn man 25 Prozent Rendite einfährt, dann steigt der Gewinnanteil am Volkseinkommen. Wenn der Gewinnanteil am Volkseinkommen steigt, muss notwendigerweise der Anteil sinken, der für soziale Zwecke ausgegeben wird, oder es müssen die Löhne sinken oder beides. ({0}) Infolgedessen muss man das eine mit dem anderen verbinden. ({1}) Würden Sie mir da recht geben? ({2})

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie können sich wieder setzen; Ihre Frage ist schön, aber sie hat mit meiner Rede und mit meiner Argumentation nichts zu tun. ({0}) Deswegen werde ich darauf nicht weiter eingehen. ({1}) Man muss natürlich die Frage stellen - da höre ich von Herrn Steinbrück überhaupt nichts -, wer für die Kosten, die im Zuge der Bewältigung der internationalen Finanzmarktkrise auf uns zukommen, eigentlich aufkommt. Die Antwort „Es kann nur der Steuerzahler sein“ - der Steuerzahler ist nämlich Leidtragender der Bankabschreibungen, weil dadurch die Steuereinnahmen des Staates zurückgehen - ist mir zu fatalistisch. Deshalb sagen wir Grünen: Jetzt ist die Stunde der Einführung einer Börsenumsatzsteuer oder Finanzumsatzsteuer, ({2}) weil wir die Finanzspekulationen damit begrenzen können und weil wir damit ein geeignetes Finanzinstrumentarium für notwendige Maßnahmen haben. ({3}) - Herr Dehm, für Ihr Leiden gibt es in jeder Apotheke ein Zäpfchen mit Baldrian zur Beruhigung. Ich glaube, die richtige Strategie für Sie wäre: Schicken Sie jemanden hin, oder gehen Sie selbst! Es wird hier streitig darüber diskutiert, ob es Marktversagen oder Politikversagen ist. Ich finde diesen Streit, mit Verlaub gesagt, müßig. Marktversagen ist immer auch eine Form von Politikversagen, ({4}) weil in einer funktionierenden Marktwirtschaft die Politik die Aufgabe hat, den Rahmen so zu setzen, dass die Finanzmärkte nicht so leicht versagen können, wie dies heute der Fall ist. Im Unterschied zu Herrn Lafontaine sagen wir: Da wir solide Finanzmärkte brauchen - ohne Finanzmärkte sind keine Investitionen möglich; dieser Aspekt kam bei Ihnen nicht vor und das scheint Ihnen schnurzpiepegal zu sein -, brauchen wir ein neues System klarer Regeln für diese Finanzmärkte, um ein Versagen, wie wir es jetzt erlebt haben, in der Zukunft ausschließen zu können. ({5}) Ich will es kurz machen. Dazu gehören eine effektive Rahmenordnung für die Ratingagenturen, eine europäische Finanzkontrolle, die Unterlegung von Risiken bei Verbriefungen mit ausreichendem Eigenkapital sowie die aufsichtsrechtlich und handelsrechtlich adäquate Erfassung von Zweckgesellschaften, was heute noch nicht der Fall ist, und schließlich die Begrenzung der Anzahl der Aufsichtsratsmandate. Angesichts der Situation bei der KfW und bei anderen haben wir schon den Eindruck, dass zu einer Aufsichtsratkultur eine größere Qualifikation, ein besserer Überblick und mehr Zeit für die Ausübung des Mandates, als dies heute der Fall ist, gehören. ({6}) Die Bundesregierung hat zwar wichtige Themen international auf die Tagesordnung gesetzt - Herr Steinbrück, das wollen wir nicht bestreiten -, aber mit Blick auf KfW, IKB und die Landesbanken muss man sagen, dass sie auf nationaler Ebene die Finanzkontrolle nicht richtig koordiniert hat. Angesichts der Tatsache, dass im Zusammenhang mit der IKB insgesamt 10,7 Milliarden Euro in den Sand gesetzt wurden, werden Sie, Herr Finanzminister, verstehen, dass meine Fraktion genau untersuchen will, woran dies lag, wer dafür die Verantwortung trägt und wie die Verantwortlichkeiten zwischen KfW, IKB, Wirtschaftsministerium, Finanzministerium, BaFin und Bundesbank hin- und hergeschoben worden sind. Denn es ist kein normaler Vorgang in einer Demokratie wie der unsrigen, dass einfach 10,7 Milliarden Euro in den Sand gesetzt werden und dann nur gesagt wird, dass dies Gegenstand einer Diskussion auf einem G-7-Treffen ist. ({7}) Herr Finanzminister, da der Leiter der Abteilung 7 Ihres Hauses Mitglied im Verwaltungsrat der BaFin und im Aufsichtsrat der IKB ist und er für die Rechtsaufsicht über die BaFin, die Bundesbank und die KfW zuständig ist - er bereitet auch die Sitzungen des Verwaltungsrates der KfW vor -, müssen wir uns fragen, ob da nicht eine systematische und organisierte Unverantwortlichkeit statt notwendiger Verantwortung vorliegt. ({8}) Obwohl die IKB ihre außerbilanzlichen Aktivitäten im Geschäftsbericht dargelegt hat, haben weder BaFin noch Bundesbank noch BMF das davon ausgehende Risikopotenzial adäquat eingeschätzt. Ich stelle die Frage, ob sich diese Bundesregierung unter Ihrer Verantwortung und auch unter der von Herrn Glos, der sich bei diesen Fragen immer verdrückt, der Verantwortung beim Beteiligungscontrolling überhaupt bewusst war. Diese Frage werden und müssen wir stellen. Wir hoffen darauf, dass die FDP sich besinnt und einem Untersuchungsausschuss zustimmt. ({9}) Ich will zum Abschluss noch etwas zu der Rolle der Landesbanken sagen. Es ist völlig klar, dass wir nach der bayerischen Landtagswahl erneute Diskussionsrunden und wahrscheinlich auch die entsprechenden Finanzprobleme bei einigen Landesbanken, vor allem bei der bayerischen und bei der WestLB, erfahren werden. Ich finde, dass es notwendig ist, dass in diesen beiden Bundesländern dann die Verantwortung, zum Beispiel auch für unterlassene Reformen bei den Landesbanken, offen auf den Tisch gelegt wird. ({10}) Die Landesbanken haben im Zusammenhang mit hoch spekulativen Finanzmarktprodukten ein viel zu großes Rad gedreht. Ich finde, dass dies klar auf den Tisch muss, weil darin Risiken, übrigens auch für die Sparkassenwelt, die jetzt zu Recht so gelobt worden ist, verborgen sind. Ein oder zwei Landesbanken sind nach unserer Überzeugung für die Bundesrepublik Deutschland ausreichend. Sie haben die Aufgabe, passgenaue Finanzprodukte zu entwickeln, sodass die dezentrale Struktur der Sparkassen ihnen im internationalen Finanzmarkt nicht zum Nachteil wird. Außerdem haben sie eine Zentralinstitutsfunktion sowie eine Refinanzierungsfunktion, und sie müssen gerade für den Mittelstand Währungsrisiken absichern können. Das entscheidende Problem, das wir haben, ist doch, dass mittelständische Unternehmen nicht ungeschützt in die Exporte und in die Globalisierung gehen können. Die sächsische Landesregierung, Herr Finanzminister, hat sich bei der Aufklärung im Untersuchungsausschuss und während der Krise bei der sächsischen Landesbank darauf berufen, dass sie selbst nur die Rechtsaufsicht habe, aber die Fachaufsicht bei der BaFin und beim Bundesfinanzministerium liege. Diese Rechtsauffassung ist zwar umstritten, aber ich möchte schon die Frage stellen: Warum hat eigentlich, als die BaFin in der Kritik an der sächsischen Landesbank nicht weiterkam, niemand vom Bundesfinanzministerium eingegriffen und klargemacht, dass das Gebaren der sächsischen Landesbank nicht funktioniert? ({11}) Ich will damit sagen: Die Finanzmarktkontrolle in Deutschland ist insgesamt ein Problem, und deswegen erwarten wir als produktives Ergebnis eines Untersuchungsausschusses auch, dass danach ein klares Bild entsteht, wie die Instrumente zu schärfen sind und eine kluge Aufteilung der Finanzaufsicht in Deutschland stattfindet, die wir bislang nicht haben. ({12}) Damit komme ich zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es ist ein schwieriges Thema, es ist ein wichtiges Thema. Man darf durch die internationale Diskussion nicht von den Hausaufgaben ablenken, die man in Deutschland machen muss. Deswegen werden wir das Ganze untersuchen. Ich hoffe, die FDP kann sich noch dazu durchringen. Den Entwurf des Rechnungshofsberichts werden Sie inzwischen gelesen haben. Auch dieser macht deutlich, dass es ein Finanzaufsichtsproblem in Deutschland gab. Deswegen sollte jetzt jeder an seiner Stelle die Hausaufgaben machen, und dann wird es in der Zukunft mit mehr Regeln eine Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft geben können, aber nicht - das sage ich Ihnen voraus -, wenn wir jetzt zwei Monate diskutieren. Dann interessiert dieses Thema niemanden mehr. Es ist ein Problem, das wir oft in Deutschland haben, dass die Themen hochgehypt werden, und wenn es um neue Regeln geht, dann schwindet das Interesse. Arbeiten Sie desweFritz Kuhn gen alle daran mit, dass wir bessere Regeln bekommen, als wir sie in der Vergangenheit hatten. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Diether Dehm von der Fraktion Die Linke.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kuhn, Sie haben eben gesagt, es sei jetzt an der Zeit, zur Devisenumsatzsteuer zu kommen. Das ist sicher richtig, aber Sie hatten diese Devisenumsatzsteuer - genannt Tobin-Tax, nach dem Nobelpreisträger James Tobin - vor Ihrer rot-grünen Koalition bereits gefordert, und Sie haben, als Sie in der Koalition waren, nicht das Mindeste dafür getan, dass eine solche Tobin-Tax, wie von SPD und Grünen vor der vorletzten Bundestagswahl gefordert, eingeführt und umgesetzt wird. ({0}) Hätten wir die Tobin-Tax, wäre diese Krise nicht mit solcher Schwere über uns hereingebrochen. Es ist jetzt auch an der Zeit. Nachdem James Tobin die Devisenumsatzsteuer gefordert hat, wäre es aber schon damals und immer an der Zeit gewesen. Sie haben versagt und versuchen, mit wohlfeilen Phrasen darüber hinwegzutäuschen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Kuhn, bitte.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich will es ganz kurz machen. Selbstverständlich haben wir in der Koalition über die Tobin-Tax, die es inzwischen übrigens in 25 Varianten in der internationalen Diskussion gibt, gesprochen. ({0}) - Sie haben doch eine Frage gestellt, Herr Dehm. ({1}) Haben Sie ein Cholerikerproblem, oder was ist hier los? Hören Sie doch zu. Kurzinterventionen haben doch nur einen Sinn, wenn einen auch die Gegenmeinung interessiert. Wir haben uns mit der Tobin-Tax beschäftigt. Ich will Ihnen aber eine Illusion nehmen: Zu glauben, mit der Einführung einer Börsenumsatzsteuer oder einer TobinTax, egal nach welchem Modell, wäre die jetzige Finanzmarktkrise zu verhindern gewesen, ist einfach dummes Zeug und zeigt, dass Sie das Instrument, das Sie fordern, selbst überhaupt nicht verstehen. Sie sollten sich noch einmal darüber informieren. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Hans-Peter Friedrich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003124, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was Sie, Herr Lafontaine, hier abgeliefert haben, war ein Beweis für Ihre große rhetorische Fähigkeit, mit der Sie die Wahrheit konsequent verbiegen. ({0}) Sie haben vor allem bewiesen, dass Sie sich Ihrer Verantwortung entziehen und das hinterher verschleiern können. Ich finde es schäbig, dass Sie 1999 nach sechs Monaten Amtszeit aus dem Amt geflohen sind und gesagt haben: Das ist mir alles zu schwierig. ({1}) Ich will aber auch etwas Inhaltliches sagen. Die Sachverständigen sind sich heute einig, dass der Auslöser für die Finanzmarktkrise die seit 2003 in den USA betriebene Politik der niedrigen Zinsen ist. Ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie als Bundesfinanzminister damals in mindestens jeder zweiten Rede nach einer Politik des billigen Geldes gerufen haben. Sie haben gesagt: Die Zinsen müssen gesenkt werden. - Wären wir Ihnen gefolgt, wären wir heute arm dran. ({2}) Die Finanzmarktkrise macht zwei Dinge deutlich: Erstens. Finanzmärkte brauchen Spielregeln, um ihre dienende Funktion für die Marktwirtschaft zuverlässig ausfüllen zu können. Damit ist noch nicht gesagt, wer diese Spielregeln aufstellt. Damit ist auch noch nicht gesagt, wie flexibel diese Spielregeln sind. Damit ist nur gesagt, dass sie gelten müssen und eingehalten werden müssen. Herr Kuhn, ich sage Ihnen eines: Völlig sinnlos ist es, die eigenen, die nationalen Akteure auf den Finanzmärkten mit Fesseln zu belegen, sodass sie ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Was wir in der Vergangenheit wollten und in der Gegenwart wollen, sind Spielregeln für den internationalen Bereich. Mit Basel II hat sozusagen eine Ausweitung auf die globalen Finanzmärkte begonnen. Wir wollen aber auch verhindern - das wollten wir in der Vergangenheit, das wollen wir in der Gegenwart und in der Zukunft -, dass unsere nationalen Finanzmarktakteure gegenüber den Wettbewerbern in anderen Ländern benachteiligt werden. Dazu stehen wir. ({3}) Dr. Hans-Peter Friedrich ({4}) Ich denke, wir sollten der Bundesbank bei der Frage, wer die Einhaltung der Spielregeln überwacht, eine besondere Bedeutung beimessen. Die Bundesbank hat in der schwierigen Situation der letzten zwölf Monate immer wieder bewiesen, dass sie die Dinge mit sehr viel Sachverstand und Expertise in den Griff bekommen kann. Ich denke, wir sollten unbedingt über eine Stärkung der Rolle der Bundesbank nachdenken. Das Zweite, was die Finanzmarktkrise deutlich macht, ist, dass die deutsche Bankenlandschaft, die oft als renditeschwach, verstaubt und altmodisch verspottet wurde - der Minister hat das heute Morgen sehr deutlich ausgeführt -, viel besser ist als ihr Ruf. Sie trägt dazu bei, dass wir heute, in dieser schwierigen Situation, besser dastehen als andere Länder. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Finanzmarktkrise aufgrund ihres Ausmaßes Auswirkungen auf die Wirtschaft, auf die Konjunktur, auf die Situation in Deutschland insgesamt haben wird, und zwar in erster Linie über das Nachlassen der Nachfrage aus dem Ausland, also über den außenwirtschaftlichen Kanal. Denn diejenigen Immobilienbesitzer in den USA, in Spanien und in Großbritannien, die noch vor wenigen Monaten glaubten, sie seien reich, weil sie eine teure Immobilie haben, und jetzt wissen, dass sie es nicht sind, fragen auch nicht deutsche Produkte nach. Insofern werden wir natürlich eine Nachfragedelle bekommen. In dieser Situation ist es wichtig, dass die deutsche Wirtschaft in den letzten drei Jahren, in der Zeit der Großen Koalition, gegen externe Schocks und gegen nachlassende Konjunktur widerstandsfähiger geworden ist. Die Unternehmen haben zusammen mit den Arbeitnehmern ihre Hausaufgaben gemacht. Zum Teil waren schmerzhafte Anpassungsprozesse notwendig, die jetzt von der Linken genutzt werden, um gegen die Marktwirtschaft zu agitieren. Ich sage aber: Diese Anpassungsprozesse haben dazu beigetragen, dass die soziale Marktwirtschaft gestärkt wird und dass unsere Wirtschaft heute diesen Herausforderungen der internationalen Krise wettbewerbsfähig und stark begegnen kann. Insgesamt hat die gute Ertragslage in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, dass die Eigenkapitalausstattung der Unternehmen, die notwendig ist, bis heute verbessert wurde, dass eine gewisse Innenfinanzierung der Unternehmen möglich wird und dass sie weniger auf Kredite angewiesen sind als Unternehmen in Volkswirtschaften anderer Länder. Dennoch bleiben Kredite in einer Wirtschaft wichtig. Es ist erfreulich und erstaunlich zugleich, wie attraktiv die Kreditbedingungen für die Kreditnehmer trotz alledem in der aktuellen Situation geblieben sind. Der Grund ist - auch ich möchte das wiederholen, weil es wahr ist und nicht oft genug gesagt werden kann -, dass wir ein Sparkassen- und Genossenschaftssystem haben, das stabil und gesund ist und sich über Privateinlagen relativ leicht finanzieren kann. Die drei Säulen - private, öffentliche und genossenschaftliche Banken - haben sich auch in turbulenten Zeiten bewährt. Herr Minister, ich sage Ihnen unsere Unterstützung zu, wenn es darum geht, in Brüssel bei der Europäischen Kommission für diese drei Säulen der Stabilität unseres Finanzwesens zu kämpfen. ({5}) Das deutsche System der Universalbanken zeigt, dass in der Krise am Ende die Solidität entscheidend ist. Die Moden, die hin und wieder zu unsolidem Handeln verlocken mögen, wurden von dieser Bundesregierung in den letzten drei Jahren richtigerweise zurückgewiesen. Das gilt im Übrigen auch, wenn ich das sagen darf, für das deutsche Versicherungswesen. Die deutschen Versicherer haben traditionell einen Anlageanteil, der sehr wenig risikoreich ist. Insofern haben wir auch hier einen stabilen Anker für die Finanzsituation in Deutschland. Dennoch hat die Eigenkapitalausstattung der deutschen Banken in den letzten Monaten gelitten. Mancher Banker in Deutschland hat sich von der Euphorie anstecken lassen und ist Risiken eingegangen, die er selber nicht überblickt. Aber auch hier gilt: In jeder Krise liegt eine Chance. Diese Finanzkrise bietet die Chance, dass sich Banken in Deutschland auf die heimischen Kreditmärkte besinnen, auf die Märkte, die man überblicken kann und denen die solide Substanz des deutschen Mittelstandes zugrunde liegt. Jeder von uns hat in seiner Praxis als Abgeordneter schon erlebt, dass deutsche Banken bzw. Kreditinstitute Mittelständlern Kredite verweigert haben, weil sie nicht genügend Sicherheiten bieten konnten. Dieselben Kreditinstitute haben sich nicht abhalten lassen, internationale Finanzprodukte zu kaufen, deren Risiko sie aufgrund der Komplexität überhaupt nicht überblicken konnten. Der schnelle Gewinn auf den anonymen Finanzmärkten war verlockender als die mühsamen Kreditverhandlungen mit den mittelständischen Unternehmen. Das sollte Warnung und Lehre für unsere Banken in Deutschland sein. ({6}) Der Direktor des Instituts für Wirtschaft, Professor Michael Hüther, hat dazu am 19. September im Handelsblatt geschrieben: Banken brauchen einen festen Anker im heimischen Markt, das klassische Geschäft mit Privatkunden und Unternehmen wird seine Bedeutung sichern. Jeweils steht das hohe Gut Vertrauen im Mittelpunkt, das eine Anonymisierung nur in Grenzen verträgt. Ja, das Risiko einer Kreditgewährung im eigenen Umfeld ist erfassbar. Es ist besser erfassbar als die anonymen Risiken irgendwo jenseits des Atlantiks, die in irgendwelchen Verbriefungen gebündelt werden und deren Risiko überhaupt nicht mehr zuordenbar war. Es bleibt deswegen in der Krise die Hoffnung, dass die Banken an die Realwirtschaft in Deutschland wieder näher heranrücken und sich auf die Solidität und die Substanz des deutschen Mittelstandes besinnen. Eines ist klar: Kurzfristig mag man an den Finanzmärkten traumhafte und verlockende Gewinnchancen haben; aber langfristig zählt nur die Substanz dessen, was auf der Welt wirklich erwirtschaftet und erarbeitet wird. Dr. Hans-Peter Friedrich ({7}) ({8}) Deswegen tun alle Akteure im Finanz- wie im Wirtschaftsbereich gut daran, zwischendurch immer wieder einmal zu fragen: Wo ist eigentlich die Substanz all dessen, was sich da an Gewinnen und Erträgen aufbaut? Hätte man die Frage „Wo ist die Substanz?“ schon 2000/ 2001 in der Dotcom-Krise gestellt, wären so manche Enttäuschung und so manches Desaster vielleicht ausgeblieben. Je komplexer die Finanzinstrumente werden, umso mehr sind Aufklärung, Information und Vertrauen notwendig. Dennoch: Jedes Kreditgeschäft ist ein Risikogeschäft, und es muss auch Kreditgeschäfte mit hohen Risiken geben. Denken Sie an den jungen Mann, den Existenzgründer, der eine Geschäftsidee, eine Innovation, eine Erfindung hat, aber kein Geld, kein Eigenkapital. Er muss jemanden finden, der das Risiko eingeht, ihm dieses Geld zu geben, mit der Aussicht, entweder mit ihm reich zu werden oder alles zu verlieren. Er findet nur dann jemanden, wenn der Betreffende in der Lage ist, dieses hohe Risiko in kleine Scheiben aufzuteilen und auf viele Schultern zu verteilen. Deswegen sind innovative, moderne Finanzinstrumente an den Finanzmärkten notwendig, um Risiko zu streuen. Manches große Projekt ist nur realisierbar, wenn Risiken auf die Schultern vieler verteilt werden. Diese Spielräume müssen wir den Finanzmärkten lassen. Ich sage das im Hinblick auf die Regulierungseuphorie, die jetzt als Reaktion auf die Deregulierungseuphorie, die wir vorher hatten - das Pendel schlägt sozusagen in die Gegenrichtung aus -, folgt. Wir brauchen strengere Anforderungen an die Ratingagenturen, ohne Frage. ({9}) Es kann nicht sein, dass diejenigen, die Risiken beurteilen und Kategorien von Risiken bilden, auf die andere vertrauen, an den Finanzprodukten, die sie beurteilen sollen, selber mitverdienen; deswegen müssen wir die Interessenkonflikte, die sich bei den Ratingagenturen aufbauen, beseitigen. Das ist eines der wichtigen Themen. Aber täuschen wir uns nicht: Ein Kredit bleibt immer eine Frage von Risiko, von Vertrauen. Beide Kategorien, „Risiko“ und „Vertrauen“, können nicht durch Gesetze und nicht durch Verordnungen ersetzt werden. Auch darüber sollten wir uns im Klaren sein. Deswegen wäre es ein verheerender Fehler, wenn wir, wie das gefordert wird, staatlich autorisierte oder staatliche Ratingagenturen einrichten würden. Kein Mensch kann nämlich wirklich ernsthaft daran denken, dass wir mit solchen staatlichen Ratingagenturen, mit denen wir quasi ein Qualitätssiegel für Finanzprodukte schaffen würden, den Managern, den hochbezahlten Akteuren am Finanzmarkt, ihr Risiko und ihr Geschäft abnehmen. Dieses Risiko und dieses Geschäft müssen sie schon selber betreiben; denn dafür werden sie gut und hoch bezahlt. Wir brauchen - auch das ist ein Appell vieler Sachverständiger in dieser Frage und in dieser Zeit - mehr Langfristorientierung an den Finanzmärkten. Das Wort „Nachhaltigkeit“ aus dem Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes muss, auch als Kategorie, noch mehr Eingang in die Finanz- und Wirtschaftspolitik finden. Langfristiges Denken hat in Deutschland, sowohl im Wirtschafts- als auch im Finanzbereich, Tradition. Denken wir gemeinsam an den Mittelstand und die deutschen Familienunternehmen: Sie denken langfristig, sie denken über Generationen, sie denken nachhaltig. Sie sind der stabile Faktor in unserem wirtschaftlichen Geschehen. Ich appelliere an den Koalitionspartner, in diesem Zusammenhang bei der Diskussion um die Erbschaftsteuer ({10}) diesen Gesichtspunkt nicht zu unterschätzen. ({11}) Die Krise ist nicht ausgestanden. Aber Deutschland, die deutsche Wirtschaft und die deutschen Finanzakteure sind gut aufgestellt und können die Krise besser verkraften als andere. Es besteht wahrlich kein Grund zum Jubel, aber auch kein Grund zum Pessimismus. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Rainer Brüderle, FDP-Fraktion. ({0})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die dramatische Entwicklung auf den internationalen Finanzmärkten hat gravierende Auswirkungen. Keiner kann sie abschließend bewerten. Niemand hat angesichts der komplizierten Lage einfache und perfekte Lösungen zur Hand. Aber ganz so überraschend kam das alles nicht - außer für die Bundesregierung. Die internationale Finanzkrise musste erst deutliche Spuren in Deutschland hinterlassen, bevor auch der Finanzminister endlich aufgewacht ist. Als die Finanzmärkte beim G-7-Finanzministertreffen im Frühjahr letzten Jahres international zum politischen Thema wurden, war er auf Safari. Die Europäische Zentralbank hat seit über einem Jahr vor dieser Entwicklung gewarnt. Der Sachverständigenrat hat im letzten Jahr den Risiken auf dem Finanzmarkt ein ganzes Kapitel gewidmet. Nichts ist geschehen, um sich auf diese Risiken vorzubereiten. Aber Sie haben auch schon als Landesminister im Kreditausschuss der WestLB nicht an den Sitzungen teilgenommen und sich für derartige Fragen nicht besonders engagiert. Im Zusammenhang mit der IKB-Krise ist die Beförderung Ihres Stellvertreters im Aufsichtsrat zum Staatssekretär bemerkenswert. Es wird nicht genügen, bei der KfW zwei Vorstände als Bauernopfer hinauszuwerfen. Die KfW hat ein Strukturproblem. Die Struktur ist nicht stimmig. Sie muss geändert werden. ({0}) Ich sage hier nur: Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis. Es ist fatal, wenn ein solches Institut anfängt, Banker zu spielen. Der Einkauf bei der IKB und die Führung dieser Bank kennzeichnen eine Misere, für die der Steuerzahler hart bezahlen muss. Der Unterschied zwischen der Entwicklung in den Vereinigten Staaten und der in Deutschland ist: In den Vereinigten Staaten wurde auf den Finanzmärkten ohne Schiedsrichter gespielt. In Deutschland haben die Schiedsrichter mitgespielt. Das ist das Fatale. ({1}) Es ist auffällig, wie die Marktstrukturen verteilt sind. Die Sparkassen haben einen Marktanteil von 50 Prozent und die Genossenschaftsbanken von 15 Prozent: Zwei Drittel der deutschen Banken sind also staatlich oder vergesellschaftet. ({2}) - Dagegen habe ich nichts. Aber auffällig ist, dass bei den Landesbanken, die politisch determiniert sind - die Vorstände werden nicht nach Qualität, sondern nach der Farbenlehre rekrutiert - und deren Aufsichtsgremien politisch besetzt werden, der größte Mist geschehen ist. Es wurde gestern von Frau Professor Müller auf einer Tagung in der Humboldt-Universität gesagt, dass an den internationalen Finanzmärkten die Regel galt: If you can’t sell it, sell it to the Landesbank. - Das ist eine traurige Entwicklung. Die Konsequenz kann aber nicht sein, dass der Staat sich noch mehr in das Bankengeschäft einmischt. Die geniale Lösung der sozialen Marktwirtschaft ist, den Wettbewerb als Entmachtungsinstrument funktionsfähig zu halten. Es sind in der Tat keine entsprechenden Regeln geschaffen worden, und diejenigen, die es gibt, sind nicht eingehalten worden. Grundlegende Prinzipien müssen beachtet werden. Schon einer der Gründungsväter, Walter Eucken, hat gewarnt, dass etwas schief läuft, wenn zwei Dinge eintreten: Kartellierung, sprich eine ungesunde Konzentration, und Punktualismus, also das, was die Amerikaner machen. Bei der einen Bank greifen sie ein, die andere lassen sie Konkurs gehen. Nach welchen Kriterien das geschieht, ist nicht nachvollziehbar. Bei Bear Stearns übernimmt man einen Notenbankkredit von 35 Milliarden Dollar, also auf gut Deutsch: Man druckt Geld. Die Lehman Brothers Bank lässt man in Konkurs gehen. Wer entscheidet das? Der heilige Priesterrat, der Senatsführer? Genau das ist der Verstoß gegen die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. ({3}) Die Gegner der sozialen Marktwirtschaft von links außen wie von rechts außen wittern jetzt Morgenluft: Die Finanzmärkte sollen kontrolliert und Familienunternehmen verstaatlicht werden. - Ja, Kontrollen müssen sein, Regeln müssen verändert und auch strikter formuliert werden. Es kann aber kein Ersatz sein, die Dinge, statt sie der Marktentwicklung zu überlassen, durch neue staatliche Behörden zu gestalten. Das wäre genau die falsche Schlussfolgerung. ({4}) Die soziale Marktwirtschaft verträgt viele rostige Nägel. Man kann aber auch so viele in sie hineinschütten, dass sie sich übergeben muss. Man muss die Grundstrukturen in Ordnung bringen. Das gilt nicht nur hier. Man muss sich auch fragen, ob die Verfassung in den Betrieben funktioniert, ob die Aufsichtsräte nicht zu groß sind bzw. ob sie in der Lage sind, ihre Funktionen auszuüben. Ich war immer für eine Begrenzung der Zahl der Mandate auf maximal fünf, wobei ein Aufsichtsratsvorsitz doppelt zählen sollte. Ich kenne niemanden, der nebenbei 20 Mandate wahrnehmen kann. ({5}) Früher wurde die Zahl der Aufsichtsratsmandate durch die Lex Abs begrenzt. Bis heute hat die Häufung von Aufsichtsratsmandaten allerdings stark zugenommen. Funktioniert denn die paritätische Mitbestimmung in den Betrieben? ({6}) Stimmen die Verfassungen in den Betrieben? Ist das in Ordnung? Wurde nicht auch in anderen Bereichen, etwa im Energiesektor, eine so große Konzentration zugelassen, dass man sagen kann: Auch hier funktioniert der Wettbewerb nicht richtig? Beispiele sind Eon Ruhrgas mit einem Marktanteil von mehr als 80 Prozent, und die Stromversorger, die quasi abgezirkelte Versorgungsgebiete haben. In all diesen Fällen handelt es sich um Verstöße gegen Prinzipen der sozialen Marktwirtschaft. Ich bin dafür, dass wir auch wieder über die Grundlagen von Wirtschaftsordnungen diskutieren. Diejenigen, die immer wieder nach Gutsherrenart eingreifen wollen, dürfen es nicht leicht haben. Denn solche Eingriffe sind die rostigen Nägel, von denen ich eben sprach. Die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft müssen wieder mehr beachtet werden, damit sie funktioniert und damit die Feinde der sozialen Marktwirtschaft nicht die Oberhand gewinnen. Marktwirtschaft ist allemal besser als Planwirtschaft. Wir dürfen nicht jeden Unsinn der deutschen Geschichte wiederholen! ({7}) Meine Damen und Herren, der entscheidende Punkt ist, dass jetzt auch die Politik Konsequenzen zieht. Wir müssen die Situation in Ordnung bringen. Der Staat muss sich aus den Landesbanken zurückziehen. Dort hat er nämlich nichts zu suchen. Sie haben kein Geschäftsmodell. ({8}) - Meine Platte ist richtig, Herr Poß. Sie haben das nur noch nicht genug inhaliert. Seien Sie doch einmal ehrlich! Auch Sie wissen doch, wie traurig die WestLB ist, weil sie das Geld des Steuerzahlers verbrannt hat. In Rheinland-Pfalz müssten Sie mir eigentlich ein Denkmal setzen. Denn die Landesbank Rheinland-Pfalz habe ich rechtzeitig verkauft. Sie hat sogar noch Geld eingebracht. ({9}) Alle anderen Länder müssen jetzt Geld nachschießen. Sie müssen dafür zahlen, dass der eine oder andere, der Banker spielen wollte, unfähig war. ({10}) Dafür müssen die Steuerzahler, die für die Steuergroschen hart arbeiten, zahlen. ({11}) Hier wurde Misswirtschaft betrieben. Es werden aber keine Konsequenzen gezogen. Ich frage mich manchmal: Wie viele Milliarden muss man in Deutschland eigentlich verdummbeuteln, bevor endlich Konsequenzen gezogen werden? ({12}) Es gibt weitere Maßnahmen, die ergriffen werden müssen. Die Ratingagenturen müssen unabhängig sein. Wenn derjenige, der einen Test bestellt, dafür bezahlt, bekommt er das Ergebnis, das er bestellt hat. Ich frage Sie: Wer hat die Banker daran gehindert, selbst zu denken, anstatt mechanisch nach Ratings vorzugehen? ({13}) In den Banken arbeiteten viele 30-Jährige - nichts gegen 30-Jährige! -, die nicht viel Lebenserfahrung hatten, die aber meinten, die Welt anhand von Computermodellen steuern zu können. Sie haben aber nur herumgespielt. Sie haben Casino gespielt. Die Vorstände der Banken haben sie spielen lassen, weil sich das lange Zeit rentiert hat. Es ist eine Frage des Formats der Führungspersönlichkeiten, wie sie ihre Aufgaben wahrnehmen. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Brüderle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhn?

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr gern; denn meine Redezeit ist fast abgelaufen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Brüderle, ich teile Ihre Auffassung zur rheinland-pfälzischen Landesbank. Allerdings habe ich gerade vergessen, wie die Partei heißt, die in NordrheinWestfalen gegenwärtig mit der CDU koaliert und dort etwas verändern könnte. ({0})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kuhn, auch Ihnen wird nicht entgangen sein, dass die Geschehnisse bei der WestLB, das Fehlverhalten und das Fehlsteuern, lange Zeit vor dem Antritt der neuen Landesregierung stattgefunden haben. ({0}) Mit dem, was sie vorgefunden hat, musste sie vernünftig umgehen. Die vorherigen Landesregierungen in NRW haben Industriepolitik gespielt und sich überall eingekauft. Das ging schief. Ich traue der neuen Landesregierung zu, dass sie dieses Problem bald löst und sich endlich aus der Umklammerung befreit; denn alle müssen drauflegen. Es wird kein Geld verdient, sondern es wird Geld verbrannt. Dieses Geld könnten wir für Bildung, für Schulen, für die Umwelt und viele andere Bereiche sinnvoll verwenden. ({1}) Dem müssten selbst Sie zustimmen, auch wenn Sie jetzt schreien, weil Sie das nicht verstehen. ({2}) - Wir stellen nicht den Wirtschaftsminister in NRW, was sicherlich ein Fehler ist. ({3}) Zurück zu den Kernpositionen. Wir müssen diese Gelegenheit ergreifen, eine Systemdebatte zu führen, damit denjenigen, die, sich in einem Kostüm verbergend, etwas anderes wollen, das Handwerk gelegt wird. Die Schwachstellen müssen beseitigt werden, die Mechanismen müssen wieder wirken können, und die Grundprinzipien müssen wieder beachtet werden. Dann funktioniert das auch. Alles andere wäre eine schlechtere Lösung. Haben wir den Mut, diese Debatte offensiv zu führen! ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Nina Hauer für die SPD-Fraktion. ({0})

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Brüderle, aufgrund Ihrer Regierungszugehörigkeit in Nordrhein-Westfalen hatten Sie drei Jahre lang Zeit, bei der WestLB aufzuräumen. Ich glaube, das ist Ihnen nicht mehr rechtzeitig eingefallen. Deswegen haben Sie sich hier vergaloppiert. ({0}) Ich sehe schon, dass Opposition für Sie ein schwieriges Geschäft ist; denn sonst würden Sie hier ja nicht verzweifelt versuchen, eine Krise, die in den USA entstanden ist und dort ihre Auswirkungen hat, der Bundesregierung in die Schuhe zu schieben. Sie erwecken damit bei den Menschen nicht nur den Eindruck, dass die Politik das alles hätte verhindern können, sondern Sie lenken damit auch vom Versagen und von Fehleinschätzungen der Bankmanager und einem Verhalten ab, mit dem ohne jedes Maß an Verantwortung Risiken eingegangen wurden. ({1}) Herr Minister, ich teile das, was Sie hier zu den Ratingagenturen gesagt haben. Man muss doch einmal sagen: Wenn ich jemandem Geld leihe, dann lasse ich nicht nur die Ausfallwahrscheinlichkeit des Kredits durch eine Ratingagentur berechnen, sondern dann prüfe ich doch auch, wem, in welchem Marktumfeld und für was ich ihm das Geld gebe. Deswegen ist ein Instrument wie das Votum einer Ratingagentur immer nur so gut wie der Manager, der dieses Instrument nutzt. Da das in diesem Fall nicht geprüft wurde, finde ich, dass man schon sagen muss, dass in dieser Branche ein komplettes Versagen vorliegt. Das ist dafür verantwortlich, dass wir jetzt in dieser Situation sind. Wir können froh sein, dass wir in Deutschland nicht in diesem Maße betroffen sind. Der Minister hat ja einiges dazu gesagt: Das liegt an unserem Bankensystem und an unserem Wirtschaftssystem, aber auch daran, dass wir für mehr Transparenz und Verantwortung auf den internationalen Finanzmärkten in den letzten zehn Jahren sozialdemokratischer Verantwortung in diesem Ministerium einiges erreicht und auf den Weg gebracht haben. ({2}) Einige Voten und Beiträge der Opposition dazu sind mir noch gut in Erinnerung. Wir haben hier Basel II umgesetzt; dazu gab es ja eine internationale Vereinbarung. Man sieht in den USA jetzt das Missverhältnis zwischen dem Risiko, der Eigenkapitalunterlegung und der Ertragslage. Die außerbilanziellen Geschäfte, die auch in der IKB getätigt worden sind, sind mit Basel II nicht ohne Weiteres möglich. Diese Regeln waren damals aber noch nicht in Kraft. Es hat offensichtlich auch einen Hintergrund, dass sich die USA bisher geweigert haben, Basel II in ihre nationale Gesetzgebung zu implementieren. Die PDS hat sich damals übrigens enthalten. Ihnen geht ja immer alles nicht weit genug. Damit haben Sie aber nicht viel zu mehr Sicherheit, Stabilität und Transparenz auf den Finanzmärkten beigetragen. ({3}) Ich erinnere einmal an die Umsetzung der Transparenzrichtlinie, mit der die Meldepflicht für Stimmrechte ab einer Schwelle von 3 Prozent eingeführt wurde. Seit der Übernahme von Continental durch die SchaefflerGruppe ist es in der FDP diesbezüglich ruhig geworden. Sie waren damals dagegen und haben gesagt, 3 Prozent seien zu wenig. Heute sehen wir, dass wir mit 3 Prozent schon gut gefahren wären. Nachdem später das Risikobegrenzungsgesetz hinzugekommen ist, wäre eine solche Übernahme zwar auch noch möglich gewesen, aber sie wäre viel früher deutlich geworden. Dadurch wäre dem Zielunternehmen die Chance gegeben worden, sich entsprechend dazu zu verhalten. Die Berichtspflichten für börsenorientierte Unternehmen haben wir durch die Umsetzung der Transparenzrichtlinie ebenfalls eingeführt. Diese gibt es in den USA zwar auch, aber nicht in dem Maße, wie es sie nach der Umsetzung der europäischen Richtlinie hier in Deutschland gibt. Durch das Risikobegrenzungsgesetz haben wir dafür gesorgt, dass Aktien und vergleichbare Positionen hinsichtlich der Meldeschwellen zusammengerechnet werden. Das heißt, wenn dieses Gesetz schon früher in Kraft getreten wäre, dann wäre das, was die Schaeffler-Gruppe geplant hatte, klarer erkennbar gewesen. Das gilt auch für Fälle in der Zukunft. Das „acting in concert“ - also Absprachen zum gemeinsamen Vorgehen von Aktionären - wird transparenter. Verbotene Absprachen werden leichter nachweisbar. Die FDP hat im Ausschuss mit der Begründung dagegen gestimmt, dass neue Transparenzregelungen zum damaligen Zeitpunkt noch nicht vom Finanzmarkt verkraftet würden. ({4}) Dann sollten Sie aber jetzt nicht behaupten, dass der deutsche Gesetzgeber für das, was in den USA angerichtet worden ist, irgendeine Verantwortung hat. ({5}) Dann hätten Sie sich an der Einführung von mehr Transparenz an den Finanzmärkten beteiligen müssen. Das hätte besser zu Ihrer Rolle gepasst. Es ärgert mich, dass die Bürgerinnen und Bürger in den USA, die ihre Kredite nicht zurückzahlen können, in der Debatte keine Rolle spielen. Auch das wäre bei uns anders. Wir haben in den letzten Jahren einiges vorangebracht, damit sich auch private Anleger, die wenig Kapital am Finanzmarkt anlegen, darauf verlassen können, dass klare Regeln gelten. Ein Beispiel ist die Haftung für falsche Wertpapierprospekte. Produkte, deren Zinsen nach drei, vier Jahren ins Astronomische steigen, sind in Deutschland offenlegungspflichtig. Jeder, der in diese Produkte investiert, hätte das nachlesen können. Wir haben über die Verbriefungen gesprochen. Die Verbriefungen können von vielen Mittelständlern als Ausweg genutzt werden, wenn sie von den Banken keine Kredite bekommen. Das betrifft übrigens nicht die Sparkassen, sondern vor allem die vornehmen GeschäftsNina Hauer banken - ich komme ja aus der Nähe von Frankfurt -, die lieber Investmentgeschäfte gemacht haben, als kleinen Mittelständlern Geld zur Verfügung zu stellen. Die Verbriefungen waren eine Chance, diese Situation zu ändern. Deswegen haben wir das vorangetrieben. Es ist vorhin kritisiert worden, dass das im Koalitionsvertrag vereinbart wurde. Dass das, was verbrieft wird - das gilt auch für das, was nicht in Aktien verbrieft wird -, offenlegungspflichtig ist und nicht am grauen Kapitalmarkt untergeht, verdanken Sie den Aktivitäten dieser Bundesregierung. Damit sind wir, finde ich, für die kleinen Anleger auf unserem Finanzmarkt - nicht nur für die Banken - gut aufgestellt. ({6}) Beim Investmentmodernisierungsgesetz haben wir den Begriff des totalen Verlustes eingeführt, den es auf dem Finanzmarkt schon lange gibt. Das heißt, dass jemand, der in ein Hebelprodukt, ein synthetisches Produkt oder eine Option investiert, darüber informiert wird - je nach seiner finanziellen Leistungskraft oder auch seinen Kenntnissen des Finanzmarktes -, wann ein Totalverlust eintreten kann. Diese Regeln gelten in Europa. Wir haben sie auf unsere Situation in Deutschland zugeschnitten. Sie gelten nicht in den USA. Das Ergebnis sehen wir jetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kollegin Hauer, Sie haben eben die Verbriefung angesprochen. In diesem Zusammenhang möchte ich eine Frage an Sie richten. Es ist von vielen neuen Instrumenten die Rede, deren Einführung Sie für notwendig hielten. Ich zitiere aus einer Ihrer Reden, und zwar aus der vom 19. Mai 2006: Wir haben die Hedgefonds vor einigen Jahren in Deutschland zugelassen, weil wir deren Funktion für den Finanzmarkt kennen. Wir brauchen diese Fonds nicht nur im internationalen Vergleich und Wettbewerb, sondern auch, weil sie eine Rolle erfüllen, die kein anderes Finanzprodukt übernehmen kann. ({0}) Sie sind in der Lage, Währungsrisiken und Spekulationsrisiken aufzufangen … Ich glaube, wir wurden inzwischen eines Besseren belehrt. ({1}) Was die Verbriefung angeht, haben wir seit 2002 eine sehr rege Gesetzgebung. Aber wir sollten ehrlicherweise zur Kenntnis nehmen, dass es erst durch die letzte KWG-Novelle möglich wurde, dass bei einem Übergang der Grundschuld der Kreditnehmer nicht einmal mehr informiert werden muss. Dass heute sogenannte faule Kredite - also aus irgendwelchen Gründen nicht mehr rechtzeitig bediente Kredite - von der Bank einfach weitergegeben und die Kreditnehmer nicht einmal mehr informiert werden, haben Sie zu verantworten. Auch das ist ein wesentlicher Bestandteil der Verbriefung, die Sie jetzt wieder loben. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie wollten doch eigentlich eine Frage stellen. ({0})

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Höll, was in Ihrer Fraktion konsequent geleugnet wird, ist, dass das, was auf einem internationalen Markt zu kaufen ist, nicht vor unseren Grenzen haltmacht. Was wir aber tun können, ist, dafür zu sorgen, dass hier Regeln gelten, die nach unseren Kriterien aufgestellt werden. Dasselbe gilt auch für die Hedgefonds. Dass man als Privatanleger hier nicht in Hedgefonds investieren kann oder dass diese Fonds bestimmte Finanzierungsinstrumente nicht enthalten dürfen, haben Sie unserer Gesetzgebung zu verdanken. Im Übrigen gilt das auch für die Umsetzung der europäischen Richtlinie für Beratungsleistungen bei Finanzdienstleistungen insgesamt. Wir haben diese zum Teil entsprechend unseren nationalen Gegebenheiten verändert. Aber Sie haben sich im Finanzausschuss enthalten. Sie verweigern sich konsequent und tun so, als ob man das, was es auf den internationalen Finanzmärkten gibt, fernhalten könnte. Sie haben nicht den Mumm, zu sagen: Wenn es das schon gibt, dann soll das hier in Deutschland nach unseren Regeln funktionieren. In diesem Zusammenhang sind die Beispiele zu sehen, die Sie genannt haben. ({0}) - Das habe ich eben gesagt. Sie müssen zuhören! Ähnlich war es bei der Finanzaufsicht. Wir haben nun eine Allfinanzaufsicht in Deutschland. Das war damals ein großer Schritt. Für manche ist dabei das Abendland fast untergegangen. Aber es war richtig, die unterschiedlichen Aufsichtsgremien zusammenzuschließen. Wir haben in regelmäßigen Abständen die Aufsicht den Anforderungen der Finanzmärkte angepasst. Sie haben sich daran nicht beteiligt. Ich finde, dass wir heute eine Aufsicht haben, die den Herausforderungen gewachsen ist und in der Lage ist, die vorhandenen Risiken einzuschätzen. Dem sind parlamentarische Prozesse vorausgegangen, die noch nicht zu Ende sind; denn wir sehen, wie innovativ und schnell die Finanzmärkte voranschreiten. Aber wir müssen uns nicht von anderen, erst recht nicht von der Opposition, sagen lassen, dass unsere Aufsicht in den zur Rede stehenden Fällen versagt habe. ({1}) Für die SPD-Fraktion sage ich, dass wir vielen Vorschlägen zur Deregulierung der Finanzmärkte in den letzten Jahren widerstanden haben. Wir haben vielen von Verbänden geäußerten Einwänden - die Aufsicht werde den Markt kaputtmachen, oder die BaFin verursache eine Kreditklemme - widerstanden. Wir hatten dabei wenig Unterstützung von den Oppositionsfraktionen, die heute gern für sich in Anspruch nehmen, dass unser Finanzmarkt so robust aufgestellt ist. ({2}) Ich denke, dass wir einen Erfolg erzielt haben. Deutschland befindet sich aufgrund der internationalen Finanzmarktkrise zwar in einer schwierigen Situation. Wir können aber den Anlegern auf den Finanzmärkten, gerade denjenigen, die geringe Einkommen haben, sagen: Sie müssen sich nicht beunruhigen. Sie haben ihr Geld dort angelegt, wo Regeln gelten, die den Anleger schützen und die Finanzmärkte stabil halten. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Gerhard Schick, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich die Geschichte der Finanzmärkte anschaut, dann stellt man fest, dass es immer wieder große Krisen gab. Spekulationsblasen bauen sich auf. Dann, wenn sie platzen und die Vermögenswerte sinken, herrscht große Empörung. Alle reden plötzlich von Regulierung. Zwei Jahre später ist dann wieder Sendepause, und man hört dieselbe Argumentation wie zuvor. ({0}) Das können Sie an der Asien-Krise, der Krise des Hedgefonds Long Term Capital Management und dem Enron-Skandal beobachten. Die entscheidende Frage in der aktuellen Krise ist: Schaffen wir es diesmal, dass es anders wird? ({1}) Die Äußerungen aus den Regierungsfraktionen waren leider etwas ernüchternd. Herr Friedrich hat sich wieder mit dem ganz zentralen Satz geäußert: Aber unseren eigenen Akteuren dürfen wir auf keinen Fall Fesseln anlegen. - Das entspricht der Argumentation in jedem anderen Land: Wir schützen unseren Finanzplatz, beteiligen uns deswegen nicht an internationalen Regeln und dürfen vor allem nicht Vorreiter sein, wenn es um eine Verbesserung der Regeln geht. ({2}) Das ist genau die Argumentation, mit der Sie in zwei Jahren wieder business as usual machen werden. Das, was aus früheren Reden von Frau Merkel zitiert worden ist, charakterisiert das Programm, das ansteht, wenn Schwarz-Gelb nach der nächsten Bundestagswahl die Mehrheit erhält. Ich bin dankbar für diese Hinweise. ({3}) Das heißt, nach dem Willen der Union soll es nach der aktuellen Krise, wenn alle Aufregung vorbei ist, weitergehen wie bisher. Das ist nicht die Position von Bündnis 90/Die Grünen. Wir wollen andere Finanzmärkte. ({4}) Schauen Sie sich doch die spanische Aufsicht an! Sie hat es anders gemacht und ihren eigenen Akteuren einige Fesseln mehr angelegt. Das Bundesfinanzministerium muss mir in einem Schreiben zugestehen, dass die spanischen Banken besser dastehen, weil Spanien es anders gemacht hat. Eine jüngst veröffentlichte Studie über die City of London beklagt, dass der Nachteil des Finanzplatzes London ist, dass dort keine guten Regeln festgelegt worden sind. Ich finde, diese Erkenntnis müssen wir aus der Krise mitnehmen. Es lohnt sich, sinnvolle Regeln im eigenen Land aufzustellen, selbst wenn nicht alle anderen Länder mitmachen. Dazu haben Sie keinerlei Vorschläge vorgetragen, nicht im Ausschuss und auch nicht hier im Plenum. ({5}) Ich glaube, Sie ducken sich weg und versuchen, unter der Welle, die gerade die Finanzmärkte überspült, durchzutauchen, um nachher wieder an derselben Stelle aufzutauchen. Ich finde, das ist ähnlich fatal wie das, was Herr Lafontaine gemacht hat, der auf einer Welle surft, die die Menschen mitreißt, die Arbeitsplätze und Steuern der Menschen kosten wird, die nicht auf den internationalen Finanzmärkten spekuliert haben. Als Krisengewinnler hier einfach eine Show abzuziehen, wird der Situation überhaupt nicht gerecht. Beide Verhaltensweisen sind falsch, Wegducken und Surfen sind gleichermaßen unverantwortlich. ({6}) In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Frage, die Frau Hauer aufgeworfen hat, eingehen. Was ist denn die Verantwortung hier vor Ort? Wir haben zu Maßnahmen, die hier in Deutschland ergriffen werden könnten und sollten, von den Regierungsfraktionen und auch von Herrn Steinbrück nichts gehört. Es wurde immer nur von der internationalen Ebene und von Koordinierung gesprochen. Wunderbar: „King Henry“ als Vorbild, großes Tanzen bei internationalen Verhandlungen. Ich möchte ein konkretes Beispiel nennen, das zeigt, in welchem Bereich man etwas hätte tun können; wir haben dazu Vorschläge unterbreitet: Ein Anleger oder eine Anlegerin in Deutschland kauft im Juli 2008 ein Zertifikat, das „Deutschland Garant“-Anleihe heißt, Emittent: Lehman Brothers. „Deutschland Garant“ klingt seriös. Aber nichts ist garantiert und nichts ist mit Deutschland; vielmehr hat eine amerikanische Investmentbank, die heute pleite ist, die Anleihe emittiert, und die Anleger haben nichts davon. Das zu dem Wort von Herrn Steinbrück, die Ersparnisse in Deutschland seien sicher. Natürlich sind die Sparbücher sicher, aber viele Anleger haben Geld verloren. Nur 0,13 Prozent des Zertifikatemarktes - das hört sich wenig an - hat Lehman Brothers, aber wenn Sie sich die Summe ausrechnen, dann stellen Sie fest, dass es sich um 100 Millionen Euro handelt, die deutsche Anleger verloren haben, weil man nicht dafür gesorgt hat, dass diese wissen, dass, wo „Deutschland Garant“ draufsteht, keine Garantie des Kapitals drin ist. Es wurde nichts in Bezug auf das Bonitätsrisiko getan. Tun Sie etwas für den wirklichen Anlegerschutz! Dann können Sie auch bei Krisen dafür sorgen, dass Menschen nicht in die Röhre schauen. Da haben Sie versagt. ({7}) Eine weitere Frage betrifft die Finanzaufsicht - Fritz Kuhn hat für unsere Fraktion schon darauf hingewiesen -: Wenn Sie davon sprechen, dass 25 Prozent Rendite nicht möglich seien und das allen Beteiligten klar sein müsse, dann möchte ich Sie fragen, ob unter diesen Beteiligten vielleicht auch die deutsche Finanzaufsicht ist, für die Sie verantwortlich sind. Offensichtlich nicht. Wenn die deutsche Finanzaufsicht als Letzte merkt, wo Schieflagen bestehen, dann möchte ich fragen, warum Sie heute nichts vorgelegt haben, was uns zeigt, wie Sie die deutsche Aufsicht verändern wollen. Das hätten wir von Ihrer Rede erwartet, aber Sie haben nichts Konkretes vorgetragen. ({8}) Die Finanzaufsicht in Deutschland hat die Aufgabe, Missständen im Kredit- und Finanzdienstleistungswesen entgegenzuwirken, die erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft herbeiführen können. Wir haben diese erheblichen Nachteile für die Gesamtwirtschaft. Wir werden das bei den Steuereinnahmen und bei den öffentlichen Haushalten erleben, und wir werden es bei den Arbeitslosenzahlen sehen. Trotzdem meinen Sie, Sie könnten sich hier hinstellen und nur die internationale Situation beschreiben, ohne einen eigenen konkreten Vorschlag zu machen. Wenn Sie, Herr Steinbrück, das Beispiel von der Treppe nehmen, die von oben gekehrt werden muss, dann möchte ich ganz klar sagen: Da Sie nicht vor der eigenen Haustür kehren, sondern sich nur international engagieren wollen, werden wir als Opposition mit allen Instrumentarien, die dafür zur Verfügung stehen, dafür sorgen, dass auch vor der deutschen Haustür wirksam gekehrt wird. Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ortwin Runde für die SPD-Fraktion. ({0})

Ortwin Runde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Schick, das Beispiel, das Sie gebracht haben, ist irgendwie unpassend. Wenn eine Unternehmensanleihe, für die viermal 6 Prozent Zinsen gezahlt werden, unter dem falschen Siegel „Deutschland Garant“ vermarktet und verkauft wird, dann kann man doch nicht erwarten, dass jemand eintritt. Dass immer dann, wenn jemand mit einer „Deutschland-Garantie“ wirbt, die Staatshaftung gegeben ist, ist das Ihre Vorstellung? Wie wollen Sie dann mit Unternehmensanleihen insgesamt umgehen? ({0}) - Die Frage können Sie nachher im Rahmen einer Kurzintervention stellen. - Wenn wir bei der Dimension solcher Unternehmensanleihen so diskutieren würden, wären wir nicht auf der Höhe der Zeit. Was wir gegenwärtig erleben, ist eine Feuerwehraktion bei einem weltweiten Brand. Angesichts der atemberaubenden Zahlen - die Notenbanken geben Liquidität in die Finanzmärkte, sprich: an die Banken, in einer Größenordnung mal von 50, mal von 70, mal von 100 Milliarden Euro - habe ich schon aufgehört, auszurechnen, wozu sich das insgesamt addiert. Weltweit sind sicherlich mehr als 2 Billionen an Liquiditätshilfe gegeben worden. In den letzten Tagen haben wir miterlebt, wie wirklich die gesamten Investmentbanken an der Wall Street zusammengebrochen sind und die Amerikaner, nachdem sie für Fannie Mae und Freddie Mac Geld ausgegeben haben, 200 Milliarden, für Bear Stearns, 70 Milliarden und dann weitere 30 Milliarden zur Verfügung gestellt haben. Das bedeutet, sie haben dort insgesamt mit 1 Billion interveniert, feuerwehrmäßig. Angesichts dessen unterhalten wir uns in der Debatte über eine solche Regierungserklärung nur über Kleinigkeiten. Das ist wirklich eine andere Dimension, um die es da geht. Es stellen sich natürlich Demokratiefragen bei dieser Intervention im Bankensektor, bei der Art, wie amerikanische Banken dort plötzlich nach ziemlichem Belieben verstaatlicht werden. Da gebe ich übrigens Herrn Brüderle recht. Allerdings ist er wie ein alternder Kirmesboxer aufgetreten und hat diesen Punkt genutzt, um wieder seine Privatisierungsvorstellungen für den Bereich der Landesbanken an den Mann zu bringen und auf die Planwirtschaft einzuschlagen. ({1}) Das war schon richtig eindrucksvoll. Er kennt diesen Step. Das sind die geübten Schritte des Kirmesboxers. Das ging nur wirklich zu weit. ({2}) Die Frage, vor der wir stehen, lautet: Befinden wir uns wirklich an einer Zeitenwende? Der Bundesfinanzminister hat zu Recht gesagt, dass dies das Ende der Dominanz der Amerikaner in der internationalen Finanzpolitik sein wird. Man muss allerdings sagen: Es sind nicht allein die Amerikaner, sondern es ist der angloamerikanische Bereich, der da dominiert hat. Die Frage ist, wie wir nach den Feuerwehraktionen aus der Krise herauskommen. Die Deutsche Bank - das fällt mir gerade ein - hat in den 90er-Jahren mit dem Spruch geworben: Vertrauen ist der Anfang von allem. - Wir haben erlebt, was gemacht wurde, um Renditen von 25, 30 und mehr Prozent zu erzielen - Schnellballsysteme, Hütchenspielereien -, wir erleben jetzt, dass sich die Banken, weil die Märkte zusammengebrochen sind, untereinander nicht mehr vertrauen, und da ist doch die Frage: Wie wollen wir in diesem System wieder Vertrauen herstellen? Wenn nach all den Aktionen an der Wall Street und in Amerika niemand zu sagen wagt: „Das ist der Boden, und von nun an geht es aufwärts“, dann ist wirklich die Frage: Was muss geschehen? Ich sage: Wir brauchen in der Tat eine neue internationale Finanzarchitektur. Zur Verantwortung Einzelner kann ich nur sagen: Ich finde in dem gesamten System keinen, der nicht mit verantwortlich gewesen wäre. Angesichts dessen wäre es erstaunlich, wenn eine Ebene für sich sagen könnte, sie habe nicht versagt und auch in Teilbereichen keine Fehler gemacht. Die FDP müsste doch wirklich ihre gesamte finanzpolitische Grundposition überprüfen. ({3}) Sie hat immer gesagt, wir müssten deregulieren, um wettbewerbsfähig zu sein. Sie hat davon gesprochen, ein „level playing field“ sei im globalen Finanzkapitalismus nötig. ({4}) Das heißt, dass man immer die unterste Form der Regulierung wählt, also die Deregulierung. Wenn wir Zweckgesellschaften und all diese verschiedenen Finanzinstrumente haben, dann deshalb, weil es die Angloamerikaner so bestimmt haben. Hier muss man sich aber selbst einen Vorwurf machen und fragen, ob man auf der eigenen Ebene genug Widerstand geleistet hat. Wir können ein Stück weit in Analogie zu dem, was in der Außenpolitik geschieht, darauf verweisen, dass das alte Europa und Deutschland eine Reihe von Traditionen haben, auf denen wir aufbauen können. Sicher sind die Bereiche, in denen wir ganz und gar traditionell geblieben sind. Dies gilt vor allem für den Bereich der Sparkassen und Volksbanken sowie für jene Banker, die gesagt haben: Ich handle nur mit Risiken, die ich auch bewerten und beurteilen kann. - Auch Pfandbriefe und Verbraucherschutzmaßnahmen gehören zu den Traditionen, auf denen man aufbauen kann. Dass wir aber wegen der Wettbewerbsgleichheit mit ausländischen Banken auch Fehler bei der Deregulierung gemacht haben, ist unabweisbar. Insoweit sind wir von dieser Krise natürlich mit betroffen. Die Betroffenheit wird sich in dem Zusammenhang von Finanzwirtschaft und Realwirtschaft zeigen. Diesen Zusammenhang haben wir lange tabuisiert; wir haben immer gesagt, es handele sich allein um eine Finanzkrise. Wir werden noch merken, wie das, was in den Vereinigten Staaten als Folge der jüngsten Ereignisse abläuft, auf die Realwirtschaft durchschlagen wird. Die Amerikaner werden ihre Staatsverschuldung so aufblähen, dass sie Schwierigkeiten haben werden, sie zu finanzieren. Sie werden sie nicht über Steuererhöhungen, sondern über Inflation finanzieren, was dann Auswirkungen auf das Währungssystem haben wird. An dieser Stelle sind wir sehr schnell bei Helmut Schmidt - mit dem Abstand eines großen Staatsmanns kann er das am allerbesten beurteilen -, der diese Zusammenhänge mit dem Währungsbereich aufgezeigt hat. Wir werden erleben, dass sich dies auf das Wachstum der amerikanischen Wirtschaft auswirken wird und dass uns diese Auswirkungen heftig treffen werden. Wir haben erlebt, welche Wachstumsbremse die deutsche Vereinigung ausgelöst hat. Wenn man sich die Größenordnung vorstellt, dann ist klar: Das wird Auswirkungen auch auf uns haben. Deswegen kann ich nur sagen: Wir brauchen ein Agieren auf der Ebene der Finanzminister. Dabei ist der Finanzminister einer Volkswirtschaft, die Exportweltmeister ist, auf der internationalen Bühne natürlich gefragt. Träte er dort nicht auf, wäre es ein fundamentaler Fehler. Wir brauchen Bemühungen im Rahmen der G 7 plus Brasilien, Russland, China und die arabischen Länder. Sie können nicht nur mit ihren Staatsfonds unseren kollabierenden Banken zur Seite stehen, sondern werden dann auch bei der neuen multipolaren Ordnung gefragt sein. Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Otto Bernhardt, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Lafontaine, wir haben keine Krise der Demokratie, wir haben auch keine Krise der Marktwirtschaft, wir haben eine internationale Finanzkrise. Dies sollte man zunächst einmal festhalten. ({0}) Wenn heute weltweit gefordert wird, man müsse bei den internationalen Finanzmärkten mehr Transparenz, aber auch mehr Regelungen schaffen, dann stellen wir fest, dass unsere Bundesregierung - die Bundeskanzlerin und der Finanzminister ({1}) dies bereits vor der Krise gefordert hat. ({2}) Sie sind aber an den Vorstellungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens gescheitert, die gesagt haben: Nein, das Ganze läuft am besten, wenn wir uns darum nicht kümmern. ({3}) Natürlich kann man solche Probleme, Herr Kollege Schick, nur international lösen. Wir würden, wenn wir nur nationale Maßnahmen ergriffen, unseren eigenen Finanzplatz schwächen. Deshalb ist es richtig, wie es die Bundesregierung macht, im Rahmen der G 7 und der EU für einheitliche neue Regelungen zugunsten von mehr Transparenz und zum Teil auch mehr Regulierung zu werben. ({4}) Diese Krise - Herr Minister hat darauf hingewiesen hat ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten, und die Vereinigten Staaten sind am härtesten betroffen. Ich sage ganz nüchtern ({5}) - ich komme auf die Probleme in Deutschland noch zu sprechen -: Wenn ich Finanzpolitik in den Vereinigten Staaten hätte machen müssen, dann hätte auch ich mich für den 700-Milliarden-Dollar-Schirm ausgesprochen. Ich sage Ihnen auch, warum.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie vorher eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Bernhardt, nur eine kurze Frage. Ich möchte mit Erlaubnis des Präsidenten heute noch einmal zitieren, und zwar das, was der Vorsitzende des Finanzausschusses, Herr Oswald, CDU/CSU, am 15. Februar 2008 sagte: Zur Deregulierung der Finanzmärkte gibt es keine Alternative. Sie hat der Wirtschaft und den Bürgern neue Anlage- und Finanzierungsmöglichkeiten eröffnet, und sie hat zur Risikostreuung beigetragen. Ich gehe davon aus, dass, wenn der Finanzausschussvorsitzende so etwas verkündet, auch Ihre Politik der letzten Jahre darauf ausgerichtet war. So habe ich es auch erfahren. Hat sich nun Ihre Haltung zur Regulierung der Finanzmärkte geändert oder nicht? ({0})

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zunächst einmal sage ich: Sofern es sich um ein Zitat meines sehr geschätzten Kollegen Oswald handelt, sollten Sie ihn fragen. ({0}) - Entschuldigung! - Ich habe gesagt, dass diese Bundesregierung, die ja von einer Großen Koalition getragen wird, also auch von den Unionsparteien, sich bereits vor dieser Krise international für mehr Transparenz und mehr Regulierung eingesetzt hat. Wenn Sie sich die Reden, die die Bundeskanzlerin vor anderthalb Jahren auf internationalen Kongressen gehalten hat, noch einmal anschauen, dann werden Sie feststellen: Wir haben dies gefordert. An der Haltung der Amerikaner ist die Umsetzung dieser Forderung im Wesentlichen gescheitert. Jetzt kommt dort ein Umdenken in Gang. Und das ist gut so. Ich war gerade bei dem Hinweis, dass ich, wenn ich Finanzpolitiker in den Vereinigten Staaten wäre, den 700-Milliarden-Dollar-Schirm mittragen würde. Der Schaden für die amerikanische Volkswirtschaft, wenn man nicht diesen Weg wählen würde, wäre nämlich noch viel größer. Man muss nur einmal daran denken, welche Folgen es für die Altersvorsorge in den Vereinigten Staaten hätte, wenn die größte amerikanische Versicherungsfirma in die Insolvenz ginge. Die Wirtschaft der Vereinigten Staaten - ich will das in diesem Zusammenhang einmal sagen - ist nach wie vor so stark, dass die gesamte Verschuldung der Vereinigten Staaten im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt - auf dieses berühmte Verhältnis wird ja immer abgehoben - zurzeit immer noch um 65 Prozent liegt. Das entspricht dem Verhältnis in Deutschland. In Japan liegt es bei 170 Prozent, und dort lebt man auch noch ganz gut damit. Die amerikanische Wirtschaft kann dies also ab. Jetzt zurück zu Deutschland: Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, warum Deutschland im Rahmen der Globalisierung mit dieser Krise besser fertig wird als andere. Das Universalbankensystem ist schon erwähnt worden. Stellen Sie sich vor: Während in Amerika und Großbritannien Banken Konkurs gehen, kaufen die beiden großen deutschen Privatbanken dazu: die eine die Dresdner Bank und die andere eine wichtige Beteiligung an der Postbank. Das unterstreicht die Finanzkraft, die sie haben. Natürlich ist es ein Vorteil, dass es bei uns 1 500 weitgehend regional tätige Kreditinstitute gibt. Nur, all diese Fakten zur Heiligsprechung des Dreisäulensystems zu nutzen, dazu bin ich nicht bereit. Ich bin nämlich davon überzeugt, dass wir nicht nur Veränderungen innerhalb der Säulen brauchen. Wir werden in Kürze sicherlich auch über eine Veränderung der Grenzen der Säulen sprechen. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob dies in meiner Fraktion mehrheitsfähig ist, aber in diese Richtung wird es mit Sicherheit gehen. Ein weiterer Vorteil bei uns ist die Langfristfinanzierungskultur. Alle Kolleginnen und Kollegen im Finanzausschuss wissen, dass wir diese manchmal sehr massiv gegen die EU verteidigen müssen, die dies in der Vergangenheit nicht so gesehen hat. Ich glaube, diesen Kampf werden wir jetzt leichter führen können. ({1}) Es gibt einen weiteren Punkt, der für die Stimmung im Lande sehr wichtig ist, und den sollte jeder Politiker - auch der, der diese Bundesregierung vielleicht nicht mag - parat haben: Wir haben die besten Einlagensicherungssysteme der Welt. Der EU-Standard schreibt vor, dass 90 Prozent einer Einlage gesichert werden; die Höchstsumme der Sicherung beträgt aber nur 20 000 Euro. All unsere Bankensysteme in Deutschland sichern Privatkonten hingegen in unbeschränkter Höhe ab. Das heißt, niemand braucht in Deutschland zur Bank zu gehen, um Geld abzuheben. Herr Kollege Schick, Sie verlangen von uns, dass wir den Anleger noch mehr schützen sollen als bisher. Wenn heutzutage jemand kritische Papiere kaufen will - ich sage es etwas laienhaft -, dann muss er in einem Gespräch darüber beraten werden. Er muss unterschreiben, dass man ihm gesagt hat, wie risikoreich sein Vorhaben ist. Ich füge hinzu: Wer einigermaßen darüber nachdenkt, dem muss doch klar sein, dass ein Angebot mit 6, 7 oder 8 Prozent mit mehr Risiken verbunden ist, wenn es auf dem Sparkonto nur 3 Prozent und für Festgeld nur 4 Prozent Zinsen gibt. ({2}) Ich glaube, nirgendwo wird der Konsument so gut geschützt wie in Deutschland. Von daher bin ich gegen noch mehr Vorschriften. Wir glauben an den selbstständig denkenden Menschen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Bernhardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schick?

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber selbstverständlich.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Bernhardt, Ihr Kollege Meister hat vorhin davon gesprochen, dass wir auf den Finanzmärkten mehr Transparenz brauchen. Würde es Ihrer Vorstellung von Transparenz widersprechen, wenn nur dort Garantie draufsteht, wo Garantie drin ist, und wenn das Bonitätsrisiko eines Emittenten klar ausgewiesen wird? Würde es Ihrer Vorstellung von Transparenz widersprechen, wenn man gesetzliche Standards schafft, damit die Anlegerinnen und Anleger auch wirklich wissen, was sich hinter bestimmten Produkten verbirgt, sodass sie die Risiken einschätzen können? Ist das nicht auch ein Teil von Transparenz?

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, haben Sie schon mal einen Prospekt gelesen, den jemand herausgeben muss, wenn er ein Papier auf dem deutschen Markt platzieren will? Diese Prospekte sind zum Teil mehrere Hundert Seiten dick; von ihnen gibt es sogar Kurzfassungen. Das Problem ist, dass viele gar nicht geschützt werden wollen. Sie sind nicht bereit, den Prospekt zu lesen. Insofern bleibe ich dabei, dass ich strengere Bestimmungen für diesen Bereich weder national noch international für nicht erforderlich halte. Ich komme jetzt dazu, wo unsere Schularbeiten liegen. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, wir hätten alles gut gemacht und dass es bei uns keine Probleme gäbe. Das erste Problem ist angesprochen worden, nämlich die KfW und die IKB. Natürlich war es ein Fehler, sich an der IKB zu beteiligen. Aber es war die Politik, ({0}) die die KfW zu diesem Schritt gedrängt hat. Wir waren damals noch nicht so weit in unserem Bewusstsein, dass es eigentlich nicht schlimm gewesen wäre, wenn ein Ausländer die IKB gekauft hätte. Damals wollten wir dies aber nicht. Wenn man sich allerdings mit diesem Thema beschäftigt, dann muss man auch ehrlich bleiben. Es ist zwar richtig, dass der gesamte Schirm für die IKB bei gut 10 Milliarden Euro liegt; aber wir, die Steuerzahler, haben nicht 10 Milliarden Euro, sondern erst 1,2 Milliarden verloren. Es heißt ja nicht, dass wir das ganze Geld brauchen; die Papiere, die man übernommen hat, haben vielleicht in zwei oder drei Jahren einen Wert von 50 oder 60 Prozent. Insofern sollte man hier fair vorgehen. Ich sage auch ganz deutlich: Es war eine richtige Entscheidung der Bundesregierung, die IKB nicht in die Insolvenz gehen zu lassen. Sonst wäre der Schaden für die deutsche Volkswirtschaft viel größer ausgefallen. ({1}) Ich spreche eine zweite Baustelle an. Wir haben im deutschen Bankensystem eigentlich nur ein wirkliches Problem, und das sind die Landesbanken; vielleicht muss ich gerechter sagen: einige Landesbanken. Der genossenschaftliche Bereich hatte früher auch ein Dutzend Spitzenorganisationen und -verbände. Er hat sie der Zeit entsprechend aufgelöst. Heute hat er noch anderthalb; demnächst wird es nur noch einer sein. Zu meinen, wenn wir die sieben Landesbanken zusammenschließen, sei das Problem gelöst, ist nicht richtig. Es ist nicht ihre Aufgabe, Spitzeninstitut der Sparkassen zu sein, zumal sie inzwischen alle schon sehr groß geworden sind und vieles selber machen können. Das heißt, wir müssen entweder - ich sage das in dieser Brutalität - einen Teil still liquidieren, oder wir müssen - auch wenn es der öffentlich-rechtliche Bereich oder einige nicht hören mögen Teile an den privaten Bereich verkaufen, der seine Aufgaben vielleicht damit verbinden kann. Wir stehen hier allerdings unter einem ziemlichen Zeitdruck, um das klar zu sagen. Natürlich muss man über die zukünftige Organisation der Bankenaufsicht nachdenken. Zweimal habe ich von diesem Rednerpult gefordert - ich gebe zu, ich war damals in der Opposition und nicht in der Regierung -, dem Beispiel der Mehrzahl der Länder - nicht aller Länder - zu folgen und die gesamte Bankenaufsicht auf die Deutsche Bundesbank zu übertragen. Das war damals unser Vorschlag. Die damalige Regierung unter RotGrün hat sich für ein anderes Modell entschieden, und wir haben gesagt, wir warten ab. Nun sind fünf Jahre vergangen, und ich würde die Bilanz ziehen: So schlecht ist das Ganze nicht. Aber angesichts der neuen Herausforderungen stellt sich die Frage, ob wir nicht vielleicht doch - ich persönlich tendiere zu dem Vorbild Irlands beschließen, die BaFin unter die Hoheit der Bundesbank zu stellen und dort die Bankenaufsicht zu konzentrieren. Ich denke dabei natürlich auch an Folgendes: Wenn die Bankenaufsicht bei der Bundesbank konzentriert wird und wir einmal europäische Aufsichtsorgane bekommen, dann haben wir gute Chancen, dass die nach Frankfurt kommen. Ich bitte, darüber einmal weiter nachzudenken. In Europa gibt es heute 27 nationale Bankenaufsichten. Wir haben aber 40 Banken in Europa, die in mehreren Staaten tätig sind. Vielleicht müssen wir hier als Zwischenschritt eine Gruppenaufsicht einziehen. Aber ich schließe nicht aus, dass am Ende zumindest für die in mehreren Ländern tätigen Banken doch eine europäische Aufsicht steht. Ich will noch zwei Argumente nennen, die dafür sprechen, die Aufsicht bei der Bundesbank zu konzentrieren: Wenn wir in einer Krise Geld brauchen, liquide sein müssen, kann das nur die Bundesbank machen. Die Bundesbank ist im Gegensatz zur BaFin mit den anderen Notenbanken vernetzt, insbesondere mit der Europäischen Zentralbank. Auch hier haben wir also Schularbeiten zu machen, um das klar zu sagen. Im Tagesgeschäft müssen wir allerdings erst einmal sehen, wie wir die aktuelle Finanzmarktkrise überwinden. Auch ich wage nicht mehr die Prognose, dass wir über den Berg sind und dass die Krise in Kürze beendet sein wird; ich bin vorsichtig geworden. Ich wage auch keine Aussage mehr darüber, wie groß die Verluste endgültig sein werden. Wir haben festgestellt, dass es in der Welt zurzeit etwa - wir können es nicht nachrechnen 400 Milliarden Euro, 550 Milliarden Dollar sind. Es heißt, dass 10 Prozent, sprich: 40 Milliarden Euro, davon in Deutschland angekommen sein sollen. Aber - auch das gehört zur Argumentation - diese 40 Milliarden Euro sind noch kein Ausfall. Es sind zurzeit zu einem erheblichen Teil Buchverluste. Wie groß die Ausfälle sein werden, wissen wir nicht. Das sind Bereiche, wo wir unsere Schularbeiten machen müssen. Ich stelle abschließend fest: Das Zusammenspiel zwischen Bundesregierung, Bundesbank und BaFin bei der Lösung der aktuellen Finanzkrise, die ihre Ursachen nicht in Deutschland hat, war hervorragend. Wir sollten nicht so miesepetrig sein und nur kritisieren. Vielmehr glaube ich, die Bundesregierung, die Bundesbank und die BaFin haben von uns allen ein Dankeschön verdient. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Carsten Schneider für die SPD-Fraktion.

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über die globale Einordnung der aktuellen Finanzmarktkrise ist schon viel gesagt worden. Ich unterstütze uneingeschränkt die Erklärung des Bundesfinanzministers von heute Vormittag. Er hat im Hinblick auf diese Situation auch im vergangenen Jahr einen sehr guten Job gemacht. Ich halte die Rettung der IKB für richtig, auch wenn sie mit erheblichen Steuermitteln verbunden ist. Bis auf eine Ausnahme gibt es dazu im Hause keinen Dissens. Dadurch ist der Kelch einer Bankenpleite an unserem Finanzmarkt vorbeigegangen. Die Ausfälle für den Staat wären bedeutend höher gewesen, wenn wir die IKB nicht gerettet hätten. ({0}) Ich unterstütze den Finanzminister auch in seinem heute hier vorgelegten Achtpunkteplan. Insbesondere unterstütze ich ihn in seiner klaren Ansage, keine Steuermittel des Bundes als Zuschuss an Landesbanken zu geben. Dies muss deutlich sein. Die Landesregierungen, die die Aufsicht über ihre Landesbanken haben, müssen ihre Verantwortung wahrnehmen. Ich hoffe gleichwohl, dass es nicht zu dem schlimmsten Fall kommt. Es gab die Anfrage, ob sich die Bundesrepublik an dem Rettungspaket der Amerikaner beteiligen will. Es ist gut, dass es auch da eine klare Absage gab. Die Fehler sind in den USA gemacht worden. Letztendlich müssen dort die Probleme gelöst werden. Ich will mich im Folgenden auf die Kreditanstalt für Wiederaufbau konzentrieren, für die das Parlament die direkte Verantwortung trägt. Wir haben gestern im Haushaltsausschuss lange und intensiv mit dem neuen Vorstandsvorsitzenden diskutiert. Es geht um das Beteiligungsmanagement und in diesem Zusammenhang insbesondere um die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass man die Risiken bei der IKB nicht gesehen hat. Dies ist aufzuklären. Vor allen Dingen muss es Veränderungen in der Struktur der Aufsicht geben, damit solche Mängel abgestellt werden können.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schui von der Linksfraktion?

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte sehr.

Dr. Herbert Schui (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003844, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sie haben gesagt, dass Sie sich damit einverstanden erklären, dass sich Finanzminister Steinbrück gegen eine Beteiligung an dem amerikanischen Rettungspaket in Höhe von 700 Milliarden US-Dollar ausspricht. Ist Ihnen bekannt, dass die US-Regierung einige wirksame Druckmittel hat, um Deutschland und andere Länder mit bedeutenden Zentralbanken an der Finanzierung der Kredite, die die USA aufnehmen müssen, zu beteiligen? Erstes Druckmittel: Wenn diese 700 Milliarden US-Dollar auf den Markt gedrückt werden, kann das zu einer signifikanten Abwertung des Dollars führen. Wer will das schon? Zweites Druckmittel: Es ist durchaus möglich, dass deutsche Banken, die in den USA operieren und faule Kredite im Portefeuille haben, keine Geschäfte mit dieser 700-Milliarden-Agentur machen können. Was gedenkt die SPD-Fraktion, was gedenkt der Bundesminister der Finanzen dann zu tun?

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Für den Finanzminister kann ich nicht sprechen. Aber für meine Person kann ich Ihnen sagen, dass meine Aussage gilt: keine Steuermittel aus Deutschland zur Rettung von amerikanischen Banken. Das ist doch logisch. Etwas anderes würde niemand goutieren. Jeder muss für seinen Bereich die Verantwortung wahrnehmen. ({0}) Die amerikanische Wirtschaft hat enorm davon profitiert, dass in den letzten Jahren eine Blase aufgrund niedriger Zinsen und laxer Kreditvergaben entstanden ist. Wir sind nicht bereit, dafür die Verantwortung zu übernehmen. Das ist ganz klar. ({1}) Herr Lafontaine, zu unserer Verantwortung gehört natürlich auch, die Rechte, die man als Parlamentarier bekommt - dazu gehört das Kontrollrecht als Mitglied des Verwaltungsrates der KfW; soweit ich weiß, sind Sie dort Mitglied -, auch wahrzunehmen. ({2}) Sie können ja einmal sagen, wie oft Sie an diesen Sitzungen teilgenommen haben. ({3}) Sie nehmen dieses Recht nicht wahr. Herr Kollege Stiegler hat eben schon darauf hingewiesen, dass Sie als Finanzminister geflüchtet sind und jetzt als Parlamentarier Ihre Rechte nicht wahrnehmen, aber große Reden schwingen. Das ist unsolide und - ich würde fast schon sagen - dreist. ({4}) Ich möchte auf die KfW zurückkommen und damit auf die nicht zu akzeptierende Panne - ich weiß gar nicht, ob man es nur als Panne bezeichnen kann - bei der Überweisung von etwa 350 Millionen Euro im Rahmen eines Swap-Geschäfts an Lehman Brothers am Montag vergangener Woche. Wir haben gestern in geheimer Sitzung intensiv darüber diskutiert. Aber ich will zumindest meine Bewertung sagen. Wenn Sie die Presse in der Woche vom 8. bis 13. September verfolgt haben, so wissen Sie, dass zu Beginn Lehman Brothers in großen Schwierigkeiten war. Dann sackte der Aktienkurs jeden Tag weiter ab, um 90 Prozent zum Schluss. Am Freitag war klar - ich habe die Meldungen dabei -, dass es kein Rettungspaket und keinen Rettungsschirm der amerikanischen Regierung geben wird. Für mich ist unerklärlich, wie es in einer großen Bank, einer Staatsbank nicht möglich ist, dies zu verfolgen und einmal zu schauen, was wir dort eigentlich im Obligo haben. Das ist nicht die Aufgabe von einzelnen Vorständen; das ist vor allen Dingen die Aufgabe des Vorstandsvorsitzenden. ({5}) Für mich ist nicht abschließend geklärt, ob er nicht für das gute Geld, das wir ihm bezahlen, auch am Wochenende einmal in den Ticker schauen und seine Kollegen anrufen kann, um eine Krisensitzung einzuberufen. Dies gilt es noch aufzuklären. Ich sehe da insbesondere den Verwaltungsratsvorsitzenden Glos in der Verantwortung, der ja den Eindruck erweckt hat, als sei er für die Bank nicht zuständig, zumindest wenn man die Aussagen vom Unternehmertag der Union für voll nehmen soll. ({6}) Wir brauchen bei der KfW sicherlich Änderungen. Ich rate aber dazu, die KfW als wichtige Förderbank des Bundes in ihren Festen zu erhalten und zu stärken; das ist unabdingbar. Was die Kapitalmarktgeschäfte betrifft, so halte ich es für notwendig, diesen Bereich der Aufsicht nach dem KWG, also der Bundesbank und der BaFin, zu unterstellen, aber nicht, wie es in Teilen der Unionsfraktion zu hören ist, das Fördergeschäft. Das würde zu einer deutlichen Beeinträchtigung des Fördervolumens, letztendlich unseres Geschäftes, wenn wir Darlehen zur CO2-Gebäudesanierung und auch Globaldarlehen an Banken geben, führen und findet nicht meine Unterstützung. ({7}) Ich denke aber auch, dass wir als Parlament das Beteiligungscontrolling verbessern müssen. Eigentlich sind wir im Haushaltsausschuss dafür zuständig. Oftmals bekommen wir aber gar nicht die erforderlichen Informationen, weil uns bei Beteiligungen an GmbHs oder Aktiengesellschaften gesagt wird, dies sei aktienrechtlich nicht möglich. Ich sehe das mitnichten so. Ich denke, wir müssen die Parlamentsrechte bei den Beteiligungen, die wir kontrollieren, die wir besitzen und von deren Erträgen und - im nicht zu wünschenden Fall auch deren Verlusten wir betroffen sind, noch stärker untermauern. Ich denke, das sollten wir noch in dieser Legislaturperiode regeln. Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft die Portfolios an Anlageprodukten, die es seitens des Bundes gibt. Jeder Bürger kann in Bundesschatzbriefe als einen sicheren Hafen investieren und beim Staat direkt seine Gelder anlegen. Das ist sicher, das ist auch einigermaßen gut verzinst. Wir haben hier im Parlament ein Gesetz verabschiedet, diese Privatkundenstrategie der Finanzagentur auszubauen, zwar mit einem unterdurchschnittlichen Volumen, aber es ging darum, dies attraktiv zu machen. Nun haben wir einen Dissens mit der Unionsfraktion, was insbesondere die Tagesgeldanleihen und andere Punkte betrifft. Ich kann nicht erkennen, dass es ein Nachteil für die Banken, geschweige denn für den Staat Carsten Schneider ({8}) ist, bei seinen Bürgern direkt die Kredite aufzunehmen, die er in Form von Einlagen haben will. Auch für die Bürger ist es kein Nachteil, einen sicheren Hafen zu haben, in dem sie ihr Geld investieren können und gute Zinsen bekommen. Ich hoffe, dass sich die Unionsfraktion hier noch bewegt, um diese guten Produkte, die sicher sind und uns allen helfen, letztendlich auf den Weg zu bringen, und sich nicht querstellt. Das sind Punkte, um neben den Anmerkungen, die der Finanzminister heute gemacht hat, das Vertrauen in das Finanzsystem und seine Stabilität noch stärker zu befördern und die Regulierungsmaßnahmen, die bei den G-8-Gipfeln von Bundesminister Steinbrück angestoßen wurden, letztendlich auch umzusetzen. Die Chancen sind heute wahrscheinlich so gut wie nie zuvor. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem Kollegen Jörg-Otto Spiller, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich versuchen, am Ende dieser gut dreistündigen Debatte ein Fazit zu ziehen. Meine erste Aussage ist: Ich bin froh, dass Peer Steinbrück unser Bundesfinanzminister ist. ({0}) Er hat eine brillante, umfassende Analyse der internationalen Finanzkrise gebracht, und er hat gezeigt, dass er klare Positionen hat und dass er willens ist, auch in internationalen Verhandlungen verantwortungsvoll zu agieren. Ich unterstreiche: Er hat, wie die Bundesregierung insgesamt, gemeinsam mit der Bundesbank, mit der Europäischen Zentralbank und mit der BaFin ({1}) wesentlich dazu beigetragen, die Krise in Deutschland zu begrenzen. Das war ein gutes Handeln. ({2}) Auch wenn es das gute Recht der Opposition ist, an dem einen oder anderen Punkt zu mäkeln, war das insgesamt richtig. Ich unterstreiche, was mehrere Vorredner gesagt haben, zuletzt Otto Bernhardt: Das deutsche Bankensystem ist insgesamt gesehen, so wie es aufgestellt, wie es konstruiert ist, solide und steht sehr viel besser da als viele andere. Mit Blick auf unsere Zuhörer in diesem Saal und die Damen und Herren, die die Debatte im Fernsehen verfolgen, sage ich: In Deutschland braucht sich niemand Sorgen zu machen um seine Einlagen bei einer Bank. ({3}) Das liegt nicht nur daran - das hat Herr Bernhardt gesagt -, dass wir insgesamt solide aufgestellt sind, sondern auch daran, dass wir Einlagensicherungssysteme haben - Haftungsverbünde bei den Sparkassen und Genossenschaftsbanken sowie ein Einlagensicherungssystem bei den privaten Banken, die im Bundesverband deutscher Banken organisiert sind -, die alle weit über das hinausgehen, was auf europäischer Ebene vorgeschrieben ist. Jeder, dessen Vermögen bei der Bank ein halbwegs normal hohes Vermögen nicht übersteigt, ist voll abgesichert. Bis zu 30 Prozent des haftenden Eigenkapitals der jeweiligen Bank sind für die Einlage eines jeden Kunden zur Haftung da. Das heißt, selbst wenn Sie bei einer kleinen Bank, die nicht mehr als 5 Millionen Euro Eigenkapital hat, Kunde sind, sind Einlagen von bis zu anderthalb Millionen Euro für jeden einzelnen Kunden durch diesen Fonds abgesichert. Das ist in der Welt einmalig. Ich sage aber auch: Wir dürfen uns nicht damit begnügen, dass wir in Deutschland - zum Glück - einigermaßen geschützt sind. Als Exportweltmeister, als eine Volkswirtschaft, die wie keine andere mit dem Rest dieser Welt verflochten ist, brauchen wir ein funktionierendes internationales Finanzwesen. Deswegen ist es erfreulich, dass fast alle Fraktionen unterstützt haben, was der Bundesfinanzminister gesagt hat: Wir brauchen eine Rückbesinnung auf Regeln, die den Markt regulieren. Das heißt nicht, dass der Markt ständig eingeengt wird. Bei jedem ordentlichen Spiel gibt es nun einmal Spielregeln. Wer käme denn beim Sport auf die Idee, dass es nur die Regel „Catch as catch can“ gibt? Es muss doch ein Regelwerk geben, das für alle Teilnehmer gilt. ({4}) Das meiste ist dazu schon gesagt worden. Produkttransparenz gehört dazu. Herr Kollege Dr. Schick, es hat mich ein bisschen gewundert, dass Sie sich für undurchsichtige Produkte starkmachen. ({5}) Ich finde, man kann den deutschen Anlegern nicht raten, etwas zu kaufen, das kein Mensch versteht. Das ist schon für Banker nicht ratsam; aber dass Sie das auch noch dem Publikum schmackhaft machen wollen, hat mich ein Stück weit gewundert. ({6}) Zu diesem Thema gehört auch - das hat der Kollege Stiegler angesprochen - ein Nachdenken über Bilanzierungsregeln. Ist es wirklich vernünftig, die bewährten Regelungen, die wir seit hundert Jahren im Handelsgesetzbuch haben, zum Beispiel das Niederstwertprinzip, durch schwankende Bewertungen von Aktiva zu ersetzen? In der guten Phase würde dann doch alles nach oben und bei einer Verschlechterung alles nach unten übertrieben. Darüber muss man nachdenken. Ich bin auch froh - das ist hier noch nicht so zur Sprache gekommen; das will ich einbringen -, dass wir den Euro haben. Ich möchte nicht wissen, wie sich die internationale Finanzkrise auf Deutschland ausgewirkt hätte, wenn wir den Währungsverbund in Europa nicht hätten. ({7}) Wir hätten wilde Spekulationen gehabt, im Zweifelsfall hätten wir uns an den Devisenmärkten riesige Probleme geschaffen. Ich kann nur sagen: Europa steht auch deswegen besser da. Dies wird uns, finde ich, legitimieren, das europäische Gewicht in die neue internationale Regelung von Finanzmärkten einzubringen, um das, was auch der Bundesfinanzminister genannt hat, zu erreichen, nämlich die Finanzmärkte neu zu zivilisieren. Eine letzte Bemerkung - Kollege Bernhardt hat das schon angesprochen -: Natürlich müssen wir auch darüber nachdenken, wie wir die Bankenaufsicht im Zuge der Europäisierung besser aufstellen. Ich will allerdings auf Folgendes hinweisen: Die BaFin, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, ist für das ganze Spektrum von Finanzmärkten einschließlich Versicherungen zuständig; das ist bei der Bundesbank nicht so. Das würde ich nicht gering schätzen. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Bundesbank schon heute an der Bankenaufsicht stark beteiligt ist. Dazu sage ich nur: Beide müssen stärker werden. Wir müssen uns überlegen, wie wir der Bundesbank und der BaFin helfen können, noch effektiver zu werden. Denn eine wohlfunktionierende und starke Finanzaufsicht ist ein Standortvorteil. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/10308 soll überwiesen werden zur feder- führenden Beratung an den Finanzausschuss und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sowie an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie die Zusatzpunkte 3 und 4 auf: 3 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur arbeitsmarktadäquaten Steuerung der Zuwanderung Hochqualifizierter und zur Änderung weiterer aufenthaltsrechtlicher Regelungen ({0}) - Drucksache 16/10288 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Rainder Steenblock, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Abschottungspolitik beenden - Volle Arbeitnehmerfreizügigkeit ab 2009 herstellen - Drucksache 16/10237 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Hartfrid Wolff ({3}), Gisela Piltz, Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern ({4}) - Drucksache 16/9091 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({5}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid Wolff ({6}), Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit sofort und unbeschränkt in der Bundesrepublik Deutschland gewähren - Drucksache 16/10310 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Peter Altmaier das Wort.

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bedarf an gut ausgebildeten und gut qualifizierten Fachkräften ist in den letzten Jahren stetig gestiegen, und zwar nicht zuletzt dank der guten Wirtschaftsentwicklung seit Amtsantritt dieser Bundesregierung, lieber Herr Kollege Wolff, wie jedermann anhand der Zahlen feststellen kann. ({0}) Dieser Bedarf an Arbeitskräften wächst weiter und wird auch unabhängig von konjunkturellen SchwankunParl. Staatssekretär Peter Altmaier gen in Zukunft weiterwachsen, wie ein Blick auf die demografische Entwicklung zeigt. Deshalb muss eine verantwortliche Bundesregierung vorausschauend die Weichen dafür stellen, dass die notwendigen Fachkräfte dem Arbeitsmarkt auch künftig zur Verfügung stehen. Die Politik der Bundesregierung beruht auf drei Säulen, nämlich erstens darauf, die einheimischen Arbeitskräfte so zu qualifizieren und so weiterzubilden, dass sie von den großen Chancen, die sich bieten, besser profitieren können. Das gilt zweitens auch für diejenigen, die schon lange hier sind und in vielen Fällen aufgrund mangelnder Bildungschancen und mangelnder Förderung nicht imstande waren, sich so in den Arbeitsmarkt einzugliedern, wie dies im Interesse unserer wirtschaftlichen Entwicklung geboten ist. Drittens kann die Gewinnung ausländischer Facharbeitskräfte Versäumnisse der inländischen Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen nie ganz ersetzen, sondern sie ist allenfalls eine wichtige Ergänzung dieser Politik; nicht mehr, aber auch nicht weniger. In diesen Gesamtansatz fügt sich der Entwurf des Arbeitsmigrationssteuerungsgesetzes ein. Es geht bei diesem Entwurf in erster Linie um die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes und der Wirtschaft. Das unterscheidet ihn von früheren Vorhaben wie beispielsweise Bleiberechtsregelungen oder Resettlementregelungen, über die bisweilen ebenfalls diskutiert wird. Wir haben mit diesem Vorschlag eine umfassende, eine maßgeschneiderte Lösung vorgelegt, die insbesondere intelligent gestaffelt ist und sich möglichst passgenau an den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarktes orientiert. Das heißt, sie soll nicht auf Kosten der Beschäftigungsmöglichkeiten einheimischer Arbeitnehmer gehen, sondern sich auf diejenigen Segmente im Arbeitsmarkt konzentrieren, in denen Bedarfslücken bestehen. Wir müssen die Position unseres Landes im weltweiten Wettbewerb um die besten Köpfe stärken. Dem wird der vorliegende Entwurf auch gerecht. Er sieht im Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz insbesondere folgende Punkte vor: erstens: die Senkung der Einkommensgrenze für Hochqualifizierte, die eine Niederlassungserlaubnis anstreben, von derzeit über 86 000 Euro auf rund 63 000 Euro; zweitens: die verstärkte Nutzung im Inland vorhandener Qualifikationspotenziale durch Erteilung eines neuen Aufenthaltstitels, der beruflich Qualifizierten einen sicheren Aufenthaltsstatus ermöglicht - ein wichtiger Schritt zu einer verlässlichen, berechenbaren Kalkulationsgrundlage für viele Unternehmen in unserem Land. Drittens werden wir mit den begleitenden Verordnungsänderungen des BMAS auch dafür sorgen, dass der Zugang für Akademiker aus den neuen EUMitgliedstaaten durch Verzicht auf den Vermittlungsvorrang erleichtert wird. Wir werden ermöglichen, dass Akademiker aus Drittstaaten Zugang zum Arbeitsmarkt haben, soweit für die Beschäftigung keine inländischen Arbeitssuchenden zur Verfügung stehen. Außerdem werden wir sicherstellen, dass Absolventen deutscher Auslandsschulen für jede Berufsausbildung zugelassen werden und der Zugang zu einer sich daran anschließenden Beschäftigung ohne Vorrangprüfung ermöglicht wird. Sie können aus diesen Punkten ersehen, dass wir uns tatsächlich um maßgeschneiderte und differenzierte Lösungen bemüht haben. ({1}) Darüber hinaus ist uns wichtig, dass durch das vorliegende Gesetz die allgemeinen ausländer- und migrationspolitischen Ziele der Bundesregierung nicht konterkariert werden. Wir waren in den letzten Jahren ausgesprochen erfolgreich bei der Bekämpfung der illegalen Migration und des Asylmissbrauchs, sowohl im nationalen als auch im europäischen und im internationalen Bereich. Aus Sicht des Bundesinnenministeriums ist es wichtig, dass dies auch in Zukunft so bleibt; denn es ist die Voraussetzung dafür, dass der Handlungsspielraum im Bereich der Migrationspolitik, den wir uns in den letzten Jahren eröffnet haben, auch erhalten bleibt. Deshalb wollen wir alles vermeiden, was in Zukunft wie ein Pull-Faktor wirken könnte, was dazu beitragen könnte, erfolgreiche Maßnahmen der Missbrauchsbekämpfung aus der Vergangenheit zu konterkarieren. Daran muss sich auch die Regelung in dem in Aussicht genommenen § 18 a Aufenthaltsgesetz messen lassen. ({2}) Aus diesem Grund sieht der Entwurf zum Beispiel vor, dass eine Aufenthaltsverfestigung dann ausscheidet, wenn der Betreffende zuvor die Ausländerbehörden getäuscht hat, wenn er Bezüge zu extremistischen Organisationen hat oder wenn er substanziell strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. All dies sind keine bürokratischen Spitzfindigkeiten; vielmehr ist es notwendig, damit die neue Regelung trägt und auch gesellschaftliche Akzeptanz findet. ({3}) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf leisten wir einen besonnenen Beitrag zu einer besseren Deckung des Fachkräftebedarfs in Deutschland und damit auch zur Nutzung von Wachstumspotenzialen und zur Schaffung von weiteren Arbeitsplätzen. Es ist eine Regelung, die nicht kurzfristig, sondern auf die Zukunft angelegt ist und die eine positive Wirkung entfalten kann und soll. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Hartfrid Wolff für die FDP-Fraktion. ({0})

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zuwanderungspolitik der Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD ist Stückwerk. Die groß als Aktionsprogramm angekündigte Initiative ist ein Flickenteppich. Sie haben es gerade gemerkt: Der Staatssekretär hatte schon ein Hartfrid Wolff ({0}) bisschen Schwierigkeiten, die einzelnen Punkte differenziert darzustellen. ({1}) Diese Initiative wird den Bedürfnissen unseres Landes nicht gerecht. ({2}) Der vorliegende Gesetzentwurf zur Steuerung der Arbeitsmigration bleibt weit hinter der Faktenlage und dem Diskussionsstand zurück. Die Bundesregierung bleibt halbherzig, wenn es um erhebliche Zukunftschancen für unsere Gesellschaft und auch für die deutsche Wirtschaft geht. Die vorgesehene Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Akademiker aus allen EU-Staaten, die Senkung der Mindesteinkommensgrenze und der vereinzelte Verzicht auf die Vorrangprüfung sind Minimalschritte, ({3}) die zwar in die richtige Richtung gehen, aber wenig bringen werden. ({4}) Lieber Herr Staatssekretär, mit dieser Aktion werden Sie wieder nicht die Fachkräfte und die Menschen bekommen, die wir in Deutschland dringend brauchen. ({5}) Die grundsätzliche Beibehaltung der bürokratischen Vorrangprüfung für Hochqualifizierte bleibt ein Problem. Einmal soll die Vorrangprüfung gelten, ein anderes Mal nicht. ({6}) Wie sollen gerade kleine und mittelständische Unternehmen so ihre Personalplanung betreiben? ({7}) Sie sind in diesem Punkt von der deutschen Arbeitsverwaltung abhängig. Herzlichen Glückwunsch! Freies Unternehmertum geht anders. ({8}) Auch die nach wie vor zu hohen Einkommensgrenzen sind Hürden, die dem Hochtechnologiestandort Deutschland insgesamt und unserem Mittelstand schaden. Vor allem aber werden die wenigen und unzureichenden Verbesserungen durch eine geradezu reaktionäre Politik im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU konterkariert. ({9}) Eine weitere Beschränkung der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit für Arbeitnehmer aus neu beigetretenen Mitgliedstaaten in die Bundesrepublik ist kontraproduktiv. Die Bundesregierung muss von ihrem Vorhaben dringend ablassen, bei der EU-Kommission eine erneute Verlängerung der Einschränkung bis 2011 anzumelden. ({10}) Wieso differenzieren Sie für diesen kurzen Zeitraum von zwei Jahren noch mal nach Akademikern und anderen? Das schafft Bürokratie für Unternehmen, Unsicherheit bei den Arbeitnehmern und Unverständnis bei unseren Nachbarn. ({11}) Vielmehr ist die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Arbeitnehmer aus den neuen EU-Staaten erforderlich. Großbritannien, liebe Kollegen von der CDU/ CSU, profitiert von der Öffnung mit einer niedrigen Arbeitslosigkeit. Auch Frankreich will diesem Vorbild folgen. Dagegen will unsere Bundesregierung eine falsche Regelung jetzt auch noch verlängern. Das ist grotesk. ({12}) Ich möchte ganz bewusst noch einen weiteren europapolitischen Aspekt hinzufügen. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist einer der Grundpfeiler der Europäischen Union. Gerade im Hinblick auf die europäische Verständigung ist deshalb diese Abschottungspolitik kontraproduktiv. Eine Politik der guten Nachbarschaft und Partnerschaft in Europa darf die Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedstaaten der EU nicht länger diskriminieren. ({13}) Wir sollten unseren neuen europäischen Partnern mit Offenheit begegnen, nicht uns von ihnen abschotten und ihren Bürgern misstrauen. ({14}) Die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, dass wir uns weiterentwickeln können und hierfür die entsprechenden Kapazitäten haben. Dazu müssen wir das Problem des Fachkräftemangels dringend beheben. Das scheint bei der Bundesregierung zumindest tendenziell angekommen zu sein. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind sich aber einig, dass der stärkere Zuzug von Fachkräften nach Deutschland über ein Punktesystem ein Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bei uns ist; ({15}) denn der Einsatz jeder weiteren Fachkraft zieht weitere Arbeitsplätze nach sich. Gebraucht werden nicht nur Hochqualifizierte, wie es die Bundesregierung teilweise vorsieht, sondern auch Facharbeiter und Saisonarbeitskräfte. In der Landwirtschaft beispielsweise trifft die weitere bürokratische Verschiebung der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf komplettes Unverständnis. Die Bundesregierung bedient hier lediglich ungerechtfertigte Ängste. ({16}) Hartfrid Wolff ({17}) Die Erfahrungen aus den anderen EU-Staaten zeigen, dass eine überbordende Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt nicht erfolgen wird. Hier wäre die Bundesregierung in der Pflicht, die Bevölkerung wahrheitsgetreu aufzuklären, anstatt die Angstmache durch Verlängerung der Übergangsregelungen zu verstärken. Ohne ein einheitliches System droht Deutschland den Wettbewerb um die klügsten Köpfe zu verlieren. Dieses punktuelle Herumwursteln, Herr Staatssekretär, ist kein einheitliches System. Aber anstatt die bewusste Gestaltung dieser Politik beherzt in die eigenen Hände zu nehmen, wird ein Verschiebebahnhof nach Brüssel organisiert. Die Idee, mit der Bluecard Hochqualifizierte nach Europa zu holen, ist grundsätzlich gut und richtig. Doch keine Initiative aus Brüssel entbindet uns von der Pflicht, zu Hause unsere Hausaufgaben zu machen. ({18}) Durch europäische Regelungen wird der Wettbewerb in Europa steigen. Mit den halbherzigen Vorschlägen der Bundesregierung verlieren wir gerade gegenüber unseren EU-Nachbarn weiter an Boden. CDU, CSU und SPD vergießen allerdings Krokodilstränen, beklagen sich über die Eurokratie in Brüssel und schieben der EU den Schwarzen Peter für eigene Versäumnisse zu. Das ist billig. ({19}) Heute tagt der Rat der EU-Innen- und -Justizminister. Es wäre gut, wenn aus Berlin ein klares Signal für eine kompetente nationale Zuwanderungssteuerung käme. Da die EU-Minister auch die Flüchtlingspolitik beraten, möchte ich hinzufügen: Die Zuwanderung aus humanitären Gründen muss im Fokus der Migrationspolitik bleiben. Wir werden nicht alle Probleme der Welt innerhalb unserer Landesgrenzen lösen können. Vor akuten Verfolgungsschicksalen dürfen wir aber nicht die Augen verschließen. Im Einzelfall ist hier ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein erforderlich. Außerdem muss man viele Maßnahmen, manchmal auch gut gemeinte Maßnahmen, kritisch hinterfragen, damit sie nicht kontraproduktiv wirken. ({20}) Ein erfolgreiches Instrument für die kritische Prüfung migrationspolitischer Maßnahmen ist die Härtefallkommission. Die FDP hat die Aufhebung der Befristung der Regelungen zu dieser Kommission gefordert. ({21}) Ich begrüße nachdrücklich, dass sich jetzt auch die Bundesregierung diesen Vorschlag zu eigen gemacht hat. ({22}) - Das ist richtig. Meine Damen und Herren, die demografische Entwicklung lässt erwarten, dass wir unseren wirtschaftlichen Standard mittelfristig nicht werden halten können, wenn wir uns nicht für die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte öffnen. Wie am Ausländerrecht nach wie vor deutlich wird, will die Bundesregierung eigentlich keine gesteuerte Zuwanderung. Die FDP hat ein Gegenmodell zu dieser restriktiven Politik vorgelegt. Wir brauchen ein Punktesystem, mit dem die Zuwanderung nach klaren Kriterien gesteuert wird und mit dem auch unsere Interessen und unsere Erwartungen an die Zuwanderer klar definiert werden. ({23}) Dabei spielen vor allem die Qualifikation, die berufliche Erfahrung, das Alter und die Kenntnisse der deutschen Sprache eine große Rolle. Entscheidend sind die Fragen: Wen wollen wir nach Deutschland einladen? Wer kann unsere Gesellschaft voranbringen? Für die Menschen, auf die dies zutrifft, brauchen wir eine Willkommenskultur, die es Hochqualifizierten und Fachkräften aus dem Ausland erleichtert, sich für Deutschland zu entscheiden. Die Bundesregierung will steuern. Sie steuert aber mit stotterndem Motor und fährt einen Zickzackkurs. Deutschland braucht nicht das angstgeleitete zuwanderungspolitische Stückwerk von CDU, CSU und SPD, sondern eine moderne, klare und nachvollziehbare Zuwanderungssteuerung aus einem Guss. Vielen Dank. ({24})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Josip Juratovic für die SPD-Fraktion. ({0})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die aktuelle Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist positiv. Die Arbeitslosigkeit ist mit 3,2 Millionen arbeitslosen Menschen so gering wie seit 15 Jahren nicht mehr. Es ist ein großer Erfolg, dass wir die Arbeitslosigkeit durch die Arbeitsmarktreformen der Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder senken konnten. ({0}) Leider ist die Zahl der Arbeitslosen aber immer noch viel zu hoch, vor allem unter den Geringqualifizierten. Wir Politiker stehen in der Pflicht, die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit alle Arbeitsuchenden die Chance auf eine Arbeitsstelle bekommen. Wir haben momentan wohl noch keinen flächendeckenden Fachkräftemangel zu verzeichnen. Klar ist aber: Wir brauchen mehr qualifizierte und hochqualifizierte Fachkräfte, um Wachstum und Beschäftigung auch für die Zukunft zu sichern. ({1}) Für uns Sozialdemokraten hat dabei die Ausschöpfung des heimischen Arbeitsmarktes Vorrang. Große Potenziale sehen wir bei der Jugend, bei den Frauen, den Älteren und den in Deutschland lebenden Migranten. ({2}) Der Ausbildungsbonus, der Ausbau der Ganztagsbetreuung und die Initiative „50 plus“ sind Maßnahmen, mit denen wir unseren Fachkräftebedarf decken wollen. Diesen Maßnahmen werden weitere folgen. Wir werden zum Beispiel das Recht auf das Nachholen des Hauptschulabschlusses einführen und für eine größere Durchlässigkeit des Hochschulsystems sorgen, damit auch ein Handwerksmeister ein Studium beginnen kann. ({3}) Doch all das wird nicht reichen. Trotzdem wird es zu Engpässen kommen. Bereits ab Mitte des kommenden Jahrzehnts kann dadurch unser Wirtschaftswachstum beeinträchtigt werden. Deswegen brauchen wir über das heimische Potenzial hinaus weitere Fachkräfte. Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung werden die bereits in Deutschland lebenden Ausländer als Potenzial erkannt. Des Weiteren werden Möglichkeiten zur Einwanderung hochqualifizierter Fachkräfte aus den neuen EU-Beitrittsstaaten und aus Staaten außerhalb der EU erschlossen. Für uns ist besonders das Potenzial interessant, das in den sogenannten Bildungsinländern steckt. Bildungsinländer sind zumeist junge Migrantinnen und Migranten, die in Deutschland die Schule und die Universität besucht und abgeschlossen haben. Sie sind mit der deutschen Sprache und der deutschen Kultur bestens vertraut, doch durch seinen unsicheren Aufenthaltsstatus ist dieser Personenkreis bislang chancenlos. Durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung erhalten beruflich gut qualifizierte geduldete Migranten künftig eine Aufenthaltserlaubnis und einen Zugang zum Ausbildungsund Arbeitsmarkt. Diese neuen Regelungen sind dringend notwendig. ({4}) Ich führe in meinem Bürgerbüro regelmäßig Gespräche mit Familien, die als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind und nun abgeschoben werden sollen, obwohl sie in unsere Gesellschaft integriert sind. Erst gestern wurde entschieden, dass eine kurdische Familie aus Heilbronn in die Türkei abgeschoben wird, obwohl die Kinder in Heilbronn voll integriert sind. Sie sprechen Deutsch, engagieren sich in ihrem Stadtteil, und die ältesten Kinder haben Angebote für eine Ausbildung. Diese Kinder könnten unsere Fachkräfte von morgen sein. ({5}) Durch dieses tragische Schicksal wird uns gezeigt: Es ist höchste Zeit, dass wir das Potenzial der unter uns lebenden geduldeten Asylbewerber nutzen. ({6}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Weg ist frei dafür, diesen Menschen einen besseren Status zuzuerkennen. Wieso tun wir das? - Wir haben in diese Menschen investiert: in ihre Integration und ihre Bildung. Daher muss es auch selbstverständlich sein, dass sie hier bei uns in Deutschland auch arbeiten dürfen. Doch auch das Potenzial der bereits in Deutschland lebenden Ausländer wird für uns nicht reichen, um den Fachkräftebedarf der Zukunft zu decken. Deswegen ist es gemäß dem Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz unter verschiedenen Voraussetzungen möglich, hochqualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland nach Deutschland zu holen: Erstens. Akademiker aus den neuen EU-Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa erhalten einen uneingeschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Zweitens. Akademiker aus den sogenannten Drittstaaten erhalten einen Zugang mit Vorrangprüfung. Drittens. Einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten hochqualifizierte Fachkräfte mit einem Einkommen von über 63 600 Euro. Viertens. Der Arbeitsmarkt wird für Absolventen der deutschen Schulen im Ausland geöffnet. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, gesetzliche Bestimmungen zur Zuwanderung sind die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist jedoch die Akzeptanz der Zuwanderung. Die Bundesregierung will die Übergangsregelung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit für die neuen EU-Mitgliedstaaten aus gutem Grund bis zum 30. April 2011 verlängern. Diese Zeit müssen wir nutzen, um in unserer Gesellschaft eine Akzeptanz für die Zuwanderung aufzubauen. Die FDP spricht davon, den Ausbildungsmarkt für junge Menschen aus Mittel- und Osteuropa zu öffnen. Das birgt sozialen Zündstoff. Wenn wir das tun, während momentan gerade einmal jeder Dritte oder Vierte einer Abschlussklasse einer deutschen Hauptschule einen regulären Ausbildungsplatz erhält, dann gewinnen wir keine gesellschaftliche Zustimmung zur Einwanderung. ({7}) Wir müssen zunächst alles daransetzen, dass unsere Jugendlichen eine reelle Chance auf einen Ausbildungsplatz bekommen. Außerdem müssen wir hierzulande ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die Zuwanderung für uns alle eine Chance bietet. Es ist eine Tatsache, dass der Zuzug von hochqualifizierten Fachkräften gerade für die Geringqualifizierten in Deutschland von Nutzen ist. Eine neue hochqualifizierte Fachkraft bedingt drei Arbeitsstellen für weniger qualifizierte Arbeitnehmer. Das sichert Arbeit. Das schafft Arbeit. Deswegen ist es sinnvoll, dass wir unseren Arbeitsmarkt zunächst für die hochqualifizierten Fachkräfte aus den neuen EU-Mitgliedstaaten öffnen, bevor ab 2011 unser Arbeitsmarkt allen neuen EU-Bürgern von Ungarn bis zum Baltikum offensteht. Durch diese Reihenfolge kann es uns gelingen, ein positives Klima für Zuwanderung zu schaffen. Deutschland hat mit ökonomischer Zuwanderung bereits seit über 50 Jahren Erfahrung. Wir wissen, dass wir mit den Fachkräften, die zu uns kommen, nicht nur Arbeitskräfte, sondern vor allen Dingen Menschen erwarten. Ich selbst bin im Alter von 15 Jahren aus Kroatien nach Deutschland gekommen. Seitdem habe ich viele Facetten der deutschen Migrationspolitik kennengelernt. Wir müssen die Ängste der Geringqualifizierten ernst nehmen. Einwanderung darf nicht nur unter wirtschaftlichen Aspekten geschehen, sondern muss den Bestand des sozialen Friedens in Deutschland gewährleisten. ({8}) Deswegen müssen wir - entgegen den Forderungen von FDP und Grünen - die Übergangsregelungen für die neuen EU-Mitgliedstaaten bis 2011 fortführen. Vor allem brauchen wir bis dahin in Deutschland einen flächendeckenden Mindestlohn. ({9}) Das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz ist ein vernünftiger Ansatz. Es nimmt Rücksicht auf die Menschen, die hierzulande leben, und auf die, die zu uns kommen. Es zeugt auch von Wertschätzung für die Migranten, die ohne Bleiberecht bei uns leben; denn sie erhalten die Möglichkeit, unserer Gesellschaft etwas zurückzugeben, statt nur aus humanitären Gründen auf unsere Hilfe angewiesen zu sein. Integration hilft beiden Seiten. Mit dem Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz zeigt die Bundesregierung, dass sie Einwanderungspolitik mit Augenmaß betreibt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Glaubt man den Wirtschaftsverbänden, der Bundesregierung oder der FDP - das sollte man aber lieber nicht machen -, dann hat Deutschland einen drastischen Mangel an Fachkräften, der negative Folgen für die Volkswirtschaft hat. Damit die deutsche Wirtschaft keine allzu großen Nachteile im Wettbewerb hat, will nun die Bundesregierung den Zuzug von hochqualifizierten ausländischen Fachkräften nach Deutschland erleichtern. Das erscheint irgendwie plausibel. Aktuell gibt es jedoch keine Anzeichen für einen allgemeinen Fachkräftemangel. Nach Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung - IAB gibt es den beklagten Fachkräftemangel in der Form nicht. Es deuten sich nur partiell Engpässe an. Das betrifft vor allen Dingen Akademikerinnen und Akademiker sowie Ingenieure bestimmter Fachrichtungen wie Maschinenbau-, Elektro- und Wirtschaftsingenieure. Während die Bundesregierung vom Fachkräftemangel redet, gibt es über 3 Millionen Erwerbslose und über 1 Million Langzeiterwerbslose; aber eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung gibt es nicht. ({0}) Während die Bundesregierung den Forderungen der Wirtschaft reflexartig folgt, werden über 6,5 Millionen Menschen im Niedriglohnsektor beschäftigt, und 1,3 Millionen Menschen erhalten zusätzliche Hilfen, weil ihr Lohn nicht ausreicht. Beachtlich ist hierbei, dass inzwischen nicht mehr hauptsächlich Geringqualifizierte und Ungelernte von Niedriglöhnen betroffen sind. Vielmehr haben derzeit circa 75 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnbereich eine abgeschlossene Berufsausbildung oder sogar einen Hochschulabschluss. Über 2 Millionen Beschäftigte gehen laut Verdi einem Zweitjob nach, um über die Runden kommen zu können. Während Sie den Mangel an qualifiziertem Personal beklagen, haben selbst gut qualifizierte und motivierte Berufsanfänger oft Schwierigkeiten beim Berufseinstieg und müssen etwa in gering oder gar nicht vergüteten Praktika versuchen, Anschluss zu finden. Andere ackern, wie gesagt, im Niedriglohnbereich, addieren oft mehrere Tätigkeiten und kommen dennoch nicht über die Runden. Von einer ausreichenden Vorsorge für das Alter können junge Leute, die unter solchen Erwerbsbedingungen arbeiten, nur träumen. Die daraus abgeführten Minimalbeiträge führen direkt in die Altersarmut unter dem schönmalerischen Titel „Grundsicherung im Alter“. All dies gilt es zu bedenken, wenn Nebelkerzen geworfen werden und gesagt wird, wir hätten einen Fachkräftemangel in Deutschland. Die Bundesregierung hat bisher im Bildungs-, Ausbildungs- und Hochschulbereich komplett versagt. ({1}) Der Bildungsbericht 2008 belegt dies schwarz auf weiß: die hohe Zahl von Schulabbrechern, das perspektivlose Lernen in Hauptschulen, die erschreckende soziale Ungleichheit, die Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund oder Behinderung, die chronische Unterfinanzierung aller Bildungsbereiche, die fehlenden Ausbildungsplätze und die sinkenden Studienanfängerzahlen. Der OECD-Bildungsbericht zeigt, dass Deutschland im internationalen Vergleich jedes Jahr an Boden verliert. Angesichts der Einführung von Studiengebühren, von unzureichendem BAföG und verstärkten Zulassungsbeschränkungen überrascht uns dies nicht wirklich. Dennoch werden weder vermehrt Bildungsanstrengungen unternommen noch vorhandene Personalreserven ausgeschöpft. Während die Verbände der Wirtschaft von Fachkräftemangel reden, lebt nach Schätzungen des Leiters des Oldenburger Interdisziplinären Zentrums für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen, Professor Dr. Rolf Meinhardt, etwa eine halbe Million zugewanderte Akademikerinnen und Akademiker in Deutschland, deren Abschlüsse hierzulande nicht anerkannt werden. Sie müssen in der Regel unqualifizierten Tätigkeiten nachgehen. So arbeiten häufig in Berlin russische Ärztinnen als Putzfrauen oder Ingenieure als Taxifahrer. Dazu haben wir Ihnen bereits im letzten Jahr einen Antrag mit dem Titel „Für eine erleichterte Anerkennung von im Ausland erworbenen Schul-, Bildungs- und Berufsabschlüssen“ vorgelegt. ({2}) Sie sind weiterhin untätig und berauben diese halbe Million Menschen ihrer Chance, qualifizierte Jobs auszuüben. Fast könnte man glauben, dass die Bundesregierung nun ihr Herz für Migrantinnen und Migranten oder Flüchtlinge entdeckt hat. Dem ist aber nicht so; denn die Bundesregierung hat nur ein Herz für die Nützlichen. ({3}) So soll zwar Hochqualifizierten aus anderen EU-Staaten ab 2009 der Zugang zum Arbeitsmarkt durch die Senkung der Mindestverdienstgrenze erleichtert werden. Für die hier lebenden geduldeten Menschen bleibt es hingegen bei den Arbeits-, Ausbildungs- und Studienhindernissen. ({4}) - Dann sagen Sie mir doch, warum Sie sie ausgeschlossen haben. Die Flüchtlingspolitik, die Sie seit Jahren betreiben, ist nichts anderes als blanker Zynismus. ({5}) Sie beweisen erneut, dass bei Ihnen Humanität und Menschenrechte immer unter ökonomischem Verwertungsvorbehalt stehen. Das ist die Leitlinie der Politik der Bundesregierung. Selektionsmechanismen nach Nützlichkeitskriterien lehnt die Linke generell ab. Besonders perfide finden wir sie, wenn sie sich auf das humanitäre Aufenthaltsrecht beziehen. Damit es keinen Mangel an Fachkräften gibt, schlägt Ihnen die Linke Folgendes vor: Schaffen Sie die Arbeitsund Ausbildungsverbote für Flüchtlinge endlich ab! Schaffen Sie eine wirksame Bleiberechtsregelung, damit erst gar keine Härtefälle entstehen und es einer Entfristung der Härtefallregelung nicht bedarf! Setzen Sie zusätzliche Mittel für Krippen, Kindergärten, Schulen, Hochschulen sowie berufliche Bildung und Weiterbildung ein, wenn nicht der soziale Status über den Bildungsweg und später über die Erwerbsbiografie entscheiden soll! Nehmen Sie sich ein Beispiel an Hessen und schaffen Sie bundesweit alle Studiengebühren ab! ({6}) Nehmen Sie endlich die Unternehmen der Privatwirtschaft und den öffentlichen Dienst in die Verantwortung und führen Sie eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage ein, damit Jugendliche nicht ohne Berufsausbildung dastehen! ({7}) Erkennen Sie endlich die biografischen Lebensleistungen der über 500 000 Menschen an, die einen im Ausland erworbenen akademischen Abschluss haben, der bislang in Deutschland nicht anerkannt wurde! ({8}) Schaffen Sie Mindeststandards für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ob sie nun aus Deutschland kommen oder aus Europa! Es muss endlich dafür gesorgt werden, dass unter gleichen Arbeitsbedingungen am gleichen Ort und für die gleiche Arbeit auch der gleiche Lohn gezahlt wird. Führen Sie somit endlich den gesetzlichen Mindestlohn ein, damit Beschäftigte nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden können! ({9}) Ratifizieren Sie endlich die Internationale Konvention der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen! Ich sage Ihnen: Wenn Sie das alles beherzigen, werden Sie keinen Fachkräftemangel mehr in diesem Land haben. Übrigens fordern wir die letzten Punkte auch im Zusammenhang mit der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit. Eine Lohnspirale nach unten, die sich vermutlich die FDP mit ihrem Antrag für die deutschen Unternehmen erhofft, ({10}) wollen wir mit der Unterstützung des Deutschen Gewerkschaftsbundes im Interesse der ausländischen wie der inländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verhindern. Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas sagen. Schon Karl Marx wusste: „Die Arbeiter haben kein Vaterland.“ - Die Linke ist nicht gegen die Zuwanderung von Menschen nach Deutschland. Die Linke ist für Freizügigkeit mit globalen sozialen Rechten. Wir sind aber gegen eine neue Gastarbeiterpolitik und die Ausbeutung von Menschen, die in Deutschland leben oder aus Europa zu uns kommen. Die Linke ist für die Solidarität unter den Beschäftigten unterschiedlicher Länder, die von denselben Konzernen und vom gleichen Kapital ausgebeutet und ausgeplündert werden.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, ich komme zum Schluss. - Die Linke ist für Arbeit, die ein Auskommen garantiert, und für gleiche Rechte für alle; sie ist gegen Lohndumping, das Sie zu verschärfen versuchen. ({0}) Sevim DaðdelenSevim Dağdelen

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort die Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Dağdelen, ich habe Ihren Beitrag gerade so verstanden, dass Sie in Bezug auf die Zuwanderung von Fachkräften äußerst zurückhaltend sind. Sie hätten heute den Tagesspiegel lesen sollen. In dieser Zeitung hat der Wirtschaftssenator Harald Wolf anlässlich dieser Debatte die vollständige Freizügigkeit für Arbeitnehmer, und zwar sofort, gefordert. ({0}) Vielleicht unterhalten Sie sich einmal innerhalb der Linken über die Frage, wie Sie sich positionieren wollen. ({1}) - Er hat von Mindestlöhnen nichts gesagt, Frau Dağdelen. Ich habe den Tagesspiegel hier. Lesen Sie das nach und besprechen Sie das miteinander! ({2}) Ja, das stimmt: Das Proletariat hat keine Heimat, aber wir sollten ihm wenigstens im Gastland angenehme Bedingungen bieten. Das wäre vernünftige Politik. ({3}) Ich habe Ihnen anlässlich der heutigen Debatte drei Zeitungsüberschriften mitgebracht, die ich kurz zitieren möchte. ({4}) - Zeitungslesen bildet, manchmal sollten auch Sie das tun. ({5}) Am 11. September 2008 titelte die Welt: „Ausländer machen einen Bogen um Deutschland“. Der Anlass war die Vorlage des aktuellen OECD-Migrationsberichts. Am 13. September 2008 legte die taz mit der Formulierung nach: „Bund lässt Akademiker links liegen“. ({6}) Anlass dafür war die Untersuchung zur mangelhaften Anerkennung von im Ausland erworbenen Bildungsabschlüssen. Aber schon am 1. September sagte Herr Scholz - das meldete die FAZ -, das Problem des Fachkräftemangels sei gelöst. ({7}) Nichts kann doch deutlicher dokumentieren, dass es in dieser Regierung eine ungeheure Kluft zwischen dem Problem an sich und dem Bewusstsein über dieses Problem gibt. ({8}) Ich finde, Sie ignorieren die Fakten. Mit der Politik, die Sie machen, hängen Sie Deutschland im internationalen Wettbewerb um die klügsten Köpfe und die besten Hände ab. Das ist nicht verantwortlich. ({9}) Auch das, was Sie jetzt wieder vorgelegt haben, bewegt sich weiter im Klein-Klein. Ich will Ihnen sagen, was Ihre bisherigen Bemühungen gebracht haben: Von der Veränderung des Zuwanderungsgesetzes in 2005 haben gerade 1 100 Menschen profitiert. ({10}) Die im letzten Jahr beschlossenen Erleichterungen haben bis Ende 2007 gerade einmal 19 zusätzliche Ingenieure aus Osteuropa nach Deutschland gelockt. ({11}) Sie schauen auf eine gescheiterte Zuwanderungspolitik. ({12}) Das müssen Sie endlich zur Kenntnis nehmen. Hören Sie auf, so weiterzumachen! ({13}) Mit diesem Gesetzentwurf wird aber genauso weitergemacht. ({14}) Auch jetzt heißt es wieder: ein bisschen für Hochqualifizierte, ein bisschen für Geduldete und ein bisschen für osteuropäische EU-Mitgliedstaaten. Stattdessen sollten Sie endlich Arbeitnehmerfreizügigkeit herstellen, die übrigens gerade von denjenigen Bundesländern gefordert wird, von denen Sie immer behaupten, Sie müssten sie davor schützen. Berlin fordert sie, Mecklenburg-Vorpommern fordert sie, Brandenburg fordert sie. Sie alle wollen die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit, weil sie genau wissen, dass sie davon profitieren werden. ({15}) Bei der Politik, die Sie hier betreiben, nehmen Sie nicht zur Kenntnis, dass andere Länder qualifizierten Zuwanderern längst den roten Teppich ausgerollt haben. Sie glauben immer noch, der Dienstboteneingang sei für diese Gruppe allemal gut genug. Aber das wird nicht funktionieren. ({16}) Alle Fachleute nennen eine zentrale Voraussetzung dafür, dass Zuwanderung funktionieren kann, und das ist Transparenz. Dieser Gesetzentwurf ist intransparent bis zum Gehtnichtmehr. ({17}) Wir brauchen durchschaubare Regelungen, nicht nur für Hochqualifizierte, sondern auch für Fachkräfte sowie - da haben Sie recht - für Geringqualifizierte. Deswegen ist die Idee des Punktesystems richtig. ({18}) Wir haben das schon vor Jahren auf die Tagesordnung gesetzt, aber Sie verweigern sich da. Übrigens brauchen wir eine grundsätzlich andere Haltung in dieser Frage. Zuwanderung ist kein Gnadenakt. Wir brauchen diese Menschen. ({19}) Die Wirtschaft braucht diese Menschen. Die Gesellschaft wird durch diese Menschen bereichert. ({20}) Zuwanderung muss natürlich gestaltet werden. Ein paar Leitlinien für die Gestaltung will ich Ihnen nennen: Erstens. „Öffnung statt Abschottung“ muss eine der Parolen sein. Deswegen führt kein Weg daran vorbei: Wir müssen, wie andere Länder auch, die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit herstellen. ({21}) Aber natürlich haben Sie recht: Wir müssen mit der Einführung von Mindestlöhnen in allen Branchen die Voraussetzung dafür schaffen. Dafür haben wir immer geworben. Ich verstehe einfach nicht, warum die SPDFraktion die Situation nicht nutzt, um den Mindestlohn durchzusetzen. Das wäre doch ein Argument. Sie könnte der CDU/CSU an dieser Stelle sagen: Wenn ihr Arbeitnehmerfreizügigkeit wollt, dann brauchen wir den Mindestlohn. - Aber stattdessen wird in dieser Frage weiter blockiert. Selbst die Bundesagentur für Arbeit, die lange vorsichtig argumentiert hat, sagt seit August dieses Jahres: Wir brauchen die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die Sorge, dass der Arbeitsmarkt überschwemmt wird, ist unberechtigt. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit bringt mehr Vorteile als Probleme. Zweitens. Keine Migration ohne Integration. Die Gastarbeiterpolitik der vergangenen Jahre ist gescheitert. Deswegen müssen wir Migration mit Integrationsmaßnahmen verbinden. Natürlich müssen alle Flüchtlinge und Geduldeten Zugang zu Ausbildung und Arbeit haben. Drittens. Ressourcen nutzen und nicht verplempern. Da haben Sie recht: Es ist doch absurd, dass ausgebildete Ärztinnen als Putzfrauen und Ingenieure als Hilfskräfte arbeiten. Das ist eine ungeheure Verschwendung des Potenzials von Menschen, die in diesem Land leben. Wir müssen die Abschlüsse, die in anderen Ländern erworben worden sind, endlich in stärkerem Maße anerkennen. Viertens. Deutschland ist keine Insel. Deswegen brauchen wir eine europäische Zuwanderungspolitik. Deutschland muss begreifen: Wir sind in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum, und deswegen müssen sich die Arbeitskräfte in diesem Wirtschaftsraum auch frei bewegen können. Last, but not least: Migranten und deutsche Arbeitskräfte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. ({22}) Wir brauchen den Dreiklang. Wir brauchen die Fachkräfte, die aus anderen Ländern kommen, aber nötig sind natürlich auch eine bessere Qualifikation und Integration derjenigen Gruppen, die bisher vernachlässigt worden sind, etwa der Frauen und Älteren. Wir können nicht nach Zuwanderung rufen und dann für diese Menschen nichts tun. Wir brauchen sie alle. ({23}) Die Politik muss aufhören, ängstlich und konfus zu agieren. Mutig und klar muss sie sein; dann wird sie auch gelingen. Wir sind gern bereit, Ihnen dabei zur Seite zu stehen. Ich danke Ihnen. ({24})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist mit Sicherheit unbestreitbar, dass wir in der deutschen Wirtschaft einen gestiegenen Fachkräftebedarf und in manchen Wirtschaftsbranchen mittlerweile auch einen Fachkräftemangel haben. Unbestreitbar ist aber ebenso, dass es in Deutschland nach wie vor über 3,2 Millionen offizielle Arbeitslose gibt. Die Große Koalition hat zwar viel dafür getan, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren und die Rahmenbedingungen so zu stricken, dass neue Arbeitsplätze geschaffen werden konnten. Ich erinnere daran, dass wir mit über 5 Millionen Arbeitslosen in die Große Koalition gestartet sind und jetzt bei 3,2 Millionen liegen. Aber es gibt nach wie vor arbeitslose Fachkräfte. Ich zitiere nur einmal aus der Arbeitslosenstatistik vom August dieses Jahres: ungefähr 20 000 arbeitslose Ingenieure, über 20 000 arbeitslose Techniker, 3 600 arStephan Mayer ({0}) beitslose Chemiker und Physiker und über 13 000 arbeitslose technische Sonderfachkräfte, insgesamt knapp 60 000. Kernaufgabe der deutschen Politik muss es daher sein, dass wir uns um die arbeitsuchenden Menschen in Deutschland kümmern. ({1}) Die Menschen in Deutschland, vor allem die Arbeitslosen, müssen ordentlich qualifiziert werden, damit sie auf dem ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Für uns als CSU und CDU ist eines klar: Bildung, Ausbildung und Qualifikation gehen vor Zuwanderung. Ich begrüße daher nachdrücklich die nationale Qualifizierungsinitiative der Bundesbildungsministerin Annette Schavan. Es muss alles darangesetzt werden, dass wir unsere jungen Menschen dahin bringen, dass sie ordentliche Ausbildungsberufe ergreifen und ihre Ausbildung erfolgreich abschließen, sodass sie dann auch einen erfolgreichen Weg im Arbeitsleben beschreiten können. Ferner müssen wir unser Bildungssystem insgesamt durchlässiger gestalten. Vorbildlich ist in diesem Zusammenhang Bayern. An den bayerischen Hoch- und Fachhochschulen haben 40 Prozent aller Studierenden ihren Zugang nicht über das Abitur genommen. Das verstehe ich unter einem durchlässigen Bildungssystem. Die Bedeutung des Ausländer- und Zuwanderungsrechts wird meines Erachtens bei der Frage, ob wir in Deutschland genügend Fachkräfte und Hochqualifizierte aus dem Ausland akquirieren können, überschätzt. Ich glaube, dass andere Faktoren eine größere Rolle spielen, beispielsweise die Möglichkeit, in Deutschland ordentlich zu verdienen. Diese Spitzenkräfte, die wir nach Deutschland holen wollen - der weltweite Kampf um die fähigen und intelligenten Köpfe ist schon angesprochen worden -, können wir nur gewinnen, wenn die Wirtschaft sie auch ordentlich bezahlt. Auch müssen wir diesen Spitzenkräften aus dem Ausland entsprechende Forschungs- und Entwicklungsmöglichkeiten in Deutschland bieten. Diese Faktoren sind meines Erachtens bei weitem ausschlaggebender als das Zuwanderungs- und Ausländerrecht. Es ist Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen für die deutsche Wirtschaft so zu gestalten, dass sie gegenüber der ausländischen Konkurrenz wettbewerbsfähig ist. Ich sage aber auch ganz deutlich, dass die Unternehmen nicht nur nach dem Staat rufen dürfen, sondern auch selbst in der Verpflichtung sind, attraktive Rahmenbedingungen zu bieten. ({2}) Sie müssen ordentliche Gehälter zahlen, aber auch darauf achten, dass sie schon frühzeitig deutsche Nachwuchskräfte ausbilden und damit die künftigen Führungskräfte in ihren Unternehmen heranziehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz, das wir heute in erster Lesung beraten, ist meines Erachtens ein zielführender erster Beitrag zur Sicherung der Fachkräftebasis in Deutschland. Ich gehe auf einige Punkte detaillierter ein. Schon erwähnt wurde die geplante Absenkung der Mindestverdienstgrenzen, denen in der Debatte aber eine zu hohe Bedeutung beigemessen wird, weil es schon heute möglich ist, unterhalb dieser Mindestverdienstgrenze von derzeit 86 600 Euro Nicht-EU-Ausländer nach Deutschland zu holen, wenn die Vorrangprüfung ergibt, dass es auf dem deutschen Arbeitsmarkt keinen vergleichbaren deutschen Arbeitslosen gibt und auch kein EU-Ausländer dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. ({3}) Dennoch ist es richtig, diese Absenkung vorzunehmen. Ich schließe nur die Frage an, was passiert, wenn diese Absenkung der Mindestverdienstgrenze auch wieder nicht den Erfolg zeitigen sollte, den wir uns alle davon erhoffen. ({4}) Bei dieser Gelegenheit weise ich auch noch darauf hin, dass es schon heute - dies ist in der Wirtschaft leider zu wenig bekannt - die von uns gewünschten flexiblen, intelligenten Methoden gibt, um auch zielgerichtete Zuwanderung nach Deutschland zu ermöglichen. ({5}) Die Bundesagentur kann zum Beispiel gemäß § 39 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes sektoral, also bei bestimmten Branchen und Wirtschaftszweigen, auf die sogenannte Vorrangprüfung verzichten. Ich möchte ganz deutlich daran erinnern, dass die Bundesregierung in Meseberg beschlossen hatte, ab dem 1. November letzten Jahres für Fahrzeugbauingenieure, Elektroingenieure und Maschinenbauingenieure auf die Vorrangprüfung zu verzichten. Dies sind, meine lieben Kollegen von der FDP, meines Erachtens diese intelligenten, flexiblen, passgenauen Methoden und Mittel, die wir brauchen, um eine gezielte, plangerichtete Zuwanderung nach Deutschland zu erreichen. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein weiterer kritischer Punkt in diesem Gesetzentwurf ist mit Sicherheit die Frage, wie wir mit den geduldeten Personen in Deutschland umgehen. Um eines von vornherein klarzumachen: Mir ist es lieber, dass ein geduldeter Ausländer, der aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden kann, der rechtstreu ist, bisher nicht straffällig geworden ist und über ausreichend Wohnraum und ausreichende Deutschkenntnisse verfügt, ({7}) Stephan Mayer ({8}) arbeitet, damit selber zu seinem Lebensunterhalt beiträgt und in Deutschland Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlt, ({9}) als dass er dem Staat auf der Tasche liegt und letztlich nur Empfänger von sozialen Transferleistungen ist. ({10}) Wir werden bei der Behandlung des Gesetzentwurfes peinlichst darauf achten, dass eines nicht ausgelöst wird, nämlich eine falsche Signalwirkung im Hinblick auf eine ungesteuerte und nicht gewollte Zuwanderung nach Deutschland. Dieser Pull-Effekt, den diese Regelung auslösen könnte, muss auf jeden Fall vermieden werden. ({11}) Deswegen werden wir bei der weiteren Beschäftigung mit diesem Gesetzentwurf darauf achten, dass hier kein falscher Anreiz, meine liebe Kollegin Dağdelen, zum Missbrauch gesetzt wird. Genau dies wollen wir ausdrücklich verhindern. ({12}) Ich möchte deswegen zum Beispiel hinterfragen, ob eine Beschäftigung von zwei Jahren in Deutschland wirklich ausreichend dafür ist, dass eine Person, die - wohlgemerkt - an sich zur Ausreise verpflichtet ist, in Deutschland in den Genuss einer allgemeinen Arbeitserlaubnis kommen kann. Ich denke, über den Zeitraum, der erforderlich ist, um eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, müssen wir bei der Beschäftigung mit diesem Gesetzentwurf noch einmal ganz vorurteilsfrei und offen diskutieren. Ich möchte auch anmahnen, dass wir uns bei der Behandlung des Gesetzentwurfes die Zeit und die Muße nehmen, darüber zu diskutieren, ob es richtig ist, schon jemanden als Fachkraft zu definieren, der nur eine dreijährige Berufsausbildung absolviert hat. ({13}) Auch dies müssen wir mit Sicherheit bei der Behandlung des Gesetzentwurfes noch einmal besprechen. An dieser Stelle möchte ich noch darauf hinweisen, dass es einen Antrag des Freistaates Bayern und des Landes Niedersachsen im Bundesrat gibt, der meines Erachtens sehr begrüßenswert und sehr bemerkenswert ist und der mit Sicherheit auch in die Beratung hier im Bundestag miteinbezogen werden sollte. Der Antrag der FDP auf Entfristung des § 23 a des Aufenthaltsgesetzes hat sich erledigt, weil er schon in den Gesetzentwurf aufgenommen wurde. Ich würde Ihnen, meine lieben Kollegen von der FDP, deswegen anheimstellen, diesen Antrag zurückzuziehen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, vonseiten der Union werden wir die Behandlung dieses Gesetzentwurfes sehr aufmerksam, sehr intensiv und sehr wohlwollend verfolgen. Herzlichen Dank. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort für die SPD-Fraktion der Kollege Rüdiger Veit.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Republik wird immer leerer. In manchen Jahren sind mehr Personen aus Deutschland weggezogen als neu hinzugewandert. Bei der Geburtenrate liegen wir auf dem letzten bzw. vorletzten Platz in Europa. Wir sind daher - darin scheinen jetzt alle übereinzustimmen - zur Aufrechterhaltung unseres Wirtschaftssystems und unserer Sozialversicherungssysteme dringend gefordert, Zuwanderung zu organisieren bzw. dafür zu sorgen, dass qualifizierte ausländische Mitbürger hier bleiben können und nicht abgeschoben werden. Darin, lieber Kollege Mayer, sind wir uns einig. Ich erlaube mir aber, gleich noch auf einen Widerspruch in Ihrer Argumentation einzugehen. Wir als SPD-Fraktion haben übrigens diese Notwendigkeiten schon vor mehr als sieben Jahren erkannt und damals mit Bündnis 90/Die Grünen ein Zuwanderungsgesetz geschaffen und hier zur Beratung vorgelegt, ({0}) in dem ein Punktesystem vorgesehen war, das es erlaubt hätte, flexibel auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes und der Wirtschaft auf der einen Seite und die menschlichen Fähigkeiten auf der anderen Seite einzugehen. Auch die Zahl der Zuwanderer hätte man nach den entsprechenden Erfordernissen steuern können. Es war leider die CDU/CSU sowohl hier im Bundestag als auch in den Ländern, die dies nicht so gesehen hat und diese Punkteregelung gestrichen hat. Wir bedauern das sehr. Heute besteht allgemeine Übereinstimmung darin, dass wir handeln müssen. Wir sollten uns nicht über die Zuspätgekommenen, was die Einsichtsgewinnung angeht, beklagen. Ich bin froh darüber, dass wir jetzt so weit sind, dass wir darüber politisch im Wesentlichen unstreitig diskutieren können. Nun ist dieser Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung der Arbeitsmigration ein - erlauben Sie mir bitte, ihn so zu qualifizieren - kleiner, aber wichtiger Etappensieg der Vernunft ({1}) und findet - von entsprechenden Details abgesehen, die ich noch ansprechen werde - unsere ausdrückliche Zustimmung. Richtigerweise wird die MindesteinkomRüdiger Veit mensgrenze für Hochqualifizierte gesenkt. Kollege Mayer, Sie haben recht, wir wissen nicht genau, ob die 64 000 Euro die richtige Größenordnung sind. Wir haben schon in der Anhörung zum Zuwanderungsgesetz - ich glaube, sie fand im Mai 2007 statt - von den Praktikern gehört, dass die damals und auch heute noch geltende Grenze von 86 000 Euro viel zu hoch ist und in der Praxis ins Leere läuft. Wichtig ist der Schwerpunkt der neuen gesetzlichen Regelung. In der Begründung heißt es richtigerweise: Deutschland will vor allem die Potenziale derjenigen jungen Ausländer und Ausländerinnen nutzen, die durch Integration im Inland mit der deutschen Kultur vertraut sind und hier ihre Ausbildung absolvieren … Weiter heißt es dann - dem stimme ich voll zu -, dass die bisherige gesetzliche Altfallregelung und auch die von den Innenministern beschlossene Bleiberechtsregelung manchmal viel zu hohe Hürden aufstellen. Insofern habe ich mich gefreut, von der Gesetzesbegründung in meiner Einschätzung bestätigt zu werden. Die jetzige Neuregelung soll dem ein Stück weit entgegenwirken. Wir wollen vor allen Dingen denjenigen einen gefestigten Verbleib ermöglichen - das ist die erste Gruppe -, die in Deutschland eine Berufsausbildung oder ein Studium erfolgreich absolviert haben. Die zweite Gruppe umfasst die hier anerkannten Hochschulabsolventen, die zwei Jahre lang durchgängig in ihrem Beruf gearbeitet haben. In diesem Zusammenhang - lassen Sie mich das sagen - gibt es Übereinstimmung mit den Rednern der Opposition: Wir müssen aufpassen, dass wir bei der Verwendung der Terminologie „anerkannter ausländischer Hochschulabschluss“ die Kriterien nicht wieder so eng fassen, dass dadurch im Ergebnis viel zu viele Menschen nicht berücksichtigt werden. ({2}) Vielmehr sollten wir uns folgender Terminologie annähern: Wenn der ausländische Hochschulabschluss dem deutschen in etwa entspricht, dann ist die Voraussetzung erfüllt. Die dritte Gruppe, welcher ein sicherer Verbleib ermöglicht werden soll, umfasst diejenigen Fachkräfte, die zwei Jahre lang durchgängig in einer Beschäftigung tätig waren, die eine qualifizierte Berufsausbildung voraussetzt. Mit Blick auf diesen Vorschlag ist gefragt worden, ob wir dadurch vielleicht einen Pull-Effekt auslösen. Das, lieber Kollege Mayer, vermag ich beim besten Willen nicht zu erkennen. Denn wir reden von denjenigen, die bereits langjährig hier leben, geduldet sind und im Arbeitsmarkt integriert sind. Insofern kann man bei Ausländern, die noch gar nicht in Deutschland sind, einen solchen Sog oder Pull-Effekt nicht bewirken. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass ich mehrfach an dieser Stelle - aber nicht nur hier - folgenden Widersinn beklagt habe: Auf der einen Seite jammern wir über zu geringe Geburtenraten und darüber, dass unsere Sozialversicherungssysteme nicht mehr funktionieren. Auf der anderen Seite schieben wir viele, die nur geduldet sind und keinen gesicherten Aufenthalt haben, notfalls sogar zwangsweise ab. Aus diesem Grunde haben die Große Koalition einerseits und die Innenminister der Länder andererseits erfreulicherweise eine Altfall- und Bleiberechtsregelung geschaffen, die 50 000 Menschen eine Perspektive ermöglicht. Das reicht aber nicht aus. Es ist ziemlich kurios, dass man auf der einen Seite denjenigen, die für unsere Wirtschaft in besonderer Weise nützlich sein könnten, die Tür weist und auf der anderen Seite sagt, dass man neue Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte braucht. Jetzt können wir dieser Bevölkerungsgruppe, diesen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, möglicherweise Rechtssicherheit bzw. einen gefestigten Aufenthalt gewähren. Aber die Anzahl ist schwer zu beziffern. Ich jedenfalls sehe mich außerstande, zu sagen, wie viele betroffen sind. Es gibt in den Beiträgen der Opposition den Hinweis, wir sollten am besten sofort volle Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU gewähren. Ich persönlich sage aus meiner eher ausländerrechtlichen Betrachtungsweise heraus: Vielleicht wäre es sinnvoller, bei denjenigen ein wenig großzügiger zu sein, die zwar keine EU-Angehörigen sind, aber als ausländische Mitbürger hier integriert und ausgebildet worden sind. ({3}) - Ich höre von Herrn Wolff, da sei kein Widerspruch. Wir werden aber an der einen oder anderen Stelle ein paar kritische Bemerkungen anbringen und das Gesetzgebungsverfahren dazu benutzen müssen, in den Ausschüssen Vorschriften herauszunehmen, die nicht in das Gesetz hineingehören. Ich nenne nur ein Beispiel für Überregulierung: Im Gesetzentwurf ist der Ermessensausweisungstatbestand der Täuschung des Arbeitgebers neu aufgenommen worden. Das ist erstens deswegen völlig überflüssig, weil es systemfremd ist; denn normalerweise interessiert es die Ausländerbehörden und den deutschen Staat überhaupt nicht, was im privaten Verhältnis geschieht, es sei denn, es ist strafbar. ({4}) Zweitens ist es deswegen überflüssig, weil jeder ausländische Mitbürger, der seinen Arbeitgeber bei der Eingehung eines Arbeitsverhältnisses über die Voraussetzungen täuscht, damit zugleich auch die Ausländerbehörde täuscht, die darüber entscheidet, dass er aufgrund dieses Arbeitsverhältnisses eine Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis erhält. Deswegen ist das ein typischer Fall von Überregulierung und kann aus dem Gesetzentwurf gestrichen werden. Diese Ermessensausweisungsmöglichkeit ist bereits nach anderen Vorschriften gegeben. ({5}) Ich möchte an dieser Stelle im Rahmen der zur Verfügung stehenden Redezeit noch zwei andere Bemerkungen aus ausländerrechtlicher Sicht machen. Ich finde es erfreulich, dass die sogenannte Härtefallregelung des § 23 a des Aufenthaltsgesetzes entfristet werden soll. Mittlerweile haben alle Bundesländer Härtefallkommissionen geschaffen. Hinsichtlich der Zusammensetzung der Kommissionen, ihrer Verfahren, ihrer Effektivität und in Bezug darauf, ob die Länderinnenminister auf die Empfehlungen achten, gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern. Trotzdem ist das vom Prinzip her gut. Wir haben die Härtefallregelung seinerzeit nicht nur deswegen befristet, weil man sehen wollte, wie es mit der Einklagbarkeit ist, sondern auch deshalb, weil wir der Auffassung waren, dass unser neues Ausländer- und Zuwanderungsrecht nun so gut sei, dass in Zukunft womöglich gar keine Härtefälle mehr entstehen könnten. Das ist aber leider ein Trugschluss, insbesondere aufgrund der auf Drängen der Union wieder eingeführten Duldung; hier gibt es das Problem der Kettenduldung, und da sind wir wieder bei dem Thema Altfallund Bleiberechtsregelung, die lange nicht beseitigt sind. Selbst wenn wir mit diesem Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz einen Beitrag dazu leisten, dass die hier gut Integrierten bleiben können, sind damit immer noch nicht alle Fälle gelöst, die in humanitärer Hinsicht hätten gelöst werden müssen. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Man hätte dieses Gesetzgebungsverfahren aus der Sicht der meisten in der SPD-Fraktion, auch aus meiner persönlichen Sicht, durchaus zum Anlass nehmen können, noch einen anderen Punkt aktuell mit zu regeln. Ich meine die Voraussetzungen für den Ehegattennachzug. Wir haben im letzten Änderungsverfahren zum Aufenthaltsgesetz auf Drängen der Union Vorschriften mit aufgenommen, die als Voraussetzung für den Nachzug beispielsweise den vorherigen Erwerb von Sprachkenntnissen im Ausland verlangen. ({6}) Nun hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 25. Juli dieses Jahres, also vor nicht allzu langer Zeit, entschieden, dass immer dann, wenn ein Staatsbürger aus der EU seinen Ehegatten aus dem Ausland nachziehen lassen will, nicht das nationale Recht bestimmen darf, dass das an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist, also auch nicht, wie in unserem Fall, an den vorherigen Erwerb von Deutschkenntnissen. Nun muss man nicht über besonders viel logisches Denkvermögen verfügen, um festzustellen: Wenn ein EU-Staatsangehöriger in Deutschland ohne jede Voraussetzung seinen ausländischen Ehegatten nachziehen lassen darf, dann kann man schlecht von einem deutschen Staatsbürger, der hier lebt und hier geboren ist, erwarten, dass er erst einmal dafür sorgt, dass die Ehefrau oder der Ehemann im Ausland Deutschkenntnisse erwirbt. Das ist ein Wertungswiderspruch und eine Inländerdiskriminierung, die nach meinem Dafürhalten nicht aufrechterhalten werden kann. Deswegen rege ich durchaus an, dass man das in einem solchen Gesetz aktuell regelt. ({7}) - Das war damals ein schmerzhafter Kompromiss, liebe Kollegin Dağdelen. Wenn der Europäische Gerichtshof uns jetzt ein schlagendes Argument liefert, sodass wir mit unserem Koalitionspartner über diesen Wertungswiderspruch noch einmal reden können, dann werden wir das gerne tun und das, wenn wir uns durchsetzen, im Gesetz entsprechend ändern. Insgesamt also ein begrüßenswerter Gesetzentwurf, ein wichtiger kleiner Etappensieg; die Richtung jedenfalls stimmt. Deswegen wird die SPD-Fraktion den Beratungsprozess sehr konstruktiv begleiten. Danke für die Aufmerksamkeit. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Michael Hennrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Hennrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003551, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir behandeln heute das Thema Steuerung der Arbeitsmigration nach Deutschland. Die Probleme sind vielfältig und facettenreich. Die Bundesregierung hat hierzu einen umfassenden Maßnahmenkatalog vorgelegt, um die Fachkräftebasis in Deutschland zu sichern. Ich möchte einen Punkt gesondert behandeln, zu dem uns ein Antrag von den Grünen und ein Antrag von der FDP vorliegen. Es geht um die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den neuen Beitrittsstaaten in Ost- und Mitteleuropa. ({0}) Wie Sie an dem Maßnahmenkatalog sehen, wollen wir die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit um zwei Jahre verlängern. Die Grünen und die FDP lehnen dies ab. Sie verweisen auf Großbritannien, Irland und Schweden, die von Anfang an keine Beschränkung hatten, sowie auf zahlreiche andere Mitgliedstaaten, die mittlerweile angeblich von dieser Beschränkung abgerückt seien. Frau Pothmer, Sie verweisen auch auf die vielfältigen positiven Erfahrungen, die man insbesondere in Großbritannien gemacht habe, und auf den kulturellen Austausch. In der Tat waren am Anfang die Erfahrungen positiv. Aber wenn Sie in den letzten Wochen und Monaten die Medien verfolgt haben, dann wissen Sie, dass es zu einer Veränderung der Sichtweise in Großbritannien gekommen ist. Wenn Sie die Schlagzeilen britischer TageszeiMichael Hennrich tungen lesen - Frau Pothmer, Sie sind ja belesen -, dann erfahren Sie etwas über die Ausbeutung der Arbeitnehmer und über die schlechte soziale Versorgung der Migranten. Das alles geschieht trotz staatlichen Mindestlohnes. Selbst offizielle Stellen in Großbritannien räumen mittlerweile ein, dass sie mit der Migration überfordert sind. Ich frage Sie, warum fast alle EU-Staaten die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänien und Bulgarien beschränken. Schweden ist das einzige Land, das für Menschen aus Rumänien und Bulgarien die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit garantiert. Alle anderen EUMitgliedstaaten machen von den Ausnahmeregelungen für die neuen Beitrittsstaaten Rumänien und Bulgarien Gebrauch. Die Grünen sprechen in ihrem Antrag vom Wettbewerb um die besten Köpfe aus Ost- und Mitteleuropa. In der Tat brauchen wir solche klugen Köpfe. Die Bundesregierung hat darauf eine Antwort gegeben. Es lohnt sich, einmal die Statistiken aus Großbritannien anzuschauen. Wer ist zugewandert, und in welchen Tätigkeitsbereichen werden diese Migranten in Großbritannien eingesetzt? Fabrik- und Lagerarbeiter, Verpacker und Beschäftigte im Transportwesen: 82 Prozent, Servicekräfte für Hotel- und Gaststättengewerbe: 11 Prozent, Landwirtschaft: 4 Prozent. Das sind meines Erachtens keine Jobs, für die wir Hochqualifizierte brauchen. Der Kollege Mayer hat das schon ausgeführt. Wir können diese Stellen bei uns genauso gut mit heimischen Arbeitskräften besetzen. Lassen Sie mich noch auf das Thema Saisonarbeitskräfte eingehen, das Sie in Ihrem Antrag ebenfalls erwähnen. Wir haben alle noch die Situation von vor zwei Jahren vor Augen, als die Ernte nicht eingefahren werden konnte. Aber dies war kein Problem der fehlenden Arbeitnehmerfreizügigkeit. Diese Saisonarbeitskräfte fehlten nämlich auch in Großbritannien. Wir haben vor zwei Jahren einfach erlebt, wie Markt funktioniert. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat eine Reise nach Rumänien unternommen. Die Grünen und leider auch die FDP waren nicht dabei. ({1}) Wenn Sie dabei gewesen wären, dann hätten Sie folgende Erfahrung gemacht: Rumänen, Polen und Bulgaren gehen nicht nach Deutschland oder Großbritannien aus zwei ganz einfachen Gründen: Das Wetter in Spanien und Italien ist besser, und bezahlt wird dort genauso gut wie in Deutschland. Deswegen kamen die Saisonarbeitskräfte nicht nach Deutschland. Unsere Landwirte haben aber darauf reagiert. In diesem Jahr waren die Probleme daher bei weitem nicht so groß wie vor zwei Jahren. Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Aspekt ansprechen, auf den Sie überhaupt nicht eingegangen sind, Frau Pothmer. In Anträgen der Grünen zur Entwicklungspolitik steht immer, dass wir für Afrika keine Fachkräfte abwerben sollen, die im Bereich des Gesundheitswesens tätig sind, und Ähnliches. Wir haben in Litauen vor einem Jahr erlebt, dass auch dort eine umfassende Gesundheitsversorgung der Bevölkerung nicht mehr möglich war. Wenn Sie die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit einführen, hat dies zur Folge, dass Sie diese Länder ihrer Zukunftschancen berauben. ({2}) Was wir brauchen, ist eine kluge Migrationspolitik, Frau Pothmer. Darauf hat die Bundesregierung eine Antwort gegeben. Ihre Anträge lehnen wir ab. Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/10288, 16/10237, 16/9091 und 16/10310 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- schlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 ii sowie Zusatzpunkte 5 a und 5 b auf: 38 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 33 des Gerichtsverfassungsgesetzes - Drucksache 16/514 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 573 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs - Drucksache 16/1029 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung - Drucksache 16/1345 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - § 21 StGB ({2}) - Drucksache 16/4021 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Innenausschuss Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes - Drucksache 16/4199 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({4}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Opferschutzes im Strafprozess - Drucksache 16/7617 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({5}) Innenausschuss g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren - Drucksache 16/7956 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({6}) Innenausschuss h) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts - Drucksache 16/7957 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({7}) Innenausschuss i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bundesnotarordnung und anderer Gesetze - Drucksache 16/8696 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({8}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes - Drucksache 16/9021 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({9}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend k) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der Opfer von Zwangsheirat und schwerem „Stalking“ - Drucksache 16/9448 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({10}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe l) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Modellklausel in die Berufsgesetze der Hebammen, Logopäden, Physiotherapeuten und Ergotherapeuten - Drucksache 16/9898 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({11}) Ausschuss für Arbeit und Soziales m) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge- setzes über den Bau und den Betrieb von Ver- suchsanlagen zur Erprobung von Techniken für den spurgeführten Verkehr - Drucksache 16/9899 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung n) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Vorschriften des Internationalen Privatrechts an die Verordnung ({12}) Nr. 864/2007 - Drucksache 16/9995 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({13}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit o) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Düngegesetzes - Drucksache 16/10032 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({14}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit p) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Meldungen über Marktordnungswaren - Drucksache 16/10033 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz q) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch- führung des Übereinkommens vom 30. Okto- ber 2007 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen - Drucksache 16/10119 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss r) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das Bundeskriminalamt - Drucksache 16/10121 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({15}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt s) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung gemeinschaftlicher Vorschriften über das Verbot der Einfuhr, der Ausfuhr und des Inverkehrbringens von Katzen- und Hundefellen ({16}) - Drucksache 16/10122 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz t) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das Personal der Bundesagentur für Außenwirtschaft ({17}) - Drucksache 16/10293 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({18}) Innenausschuss u) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Filmförderungsgesetzes - Drucksache 16/10294 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien v) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro- tokoll vom 15. Oktober 2007 zur Änderung des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Russischen Föderation zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 29. Mai 1996 und des Pro- tokolls hierzu vom 29. Mai 1996 - Drucksache 16/10295 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss w) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 3. März 2008 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland - Körperschaft des öffentlichen Rechts - zur Änderung des Vertrages vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland - Körperschaft des öffentlichen Rechts - Drucksache 16/10296 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({19}) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO x) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Geset- zes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes - Drucksache 16/10297 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung y) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes - Drucksache 16/10298 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({20}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit z) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Veröffentlichung von Informationen über die Zahlung von Mitteln aus den Europäischen Fonds für Landwirtschaft und Fischerei ({21}) - Drucksache 16/10299 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz aa) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grenzwerte bei Müllverbrennungsanlagen dem technischen Fortschritt anpassen und deutlich absenken - Drucksache 16/5775 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({22}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit bb)Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Leutert, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für die Durchsetzung von Mindeststandards humanen Arbeitens in der Volksrepublik China eintreten - Menschenrechte und Sozialstandards bei Konzerngeschäften in und mit China durchsetzen - Drucksache 16/9413 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({23}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung cc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({24}), Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grundrechte schützen - Frauenhäuser sichern - Drucksache 16/10236 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({25}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt dd)Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({26}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({27}) Potenziale und Anwendungsperspektiven der Bionik ({28}) - Drucksache 16/3774 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({29}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ee) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({30}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({31}) Politik-Benchmarking: Akademische Spin-offs in Ost- und Westdeutschland und ihre Erfolgsbedingungen - Drucksache 16/4669 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({32}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales ff) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({33}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({34}) Politikbenchmarking: Nachfrageorientierte Innovationspolitik - Drucksache 16/5064 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({35}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gg)Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({36}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({37}) TA-Vorstudie: Perspektiven eines CO2- und emissionsarmen Verkehrs - Kraftstoffe und Antriebe im Überblick - Drucksache 16/5325 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({38}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus hh)Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({39}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({40}) TA-Projekt: Hirnforschung - Drucksache 16/7821 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({41}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Kultur und Medien ii) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({42}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({43}) Internetkommunikation in und mit Entwicklungsländern - Chancen für die Entwicklungszusammenarbeit am Beispiel Afrika - Drucksache 16/9918 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({44}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien ZP 5a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Steuerautonomie in den Ländern ({45}) - Drucksache 16/10309 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({46}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Trittin, Kerstin Müller ({47}), Winfried Nachtwei, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kontraproduktive US-Operationen in Pakistan sofort einstellen - Umfassende Strategie zur Stabilisierung Pakistans entwickeln - Drucksache 16/10333 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({48}) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Sie sind also damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 39 a bis 39 c sowie zu Zusatzpunkt 6. Dabei geht es um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 a auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({49}) zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller ({50}), Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine militärische Eskalation gegenüber dem Iran - Konflikt um das Atomprogramm mit Verhandlungen lösen - Drucksachen 16/4407, 16/7515 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Dr. Rolf Mützenich Dr. Werner Hoyer Kerstin Müller ({51}) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7515, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4407 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 b auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({52}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Volker Beck ({53}), Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europol-Beschluss rechtsstaatlich verbessern - Drucksachen 16/7742, 16/9825 Berichterstattung: Abgeordnete Ralf Göbel Wolfgang Gunkel Gisela Piltz Wolfgang Wieland Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9825, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7742 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 c auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({54}) zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({55}), Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Parlament bei der Ausgestaltung des Einbürgerungstests beteiligen - Drucksachen 16/9602, 16/9945 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Hartfrid Wolff ({56}) Josef Philip Winkler Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9945, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9602 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion der FDP angenommen. Wir kommen zum Zusatzpunkt 6: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({57}) Übersicht 12 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 16/10321 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({58}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Entfernungspauschale sofort vollständig anerkennen - Verfassungsmäßigkeit und Steuergerechtigkeit herstellen - Drucksachen 16/9167, 16/9569 Berichterstattung: Abgeordnete Olav Gutting ({59}) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Ich will darauf hinweisen, dass wir über diese Beschlussempfehlung später namentlich abstimmen werden. ({60}) Zunächst kommen wir aber zur Aussprache. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist dafür eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Florian Pronold für die SPDFraktion.

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum wiederholten Male, aber dieses Mal zu prominenterer Stunde, ({0}) haben wir das Thema Entfernungspauschale auf der Tagesordnung. Dieses Mal hat die Linke einen Schaufensterantrag zur bayerischen Landtagswahl gestellt, um die CSU vorzuführen. ({1}) Diesen Antrag braucht man dafür aber nicht, weil sich die CSU bei der Pendlerpauschale schon zur Genüge selbst vorgeführt hat. ({2}) Das wird klar, wenn man das Hin und Her der letzten Monate zu dieser Frage betrachtet. Ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass meine Anregung, in dieser wichtigen Debatte nicht nur einen Abgeordneten der CDU, sondern auch einen Abgeordneten der CSU sprechen zu lassen, dieses Mal aufgenommen worden ist. Das ist erfreulich. ({3}) - Dieses Mal trauen sie sich. ({4}) - Ich komme gleich zu dem Thema, Herr Niebel. Wir haben die Debatte schon zweimal geführt. Ich habe Ihnen das schon zweimal erklärt, werde es Ihnen aber auch ein drittes Mal erklären. Ich befürchte nur, Sie wollen es gar nicht hören. Wir haben folgende Genese des Vorgangs: Ich habe gehört, dass es eine Erklärung der CSU-Landesgruppe gibt, nach der sie der Kürzung der Pendlerpauschale nur zugestimmt habe, weil es im Jahr 2006 quasi eine Haushaltsnotlage gab. Das hat mich überrascht, weil ich das CDU/CSU-Wahlprogramm von 2005 aufmerksam gelesen habe. Damals sind Steuerersenkungen versprochen worden. Gleichzeitig wurde aber - auf Seite 17 - nicht nur die Abschaffung der Steuerfreiheit von Nacht- und Sonntagsarbeit, sondern auch die Kürzung der Pendlerpauschale gefordert. Das kann mit der Haushaltsnotlage nicht begründet werden. Das war Programmatik der CDU/CSU. ({5}) In den Koalitionsverhandlungen hat die SPD durchgesetzt, dass die Steuerfreiheit der Nacht- und Sonntagsarbeit erhalten bleibt. Im Gegenzug hat sich die CDU/CSU im Punkt „Kürzung der Pendlerpauschale“ durchgesetzt. ({6}) Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens fand eine Anhörung im Deutschen Bundestag statt, bei der keiner der Experten gesagt hat, dass der damals vorliegende Gesetzentwurf, den die CDU/CSU wollte, verfassungskonform ist.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kalb?

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da er Abgeordneter desselben Wahlkreises ist wie ich - ich wohne in Deggendorf - und ich ihn sonst immer fragen muss, wenn ich etwas wissen will, gestatte ich das gerne einmal umgekehrt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, bitte sehr. ({0})

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Pronold, würden Sie freundlicherweise und redlicherweise dem Hohen Haus mitteilen, dass in dem Wahlprogramm der CSU seinerzeit eine Reduzierung der Pendlerpauschale von 30 auf 25 Cent als Beitrag zur notwendigen Sanierung der Bundesfinanzen enthalten war?

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin bereit - gleich, ob redlicherweise oder nicht -, darauf zu verweisen, dass die CSU tatsächlich die Kürzung der Pendlerpauschale im Wahlkampf gefordert hat, was von der CSU in meinem Wahlkreis allerdings bestritten worden ist, als ich 2005 dieses Thema angesprochen habe. Ich weise darauf hin, dass die Kürzung, die Sie vorgeschlagen haben, für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von der finanziellen Wirkung her noch einschneidender gewesen wäre als das, was jetzt vorliegt. Auch das gehört zur Redlichkeit. ({0}) Ich fahre in der Betrachtung der Historie fort: Wir haben uns bemüht, in der Großen Koalition einen gegenfinanzierten Vorschlag durchzusetzen, der die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer erhalten hätte. Das ist aber abgelehnt worden. Dann kam es zu dem Gesetz, mit Zustimmung der SPD, wie Sie wissen. Das muss ich hier nicht groß betonen. ({1}) - Es gibt nun einmal Koalitionsverträge. Sie wissen vielleicht noch aus den Zeiten, wo Sie regiert haben - das ist Gott sei Dank schon lange her -, dass es Dinge gibt, auf die man sich geeinigt hat und zu denen man dann auch stehen muss. Diese Dinge muss man klar benennen und sagen, wie sie entstanden sind und was man erreichen wollte. Wir als SPD-Fraktion haben zum Beispiel - das ist nachzulesen - im November 2007 eine weitere Initiative unternommen, die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer einzuführen. Dazu gab es eine Sitzung des Koalitionsausschusses, an der zum ersten Mal ein gewisser Erwin Huber als CSU-Parteivorsitzender teilgenommen hat. Diese Initiative wurde dort abgelehnt. ({2}) Auch das muss man in Erinnerung rufen. Deswegen ist es besonders pikant, dass derselbe Herr Huber in der letzten Sitzung des Bundesrates vor der Sommerpause einen Antrag zur Wiedereinführung der Pendlerpauschale zum alten Stand eingebracht hat. Denn er weiß, dass das Gesetzgebungsverfahren, selbst wenn alles gut gehen würde, niemals vor der bayerischen Landtagswahl beendet sein wird. ({3}) Deswegen braucht es keinen Vorführantrag durch die Linke gegenüber der CSU. Ich finde, die CSU hat sich an diesem Punkt selber mehr als vorgeführt. ({4}) Besonders erschwerend kommt hinzu, dass Kollege Rupprecht hier schon das letzte Mal das „mea culpa“ im Namen der CSU erklärt hat. Ich hoffe, es fällt noch ein bisschen deutlicher aus. Nicht über die Sünder ist Freude im Himmel, sondern über die reuigen Sünder. Das bedeutet, man muss tätige Reue üben. Besonders pikant war: Der Finanzminister von Bayern - er ist gelernter Finanzbeamter - hat vor den Werkstoren von BMW in Dingolfing Flugblätter gegen seine eigenen Sünden verteilt. ({5}) Es ging um eine Unterschriftenaktion der CSU zur Pendlerpauschale, unwissend, dass 80 Prozent der 22 000 Beschäftigten bei BMW überhaupt keinen Anspruch auf die Pendlerpauschale haben, weil es dort ein Werkbussystem gibt. Es ist nur absetzbar, was man dazuzahlt, wenn man dort mitfährt. Ich dachte, der bayerische Finanzminister wisse wenigstens das. ({6}) Es geht darum, dass wir eine Regelung finden, die den berechtigten Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und vor allem der Pendlerinnen und Pendler gerecht wird. Wenn jetzt große Bereitschaft dazu im Hause existiert, dann freue ich mich. Wir werden ein Verfassungsgerichtsurteil bekommen, das über spannende Fragen Auskunft geben wird, zum Beispiel darüber, wie Werbungskosten zu behandeln sind, ob man eine Pauschalierung von Werbungskosten machen kann oder ob die kompletten Werbungskosten anzusetzen sind. Auch das könnte in diesem Urteil stehen. Deswegen wäre die Rückkehr zur alten Pendlerpauschale zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht hilfreich. Denn es ist durchaus möglich, dass das Bundesverfassungsgericht Hinweise gibt, die bei einer Neuregelung zu beachten sind. Daher sollten wir kurz vor der bayerischen Landtagswahl diesem Antrag der Linken nicht zustimmen, der, wie gesagt, ein Schaufensterantrag ist. Letzte Bemerkung. Nicht an ihren Worten, an ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Das gilt besonders in Bayern. ({7}) Wir haben nach Österreich geblickt. ({8}) In Österreich gibt es eine spannende Konstellation. Dort gibt es auf der Bundesebene eine steuerliche Regelung für Pendlerinnen und Pendler. Sie hat dasselbe Defizit wie unsere, nämlich dass diejenigen, die kaum Steuern zahlen, von einer Pendlerpauschale wenig haben, obwohl auch sie weite Wege in Kauf nehmen. In Österreich gibt es aber sechs Bundesländer, die zusätzlich auf der Landesebene ein Pendlergeld zahlen, das auch denjenigen zugutekommt, die nicht steuerpflichtig sind oder wenig Steuern zahlen. Wir haben uns gedacht: Wenn Österreich schon einmal etwas Vernünftiges macht, könnte man das in Bayern übernehmen. ({9}) Daher haben wir Erwin Huber vorgeschlagen, das auch in Bayern einzuführen. Hierzu würden gerade einmal 400 Millionen Euro benötigt. Während aber verkündet wird, man wolle aufgrund der Regelungen zur Erbschaftsteuer 800 Millionen Euro den Villenbesitzern am Starnberger See in Bayern schenken, ({10}) hat derselbe Erwin Huber erklärt, er sei nicht bereit, diese 400 Millionen Euro für die bayerischen Pendlerinnen und Pendler aufzubringen. ({11}) Deswegen gilt auch hier noch einmal: Nicht an ihren Worten, an ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Leider sind wir jetzt auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts angewiesen, um hier zukünftig für bessere Verhältnisse zu sorgen. Wenn die Erkenntnis bei allen im Haus gewachsen ist und diese Meinung geteilt wird, dann freue ich mich auf die Debatten nach der Landtagswahl. Ich bin gespannt, ob alle dann noch dieselben Auffassungen vertreten wie vorher. Herzlichen Dank. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort der Kollege Dr. Volker Wissing. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Große Koalition gleicht einem Auto, bei dem das Gaspedal an die Bremse gekoppelt ist: Die eine Seite will Gas geben, die andere legt eine Vollbremsung hin. Hinten, auf der Hutablage dieses merkwürdigen Fahrzeugs, sitzt ein Wackeldackel namens CSU, und der nickt immer brav mit dem Köpfchen. ({0}) Genau das ist der Zustand, in dem sich die CSU hier im Bundestag befindet: Es wird alles schön abgenickt. Diese angeblich so große Koalition hat unserem Land bisher nichts gebracht. Sie haben das Land keinen nennenswerten Schritt nach vorne gebracht, weil Sie sich auf Reformschritte, die unser Land braucht, nicht einigen können. ({1}) - Hören Sie ruhig zu, Herr Kollege Pronold! - Sie haben das Land nicht nach vorne gebracht, weil Sie sich immer nur dann einig sind, wenn es zulasten der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land geht. Die Stillstandspolitik lassen Sie sich von den Menschen in Deutschland, die hart arbeiten, teuer bezahlen. ({2}) Sie haben die Mehrwertsteuer erhöht, die Versicherungssteuer erhöht, Sie haben den Sparerfreibetrag gekürzt, Sie haben die Entfernungspauschale gekürzt. Insgesamt 19 Steuererhöhungen hat die Große Koalition zulasten der Bürgerinnen und Bürger beschlossen, und der politische Wackeldackel hat in jedem Einzelfall schön mit dem Köpfchen genickt und brav zugestimmt. ({3}) Das ist die Wahrheit. Sie erzählen den Wählerinnen und Wählern in Bayern, die CSU sei gegen die Kürzung der Pauschale gewesen. Ich meine, Sie müssen gespaltene Persönlichkeiten sein, wenn Sie in Bayern gegen diejenigen Dinge sind, die mit Ihrer Stimme im Deutschen Bundestag den Weg ins Bundesgesetzblatt gefunden haben. ({4}) Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Ich habe hier ein Flugblatt, das Sie in Bayern verteilen. Damit sammeln Sie von redlichen Menschen Unterschriften und erklären - ich zitiere -: „Die heutige Regelung ist nicht verfassungskonform.“ Sie fordern, dass die Politik handelt und die alte Pendlerpauschale wieder einführt. Ich war bei der Anhörung, die wir damals durchgeführt haben. Sie haben völlig recht, wenn Sie behaupten, dass damals alle Sachverständigen gesagt haben: Das ist nicht verfassungskonform. Die Sachverständigen haben sogar gesagt: Das ist evident verfassungswidrig. Aber es gehört doch ein Stück Dreistigkeit dazu, dass man, wenn man so etwas für verfassungswidrig hält, dafür dann im Deutschen Bundestag seine Hand hebt. ({5}) So kann man in diesem Land doch nicht glaubwürdig Politik machen. Sie spucken in Bayern große Töne, und hier in Berlin machen Sie alles mit, was die Bundesregierung will. Das ist inzwischen die Arbeitsteilung: die CSU in München Regierungspartei, die CSU in Berlin - Abnickpartei. Es gab einmal eine Zeit, da haben Sie mit Ihrem Partner CDU auf Augenhöhe gespielt. Inzwischen sind Sie der verlängerte Wurmfortsatz der Großen Koalition. ({6}) In Bayern bläst Huber in die Tuba, in Berlin ist mit Glos nichts los. Das ist der Zustand der Christsozialen im Deutschen Bundestag. Welche Initiative ist denn von Ihnen, von der CSU, gekommen? Sie wollen sich als Steuerentlastungspartei profilieren? Was haben Sie vorzuweisen? Einen ermäßigten Umsatzsteuersatz für Seilbahnen! Sie sind allenfalls die Partei der Gondelpauschale, aber doch nicht der Pendlerpauschale. ({7}) Die CSU in München beschließt ein großes Steuerkonzept, und davon kommt in Berlin nichts an. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Ihrem Engagement für die Rückkehr zur alten Entfernungspauschale hätten Sie längst ernst machen können. Sie hätten Ihren Antrag einbringen können; aber natürlich haben Sie das nicht getan. Es ist reines Wahlkampfgetöse in Bayern. ({9}) Sie haben heute die Gelegenheit, Ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen. ({10}) Wir lassen Sie nicht so einfach davonkommen, wenn Sie sagen: Das ist ein Spielchen der Opposition. So einfach, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht das nicht. Wer in Bayern Klartext spricht, muss mit seiner Stimme auch in Berlin Klartext sprechen. ({11}) Sie müssen sich heute schon entscheiden. Dafür sind Sie hier, und dazu zwingt Sie die Opposition im Deutschen Bundestag. Dann wird sich zeigen, ob Sie die Menschen in Bayern hinters Licht führen wollen oder ob Sie tatsächlich hinter dem stehen, was Sie dort sagen. Es wäre interessant zu wissen, wie viele Menschen Ihnen in Bayern auf den Leim gegangen sind und dieses Flugblatt unterschrieben haben. Ich würde es wirklich gerne wissen; aber das werden Sie uns nicht verraten. Eine Meldung der CSU-Landesleitung besagt: Eine umfassende Zwischenbilanz der CSU-Unterschriftenaktion für die Wiedereinführung der alten Pendlerpauschale wird es vor der bayerischen Landtagswahl am Sonntag nicht mehr geben. ({12}) Das ist wirklich interessant. Das lässt hoffen, dass die Bayern Ihnen inzwischen nicht mehr auf den Leim gehen; denn offensichtlich haben Sie nicht viele Bürgerinnen und Bürger hinters Licht führen und dazu verleiten können, Ihre lächerliche Unterschriftenaktion in Bayern zu unterstützen. Bekennen Sie doch Farbe, aber dafür sind Sie zu feige! Das, was Sie in Bayern vertreten, ist nicht glaubwürdig. Die Menschen werden dafür der CSU ihre Stimme zu Recht verweigern. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Albert Rupprecht für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Kollege Wissing, Sie reden über den bayerischen Landtagswahlkampf. Ich frage Sie: Wo sind denn die bayerischen Kollegen der FDP? ({0}) Wieso redet hier kein bayerischer Kollege? Ist heute ein einziger bayerischer FDP-Kollege anwesend? ({1}) Keiner. Keiner hat ein Interesse daran, heute hier im Bundestag zu sein. ({2}) Die CSU wirbt, argumentiert und kämpft offensiv für die Wiedereinführung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer; daran besteht überhaupt kein Zweifel. ({3}) Der 30-jährige Mechaniker mit zwei Kindern, der 80 Kilometer zu seiner Arbeit nach Regensburg fahren muss, stellt zu Recht die Frage, wieso er tagtäglich in der Früh aufsteht und zur Arbeit fährt. Er rechnet mir und genauso Ihnen vor, dass er mit zwei Kindern fast dasselbe in der Tasche hätte, wenn er Hartz IV beziehen würde und zu Hause bliebe. Deswegen muss sich Leistung lohnen. ({4}) Wir als CSU stehen für eine steuerliche Entlastung für Arbeitnehmer, Mittelstand, Familien und Pendler um 28 Milliarden Euro. ({5}) Wir stehen zudem für eine Senkung der Lohnnebenkosten bei der Arbeitslosenversicherung, um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu entlasten. ({6}) Mehr Netto vom Brutto ist das Gebot der Stunde und die Politik der CSU. ({7}) Deswegen stehen wir für die Wiedereinführung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer. Wir als CSU haben das den Bürgerinnen und Bürgern versprochen. Wir werden nicht nachgeben, bevor dies umgesetzt ist. ({8}) Wir brauchen zur Umsetzung schlichtweg eine Mehrheit in der Koalition im Deutschen Bundestag. Das heißt, wir müssen Überzeugungsarbeit leisten. ({9}) Die Lage ist, wie sie ist. Wir werden leider vor Dezember keine Entscheidung bekommen. ({10}) Albert Rupprecht ({11}) Anders als bei der CSU, wo es einen klaren und eindeutigen Beschluss der Partei und der Gremien gibt, gibt es bei der SPD diesen Beschluss, Herr Pronold, nicht. Es spricht nichts dagegen, dass Sie sich heute hier hinstellen und sagen: Wir warten das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ab, aber wir beschließen vonseiten der SPD das, was wir wollen. Vonseiten der CSU gibt es diesen Beschluss: Wir werden die Pendlerpauschale wieder einführen. ({12}) Ein Teil der CDU-Kollegen unterstützt den CSU-Vorschlag. ({13}) - In der Tat. Ein Teil der CDU-Kollegen will das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Dezember abwarten. Wir als CSU würden uns eine schnellere Entscheidung wünschen. Aber ich respektiere, dass Kollegen erst nach dem Urteil entscheiden wollen. ({14}) Ich hoffe natürlich, dass das Verfassungsgericht unsere Position stärkt und wir dann in der Regierung schnell zu einer Lösung kommen werden. ({15}) Lafontaine hat schon vor Wochen angekündigt, dass er die CSU ärgern wird, indem er einen Antrag der Linken mit der Position der CSU zur Pendlerpauschale hier einbringen will. Nun liegt der Antrag der Linken vor. Erstens. Es ist festzuhalten, dass der Antrag nicht mit dem CSU-Konzept identisch ist. ({16}) Es fehlt zum Beispiel jeglicher Vorschlag zur Finanzierung der Entlastung. ({17}) Zweitens. Es geht der CSU ({18}) um ein Gesamtpaket zur Entlastung bei Steuern und Abgaben, das weit über das Thema Pendlerpauschale hinausgeht. ({19}) Es ist offensichtlich, dass es Lafontaine und der Linken nicht um die Sache, sondern ausschließlich um medialen Krawall im Vorfeld der bayerischen Landtagswahl geht. ({20}) - Die FDP macht bei diesem Trauerspiel auch noch mit. Sehr geehrte Damen und Herren, wir lehnen den Antrag der Linken ab. Die Parlamentarier der CSU haben dies in einer schriftlichen Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung begründet. ({21}) Ich erlaube mir, diese Erklärung in Auszügen vorzulesen - ich zitiere -: ({22}) Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, ({23}) sondern um ein durchsichtiges taktisches Manöver. ({24}) Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundestagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen … haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich. ({25}) … Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haushalte … macht aus unserer Sicht eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich. ({26}) Diese Auffassung wollen wir in der Koalition mit Nachdruck durchsetzen. ({27}) … Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem Antrag bezwecken, lehnen wir entschieden ab. ({28}) Die programmatischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik, die Deutschland international isoliert, die Fundamente des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft gefährdet ({29}) und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands massiv bedroht. Albert Rupprecht ({30}) ({31}) Wir grenzen uns eindeutig von dieser Partei ab. ({32}) Sehr geehrte Damen und Herren, diese Erklärung haben CSU-Abgeordnete unterschrieben, die den Aufstieg Bayerns vom Armenhaus Deutschlands an die Spitze Deutschlands in ihrer Heimat erleben durften. Das ist auch das Ergebnis der außerordentlich erfolgreichen CSU-Politik in den letzten 60 Jahren. Vernünftige, bürgernahe Politik hat die Kraft, zu gestalten und zu prägen, wie es die CSU in Bayern und Deutschland seit nunmehr 60 Jahren macht. Herzlichen Dank. ({33})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um was es hier geht, ist inzwischen bekannt: Wir wollen, dass die Kilometerpauschale wieder ab dem ersten Kilometer gezahlt wird. Das sehen wir allerdings nur als ersten Schritt an. Natürlich wissen auch wir, dass davon insbesondere die Leute, die nur wenig Steuern zahlen, nur sehr wenig haben. Deshalb muss dieser Weg fortgeführt werden. ({0}) Die Koalition hat die Regelungen zur Entfernungspauschale verschlechtert. Das gilt natürlich auch für die SPD. Denn die Kollegen von der SPD waren daran kräftig beteiligt. Vor dem Bundesverfassungsgericht tritt die Bundesregierung übrigens geschlossen auf, und zur Regierung gehören auch die SPD und auch die CSU. ({1}) Vor dem Bundesverfassungsgericht haben Sie sich gegen die Zahlung der Entfernungspauschale ab dem ersten Kilometer ausgesprochen. ({2}) - Natürlich! Sie sind doch in der Regierung, oder etwa nicht? Habe ich da etwas übersehen? Ich sage es noch einmal: Sie sind in der Regierung und kommen da auch nicht heraus. ({3}) Wir sind dagegen, dass ein Ehepaar mit zwei Kindern, das ein Haushaltseinkommen von 48 000 Euro hat, 516 Euro zusätzlich zahlen muss. Bisher habe ich immer gedacht, wir sind uns in diesem Hause einig, dass diese Regelung geändert werden muss. Sie verlassen sich aber lieber auf das Bundesverfassungsgericht. Ich sage Ihnen: Wir sind das Parlament. Es gibt eine Regierung, keine Appellierung. ({4}) Wir sollten hier entscheiden und die Verantwortung nicht abschieben. Meine Damen und Herren, die CSU hat im Jahre 2006 all diese Kürzungen mitbeschlossen. ({5}) Überall war sie beteiligt. Natürlich haben Sie inzwischen von den Linken gelernt. Das freut mich. Macht das ruhig öfter! ({6}) Denn dann lernt ihr, dass ihr auch das eine oder andere Gesetz von uns übernehmen solltet. Jetzt ist die CSU plötzlich dafür, dass die Kilometerpauschale wieder ab dem ersten Kilometer gezahlt wird; das freut uns. Herr Huber hat in einem Sommerinterview, auf einem Strohballen sitzend, ({7}) gesagt: Die CSU wird darauf bestehen, dass wir die alte Pendlerpauschale wiederbekommen. - Genau das steht in unserem Antrag. Er beinhaltet das, was auch Herr Huber gesagt hat. Ich verstehe gar nicht, warum Sie sich über unseren Antrag so sehr echauffieren. ({8}) Außerdem hat Herr Huber gesagt: Die Fahrt zur Arbeit ist keine Fahrt zum Golfplatz. - Das war übrigens schon 2006 so, als Sie die Kürzung der Pendlerpauschale mitbeschlossen haben. ({9}) Aber vielleicht haben Sie das damals noch nicht bemerkt. Herr Ramsauer hat vorhin gesagt - jetzt wird es besonders interessant -, dass die CSU gegen unseren Antrag stimmt, weil er ein durchsichtiges taktisches Manöver sei. ({10}) Herr Ramsauer, ich sage Ihnen, was ein taktisches Manöver ist: Es ist ein taktisches Manöver, dass Sie hier im Bundestag und in der Öffentlichkeit so tun, als sei die CSU auf Bundesebene in der Opposition. Sie regieren hier mit! Das ist ein taktisches Manöver. ({11}) Ich sage Ihnen: Es ist ein taktisches Manöver, wenn Sie ein Plakat wie dieses hier in Bayern plakatieren. ({12}) - Ja, bravo! Darauf steht „Pendlerpauschale jetzt“. ({13}) Herr Ramsauer, ich frage mich, wann bei Ihnen eigentlich „jetzt“ ist. ({14}) Ist „jetzt“ vorgestern, weil Sie da gerade einen schönen Presseauftritt hatten? Ist „jetzt“ übermorgen? „Jetzt“ heißt jetzt! ({15}) - So könnte man es auch machen, weil diese Politik auf dem Kopf steht. Das ist das Problem. ({16}) Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur sagen: Gesetze werden hier und nicht durch Wahlplakate gemacht. Ich habe den Eindruck, dass Sie Politik beim Autofahren nach zwei Maß Bier machen. Das ist ein bisschen zu wenig. ({17}) In aller Klarheit: Wenn Sie in Bayern für die Wiedereinführung der Pendlerpauschale plakatieren und hier dagegen stimmen, dann ist das ein angekündigter Wahlbetrug. ({18}) Herr Ramsauer, das bayerische Wappentier ist der Löwe und nicht der flüchtende Hase. Das könnten Sie sich vielleicht auch einmal merken. Beim Kilometergeld, beim Rauchverbot und bei der Gesundheitsreform: Sie schlagen doch nur noch Haken. ({19}) Mit Ihrem Verhalten machen Sie die CSU zum braven Dackel, der von Frau Merkel durch die politische Arena geführt wird. Das ist die Wahrheit. ({20}) Stimmen Sie unserem Antrag zu, dann kann man Sie wenigstens wieder ein wenig ernster nehmen. ({21})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Christine Scheel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte nimmt teilweise kabarettistische Züge an. Allerdings sind nicht alle Beiträge gutes Kabarett. Herr Wissing, Sie haben die CSU als Wurmfortsatz bezeichnet. ({0}) Ich würde das anders formulieren, weil ich eine andere Sprache spreche. Fakt ist aber doch, dass der Einfluss der CSU in der Großen Koalition gegen Null gegangen ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi ({1}) - Dirk Niebel ({2}): Zum Glück!) Herr Rupprecht, das ist wohl doch der Grund dafür, dass Sie hier eine Erklärung vorgetragen haben, die Ihnen aber auch nichts nützen wird. Wir können nur hoffen, dass möglichst viele Zeitungen diese Erklärung abdrucken. Damit würden sie nämlich dabei helfen, dass die CSU am Sonntag mit Sicherheit unter 50 Prozent bleiben wird. ({3}) Herr Ramsauer hat auch in Bayern in verschiedensten Äußerungen gesagt, dass bei diesem Thema ein Spektakel betrieben wird. Mit Blick auf den heutigen Tag haben Sie auch wieder gesagt, dass die Linke hier ein PoliChristine Scheel tikspektakel betreibt. Ich möchte einmal wissen, was in Bayern abläuft. ({4}) In jedem Bierzelt, auf jedem Stadtfest und bei jeder Wahlkampfveranstaltung in irgendeiner Stadthalle findet dort ein Politspektakel zur Entfernungspauschale statt. Letztendlich geht es darum, dass die CSU einen Beschluss mitgetragen hat, von dem sie heute nichts mehr wissen will, weil sie gemerkt hat, dass er wohl verfassungswidrig ist, dass er bei den Stammtischen nicht ankommt und sich die Leute tierisch darüber aufgeregt haben. Deswegen betreiben Sie dieses Spektakel, was dann zu dieser Unterschriftenaktion geführt hat. ({5}) Der Kollege der FDP hat darauf hingewiesen. Sie sind aber zu feige, diese Unterschriften auch vorzulegen und zu sagen, wie viele am Ende wirklich dafür unterschrieben haben, dass die Entfernungspauschale ab dem ersten Kilometer wieder eingeführt wird. ({6}) Ich kann Ihnen sagen: So blöd sind die Leute nicht. Die Menschen durchschauen dieses Manöver und wissen, dass viele von der Wiedereinführung der alten Entfernungspauschale überhaupt nicht profitieren. Die Leute wissen auch, dass man letztendlich den Arbeitnehmerpauschbetrag senken will. Davor haben die Leute Angst; denn genau das wäre der falsche Weg. Sie sagen: Zurück zur Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer, aber die Finanzierung muss stehen. - Die SPD sagt: Dann realisieren wir eben ein anderes Modell. Wir schauen uns einmal an, was das Bundesverfassungsgericht dazu sagt. - Die Leute wissen dann, dass eventuell ein Modell Wirklichkeit wird, worunter andere als diejenigen leiden werden, die heute darunter leiden. Insofern sind die Sorgen der Menschen berechtigt. ({7}) Sie sollten sich schämen, so zu tun, als könnten Sie sich aus der Affäre ziehen. Wer hat denn zugestimmt? Es ging doch nicht nur um den Koalitionsvertrag, der schon eine Weile zurückliegt und hoffentlich der letzte dieser Großen Koalition war, sondern auch um die Frage, wer im Bundesrat zugestimmt hat. Im Bundesrat hat auch die CSU zugestimmt. Jetzt wollen Sie nichts mehr damit zu tun haben. Das ist Opposition gegen sich selbst. Das ist eine Opposition, die die Menschen durchschauen und nicht akzeptieren. ({8}) Wenn Sie eine neue Perspektive fordern, dann hätten Sie sich längst dafür einsetzen können. Wir haben mehrmals im zuständigen Finanzausschuss darüber gesprochen, wie wir diese Frage lösen wollen. Sie haben sich aber verweigert und wollen abwarten, wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Das ist sehr durchsichtig. Jeder weiß, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erst nach dem 28. September erfolgt. Wir werden in den nächsten Tagen bis Sonntag alle in Bayern auffordern, nicht auf Ihre Propaganda hereinzufallen. Danke schön. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Otto Bernhardt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will versuchen, wieder etwas mehr Sachlichkeit in diese Debatte zu bringen. ({0}) Die Große Koalition hat im Jahre 2006 ein umfassendes Sanierungsprogramm für den Haushalt beschlossen. Das war damals dringend erforderlich. Ein Punkt waren die Änderungen bei der steuerlichen Absetzbarkeit der Pendlerpauschale. Ich finde es nicht gut, dass sich Mitglieder der Großen Koalition heute von dieser Entscheidung verabschieden, die wir seinerzeit gemeinsam getragen haben. ({1}) Die Fakten haben sich inzwischen ein Stück weit geändert. Zum Ersten sind wir auf dem Wege zur Sanierung der öffentlichen Finanzen ein deutliches Stück vorangekommen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Höll?

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn ich den Gedanken zu Ende geführt habe, gerne. Zum Zweiten haben sich die Benzin- und Dieselpreise in einem Ausmaß erhöht, das wir damals nicht absehen konnten. Diese Situation führt dazu, dass insbesondere in den Flächenländern - ich komme aus Schleswig-Holstein - über eine Änderung der jetzigen Regelung nachgedacht wird. ({0}) Wir sind aber in der Großen Koalition gemeinsam mit der Regierung zu dem Ergebnis gekommen, zunächst die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuwarten; denn wir wissen nicht, ob die bestehende Regelung verfassungswidrig ist. ({1}) Wenn wir eine Neuregelung beschließen, dann wissen wir nicht, ob sie der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Es gilt also abzuwarten. ({2}) Wir sollten aber die Möglichkeiten der Pendlerpauschale nicht überschätzen. Um eine Zahl zu nennen: Für den Bezieher eines Durchschnittseinkommens geht es um 5 Euro im Monat. ({3}) Deshalb sind wir entschlossen, die Bürger stärker zu entlasten als nur durch diesen einen Schritt. Die Bundesregierung bereitet ein größeres Entlastungsprogramm vor. ({4}) Im Rahmen dieses Entlastungsprogramms werden die hervorragenden Vorstellungen aus dem CSU-Steuerkonzept eine sehr wichtige Rolle spielen. ({5}) Innerhalb der Union sind wir uns über die Grundzüge eines solchen Konzeptes längst einig. ({6}) Es gibt einen kleinen Unterschied, über den wir nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts diskutieren werden. In dieser Diskussion werden Sie erkennen, wie stark die CSU nicht nur innerhalb der Union, sondern auch innerhalb der Großen Koalition ist. ({7}) Sie können sicher sein, dass die CSU ein wichtiges Wort bei den Konsequenzen, die wir dann ziehen werden, mitreden wird. Je stärker die CSU am Sonntag wird, desto mehr hat sie zu bestimmen. Herzlichen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Entfernungspau- schale sofort vollständig anerkennen - Verfassungsmä- ßigkeit und Steuergerechtigkeit herstellen“. Dazu liegt eine große Anzahl von persönlichen Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor1). Sie alle werden in den Stenografischen Bericht aufgenommen. 1) Anlagen 2 bis 7 Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 16/9569, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9167 abzulehnen. Wir stimmen nun auf Verlangen der Fraktion Die Linke über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze an den Urnen eingenommen? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentli- chen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben2). Ich bitte Sie herzlich, Ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaals zu führen, wenn Sie den Beratungen nicht mehr folgen wollen, damit wir die Beratungen fortsetzen und den Rednerinnen und Rednern in der anschließenden Debatte konzentriert folgen können. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes 2009 ({0}) - Drucksache 16/10189 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin für die Bundesregierung der Parlamentarischen Staatssekretärin Nicolette Kressl das Wort. ({2})

Nicolette Kressl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002706

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jahressteuergesetze gelten manchmal als Sammelbecken für die verschiedensten Maßnahmen, zum Beispiel um EU-Recht umzusetzen oder kleinere Veränderungen, auch im redaktionellen Bereich, vorzunehmen. Auch solche Regelungen sind in dem Entwurf zum Jahressteuergesetz, der Ihnen heute vorliegt, enthalten, aber nicht nur solche. Sie können in diesem Gesetz eine durchgehende Linie erkennen; denn es enthält eine Reihe von Vorschlägen, die insgesamt zu einer deutlichen steuerlichen Entlastung führen oder aber ehrenamtliches Engagement noch mehr als bisher unterstützen. ({0}) 2) Siehe Seite 19035 C Ich will Ihnen dafür einige Beispiele nennen. Die Steuerfreiheit für Leistungen des Arbeitgebers zur Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes und der betrieblichen Gesundheitsförderung mag technisch klingen, ist aber, wovon wir überzeugt sind, eine wichtige Maßnahme im Interesse der Arbeitnehmer und der Unternehmen; denn damit wird die Bereitschaft von Arbeitgebern erhöht werden, ihren Arbeitnehmern Dienstleistungen zur Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustands anzubieten. ({1}) Wir finden, dass dies ein erster wichtiger Schritt ist. Wir wollen nicht nur über die Frage reden, wie die Bedingungen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit verbessert werden können, sondern auch im steuerlichen Bereich dazu eine erste wichtige Maßnahme einbringen. Wir werden mit diesem Gesetz eine Erleichterung bei der Haftung im steuerlichen Spendenrecht auf den Weg bringen. ({2}) Es ist immer wieder diskutiert worden, inwieweit die Inanspruchnahme der Gesamtschuldner in diesem Bereich eine mögliche Hemmschwelle bei der Entscheidung ist, sich ehrenamtlich zu engagieren. Wir wollen, dass die handelnden natürlichen Personen, also diejenigen, die sich selbst persönlich engagieren, nur dann in Anspruch genommen werden, wenn die Inanspruchnahme der Körperschaft, in diesem Falle des Vereins, erfolglos geblieben ist. Wir sind der Überzeugung, dass dies eine deutliche Erleichterung in diesem Bereich ist. ({3}) Wir werden in diesem Gesetz auch festschreiben, dass die Kommunen an ihrer bisherigen Verwaltungspraxis zum steuerlichen Querverbund festhalten können. Auch dieses mag technisch klingen, aber für uns ist es die Basis dafür, dass die Kommunen auch in Zukunft die Verantwortung für die Daseinsvorsorge für die Menschen besser übernehmen können, als es nach dem BFH-Urteil möglich gewesen wäre. Insofern ist das für uns eine ganz wichtige Maßnahme in diesem Gesetz. ({4}) Wir nehmen mit diesem Gesetz eine Debatte auf, die es über die Frage gab, inwieweit die Lohnsteuerklasse V für die weniger verdienenden Partner und Partnerinnen in einer Ehe zu einem Hemmnis für die Aufnahme einer Beschäftigung werden kann. Wir schlagen dem Parlament vor, sich für ein Faktorverfahren zu entscheiden, in dem zum Beispiel, um es konkret zu machen, in Zukunft bei der Option für dieses Faktorverfahren im Vergleich zur bisherigen Lohnsteuerklasse V bis zu einem Monatslohn von 900 Euro keine Lohnsteuer zu zahlen ist. Wir schlagen auch vor, die bestehende Diskrepanz zwischen der Steuerfestsetzungsverjährung und der Strafverfolgungsverjährung in Fällen der Steuerhinterziehung durch eine Verlängerung der Verjährungsverfolgungsfrist für Steuerhinterziehung in § 376 der Abgabenordnung zu beseitigen. Ich halte das für eine Frage der Steuergerechtigkeit. Dies ist eben nicht nur eine technische Frage. Nach der Debatte, die wir in den letzten Monaten hatten, ist die Frage eben, ob Steuerhinterziehung wie ein Kavaliersdelikt behandelt werden soll. Mit der vorgeschlagenen Änderung bekennt sich die Politik ausdrücklich dazu: Steuerhinterziehung ist eben kein Kavaliersdelikt und wird entsprechend langfristig verfolgt. ({5}) An diesen Beispielen wird deutlich, dass mit dem Jahressteuergesetz, das natürlich eine ganze Reihe von Einzelregelungen enthält, den Menschen insgesamt ein deutliches Signal der Entlastung, der Erleichterung für Engagement im ehrenamtlichen Bereich und - siehe Verfolgungsverjährung - ein Signal der Steuergerechtigkeit gegeben wird. Natürlich werden wir den Entwurf, wie immer, in einer Anhörung ausführlich beraten. Aber ich werbe schon jetzt ausdrücklich dafür, dem Gesetz am Ende im Parlament eine überzeugende Mehrheit zu verschaffen. Vielen Dank. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Jahressteuergesetz ist es so ähnlich wie mit dem Christkind: Es kommt alle Jahre wieder zu uns. Das Entlastungsvolumen von 220 Millionen Euro könnte durchaus eine schöne Bescherung werden. Von den 220 Millionen Euro Entlastung zahlt der Bund allerdings nur 89 Millionen Euro; 131 Millionen Euro müssen die Länder und Gemeinden aufbringen. Es ist schon eine besondere Form der Großzügigkeit des BMF, hier zu verteilen und andere die Rechnung bezahlen zu lassen. Die 220 Millionen Euro klingen nach viel Entlastung. Aber wenn man bedenkt, dass von der KfW an den Finanzmärkten gerade fast das Doppelte versenkt worden ist, dann erkennt man, wie wenig Entlastung Sie hier tatsächlich gewähren. Eine spürbare Steuerentlastung ist das nicht. Das verdient nicht, besonders gelobt zu werden. ({0}) Das Jahressteuergesetz, Frau Kressl, ist wieder einmal ein Gesetz von der Verwaltung für die Verwaltung. Der Bundesfinanzminister erfüllt wieder einmal die Wünsche seines Hauses und hat keine große Linie in seinem Gesetzentwurf. Im Grunde genommen werden hier die Schubladen des Bundesministeriums der Finanzen geleert. Ich sage Ihnen: Einiges wäre besser in diesen Schubladen geblieben. ({1}) Nehmen wir die Begrenzung der Absetzbarkeit des Schulgeldes auf 3 000 Euro als Beispiel. Das ist für Sie von der SPD eine ideologische Frage. Sie haben ein Problem mit Privatschulen, es sei denn, Frau Ypsilanti schickt ihren Sohn auf eine solche Schule, dann ist das nicht ganz so schlimm, ({2}) aber ansonsten ist Ihnen das immer ein Dorn im Auge. Dabei halte ich es für einen fatalen Fehler, Eltern zu verteufeln, die ihre Kinder auf eine Privatschule schicken; denn sie entlasten damit, weil Plätze in den öffentlichen Schulen nicht benötigt werden, die öffentlichen Schulen. Somit kann dort besser unterrichtet werden. Mehr Kinder auf Privatschulen, das heißt auch: mehr Mittel für Kinder an den öffentlichen Schulen. Das klammern Sie bei Ihrer ideologischen Politik natürlich völlig aus. ({3}) Privatschulen sind nicht per se Luxusinternate für Kinder, deren Eltern nicht wissen, wohin mit dem Geld. ({4}) Ich verstehe vor allen Dingen nicht, warum Sie das nicht besser wissen. Sie können ja einmal mit Frau Dieckmann sprechen oder sich von Frau Ypsilanti beraten lassen. Die haben gute Gründe dafür, ihre Kinder lieber auf eine Privatschule zu schicken. Das klammern Sie völlig aus. Nehmen wir das Beispiel der internationalen Schule. Der Finanzminister hat uns neulich gesagt, wie wichtig der Finanzstandort Frankfurt für die Bundesrepublik Deutschland ist. Damit hat er recht. Es ist wichtig, dass es dort auch eine internationale Schule gibt, die nämlich den ausländischen Fachkräften ermöglicht, für einen Zeitraum von zwei oder drei Jahren mit ihren Kindern nach Deutschland zu kommen. ({5}) Dort werden die Kinder so unterrichtet, dass sie später mit ihren Eltern wieder in ihr Heimatland zurückgehen können. Deshalb werden dort bewusst nicht die Lehrpläne von öffentlichen Schulen übernommen. Genau diese Schule sanktionieren Sie, und das ist ein Widerspruch zu dem, was der Finanzminister angibt, nämlich den Finanzplatz stärken zu wollen. Sie schwächen ihn mit diesem Gesetz. ({6}) Deutschland braucht gut ausgebildete Fachkräfte, die zu uns kommen. Wir wollen ihr Know-how in unsere Gesellschaft integrieren. Solche Menschen brauchen internationale Schulen; sonst kommen sie nicht. Genau diesen Menschen machen Sie das Leben schwer. Noch schlimmer: Sie vergraulen sie mit unsinnigen Bestimmungen in Ihrem Jahressteuergesetz. ({7}) Es gibt aber nicht nur das Problem mit den Privatschulen; in diesem Gesetz ist auch noch eine Reihe anderer Probleme enthalten. Ich nehme nur Ihre Vorschläge zur Dienstwagenbesteuerung. Auch dies ist wieder ein ganz ideologisches Thema für die Sozialdemokraten. Ein Dienstwagen ist per se etwas Böses, ein Privileg, gegen das Sie kämpfen müssen. Dabei vergessen Sie natürlich, dass ein Dienstwagen auch ein Arbeitsgerät ist. Das ist innerhalb der Bundesregierung offensichtlich noch niemandem aufgefallen. Für Sozialdemokraten sind Dienstwagen nur so lange schlimm, solange sie nicht selber drin sitzen. ({8}) Es wäre gut, wenn Sie einmal die Finger davon ließen, die Dienstwagenbesteuerung ständig zu ändern. Inzwischen müssen bei der Besteuerung fünf verschiedene Anschaffungszeiträume unterschieden werden. Jetzt bringen Sie noch eine sechste Regelung. Das macht unser Land weder ökologischer noch sozial gerechter, geschweige denn, dass es irgendetwas im Steuerrecht verbesserte. Im Gegenteil, Sie machen wieder alles komplizierter und für die Menschen teurer. Das zieht sich wie ein roter Faden durch Ihr Steuergesetz hindurch. Es ist keine Systematik zu erkennen. Sie wissen nicht, wohin Sie in der Steuerpolitik wollen, Sie fummeln ein bisschen da und ein bisschen dort. Damit mögen die Beamten im Bundesfinanzministerium zufrieden sein, aber Politik für die Menschen in Deutschland machen Sie mit diesem Gesetz wieder einmal nicht. ({9}) Sie haben vorhin über die Situation der Ehrenamtlichen gesprochen. Es gibt erhebliche Haftungsrisiken, wenn man sich in Deutschland ehrenamtlich engagiert. Schon bei dem Gesetz zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements haben Sie angekündigt, dass Sie nachbessern werden und die verschuldensunabhängige Haftung beseitigen wollen. Das haben Sie wieder nicht gemacht. Sie sind rein fiskalisch gelenkt und schaffen den wirklich schlimmen Tatbestand einer verschuldensunabhängigen Haftung für ehrenamtlich Engagierte in Deutschland nicht ab. Das ist eine nicht tragbare Lösung, weshalb ich Ihnen jetzt schon prophezeien kann, dass wir dies nicht mittragen. Sie beschränken die steuerliche Förderung von Tätigkeiten gemeinnütziger Organisationen im Ausland. Auch dies ist ein Fehler. Das sind massive Eingriffe in die Zivilgesellschaft, die rein fiskalisch motiviert sind und die wir in Gänze ablehnen. Sie haben einige Steuerverschärfungen bei der Abgeltungsteuer vorgesehen. Hier sind sehr problematische Regelungen im Gesetzentwurf enthalten. Wir werden das von den Sachverständigen im Rahmen der Anhörung noch hören. - Da brauchen Sie nicht mit dem Kopf zu schütteln, Herr Tauss, das sind in der Tat sehr problematische Vorschriften. ({10}) - Es ist gut, dass Sie noch die Kappe aufhaben. Sie haben ein großes Problem angesprochen, Frau Kressl, nämlich das Thema der Verlängerung der Verfolgungsverjährung bei Steuerhinterziehung von fünf Jahren auf zehn Jahre. Es ist natürlich ein Argument, wenn die Finanzverwaltung und vor allen Dingen die Strafbehörden sagen, sie schafften es nicht, Steuerstraftaten innerhalb von fünf Jahren aufzuklären, und brauchten deswegen eine längere Verjährungsfrist. Nur hat die Ermittlungsarbeit bei einem normalen Betrug nach § 263 StGB einen ähnlichen Umfang. Dort tun Sie nichts. Es stellt sich die Frage, warum das Steuerstrafrecht isoliert geändert wird und warum man die hier bestehenden Probleme nicht auf das allgemeine Strafrecht überträgt. Wir könnten es dann nämlich einmal systematisch diskutieren. Die FDP lehnt ein Sonderstrafrecht im Bereich des Steuerstrafrechts ab. Wir sind der Meinung, dass Steuerstraftäter in Deutschland genauso behandelt werden müssen wie andere Straftäter auch. Wir wollen hier keinen Sonderweg. Mit diesem Jahressteuergesetz sind Sie dabei, Sonderregelungen in diesen Bereich einzuführen. Dies halte ich für rechtspolitisch verfehlt. Ihr Jahressteuergesetz ist kein anständiges Steuergesetz, wie es Deutschland braucht. Sie greifen die großen Themen nicht auf, die in unserem Land angegangen werden müssten. Sie haben eine lächerliche Entlastung und teilweise sogar Belastungen in diesem Gesetz. Im Übrigen sagt der Finanzminister immer, es könnte in Deutschland keinerlei steuerliche Entlastung geben. Jetzt legt er eine steuerliche Entlastung in Höhe von 220 Millionen vor. Auch das ist ein absurdes Durcheinander; offensichtlich weiß in der Bundesregierung niemand mehr, in welche Richtung er will. Sie haben den totalen Stillstand in der Steuer- und Finanzpolitik erreicht. Das muss auch zum Ende dieser Großen Koalition führen, weil sich dieses Land - wir haben heute schon umfangreich darüber diskutiert, was sich international verändert - in Zeiten so großer Probleme im Bereich der internationalen Finanzmärkte einen Stillstand auf diesem wichtigen Feld deutscher Politik nicht leisten kann. Ich danke Ihnen. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, komme ich zurück auf den Tagesordnungspunkt 5 und gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Entfernungspauschale sofort vollständig anerkennen - Verfassungsmäßigkeit und Steuergerechtigkeit herstellen“ bekannt: abgegebene Stimmen 547. Mit Ja haben gestimmt 450, mit Nein haben gestimmt 96, Enthaltungen 1. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 547; davon ja: 450 nein: 96 enthalten: 1 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Albach Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Clemens Binninger Renate Blank Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({0}) Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Monika Brüning Cajus Caesar Gitta Connemann Leo Dautzenberg Hubert Deittert Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Dr. Stephan Eisel Anke Eymer ({1}) Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({2}) Dirk Fischer ({3}) Dr. Maria Flachsbarth Herbert Frankenhauser ({4}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Eberhard Gienger Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Gerda Hasselfeldt Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Christian Hirte Robert Hochbaum Franz-Josef Holzenkamp Hubert Hüppe Susanne Jaffke-Witt Dr. Peter Jahr Dr. Hans-Heinrich Jordan Andreas Jung ({5}) Dr. Franz Josef Jung Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({6}) Volker Kauder Jürgen Klimke Jens Koeppen Kristina Köhler ({7}) Norbert Königshofen Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Dr. Hermann Kues Dr. Karl Lamers ({8}) Andreas G. Lämmel Helmut Lamp Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Patricia Lips Dr. Michael Luther Stephan Mayer ({9}) Dr. Michael Meister Friedrich Merz Laurenz Meyer ({10}) Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Eva Möllring Carsten Müller ({11}) Stefan Müller ({12}) Hildegard Müller Michaela Noll Franz Obermeier Henning Otte Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Daniela Raab Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Peter Rauen Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({13}) Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Johannes Röring Kurt J. Rossmanith Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Albert Rupprecht ({14}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({15}) Hermann-Josef Scharf Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Norbert Schindler Georg Schirmbeck Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({16}) Andreas Schmidt ({17}) Ingo Schmitt ({18}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Kurt Segner Marion Seib Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Thomas Strobl ({19}) Lena Strothmann Michael Stübgen Hans Peter Thul Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg Peter Weiß ({20}) Gerald Weiß ({21}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Anette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Dr. Lale Akgün Gerd Andres Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Ernst Bahr ({22}) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Sören Bartol Sabine Bätzing Dirk Becker Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Ute Berg Lothar Binding ({23}) Kurt Bodewig Gerd Bollmann Dr. Gerhard Botz Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({24}) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Dr. Michael Bürsch Christian Carstensen Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Karl Diller Martin Dörmann Dr. Carl-Christian Dressel Garrelt Duin Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Rainer Fornahl Peter Friedrich Sigmar Gabriel Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Renate Gradistanac Angelika Graf ({25}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Michael Hartmann ({26}) Dr. Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Petra Heß Stephan Hilsberg Petra Hinz ({27}) Gerd Höfer Iris Hoffmann ({28}) Frank Hofmann ({29}) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Lothar Ibrügger Josip Juratovic Johannes Kahrs Ulrich Kelber Christian Kleiminger Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Anette Kramme Ernst Kranz Volker Kröning Dr. Hans-Ulrich Krüger Jürgen Kucharczyk Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christine Lambrecht Christian Lange ({30}) Dr. Karl Lauterbach Waltraud Lehn Helga Lopez Gabriele Lösekrug-Möller Dirk Manzewski Lothar Mark Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Markus Meckel Petra Merkel ({31}) Ulrike Merten Dr. Matthias Miersch Ursula Mogg Marko Mühlstein Detlef Müller ({32}) Michael Müller ({33}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Thomas Oppermann Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Christoph Pries Dr. Wilhelm Priesmeier Mechthild Rawert Steffen Reiche ({34}) Maik Reichel Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({35}) Michael Roth ({36}) Marlene Rupprecht ({37}) Anton Schaaf Axel Schäfer ({38}) Bernd Scheelen Silvia Schmidt ({39}) Dr. Frank Schmidt Heinz Schmitt ({40}) Carsten Schneider ({41}) Ottmar Schreiner ({42}) Swen Schulz ({43}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Dr. Ditmar Staffelt Dieter Steinecke Andreas Steppuhn Rolf Stöckel Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Dr. Peter Struck Dr. Rainer Tabillion Jörg Tauss Jella Teuchner Jörn Thießen Franz Thönnes Simone Violka Jörg Vogelsänger Dr. Marlies Volkmer Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen ({44}) Dr. Rainer Wend Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Dr. Wolfgang Wodarg ({45}) Heidi Wright Manfred Zöllmer Brigitte Zypries BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({46}) Volker Beck ({47}) Birgitt Bender Alexander Bonde Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Dr. Uschi Eid Hans Josef Fell Kai Gehring Britta Haßelmann Winfried Hermann Priska Hinz ({48}) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Thilo Hoppe Sylvia Kotting-Uhl Renate Künast Undine Kurth ({49}) Nicole Maisch Jerzy Montag Omid Nouripour Claudia Roth ({50}) Krista Sager Manuel Sarrazin Irmingard Schewe-Gerigk Grietje Staffelt Silke Stokar von Neuforn Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Dr. Harald Terpe Jürgen Trittin Wolfgang Wieland Josef Philip Winkler Nein SPD Dr. Hermann Scheer FDP Jens Ackermann Dr. Karl Addicks Daniel Bahr ({51}) Uwe Barth Angelika Brunkhorst Patrick Döring Mechthild Dyckmans Ulrike Flach Otto Fricke Horst Friedrich ({52}) Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther ({53}) Heinz-Peter Haustein Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Michael Kauch Hellmut Königshaus Jürgen Koppelin Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Michael Link ({54}) Markus Löning Patrick Meinhardt Jan Mücke Dirk Niebel Detlef Parr Cornelia Pieper Gisela Piltz Frank Schäffler Dr. Max Stadler Christoph Waitz Hartfrid Wolff ({55}) DIE LINKE Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Dr. Lothar Bisky Roland Claus Dr. Diether Dehm Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Diana Golze Dr. Gregor Gysi Hans-Kurt Hill Cornelia Hirsch Inge Höger Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Dr. Hakki Keskin Monika Knoche Jan Korte Katrin Kunert Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Ulrich Maurer Dorothée Menzner Kersten Naumann Wolfgang Nešković Petra Pau Elke Reinke Paul Schäfer ({56}) ({57}) Dr. Ilja Seifert Dr. Petra Sitte Dr. Kirsten Tackmann Alexander Ulrich Jörn Wunderlich fraktionslose Abgeordnete Henry Nitzsche Enthalten BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Damit erteile ich als nächstem Redner dem Kollegen Eduard Oswald für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({58})

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja schon eine Art Tradition, gemäß der die Bundesregierung einmal im Jahr ein Jahressteuergesetz vorlegt. Kollege Wissing hat in diesem Zusammenhang vom Christkind gesprochen. Von vielen wird es als Besenwagen-, Omnibus- oder Lumpensammlergesetz bezeichnet. Das Wort Christkind würde ich ganz sicher bei solch einer Art von Gesetz nicht verwenden. Was immer Einzelne damit aussagen wollen, eines soll jedenfalls symbolisiert werden: Mit dem Jahressteuergesetz wird gewöhnlich in eine Vielzahl von Gesetzen ändernd eingegriffen. Man muss sich in der Tat in jedem Fall anschauen, ob eine Änderung auch unbedingt notwendig ist. Man reagiert damit auf EU-rechtliche Vorgaben, nimmt Anregungen aus dem Bereich der Verwaltung auf, setzt Gerichtsurteile um, nimmt notwendige Korrekturen und auch so manche Optimierung vor. Deswegen führen wir ja auch eine mehrstündige Anhörung zu diesem Gesetz durch, um uns jeden einzelnen Punkt noch einmal anzusehen. Ich bleibe jetzt einmal beim Begriff „Besenwagengesetz“; er gefällt mir so gut. Das, was noch aufgekehrt werden muss, muss also gewissenhaft und ordentlich beseitigt, im Sinne von erledigt, werden. Die Bezeichnung „Besenwagengesetz“ verdeutlicht aber auch: Dort, wo der Besen angesetzt wird, gilt es, sauber zu arbeiten. Trotz der Vielzahl von Gesetzen muss gelten: Gründlichkeit ist oberstes Handlungsgebot. Das gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass in den vergangenen Jahren durch die Jahressteuergesetze stets auch bedeutungsvolle Regelungen umgesetzt wurden. Unser Ziel im Bereich der Finanzpolitik muss es sein, überflüssige Bürokratie konsequent abzubauen. Eigentlich jedes Gesetz muss man dementsprechend prüfen und schauen, ob das gelingt. Weil Steuergesetze erfahrungsgemäß als besonders bürokratieträchtig empfunden werden, trägt natürlich das Bundesministerium der Finanzen dabei eine besondere Verantwortung. Aber das gilt auch für uns Parlamentarier. Wir sind es ja, die letzten Endes die Verantwortung für jedes Gesetz tragen, das dieses Haus verlässt, und nicht der einzelne Ministerialrat, der aufgeschrieben hat, dass dieses und jenes noch hinein soll, und wozu die Leitung des Hauses möglicherweise sagt: Das machen wir halt, um diesem auch noch einen Gefallen zu tun. - Wir tragen die Verantwortung. Wenn wir am Schluss sagen: „Das machen wir nicht“, dann wird es auch nicht gemacht. So muss es unsere Daueraufgabe sein, in dieses Steuerrecht Klarheit, Vereinfachung und Transparenz zu bringen und die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, Steuern zu zahlen, zu erhalten. Nun wissen wir alle, dass abstrakt alle für Vereinfachung sind. Konkret natürlich versucht jeder, auch seine Einzelinteressen immer wieder durchzusetzen. Das uns vorliegende Jahressteuergesetz 2009 - eine Drucksache mit 146 Seiten - enthält natürlich bedeutsame politische Maßnahmen. Die Staatssekretärin hat schon auf einige hingewiesen. Für mich steht an erster Stelle der Ausschluss extremistischer Vereine von der Gemeinnützigkeit. Künftig gilt: Wenn eine politische Stiftung oder Körperschaft augenscheinlich extremistisches Gedankengut fördert, dann kann sie keine Steuervergünstigung erhalten. ({0}) Wer gegen die Grundlagen unseres freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates und das friedliche Zusammenleben in unserem Lande arbeitet, der darf nicht hoffen, dafür in irgendeiner Weise auch noch vom Staat begünstigt zu werden. Hier gilt es, klare Regelungen zu schaffen. Ein weiterer Punkt ist - das ist wichtig und immer wieder anzusprechen -: Durch die Klarstellung und Verbesserung bei der steuerlichen Haftungsregelung für Vereinsvorstände stärken wir das Engagement der ehrenamtlich Tätigen in diesem Lande. Das Jahressteuergesetz wird auch das im Koalitionsvertrag vereinbarte optionale Faktorverfahren bei der Lohnsteuer von Ehegatten einführen; Frau Staatssekretärin, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie auf diesen Punkt extra hingewiesen haben. Es schafft damit eine echte Alternative zur bisherigen Lohnsteuerklassenwahl und sorgt dadurch für mehr Flexibilität. Künftig können die Steuervorteile für Ehepaare durch das Ehegattensplitting schon beim Lohnsteuerabzug entsprechend den Einkommen verteilt werden. Bei manchen Vorschlägen, die uns hier vorgelegt werden, haben wir natürlich - dies sage ich für unsere Fraktion - noch erheblichen Beratungsbedarf; das hat bereits ein Durchgang im Finanzausschuss gezeigt. ({1}) Bekanntlich haben wir schon im Vorfeld des Kabinettsbeschlusses erfolgreich auf den einen oder anderen Punkt hingewiesen. So konnten wir die Pläne, die vorsahen, die steuerliche Absetzbarkeit von Schulgeld vollständig zu streichen, abwenden. ({2}) Von einer kompletten Streichung der Absetzbarkeit wären rund 240 000 Schülerinnen und Schüler betroffen gewesen. Es wäre natürlich ein Eingriff nicht nur in das private Bildungssystem, sondern in das Bildungssystem unseres Landes insgesamt. Natürlich wird der öffentliche Bildungsauftrag in Deutschland in erster Linie durch staatliche Schulen, aber auch durch Schulen in freier Trägerschaft abgedeckt. Das hat in unserem Land eine gute und große Tradition. In meinem Heimatland Bayern beispielsweise wurde bereits 1919 die anerkannte Privatschule mit Anspruch auf öffentliche Finanzhilfe geschaffen. Viele Privatschulen insbesondere in den Großstädten und in der Trägerschaft der Kirchen sind eben auch für Familien mit kleinem Einkommen erschwinglich. Mehr als 4 700 private Schulen gibt es in ganz Deutschland, Tendenz steigend. Man könnte eigentlich fragen, warum das so ist, aber das ist eine andere Debatte, Kollege Wissing. Aus Sicht unserer Fraktion muss auch über die im Jahressteuergesetz 2009 enthaltene Maßnahme zur Stärkung der privaten Altersvorsorge nachgedacht werden. Dies wäre durch eine Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen bei langfristigen Sparplänen möglich. Zumindest beim langfristigen Sparen für das Alter ist nicht einzusehen, warum Fonds und Lebensversicherungen steuerlich auf solch erhebliche Weise unterschiedlich behandelt werden. ({3}) Durch eine konsequente steuerliche Gleichbehandlung aller kapitalansparenden Vorsorgeprodukte sollten meiner Meinung nach Wettbewerbsverzerrungen, Anreize zu Ausweichreaktionen und Altersvorsorgestrategien, die allein aus steuerlichen Erwägungen getroffen werden, abgewendet werden. ({4}) Auch in Bezug auf die vorgesehene Änderung der Dienstwagenbesteuerung im Umsatzsteuerrecht haben die Länder im Bundesrat auf wichtige Punkte aufmerksam gemacht. Durch die ursprünglich vorgesehene Änderung würde eine zusätzliche bürokratische Verkomplizierung geschaffen werden. Wir können schließlich nicht nur über Entbürokratisierung sprechen, sondern wir müssen auch dafür sorgen, dass bereits komplizierte Sachverhalte nicht noch komplizierter werden. Deswegen müssen wir das Thema Dienstwagenbesteuerung genau betrachten. Mir wurde gesagt, davon wären 1,6 Millionen Betriebe betroffen. ({5}) Ich komme zum Schluss. - Wir haben noch einige intensive Beratungen vor uns. Diese finden natürlich erst in der Koalition statt - das will ich gar nicht verschweigen -, dann im Finanzausschuss. Darüber hinaus veranstalten wir eine Anhörung. Wir wollen schließlich, dass unser Steuerrecht nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch für die Finanzverwaltung verständlich und einfach ist. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten. Herzlichen Dank. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Burgbacher das Wort.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Oswald, es ist richtig, dass wir hier über ganz konkrete Dinge diskutieren. Es ist auch notwendig, dass man manches, was draußen diskutiert wird, dort diskutiert, wo es hingehört, nämlich hier im Parlament. Der Tourismusbeauftragte, Ihr CSU-Kollege Hinsken, fordert landauf, landab die Einführung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes für die Hotellerie. Im Bundesrat lag ein Antrag des Landes BadenWürttemberg vor, den Wirtschaftsminister Pfister dort eingebracht hat. Im Wirtschaftsausschuss hat Bayern diesen zunächst abgelehnt. Auf massiven Druck auch der FDP hat Bayern am Freitag im Bundesrat dann zugestimmt. Dieses Spiel ist für die Leute überhaupt nicht mehr nachvollziehbar. Ich bin der Meinung, wir brauchen das. Alle Nachbarländer der Bundesrepublik außer Dänemark haben den reduzierten Satz, wohingegen wir den vollen Satz von 19 Prozent verlangen. Ich meine, die Menschen haben ein Recht darauf, gerade von Ihnen als Vorsitzendem des Finanzausschusses jetzt eine klare Aussage zu bekommen: Unterstützen Sie die Forderung nach Einführung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes für die Hotellerie - das können wir national in Deutschland machen -, oder unterstützen Sie das nicht? Konkret: Werden Sie auch nach dem Sonntag dafür sein und einen Antrag einbringen, oder tun Sie das nicht?

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Oswald, bitte.

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Burgbacher, zunächst einmal ist die Frage des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nicht Gegenstand dieses Jahressteuergesetzes. ({0}) - Im Bundesrat ja; aber in diesem Paket ist er nicht enthalten. - Zunächst einmal ist es so, dass wir, auch im Finanzausschuss, vereinbart haben, dass das Thema des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf der Tagesordnung der Beratungen bleibt. Es wird in Kürze auch ein Berichterstattergespräch stattfinden. Sie wissen doch, dass es zwei Bereiche gibt: Zum einen sind in der Tat Ungereimtheiten zwischen ermäßigtem und vollem Mehrwertsteuersatz vorhanden. Zum anderen gibt es große Blöcke, zum Beispiel Gastronomie und Tourismus; aber auch über viele andere Felder haben wir hier schon diskutiert, beispielsweise Arzneimittel. Wir sichern zu, dass wir intensiv darüber beraten. Das ist im Augenblick nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Aber wir müssen natürlich bei all diesen Punkten jeweils auch - da sind wir uns in der Koalition völlig einig - die Haushaltssituation im Auge behalten. Bei mancher Absenkung würden dem Haushalt Milliardenbeträge verlorengehen. Ich nehme das sehr ernst, was Sie gesagt haben. Aber ein zweiter Punkt ist: Wenn wir den Mehrwertsteuersatz absenken, müssen wir auch sicher sein, dass diese Senkung tatsächlich an die Verbraucher, die Bürgerinnen und Bürger weitergegeben wird. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts des Wustes zum Jahressteuergesetz 2009 fragt man sich als Abgeordneter doch: Ist da wirklich jede Änderung notwendig? Zum Gesetzentwurf haben wir schon 13 Änderungsvorschläge, 24 Punkte haben wir zusätzlich für die öffentliche Anhörung, und der Presse kann man weitere Änderungswünsche entnehmen, zum Beispiel das Ansinnen der Union, nun die hauswirtschaftliche Dienstleistung, also Putzfrauen, Gärtner usw., für Gutverdienende noch stärker steuerlich zu subventionieren. Sicher sind in dem Gesetzentwurf einige Punkte enthalten, über die es sich zu diskutieren lohnt. Mich bewegt am heutigen Tag, gerade nach der morgendlichen Debatte zur Finanzmarktkrise, die Frage: Wie wird das konkret umgesetzt in der Gesetzgebung? Herr Steinbrück hat heute früh gesagt, er wolle eigentlich, dass die Leerverkäufe verboten werden. Man könnte ja erwarten, dass im Jahressteuergesetz eine entsprechende Regelung enthalten ist, aber nein. Im Jahressteuergesetz finden wir eine Regelung, die das Gegenteil bewirkt: Jetzt sollen die Verluste aus Stillhaltergeschäften steuer19040 lich begünstigt werden. Das bedeutet, Verrechnungen von bis zum Jahr 2009 nicht genutzten Verlusten aus Stillhaltergeschäften sollen weiter geltend gemacht werden können. Das ist ein weiterer Anreiz, spekulativ tätig zu sein; denn es wird nicht eingedämmt, sondern sogar noch steuerlich belohnt. Gestern war in der Financial Times Deutschland zu lesen, dass das aktuelle Leerverkaufsverbot der BaFin seine Wirkung verfehle: ({0}) Im Grunde sei die Sperre „blödsinnig“, meinte ein anderer Händler, der bei diesem heiklen Thema anonym bleiben wollte. Man könne trotzdem Aktien leer verkaufen. Dann wird man noch belohnt. Das kann doch keine Politik sein, die wir hier im Hause anstreben sollten! ({1}) Bereits mehrfach erwähnt wurde der Aspekt des Ehegattensplittings. Sie unternehmen einen zweiten Versuch, die negativen Auswirkungen des derzeitigen Ehegattensplittings meistens auf die Ehefrau, die in die Lohnsteuerklasse V geht und damit wesentlich höhere Steuern zahlen muss, abzumildern Aber das ist doch nur ein Pseudoverfahren. Es ist nicht der einzige Kritikpunkt zum Ehegattensplitting. Seien Sie endlich konsequent und nehmen Sie Ihre eigenen Forderungen wieder auf! Gerade die Kollegen aus der SPD waren jahrelang für die Abschaffung des Ehegattensplittings bzw. für dessen Umwandlung, und zwar so, wie wir es jetzt fordern, nämlich dass der nicht ausgeschöpfte steuerliche Grundfreibetrag auf den Partner oder die Partnerin übertragen werden kann. Dann haben wir eine gerechte Lösung. Es würden dann tatsächlich Steuermittel frei, die aufgewendet werden können, um das Kindergeld endlich in einem ersten Schritt auf 200 Euro und perspektivisch auf mindestens 250 Euro anzuheben. ({2}) Ich möchte noch die von Ihnen angestrebte mögliche Verlagerung der Buchführung ins Ausland ansprechen. Letztendlich wollen Sie damit etwas legalisieren, was bisher im rechtlichen Graubereich schon gemacht wird. Dieses Politikverständnis kann ich nicht nachvollziehen. Bisher ist die Buchführung im Ausland aus gutem Grunde nicht erlaubt. Denn es muss sichergestellt sein, dass die Finanzverwaltung jederzeit einen Zugriff auf die entsprechenden Unterlagen hat. Aber in dem Moment, in dem die Buchführung - auch unter gewissen Bedingungen - ins Ausland verlagert werden kann, wird dieses Recht natürlich eingeschränkt. In diesem Zusammenhang sind wirklich eine ganze Reihe von Fragen zu klären. Lassen Sie mich noch einige Worte zum Schulgeld verlieren. Man kann daraus leicht ein ideologisches Thema machen. Aber es ist ein ganz irdisches Thema. Warum gibt es zum Teil diesen Run auf Privatschulen? Weil das öffentliche Schulwesen immer mehr unter den Finanzmängeln zu leiden hat. Das ist ein Ergebnis auch der Finanzpolitik der Großen Koalition. Denn: Wenn es weniger Steuereinnahmen gibt, ist weniger Geld für Bildung vorhanden. ({3}) Das ist die Situation, vor der wir stehen. Die öffentlichen Schulen haben weniger Angebote, was Sprachausbildung und Spezialisierung betrifft. Es gibt vielfach die Kritik, dass der Schlüssel Lehrer/Schüler nicht ausreichend ist. Deshalb suchen viele Eltern andere Möglichkeiten. Die Lösung sollte aber darin bestehen, dass das öffentliche Schulwesen gestärkt wird. Ich verstehe nicht, warum man nicht auf alle Fälle, die mit dem Schulgeld vergleichbar sind, eingeht. Es gibt heute Bundesländer, in denen die Ausbildung für bestimmte Berufe nur noch von privaten Trägern für viel Geld angeboten wird. Die anfallenden Kosten kann man aber nicht absetzen. Schauen Sie einmal nach SachsenAnhalt! Die Regelungen für das Schulgeld müsste man konsequenterweise auf diejenigen Kosten ausweiten, die bis zum ersten Berufsabschluss fällig werden. Prinzipiell denke ich aber, dass es nicht notwendig ist, eine steuerliche Förderung in diesem Maße aufrechtzuerhalten. Ich danke Ihnen. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eduard Oswald hat gesagt, dass Jahressteuergesetze Tradition haben. Das stimmt. Es ist aber leider auch diesmal so, dass das Jahressteuergesetz sehr viele Regelungen beinhaltet, die nicht zu einem Abbau von Bürokratie im Steuerrecht führen. Es beinhaltet auch sehr viele Regelungen, die nicht zu einer signifikanten Entlastung von Bürgern und Bürgerinnen führen. Das Jahressteuergesetz umfasst 146 Seiten. Es gibt eine Vielzahl von Änderungswünschen, die vonseiten der Koalition eingebracht worden sind. Daran sieht man, dass es innerhalb der Koalition zu unterschiedlichen Punkten noch unterschiedliche Auffassungen gibt. Ich bin gespannt, wie sich da die Diskussionen entwickeln. Auch Vorschläge vonseiten der Opposition werden wir im Finanzausschuss zu diskutieren haben. Aufgrund der Tatsache, dass wir es mit diesem Jahressteuergesetz mit einer sehr großen Anzahl von Regelungen zu tun haben, möchte ich mich auf drei Punkte konzentrieren. Der erste Punkt. Wie gehen wir in Zukunft damit um, dass wir für die gemeinsam veranlagten Ehepartner unterschiedliche Belastungseffekte bei der Lohnsteuer haben? Sie haben jetzt zum zweiten Mal versucht, dieses Thema anzugehen. Sie haben zum zweiten Mal ein Verfahren vorgeschlagen. Wir sagen allerdings, dass dieses neue Faktorverfahren für den Lohnsteuerabzug nicht der richtige Weg ist. Zukünftig müssen bei den Finanzämtern die voraussichtlichen Bruttolöhne der Eheleute ermittelt werden und auf das Jahr hochgerechnet werden. Dann muss die Gesamtsteuer ohne Splittingverfahren ermittelt werden. Dann muss die Gesamtsteuer mit Splittingverfahren ermittelt werden. Dann wird der Faktor ermittelt und eingetragen. Damit ist es aber noch nicht vorbei; denn dann müssen beide eine Steuererklärung ausfüllen. Das heißt, die Pflicht, eine Steuererklärung abzugeben, wird damit ebenfalls ausgelöst, was man an der einen oder anderen Stelle so auch nicht brauchte. Da sage ich: Bürokratieabbau, verehrte Kollegen und Kolleginnen, schaut anders aus. Ich frage mich, wer diese Regelung in Anspruch nehmen wird; denn sie bewirkt im Regelfall - es gibt ein paar positive Beispiele, die die Frau Staatssekretärin genannt hat; das sind aber ganz wenige -, dass die Lohnsteuerzahlung über das Jahr hinweg höher ist als ohne diese Regelung. Trotzdem müssen die Unternehmen eine neue Lohnsteuerabrechnungssoftware vorhalten. Das ist ein Mehraufwand für nichts. Das Verfahren, so finden wir, ist unverhältnismäßig und ungeeignet. Wir haben vonseiten der Grünen im Zusammenhang mit dem Ehegattensplitting schon längst bessere Vorschläge eingebracht. ({0}) Auch datenschutzrechtlich ist die Regelung äußerst bedenklich. Sie sagen, das Ganze sei eine Option; aber der erste Vorschlag, den Sie gemacht hatten, war auch eine Option. Damals haben Sie aufgrund der datenschutzrechtlichen Bedenken, die zu Recht vorgebracht worden sind, Ihren Vorschlag zurückgezogen und Ihre Regelung ad acta gelegt. Jetzt haben Sie einen Vorschlag gemacht, der diese Problematik wieder beinhaltet. Ein zweites Beispiel, bei dem wir glauben, dass die Regelung nicht so ist, wie sie sein müsste, ist das Schulgeld. Es wurde zu Recht gesagt, dass es gut ist, dass die Regierung ihrer ursprünglichen Idee, das Schulgeld überhaupt nicht mehr vom Steuerabzug erfassen zu lassen, durch die neue Vorlage nicht mehr nachgehen will. Das heißt, Sie haben jetzt eine Änderung vorgenommen. Private Schulen erhalten - das wissen Sie - ein Viertel weniger staatliche Unterstützung als die öffentlichen Schulen. Der Rest muss von den Familien durch Schulgeldzahlungen finanziert werden. Deswegen ist es richtig, dass man aufgrund der Ungleichbehandlung von privaten Schulen und Schulen, die ganz vom Staat finanziert werden, einen Ausgleich schafft. Wir haben von grüner Seite darauf hingewirkt, dass es zu der Streichung der ursprünglichen Idee gekommen ist. Aber berufsbildende Ersatzschulen fallen aus dem Steuerabzug ganz heraus. Wenn wir alle der Meinung sind, dass Bildung ein ganz wichtiger Standortfaktor ist, dass wir eine Vielfalt an Schulformen brauchen, dass wir in der globalisierten Wirtschaft und angesichts des demografischen Umbruchs gut ausgebildete und qualifizierte Bürger und Bürgerinnen haben wollen, wenn man Wohlstand und Wachstum erhalten will, ist es ein Muss, dass man bestimmte Schulformen nicht ausschließt. Diese Regelung kritisieren wir, genauso, wie wir andere Vorschläge kritisieren. Wir werden Ihnen das im Verfahren im Einzelnen vorlegen, auch mit Änderungswünschen; das habe ich schon angekündigt. Wir sind da sehr konstruktiv. Es gibt auch im Zusammenhang mit den Standorten von Windkraftanlagen und Solaranlagen einiges zu tun, was die Gewerbesteuerzerlegung anbelangt. Ich hoffe, dass wir da zu einer gemeinsamen Lösung kommen. So, wie das Gesetz heute ist, verhindert es, dass sich manche Bürgermeister und Gemeinderäte für einen Standort entscheiden, weil die Gemeinden gewerbesteuerlich nichts davon haben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Scheel, achten Sie bitte auf die Zeit.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Letzter Satz, Frau Präsidentin: Denn die Steuern werden nicht am Standort gezahlt, sondern dort, wo der Sitz des Unternehmens ist. Das ist im Zusammenhang mit der Entwicklung der regenerativen Energien ein steuerpolitisch falscher Anreiz. Das gilt es zu ändern. Da werden wir unsere Vorschläge einbringen. Danke schön.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Gabriele Frechen für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Herrn Oswald dankbar dafür, dass er Herrn Wissing klargemacht hat, was ein Jahressteuergesetz ist. Offensichtlich hat Herr Wissing überhaupt nicht kapiert, was mit dem Jahressteuergesetz bezweckt wird. Herr Oswald, Kompliment zu Ihrer Einführung in dieses Thema. Von Herrn Dr. Wissing habe ich endlich erfahren, was ich ideologisch zu denken habe. Ich muss ja richtig froh sein, dass es Sie gibt. Sonst wüsste ich gar nicht, dass die Privatschule für mich ein ideologisches Problem ist. ({0}) Das ist es aber nicht. Ich möchte am Beginn meiner Rede auf das Thema Schuldgeld eingehen, weil es hier schon mehrfach angesprochen wurde. Die Damen Höll und Scheel kann ich beruhigen: Auch wir arbeiten an einer Änderung, damit berufsbildende Schulen einbezogen werden können. Einverstanden! ({1}) Die Absetzbarkeit des Schulgeldes war immer auf 30 Prozent begrenzt, ohne Deckel. Jetzt hat man in Brüssel festgestellt: Es widerspricht europäischem Recht, wenn nur Schulgeld für Schulen in Deutschland steuerlich geltend gemacht werden kann. Ich halte es für absolut legitim, wenn wir überlegen, wie wir es schaffen, die Schulgelder für fast alle deutschen Schulen in das Gesetz einzubeziehen. Das Schulgeld für Privatschulen in Deutschland liegt bei ungefähr 10 000 Euro pro Jahr. Wir decken also fast alle Schulen in Deutschland ab, machen aber einen Deckel darauf. Ich habe mir sagen lassen, dass es im europäischen Ausland Privatschulen gibt, die deutlich teurer als die in Deutschland sind. Das Schulgeld für diese Schulen müssten wir komplett, ohne Begrenzung in Deutschland zum steuerlichen Abzug zulassen. Das kann ja wohl nicht richtig sein. Deshalb diese Änderung im Gesetz, die ich sehr wohl unterstütze. Auch die Steuerklasse V war schon Thema. Die Frau Staatssekretärin hat in dieses Thema eingeführt. Es stimmt: Wir wollen eine neue Besteuerung von Ehegatten. Frau Dr. Höll, diese Form ist nicht nur ein bisschen gerechter. Zum ersten Mal wird es mit diesem Faktorverfahren gelingen, eine individuelle Besteuerung mit Splittingvorteil hinzubekommen. Künftig werden die Ehegatten, die Steuerklasse V haben, weil sie das niedrigere Einkommen beziehen, just das an Steuern zahlen, was in der gemeinsamen Steuererklärung auf sie entfällt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Frechen, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin Frechen, stimmen Sie mir zu, dass erstens unser Vorschlag trotzdem wesentlich konsequenter ist und zweitens bei Ihrem Vorschlag das Einvernehmen beider Ehepartner Voraussetzung ist, Sie nach Aussage der Parlamentarischen Staatssekretärin selbst damit rechnen, dass nur etwa 5 Prozent aller Ehepaare Ihren Vorschlag annehmen werden, und der von Frau Scheel aufgeführte bürokratische Aufwand in keinem Verhältnis dazu steht, insbesondere weil man eine einfache und klare Lösung durchsetzen könnte?

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Was die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung anbelangt, ist der bürokratische Aufwand bei der Lohnsteuerklassenkombination III und V genauso gegeben wie beim Faktorverfahren. Auch diese Paare sind verpflichtet, eine Steuererklärung abzugeben. Gerechter ist das, was Sie vorschlagen, nicht. Auch nach Ihrem Vorschlag hätte jeder Ehegatte ab einem Einkommen von 900 Euro unterjährig und nicht erst am Ende des Jahres den auf ihn anfallenden Steueranteil zu zahlen. Einer der Kernkritikpunkte am Anteilsverfahren war, dass auch bei einem Einkommen von weniger als 900 Euro Steuern hätten gezahlt werden müssen. Auch in Steuerklasse V müssen selbstverständlich Steuern gezahlt werden. Wenn aber laut individueller Besteuerung keine Steuern zu zahlen sind, sind auch nach dem Faktorverfahren keine zu zahlen. Das ist der Vorteil für die Bezieher ganz geringer Einkommen. ({0}) Lassen Sie mich ein Wort zum steuerlichen Querverbund sagen. Ich denke, die Kommunalpolitiker unter uns sind der Meinung, dass das ein richtig großer Wurf ist. Wir sind alle sehr froh, dass das schon im Gesetz steht, sonst hätten wir es nämlich selbst hineinschreiben müssen. Aber es steht schon im Entwurf der Regierung. Privat vor Staat - das ist ein Slogan der schwarz-gelben Landesregierung in Nordrhein-Westfalen. Er stimmt nicht, und er nützt nie den Bürgerinnen und Bürgern, sondern immer nur den Unternehmen. Deshalb bin ich froh, dass der steuerliche Querverbund bleibt und dass die Daseinsfürsorge mit Gewinnen aus kommunalen Betrieben weiter finanziert werden kann. Ich halte überhaupt nichts davon, Kommunen in ihrer wirtschaftlichen Betätigung einzuschränken, die Verluste aus dem ÖPNV und der Daseinsfürsorge in der Kommune zu lassen und alles andere, was in der Kommune Gewinn bringt, zu privatisieren. ({1}) Diese Haltung habe ich im Übrigen auch zu den Sparkassen und zum Sparkassengesetz in Nordrhein-Westfalen. Auch da macht „Privat vor Staat“ überhaupt keinen Sinn. ({2}) Ich möchte zwei Punkte zur Gemeinnützigkeit ansprechen. Ich unterstütze Herrn Oswald, wenn er sagt: Es kann nicht sein, dass Vereine ({3}) - habe ich jemals etwas anderes gesagt, Herr Kollege? -, die nicht auf dem Boden unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehen, begünstigt werden. Das ist zwar schon heute die geltende Verwaltungspraxis, aber es ist deutlicher, wenn es im Gesetz verankert ist. Das machen wir jetzt. Weiter legen wir fest, dass gemeinnützige Vereine und gemeinnützige Stiftungen einen Bezug zum Allgemeinwohl im Inland haben müssen. Eine italienische Stiftung, die in der Schweiz gemeinnützig tätig ist und in Deutschland nur Vermietungseinkünfte hat, erfüllt diese Voraussetzungen eindeutig nicht. Inländische gemeinnützige Vereine, die im In- und/oder Ausland Gutes tun, sind von dieser Regelung überhaupt nicht betroffen. Bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt sind für uns Ehrensache. Deshalb versichere ich den gemeinnützigen Vereinen: Wir werden alle diesbezüglichen BedenGabriele Frechen ken aufnehmen und gemeinsam mit Ihnen eine zweifelsfreie Formulierung finden. ({4}) Außerdem - klein aber fein - werden wir den ArbeiterSamariter-Bund in den Katalog der Verbände der freien Wohlfahrtspflege aufnehmen. Frau Dr. Höll, Sie sprachen die Bedingungen an, unter denen Buchführungen ins Ausland verlegt werden können. Ein bisschen stimme ich mit Ihnen überein. Wenn es denn so ist, dass wir heute internationale Verflechtungen haben, dann darf es auf keinen Fall sein, dass der, der seine Buchführung im Ausland macht, bessere Bedingungen hat als der, der sie im Inland macht. Es kann nicht sein, dass der Zugriff für die Finanzbehöriden nicht genau wie in Deutschland jederzeit gewährleistet ist. Deshalb werden wir uns diese Vorschrift ganz genau anschauen. Wir werden die Zusagen aus der Unternehmensteuerreform für Leasing- und Factoringunternehmen und bezüglich der Aufhebung des Organschaftsverbots zwischen Kranken- und Lebensversicherungen erfüllen. Dann gibt es noch einen für mich ganz wichtigen Punkt, den wir in das Gesetzgebungsverfahren einbringen werden. Das betrifft die Besteuerung von Dividenden und Veräußerungserlösen bei Streubesitz. Derzeit gilt für Dividende, die ins europäische Ausland gezahlt wird, eine abgeltende Steuer in Höhe von 20 Prozent. Im Inland ansässige Unternehmen können diese Kapitalertragsteuer hingegen mit der Körperschaftsteuer verrechnen. Das wurde im Vertragsverletzungsverfahren von der Europäischen Kommission als nicht europakonform angesehen. Handeln wir nicht, steht uns eine Klage vor dem EuGH ins Haus. Nach europäischem Recht haben wir zwei Möglichkeiten: Wir stellen alle In- und Ausländer frei oder wir machen beide Gruppen steuerpflichtig. Der Unterschied beträgt rund 1,5 Milliarden Euro. Ich denke, angesichts des guten Wegs der Haushaltskonsolidierung, auf dem sich diese Große Koalition befindet, muss man sich nicht lange fragen, wie wir uns entscheiden. Wir werden diese Steuerpflicht für Dividenden- und Veräußerungserlöse bei Streubesitz in diesem Gesetzgebungsverfahren einführen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Antje Tillmann für die Unionsfraktion. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Dr. Wissing, Sie haben einleitend gesagt, dieses Jahressteuergesetz sei ein Gesetz, das das Finanzministerium sich ausgedacht habe, das im Sinne der Finanzbehörden sei, aber nicht im Sinne der Steuerpflichtigen. Ich weiß nicht, mit welchem Finanzbeamten Sie diese Meinung besprochen haben. Ich kann Ihnen an wenigen Beispielen aufzeigen, dass dieses Gesetz - ganz im Gegenteil - viele Belastungen für die Finanzverwaltungen bringt, um gerade Steuerpflichtige zu entlasten. Ich fange an mit dem Beispiel steuerliche Haftungsregelungen für Vereinsvorstände. Sie können mir glauben, dass es wesentlich einfacher ist, einen Haftungsbescheid gegen eine natürliche Person zu erlassen als gegen einen Vorstand. Trotzdem waren wir uns einig, dass wir gerade wegen der ehrenamtlichen Tätigkeit vieler Menschen diese Haftungsrisiken begrenzen wollen. Die Regelung, die mittlerweile vorgeschlagen ist, wird in den allermeisten Fällen dazu führen, dass der Schatzmeister des Sportvereins, des Kulturvereins eben nicht in die Situation kommt, dass gegen ihn haftungsrechtlich ermittelt werden muss ({0}) und dass er tatsächlich Vermögensschäden hat. ({1}) Noch weiter gehende Regelungen halte ich insofern für bedenklich - auch das muss man sagen -, als jedem Empfänger einer Steuerbescheinigung zu fast 50 Prozent allgemeine Steuermittel zukommen müssen. Deshalb sehe ich überhaupt keinen Sinn darin, dass das leichtfertig gemacht wird. Wir müssen schon sicherstellen, dass Spendenbescheinigungen ordnungsgemäß sind. ({2}) Ich glaube, da haben wir einen guten Kompromiss gefunden. Die Finanzbehörde wird sich dem beugen, weil sie sieht, dass sie damit gemeinnützige Tätigkeit unterstützt. Das Faktorverfahren ist ein zweites Beispiel. Kein Finanzbeamter kann Interesse daran haben, dieses Verfahren einzuführen, weil der Beratungsaufwand in Zukunft natürlich steigen wird. Trotzdem haben wir gesagt: Wir wollen dieses Faktorverfahren. Dafür gab es zwei Gründe: zum einen, weil wir die Erwerbstätigkeit von Frauen, die nur eine Halbtagstätigkeit aufnehmen möchten, erleichtern wollten, und zum anderen, weil die Wahl der Steuerklasse teilweise endgültige finanzielle Auswirkungen hat, zum Beispiel beim Arbeitslosengeld oder beim Elterngeld. Auch hier ging es nicht um das Interesse der Finanzbehörden, sondern um das der Bürgerinnen und Bürger, die mit diesen Problemen auf uns zugekommen sind und die deshalb gesagt haben: Sie müssen das ändern. In diesem Sinne werden wir das Jahressteuergesetz 2009 ausgestalten. ({3}) Nächstes Beispiel: Auslandstätigkeit steuerbegünstigter, gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchlicher Organisationen. Frau Frechen hat darauf hingewiesen, wie das Gesetz zu lesen ist. Trotzdem, liebe Kollegin Frechen, müssen wir aufgrund dessen, dass Herr Dr. Wissing das Ganze offensichtlich nicht verstanden hat, einmal über die Formulierung nachdenken. Das meine ich jetzt gar nicht böse; die Vereine haben die Regelung schließlich teilweise auch nicht verstanden. Es geht eben nicht um die Fälle, die Sie hier aufgeführt haben, sondern es geht einzig und allein um den Fall, dass eine gemeinnützige Organisation mit Deutschland überhaupt nichts zu tun hat, weswegen wir keinen Anlass dazu sehen, eine Steuerbegünstigung durchzusetzen. Wir haben vom Finanzministerium schon das Signal bekommen, dass wir über die Formulierung nachdenken sollten. Ich bin sicher: Am Ende der Anhörung können Sie diesem Vorschlag, wenn Sie es wollen, zustimmen. Liebe Frau Kollegin Höll, was haben Sie für ein soziales Menschenbild? Ganz offensichtlich ist es für Sie besser, als Reinigungsfrau unversichert, ohne Krankenversicherung und ohne Rentenversicherung zu arbeiten als sozialversicherungspflichtig bei einem bösen Reichen. ({4}) Sie wissen doch, dass das Leben ganz anders ist, als Sie es sich theoretisch vorstellen. Die Situation ist doch so, dass in diesem Bereich die höchste Schwarzarbeitsquote ist und dass Reinigungsfrauen tatsächlich schon heute schwarz und ohne Unfallversicherung arbeiten. Wir wollen das nicht sehenden Auges hinnehmen. ({5}) Wir wollen, dass auch diese Reinigungsfrauen ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis haben. Wir sind bereit, dazu Anreize zu setzen, nämlich im Sinne dieser Frau, im Sinne des Gärtners, im Sinne der Kinderbetreuerin, die selbstverständlich ein Recht darauf haben, einen ordentlichen Arbeitsplatz zu haben und nicht in der Schwarzarbeit zu landen. ({6}) Stichwort „Verlagerung der elektronischen Buchführung“. Es ist immer gut, wenn man nach einer ersten Lesung - ({7}) - Ich kann mich kaum konzentrieren, wenn Sie immer dazwischenreden. Ich gebe Ihnen gern die Gelegenheit, etwas zu sagen, wenn ich meinen Gedanken zu Ende geführt habe. - Auch da ist es gut, dass wir uns in der Anhörung das Gesetz noch einmal vornehmen. Sie haben gesagt: Es kann nicht sein, dass bei einer Verlagerung der elektronischen Buchführung ins Ausland auf Daten nicht mehr zugegriffen werden kann. Das verlangt auch keiner; das ist auch gar nicht vorgesehen. Ein Blick in das Gesetz, das wir heute beraten, hilft. Da steht nämlich ganz klar, dass eine solche Verlagerung nur zulässig ist - ich zitiere -, wenn „der Datenzugriff … in vollem Umfang möglich ist“. Ich denke, wir können Ihnen in der Anhörung die Gelegenheit geben, da nachzufragen. Ich bin gerne bereit, Ihnen den Passus zukommen zu lassen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Tillmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Tillmann, ich möchte nachfragen, welches Menschenbild Sie haben. Wenn jemand ein so hohes Einkommen hat, dass er es sich leisten kann, eine Haushaltshilfe zu beschäftigen, dann ist das gut. Aber haben Sie die Vorstellung, dass die Menschen, die viel haben und es sich sowieso leisten können, das nur machen, wenn wir ihnen als Gemeinschaft einen Teil ihrer Lohnausgaben steuerlich erstatten? Das ist das Prinzip „Haltet den Dieb!“, aber gleichzeitig wirft man noch etwas hinterher. ({0}) Es geht nicht um die Schwarzarbeit der Putzfrau. Voraussetzung ist aber, dass sie jemand anstellt, und genau darum geht es. Wenn jemand sagt, er stellt die Putzfrau nur sozialversicherungsrechtlich abgesichert ein, dann ist das eine ganz andere Situation. Aber hier der Putzfrau den Schwarzen Peter zuzuschieben, ist eine Unverschämtheit. ({1}) Da habe ich ein anderes Menschenbild. ({2})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe niemandem den Schwarzen Peter zugeschoben. Ich habe vielmehr Sie gebeten, aus Sicht der Reinigungsfrau einmal zu überprüfen, welche Interessen sie hat. Ich glaube, der Reinigungsfrau ist es völlig egal, ob ihr Arbeitgeber ein Unternehmen oder ein privater Haushalt ist. Die Hauptsache ist doch, dass diese Reinigungsfrau eine sozialversicherungspflichtige Anstellung mit der Absicherung hat, die ich mir wünsche. Das werden wir fördern. Ich bin sicher, dass wir den guten Ansatz, der schon sichtbar geworden ist, weiterverfolgen werden. Ich weiß, dass wir da noch nicht ganz auf einer Linie mit dem Koalitionspartner sind. Die Gespräche hierüber werden wir fortführen. Ich glaube, dass beide, SPD und CDU/CSU, die Reinigungsfrau als Allererstes im Blick haben und dass wir für sie etwas erreichen wollen, ({0}) damit sie eine Absicherung für die Zukunft hat, auch wenn sie in einem privaten Haushalt arbeitet. ({1}) Das Thema strafrechtliche Verjährungsfristen wird sehr kritisch diskutiert. Liebe Frau Kollegin Kressl, ich stimme nicht ganz mit Ihnen überein, dass die fünfjährige Verjährungsfrist ein Zeichen für ein Kavaliersdelikt ist. Fünf Jahre sind ein langer Zeitraum. Aber wir sind uns schnell wieder darin einig, dass es das allein sowieso nicht bringen wird. Am besten hilft gegen Steuerhinterziehung, wenn derjenige, der es tut, damit rechnen muss, entdeckt zu werden. Hier kämpfen wir gemeinsam in der Föderalismuskommission darum, die Steuerverwaltung effektiver zu machen. Bund und Länder müssen hier zusammenarbeiten. Gestern haben wir dabei die ersten Erfolge erzielt und erreicht, dass bei den Steuerhinterziehungstatbeständen und auch bei den Betriebsprüfungen noch enger zusammengearbeitet wird. Darauf sollten wir für die Zukunft einen Schwerpunkt setzen. Es werden in der Anhörung noch einige andere Punkte zur Diskussion stehen, die heute noch nicht erwähnt worden sind. Frau Kollegin Kressl hat darauf hingewiesen, dass wir auch das Engagement von Arbeitgebern zur Gesundheitsfürsorge unterstützen wollen. Es gibt auch das Anliegen aus dem Bundesrat, Steuerfreiheit für Aufwandsentschädigungen für die dauerhafte Pflege von volljährigen Menschen mit Behinderungen zu schaffen. Wir werden das diskutieren und die Auswirkungen besprechen. Weiterhin gibt es das Anliegen aus dem Bundesrat - das betrifft insbesondere die Kommunen -, bei strukturellem Leerstand die Voraussetzungen für einen Grundsteuererlass zu schaffen. Dieses Problem führt bei manchen ostdeutschen Kommunen zu erheblichen Einbrüchen. Hier müssen wir im Rahmen der Anhörung zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen nach Lösungen suchen, um den Kommunen Sicherheit zu geben, damit sie auf die Steuern, die sie eingeplant haben, tatsächlich zurückgreifen können, um Leistungen wie Kinderbetreuung, Schulverpflegung sowie die Sanierung von Straßen und Jugendhäusern erbringen zu können. Ich freue mich auf die weitere Diskussion und sehe, dass wir noch erheblichen Beratungsbedarf haben. Ich danke Ihnen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 16/10189 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Sportausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderwei- tige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie Zusatzpunkt 7 auf: 7 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Vergaberechts - Drucksache 16/10117 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Lötzer, Werner Dreibus, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Tariftreue europarechtlich absichern - Drucksache 16/9636 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle, Martin Zeil, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Novellierung des Vergaberechts für Bürokratieabbau nutzen - Bundesweit einheitliches Präqualifizierungssystem für Leistungen einführen - Drucksache 16/9092 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Dagmar Wöhrl.

Dagmar G. Wöhrl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002829

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Gesetzentwurf zur Modernisierung des Vergaberechts liegt jetzt vor. Der Abstimmungsprozess war nicht einfach. Es ging vor allem darum, unser komplexes Vergaberecht zu modernisieren und zu vereinfachen. Sehr wichtig war für uns, dass wir zu einer mittelstandsgerechten Ausgestaltung gekommen sind. Es gab viele Diskussionen, vor allem im Zusammenhang mit den sogenannten vergabefremden Aspekten. Ich glaube, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben wir es geschafft, viele Unsicherheiten, die bis jetzt bestanden haben, zum Beispiel Unsicherheiten bei der Rechtsauslegung, zu beseitigen. Zudem erfordern die europäischen Richtlinien bekanntlich weitere Anpassungen der deutschen Regelungen. Wichtig war uns, dass wir bei der Vergabe öffentlicher Aufträge ein transparentes Verfahren bekommen. Wichtig war uns auch, dass die Wirtschaftlichkeit bei der Beschaffung gewährleistet und der Wettbewerb um die Aufträge gestärkt wird. Hier haben wir ein Gleichgewicht hergestellt; das ist gut. Ich möchte auf einige Kernelemente des Gesetzentwurfes eingehen. Ich glaube, eines seiner wichtigsten Elemente ist, dass eine gesetzliche Pflicht zur Aufteilung der Aufträge in Lose vorgesehen ist. Eine Gesamtvergabe soll zukünftig nur noch aus besonderen wirtschaftlichen oder technischen Gründen möglich sein. Somit stärken wir die Mittelstandsklausel; das hatten wir von Anfang an vor. In Zukunft ist sie im Rahmen der Nachprüfung überprüfbar. Die Vergabepraxis hat gezeigt, dass die Mittelstandsklausel bis jetzt nicht den gewünschten Effekt hatte. Nachfragen der öffentlichen Stellen werden immer häufiger derart gebündelt, dass kleinere Betriebe keine Angebote abgeben können, vor allem deshalb, weil sie nicht über dieselben Ressourcen wie andere, größere Unternehmen verfügen. Es ist richtig, dass im Koalitionsvertrag und in den Leitlinien der Bundesregierung explizit gefordert wurde, die Vergabe öffentlicher Aufträge zukünftig mittelstandsfreundlich auszugestalten. Ein weiterer wichtiger Punkt war für uns, dafür zu sorgen, dass möglichst viele mittelständische Betriebe die Möglichkeit haben, sich um öffentliche Aufträge zu bewerben. Am Anfang meiner Rede habe ich bereits darauf hingewiesen, dass die sogenannten vergabefremden Aspekte ein großer Diskussionspunkt waren. Im Gesetzentwurf haben wir die wichtige Klarstellung getroffen, dass bei der Vergabe öffentlicher Aufträge auch soziale, umweltbezogene und innovative Aspekte berücksichtigt werden können; ich betone das Wort „können“. Ich denke, diese Kriterien müssen in einem sachlichen Zusammenhang mit dem Auftragsgegenstand gesehen werden. Vor allem müssen sie allen bekannt sein. Die Formulierung des Gesetzentwurfes knüpft an die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften an und entspricht somit dem europäischen Standard. Eine weitere wichtige Klarstellung ist, dass bestimmte städtebauliche Maßnahmen und bestimmte Formen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit nicht mehr dem Vergaberecht unterliegen. Noch eine kurze Bemerkung zum Antrag der Fraktion Die Linke. Frau Lötzer, Sie gehen in Ihrem Antrag explizit auf das Urteil des EuGH vom April dieses Jahres ein. In diesem Urteil des EuGH wird für die Auftraggeber und die Auftragnehmer bei öffentlichen Bauaufträgen Klarheit geschaffen. Dieses Urteil besagt aber nicht, dass Tariftreueregelungen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge unzulässig sind; ich weiß nicht, ob Ihnen dieser Zusammenhang klar war. Vielmehr wird in diesem Urteil im Einzelnen beschrieben, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine Tariftreueregelung zur Anwendung kommt. Aus wirtschaftspolitischer Sicht ist dieses Urteil zu begrüßen. Wie wir wissen, sind hier die Länder in der Pflicht und gefordert. Vergaberecht ist Einkaufsrecht; ich glaube, das sollte uns allen klar sein. Es ist aber kein Instrument, mit dem man versuchen sollte, Mindestlöhne durch die Hintertür einzuführen. Liebe Kollegen, unser Gesetzentwurf enthält ausgewogene Regelungen. Er würdigt die Interessen der Marktteilnehmer auf beiden Seiten. Ich kann festhalten: Die Bundesregierung hat ihren Teil dazu beigetragen, dass wir eine anwenderfreundliche Ausgestaltung der öffentlichen Beschaffung erreicht haben. Jetzt sind die Verdingungsausschüsse gefragt. Ich hoffe, dass diejenigen, die die VOB und die VOL regeln, sich ihrer Verantwortung dann auch bewusst werden. In dem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Paul Friedhoff für die FDPFraktion. ({0})

Paul K. Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000588, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anlässlich der ersten Beratung des Regierungsentwurfs werde ich mich für die Bundestagsfraktion der FDP im Wesentlichen auf die Perspektive der mittelständischen Unternehmen konzentrieren. Wir begrüßen zunächst die Klarstellung - das hat weniger mit dem Mittelstand zu tun -, dass die Grundstücksverkäufe nicht dem Vergaberecht unterliegen sollen, auch wenn sie mit städtebaulichen Auflagen an die Investoren verbunden sind. Das bedeutet ein Stück Rechtssicherheit und ist sicher auch angemessen. ({0}) Die Mittelstandsklausel ist ein begrüßenswerter Ansatz zur beabsichtigten Stärkung kleiner und mittlerer Unternehmen. Die bisher im Gesetz enthaltene Aufforderung, mittelständische Interessen angemessen zu berücksichtigen, hat sich als nicht sehr wirkungsvoll erwiesen, wie die Frau Staatssekretärin gerade auch festgestellt hat. Mit der verstärkten Aufteilung von Aufträgen in Teilund Fachlose kann einem deutlich größeren Kreis von Unternehmen die Möglichkeit der Teilnahme an Ausschreibungen eröffnet werden. Deshalb ist diese Aufteilung in Einzellose für uns als Regelfall vorzusehen. Wenn davon aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen abgewichen werden soll, muss dies begründet werden. Eine Einzelfallbetrachtung ist auf jeden Fall nötig, da eine pauschale Aussage nicht möglich ist. Die unterschiedlichen Ausschreibungen sind einfach zu komplex. Ob nun Komplett- oder Teilvergaben günstiger sind, muss im Einzelfall betrachtet werden. Aus Sicht der FDP-Fraktion soll der Auftraggeber, wenn er die Ausnahme wählt, also komplett ausschreibt, dies immer konkret begründen müssen. Einen entscheidenden Kritikpunkt am Gesetzentwurf sieht die FDP-Bundestagsfraktion in der Ausnahme für die interkommunale Zusammenarbeit, also die sogenannten Inhousevergaben. Durch die geplante neue Vorschrift wird den Kommunen viel Spielraum zu verstärkter Zusammenarbeit geboten. Sie können nach dem Entwurf andere Kommunen ohne Ausschreibung mit jeder Art von Leistung beauftragen oder hierfür gemeinsame Gesellschaften gründen. Das klingt für die Bürgermeister sicher attraktiv, aber dadurch wird der Wettbewerb bei öffentlichen Aufträgen gefährdet. ({1}) Durch das Vergaberecht soll ein fairer Wettbewerb sichergestellt werden, und es soll den Kommunen nicht etwa einfach gemacht werden, Wettbewerb auszuschalten und Aufträge nach Gutdünken zu vergeben. Nicht umsonst ist die öffentliche Auftragsvergabe im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen geregelt. Lassen Sie mich eines klarstellen: Wenn kommunale Unternehmen gut wirtschaften, dann brauchen sie den Wettbewerb mit der Privatwirtschaft nicht zu fürchten. Deshalb gibt es auch keinen Grund, die städtischen Betriebe von den Vergabevorschriften auszunehmen und so vor dem Wettbewerb zu schützen. ({2}) Meine Damen und Herren, bei allem dürfen die Grundzwecke des Vergaberechts nicht aus den Augen verloren werden. Diese liegen zum einen darin, für die öffentliche Hand einen wirtschaftlichen Einkauf von Leistungen zu gewährleisten. Zum anderen soll den potenziellen Auftragnehmern ein fairer und durchschaubarer Bieterwettbewerb gesichert werden. Diese grundsätzlichen Erwägungen zum Zweck des Gesetzes müssen uns davon abbringen, Aufgaben und Ziele in das Recht der Auftragsvergabe einzubinden, die hiermit überhaupt nichts zu tun haben. So stehen etwa Anliegen der Sozial- und Umweltpolitik mit den eigentlichen Zielen des Vergaberechts meist in keinem Zusammenhang und sollten auch nicht mit ihm vermischt werden. Durch vergabefremde Aspekte werden vielmehr Intransparenz und Bürokratie gefördert und vor allem mittelständische Unternehmen diskriminiert, die sich gesetzeskonform verhalten, also bereits Aufgaben wahrnehmen, die vom Auftraggeber vorgegebenen Motive der vergabefremden Kriterien nach dem Gesetz aber eben nicht erfüllen und auch nicht erfüllen müssen. Lassen Sie mich noch einen Punkt anführen, der für die beabsichtigte Vereinfachung und Entbürokratisierung der Vergabeverfahren sehr wichtig ist. Wir fordern in unserem Antrag, der heute ebenfalls zur Beratung vorliegt, ein bundesweit einheitliches System der Präqualifikation einzuführen. Inhalt der Präqualifikation ist eine möglichen Aufträgen vorgelagerte Prüfung der Eignung. Damit müssen Unternehmer nicht vor jeder Ausschreibung aufs Neue ihre generelle Eignung aufwendig nachweisen und werden nicht im Hinblick auf den Nachweisaufwand von der Teilnahme an Ausschreibungen abgeschreckt. Derartige Systeme gibt es auf Landesebene bereits in fünf Bundesländern. Um einer Zersplitterung des öffentlichen Auftragswesens entgegenzuwirken, fordern wir, im Rahmen der anstehenden Novelle die Chance zu nutzen, ein leistungsfähiges System der Präqualifikation nun auf Bundesebene einzuführen. Kleinen und mittleren Unternehmen muss die Präqualifikation einheitlich und flächendeckend ermöglicht werden. ({3}) Die Bundesregierung begründet ihren Gesetzentwurf mit der Absicht, eine mittelstandsgerechte Modernisierung des Vergaberechts vorzunehmen. Ich würde die Bundesregierung gerne beim Wort nehmen und fordere sie auf, unseren Kritikpunkten und denen der mittelständischen Wirtschaft die Beachtung zu schenken, die zur Erreichung dieses Zieles notwendig ist. Ich danke Ihnen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Reinhard Schultz für die SPD-Fraktion.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Staatssekretärin Wöhrl hat darauf hingewiesen, dass es ein ziemlich langer und schwieriger Prozess war, bis man sich auf diesen Kabinettsentwurf geeinigt hat. Die Tatsache, dass zwischenzeitlich eine Kabinettsentscheidung gestoppt wurde, fanden zumindest einige in diesem Hause merkwürdig. Immerhin liegt uns aber die auf Kabinettsebene vereinbarte Lösung, angereichert durch eine Reihe von Gesichtspunkten, die vorab auf Berichterstatterebene besprochen worden waren - zum Beispiel das Thema städtebauliche Verträge -, als Gesetzentwurf zur Beratung vor. Ich bedanke mich ausdrücklich auch bei Herrn Dr. Nüßlein. Wenn wir weiterhin nahe beieinanderbleiben, dann werden wir trotz der noch bevorstehenden Klippen, die es auch geben wird, die Reform des Vergaberechts zu einem guten Ende bringen. Die Reform ist aus guten Gründen im Koalitionsvertrag vereinbart worden. Sie ging zum einen auf die EUVorgaben zurück, die zum Teil bereits 2006 umgesetzt wurden. Jetzt folgt sozusagen der freiwillige Teil, weitere Regelungen der EU-Vergaberichtlinien in deutsches Recht umzusetzen. Zum anderen verfolgen wir damit auch eigene Absichten im Hinblick auf Vereinfachung und Mittelstandsorientierung. Reinhard Schultz ({0}) Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland etwa 262 Milliarden Euro jährlich für öffentliche Aufträge an Unternehmen gezahlt werden - das sind etwa 2,4 Millionen einzelne Vergabevorgänge -, kann man ermessen, wie kompliziert das ist, aber auch, welche große volkswirtschaftliche Bedeutung das öffentliche Auftragswesen hat. Jedem, der daran teilnehmen möchte, sollte dies ermöglicht werden. Das Vergabeverfahren sollte so transparent, einfach und klar sein, dass jedes Unternehmen - auch kleine Unternehmen - die Möglichkeit hat, daran teilzunehmen. Deswegen war die Reform erforderlich. Die Intransparenz lag zum Teil an der Vielschichtigkeit des Gesetzes und der darauf aufbauenden Verordnungen, aber auch an der Zersplitterung der Vergabelandschaft. Wir haben 8 000 Gebietskörperschaften und 30 000 Vergabestellen, die bundesweit tätig sind und täglich öffentliche Ausschreibungen vornehmen. Das ist für kleine und mittlere Unternehmen außerordentlich schwer zu handhaben. Wir haben seit langem beklagt, dass es gerade im Bereich des Bauwesens angeblich zugunsten der Vereinfachung die Tendenz gibt, alles aus einer Hand schlüsselfertig bei einem Generalunternehmer in Auftrag zu geben. Der Generalunternehmer übernimmt dann die Planung, er steuert das Projekt und kauft in der Regel bei Subunternehmen ein mit dem Ergebnis, dass die eigentliche Marge dort erwirtschaftet wird, wo man die möglichen Gewinne der Subunternehmer drücken kann. Das geht zulasten des Mittelstandes, aber auch der Qualität; denn manchmal kann das, was durch die Preisdrückerei erforderlich wurde, durch Leistung gar nicht mehr erbracht werden. Damit entstehen Pfusch und als Folge vielerlei Gewährleistungstatbestände, die das Geschäft für den Endabnehmer, die öffentliche Hand, außerordentlich schwierig machen. Deswegen sind wir sowohl aus Wettbewerbsgründen als auch aus Qualitätsgründen dafür, dass in der Regel losweise vergeben wird, wenn es um größere Ausschreibungen geht, und dass im Einzelnen begründet werden muss, wenn man auf eine Generalunternehmerlösung zurückgreifen will. Ich gehe sogar einen Schritt weiter. Ich glaube - darüber müssen wir im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch diskutieren; ich bin beim Thema PPP darauf gestoßen -, wir müssen darüber nachdenken, ob es sinnvoll ist, dass ein Generalunternehmer, wenn er zum Zuge kommt, nach den Kriterien des Vergaberechts transparent ausschreibt. ({1}) Nach meiner Meinung wäre das eine Lösung zumindest für PPP, eventuell aber auch grundsätzlich für Generalunternehmertätigkeiten. Ich freue mich, dass eine gewisse Aufgeschlossenheit auch beim Koalitionspartner vorhanden ist; das habe ich an dem Beifall gesehen. Das Thema der sogenannten vergabefremden Kriterien hat die zweieinhalb Jahre dauernden Beratungen sehr verzögert. Man muss sich fragen, ob wirklich alles vergabefremd ist. Bei der Lohnfindung in Unternehmen, die sich an öffentlichen Aufträgen beteiligen, geht es zum einen um die vernünftige Bewertung menschlicher Arbeit und zum anderen um einen Wettbewerbsfaktor. Wenn zwei Unternehmen gegeneinander antreten und das eine als Subunternehmen mit Drückerkolonnen deutlich unter Mindestlohn anbietet und das andere tariftreu ist, dann gibt es eine Verzerrung. Wir können nicht daran interessiert sein, bei einem Volumen von mehr als einer Viertel Billion Euro an öffentlichen Vergaben in Deutschland dazu beizutragen, dass Arbeitnehmer, die für die Durchführung öffentlicher Aufträge beschäftigt werden, in eine Rutschpartie geraten, die damit endet, dass sie Aufstocker im Rahmen des Arbeitslosengeldes II werden; denn dann zahlt die öffentliche Hand im Nachhinein die Löhne, zumindest auf dem Niveau eines Mindestlohns. ({2}) Das müssen wir verhindern. Das ist eine Frage des Anstandes, aber auch der ökonomischen Vernunft. Insofern hat die Lohnfindung als ein soziales Kriterium - auch inhaltlich - unmittelbar etwas mit dem Vergaberecht und der Wettbewerbsgerechtigkeit zu tun und ist nicht etwa sachfremd. Deswegen habe ich Probleme mit den sogenannten sachfremden Kriterien. Ähnliches gilt bis zu einem gewissen Grad für ökologische Tatbestände und innovative Belange. Die entscheidende Frage ist, wie wir damit umgehen. Der Gesetzentwurf sieht eine Eins-zu-eins-Übernahme der Formulierung aus den europäischen Richtlinien vor. Danach könnte jeder, der öffentliche Aufträge vergibt, die Lohnfindung, ökologische Kriterien und innovative Belange in seine Ausschreibungstexte einbeziehen. Das wäre dadurch gedeckt und stellte im Vergleich zu dem, was bundesweit gilt, einen Fortschritt dar. Ich gehe sogar so weit und sage: Wenn das Gesetz schon gelten würde, hätten wir den skandalösen Vorgang bei der Vergabe des Fahrdienstes des Deutschen Bundestages nicht; denn das wäre dann gedeckt. Trotzdem muss man sich die Frage stellen, ob das weit genug geht. Soll man es in das Belieben des jeweiligen öffentlichen Auftraggebers stellen, ob er die Fragen nach angemessenen Löhnen und Wettbewerbsgerechtigkeit ernst nimmt oder nicht? Es wird sicherlich noch Diskussionen darüber geben, ob wir die Tarifbindung nicht deutlich besser verankern können, als es bislang im Gesetzentwurf vorgesehen ist. Das geht noch ein Stück weiter. Der Kollege Walter Riester wird gleich darauf seinen Schwerpunkt setzen. Aber ich will deutlich machen, dass ich ausdrücklich dazu stehe. Es gibt internationales Recht, das, wenn es von Deutschland ratifiziert ist, in Deutschland verbindlich ist. Das sind beispielsweise die Normen der Internationalen Arbeitsorganisation. 71 sind ratifiziert. Selbstverständlich müssen diese bei öffentlichen Vergaben, sowohl bei der direkten Arbeit als auch bei der gesamten Wertschöpfungskette, berücksichtigt werden. Jeder von Ihnen wird sagen: Es ist doch völlig selbstverständlich, dass sich die Unternehmen an geltendes Recht halten. Bei internationalem Recht ist das nicht so selbstverständlich, vor allen Dingen nicht in den Köpfen. Wenn es aber für alle hier im Parlament selbstverständlich ist, dann wird auch nichts dagegen sprechen, das nicht nur in der Begründung zu erwähnen - denn darin kommt es vor -, Reinhard Schultz ({3}) sondern diese Klarstellung auch im eigentlichen Gesetzestext vorzunehmen. An Selbstverständlichkeiten wird keiner Anstoß nehmen. Wenn aber einer das ablehnen sollte, dann stellt sich die Frage, ob diejenigen, die das ablehnen, versuchen, im deutschen Vergaberecht unter der Rechtsverbindlichkeit von internationalem Recht wegzutauchen. Wir werden diese Stunde der Wahrheit erleben, aber ich bin da außerordentlich optimistisch. Ich will zu den Fragen der städtebaulichen Verträge und der kommunalen Zusammenarbeit aufgrund der begrenzten Zeit, die ich hier habe, jetzt nichts sagen. Ich will nur darauf hinweisen, dass es Themen gab, die über den Bundesrat oder auch über Parteien der Opposition an uns herangetragen worden sind. Der Einrichtung eines Registers von Unternehmen, die sich im Rahmen der Vergabe schwerste Verfehlungen haben zuschulden kommen lassen - Korruption, Nichteinhaltung von Gesetzen usw.; es handelt sich um die berühmten schwarzen Schafe -, stehen wir ausgesprochen offen gegenüber. Ich persönlich - das sage ich als Berichterstatter könnte mir auch vorstellen, dass man sich dem Thema der Vereinfachung durch die Präqualifizierung deutlich nähert, weil es wirklich eine Vereinfachung wäre, wenn die Qualifikation testiert würde und in einem Register stünde. Demjenigen, der 25 Ausschreibungen innerhalb einer Woche bearbeiten muss, könnte man sehr viel Arbeit ersparen. Auch in dieser Frage sind wir offen. Ich würde mich darüber freuen, wenn wir am Ende zu einer breit getragenen Vergaberechtsreform kommen würden. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Ulla Lötzer für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ursula Lötzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003174, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! 1999 hat der Bundestag schon einmal ein Vergabegesetz verabschiedet, das die öffentlichen Aufträge an die Zahlung von Tariflöhnen gebunden hat. Dieses wurde im Bundesrat mit der Begründung blockiert, dass es Ländersache sei. Acht Länder haben inzwischen Vergabegesetze beschlossen. Entstanden ist ein Flickenteppich mit unterschiedlichsten Regelungen: Die einen haben Kriterien nur für die Bauindustrie, die anderen für alle Branchen, die einen haben Kontrollen eingeführt, die anderen keine Kontrollen, die einen haben Kontrollen wieder abgeschafft, bei den anderen gelten sie noch. Darüber hinaus gibt es Kommunen, die auch sozial und ökologisch verantwortlich einkaufen wollen, unter anderem Neuss und Düsseldorf. Diese beiden Städte sind nicht gerade rot oder rot-grün regiert, erst recht nicht rot-rot. Sie kaufen keine Produkte mehr, die mit Kinderarbeit hergestellt worden sind. Der rot-rote Senat in Berlin wollte alle Unternehmen verpflichten, Tariflöhne einzuhalten. Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht dazu 2006 ausdrücklich festgestellt, dass Tariftreueregelungen die Benachteiligung tariftreuer Unternehmen im Wettbewerb verhindern, dem Lohndumping entgegenwirken, dem Erhalt wünschenswerter sozialer Standards dienen und die Tarifautonomie stabilisieren. Das alles sind Gründe, mit einer bundesweiten Regelung für fairen Wettbewerb und Rechtssicherheit zu sorgen und gleiche Bedingungen für alle zu garantieren. ({0}) - Ich komme dazu. - Sie, Herr Schultz, haben das Volumen angesprochen, eine bedeutsame Marktmacht, mit der man auch Normen für soziale und ökologische Verantwortung von Unternehmen setzen kann. Sie haben es mit Ihrem Entwurf in der Hand, diese Normen zu setzen und festzulegen, ob in Zukunft der Anteil von Ökostrom mehr als 0,5 Prozent betragen wird; Sie haben es in der Hand, ob Produkte gekauft werden, für deren Herstellung Kinder in Steinbrüchen Indiens gearbeitet haben, und Sie haben es in der Hand, ob zu Dumpinglöhnen geputzt oder Müll abgefahren wird. Wenn man diese Kriterien anlegt, dann ist Ihr Entwurf allerdings beschämend. ({1}) Sie legen keine verpflichtenden Kriterien fest. Sie schieben diese Verantwortung auf die Kommunen und Länder ab. Diese sollen das auftragsbezogen regeln. Das einzig Positive bei Ihnen - das sehen wir anders als Sie, Herr Friedhoff - ist die Förderung kommunaler Zusammenarbeit sowie die Mittelstandsklausel. Wir fordern Sie, Herr Schultz, deshalb auf, die Förderung von betrieblicher Ausbildung, von Langzeitarbeitslosen, ({2}) die ökologische Beschaffung, die Gleichstellung von Frauen - genau - und den fairen Handel verbindlich in das Vergabegesetz aufzunehmen. ({3}) Kommen wir zur Tarifautonomie und dem EuGHUrteil. Ja, der Europäische Gerichtshof hat nur allgemeinverbindliche Tarifverträge und einen gesetzlichen Mindestlohn als Kriterium anerkannt. Das ist ein Urteil in einer Serie von Urteilen, in denen die sozialen und demokratischen Grundrechte niedriger bewertet werden als die Binnenmarktfreiheit von Unternehmen, mit Dumpinglöhnen Aufträge zu bekommen. Ein Skandal, wie wir meinen, Frau Wöhrl! ({4}) Was machen Sie jetzt dagegen? Als Erstes wäre ein gesetzlicher Mindestlohn fällig. Den führen Sie natürlich nicht ein. Stattdessen verstecken Sie sich im Entwurf zur Modernisierung des Vergaberechts in diesen Fragen hinter dem EuGH. Der EuGH zwingt Sie auch nicht, die Tariftreue fallen zu lassen. Auf nationaler Ebene könnten Sie die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen erleichtern. Dafür wäre es sowieso höchste Zeit. Beim Europäischen Parlament regt sich endlich Widerstand. Gestern hat der Beschäftigungsausschuss beschlossen, den Schutz der Tarifvertragsfreiheit in der europäischen Entsenderichtlinie zu verankern und dies demnächst im Europäischen Parlament zu behandeln. Wir fordern Sie auf, dieses Anliegen im Europäischen Rat zu unterstützen. ({5}) Der Europäische Gewerkschaftsbund tritt für eine soziale Fortschrittsklausel in Form eines Protokolls zu den europäischen Verträgen ein, mit dem der Vorrang der Grundrechte und Grundwerte vor den Binnenmarktfreiheiten von Unternehmen abgesichert wird. Werden Sie in diesem Sinne in Brüssel vorstellig! Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort, das gehört auf der einen Seite verbindlich ins Vergaberecht und auf der anderen Seite in die europäischen Verträge. Nur so haben ein soziales Europa und eine Sozialunion Bestand. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Nun hat die Kollegin Kerstin Andreae für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich begrüße, dass wir bei der Reform des Vergaberechts jetzt doch einen deutlichen Schritt weiterkommen. Das ist nicht erst seit gestern ein Thema. Die Koalition hat es schon in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen. Jetzt, drei Jahre später, liegt uns ein Gesetzentwurf vor. Die Europäische Union hat von uns verlangt, zu handeln. Wir sind keineswegs das erste Land, in dem eine solche Reform gemacht wird. Auf das Volumen der öffentlichen Auftragsvergabe von Bund, Ländern und Kommunen ist eingegangen worden sowie darauf, was der größte Einkaufszettel - darum handelt es sich quasi - bedeutet und welche Verantwortung dahintersteht. Auf diese Verantwortung möchte ich eingehen, weil sie für Bündnis 90/Die Grünen sehr wichtig ist. Vorab noch Folgendes. Das Grundproblem des Vergaberechts ist die enorme Zersplitterung, die enorme Kompliziertheit. Sowohl was den Rechtsschutz der Auftraggeber, zum Beispiel der Kommunen, als auch was den Rechtsschutz der Auftragnehmer, zum Beispiel der Mittelständler, angeht, bestehen Probleme. Im Hinblick auf den Mittelstand begrüßen wir die Regelungen, die für die Fach- und Teillose gefunden worden sind. Es ist durchaus richtig, hier so zu handeln. Aber Sie sollten sich noch einmal sehr genau anschauen, was die Verbände in ihren Stellungnahmen im Hinblick auf Rechtsschutz und Klarheit, Transparenz schreiben. Dass der Rechtsschutz derzeit mangelhaft ist, haben wir konstatiert; das ist auch von Ihnen beschrieben worden. Rechtsschutz bedeutet natürlich auch mehr Transparenz und Klarheit für die Unternehmen, die sich an solchen Verfahren beteiligen wollen. Man kann unterhalb der Schwellenwerte zwar im Nachhinein klagen, aber dass es immer noch keinen Primärrechtsschutz gibt, also dass ein Mittelständler, der sich in einem Verfahren nicht angemessen beteiligt fühlt, keine Möglichkeit hat, in diesem laufenden Verfahren „Stopp!“ zu sagen, ist nicht mittelstandsfreundlich. Sie sollten überlegen, ob Sie nicht doch eine Möglichkeit sehen, hier mehr Rechtsschutz zu schaffen. Das würden wir befürworten. ({0}) Im Übrigen unterstützen wir hier ausdrücklich die Position der FDP. Das Präqualifizierungsverfahren ist sinnvoll. Wir haben es auch in unserem eigenen Antrag eingefordert. Jetzt möchte ich zu den sogenannten vergabefremden Kriterien kommen. Bei einem Auftragsvolumen von fast 300 Milliarden Euro im Jahr kann und darf sich der Bund nicht aus der Verantwortung stehlen. Vielmehr muss er an diesen Einkaufszettel, an diese Marktmacht Kriterien knüpfen und verlangen, dass nach diesen Kriterien auch agiert wird. ({1}) Aus Sicht einer Umweltpartei ist es enorm wichtig, dass der Bund hier als Vorbild vorangeht und im Bereich seiner eigenen Beschaffungen klarstellt, welche ökologischen Kriterien bei der Vergabe öffentlicher Aufträge angelegt werden. Der Bund soll sich bei seinen eigenen Aufträgen klar positionieren, welche ökologischen und sozialen Kriterien er zugrunde legt. ({2}) In Deutschland gilt das Subsidiaritätsprinzip. Damit gehen wir konform, indem wir den Ländern und Kommunen die erforderliche Rechtssicherheit geben, wenn sie diese Kriterien anlegen wollen. Heute stehen wir vor folgender Situation: Wenn eine Kommune entscheidet, dass sie ihren Marktplatz nicht mit Steinen aus ausbeuterischer Kinderarbeit pflastern will, dann kann sie das zwar in die Auftragsvergabe hineinschreiben, muss aber hoffen, dass niemand dagegen klagt. Diese Situation ist unhaltbar, und deswegen ist es richtig, hier für den Auftraggeber - in diesem Falle für die Kommune - Rechtssicherheit zu schaffen. ({3}) Dass das Billigste weder das Wirtschaftlichste und schon gar nicht das Beste ist und dass Billiges für andere auch sehr teuer werden kann, liegt auf der Hand. Deswegen halten auch wir es für sehr wichtig, künftig im Bereich der ILO-Kernarbeitsnormen, im Bereich der Tariftreue und im Bereich der Entlohnung sehr genau hinzuschauen, welche europakonformen Regelungen man finden kann, damit hier auch die soziale Verantwortung wahrgenommen werden kann. Unserer Ansicht nach müssen die ILO-Kernarbeitsnormen hier stärker berücksichtigt werden. In diesem Punkt sollten Sie den Entwurf nachbessern. Da meine Redezeit abgelaufen ist, komme ich zu einem letzten Punkt. Sie haben hier einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, und dies ist heute die erste Lesung. In der Anhörung werden wir im Hinblick auf den Mittelstand, aber auch im Hinblick auf die Rechtssicherheit und die ökologischen und sozialen Kriterien noch sehr viele vernünftige und gute Anregungen bekommen. Ich hoffe sehr, dass Sie diesen Gesetzentwurf nachbessern werden. Er ist nachbesserungsbedürftig. Das Vergaberecht muss insgesamt reformiert werden. Nutzen Sie die Chance, die Sie jetzt haben! Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Georg Nüßlein das Wort. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Wir werden das komplexe und unübersichtliche deutsche Vergaberecht vereinfachen und modernisieren. Dabei werden wir auf die mittelstandsgerechte Ausgestaltung, wie zum Beispiel die Aufteilung in Lose, besonders achten. ({0}) - Der Kollege Lämmel klatscht. Das steht in unserem Koalitionsvertrag und ist nach wie vor richtig. Für diese Novellierung des Gesetzes ist die Mittelstandsklausel, wie sie heute schon vielfach beschrieben wurde, die Conditio sine qua non, also das, was dieses Gesetz ausmacht. Es ist entscheidend, dass wir gerade dem Mittelstand die Chance geben, sich vermehrt und mit Aussicht auf Erfolg an Ausschreibungen zu beteiligen. Es geht also darum, in unserem Recht festzuschreiben, dass die Aufträge so zu portionieren sind, dass nicht nur die Großen sie schlucken können, sondern dass auch die Kleineren Happen davon abbekommen. Die Tatsache, dass sich bei mir als Berichterstatter - dies gilt sicherlich auch für den Kollegen Schultz - die Mittelständler mit positiven Reaktionen und die Industrie mit eher ablehnenden Reaktionen melden, zeigt, dass wir hier auf einem richtigen Wege sind. ({1}) Eben hat die Kollegin Andreae das Thema Primärrechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte angesprochen. Ich verstehe das Interesse, das es hier gibt. 90 Prozent aller Aufträge liegen in ihrer Größenordnung unterhalb dieser Schwelle. Insofern ist hier durchaus Verständnis für das Anliegen des einen oder anderen aus der Wirtschaft angebracht. ({2}) Ich sehe aber als aktiver Kommunalpolitiker auch die andere Seite, also die des Auftraggebers, der nach dem Haushaltsrecht ohnehin zur Sparsamkeit verpflichtet ist, der den sekundären Rechtsschutz hinter sich oder - je nachdem - vor sich sieht und der sich unter diesem Gesichtspunkt natürlich in einem sehr engen Korsett bewegt, das wir nicht noch enger schnüren sollten. Ich meine, dass wir die politische Verantwortung stärken sollten und eher die Frage stellen sollten: „Wer wird wie politisch kontrolliert?“, als die Frage: „Brauchen wir an der einen oder anderen Stelle zusätzliche Vorgaben?“ Diese Vorgaben wären ja dann wiederum einer juristischen Kontrolle unterworfen. Bürokratieabbau in unserem Land funktioniert nur, wenn wir einerseits politische Entscheidungsspielräume und Verantwortlichkeiten und zugleich die politisch-demokratischen Kontrollmechanismen stärken, andererseits aber die Möglichkeiten zur juristischen Nachprüfung da beschränken, wo sie nicht unbedingt notwendig sind. Wir können in dem Verfahren, in das wir heute eintreten, gerne darüber diskutieren, ob an der einen oder anderen Stelle mehr Transparenz geschaffen werden kann, zum Beispiel indem im Anschluss an die Vergabe veröffentlicht wird, wer was zu welchen Konditionen bekommen hat. Damit wäre teilweise dem Genüge getan, was die Wirtschaft fordert. Im Bereich von Vergaben, die über der Schwelle liegen, wollen wir keinen Verhinderungsrechtsschutz, aber auch keine Rechtsschutzverhinderung. Deshalb überlegen wir, wie man das Nachprüfungsverfahren entsprechend beschleunigen kann. Damit würde das ganze Vergabeverfahren auf mehr Effizienz getrimmt. Wir müssen im Einzelnen auch noch einmal über das Gebührensystem und über die Fristen, die in dem Zusammenhang geändert werden sollen, diskutieren. Das sollte, wie ich meine, in enger Abstimmung mit der Wirtschaft geschehen, um abzuklären, was hier letztlich sinnvoll und machbar ist. Ich merke an der Debatte, dass die vergabefremden Kriterien auch hier im Plenum eine entscheidende Rolle spielen. Ich gebe offen zu: In der Union gibt es darüber eine heftige Diskussion. Man könnte es sich einfach machen und unter Verweis auf die einschlägigen EU-Richtlinien sagen: Das sind EU-Vorgaben. Aber auch das zieht bei uns nicht so einfach. Es ist bei uns nach den Erfahrungen mit dem AGG natürlich die Befürchtung laut geworden, dass es sich hierbei um ein weiteres EU-Oktroi eines ordnungspolitischen Sündenfalls handeln könnte. Viele haben gefragt: Ist es denn ordnungspolitisch geboten, was hier gemacht wird? Ist das wirklich ein Beitrag zur Entbürokratisierung, und wird dadurch mehr Transparenz hergestellt? Oder führt das nicht schlussendlich zu mehr Willkür? Ich meine allerdings, dass das Ganze so allgemein, wie es jetzt formuliert ist, als Kannvorschrift und beschränkt auf drei Kriterien, von uns akzeptiert werden kann. Ich rate nicht dazu, hier noch weitere Konkretisierungen vorzunehmen. Zu der Litanei an Einfällen, die Sie hier vorgetragen haben, Frau Kollegin Lötzer, kann ich nur sagen: Gnade uns Gott! Wenn wir all das aufnehmen, was Ihnen vorschwebt und was der eine oder andere noch an Ergänzungen wünscht, bekommen wir am Ende des Tages sicherlich kein Gesetz hin. ({3}) Eine Kannvorschrift ist meines Erachtens nicht nur deshalb die richtige Lösung, weil sie sich in den EURichtlinien wiederfindet, sondern auch, weil hierdurch der Spielraum der Auftraggeber entsprechend größer wird. Die entsprechenden Auftraggeber sind ja vielfach einer politisch-demokratischen Kontrolle unterworfen. Wenn nun eine Stadt längere Zeit nicht auf ihren Haushalt aufpasst und nach anderen als nach Haushaltskriterien entscheidet, dann haben am Schluss die Verantwortlichen die Konsequenz zu tragen, indem sie zum Beispiel abgewählt werden. Bei den Themen Inhouse-Vergabe und interkommunale Kooperation, Herr Kollege Friedhoff, schlagen auch in meiner Brust zwei Herzen; das gebe ich ganz offen zu. ({4}) Auf der einen Seite ist es natürlich schon problematisch, wenn es öffentlichen Auftraggebern durch Inhouse-Vergaben oder interkommunale Kooperation möglich ist, Aufträge vom Vergaberecht insgesamt auszunehmen. Auf der anderen Seite gibt es aber das Organisationsrecht der Kommunen. Vielleicht ist im Hinblick darauf, dass es hier um Organisationsrecht geht, noch einiges zu verändern. So geht es hier in erster Linie darum, Bürgermeistern zu ermöglichen, miteinander interkommunale Kooperationen einzugehen, und nicht darum, sich dem Wettbewerb zu verschließen und aus der Verantwortung zu stehlen. Unter dem Gesichtspunkt sollte man noch einmal über die entsprechenden Regelungen diskutieren. Es ist wichtig, dass wir das im Verlauf des sich an die heutigen Beratungen anschließenden Prozesses tun. Bei den städtebaulichen Gestaltungsverträgen haben wir dem Anspruch der Kommunalpolitik Genüge geleistet. Es kann nicht sein, dass städtebauliche Gestaltungsverträge aufgrund eines schiefen, eines aus meiner Sicht - das ist meine persönliche Meinung - nicht korrekten Urteils plötzlich in ein rechtliches Umfeld geraten, in dem sie nicht mehr möglich sind. Damit würden wir den Kommunalpolitikern ein wichtiges Instrument der Städtegestaltung aus der Hand nehmen. Das wäre falsch. Deshalb ist es richtig, dass wir hier für Klarstellung sorgen. ({5}) Insgesamt ist es ein schwer erkämpfter, ausgewogener Vorschlag, der uns vorliegt. Mit kleineren Nachbesserungen im parlamentarischen Verfahren können wir als Große Koalition auch und gerade für den Mittelstand, der es in diesem Land bitter nötig hat, etwas voranbringen. Vielen herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Walter Riester für die SPDFraktion. ({0})

Walter Riester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003616, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Natürlich muss eine Vergabeordnung Klarheit schaffen; diejenigen, die ausschreiben, müssen davon ausgehen können, dass es Bestand hat. Mehrere Redner haben darauf hingewiesen, dass einer der zentralen Punkte der Auseinandersetzung die Frage war, ob vergabefremde Richtlinien Einfluss auf die Vergabeordnung haben sollen, und wenn ja, mit welcher Qualität. Ich zitiere aus der Begründung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf, welche Lösung gefunden worden ist - die Minute gönne ich mir gerne -: Gemäß § 97 Abs. 4 GWB sind zum Wettbewerb um öffentliche Aufträge alle Unternehmen zugelassen, welche das nötige Fachwissen sowie die erforderliche wirtschaftliche und technische Leistungsfähigkeit mitbringen, um den vorgesehenen Auftrag zu erfüllen, und insofern „geeignet“ sind. Hierzu zählt insbesondere die Zuverlässigkeit, die davon ausgeht, dass alle Unternehmen die deutschen Gesetze einhalten. Dazu zählen auch die für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträge wie auch die Entgeltgleichheit von Männern und Frauen. Auch die international vereinbarten Grundprinzipien und Rechte wie die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation zum Verbot der Kinderund Zwangsarbeit sind zwingender Bestandteil unserer Rechtsordnung und damit der Vergaberegeln. In Deutschland agierende Unternehmen, die diese Grundprinzipien und Rechte nicht beachten, müssen prinzipiell aufgrund fehlender Zuverlässigkeit vom Wettbewerb um öffentliche Aufträge ausgeschlossen werden. ({0}) Herr Nüßlein, Sie sind ja Doktor der Rechtswissenschaften. Es ist sicherlich kein vergabefremdes Kriterium, deutsches Recht einzuhalten. Ich zitiere weiter: Im Rahmen der Wirtschaftlichkeit können weitere soziale, umweltbezogene oder innovative Aspekte bei der Vergabe Berücksichtigung finden. Dazu gehört insbesondere der Klimaschutz - zum Beispiel durch Beachtung von Lebenszykluskosten und Energieeffizienz. Jetzt schauen wir einmal, was dazu im Gesetzentwurf steht. Dort heißt es: Aufträge werden an fachkundige, leistungsfähige und zuverlässige Unternehmen vergeben. Für die Auftragsausführung können zusätzliche Anforderungen an Auftragnehmer gestellt werden, die insbesondere soziale, umweltbezogene oder innovative Aspekte betreffen, wenn sie im sachlichen Zusammenhang mit dem Auftragsgegenstand stehen und sich aus der Leistungsbeschreibung ergeben. Nun habe ich darüber nachgedacht, warum diese enorme Diskrepanz zwischen dem Text im GesetzentWalter Riester wurf und dem offensichtlichen Willen des Gesetzgebers besteht. Als ich einen Abgeordneten dieses Hauses gestern gefragt habe, sagte er: Na ja, das kennen Sie doch. Die Begründung geht unter; die liest niemand mehr. Letztlich bleibt das Gesetz. - Das mag ich nicht glauben. Man könnte auch annehmen, dass die zwingende Einhaltung der Rechtsordnung bei der Frage der Kernarbeitsnormen schlicht vergessen worden ist. Das mag ich, da Juristen daran beteiligt waren, eigentlich auch nicht glauben. Man könnte auch davon ausgehen, dass es einfach unterstellt wird. Das hielte ich für fahrlässig. Ich bin mir nämlich sicher, dass darüber jedes Ausschreibungsverfahren gekippt werden kann, wenn wir als Gesetzgeber dies so verankern. Es gibt bloß eine Lösung: Nehmen wir doch bitte den Text der Begründung ins Gesetz auf! ({1}) Dann gibt es die notwendige Klarheit über das, was wir wollen, und die Kommunen haben die Sicherheit. So einfach würde ich das als gelernter Fliesenleger machen. Ich bin kein Jurist; aber ich denke, dann kann eigentlich nichts mehr schiefgehen. ({2}) Bitte nehmen Sie - ich bin nicht in dem Fachausschuss das, was wir wollen und was in der Begründung steht, ins Gesetz auf! Dann wissen es die Kommunen, die Auftragnehmer und die Bürger genau. Auch das gehört dazu, wenn man den Verdacht, hier sei schlampig gearbeitet oder getrickst worden, was Politikverdrossenheit auslösen würde, wegbekommen will. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/10117, 16/9636 und 16/9092 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Gentechnikfreie Regionen stärken - Bundes- regierung soll Forderungen aus Bayern auf- nehmen und weiterentwickeln - Drucksache 16/10202 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rahmenbedingungen für Milchmarkt verbessern - Faire Erzeugerpreise für Milch unterstützen - Drucksachen 16/9601, 16/9869 Berichterstattung: Abgeordnete Johannes Röring Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Kirsten Tackmann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Bayern tut sich was, und in Bayern liegen die Nerven blank. Dass die Nerven blank liegen, erkennt man daran, dass in Bayern munter gelogen wird, dass Agrarminister Seehofer lügend durch das Bundesland Bayern zieht und dort behauptet, nicht er habe Genmais MON 810 zugelassen, sondern die Grünen, dass munter Anträge gestellt werden, man am Ende aber so feige ist, hier nicht einmal einen CSUler ans Redepult zu holen und reden zu lassen, Herr Bleser. ({0}) Das lassen Sie mich gleich vorwegschicken. Ich weiß, die Nerven liegen bei Ihnen blank. Man sollte sich der Wahrheit wegen einmal ein paar Zitate anschauen. Wir haben diesen Antrag auch deshalb hier eingebracht, weil wir meinen, dass die Leute ein Recht darauf haben, endlich zu erfahren, wozu die CSU und die CDU eigentlich stehen. Zitat aus dem Februar 2007 von Seehofer hier im Deutschen Bundestag: Ich habe noch keine einzige gentechnisch veränderte Pflanze zugelassen. Wahr ist: Ende 2005 hat dieser Agrarminister unter dieser Regierung MON 810, einen gentechnisch veränderten Mais, zum Anbau in Deutschland zugelassen. Daran gibt es nichts zu rütteln. ({1}) Dazu können Sie gern etwas sagen, Herr Bleser, weil die CSUler sich nicht trauen. Aber mich interessiert gar nicht, was Sie sagen wollen; ({2}) mich interessiert, was der Minister und was die CSU an dieser Stelle sagt. Sie haben MON 810 zum Anbau zugelassen; da können Sie noch so viel über diese oder jene Verordnung sagen. Ich weiß es genau; denn früher haben Sie und andere mich immer kritisiert, dass ich es hier nicht zugelassen habe. Sie werden ja wohl damals nicht gelogen haben, Herr Bleser. ({3}) Zweites Zitat für die, die sich fragen, was nun eigentlich wahr ist. Horst Seehofer am 16. Dezember 2005, also zu der Zeit, als er MON 810 zugelassen hat, in der Berliner Zeitung: „Wir wollen die Gentechnik befördern.“ … „Das muss auch in Deutschland zulässig sein“, sagte der … Politiker. Bislang werde den Bauern der Anbau nahezu unmöglich gemacht. Deswegen werde er - Horst Seehofer das von Rot-Grün beschlossene Gentechnikgesetz ändern. Daran kann man doch nichts deuteln: CSUler will Gentechnik fördern. ({4}) Lassen Sie mich noch ein Zitat von Josef Miller, dem bayerischen Landwirtschaftsminister, anführen, der gesagt hat: Es war Frau Künast, die MON 810 in Deutschland zugelassen und eingeführt hat. - Wahr ist: In der ersten Hälfte des Jahres 1998 hat in einem Gesundheitsrat in Brüssel der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer dem Import von MON 810 als Lebensmittel und als Futtermittel nach Europa und damit nach Deutschland zugestimmt, weil er die Gentechnik fördern wollte. Wahr ist: Ende 2005 - zu diesem Zeitpunkt war er als Agrarminister dafür zuständig - hat Horst Seehofer MON 810 als Saatgut zugelassen. Deshalb haben die Bauern landauf, landab - auch in Bayern - heute das Problem, dass ihre Äcker und ihre Ernten verunreinigt werden durch MON 810, CSU-Saatgut. ({5}) Ich kann Ihnen nur sagen: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. ({6}) Ich glaube, die CSU hängt dem Sankt-Florian-Prinzip an. Nach dem Interview von Horst Seehofer am Montag dieser Woche in der Süddeutschen Zeitung ist mir sofort folgender Spruch eingefallen: Oh heiliger Sankt Florian, verschon’ mein Haus, zünd’ andre an. ({7}) Genau das hat Horst Seehofer gesagt: in Bayern nein, woanders ja. Meine Damen und Herren, wenn etwas Schädliches auskreuzt und wenn dadurch den Bauern die Ernte verhagelt wird, dann passiert das in allen 16 Bundesländern der Republik. ({8}) Heute müssen Sie sagen, was Sie eigentlich wollen. In Bayern sprechen Sie von einer gentechnikfreien Zone. Wir haben uns die Mühe gemacht, alle entsprechenden Zitate von Seehofer, Söder und Huber aufzuschreiben. Sie finden sich in unserem Antrag wieder. Jetzt können Sie hier sagen, ob Sie die gentechnikfreie Zone wirklich wollen. Es reicht nämlich nicht, dass Sie das nur in Bayern beschließen. Wirklich Eindruck bei den anderen 26 Mitgliedstaaten der Europäischen Union und bei der Kommission in Brüssel machen Sie, wenn Sie hier Manns und Frau genug sind, unserem Antrag, der Zitate von Ihnen enthält, zuzustimmen und nach Brüssel und in die anderen Hauptstädte die Botschaft zu schicken: Ja, wir wollen, dass sich die Bundesländer zur gentechnikfreien Zone erklären. Sagen Sie es hier, und ducken Sie sich nicht weg! ({9}) Sagen Sie hier, dass Sie gentechnikfreie Zonen auch finanziell unterstützen wollen, damit dort regionale Tourismus- und Wirtschaftskonzepte entwickelt werden können! Machen Sie es nicht wie Ramsauer und andere in Traunstein, die sich dort rühmen, was sie alles tun. Wissen Sie, was mir an Ihrer Zeitungsanzeige auffiel? Erst wird ein bisschen an der SPD herumkritisiert - dazu kann Herr Kelber selber etwas sagen -, und dann heißt es: CSU - wir reden nicht, wir handeln. ({10}) Jedes darin enthaltene Datum ist aus dem Jahr 2008. Warum? Weil Sie sich 2008 sozusagen an die Bürger mit Lügen heranschleimen. Aus den Jahren 2005, 2006 und 2007 können Sie vor dem Schließen der Wahllokale am Sonntag keine Zitate nennen, weil Sie in Wahrheit auf dem Schoß der Gentechnikkonzerne sitzen. Wenn Sie wirklich der Meinung sind, dass es gentechnikfreie Zonen geben soll und wenn Sie die Bauern an der Stelle wirklich schützen wollen, dann stimmen Sie dem Antrag, der auf Ihren eigenen Zitaten beruht, zu und eiern nicht herum! ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Peter Bleser das Wort. ({0})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wollte eigentlich am Anfang auf die Ausführungen von Frau Künast reagieren. Aber ich habe festgestellt, dass meine vorbereitete Rede exakt zu dem passt, was Frau Künast gesagt hat. Deswegen kann ich auf den Beitrag von Frau Künast im Rahmen meiner vorgesehenen Rede eingehen. ({0}) Vorher möchte ich aber Bundesminister Seehofer entschuldigen, Frau Künast. Er hätte sich dieser Debatte gestellt, aber er ist in Meißen bei der Agrarministerkonferenz der Länder und debattiert dort über den Health Check. Das ist sehr wichtig, deswegen kann er nicht anwesend sein. ({1}) Jetzt aber zum Thema. Frau Künast, wir haben monatelang um ein neues Gentechnikgesetz gerungen. Wir haben mit allen interessierten Gruppen diskutiert und ihre Vorschläge geprüft. Wir haben auch die Wissenschaftler zurate gezogen. Wir haben dann ein Gentechnikgesetz verabschiedet, Frau Künast, das alle diese Interessen berücksichtigt. Dieses Gentechnikgesetz, das wir im Frühjahr dieses Jahres verabschiedet haben, ist eine Verbesserung des Gentechnikgesetzes, das Sie 2004 unter Ihrer Federführung hinterlassen haben. ({2}) Dieses Gentechnikgesetz, Frau Künast - jetzt sollten Sie zuhören, denn Sie können etwas lernen; Sie haben ja gerade von Verlogenheit gesprochen -, war die rechtliche Grundlage für die zwingende Zulassung von MON 810. Das wissen Sie ganz genau. ({3}) - Nein. Warum machen Sie denn heute diesen Zirkus? Sie haben es mehrfach gesagt: Es ist Wahlkampf. Zu Ihren Versammlungen in Bayern kommt niemand. Deswegen belästigen Sie den Bundestag mit solchen überflüssigen Anträgen. ({4}) Meine Damen und Herren, Sie fordern gentechnikfreie Zonen, aber Sie wissen genau, dass dies nach EURecht nicht möglich ist. ({5}) In der EU-Freisetzungsrichtlinie heißt es, dass gentechnisch veränderte Produkte national weder verboten noch eingeschränkt werden dürfen. Diese EU-Freisetzungsrichtlinie, Frau Künast - ich muss Sie noch einmal um Aufmerksamkeit bitten -, haben Sie 2001 - da waren Sie an der Regierung - in Brüssel auf den Weg gebracht. Unter Stimmenthaltung der Bundesregierung, der Sie angehört haben, ist diese Freisetzungsrichtlinie damals in Recht und Gesetz umgewandelt worden. ({6}) - Sie haben es ermöglicht. Hätten Sie mit Nein gestimmt, wäre die Richtlinie nicht gekommen. ({7}) Sie haben alle Rechtsetzungen vorgenommen, in Deutschland und in Europa, die Sie jetzt selber bekämpfen. ({8}) Das ist scheinheilig, das ist unwahrhaftig. Das ist ein Belügen des Wählers. Das muss hier in aller Klarheit gesagt werden. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Bleser, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken?

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Natürlich. - Bitte schön.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist die Unwahrheit, wenn Sie sagen, dass Sie die Gesetze verbessert haben. Sie haben ganz im Gegenteil die gute fachliche Praxis nicht zugelassen; das können die Kollegen der SPD hier bestätigen. Ebenso wenig - auch heute nicht - ist die Zulassung von MON 810 zwingend gewesen; diese Sortenzulassung hat Minister Seehofer vielmehr als erste Amtshandlung erteilt. Ich möchte Sie fragen, ob Sie wissen, was ich hier in Händen halte. - Dies ist Honig aus der Gegend um Augsburg, wo der Freistaat Bayern den Honig „vergiftet“, muss man sagen. ({0}) Insofern muss man ganz klar sagen: Der Freistaat Bayern steht -

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Höfken, stellen Sie bitte Ihre Frage.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wissen Sie, dass der Freistaat Bayern gegen die Imker und gegen diejenigen steht, die in der Landwirtschaft auf die Befruchtungsleistung der Bienen angewiesen sind? Wissen Sie auch, dass der Freistaat Bayern diese Imker verklagt und vertrieben hat? Das dokumentieren sie mit ihren Demonstrationen in München oder in Bonn.

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine liebe Frau Kollegin Höfken, wir haben uns an dieser Stelle schon des Öfteren darüber unterhalten, aber ich muss diese Frage - es war ja eher eine Wortmeldung zurückweisen, weil Sie wissen, dass Gerichtsurteile vorliegen, die genau festlegen, was von dem, was Sie gerade als Vorwurf vorgebracht haben, richtig ist und was nicht. Diese Urteile haben klar belegt, dass hier die Rechtshandlung der bayerischen Landesregierung richtig war. Im Übrigen passt auch Ihre Frage in meinen Redetext; ich habe das alles vorausgesehen. Sie haben gesagt, dass wir mit dem Gentechnikgesetz die gute fachliche Praxis festgelegt haben. Das stimmt. ({0}) Es gab bis zum Frühjahr dieses Jahres keine Abstandsregelungen für Mais. ({1}) Wir haben gesagt, dass wir die Forderung der Wissenschaft nach 50 Metern Abstand, damit keine Vermischung stattfindet, um den Faktor drei erhöhen, und haben dann 150 Meter für konventionellen Mais und 300 Meter für ökologisch angebauten Mais vorgesehen. Meine Damen und Herren, wir haben auch das Standortregister beibehalten. Man kann durchaus fragen, ob dies unter Datenschutzgesichtspunkten richtig ist. Jeder kann heute im Internet sehen, wo gentechnisch verändertes Pflanzengut angebaut wird, sei es Mais oder anderes. ({2}) - Das liegt an einem Kompromiss, den wir gefunden haben und den wir selbstverständlich mittragen. Ich habe aber auch gesagt: Man kann sich fragen, ob das in datenschutzrechtlicher Hinsicht richtig ist. Aber das ist Gesetz; insofern kann das jeder erfahren. ({3}) Wir haben die Haftungsregel nicht verändert. Wir haben es dabei belassen, dass nach BGB gehaftet wird. Aufgrund der Abstände sind wir aber sicher, dass es nicht zu einem Haftungsfall kommen wird. Wir haben auch die Möglichkeit zur Produktunterscheidung eingeführt. Wer Lebensmittel mit dem Etikett „ohne Gentechnik“ kennzeichnen will, der kann das tun. Auch das war ein Kompromiss innerhalb der Koalition. Wir wären viel schärfer vorgegangen. Wir hätten auch Zusatzstoffe wie Enzyme oder Vitamine ausgeschlossen. ({4}) Jetzt kann jeder entscheiden, ob er die Kennzeichnungsmöglichkeit nutzt oder nicht. Damit kann wiederum der Verbraucher entscheiden, ob er solche Lebensmittel kauft oder nicht. Das ist demokratisch. Was kann man denn mehr tun? ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Bleser, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kotting-Uhl? ({0})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, wollen Sie mir und den anderen Kolleginnen und Kollegen in diesem Parlament bestätigen, dass Sie daran glauben, dass sich eine Biene freiwillig auf ein Gebiet beschränkt, das durch einen Abstand von 150 Metern zum anderen Gebiet gekennzeichnet ist? ({0}) Reicht dieser Abstand Ihrer Meinung nach aus, um dem Naturschutz Genüge zu tun?

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin, ich glaube, ich muss doch ins Detail gehen. Es ist erwiesen, dass Pollen, die von gentechnisch veränderten Pflanzen stammen, inaktiv sind. Sie müssen nicht gekennzeichnet werden. ({0}) Insofern gibt es keinen Grund, diese Produkte auszugrenzen. Aus und fertig! ({1}) Man muss diese neue Technologie einmal im Grundsatz beleuchten. Bei der Roten Gentechnik hatten wir damals eine ähnliche Situation: sehr viel Skepsis, sehr viel Angst und sehr viele Sorgen. Die Rote Gentechnik wird heute von allen akzeptiert. Sie ist sehr segensreich, weil wir damit erblich bedingte Krankheiten entdecken und entsprechende Medikamente entwickeln können.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Bleser, es gibt weitere Wünsche nach Zwischenfragen.

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte den Gedanken gerne zu Ende führen; danach gerne. Wir haben die Weiße Gentechnik, die mittlerweile selbst bei den Grünen Akzeptanz findet; von den Linken habe ich noch nichts dazu gehört. Auch sie war umstritten. Ich will es einmal auf den Punkt bringen: 95 Prozent des Vitamin C, das in fast allen Nahrungsmitteln enthalten ist, ist gentechnisch erzeugt worden. ({0}) 80 Prozent der Lebensmittel enthalten Substanzen, die aus der Weißen Gentechnik stammen. Das alles ist akzeptiert. Man kann noch weiter gehen. Auch bei der Grünen Gentechnik können Sie die meisten Nahrungsmittel heranziehen. Im Produktionsprozess der meisten Nahrungsmittel kommt Grüne Gentechnik zum Einsatz. Die Futtermittel aus den Vereinigten Staaten und Südamerika sind zu 80 Prozent gentechnisch verändert und werden seit zwölf Jahren in Deutschland, in Europa, überall eingesetzt. Sie alle essen diese Produkte ganz selbstverständlich, wenn Sie irgendwo im Urlaub sind, ebenso in Deutschland. Hier wird Panik gemacht. Das ist das Ziel dieser Debatte. Das weisen wir zurück. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Bleser, gestatten Sie weitere Zwischenfragen? Im Moment melden sich die Kollegin Höfken, die Kollegin Happach-Kasan und die Kollegin Kurth. ({0})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich habe mir für heute Abend nichts vorgenommen. Insofern bitte, gerne. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dann beginnen wir mit Frau Höfken.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich denke, dass Sie bis heute nicht verstanden haben, worum es bei der Agrogentechnik geht. Es geht nicht um geschlossene Systeme, sondern um Freisetzungen. Wissen Sie, dass das Gericht in Augsburg entschieden hat, dass Honig aus dem Umfeld des Anbaufeldes von MON 810 nicht verkehrsfähig ist und auf die Sondermülldeponie gebracht werden muss? Das gilt natürlich nicht nur für den Anbau in Bayern, sondern überall. Ist es tatsächlich das Ziel Ihrer Politik, die Erzeugung des Produktes Honig durch Imkereien in Deutschland völlig unmöglich zu machen?

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das kann ich kurz beantworten - Sie wollen auf diesem Punkt bis zum Exzess herumreiten -: Es gibt Gerichtsurteile, die das Gegenteil aussagen. ({0}) Das braucht man hier im Parlament nicht zu bewerten. Ich teile Ihre Auffassung zu diesem Thema überhaupt nicht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Darf ich der Kollegin Happach-Kasan das Wort zu einer Zwischenfrage geben? ({0})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Bleser, Sie haben ja schon dargestellt, dass die Züchtungsmethode Grüne Gentechnik weltweit auf 114 Millionen Hektar angewandt wird und dass wir alle mit den Produkten der Grünen Gentechnik inzwischen vertraut sind. Vor diesem Hintergrund ist sehr wohl davon auszugehen, dass sich diese Züchtungsmethode auch in Deutschland durchsetzen wird. Kollegin Höfken hat Ihnen den Fall eines Imkers aus Bayern vorgetragen, der jetzt seinen Honig entsorgen muss. Dem ist vorausgegangen -

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Happach-Kasan, ich muss auch Sie bitten, eine Frage zu stellen. ({0})

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich stelle auf jeden Fall eine Frage. Aber wenn Frau Höfken hier sozusagen Demonstrationsmaterial mitbringen kann, dann darf ich vielleicht schlicht und ergreifend sagen, worauf es mir ankommt. Sie haben zu Recht festgestellt, dass es zum Tatbestand „Pollen von gentechnisch veränderten Pflanzen in Honig“ verschiedene Gerichtsurteile gibt. In Brandenburg sagt man, es sei unerheblich, und in Augsburg kommt man zu dem Urteil, der Honig wäre nicht verkehrsfähig. Können Sie mir erklären, warum es in Augsburg beispielsweise von der LfL, die ja den gentechnisch veränderten Mais angebaut hat, keinen Widerspruch gegen dieses Gerichtsurteil gegeben hat, das meines Erachtens inhaltlich in jedem Falle falsch ist? Das wird ja auch durch das Gerichtsurteil in Brandenburg bestätigt. Können Sie mir erklären, warum auch der Imker, der genau wusste, dass er, wenn dieses Gerichtsurteil Bestand hat, seinen Honig nicht verkaufen kann, keinen Widerspruch eingelegt hat? Könnte es sein, dass genau dieses demonstriert werden sollte, was jetzt demonstriert wird? ({0}) Sind Sie mit mir der Auffassung, dass der Freistaat Bayern für diese zusätzlichen Kosten, die dem Imker entstanden sind, aufkommen muss, weil der Freistaat Bay19058 ern es versäumt hat, gegen das Urteil in Augsburg Widerspruch einzulegen? ({1})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin Happach-Kasan, Ihre Vermutungen kann man jetzt teilen oder nicht. Gerichtsurteile zu kommentieren, ist nicht Aufgabe des Parlaments. Ihre Vermutungen könnten so zutreffen. Ob das dann im Einzelfall so war, wage ich hier nicht letztlich zu bestätigen. Ich kann nur eines sagen - das kann man, glaube ich, auch an Ihrer Frage ablesen -: Die Grünen haben sich auf wenige Angstthemen beschränken müssen. Nachdem die Grünen die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr mitbeschlossen haben, ist ihnen das Thema Friedenspolitik entglitten. ({0}) Bei der Kernenergie gibt es in der Bevölkerung eine Veränderung der Meinung. Die Grüne Gentechnik ist das einzige Thema mit Verängstigungspotenzial, das man noch hat und woraus man politisches Kapital zu schlagen versucht. ({1}) Insofern ist das aus wahltaktischen Gründen sogar verständlich. So, wir wollten in der Reihenfolge fortfahren.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Bleser, ich habe jetzt noch zwei Zwischenfragen gesehen: die Kollegin Kurth und die Kollegin Behm. Lassen Sie diese Fragen noch zu?

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich hatte nur neun Minuten Redezeit, aber das macht ja nichts.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Inzwischen haben Ihnen die Kolleginnen fast zur Verdoppelung Ihrer Redezeit verholfen. - Kollegin Kurth.

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, ich möchte Sie jetzt fragen - der Minister kann ja nicht anwesend sein; Sie haben ihn entschuldigt -, ob Sie mir, nachdem Sie dargelegt haben, dass die Risiken der Grünen Gentechnik abschätzbar sind und dass man sie beherrschen könne, erklären können, warum der Herr Minister dann vor wenigen Tagen in der Süddeutschen Zeitung verkündet hat, dass er durchaus für die Gentechnik sei, nur in Bayern möchte er sie nicht anwenden. ({0})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie werden sich nicht wundern, dass ich auch diese Frage erwartet habe. Ich habe auch die Listen mitgebracht. In Bayern werden auf 9,92 Hektar 0,312 Prozent der gentechnisch veränderten Pflanzen in Deutschland angebaut. Insofern gibt es in Bayern de facto keine Grüne Gentechnik. Dass man dieses Thema in diesen Zeiten politisch aufgreift, kann ich verstehen. Wir sind aber hier im Deutschen Bundestag und haben eine Verpflichtung - ({0}) - Ich unterstütze die CSU sehr wohl im Wahlkampf. Aber ich sage Ihnen auch, dass ich die Bedürfnisse in Bayern, diese Regelung anzustreben, für nicht sehr groß halte. Ich glaube, wir dürfen uns auch nicht in die Situation begeben, dass wir hier auf Bundesebene und auf europäischer Ebene Recht setzen. Ich habe vorhin geschildert, wer diese Rechtsetzung im Wesentlichen vorgenommen hat. Das waren Ihre Fraktion ({1}) und der damalige Koalitionspartner. Wir müssen europäisches und deutsches Recht in der Gänze anwenden und nicht regional unterschiedlich. Das ist meine Position dazu. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Zwischenfrage könnte gleich die Kollegin Behm stellen, wenn Sie das zulassen. ({0})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte, natürlich. Ich habe doch gesagt, dass ich Zeit habe.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Bleser, ist Ihnen bekannt, dass der Molkereikonzern Campina für seine Milchprodukte der Marke Landliebe zukünftig gänzlich auf Sojafett verzichten wird und die Futtergrundlage auf garantiert gentechnikfreies europäisches Futter umstellen wird? Würden Sie mir zustimmen, dass es für deutsche Landwirte ein großer Wettbewerbsvorteil wäre, wenn es in Deutschland entsprechende gentechnikfreie Regionen geben würde? ({0})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Behm, ich habe in meiner Rede vorhin gesagt, dass wir diese Kennzeichnungsmöglichkeit geschaffen haben. Sie wäre noch schärfer abgegrenzt worden, wenn es nur nach uns gegangen wäre. Diese Möglichkeit haben wir ausdrücklich zu dem Zweck geschaffen, dass sich am Markt herausstellt, welche Form der Produktion Akzeptanz findet und welche nicht. Ich habe auch gesagt: Das ist demokratisch. Insofern begrüße ich es, wenn Unternehmen diese Möglichkeiten nutzen. Wir werden dann feststellen, wie die Produkte am Markt angenommen werden. Wir werden auch feststellen, wie Analysen die Wahrhaftigkeit solcher Kennzeichnungen bestätigen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Bleser, ich hätte jetzt noch eine Wortmeldung, nämlich der Kollegin Schieder aus der SPD-Fraktion. Sie müssen jetzt entscheiden. ({0}) Ich bin geneigt, sie als letzte Zwischenfragerin aufzurufen.

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wollen wir die Zwischenfragen danach beenden? Diese Zwischenfrage lassen wir noch zu.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Schieder, bitte.

Marianne Schieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003838, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Bleser, wie Sie wissen, komme ich aus Bayern. Ich bin über Ihre Einlassungen ein bisschen verwundert; denn in Bayern erzählt die CSU seit Monaten, dass sie die Bevölkerung vor der Grünen Gentechnik schützen wird, dass man keine Grüne Gentechnik haben will und dass man die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen will. Sie stellen es jetzt ganz anders dar und sagen: Dafür habe ich in Wahlkampfzeiten Verständnis. ({0}) - Das hat er gerade gesagt. ({1}) Darf ich Ihre Einlassungen jetzt so interpretieren, dass sich die Bevölkerung in Bayern eben nicht darauf verlassen kann, dass die Union dafür sorgen wird, dass es ein gentechnikfreies Bayern gibt? ({2})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe dazu schon gesprochen. Ich habe gesagt, dass die Anbaufläche in Bayern verschwindend gering ist und dass sich das Problem dort insofern gar nicht stellt. ({0}) Ich habe auch gesagt - dabei bleibe ich -, dass wir die Rechtsetzung auf europäischer und auf Bundesebene in allen Regionen zu befolgen haben. Der Antrag aus Bayern richtet sich an die Europäische Union; dort soll eine andere Rechtsetzung vorgenommen werden. Es wird sich herausstellen, ob dies möglich ist oder nicht. Das muss dann auf einer wissenschaftlich basierten Grundlage geschehen. Insofern ist das kein Widerspruch. ({1}) Ich möchte die restliche Redezeit nutzen, um die Vorteile der Grünen Gentechnik auch den Zuhörern draußen noch einmal zu vermitteln. Ich habe die Rote und die Weiße Gentechnik beschrieben. Es ist natürlich so, dass wir auch mit der Grünen Gentechnik, die sich erst im Anfangsstadium befindet, gewisse Erwartungen verknüpfen. Da ist zunächst einmal die Erwartung, dass der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln damit wesentlich verringert werden kann. Wir haben Kartoffeln in der Zulassung, für die bei der Pilzbekämpfung bis zu acht Pflanzenschutzspritzungen in einer Vegetationsperiode nicht mehr gebraucht werden. Bei uns werden Pflanzen entwickelt, die mit wenig Wasser in Stressregionen, was Trockenheit angeht, wachsen. Bei uns werden auch Pflanzen entwickelt und schon angebaut, die höhere Erträge bringen. Wenn Sie diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht offen gegenüberstehen, dann muss ich Sie wirklich bitten, sich einmal die moralische Dimension vor Augen halten zu lassen. ({2}) Wer diese Technologie für die Zukunft ausgrenzt, der muss in Kauf nehmen, dass Hunger und Not in der Welt in unteren Einkommensschichten weniger bekämpft werden können als möglich. ({3}) Das muss man hier einfach offen sagen. ({4}) Ich bitte Sie deshalb, wirklich zu überprüfen, wie Sie sich da positionieren. Wir wollen hier alle Risiken bewerten und bei der Zulassung entsprechend berücksichtigen. Aber wir sind nicht wie Sie immer nur auf die Risiken ausgerichtet; wir wollen auch die Chancen im Blickfeld haben. Diese Chancen sind gewaltig. Ich möchte Sie herzlich bitten, Ihre politischen Festlegungen nicht auf den Tag auszurichten, sondern weiter in die Zukunft zu schauen. Denn spätestens Ihre Enkel werden Sie fragen, wie Sie sich bei diesem Thema positioniert haben. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich frage mich: Was habe ich hier eigentlich gerade erlebt? Ein Redner hat gesagt, der Minister sei ein Lügner, ein anderer hat gesagt, er sei scheinheilig, die Große Koalition hat sich zerlegt, und Frau Schieder fragte nach der Position des Ministers, den sie sonst mitträgt. ({0}) Ich finde, vor dem Hintergrund dessen, worüber wir hier eigentlich zu diskutieren haben, ist das dramatisch. ({1}) Die Grüne Gentechnik steht im Moment nicht gerade im Brennpunkt der politischen Weichenstellungen im Agrarbereich. Dennoch will ich Ihnen ganz kurz sagen, wie wir zu diesem Thema stehen. Wir sehen den verantwortungsvollen Umgang mit der Grünen Gentechnik und die Nutzung der Potenziale in diesem Bereich als sinnvoll an. Frau Kollegin Schieder, ich war in Bayern, und zwar in der Region, aus der Sie kommen. Ich habe mir angehört, welche Sorgen die Menschen, die dort leben, haben. Dabei ging es zum Beispiel um Schäden durch den Maiswurzelbohrer. Mir haben Bäuerinnen und Bauern gegenübergestanden, die ihre gesamte Ernte verloren haben. Sie werden diese Ernte auch in den nächsten zwei oder drei Jahren nicht einfahren können, weil diese Maßnahmen dort dann nicht zulässig sein werden. ({2}) - Die gute fachliche Praxis wenden sie schon an. Mach dir darüber keine Sorgen! ({3}) - Ja, das musst gerade du als Abgeordnete eines Ostlandes sagen. Ihr seid ja die größten Fruchtfolgeexperten. ({4}) Ich muss Ihnen wirklich sagen: Wenn sich die Landwirtschaft im Osten und im Westen unseres Landes aufstellt, um größere Marktteilhabe zu erreichen - das fordern wir immer -, können wir davon ausgehen, dass der normale deutsche Bauer etwas von guter fachlicher Praxis versteht. ({5}) Denn das - liebe Frau Künast, da brauchen Sie gar nicht zu lachen ({6}) ist die Basis Ihrer Weichenstellungen. Die Regelungen bis 2013, die Sie mitgetragen haben, basieren auf guter fachlicher Praxis. Wie Sie wissen, sind die Cross-Compliance-Auflagen und die Bereitstellung der Mittel über Direktzahlungen, für die Sie gekämpft haben, dafür die Grundlagen. Deswegen ist es völlig unangebracht, in dieser Diskussion darüber zu philosophieren, wer gute fachliche Praxis realisiert und wer nicht. Die Bauern in Deutschland praktizieren die gute fachliche Praxis. ({7}) Jetzt will ich den Milchbereich ansprechen. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir mit vielem, was Herr Seehofer macht, nicht einverstanden sind. Es gab eine Vereinbarung, die besagte, dass die Mittel für die Landwirtschaft bis zum Jahre 2013 in dem Umfang bereitzustellen sind, der Vertragsbasis ist. Jetzt stellen wir fest, dass zum Beispiel bei der Modulation massiv eingegriffen wird. Hier wird ein Versprechen gebrochen. Das ist das genaue Gegenteil von Planungssicherheit. Das können wir überhaupt nicht akzeptieren. Herr Minister Seehofer macht meiner Meinung nach einen großen Fehler. Es gibt eine Staatssekretärsvereinbarung, aus der ich Ihnen gerne etwas vorlesen möchte - es geht um das Thema, über das wir diskutieren, nämlich um die Mittelbereitstellung -: Bei unserem gestrigen Gespräch zur Gesundheitsüberprüfung der Gemeinsamen Agrarpolitik konnten die zwei noch offenen Punkte des Positionspapiers der Bundesregierung abschließend geklärt werden. Um die Ziele der Haushaltskonsolidierung hinreichend zu berücksichtigen, müssen die gekürzten Mittel vollständig im Mitgliedstaat verbleiben, und die zusätzliche Modulation darf nicht dazu führen, dass die Mitgliedstaaten mehr nationale Kofinanzierungsmittel als bisher bereitstellen müssen. Das heißt im Klartext: Die Bundesregierung signalisiert ihre Bereitschaft, im Bereich der Modulation im Hinblick auf die Einkommen der Landwirte sehr große Einschnitte vorzunehmen. Das kostet jede Menge Bauern im Osten Deutschlands ihre Existenz. Das kostet einen ordentlichen landwirtschaftlichen Betrieb in Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen oder einem anderen Bundesland zwischen 4 000 und 5 000 Euro im Jahr. Das ist ein massiver Eingriff in die Leistungsfähigkeit dieser Betriebe. Die zusätzlichen Modulationsmittel müssen auch zur Finanzierung von Milchbegleitmaßnahmen genutzt werden, sagt Herr Seehofer. Damit ist dem Vorhaben, im Bereich der Modulation dramatische Einschnitte vorzunehmen, Tür und Tor geöffnet. Frau Künast, auch Ihre Kolleginnen Frau Höfken und vor allen Dingen Frau Höhn werfen Herrn Minister Seehofer hier Wortbruch vor. Frau Höhn, ich bin total überrascht darüber, dass Sie sagen, er blockiere die Reform der Agrarhilfe zugunsten des Klimaschutzes. ({8}) - Nun einmal langsam. - Das heißt im Klartext, dass Sie im Grunde genommen einen Health Check, eine Agrarreform in Richtung von mehr Klimaschutz wollen. Diesen Klimaschutz können Sie nur über Modulationsmittel finanzieren. Also lösen Sie Ihren Pakt auf, den Sie damals unter der Leitung von Frau Ministerin Künast geschlossen haben. ({9}) Das wiederum bedeutet einen Eingriff in die erste Säule; denn das steht im Moment zur Diskussion. Es steht nicht zur Diskussion, ob die Gewichtung zwischen der ersten und der zweiten Säule irgendwann einmal verändert worden ist. Lassen Sie mich noch etwas zur Milch sagen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Goldmann, das wird nicht mehr funktionieren. Ich kann auch die Zwischenfrage von Frau Künast nicht mehr zulassen, die sie inzwischen angemeldet hat, da Sie Ihre Redezeit zu dem Zeitpunkt bereits überschritten hatten. Ich bitte Sie also, zum Schluss zu kommen.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich hatte fünf Minuten Redezeit, allerdings wurden hier nur vier Minuten angezeigt. ({0}) - Ich verhandle nie mit der Präsidentin, aber wenn man fünf Minuten Redezeit hat, dann sollten hier auch fünf Minuten und nicht vier Minuten stehen. ({1}) - Das ist ja das Problem: Wir haben in dieser kurzen Zeit relativ viel Vernünftiges zu sagen. - Wird die Zwischenfrage jetzt noch gestellt?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kommen Sie bitte zu Ihrem letzten Satz. Sie haben Ihre Redezeit mittlerweile deutlich überschritten.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. - Ich hätte die Frage von Frau Künast, die sie stellen wollte, gerne noch beantwortet. Ich glaube, dass wir im Bereich der Milch auf dem einzig richtigen Weg sind: rein in den Markt mit so vielen Bauern wie irgend möglich. Von mir aus wird auch ein Begleitprogramm erstellt. Dieses dürfen wir aber nicht mit Modulationsmitteln finanzieren, sondern dafür müssen wir die eingesparten Mittel verwenden, die auf europäischer Ebene im Moment nicht für die Agrarwirtschaft zur Verfügung gestellt werden. Das ist der richtige Weg. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Wolff das Wort.

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege Goldmann, Sie haben vorhin die ostdeutsche Landwirtschaft und insbesondere auch mich angesprochen. Ich möchte hier ganz deutlich machen, dass der Maiswurzelbohrer, den Sie hier angesprochen haben, nicht vorrangig in Ostdeutschland, sondern im Süden der Republik, nämlich in Bayern und in Baden-Württemberg, zu finden ist. ({0}) Ich finde, wenn Sie hier die ostdeutsche Landwirtschaft diffamieren, dann ist das wirklich eine Kurzintervention wert. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Damit haben Sie die Gelegenheit, der Kollegin Wolff zu antworten.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kollegin Wolff, ich bin sehr überrascht darüber, dass du mich so bewusst missverstehen willst. ({0}) Ich habe einen Zusammenhang zur guten fachlichen Praxis hergestellt. Es wurde hier zum Ausdruck gebracht, dass großflächige Strukturen besonders angreifbar sind, wenn sie nicht im Rahmen guter fachlicher Praxis realisiert werden. Deswegen habe ich gesagt, dass ich der Auffassung bin, dass gerade für intensiv arbeitende Betriebe mit großen Strukturen Gentechnik eine Problemlösung sein kann. Dass der Maiswurzelbohrer, wie du ja weißt, nicht im Osten vertreten ist, der Maiszünsler, bei dem es im Grunde genommen genau die gleiche Problematik gibt, aber sehr wohl, wird dir sicherlich bekannt sein.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß das Wort. ({0})

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wir alle sind uns darin einig, dass die Rahmenbedingungen für den Milchmarkt, um den es heute auch noch geht, verbessert werden müssen. Dennoch lehnen wir die populistischen Forderungen ab; denn sie sind für die Weiterentwicklung des Milchsektors nur wenig hilfreich. Aus diesem Grunde lehnen wir auch den Antrag der Grünen ab. Welche konkreten Maßnahmen hier im Einzelnen ergriffen werden müssen, werden wir in den nächsten Wochen in der Koalition sicherlich diskutieren. Von der Milch ist der Weg zur Gentechnik nicht weit. Eines der größten milchverarbeitenden Unternehmen in Deutschland, nämlich die Campina GmbH, hat heute im Vorfeld der Internationalen Fachmesse für Molkereiprodukte für seine wichtigste Marke „Landliebe“ den Einstieg in die „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung angekündigt. ({0}) Wir begrüßen einen neuen großen Anbieter in diesem Segment. Im Rahmen der Fachkonferenz der SPD-Fraktion kündigte letzte Woche auch die mittelständische Supermarktkette tegut an, neben dem bereits bestehenden Angebot an Molkereiprodukten auch beim Schweinefleisch in die „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung einzusteigen. Mehrere Anbieter haben auf unserer Konferenz zur Kennzeichnungsregelung gezeigt, dass diese Kennzeichnung machbar ist. Das Interesse der Marktteilnehmer ist groß. Einige sind bereits auf dem Markt; bei anderen steht der Einstieg unmittelbar bevor. Das ist, wie ich finde, ein Vorteil für die Verbraucherinnen und Verbraucher, die durch die so entstehende Transparenz endlich auswählen können, Herr Kollege. ({1}) Herr Minister Seehofer ist leider nicht da. Herr Staatssekretär, bitte übermitteln Sie ihm unseren Dank, dass wir mit der „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung ein wirklich gutes Vorhaben auf den Weg bringen können. ({2}) Umso empörender und unverständlicher ist der Eierkurs, den die CSU in Sachen gentechnikfreie Regionen eingeschlagen hat. Die Überschrift „In Bayern bin ich gegen Gentechnik“ aus der Süddeutschen Zeitung ist bereits zitiert worden. In Bayern sind Sie also dagegen und in Berlin dafür? Bislang sind etwa 15 000 Mails bei Herrn Seehofer und Herrn Dr. Ramsauer eingegangen. Sie wurden von Bürgerinnen und Bürgern geschrieben, die genau wissen, dass es nicht reicht, in Bayern mehr Rechte für gentechnikfreie Regionen zu fordern, sondern dass man sich hier in Berlin und später auch in Brüssel dafür einsetzen muss, dass solche Forderungen ernst gemeint sind. ({3}) Wir stehen bereit, um gemeinsam mit Ihnen den Worten Taten folgen zu lassen. Die Forderungen der CSU nach Verbindlichkeit für die gentechnikfreien Regionen und nach der Möglichkeit, dass Länder und Regionen künftig selbst über den gewerblichen Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen oder die Forschung entscheiden können, begrüßen wir ausdrücklich. Wir haben sie bereits im Juni in unseren Antragsentwurf „Für eine nachhaltige Weiterentwicklung des europäischen Gentechnikrechts“ aufgenommen. Unser Antragsentwurf enthält Forderungen, mit denen die CSU Landtagswahlkampf betreibt. Ich nenne beispielsweise die Überarbeitung des EU-Zulassungsverfahrens für gentechnisch veränderte Pflanzen. Wir wollen mehr Transparenz und Demokratie bei diesen Entscheidungen und eine stärkere Berücksichtigung auch von kritischen Stellungnahmen. Wir fordern ein Anbauverbot für nicht koexistenzfähige Pflanzen wie Raps. Wir fordern die Kennzeichnung von GVO-haltigem Saatgut ab der Nachweisgrenze von 0,1 Prozent. ({4}) Diese Forderungen waren auch schon von Herrn Dr. Ramsauer, Herrn Minister Seehofer und anderen CSU-Politikern zu hören. Was hielt Sie also bisher davon ab, mit uns über unseren Entwurf zu diskutieren? Wenn wir den Antrag der Grünen nachher in die Ausschüsse überweisen, dann habe ich dabei Bauchschmerzen. Ich hoffe auf ernsthafte Beratungen und auf die Redlichkeit der CSU. Ich fordere Sie auf, gemeinsam mit uns für die Einbringung und Umsetzung dieser Forderungen zu sorgen. Denn wenn sich Ihr Einsatz für die gentechnikfreien Regionen als Wahlkampfgetöse entpuppt, dann fällt das nicht nur Ihnen von der CSU auf die Füße, sondern die Menschen im Land verlieren ihr Vertrauen in die Politik. Das schadet uns allen. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Eva Bulling-Schröter das Wort. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum soll nicht jede Region, jedes Bundesland und jeder Mitgliedstaat selbst darüber entscheiden dürfen, ob Agrogentechnik genutzt wird oder nicht? Das würde ich begrüßen. ({0}) Dass solche Entscheidungen gegenwärtig von der EU untersagt werden, finde ich fatal. Unabhängig davon lehne ich die Grüne Gentechnik grundsätzlich ab. Die Risiken sind nicht beherrschbar, und wir brauchen diese Technologie auch nicht. ({1}) Wir sind auch dafür, MON 810 zu verbieten. Das läge nämlich in der Kompetenz der Bundesregierung. Aber Herr Bleser hat bereits gesagt, dass die Bundesregierung, zumindest CDU und CSU, dies nicht tun wird. Noch einmal zurück: Am letzten Dienstag musste ein bayerischer Imker seine gesamte Honigernte in der Müllverbrennungsanlage in Augsburg vernichten; das Glas haben wir bereits gesehen. Sie war trotz aller Vorsichtsmaßnahmen mit Pollen von MON 810 des Vorjahres belastet. Die Imker meinen, schon bei 2 Prozent Genanbaufläche in Bayern sei dort praktisch keine Honigernte mehr möglich. Daher frage ich Sie, meine Damen und Herren von der CSU: Was sagen Sie denn den Menschen nun im Wahlkampf? Die wollen doch Antworten hören! ({2}) Vielleicht nehmen Sie zur Kenntnis, dass nach einer aktuellen Emnid-Umfrage 80 Prozent der Bayerinnen und Bayern MON 810 verbieten lassen wollen. Sie sind doch eine Volkspartei. Dann machen Sie das doch endlich! ({3}) Es sieht aber so aus, als ob die CSU in Bayern Opposition gegen sich selber in Berlin machte. Das stellt man in vielen Fragen fest. Während sich die CSU-Landtagsfraktion dafür einsetzt, gentechnikfreie Zonen zu schützen, hat Herr Seehofer seinerzeit fast als erste Amtshandlung für die bundesweite Zulassung von MON-810Genmais gesorgt. In der Süddeutschen Zeitung hat er wiederum in der letzten Woche erklärt: „In Bayern bin ich gegen Gentechnik.“ Vielleicht hat der Bischof von Eichstätt jetzt doch gewirkt. Wir wünschen uns das jedenfalls sehr. ({4}) Zu Hause den Gentechnikkritiker und den Bewahrer der Schöpfung spielen, im Bundestag aber dafür sorgen, dass das Teufelszeug auf die Felder und dann auf den Teller kommt, das ist scheinheilig. So nennt man das jedenfalls in Bayern. ({5}) Herr Bleser, der weltweite Hunger wird nicht durch die Gentechnik beseitigt oder zumindest gelindert. Das sagen nicht wir, sondern der Weltagrarrat, Misereor und „Brot für die Welt“. Zumindest diese müssten Sie kennen. ({6}) Aber vielleicht stehen bei Ihnen die großen Konzerne vor der Tür - Bayer, BASF, Monsanto - und flüstern Ihnen ab und zu etwas ein. ({7}) Das könnte ja sein. ({8}) Jetzt zur Milchwirtschaft. Beim Milchstreik in diesem Sommer wurde von den Bauern zum ersten Mal in der Geschichte Milch in bislang unbekannten Größenordnungen weggeschüttet. Das heißt, die Bauern sind verzweifelt. Das muss man ganz ernst nehmen. Es heißt immer, man bekomme keine drei Bauern unter einen Hut. Doch offensichtlich hat man es angesichts dieser Verhältnisse doch geschafft. Es ist tatsächlich so, wie es mir Milchbauern aus meiner Region gesagt haben. Sie halten es für eine Unverschämtheit, wie man mit Menschen umgeht, die 365 Tage zweimal am Tag ihre Tiere melken. Damit haben sie recht. ({9}) Für diese Menschen ist es absolut unverständlich, dass jetzt die Milchquoten wieder erhöht werden sollen, wodurch der Preis möglicherweise noch weiter in den Keller fällt. ({10}) Gleichzeitig fordert der Deutsche Raiffeisenverband als Vertretung der genossenschaftlichen Molkereien, die alte Exportsubvention für Molkereiprodukte wieder einzuführen, um für Marktentlastung zu sorgen. Beides sind völlig falsche Politikansätze. ({11}) Wir unterstützen die Abkehr von der totalen Liberalisierung der Milchwirtschaft, welche de facto durch die Abschaffung der Milchquote stattfindet. Die Milchwirtschaft wird damit an vielen Standorten in Deutschland, in Ost und in West, nicht mehr im Kampf um die niedrigsten Erzeugerpreise mithalten können.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Bulling-Schröter, achten Sie bitte auf die Zeit.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Letzter Satz. - Wir unterstützen Ihre Anträge, meine Damen und Herren von den Grünen. Wir halten sie für eine gute Diskussionsgrundlage. Ich wünsche, dass über diese Themen breit diskutiert wird. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber für die SPDFraktion. ({0})

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was passiert eigentlich, wenn man die CSU mit Karl May vergleicht? Als Erstes fallen einem Gemeinsamkeiten auf. Genauso wie Karl May schafft es die CSU, mit blumigen Worten über Dinge zu schreiben, bei denen sie nie dabei war. Genauso wie Karl May schafft es die CSU, sich mit Pathos mit Taten zu brüsten, die sie nie begangen hat. ({0}) Es gibt aber einen wichtigen Unterschied: Karl May wäre nie auf die Idee gekommen, andere Menschen mit juristischem Kleinkram daran zu hindern, das zu tun, mit dem er sich gebrüstet hat und was er nie gemacht hat. ({1}) Ich bin jetzt acht Jahre Mitglied des Deutschen Bundestages, aber ein solches politisches Bubenstück wie das Verhalten der CSU in der Gentechnik habe ich in diesen acht Jahren nicht erlebt. ({2}) Ich hätte nicht gedacht, dass ich in diesem Deutschen Bundestag eine solche Menge an Lügen und Verdrehungen kennenlernen müsste. Ich war das bisher von Sekten und extremistischen Parteien gewöhnt, von sonst niemandem. ({3}) Man muss die Fakten klarstellen: Die Zulassung für den Genmais wurde von einem CSU-Minister angeordnet. Dieser CSU-Minister hätte den Anbau von MON 810 in diesem Jahr auch stoppen können, und dann hätten wir die Probleme in Bayern und in anderen Teilen der Republik nicht gehabt. ({4}) In den gesamten Verhandlungen der Jahre 2006 und 2007 über das Gentechnikrecht in Deutschland haben sich CDU und CSU geweigert, die Forderung nach verbindlich gentechnikfreien Regionen zu erfüllen. Im Juni 2008 gab es einen Antrag der CSU im Bayerischen Landtag, dass sich Bayern im Bundesrat für die Einrichtung verbindlich gentechnikfreier Regionen einsetzen solle. Das wurde durch die CSU abgelehnt. Seit Juni liegt CDU und CSU der Entwurf eines Antrags der SPDBundestagsfraktion vor, dass sich der Deutsche Bundestag für verbindlich gentechnikfreie Regionen aussprechen soll. Das wurde mit Verweis auf den Koalitionsvertrag verweigert. Dadurch darf die SPD diesen Antrag nicht in den Deutschen Bundestag einbringen. Diese Parteien können nicht behaupten, sie seien für verbindlich gentechnikfreie Regionen, wenn sie jeden konkreten Beschluss dazu hintertreiben und mit juristischen Mitteln verhindern. ({5}) Wir müssen einen Nerv bei der CSU erwischt haben. Herr Staatssekretär, Sie sitzen nicht auf der Regierungsbank, sondern in den Reihen der Abgeordneten und vertreten wahrscheinlich Herrn Ramsauer, den Chef der CSU-Landesgruppe, der heute nicht da ist. In dessen Wahlkreis ist heute eine Anzeige erschienen, in der suggeriert wird, die SPD sei für die Grüne Gentechnik, die CSU aber handele. Ein Antrag der SPD, Langzeitversuche mit Genfutter durchzuführen, wird so interpretiert, als sei die SPD dafür, die Tiere in Deutschland mit gentechnisch verändertem Futter zu versorgen. ({6}) Dies ist die Forderung der Gentechnikgegner, die endlich wissen wollen, was mit den Tieren passiert, wenn sie nicht nur sechs Wochen, sondern zwei Jahre lang damit gefüttert werden. ({7}) Dann gab es - das ist eine der dreistesten Geschichten, die ich erlebt habe - im März 2008 eine Anzeige der CSU mit der Behauptung, die SPD-Bundestagsfraktion stimme für die Einfuhr von Genmais. Im März 2008 gab es einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, MON 810 in Deutschland nicht mehr anbauen zu dürfen. In der gesamten Debatte haben sich die Redner der SPD für diesen Antrag ausgesprochen, aber unser Koalitionspartner CSU hat die Karte des Koalitionsvertrags gezogen und gesagt: Wenn wir nicht zustimmen, dürft auch ihr einem Antrag der Grünen nicht zustimmen. - Wir mussten mit Nein stimmen, um vertragstreu zu sein. Das in einer CSU-Anzeige zu finden, ist dreist bis zum Abwinken. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Kelber, gestatten Sie Zwischenfragen der Kollegin Happach-Kasan und der Kollegin Klöckner?

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne, selbstverständlich.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Bitte schön, Frau Happach-Kasan. ({0})

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Kelber, ich habe drei Fragen an Sie. Geht das, Frau Präsidentin? - Nur eine, dann verbinde ich sie.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Machen Sie eine längere Frage daraus.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, ich mache eine längere daraus. - Mich würde interessieren, ob Sie eigentlich wissen, in welchem Umfang die Schweinehaltung, die Rinderhaltung und die Hühnerhaltung in der deutschen Landwirtschaft von der Verfütterung von gentechnisch veränderten Pflanzen, beispielsweise aus Importen, abhängen. Können Sie dem zustimmen, was ein Leserbriefschreiber in der Süddeutschen Zeitung geschrieben hat, nämlich dass ursprünglich in Bayern der Anbau von gentechnisch verändertem Mais auf 116 Hektar angekündigt war, hinterher aber nur 9,9 Hektar tatsächlich angebaut worden sind? Wissen Sie, dass dieser Leserbriefschreiber, der Ihnen übrigens nahesteht, ({0}) die Beobachtung gemacht hat, dass es Diffamierungen der Landwirte gegeben hat, die gentechnisch veränderten Mais anbauen wollten? Sie haben intensiv für gentechnikfreie Zonen geworben und wollen, dass die Regionen über deren Einrichtung entscheiden. Was in der EU zugelassen wird, möchte man in der Kommune verbieten können. Wie sieht es denn eigentlich aus: Wollen Sie den Kommunen auch das Recht geben, über Kraftfahrzeuge zu entscheiden, darüber, ob in einer Kommune in Schleswig-Holstein zum Beispiel BMW gefahren werden darf?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Happach-Kasan!

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin damit am Schluss meiner Zwischenfrage.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zum zweiten Teil - ich lasse den Teil, der natürlich eine Meinungsäußerung von Ihnen war, beiseite -: Wie Sie wissen, können Kommunen darüber entscheiden, ob eine Umweltzone eingerichtet wird oder ob ein Kraftwerk gebaut wird. Nur da, wo Ihnen die Mehrheitsmeinung der deutschen Bevölkerung nicht passt - Umfragen besagen: 80 Prozent wollen keine Gentechnik in Lebensmitteln und auf dem Acker -, ({0}) wollen Sie die Verantwortung nach Brüssel schieben, damit nicht vor Ort entschieden werden kann. Das sehen wir anders. ({1}) Sie haben unsere Forderung nach verbindlich gentechnikfreien Regionen angesprochen. Wir wollen zudem kennzeichnen und keinen anderen Weg gehen. ({2}) Die SPD-Fraktion hat noch in der letzten Woche eine Fachanhörung durchgeführt, in der auch Vertreter des Raiffeisenverbands - auf den haben Sie sich indirekt bezogen - waren. Da wurde noch einmal gesagt: Wer in Deutschland gentechnikfreies Futter beziehen will, bekommt es im Rahmen von langfristigen Verträgen auf dem Weltmarkt zu den gleichen Preisen wie gentechnikhaltiges Futter. ({3}) Es ist nicht schön, dass auf bestimmten Webseiten nicht darauf verwiesen wird, dass zum Beispiel Indien sich entschieden hat, seine boomende Sojaindustrie vollständig gentechnikfrei aufzubauen, und nur auf die Märkte in Europa wartet, um beliefern zu können. ({4}) Ich meine den Raiffeisenverband Kehl. Lesen Sie das auf der Webseite nach! Wenn Sie dort anrufen, wird Ihnen das bestätigt werden, Frau Happach-Kasan. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Happach-Kasan, auch die Frau Kollegin Klöckner würde gern eine Zwischenfrage stellen, und dann würde ich den Kollegen Kelber gern zum Schluss kommen lassen.

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kelber, mich irritiert die Saubermanngeschichte, die Sie gerade betreiben, ein bisschen. Ich erinnere mich an unsere Debatte um die Kennzeichnung „Ohne Gentechnik“. Uns als Union war es wichtig, für Wahrheit und Klarheit zu sorgen und den Verbraucherinnen und Verbrauchern auf den Etiketten von Produkten mitzuteilen, ob sie gentechnisch veränderte Bestandteile enthalten. ({0}) Deshalb ist uns wichtig, dass bei einer Kennzeichnung „Ohne Gentechnik“ auch keine Gentechnik im Prozess verwendet worden ist. Aufgrund der SPD-Intervention ist ein Eintrag von 0,9 Prozent während des Prozesses oder sind auch gentechnisch veränderte Futtermittel, Enzyme etc. zulässig. ({1}) Deshalb irritiert mich das etwas. Meine Frage lautet: Ist Ihnen das klar? Wie machen Sie den Verbraucherinnen und Verbrauchern klar, dass man es bei einer Kennzeichnung „Ohne Gentechnik“ durchaus mit einer gentechnischen Veränderung zu tun haben kann. ({2})

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich hatte nicht mehr zu hoffen gewagt, dass diese Zwischenfrage kommt. ({0}) Es ist eine relativ langwierige Debatte. Man kann sie abkürzen, indem man schaut, wer hinter welchem Vorschlag steht. ({1}) Hinter Ihrem Vorschlag stehen der Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandels, die großen Monopolisten, die großen Chemieriesen, die die Gentechnik loswerden wollen. ({2}) Hinter dem Vorschlag der Kennzeichnung „Ohne Gentechnik“ stehen der Verbraucherzentrale Bundesverband, ({3}) Greenpeace, BUND, NABU, die kleinen Betriebe der ökologischen Lebensmittelwirtschaft ({4}) und alle die, denen die Verbraucherinteressen ({5}) und nicht die eigenen wirtschaftlichen Interessen am Herzen liegen. An den Freunden könnt ihr sie erkennen! ({6}) Das ist der beste Hinweis darauf, dass das, was Sie gefordert haben, nicht Klarheit und Wahrheit war, sondern der Wunsch, es der Gentechniklobby zu ermöglichen, weiterhin in allen Lebensmitteln sozusagen unterzukommen und dabei nicht erkannt zu werden. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Kelber, ich muss Sie fragen, ob Sie noch eine Zwischenfrage, nämlich des Kollegen Straubinger, zulassen.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, natürlich.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kelber, da Sie sich gerade als der Oberkämpfer gegen die Gentechnik geriert haben und den Eindruck erwecken wollten, die SPD sei schon immer gegen die Gentechnik gewesen, frage ich: Würden Sie mir bestätigen, dass gerade unter der rot-grünen Bundesregierung die Gentechnik in Europa hoffähig gemacht worden ist, ({0}) nämlich aufgrund der Beschlüsse der damaligen rot-grünen Bundesregierung mit der damaligen Ministerin Renate Künast, ({1}) dass zudem in Bayern nur auf 8 Hektar Genmais ausgesät worden ist, während in dem von Ministerpräsident Platzeck, SPD, regierten Brandenburg auf mehreren Tausend Hektar Genmais zur Aussaat gebracht worden ist? Wie lässt sich das mit den Grundsätzen vereinbaren, die Sie hier darlegen?

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zunächst zur zweiten Frage: Das Bundesrecht, das wir im Deutschen Bundestag dahin gehend ändern wollen, dass Regionen sich verbindlich als gentechnisch frei erklären können, wird in Bayern wie in Brandenburg gelten. Ich sage Ihnen voraus, dass dann auch in Brandenburg zahlreiche Kommunen verhindern werden, dass auf ihrem Gebiet Gentechnik auf die Äcker kommt. ({0}) Zu Ihrer ersten Frage, Herr Straubinger: Ich glaube, Sie waren zu Beginn der Debatte noch nicht im Saal. Ansonsten hätten Sie nämlich gehört, was die Kollegin Künast erklärt hat. Ich kann Ihnen den Zeitplan bestätigen: Die Zulassung von MON 810, dem einzigen in Deutschland in größerem Maßstab verwendeten Genmais, hat noch vor der Bundestagswahl 1998 in der EU stattgefunden. Zuständig war damals der Gesundheitsminister der Regierung Kohl/Westerwelle, der Horst Seehofer hieß. Über die Zulassung in Deutschland wurde kurz nach dem November 2005 entschieden. Diesmal war der Landwirtschaftsminister zuständig, der wiederum Horst Seehofer, CSU, hieß. Sie sollten den eigenen Anzeigen nicht glauben. Sie müssen ins europäische Gesetzblatt schauen. Dort finden Sie die Wahrheit. ({1}) Das ist ein ganz wichtiges Signal. Man muss der CSU nicht glauben, wenn sie seit drei Monaten plötzlich gegen Gentechnik ist. Dies wird nach dem nächsten Sonntag alles vergeben und vergessen sein; dann werden sich wieder andere in der Partei durchsetzen, die diesen Kurs nie mitgetragen haben. Das Schöne aber ist, dass die Menschen das merken. Wenn sich die Menschen in Bayern und in Deutschland, die uns heute zugehört haben, fragen, ob die Redner von den Grünen, von der Linkspartei, von der FDP, von der CDU/CSU oder von der SPD recht hatten, dann sollten sie auf die Webseiten vom BUND, von Greenpeace, vom Imkerbund, von der Aktion Zivilcourage, von Campact und all denen, die für die Verbraucherseite gegen Gentechnik kämpfen, gehen. Sie alle beginnen mit der gleichen Schlagzeile: Glaubt dem Täuschungsmanöver der CSU nicht, sie meint es an dieser Stelle nicht ehrlich. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Müller. ({0})

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Kelber, die Debatte könnte man in weiten Zügen fast als oktoberfestreif bezeichnen, wenn es nicht so traurig wäre. Deshalb nenne ich als CSU-Politiker zur Klarstellung einige Fakten. Die Grüne Gentechnik wird auf 120 Millionen Hektar in 25 Staaten der Welt angebaut. In Deutschland haben wir ungefähr 1 000 Hektar. In Bayern sind es 10 Hektar - das sind fünf Fußballfelder -, ({0}) davon der wesentliche Teil für den Forschungsanbau. Deshalb kam Minister Seehofer zu der Aussage, dass in Bayern die Grüne Gentechnik keine Rolle spiele. ({1}) Das zweite Faktum: Die Freisetzungsrichtlinie zum Anbau von MON 810 hat Frau Renate Künast mit den Grünen umgesetzt. Dass diese Tür aufgestoßen wurde, ist die Basis für die Zulassung gewesen. ({2}) Gefehlt hat die Festlegung klarer Grundsätze der fachlichen Praxis. Hier haben wir vonseiten der CDU/ CSU und dieser Koalitionsregierung gehandelt und klare, strenge Regeln für die Freisetzung, unter anderem Abstandsregelungen, ({3}) festgelegt. Auch dies war vorher nicht der Fall. Darüber hinaus haben wir die Kennzeichnung „Ohne Gentechnik“ eingeführt, was ebenfalls ein ganz entscheidender Punkt war. Warum haben wir das gemacht? Die Grüne Gentechnik wird sich durchsetzen oder auch nicht. Aber das entscheiden die Verbraucher und die Bauern. Dem Verbraucher, der zur Grünen Gentechnik Nein sagt, weil er sie nicht will, geben wir durch die Kennzeichnung die Möglichkeit, sich so zu entscheiden. Wenn der Bauer erklärt, er baue das nicht an, dann ist es in Ordnung. Wir machen keine Politik gegen Bauern, gegen Verbraucher, gegen die Bürgerinnen und Bürger. Das ist unsere Linie. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Kelber, bitte.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Kurzintervention bestand ja aus drei Teilen. Ich gehe auf den dritten Teil zuerst ein; denn das, was Sie, Herr Müller - aha, Sie sind wieder auf die Regierungsbank gewechselt -, im dritten Teil gesagt haben, war richtig. Sie haben sich da auf die Dinge bezogen, die wir gemeinsam gemacht haben: gute fachliche Praxis und Kennzeichnungspflicht. Ich freue mich, dass diese Forderungen, die damals von der SPD in die Koalitionsverhandlungen eingebracht wurden - das ist nachlesbar -, heute gemeinsames Gedankengut der beiden Koalitionspartner sind. ({0}) Zweiter Punkt. Bezüglich des Themas Freisetzungsrichtlinie haben Sie heute den Versuch unternommen, dieses in neuer Art und Weise darzustellen. Da muss man ja aufpassen. Sie sagten - komisch, dass ich jetzt für die Opposition sprechen muss -, ({1}) Künast habe die Freisetzungsrichtlinie umgesetzt. Genauso war es zwar, aber die Freisetzungsrichtlinie wurde unter der Regierung Kohl/Westerwelle beschlossen, mit Seehofer als zuständigem Minister ({2}) Sie war danach bindend. Das europäische Recht musste danach verpflichtend in nationales Recht umgesetzt werden. Dass dieser Punkt zu bindendem europäischem Recht wurde, dafür hat Ihr Minister Seehofer, der in einer Dreiviertelstunde auf der Ministerkonferenz sein muss, gesorgt. ({3}) Letzter Punkt. Die Gentechniklobbyisten sprechen immer gerne davon, auf soundso vielen Millionen Hektar in soundso vielen Staaten würden ihre Produkte angebaut. Das hört sich groß und bedeutend an. Wenn man genauer hinschaut, stellt man fest, dass sich 95 Prozent der Anbaufläche in drei Staaten befinden, nämlich in den USA, wo die Konzerne ihren Sitz haben, sowie in Argentinien und Brasilien, wo dies mit Macht durchgedrückt wurde. Der ganze restliche Anbau ist unbedeutend. Immer mehr Staaten versuchen sogar, aus dieser Technologie auszusteigen. Sie sind auf dem falschen Dampfer. Steigen Sie rechtzeitig aus! ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Zu einer weiteren Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Renate Künast.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) - Auch Sie bekommen noch einen Chauvi-Preis. - Ich halte es, ehrlich gesagt, in dieser Debatte für eine Art Missachtung des Parlaments, wenn diejenigen, um deren Politik es heute geht, nicht auf der Rednerliste auftauchen - phasenweise saß ja sogar niemand auf der Regierungsbank - und es nicht wagen, in der Debatte Ross und Reiter zu nennen und ihre inhaltliche Position darzulegen, aber am Ende im Rahmen einer Kurzintervention versuchen, noch einmal ein bisschen Klarstellung zu betreiben. ({1}) Die Leute werden wissen, was das heißt. Ich meine, dass diese Debatte gezeigt hat, dass die CSU und die CDU die Bürger, die Verbraucher und die Bauern alleine lassen. ({2}) Lassen Sie mich auch sagen: Der Beschluss der CSU, den sie in Bayern gefasst hat, ist das Papier nicht wert, auf dem er gedruckt worden ist. Warum ist das so? Hier wird zwar so getan, als wolle man auf europäischer Ebene aktiv werden und für gentechnikfreie Zonen eintreten, tatsächlich bietet er aber nicht einmal eine rechtliche Grundlage dafür, um demnächst im Agrarrat in Brüssel in dieser Richtung tätig zu werden und auf diese Weise die Europäische Kommission, die ja das Initiativrecht hat, zur Abfassung einer entsprechenden Vorlage zu zwingen. Sie wollen das irgendwo im Europa der Regionen zur Sprache bringen. Wenn Sie das aber wirklich wollen, dann müssen Sie dafür sorgen, dass das da zur Sprache kommt, wo wirklich Entscheidungskompetenz ist. Das wären der Agrarrat und die Europäische Kommission. Ein Weiteres sage ich Ihnen: Sie haben jederzeit die Möglichkeit, MON 810 die Zulassung zu entziehen. Das haben Sie, Herr Kelber, hier klar gesagt. Verstecken Sie sich also nicht hinter irgendwelchen Dingen! Bringen Sie notfalls alleine einen Antrag dazu ein! Wir würden dem zustimmen. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Kelber möchte nicht antworten. Herr Kollege Kelber, ich habe jetzt den Auszug des Protokolls vor mir liegen. Sie haben gesagt: Ich hätte nicht gedacht, dass ich in diesem Deutschen Bundestag eine solche Menge an Lügen und Verdrehungen kennenlernen müsste. Ich war das bisher von Sekten und extremistischen Parteien gewöhnt, von sonst niemandem. ({0}) Sie haben das eindeutig in Richtung CDU/CSU gesagt. Das ist wenig parlamentarisch. Es tut mir leid; das muss ich rügen. Ich bitte doch, zu überdenken, ob Sie sich nicht entschuldigen wollen. ({1}) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 16/10202. Ich erteile zunächst dem Kollegen Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort zur Geschäftsordnung.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die antragstellende Fraktion beantragt, den Antrag der Koalition auf Überweisung zurückzuweisen und die Frage heute in der Sache zu entscheiden. Worum geht es im Antrag? Es geht um zwei leicht zu beantwortende Fragen. Erstens geht es darum, ob sich diese unsere Bundesregierung, die im Wesentlichen abwesend ist, in Brüssel - vielleicht ist sie gerade in Brüssel - dafür einsetzt, ({0}) dass die Einrichtung gentechnikfreier Zonen von den Gebietskörperschaften unseres Landes beschlossen werden kann. Es geht also darum, ob sie die Entscheidungshoheit darüber haben, ob bei ihnen gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut werden oder eben nicht. Zweitens geht es um ein Moratorium für weitere anzubauende gentechnisch veränderte Pflanzen. Das ist exakt das, was die CSU in Bayern gerade landauf, landab in jedem Wahlkreis erklärt. Schauen Sie sich einmal an, Herr Koschyk, was Ihr Landesgruppenchef Ramsauer gesagt hat: Nach sorgfältiger Prüfung und Abwägung kommen wir zu dem Ergebnis, dass es für einen Einsatz der Grünen Gentechnik in unserem Landkreis mit der kleinteiligen Agrarstruktur und den empfindlichen Volker Beck ({1}) und wertvollen Naturräumen zu viele offene Fragen und kaum abschätzbare Risiken gibt. Deswegen ist er dagegen, dass gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut werden. Recht hat er. Mit der Zustimmung zu unserem Antrag kann das jetzt Wirklichkeit werden. ({2}) Allerdings ist es ein Bubenstück, dass Herr Seehofer einerseits erklärt, in Bayern wolle er keine Gentechnik. Andererseits sei er für Gentechnik in Brandenburg, wo sich die Bürger dagegen wehren. ({3}) Das ist natürlich nicht der Sinn einer solchen Regelung. Vielmehr sollen die Bürgerinnen und Bürger eines jeden Landkreises selber entscheiden, was dort gelten soll. ({4}) Meine Damen und Herren, Sie versuchen heute mit diesem Überweisungsantrag - ich kann nicht verstehen, warum auch die SPD ihn gestellt hat -, der CSU den Offenbarungseid in der Frage der Gentechnik zu ersparen. ({5}) Diese parlamentarische Woche ist -

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Beck, Sie müssen, bitte schön, zur Geschäftsordnung sprechen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, ich begründe gerade, warum - ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nein, Sie begründen nicht.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich begründe gerade, warum - ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nein, Herr Kollege Beck, Sie begründen nicht.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich begründe gerade, Frau Präsidentin, warum es nicht in Ordnung ist, zu überweisen. ({0}) Ich spreche nicht zur Sache, sondern dazu,

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Oh, Herr Kollege Beck!

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- Frau Präsidentin, dass es nicht okay ist, ({0}) die Entscheidung in dieser Sitzungswoche zu vertagen und den Antrag zu überweisen. Ich plädiere dafür, jetzt über ihn zu entscheiden. ({1}) Ich möchte etwas zur Intention derjenigen sagen, die nicht begründet haben, warum sie den Antrag überweisen wollen. ({2}) Das ist zulässig, und ich bitte, Frau Präsidentin, hier auch die unangenehmen Wahrheiten aussprechen zu dürfen, ohne gegen eine solche Lärmwand anschreien zu müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Sitzungswoche versuchen Sie mit allen Tricks, Entscheidungen zu vermeiden. Sie haben uns heute sogar im Ältestenrat verboten, ({3}) eine Tagesordnung für die nächste Sitzungswoche zu beschließen, weil Sie womöglich nicht eingestehen wollen, dass die CSU in der nächsten Sitzungswoche - ähnlich wie bei der Gentechnikfrage - bei der Debatte über die Erbschaftsteuerreform die Hosen runterlassen muss. Dies sollen die Wählerinnen und Wähler noch nicht erfahren. ({4}) Meine Damen und Herren von der SPD, haben Sie den Mut, diese Frage jetzt zu entscheiden. Dann wird klar, wo die CSU steht. Ich glaube, wir haben hier im Hohen Haus eine Mehrheit dafür, dafür zu sorgen, dass in unserem Land keine gentechnisch veränderten Pflanzen in der Landwirtschaft mehr angebaut werden. Verhelfen Sie der CSU-Politik zu einer Chance, wenn sie ernst gemeint sein soll. ({5}) Ansonsten sollen die Wählerinnen und Wähler erfahren, dass all das, was Sie den Bayerinnen und Bayern verkaufen, Wahlkampfgetöse, ({6}) aber keine inhaltlich ernst gemeinte Politik war. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Wird das Wort zur Erwiderung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Überweisung, und zwar federführend an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und mitberatend an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Die Abstimmung über den Antrag auf Ausschussüberweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. ({0}) Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksache 16/10202 nicht ab. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Rahmenbedingungen für Milchmarkt verbessern - Faire Erzeugerpreise für Milch unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9869, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9601 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen - Drucksache 16/10289 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich gebe das Wort dem Bundesminister Olaf Scholz. ({2})

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Meine Damen und Herren! Nach der eben sorgfältig geführten Debatte muss man sagen: Hier geht es jetzt um ein Erfolgsprojekt der Großen Koalition. ({0}) Im Hinblick auf die eine oder andere Wortmeldung, die ich gehört habe, und auf das Beklagen darüber, dass die Regierung nicht ordentlich vertreten sei, möchte ich darauf hinweisen, dass, wenn der Bundesminister für Arbeit und Soziales hier ist, immerhin 123 Milliarden Euro des Haushaltes repräsentiert werden. ({1}) Zeit zu haben für das eigene Leben, für die privaten Belange, ist etwas Wichtiges, gerade wenn man bedenkt, dass Arbeit eine lange Zeit unser Leben bestimmt. Wer mit 16 die Schule verlässt, muss damit rechnen, 50 Jahre arbeiten zu müssen. Es können auch 40 Jahre sein; aber jedenfalls sind es viele Jahrzehnte, in denen Arbeit das Leben begleitet. Das führt dazu, dass wir uns Gedanken darüber machen müssen, wie die Beschäftigten genügend Souveränität erhalten können, um während des Arbeitslebens über ihre Zeit zu verfügen. Sie brauchen mehr Spielräume, wenn sie im Schnitt 46 Wochen im Jahr 40 Stunden in der Woche arbeiten. Ihnen diese Souveränität zu geben, ist das, was wir mit diesem Gesetz versuchen. ({2}) Wir haben im Hinblick auf die Souveränität der Beschäftigten schon heute viele gesetzliche Ansprüche. Das gilt für die Möglichkeiten bei der Kindererziehung, bei der Pflege und bei der Bildung. All das ist gegeben. Wir haben in den letzten Jahren einen großen Fortschritt mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz erreicht, das einen Rechtsanspruch auf Teilzeit mit sich gebracht hat. Was fehlt, ist eine Regelung, die es dem einzelnen Beschäftigten gestattet, über das ganze Arbeitsleben hinweg souverän über die eigene Arbeitszeit verfügen zu können. Das versuchen wir seit einigen Jahren mit einem Gesetz zu erreichen, das allerdings noch nicht richtig gewirkt hat, nicht nur weil es einen komplizierten Namen hat - Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen -, sondern auch weil die gesetzliche Regelung, die wir seit etwa zehn Jahren in Deutschland haben, bislang nicht alle Anforderungen erfüllt hat. Aber die Grundidee war richtig. Es geht darum, dass Arbeitszeit angespart werden kann, dass sie sogar vorgespart werden kann, wenn man das richtig organisiert, dass die Arbeitszeit dann verbeitragt und mit Steuern belegt wird, wenn sie zur Finanzierung des eigenen Lebensunterhaltes eingesetzt werden soll. Die Probleme des bisherigen Gesetzes haben dazu geführt, dass es bisher nicht ordentlich angewandt wurde. Zu den großen Problemen gehörte die Frage: Was geschieht eigentlich, wenn ein Arbeitnehmer den Arbeitgeber wechselt? Ob freiwillig oder unfreiwillig: Dies kommt häufiger im Leben vor. In diesem Fall, so haben sich viele gedacht, muss es doch möglich sein, dass man das bis dahin angesparte Arbeitszeitguthaben mitnehmen kann. Das andere Problem ist die Frage, was geschieht, wenn der eigene Arbeitgeber insolvent wird. In dem Fall ist die über einen langen Zeitraum angesparte ArbeitsBundesminister Olaf Scholz zeit, die für den einzelnen Beschäftigten einen großen finanziellen Wert darstellt, plötzlich verloren. Beide Probleme waren im Rahmen der bisherigen Regelung nicht gut gelöst. Wir hatten darauf gesetzt, dass sie von den Tarifvertragsparteien gelöst werden. Sie haben dies aber nur in sehr wenigen Fällen getan. Darum ist aus einer guten Idee, die es vor zehn Jahren gab, noch nicht sehr viel entstanden. Aber wir müssen auf diesem Gebiet etwas erreichen. Aufgrund der Tatsache, dass Arbeit eine so große Rolle in unserem Leben spielt, müssen wir die gesetzlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass Arbeitnehmer von der Möglichkeit, ihre Arbeitszeit souverän über ihr Berufsleben zu verteilen, Gebrauch machen können. Das erreichen wir mit diesem Gesetz. ({3}) Gute Gesetzgebung besteht darin - das ist meine feste Überzeugung -, dass man sich darauf verlassen kann, dass Gesetze funktionieren. In diesem konkreten Fall bedeutet das, dass man nicht einen Steuerberater und einen Rechtsanwalt braucht, um sich an die Idee zu wagen, ein Arbeitszeitkonto aufzubauen, und um für sich die richtige Entscheidung zu treffen. Unsere Aufgabe ist es, dafür ein gutes Gesetz zu schaffen. Wir tun das mit dem heute zu debattierenden Gesetzesvorhaben. Wir definieren, was Wertguthaben sind, und unterscheiden auf diese Weise Langzeitkonten heute viel besser von anderen Formen flexibler Arbeitszeitgestaltung, die es auch in Form von Überstundenkonten und Ähnlichem gibt. Diese Definition wurde sehr sorgfältig erarbeitet. Zwar haben es die Tarifvertragsparteien nicht geschafft, sich untereinander zu einigen, aber in Gesprächen mit uns sind sie sich einig, dass unser Vorschlag eine vernünftige Lösung darstellt, die allen fachlichen Anforderungen entspricht. ({4}) Wir schaffen die Möglichkeit, diese Wertguthaben, diese Langzeitkonten so einzusetzen, wie man es möchte. Man kann dies natürlich dort tun, wo es gesetzliche Freistellungsansprüche bereits heute gibt. Ich habe schon einige genannt. Aber man kann es auch in solchen Fällen tun, die gesetzlich nicht geregelt sind, die das Ergebnis einer Vereinbarung von Tarifvertragsparteien oder einer individuellen Vereinbarung mit dem Unternehmen sind. Es geht also darum, Zeit zu gewinnen, beispielsweise für die Betreuung von Kindern. Man kann auch ein Jahr - ein Sabbatical - aussetzen. Es muss die Möglichkeit bestehen, den Akku neu aufzuladen und sich weiterzubilden. Es geht natürlich auch um die Möglichkeit, beim Übergang in die Rente andere Gestaltungsmöglichkeiten zu haben als heute. All das ermöglichen wir mit den Langzeitkonten. ({5}) Das Gesetz regelt den Insolvenzschutz. Diesen Schutz erreichen wir unter anderem durch eine sorgfältige Prüfung durch die Deutsche Rentenversicherung. Das ist übrigens ein hocheffizienter Insolvenzschutz; denn wenn die Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass das Arbeitszeitkonto nicht insolvenzgesichert ist, dann werden Beiträge und Steuern sofort fällig. Auf diese Weise haben wir ein ganz sicheres Instrument, mit dem in jedem Unternehmen sichergestellt wird, dass der Insolvenzschutz auch dort gewährleistet ist, wo bisher noch nicht dem Gesetz entsprechend gehandelt worden ist. Das Gleiche gilt für die Frage, wie man die Einlage absichert. Wir machen dazu Vorschriften, wie wir sie auch in anderen Gesetzen im Hinblick auf die Anlagesicherheit haben. Man muss nicht die Wirtschaftsteile der Zeitungen gelesen haben, um zu wissen, dass wir uns darum kümmern müssen, dass das Geld der kleinen Leute nicht in hoch spekulative Anlagen und in Produkte von irgendwelchen Schnellversprechern gesteckt wird. ({6}) Im Übrigen regelt das Gesetz die Möglichkeit, sein Arbeitszeitkonto mitzunehmen. ({7}) - Danke für den Zwischenruf. Das ist falsch! ({8}) Das Gesetz regelt die Möglichkeit, das Arbeitszeitkonto mitzunehmen. Wenn der neue Arbeitgeber es nicht für sich haben will - wir können es ihm schwerlich oktroyieren, denn er hat mit dem bisherigen Arbeitsverhältnis ja nichts zu tun -, dann hat man die Möglichkeit, es bei der Deutschen Rentenversicherung langfristig sicher festzulegen. ({9}) Dann kann es so eingesetzt werden, wie es auch geplant ist. Aber wenn man es mitnimmt, dann kann man auch bei dem neuen Arbeitgeber ein solches Arbeitszeitkonto mit den weiteren Ansprüchen aufbauen. ({10}) Es ist also für jeden Beschäftigten möglich, ein Arbeitszeitkonto über das ganze Leben zu verwalten und dann zu den Zeitpunkten einzusetzen, zu denen er es benötigt. ({11}) Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf, über den wir heute beraten, wird vielleicht zu einem der modernsten und wichtigsten Gesetze dieser Zeit. Ich bin ziemlich sicher, dass dieses Gesetzesvorhaben in zehn Jahren wie eine Selbstverständlichkeit sein wird, weil es das Arbeitsleben fast jedes Einzelnen mit beeinflusst, nämlich als Möglichkeit, aus eigener Perspektive souverän mit der Arbeitszeit umgehen zu können. Das ist ein guter Fortschritt für ein Land, das auf gute Arbeit und auf gute Löhne setzt. In diesem Sinne: Schönen Dank. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Scholz, Sie haben gestern im Ausschuss für Arbeit und Soziales gesagt - Sie haben es heute wiederholt -, dies sei das vielleicht wichtigste Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode, das die Arbeitswelt verändern werde. Das ist ein großes Wort. So, wie sich der Gesetzentwurf bisher präsentiert, wird diese große Ankündigung jedenfalls noch nicht eingelöst. ({0}) Die grundsätzliche Idee, die Arbeitszeit zu flexibilisieren, ist richtig. Es war ja auch die FDP, die im April 1998 das Gesetz zur sozialrechtlichen Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen mit in Kraft gesetzt hat. ({1}) Wir stimmen zu: Arbeitszeiten und Zeitmanagement sollen flexibel und für Arbeitgeber und Arbeitnehmer individueller gestaltbar sein. Ich darf auch sagen, weil Sie das Ende des Arbeitslebens hier schon mit angeführt haben, dass die FDP-Bundestagsfraktion den Gedanken eines selbstbestimmten Arbeitslebens mit dem Konzept eines flexiblen Renteneintritts ab dem 60. Lebensjahr - übrigens bei Wegfall aller Zuverdienstgrenzen - und Vorschlägen zur Stärkung der betrieblichen und privaten Vorsorge konsequent weitergedacht und weiterentwickelt hat. ({2}) Lassen Sie mich zunächst sagen, was an Ihrem Vorschlag gut ist. Es ist gut und richtig, dass künftig auch geringfügig Beschäftigte in den Genuss der Regelungen über flexible Arbeitszeitgestaltungen kommen sollen. Sinnvoll ist ferner, klarzustellen, welche Formen von Arbeitszeitguthaben von dem Gesetz erfasst werden. Aber es gibt auch ein paar Punkte, die wir uns noch einmal anschauen müssen und bei denen es aus unserer Sicht Klärungsbedarf gibt. Erstens. Es wird von Ihnen zu Recht darauf verwiesen, dass bisher bei einem Arbeitgeberwechsel die Wertguthaben meist aufgelöst werden und dann verbeitragt, versteuert und ausgezahlt werden. Das senkt die Attraktivität der Arbeitszeitkonten natürlich erheblich. Deswegen sollte - da stimmen wir Ihnen zu - eine bessere Portabilität ohne diesen Zwang zur Auflösung hergestellt werden. Aber der im Entwurf des § 7 f SGB IV vorgesehene Weg der Portabilität über die gesetzliche Rentenversicherung ist in der gegenwärtigen Fassung aus mehreren Gründen für die Arbeitnehmer, wie ich finde, unattraktiv. Zum einen wird ein Rückübertragungsanspruch des Beschäftigten auf einen neuen Arbeitgeber ausgeschlossen. Unter Umständen steht der neue Arbeitgeber noch gar nicht fest; es gibt eine Lücke in der Erwerbsbiografie. Das wandert also zunächst zur Rentenversicherung. Nun wäre es ja sinnvoll, dass nach einer gewissen Zeit eine Übertragung auf den neuen Arbeitgeber stattfinden kann. Das ist bisher nicht vorgesehen. Es würde am Ende dazu führen, dass ein Arbeitnehmer mehrere Konten hat. Es ist nicht klar, warum eine Übertragung ausgeschlossen sein soll. Im Gesetzentwurf wird dazu abstrakt von Gründen der Verwaltungssicherheit und Finanzierung gesprochen. Darüber sollten wir also reden. Der andere Aspekt der Anlage der Arbeitszeitkonten bei der Rentenversicherung ist, dass der Arbeitnehmer die Verwaltungskosten für das Wertguthaben tragen soll. Zugleich gibt es konservative Anlagevorschriften entsprechend denen für öffentlich-rechtliche Sozialversicherungsträger. Da muss man sich auch einmal anschauen, welche Renditeerwartungen ein Arbeitnehmer bei einer solchen Anlage und Führung des Kontos durch die Rentenversicherung noch hat. Man könnte meines Erachtens darüber nachdenken, den Arbeitnehmern hier ein Wahlrecht zuzugestehen, welchen Risikograd sie bei der Anlage des Wertkontos haben möchten, was sich natürlich auch auf die Garantiesumme auswirkt. ({3}) Wenn die Anlage aber unattraktiv ist, wird diese Möglichkeit der Portabilität nicht genutzt werden. Im Gesetzentwurf werden viele Gründe aufgezählt, warum eine treuhänderische Übernahme der Arbeitszeitkonten durch private Anbieter nicht zulässig sein soll. Dabei geht es aber mehr um fiskalische Interessen, wenn ich das richtig sehe, vor allem um den Schutz der Sozialversicherungsbeiträge. Die Interessen der Arbeitnehmer treten demgegenüber in den Hintergrund. Diese Interessengewichtung muss man sich einmal genau anschauen und sich fragen, ob die Attraktivität des Gesetzes für Arbeitnehmer durch diese Regelung nicht massiv beschnitten wird. ({4}) Ich will auf einen weiteren Aspekt hinweisen. Mit dem § 7 d SGB IV sollen die Wertguthaben während der Ansparphase besser geschützt werden als bisher. Dafür sollen die Vermögensanlagevorschriften der § § 80 ff. SGB IV gelten. Das heißt, die Anlage in Aktien oder Aktienfonds soll auf 20 Prozent begrenzt sein. Der eine oder andere mag sagen, dass das angesichts der aktuellen Entwicklung auf den Finanzmärkten sinnvoll ist. Ich will darauf hinweisen, dass Beteiligungen am Kapitalmarkt in der mittel- und langfristigen Perspektive immer die höchsten Wertsteigerungen geboten haben. ({5}) Man sollte deswegen prüfen, ob man nicht durch flexiblere Regelungen dem Einzelinteresse gerecht werden kann, etwa dadurch, dass man sagt: Jüngere Arbeitnehmer, die noch ein langes Erwerbsleben vor sich haben, erhalten die Möglichkeit, einen höheren Aktienanteil zu wählen; sobald der Renteneintritt näher rückt, erfolgt aber eine Umschichtung in sicherere Produkte. Das Interesse des Einzelnen ist hier zu berücksichtigen. Ich sehe keinen Grund, warum wir das nicht tun sollten. ({6}) Der dritte und letzte Aspekt ist der Insolvenzschutz der Arbeitszeitkonten. Es gab sicherlich manche Arbeitszeitkonten, die nicht wirksam insolvenzgesichert waren. Man muss aber schauen, ob Sie mit dem, was Sie jetzt vorschlagen, nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, ob die Neuregelung nicht über das Ziel hinausschießt und Arbeitszeitkonten aus Arbeitgebersicht uninteressant macht. Speziell die Regelung der Haftung des Vorstandes bzw. Geschäftführers eines Unternehmens, die zwar mit einer Escape-Klausel versehen ist, aber dennoch eine Umkehr der Beweislast ist, wird aus meiner Sicht dazu führen, dass viele Mittelständler diesen Weg nicht beschreiten werden. Das kann nicht in unserem Interesse sein. Man muss sich auch fragen, ob man zwingend vorschreiben muss, dass diese Wertguthaben durch Dritte geführt werden, weil das gerade für kleinere Betriebe zu einem hohen Abfluss von Kapital führen könnte. Es gibt also viele Fragen, unter anderem auch die, warum Arbeitszeitkonten künftig nur noch in Geldform und nicht mehr als Zeitkonten geführt werden können. Eine wirkliche Begründung liefert der Gesetzentwurf auch hierfür nicht. Im Ergebnis lässt sich feststellen: Die Richtung stimmt. Wir sollten versuchen, mehr Flexibilität zu erreichen, aber auf eine Art und Weise, die in der Praxis akzeptiert wird; Herr Minister, Sie haben darauf hingewiesen. Die Menschen müssen das Gesetz verstehen und anwenden wollen. Das ist im vorliegenden Fall nicht gegeben. Wir haben aber die Chance, im Ausschuss darüber zu beraten. Wir stehen für die Beratungen gerne zur Verfügung. Ich bedanke mich. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen - wir nennen das in der Kurzform Flexi II, weil es 1998 schon ein Flexi I gab werden wir auf dem Weg, Arbeitszeitregelungen flexibler zu gestalten und Arbeitnehmern die Möglichkeit zu geben, Entscheidungen über Lebensarbeitszeiten zukünftig besser steuern zu können, weitergehen. Ich möchte mich bei Ihnen von der Linken übrigens entschuldigen: Wenn ich hier rede, erwarten Sie, dass ich auf Sie eindresche. Das kann ich heute nicht. Es geht um ein Sachthema, das wir nach vorne bringen wollen. ({0}) Deshalb halte ich mich ein bisschen zurück. Die Bedeutung flexibler Arbeitszeitregelungen hat allgemein zugenommen. Wir wissen, dass es Flexibilität in der Arbeitszeit täglich gibt: bei Gleitzeit, bei der Ansammlung von Überstunden, bei Wochenarbeitszeiten. Dazu sind längst Regelungen getroffen worden. Inzwischen gibt es aber auch Modelle und Entwürfe, die weiter gehen, zum Beispiel Tarifvereinbarungen, bei denen längerfristige Vereinbarungen über Arbeitszeitkonten getroffen werden. Zum Teil werden dort Regelungen getroffen, auch bei betrieblichen Abmachungen, die in Grauzonen landen. Deswegen müssen wir ein paar Dinge klarer regeln. Warum ein neues Gesetz? Es gibt, wie gesagt, eine Vielzahl von Modellen zur Gestaltung der Arbeitszeit unabhängig von der Frage der Gleitzeit- und Kurzzeitkonten; Metall-, Elektro- und chemische Industrie sind auf diesem Gebiet sehr fortschrittlich. Diese Modelle haben die unterschiedlichsten Zielsetzungen, zum Beispiel die Freistellung von der Arbeitszeit während der Erwerbszeit, den gleitenden Übergang in den Ruhestand oder die Bereitstellung von Qualifikationszeiten. Gerade in dieser Zeit gibt es zwei Gründe, die es notwendig machen, flexiblere Möglichkeiten zu haben, um etwas früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Dazu leisten solche Lebensarbeitszeitkonten einen Beitrag. Ein Grund ist die Gewissheit, dass wir irgendwann einmal am Ende der 20er-Jahre dieses Jahrhunderts die Rente mit 67 haben werden. ({1}) Der zweite Grund ist, dass die Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit auslaufen wird. Auch hier ist die Möglichkeit gegeben, entsprechende Vereinbarungen langfristig zu treffen und damit einen Ersatz dafür zu schaffen. Wir streben mit dem Gesetz also mehr Attraktivität von Langzeitkonten an. Der Minister hat eben darauf hingewiesen, dass es schon länger Möglichkeiten gibt, aber Unsicherheiten vorhanden sind. Wir müssen dies attraktiver gestalten. Das wird nur dann gelingen, wenn wir gemeinschaftlich einen Entwurf vorlegen, den die Menschen gut finden und verstehen. Wir müssen versuchen, die rechtlichen Grauzonen zu beseitigen. Deswegen will ich auf drei Schwerpunkte eingehen, die in diesem Gesetzentwurf vorgesehen sind. Der erste Punkt ist die Abgrenzung des Begriffs Wertguthaben. Wir müssen hier unterscheiden. Es gibt flexible Arbeitszeitregelungen, die sich im kürzeren Bereich, im Bereich der werktäglichen, wöchentlichen Arbeitszeit zum Ausgleich eignen, zum Beispiel Überstunden, die angesammelt und wieder abgebaut werden. Diese helfen also, innerhalb des Betriebsablaufs zu Lösungen zu kommen und die Arbeitszeiten flexibler zu machen. Dies ist einerseits im Sinne der Unternehmer, aber auch der Arbeitnehmer. Um diese Regelungen geht es jetzt nicht. Es geht bei Wertguthaben vor allem darum, dass längerfristig Arbeitszeit und Arbeitsentgelt angesammelt werden. Dies geschieht immer mit dem Ziel, in der Zeit, in der man sich freistellen lässt, formal im Betrieb beschäftigt zu sein und eine Entlohnung zu bekommen, auf die Sozialabgaben und Steuern gezahlt werden müssen. Das heißt, die Entlohnung wird erst in dem Moment, in dem sie ausgezahlt wird, von der Versicherung verbeitragt und der Steuer unterzogen. Vorher wird sie auf einem Konto gesammelt. Das Ziel eines Wertguthabens ist also nicht die flexible Gestaltung täglicher oder wöchentlicher Arbeitszeiten, es dient nicht dem Ausgleich von Produktions- und Arbeitszeitzyklen, gemeint sind also nicht Gleitzeit- und Kurzzeitkonten, sondern es geht um angespartes Arbeitsentgelt, das man sozusagen in einen Topf gibt und das der Freistellung von der Arbeitsleistung dient, wenn man sie denn wünscht. Es gibt zwei Möglichkeiten. Zum einen gibt es gesetzliche Möglichkeiten, die immer wichtiger werden: Anspruch auf Freistellung bei der Elternzeit und bei der Pflege naher Angehöriger oder Anspruch auf Teilzeitarbeit. Zum anderen gibt es die Möglichkeit, Freistellungen in Verträgen individuell zu vereinbaren. Auf Deutsch: Man spart Arbeitsstunden, Geld, Urlaubstage und was immer denkbar ist in einen Topf. Dieser Topf muss bis zu dem Zeitpunkt verwaltet werden, an dem man aus der Arbeit heraus will, während man formal weiter beschäftigt ist. Man bekommt dann auch ein Gehalt. In dem Moment werden erst die Sozialbeiträge und Steuern von dem Gesparten abgezogen, das in dem Topf enthalten ist. Es geht darum, dies sicherzustellen. Das ist ein Ziel dieses Gesetzes. Wertguthaben sollen in Zukunft nur noch als Arbeitsentgeltkonten geführt werden. Das bedeutet zwar immer noch, dass man Arbeitszeit einbringen kann, aber das Konto muss als Arbeitsentgeltkonto geführt werden. ({2}) Für die Arbeitgeber besteht die Pflicht, jährliche Kontoauszüge zu erstellen. Das gibt den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Sicherheit, weil sie dann wissen, was auf dem Konto ist. Es gibt auch die Möglichkeit, dies kontrollieren und prüfen zu lassen; darauf ist eben schon hingewiesen worden. Man hat einen Anspruch auf Entschädigung, wenn festgestellt wird, dass das Risiko nicht richtig abgesichert ist. Führung der Wertguthaben generell durch Dritte: Auch das ist in dem Gesetzentwurf vorgesehen. Insolvenzschutz ist der zweite zentrale Punkt. Bisher haben die Vertragsparteien selber wählen können, wie der Insolvenzschutz durchgeführt wird. Diese eher lockere und freie Möglichkeit der Vereinbarung und Gestaltung des Insolvenzschutzes hat oft dazu geführt, dass man auf Maßnahmen des Insolvenzschutzes gänzlich verzichtet hat. Das kann nicht im Sinne der Betroffenen sein. Es darf nicht sein, dass man zum Teil über 30, 40 Jahre auf Lebensarbeitszeitkonten ansammelt und am Ende feststellt, dass auf diesen Konten gar nichts mehr ist und dass man total benachteiligt ist. Das muss geregelt werden. Die Insolvenzschutzregelung ist wichtig. Der Schutz vor Insolvenz war zwar vorgeschrieben, wurde aber bei Nichteinhaltung der Regelung nicht sanktioniert. Dies ist nach dem neuen Gesetzentwurf möglich. Die Frage des Schadensersatzes habe ich gerade angesprochen. Da ich nur noch eine Minute Redezeit habe, gehe ich darauf nicht weiter ein. Ein weiterer Punkt dieses Gesetzentwurfs ist die begrenzte Möglichkeit der Mitnahme von Lebensarbeitszeitkonten. Herr Kolb, wir können gerne darüber reden. Ich bin Gott sei Dank kein Jurist, wie ich manchmal sage. An dieser Stelle muss man wahrscheinlich ein findiger Jurist sein, um eine Regelung zustande zu bringen. Ich habe die bisherigen Formulierungen im Gesetzentwurf so verstanden, dass es sehr schwer ist, da Portabilität in größerem Umfang herzustellen. Man muss während der Ausschussberatungen einmal austesten, was geht und was nicht geht. Dabei müssen Juristen Formulierungshilfen geben. Einfach zu sagen: „Da muss mehr gemacht werden“, ist zum jetzigen Zeitpunkt möglicherweise verfrüht. ({3}) Wir wollen jedenfalls erreichen, dass der Arbeitnehmer bei einem Wechsel des Arbeitgebers die Möglichkeit einer begrenzten Mitnahme seines Lebensarbeitszeitkontos hat. Es gibt die Möglichkeit, dass er mit dem neuen Arbeitgeber eine Vereinbarung über eine Übertragung trifft. Das ist natürlich der günstigste und beste Fall. Ich glaube, je attraktiver wir Lebensarbeitszeitkonten gestalten, umso mehr werden wir bei Arbeitgebern die Bereitschaft finden, solchen Übertragungen zuzustimmen. ({4}) Eine weitere Möglichkeit ist, dass dies von der Rentenversicherung treuhänderisch übernommen wird. Das hat den Nachteil, dass es nicht richtig weiterentwickelt werden kann. Darüber muss man nachdenken. Wenn ich es richtig verstanden habe, scheitert es bis jetzt an der fehlenden Arbeitgeberfunktion der Bundesagentur, die diese Funktion übernehmen müsste. Genauso gibt es bei Privaten Schwierigkeiten mit der Definition. Da müssen Juristen heran. Bisher ist das nicht gelungen. Wenn es uns im Ausschussverfahren nicht gelingt, wäre ich auch nicht unglücklich; denn ich finde, wir kommen mit diesem Gesetzentwurf schon ein Stückchen weiter. ({5}) Letztlich wäre es möglich, das Ganze wie bisher sozusagen als Störfall aufzulösen und an den Arbeitnehmer zurückzugeben. Ich glaube schon, dass Sie recht haben, Herr Minister, dass wir mit diesem Gesetzentwurf etwas auf den Weg bringen, was bei der Gestaltung von Lebensarbeitszeiten mittelfristig sicherlich eine Rolle spielen und die Freiheit der Menschen erhöhen wird. Schönen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die Fraktion Die Linke gebe ich das Wort der Kollegin Dr. Barbara Höll. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Menschen in Deutschland arbeiten sehr viel - das sagte DGB-Chef Sommer am 15. September in der Süddeutschen Zeitung. ({0}) Sie arbeiten im EU-Vergleich sogar überdurchschnittlich viel. Die tatsächliche Wochenarbeitszeit in Deutschland beträgt 41,1 Stunden. Dies ist nach einer europäischen Studie zur Arbeitszeitentwicklung ein Spitzenplatz. Der Durchschnitt in den 27 EU-Staaten beträgt 40 Stunden Arbeit pro Woche. Laut IAB leisteten jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin 2007 41,9 bezahlte Überstunden im Jahr. Das macht ein Gesamtvolumen von 1,45 Milliarden Überstunden aus. Erfahrungsgemäß fällt jedoch tatsächlich die doppelte Anzahl an Überstunden an. Nicht ausgezahlte Überstunden werden in der Regel in Gleitzeitoder Kurzzeitkonten geparkt, um kurzfristig Auftragslücken und Ähnliches zu überbrücken. Nicht zuletzt durch die Anhebung der Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung auf 67 Jahre sind Modelle zur Arbeitszeitgestaltung wichtig. Spätestens mit 40 Jahren fragt sich die Krippenerzieherin: Werde ich die Kleinen auch noch mit 60 Jahren so locker hochheben können wie jetzt? ({1}) Der Schweißer fragt sich, wie er das Dreischichtsystem bewältigen wird. ({2}) Die Altenpflegerin fragt sich, wie sie mit 60 Jahren noch die Kraft aufbringen soll, die schwere körperliche Arbeit zu bewältigen. Für viele wird aufgrund der Politik der Bundesregierung, aufgrund Ihrer Großen Koalition, nur die Option des vorzeitigen Renteneintritts, allerdings mit hohen Abschlägen bis zum Lebensende, bleiben. Das ist das Hauptproblem. ({3}) Das Volumen der im Erwerbsleben zu leistenden Arbeit hat sich erhöht. Das Arbeitstempo steigt stetig an. Lebenslanges Lernen ist eine Voraussetzung, um am Arbeitsmarkt bestehen zu können. ({4}) In der beruflichen Praxis ist das aber noch nicht angekommen. Im Gegenteil, die bisherigen Möglichkeiten zur Gestaltung der Lebensarbeitszeit waren im Wesentlichen auf die Altersteilzeitregelung beschränkt, die zum 31. Dezember 2009 ausläuft und ersatzlos wegfällt. ({5}) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ({6}) legt die Große Koalition nur eine billige Ersatzvariante für das Auslaufen der Altersteilzeitregelung vor. ({7}) Im Fokus hat sie dabei die Milderung der mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre verbundenen Probleme. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen in Zukunft Mehrarbeit leisten, die ihnen nicht unmittelbar bezahlt wird. Stattdessen sollen ihre Arbeitszeitguthaben auf ein sogenanntes Wertguthabenkonto gelegt werden. Der Gesetzentwurf sieht für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nur eine begrenzte Nutzung ihres dadurch gewährten zinslosen Darlehens an die Arbeitgeber vor. ({8}) Geregelt ist nur die Inanspruchnahme für Pflege, Kinderbetreuung, Teilzeitvereinbarung und vorzeitigen Renteneintritt. ({9}) Alles andere unterliegt der Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die ungleiche Verhandlungsmacht wird dabei aber überhaupt nicht berücksichtigt. ({10}) Den Unternehmen steht es nach dem bisherigen Text des Gesetzentwurfes außerdem frei, mit ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Inanspruchnahme von Wertguthaben auch zur Überbrückung von konjunkturellen Schwankungen oder Auftragsmängeln zu vereinbaren. ({11}) Für die Arbeitgeberseite stellen Wertguthaben einen Liquiditätsvorteil dar, da die Sozialversicherungsabgaben erst bei der Auszahlung anfallen. Sie haben es versäumt, mit diesem Gesetz die nach wie vor vorhandenen Lücken zu schließen. Die unterschiedlichen Gleit- und Arbeitszeitkonten haben Sie im Rahmen der Ausweitung des Insolvenzschutzes nicht einbezogen. Erfasst werden von Ihrem Vorschlag gerade einmal 10,2 Prozent der existierenden Arbeitszeitkonten, die sogenannten Langzeitkonten. ({12}) Kurzzeitkonten, die mit knapp 70 Prozent die große Masse ausmachen, bleiben aber außen vor. ({13}) Dadurch können im Falle einer Insolvenz Zeitguthaben in der Größenordnung von einem Monatslohn bis zu mehreren Jahresgehältern unwiederbringlich verloren gehen. Selbst die von der Koalition angedachte Möglichkeit der Mitnahme der Zeitguthaben beim Wechsel des Arbeitgebers ist keinesfalls ausgereift; denn sie ist nicht einklagbar. Zudem sind die vorgesehenen Kontrollmöglichkeiten der Insolvenzsicherung unzureichend. Die von Ihnen vorgeschlagene Möglichkeit der Übertragung auf die Deutsche Rentenversicherung Bund ist so ausgestaltet, dass es sehr schwierig ist, sie in Anspruch zu nehmen. Im Prinzip muss ein Arbeitnehmer ein Guthaben in der Größenordnung einer Jahresfreistellung angesammelt haben, um es übertragen zu können, und dann bleibt es gebunden. ({14}) In Ihrem Gesetzentwurf gehen Sie überhaupt nicht auf die Frage ein: Was geschieht, wenn Arbeitnehmer, die bei der Deutschen Rentenversicherung Bund ein Wertguthaben haben, in ALG-II-Bezug fallen? Sind sie dann gezwungen, ihr Guthaben aufzulösen, oder können sie es, wie sie vielleicht geplant haben, behalten, um eher in Rente gehen zu können? Das ist ein Problem, zu dem Sie sich auf alle Fälle klar äußern müssen. Wir denken, dass an diesem Gesetzentwurf noch viel zu tun ist, damit dabei etwas Vernünftiges herauskommt. Wir sind gern bereit, Ihnen dabei zu helfen. Danke. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde den Ansatz dieses Gesetzentwurfes richtig. Beschäftigte brauchen mehr Zeitsouveränität. Das wird übrigens dann besonders wichtig sein, wenn wir endlich ernsthaft darangehen, Frauen stärker in den Arbeitsmarkt zu integrieren. ({0}) Wir wissen, dass Frauen nicht bereit sind, zu jeden Bedingungen, die Männer geschaffen haben, in den Arbeitsmarkt einzutreten. ({1}) Deswegen brauchen wir dringend eine größere Zeitsouveränität. Flexibilität darf keine Einbahnstraße zulasten der Beschäftigten sein. ({2}) Sie haben hier einen Gesetzentwurf vorgelegt und sagen, dass Sie in diesem Bereich mehr Rechtssicherheit erreichen wollen. Ich finde, dass Sie das hinsichtlich hoher Zeitwertguthaben tatsächlich auch schaffen, während dies für niedrige Zeitwertguthaben aber eben nicht der Fall ist. Nach Ihren Vorschlägen bleiben wir also bei der heutigen Situation, nämlich einer, wenn Sie so wollen, Klassengesellschaft bei den Langzeitarbeitskonten. ({3}) Ihre Vorstellung ist, dass nur die Zeitguthaben vor einer Insolvenz geschützt sind, die einen Wert von ungefähr 7 455 Euro überschreiten und zugleich einen Ausgleichszeitraum von mindestens 27 Monaten umfassen. Warum ist das Geld unterhalb dieser Größenordnung, das die Menschen eingezahlt haben, eigentlich nicht schützenswert? ({4}) Warum ist nicht auch das Geld schützenswert, das einen Ausgleichszeitraum von 27 Monaten nicht umfasst? Glauben Sie wirklich, dass eine erquickliche Zahl von Beschäftigten dieses Risiko eingeht und sich damit abfindet, dass das Geld bis zu dieser Größenordnung nicht geschützt ist? Das muss man doch erst einmal angespart haben. Wenn die Menschen zum Beispiel für eine Fort- und Weiterbildung Geld ansparen, dann bleiben sie eigentlich immer unterhalb dieser Größenordnung. Diese Wertguthaben sind nach wie vor ungeschützt. Das können Sie eigentlich nicht wirklich vertreten wollen. Das ist keine qualitative Verbesserung im Vergleich zur Istsituation. ({5}) Das WSI geht davon aus, dass ein Viertel aller Wertguthaben weiterhin ungeschützt bleiben wird. Ich glaube, dadurch wird sich die Gruppe derjenigen, die sich an diesem Projekt beteiligen, erheblich minimieren. Das Geld derjenigen, die diese hohen Hürden überwunden haben, ist zwar im Prinzip insolvenzgeschützt, aber auch für sie wird es im Falle einer Insolvenz nicht leicht sein, dieses Geld aus dem insolventen Betrieb tatsächlich auch herauszuholen. Wenn ein Arbeitgeber dieses Geld nicht hinreichend schützt, dann gibt es keine Sanktionsmöglichkeiten gegen ihn; das hat keine Konsequenzen, außer der Tatsache, dass das Konto aufgelöst wird. ({6}) Im positiven Falle erhält die Person das Geld möglicherweise zurück, aber mit ihren Planungen hinsichtlich einer Weiterbildung, einer Auszeit für die Familie oder eines Sabbatjahrs etc. ist es vorbei. Sie hat eben Pech gehabt. ({7}) Ich will Ihnen einmal sagen, für wen dieses Konto wirklich etwas bringt - damit zeigt sich auch, für welche Gruppe Sie Politik machen -: Dieses Konto ist etwas für den Facharbeiter, der lange Zeit in einem Betrieb war - zum Beispiel bei Mercedes-Benz - und dieses Wertguthaben bzw. Zeitguthaben anlegt, um den Übergang in den Ruhestand zu gestalten. Für ihn machen Sie Politik. ({8}) Eine junge Frau, die zum Beispiel ihren Arbeitgeber mehrfach wechselt - wir alle wissen, dass sich das Arbeitsleben insoweit geändert hat, als dass man den Arbeitgeber im Regelfall häufiger wechselt -, deren Arbeitgeber nicht damit einverstanden ist, dieses Wertguthaben zu übernehmen, und die eigentlich geplant hatte, zum Beispiel die Familienphase - die sogenannte Rushhour des Lebens - ein bisschen zu entzerren, steht genauso wie vorher da. Das ist wirklich eine Politik für männliche Facharbeiter. ({9}) Wir wollen eine echte Übertragbarkeit bei Arbeitgeberwechsel, und wir wollen auch, dass die Ansprüche bei Freistellungen tatsächlich realisiert werden können. Ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen noch ein bisschen nachlegen und das noch ein wenig verbessern können. In der Sache müssen wir einfach weiter vorankommen, als dieser Gesetzentwurf vorsieht. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die SPD-Fraktion gebe ich dem Kollegen Wolfgang Grotthaus das Wort. ({0})

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der eingebrachte Gesetzentwurf ist schon alleine deswegen gut, weil wir uns schon vor der ersten Beratung sehr intensiv mit den Details beschäftigt haben. Lassen Sie mich zunächst von meinem Redekonzept abgehen. Ich möchte einiges aus meiner Sicht klarstellen, der ich ungefähr 16 Jahre mit Flexikonten in Gleitzeit gearbeitet habe. Erstens ist tatsächlich richtig, Frau Pothmer, ({0}) dass über eine Betriebsvereinbarung geregelt werden kann, dass im Falle der Überschreitung der in der Betriebsvereinbarung vorgegebenen Arbeitszeit - in unserem Fall waren es zehn Stunden - der Überhang einem Langzeitarbeitskonto zugeführt werden kann. ({1}) Das ist aber von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich. Wir können eine solche Regelung nicht in den Gesetzentwurf aufnehmen; es ist andernorts zu regeln. Die IG BCE hat das schon in Tarifverhandlungen umgesetzt und entsprechende Richtlinien festgesetzt, sodass wir die Flexibilität der Tarifvertragsparteien ruhig einfordern können. Zweitens. Ich finde es an den Haaren herbeigezogen, wenn Frau Dr. Höll fragt, wie mit den ALG-II-Empfängern verfahren wird. ({2}) Zunächst einmal erhält man ALG I. ({3}) Ich unterstelle einmal, dass ein ALG-I-Empfänger mit einer vernünftigen Ratio, der über ein entsprechendes Guthaben mit geldwerten Vorteilen verfügt und die Hoffnung hat, innerhalb der nächsten drei bis vier Mo19078 nate wieder in Arbeit zu kommen, bereit ist, zunächst auf sein Konto zurückzugreifen, um keine sozialen Einbußen zu erleiden. Sie gehen im Übrigen davon aus, dass er während des Bezugs von ALG I weiterhin nicht auf das Konto zurückgreift und insofern bewusst die sozialen Einbußen in Kauf nimmt. Das widerspricht meinen Erfahrungen mit der Reaktion von Menschen, die auf einmal weniger Geld zur Verfügung haben als während ihrer Berufstätigkeit. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Grotthaus, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber gerne.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, man kann sich auch darüber streiten, inwieweit die Ratio maßgeblichen Einfluss auf bestimmte Entscheidungen hat, die wir Politiker mit entsprechenden Mehrheiten in diesem Hause treffen. ({0}) Es kann aber durchaus sein - ich finde, das muss im Gesetzentwurf klargestellt werden -, dass jemand aus bestimmten Gründen nur bis zum 60. Lebensjahr arbeiten will oder kann und dafür ein Wertguthabenkonto angespart hat. Wenn er dann vielleicht mit 50 Jahren kein ALG I mehr bekommt und zwei oder drei Monate ALG II bezieht, aber sein Wertguthabenkonto nicht angreifen will, dann ist die Gesetzgebung in der Pflicht, für Klarheit zu sorgen: Muss das Vermögen aufgezehrt werden, oder darf man darüber verfügen und ist nicht gezwungen, es aufzubrauchen, bevor man dies möchte? Wie wir in dieser Frage mit welchen Mehrheiten entscheiden, wird sich zeigen. Aber im Gesetzentwurf muss dieser Punkt klargestellt werden. Ich finde, das ist nicht zu viel verlangt. Ich hoffe, insofern stimmen Sie mir zu.

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich gehe davon aus, dass diese Klarstellung schon an anderer Stelle im Sozialgesetzbuch erfolgt ist, nämlich dass zunächst das vorhandene Vermögen - egal in welcher Form - aufgebraucht werden muss. Von daher gehe ich davon aus, dass dies auch für die angesparte Zeit zu gelten hat. Insofern muss nicht eigens betont werden, wie in dieser Frage zu verfahren ist. Ich glaube nicht, dass mit der Benennung der im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen heute allen klar wird, welche positiven und langfristigen Auswirkungen das Gesetz auf die Zeitsouveränität von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern haben wird. Ich habe eben schon ausgeführt, dass flexible Arbeitszeiten Kennzeichen unserer modernen Arbeitswelt sind und dass viele Arbeitnehmer und Arbeitgeber dies für unverzichtbar halten. Das Flexi-Gesetz hat einige Unwägbarkeiten aufgewiesen. Es gab Unsicherheiten beim Ansparen von Langzeitarbeitskonten. Der vorgelegte Gesetzentwurf sieht vor, dass die Langzeitarbeitskonten insolvenzgeschützt sein müssen. Es besteht nun eine Sanktionsmöglichkeit, wenn der Arbeitgeber den Insolvenzschutz nicht gewährleistet. Es ist gesetzlich geregelt, dass es zu einer externen Prüfung kommt, dass also außerhalb des Betriebes Stehende prüfen, ob der Insolvenzschutz gegeben ist. Eine weitere Absicherung der durch den Arbeitnehmer erarbeiteten Zeit besteht darin, dass eine Rückabwicklung des Langzeitarbeitskontos möglich wird, wenn der Arbeitgeber seinen Verpflichtungen zum Insolvenzschutz nicht nachgekommen ist. Das bedeutet, dass hier im Gegensatz zu vorher keine Verluste für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entstehen. Des Weiteren hat der Arbeitnehmer ein einklagbares Recht auf Schadenersatz, wenn etwas mit seinem Arbeitszeitkonto passiert, was nicht der Rechtslage entspricht. Auch dies ist bislang rechtlich nicht abgesichert. Die Portabilität wird ermöglicht. Für uns ist von großer Wichtigkeit, dass die Sozialversicherungsbeiträge auf das angesparte Zeit- oder Geldguthaben zu zahlen sind. Dies bedeutet, dass es in Zukunft eine größere Sicherheit in Bezug auf die Rente geben wird. ({0}) Ich sage aber auch: Nichts ist so gut, als dass es nicht verbessert werden kann. Wir reklamieren zumindest für uns das Struck’sche Gesetz. Wir fragen, ob das Wertguthaben erst ab dem Dreifachen der monatlichen Bezugsgröße abzusichern ist. Wir können uns vorstellen, dass der im Gesetzentwurf genannte Zeitraum von 27 Monaten verkürzt wird. ({1}) Wir können uns zudem vorstellen, dass der für Westdeutschland geltende Wert in Höhe von 29 800 Euro für die Portabilität eines Wertguthabens reduziert wird, sodass wir Ihrem Petitum, hier flexibler zu sein, entgegenkommen könnten. ({2}) - Sehen Sie, Frau Pothmer, dann fällt es Ihnen leichter, in der zweiten und dritten Lesung dem Gesetzentwurf vollen Herzens zuzustimmen. Wir begrüßen, dass im Gesetzentwurf klar festgeschrieben wird, für welche Zwecke das Wertguthaben genutzt werden kann. Wir sind der Auffassung, dass die darüber hinausgehenden Zwecke, die nicht im Gesetz festgeschrieben sind, durch die Tarifvertragsparteien geregelt werden können. Wir wissen, dass dieses Gesetz erst spät greifen wird. Wir brauchen eine lange Anlaufzeit, um den Menschen zu sagen, was wir damit erreichen wollen. Deshalb müssen wir nach der zweiten und dritten Lesung für dieses Gesetz werben, und zwar nicht nur bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sondern auch bei den Arbeitgeberverbänden, den Gewerkschaften, den Betriebsräten und den Arbeitgebern selber, sodass die Menschen deutlich sehen: Die Flexibilität wird erhöht.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege!

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Ende. - Die Möglichkeit zu haben, kurzfristig über ein Zeitguthaben zu verfügen und es zu nutzen, wenn familiäre Bedürfnisse es erforderlich machen, ist ebenfalls wichtig. ({0}) Das Gesetz ist gut. Ich gehe davon aus, dass wir nach einer langen Diskussion in diesem Jahr den Gesetzentwurf gemeinsam verabschieden werden. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Peter Flosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003528, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße die große Harmonie, die bei diesem Gesetz herrscht, ({0}) und die Bestätigung von allen Seiten, dass es sich um ein sehr wichtiges Gesetz handelt. Ich pflichte Ihnen bei, Herr Minister, dass es sich um eines der modernsten Gesetze dieser Zeit handelt. Ich glaube, dass uns dieses Thema noch viele Jahre begleiten wird. In diesem Gesetz ist sicherlich nicht alles geregelt, was wir uns derzeit wünschen. Aber Lebensarbeitszeitkonten stellen für den Arbeitnehmer ein besonders flexibles Instrument dar, sich während seines Arbeitslebens seine Wünsche zu erfüllen. Wir haben diesen Gesetzentwurf erarbeitet, weil wir all die Jahre einen Schwachpunkt gesehen haben: den Insolvenzschutz der Arbeitnehmer. Das wichtigste Anliegen war, dies im Gesetzentwurf zu regeln; denn bisher war im Insolvenzfall das Vermögen dem Arbeitgeber zugeordnet. Der Arbeitnehmer verlor im Grunde sein gesamtes Vermögen. Wir haben in der Koalition mit dieser Regierungsvorlage erreicht, dass der Arbeitnehmer geschützt ist. Ich möchte ein anderes Thema ansprechen. Laut aktuellen Untersuchungen verbinden 74 Prozent der Arbeitnehmer das Thema „Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand“ mit diesem Gesetz. Weil dieses Thema ein wichtiges Thema für die Arbeitnehmer ist, auch wegen der Rente mit 67, die wir mit dem Jahr 2029 erreichen, führen wir diese Debatte. Wir als Koalition können sagen: Wir haben nicht nur die Rente mit 67 eingeführt, weil wir langfristig orientiert sind, sondern wir wollen auch bei der Frage langfristig orientiert sein, wo flexible Übergänge möglich sind. ({1}) Wenn also der Arbeitnehmer auf Arbeitslohn verzichtet, ist es für ihn natürlich besonders wichtig, zu wissen, was seinem Lebensarbeitszeitkonto gutgeschrieben wird. Hier unterstützen wir den Arbeitnehmer doppelt: Erstens werden bekanntlich die Sozialversicherungsbeiträge erst dann erhoben, wenn aus dem Guthaben entnommen wird und das Geld wirklich im Portemonnaie des Arbeitnehmers landet. Das gilt ebenso für die Besteuerung. Erst wenn das Geld auf seinem Konto landet, erfolgt die Besteuerung. Das heißt also: Mit diesem Zeitkonto kann sich der Arbeitnehmer ein Stück Flexibilität in seiner Lebensplanung erfüllen. Die Koalitionsparteien wollen die Arbeitnehmer mit diesen Rahmenbedingungen unterstützen. Zweitens möchte ich auf die steuerliche Seite eingehen; denn ich bin Mitglied des Finanzausschusses, und wir werden dieses Thema auch im Jahressteuergesetz 2009 parallel beraten. Auch wenn der Arbeitnehmer den Betrieb verlässt, zu einem neuen Arbeitgeber wechselt und der Arbeitgeber das Guthaben fortführt, wird das Guthaben nicht versteuert. Ist der Arbeitnehmer nicht beschäftigt oder macht er sich beispielsweise selbstständig, dann wird das Guthaben auf die Deutsche Rentenversicherung Bund übertragen. Auch hier gilt genau das Gleiche: Die Besteuerung setzt erst ein, wenn das Guthaben abgerufen wird. Es ist natürlich fraglich - das ist auch von Vorrednern angesprochen worden -, ob es richtig ist, dass dieses Guthaben auf Dauer bei der Rentenversicherung Bund verbleiben soll, und ob es dort gut angelegt ist. Warum muss ein Arbeitnehmer, wenn er wieder in Arbeit ist, ein neues Lebensarbeitszeitkonto eröffnen? Das sollte im Rahmen der weiteren Beratungen überprüft werden. ({2}) Ein zentrales Thema für den Arbeitnehmer ist die Sicherheit und die Qualität der Anlage. Die Frage wird natürlich gestellt, wie das Geld angelegt wird und wie sicher und ertragreich die Anlage ist. ({3}) Wichtig ist, dass das Guthaben vom Vermögen des Arbeitgebers getrennt ist. Dafür haben wir normalerweise irgendeinen Treuhänder oder einen sonstigen Dritten, der das Guthaben verwaltet. Ich finde es allerdings bedenklich, wie die Anlagevorschriften gewählt worden sind und welche Begrenzungen vorgenommen worden sind. Nehmen wir als Partner zum Beispiel die Versicherungsgesellschaften, die ohnehin einer scharfen Kontrolle durch das Versicherungsaufsichtsgesetz und nun auch den schärferen Anlagevorschriften unterliegen sollen. Auch die Versicherungsgesellschaften, die Garantien geben, unterliegen dann schärferen Anlagevorschriften als bisher. Versicherungsgesellschaften können bekanntlich bis zu 30 Prozent ihrer Anlagen in Aktien halten. Hier werden sie aber auf 20 Prozent begrenzt. Das hat natürlich nichts mit spekulativen Anlagen zu tun. Wenn wir bedenken, dass viele Arbeitnehmer eher langfristig orientiert sind, dann kommt es darauf an, dass wir eine vernünftige Vermögensstreuung haben. Gerade in diesem Bereich gehören, wenn man vernünftige Ergebnisse erzielen will, auch konservative, breit gestreute Aktienanlagen dazu. Es handelt sich hier nicht um kurzfristige, spekulative Anlagen. Denken wir nur einmal an die Riester-Rente. Selbst die Riester-Rente ermöglicht es, in Aktienfonds zu investieren. Deswegen sollten wir hier nicht zu enge Maßstäbe anlegen. ({4}) Ich komme zum Schluss. Das Gesetz bringt deutliche Verbesserungen für die Arbeitnehmer. Es konkretisiert die Pflichten zur Führung von Arbeitszeitkonten und verbessert den Insolvenzschutz. Wir tun etwas für die Arbeitnehmer und sind in der Koalition mit diesem Gesetz auf dem richtigen Weg. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/10289 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg Rohde, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Altersvorsorge für Geringverdiener attraktiv gestalten - zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Riesterrente auf den Prüfstand stellen - Drucksachen 16/7177, 16/8495, 16/10356 Berichterstattung: Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPD-Fraktion. ({1})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen von der FDP, mit Ihrem Antrag, auf den ich jetzt eingehen möchte, wollen Sie die Altersvorsorge für Geringverdiener attraktiv gestalten. ({0}) Ob Sie damit allerdings das Alter für Geringverdiener attraktiv gestalten, bezweifle ich. Warum, werde ich Ihnen gern erklären. Sie möchten erstens, dass Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung mehr hinzuverdienen können. Sie wollen die Anrechnungsregelungen an die des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende angleichen. Im Ausschuss begründeten Sie Ihren Antrag mit den Worten: So senken wir Altersarmut. Liebe Kollegen von der FDP, so einfach ist das leider nicht. Sie packen das Problem der Altersarmut nämlich nicht an der Wurzel, sondern doktern an den Symptomen herum. Wir von der SPD-Fraktion ({1}) machen das anders. Wir setzen uns dafür ein, dass Altersarmut erst gar nicht entsteht. ({2}) Wer gute Arbeit hat und einen fairen Lohn erhält, dem wird die Grundsicherung im Alter als letztes soziales Auffangnetz erspart bleiben. Deshalb kämpfen wir entschlossen für gute Arbeit und für Mindestlöhne. ({3}) Deshalb ist es uns so wichtig, dass ältere Menschen nicht vorzeitig aus dem Arbeitsprozess aussortiert und zum alten Eisen geworfen werden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Hiller-Ohm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte jetzt gern fortfahren. ({0}) - Sie haben nachher noch Gelegenheit, sich zu äußern. Deshalb erarbeiten wir Vorschläge für flexible Übergänge aus dem Erwerbsleben in die Rente. Dazu gehören die Fortführung der von der Bundesagentur geförderten Altersteilzeit oder die Weiterentwicklung der Teilrente. Einen wichtigen Beitrag leisten auch der eben diskutierte Insolvenzschutz für Arbeitszeitkonten und die Möglichkeit, solche Konten mitzunehmen. Schade, liebe FDP, dass Sie sich gerade beim Mindestlohn so hartnäckig verweigern. Hier könnten Sie tatGabriele Hiller-Ohm sächlich etwas gegen Altersarmut und für ein besseres Leben vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tun. ({1}) Aber was machen Sie? ({2}) Sie wollen Rentnerinnen und Rentner zur Aufbesserung ihrer Grundsicherung im Alter weiter zur Arbeit schicken nach dem Motto: Verdient euch etwas dazu! Wer kaputt ist und dies im Alter nicht mehr kann, hat eben Pech gehabt. ({3}) Es ist selbstverständlich nicht verboten, im Rentenalter zu arbeiten. Auch wenn man Grundsicherung erhält, ist dies möglich. Aktuell sind etwa 176 Euro anrechnungsfrei. Erwerbsfähige Menschen im Arbeitslosengeld-II-Bezug haben höhere Hinzuverdienstmöglichkeiten, und das ist richtig so; denn sie müssen sich den Herausforderungen des Erwerbslebens noch stellen. Ich komme zur zweiten Forderung in Ihrem Antrag. Sie schlagen vor, die Anrechnung von Einkommen aus privater und betrieblicher Altersvorsorge entsprechend den Regeln für die Anrechnung von Erwerbseinkommen zu behandeln. ({4}) Mit anderen Worten: Wer fleißig privat vorsorgt, soll im Alter belohnt werden. ({5}) Dies müsse auch für die Menschen gelten, argumentieren Sie, die sich keine auskömmliche Altersrente aufbauen könnten und auf staatliche Leistungen im Alter angewiesen seien. Sie sollen einen Teil ihrer RiesterRente behalten dürfen. Das scheint auf den ersten Blick gerecht zu sein. (Irmingard Schewe-Gerigk ({6}): Aber nur auf den ersten! Die meisten Menschen mit kleinem Einkommen oder gebrochener Erwerbsbiografie müssen sich die Raten für ihre private Altersvorsorge oft mühevoll vom Mund absparen, ({7}) während Nichtsparer ihr Geld in den Konsum stecken können. Am Ende erhalten beide die gleiche staatliche Altersrente. ({8}) Im Mai haben wir eine Expertenanhörung zu diesem Thema durchgeführt. Bei dieser Anhörung sind gute Gründe genannt worden, warum wir bei der heutigen Regelung bleiben sollten. Unser Sozialsystem beruht auf dem sogenannten Nachranggrundsatz. Er sieht vor, dass alle Anstrengungen zu unternehmen sind, den Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten, bevor Sozialhilfeleistungen in Anspruch genommen werden können. Die Grundsicherung ist eine Sozialhilfeleistung. Deshalb muss bis auf einen kleinen Schonbehalt alles an privatem Vermögen aufgebraucht werden, bevor Grundsicherung in Anspruch genommen werden kann. Alle erworbenen Ansprüche aus vorgelagerten sozialen Sicherungssystemen werden einbezogen. Dazu zählt natürlich auch die gesetzliche Rentenversicherung. Für nicht begründbar halten wir, warum die gesetzliche Rente anders als die private behandelt werden soll. Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung sollen voll auf die Grundsicherung angerechnet werden. Die private Riester-Rente hingegen soll teilweise anrechnungsfrei bleiben. Aus Gleichbehandlungsgründen, aber auch, um eine Diskriminierung der gesetzlichen Rentenversicherung zu vermeiden, müssten dann gesetzliche Renten ebenfalls in gleicher Weise anrechnungsfrei bleiben; das wäre logisch. Damit stiege aber die Zahl der begünstigten Personen der Grundsicherung im Alter stark an - mit den entsprechenden finanziellen Folgen. Als schwierig sehe ich darüber hinaus die unterschiedliche Verbreitung von privater und betrieblicher Rente an. Leider greift die individuelle Altersvorsorge bei Frauen und in den neuen Bundesländern immer noch weniger. Hier gilt es, die Benachteiligung dieser Personen zu beseitigen. Liebe Kollegen von der FDP, ich komme zu Ihrer dritten Forderung. Sie wollen das liberale Bürgergeld aus dem Jahre 2005 wieder aufwärmen und setzen damit noch eines drauf. Mit Ihrem sogenannten Bürgergeld sehen Sie vor, die Freibeträge nochmals großzügig anzuheben. Diese Freibeträge sollen außerdem für das Zwölfte und Zweite Sozialgesetzbuch gleichermaßen gelten. Wie hoch das Finanzierungsvolumen sein wird und wie Sie es aufbringen wollen, dazu schwiegen Sie damals und schweigen Sie heute. ({9}) Von Ihnen werden lediglich erhebliche Minderausgaben durch den vermeintlichen Wegfall ganzer Behörden unterstellt. Das ist keine seriöse Rechnung. ({10}) Meine Damen und Herren, ich habe aufgezeigt, warum der FDP-Antrag für die Altersvorsorge von Geringverdienern keinerlei wegweisende Ideen liefert. Wir lehnen den Antrag deshalb ab. Dem Antrag der Linken wird es nicht besser ergehen. Meine Kollegin Lydia Westrich wird dies für die SPD-Fraktion begründen. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben in Ihrer Rede davon gesprochen, der beste Schutz vor Altersarmut sei die Einführung von Mindestlöhnen. Meine Zwischen19082 frage haben Sie nicht zugelassen. Weil Sie ja auf seriöse Rechnungen wert legen, wollte ich Sie nur darauf aufmerksam machen, dass derjenige, der 40 Jahre lang für einen Mindestlohn von 7,50 Euro arbeitete, am Ende einen Rentenanspruch von 540 Euro hätte; wer 45 Jahre lang auf dieser Basis gearbeitet hätte, bekäme 603 Euro. Das ist deutlich weniger als die Grundsicherung im Alter und bedeutet nach unserem Verständnis also Altersarmut. ({0}) - Ich wollte diese Frage an die SPD richten: Ist Ihre neue Messlatte für einen flächendeckenden Mindestlohn jetzt nicht mehr 7,50 Euro, sondern, was sich rechnerisch eher ergäbe, 9 Euro? Vielleicht können Sie mir das in Ihrer Antwort auf meine Kurzintervention schnell sagen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, bitte.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich stimme Ihnen zu: Der Mindestlohn allein wird das Problem nicht lösen. Er ist aber ein Mittel auf dem Weg zu einer Problemlösung. Wir brauchen nicht nur Mindestlöhne, sondern gute Löhne. ({0}) Der Mindestlohn ist die untere Absicherung und soll nicht das Ende der Fahnenstange sein. Aber wir hoffen und kämpfen dafür, dass die Tarifparteien sich auf gute Lohnabschlüsse einigen. Dann ginge es den Menschen besser; das wollen wir doch. Der Mindestlohn ist die untere Auffanglinie, an der Schluss sein muss. Es gibt ja heute Löhne, die noch weit unter 7,50 Euro liegen. Was ist denn mit diesen Menschen? Diese werden niemals eine Chance haben, im Alter aus der Grundsicherung herauszukommen. Das wird nur mit guten Löhnen für gute Arbeit gelingen. Deshalb kämpfen wir darum und setzen uns dafür so sehr ein. Ich hoffe, dass auch Sie noch einmal in sich gehen und uns in dieser für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland wichtigen Frage unterstützen. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Jörg Rohde, FDPFraktion. ({0})

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Hiller-Ohm, Sie haben knapp das Thema verfehlt. Statt hier über ein Problem zu reden, das Millionen von Menschen haben, sind Sie ausgewichen und haben keine Antwort gegeben. ({0}) Seit zwei Jahrzehnten ist klar, dass die gesetzliche umlagefinanzierte Rente auf Basis des Generationenvertrages ein Auslaufmodell ist. ({1}) 2001 hat man mit Einführung der Riester-Rente erstmals darauf reagiert. ({2}) Die Einführung der Riester-Rente war ein erster Schritt in die richtige Richtung: weg von der alleinigen Alterssicherung durch die gesetzliche Rente hin zu einer Dreisäulenabsicherung mit der Säule gesetzliche Rente zur Sicherung des Grundbedarfs und den Säulen private und betriebliche Vorsorge zur Absicherung des Lebensstandards. ({3}) Leider sind sowohl die rot-grüne Vorgängerregierung als auch die aktuelle Große Koalition nicht lange auf diesem Weg geblieben. Die betriebliche und private Vorsorge haben längst nicht das Niveau erreicht, das nötig wäre, und die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung verschlingt nach wie vor Steuermittel in gigantischem Umfang. Alles, was in den vergangenen Jahren an vermeintlichen Reformen folgte, war nichts anderes als die Verschlimmbesserei einer nicht mehr zeitgemäßen Form der Alterssicherung. ({4}) Auch bei der Riester-Rente haben Sie sich große Fehler erlaubt. Einen ganz entscheidenden Systemfehler der Riester-Rente möchten wir von der FDP mit unserem heute zur Schlussabstimmung stehenden Antrag korrigieren. Leider haben alle Fraktionen des Bundestages schon in den Ausschussberatungen angekündigt, gegen unseren Antrag und auch gegen die Meinung der überwiegenden Zahl der Experten in der Anhörung zu unserem Antrag zu stimmen. ({5}) Rot und Grün wollen uns nicht folgen, weil sie den folgenreichen Konstruktionsfehler der Riester-Rente nicht eingestehen wollen. CDU und CSU schweigen trotz besseres Wissen vieler Kollegen aus Gründen der Koalitionsdisziplin, und den Damen und Herren von Linksaußen geht unser Antrag nicht weit genug. ({6}) Sachliche Argumente hat leider niemand von Ihnen. Der Grundgedanke der Riester-Rente ist folgender: Wer privat zusätzlich vorsorgt, um später im Alter einen höheren Lebensstandard zu haben und nicht auf staatliche Unterstützung angewiesen zu sein, wird dafür vom Staat mit einem nicht unerheblichen Zuschuss gefördert. So weit, so gut, meine Damen und Herren. Nun hat sich jedoch herausgestellt, dass eine Gruppe von Rentnern nicht in den Genuss einer Riester-Rente kommt, selbst wenn sie einmal Jahrzehnte lang in einen Riester-Vertrag eingezahlt haben werden: Denn bei allen Rentnerinnen und Rentnern, deren gesetzliche Rente so gering ist, dass sie zusätzlich auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind, wird der Riester-Renten-Anspruch uneingeschränkt auf die Grundsicherung angerechnet. Die Riester-Rente dieser Menschen wird komplett vom Grundsicherungsträger vereinnahmt. Sie erhalten keinen einzigen Cent mehr als alle anderen Rentner, die nicht privat vorgesorgt haben. Werte Kolleginnen und Kollegen hier im Deutschen Bundestag, das ist eine Sauerei ungeheuren Ausmaßes. ({7}) Gerade die Menschen, die aus welchen Gründen auch immer über ein sehr niedriges Einkommen verfügen und dennoch etwas fürs Alter zurücklegen, werden rückwirkend dafür bestraft, indem man ihre Riester-Rente zu 100 Prozent vom Grundsicherungsanspruch abzieht. Dieses Signal ist verheerend. Es zerstört jedes Vertrauen in die staatlich geforderte und geförderte Riester-Rente. Gerade für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen ist nämlich angesichts des sinkenden Rentenniveaus bei der gesetzlichen Rente private und betriebliche Vorsorge unerlässlich. All diesen Menschen sagen Sie von CDU, CSU, SPD und Grünen heute: Wenn ihr keine Aussicht mehr auf eine Rente über Grundsicherungsniveau habt, braucht ihr auch nicht privat vorzusorgen; denn der Sozialhilfeträger kassiert es eh ein; und wenn ihr schon gespart habt, dann kündigt einfach euren Vertrag und verzichtet auf die bis zu 92 Prozent staatlichen Zuschüsse. Dann bleiben euch wenigstens die paar Euro, die ihr sonst selbst eingezahlt habt. - Das ist die Botschaft an die Menschen, die Sie von Union, SPD und Grünen heute aussenden. ({8}) Die FDP hat eine einfachere Botschaft: Die Formel „Wer spart, muss mehr haben als der, der nicht spart“ muss gelten. ({9}) Wer die Menschen zu privater und betrieblicher Vorsorge ermuntern möchte, muss auch garantieren, dass sich das Engerschnallen des Gürtels später auszahlt. ({10}) Das ist auch der grundlegende Unterschied, Frau Hiller-Ohm: Die freiwillige Einzahlung in die RiesterRente muss geschützt werden. Die gesetzliche Verpflichtung zur gesetzlichen Rentenversicherung ist allerdings gegeben, und insofern ist es ein klarer Unterschied zwischen freiwilliger Leistung und verpflichtender Leistung. Deswegen fordern wir eine unbürokratische Freibetragsregelung für Betriebs- und Riester-Rentner, die auf Grundsicherung angewiesen sind. Der Vorschlag der FDP lautet: Jeder Bezieher von Grundsicherung soll zusätzlich bis zu einer Höhe von 100 Euro monatlich anrechnungsfrei eine Betriebs- oder Riester-Rente beziehen können. ({11}) Darüber hinausgehende Ansprüche bis 800 Euro monatlich bleiben zu 20 Prozent und Ansprüche bis 1 200 Euro zu 10 Prozent anrechnungsfrei. Liebe Kolleginnen und Kollegen im Bundestag, dieser Vorschlag der FDP ist nicht nur sozialpolitisch dringend zur Umsetzung empfohlen, sondern auch ordnungspolitisch. ({12}) Ich weiß, dass dies den Kolleginnen und Kollegen links der Mitte zumeist egal ist, aber wenigstens von der Union hätte ich mir etwas Unterstützung gewünscht. Denn es gibt keinen Grund dafür, dass die Grenzen bei der Grundsicherung im Alter enger gesteckt sein sollen als beispielsweise bei ALG-II-Empfängern, also arbeitslosen Erwerbsfähigen. Wir von der FDP wollen, dass für alle Menschen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, gilt: Tragt dazu bei, diesen Zustand zu überwinden. ({13}) Wir honorieren dies, indem wir euch Hinzuverdienste zumindest teilweise belassen. ({14}) Unterschätzen Sie nicht die Zahl derer, auf die in den nächsten Jahren mein gerade skizziertes Szenario zutreffen wird. Denn glücklicherweise sorgen immer mehr Menschen zusätzlich für das Alter vor. Darunter sind auch viele Geringverdiener und Menschen mit unterbrochenen Erwerbsbiografien. All diesen Menschen sagen Sie wahrscheinlich heute ins Gesicht: Du machst dich zwar für die Riester-Rente krumm, aber profitieren wirst du davon nicht. In diesem Haus wird völlig zu Recht häufig über das Thema Altersarmut geredet. Heute können Sie mit einem einfachen Ja zu unserem Antrag einen großen Beitrag gegen die in einigen Jahren drohende Altersarmut vieler Menschen leisten. Nehmen Sie diese Chance wahr, meine Damen und Herren! Stimmen Sie dem Antrag der FDP zu! Zum Antrag der Linken. Wir haben genügend Daten, die belegen, dass wir die Riester-Rente nicht auf den Prüfstand stellen müssen. ({15}) Deswegen können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({16})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich gebe dem Kollegen Peter Weiß von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland interessiert vor allen Dingen eine Frage: ({0}) Wie soll ich mich verhalten, damit Altersarmut für mich eines Tages tatsächlich vermieden wird und ein Fremdwort bleibt? - Auf diese Frage wollen sie eine ehrliche, konkrete Antwort haben. ({1}) Diese Antwort kann nur heißen: Zusätzliche Altersvorsorge zur Ergänzung der gesetzlichen Rente schützt am besten gegen Altersarmut. ({2}) Wenn wir als Parlamentarier gegenüber den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Land, die diese ernsthafte Frage stellen, verantwortlich handeln wollen, dann sollten wir alles vermeiden, was diese Antwort verunklart und die Menschen verunsichert. Wir sollten ihnen eine klare und verlässliche Antwort geben, und die heißt eben: Zusätzliche Altersvorsorge ist der beste Weg, um sich vor Altersarmut zu schützen. - Auf diesem Wege sollten sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland nicht verunsichern lassen. ({3}) Die Umstellung der deutschen Altersvorsorge auf ein Dreisäulensystem aus gesetzlicher Rente - diese wird bedeutsam bleiben, und Sie, Herr Rohde, sollten sie nicht kaputtreden, wie Sie es gerade eben gemacht haben -, ({4}) aus betrieblicher Altersvorsorge und aus privater kapitalgedeckter Vorsorge ist notwendig, um den demografischen Wandel zu bewältigen und um mehr Sicherheit im Alter zu gewährleisten. Übrigens: Obwohl es einige Jahre gebraucht hat, ist diese Botschaft bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland mittlerweile angekommen. Denn sie handeln entsprechend. ({5}) Die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich eine Betriebsrentenanwartschaft erarbeiten, steigt kontinuierlich - heute sind es bereits über 65 Prozent; wir wollen selbstverständlich, dass es noch mehr werden -, und gerade in den letzten Jahren ist die Anzahl der Neuabschlüsse sogenannter Riester-Renten-Verträge - der Kollege Riester ist extra anwesend, damit er wieder einmal seinen Namen in einer Debatte hören darf ({6}) sprunghaft angestiegen. - Ich bitte um Entschuldigung für die kleine flapsige Bemerkung. - Bis Mitte dieses Jahres sind jedenfalls 11,6 Millionen Riester-Renten-Verträge abgeschlossen worden. Es ist gerade ein Markenzeichen der Großen Koalition, dass wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei dieser notwendigen zusätzlichen Altersvorsorge nicht alleine lassen, sondern sie nach Kräften unterstützen wollen. ({7}) Ich darf erinnern: Wir haben in dieser Legislaturperiode bereits beschlossen, die Förderung der Riester-RentenVerträge deutlich zu verbessern. Ab diesem Jahr gibt es 300 Euro pro Kind als staatlichen Zuschuss für einen Riester-Renten-Vertrag. Wir haben neu eingeführt, dass unter 25-Jährige bei einem Erstabschluss 200 Euro Zuschuss vom Staat zusätzlich bekommen. Wir haben eingeführt, dass zukünftig auch der Erwerb privat genutzten Wohneigentums als Form der Altersvorsorge von uns zusätzlich gefördert wird. Wir haben die Entgeltumwandlung auf Dauer steuer- und sozialversicherungsabgabenfrei gestellt. ({8}) Wir unterstützen also quasi mit indirekter Subvention den Aufbau betrieblicher Altersvorsorge. Die klare Botschaft an alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land lautet: Nutzen Sie bitte diese Chancen zusätzlicher Altersvorsorge! Verschenken Sie nicht das Geld, das wir Ihnen seitens des Staates zur Verfügung stellen! Wer vorsorgt, ist auf der sicheren Seite. ({9}) Umso unverständlicher ist, dass leider in einzelnen Medienberichten ({10}) und jetzt auch noch in zwei Anträgen - von der Linken und von der FDP - ausgerechnet das Erfolgsmodell der privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge schlechtgeredet werden soll. Das ist der eigentliche Inhalt dieser Anträge, und es ist auch der eigentliche Grund, warum wir als Koalitionsfraktion beiden Anträgen nicht zustimmen werden. ({11}) Wer das Motto ausgibt: „Lasst das mit der privaten Vorsorge bleiben, es nützt eh nichts“, der handelt nicht nur fahrlässig und unverantwortlich, er führt die Menschen schlichtweg hinters Licht. ({12}) Peter Weiß ({13}) Er treibt zahlreiche Menschen geradezu erst recht in die Altersarmut. Solch unverantwortliches Reden muss gestoppt werden. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rohde?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich.

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. - Sie haben recht: Sie haben zwei Anträge vorliegen, von den Linken und von der FDP-Fraktion. Sie haben aber vergessen, zu erwähnen - da bitte ich Sie um Bestätigung -, dass unserem Antrag eine Anfrage an die Bundesregierung zugrunde liegt, die Zahlen zum Vorschein gebracht hat, welche uns zum Handeln veranlasst haben. Wir sehen ein großes Problem für ungefähr ein Drittel der RiesterSparer. Aufgrund der Aussagen der Bundesregierung sind 2 Millionen bis 4 Millionen Menschen betroffen, weil sie ein sehr, sehr geringes Einkommen haben und deswegen möglicherweise in die Personengruppe fallen, ({0}) die, sage ich einmal, enteignet werden könnten. Stimmen Sie mir zu, dass erstens die Zahlen der Bundesregierung das belegen - die Zahlen sind zwar schon ein Jahr alt, und wir beraten schon einige Zeit darüber - und dass zweitens bisher in der Debatte weder von der SPD noch von Ihnen ein Beitrag zur Lösung dieses Problems angedeutet wurde?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Rohde, es ist richtig, dass es in der Wissenschaft und in den politischen Parteien und Gruppierungen verschiedene Vorschläge gibt, die aufgrund des sinkenden Niveaus der gesetzlichen Rente auf eine zusätzliche Sicherung für künftige Generationen von Rentnerinnen und Rentnern abzielen. Es gibt dazu noch keinen Konsens. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir auf diesem Weg in den kommenden Jahren zusätzliche Sicherungsklauseln in unser Rentenrecht einbauen werden. Die Frage ist, wie sie aussehen werden. Aber die entscheidende Frage ist doch die: Welche Botschaft geben wir heute einem jungen Menschen? Ein junger Mensch, der heute anfängt zu arbeiten, vielleicht im Niedriglohnsektor, plant doch nicht, zeit seines Lebens, bis zum 67. Lebensjahr, im Niedriglohnsektor zu bleiben. Ein junger Mensch will doch, genauso wie die jungen Menschen in der Vergangenheit, beruflich Karriere machen, mehr verdienen, zu einem besseren Verdienst kommen! ({0}) Deswegen ist die Botschaft an ihn: Sorge ab dem ersten Euro Verdienst zusätzlich für dein Alter vor; denn dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass du mit der Rente aufgrund deiner beruflichen Karriere und mit der zusätzlichen Altersvorsorge mehr bekommst als nur die Grundsicherung. Das ist doch die Botschaft, die wir aussenden müssen. ({1}) Wir brauchen keine neuen Berichte, wie sie von den Linken gefordert werden. Die Linke stellt Anträge, neue Berichte zu erstellen, doch nur deswegen, um die Menschen zu verunsichern. Die Bundesregierung wird im November den Rentenversicherungsbericht 2008 und den Alterssicherungsbericht 2008 vorlegen, der uns über die gesamte Breite der Alterssicherung Auskunft geben wird. Dann wird jeder nachlesen können, dass das Dreisäulenmodell funktioniert. Wir brauchen daher keine zusätzlichen Berichte. Es wäre besser, alle Abgeordnetenkollegen und die Öffentlichkeit würden die vorhandenen Berichte gründlich lesen und studieren. Sie würden dann zu dem Schluss kommen, dass das Dreisäulenmodell gegen die Altersarmut hilft. ({2}) Ich will konkrete Zahlen nennen. Deutsche Bank Research hat kürzlich eine Studie vorgelegt, die Folgendes aussagt: Bezieher von Durchschnittseinkommen - also Menschen, die ihr Leben lang ein Durchschnittseinkommen beziehen; das sind zurzeit 30 000 Euro jährlich ({3}) haben nach 20 Jahren, in denen sie Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung und Beiträge in einen Riester-Renten-Sparvertrag eingezahlt haben, eine Altersvorsorge aufgebaut, die über dem Grundsicherungsniveau liegt. Das ist doch eine tolle Leistung. Diejenigen, die nur die Hälfte des Durchschnittseinkommens ein Leben lang verdienen, erhalten nach immerhin 36 Jahren eine Leistung aus gesetzlicher Rente und Riester-Rente, die oberhalb des Grundsicherungsniveaus liegt. ({4}) Angesichts dieser Zahlen muss eigentlich jeder konsequent sagen: Jawohl, ich vertraue darauf, dass ich es aus eigener Leistung mit der gesetzlichen Rente und der Riester-Rente schaffen kann, nicht auf Grundsicherung angewiesen zu sein, sondern ein Niveau zu erreichen, das mich vor Altersarmut schützt. ({5}) Weil das in der Altersarmutsdebatte totgeschwiegen wird, möchte ich daran erinnern, dass Konrad Adenauer 1957 mit der Einführung der dynamischen Rente eine der größten sozialpolitischen Reformen, wenn nicht so19086 Peter Weiß ({6}) gar die größte sozialpolitische Reform in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands geschaffen hat. Bis 1957 war es so, dass über 70 Prozent der Rentnerinnen und Rentner in Deutschland von ihrer Rente nicht leben konnten und beim Staat Sozialhilfe beantragen mussten. Das war die Situation vor 51 Jahren. Mit der dynamischen Rente haben wir es geschafft, dass heute gerade noch 2,3 Prozent der Rentnerinnen und Rentner Grundsicherung im Alter - so heißt heute die Sozialhilfe für ältere Menschen - beantragen müssen. Das ist die große sozialpolitische Leistung des deutschen Alterssicherungssystems. ({7}) Wir wollen mit der Förderung des Dreisäulenmodells und mit der Unterstützung der Sparanstrengungen im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge und der kapitalgedeckten privaten Altersvorsorge dafür sorgen, dass es keine Rückschritte bei der hervorragenden Entwicklung in der Alterssicherungspolitik Deutschlands gibt, sondern dass für die übergroße Mehrheit der Deutschen in Zukunft gilt: Altersarmut ist ein Fremdwort. Zu diesem Weg, den wir eingeschlagen haben, gibt es keine Alternative. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Volker Schneider, Fraktion Die Linke. ({0})

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss schon sagen, Herr Weiß, Ihre Reden sind einigermaßen vorhersehbar. Es ist immer dasselbe: ({0}) Sie feiern immer auf die gleiche Art und Weise die Riester-Rente als Erfolgsmodell und werfen dabei mit Konfetti und Luftschlangen. Wer nicht mitfeiert, sondern kritische Fragen stellt, egal von welcher Seite des Hauses, ist ein böser Bube und führt die armen Menschen hinters Licht. Aber so ganz unrecht haben Sie ja nicht, Herr Weiß. Ich wollte Ihnen das eigentlich ersparen, aber nach Ihrer Rede will ich auf diesen Punkt noch einmal hinweisen. Tatsächlich ist die Riester-Rente zumindest für die Versicherungsunternehmen ein Erfolgsmodell: 12 Milliarden zusätzlicher Umsatz in der privaten Altersvorsorge, das ist wahrhaftig ein fantastisches Geschäft. Da lässt sich die Allianz auch in diesem Jahr nicht lumpen: 60 000 Euro für die CDU, ({1}) 60 000 Euro für die SPD, 60 000 Euro für die FDP, 60 000 Euro für die CSU und natürlich 60 000 Euro auch für die Grünen. Das macht 300 000 Euro, ({2}) die übrigens nicht von der Allianz gedruckt werden, sondern die aus den Beiträgen der Versicherten kommen und die mit Sicherheit an eine Stelle nicht mehr fließen, nämlich in die Altersvorsorge. ({3}) Diese Pflege der politischen Landschaft ist offensichtlich gut angelegtes Geld, denn in Ihren Jubelarien für die private Altersvorsorge ist noch nicht einmal der Hauch eines Zweifels zu entdecken. ({4}) Da kann man nur noch sagen: Wegsehen, ignorieren, bagatellisieren. Auch da, Herr Weiß, haben Sie gestern im Ausschuss ein echtes Highlight geliefert, als Sie gesagt haben, die letzte kritische Berichterstattung zur RiesterRente liege drei Monate zurück. Eben haben Sie ein bisschen etwas anderes gesagt, aber ich kann Ihnen gern hier darstellen, was es in den letzten zwei Monaten an Berichterstattung gab. Da haben wir beispielsweise die Süddeutsche Zeitung. Unter dem Titel „Die Riester-Abzocke“ war dort zu lesen: Viele Riester-Sparer füttern ein Monster namens Finanzindustrie: Ihre staatlichen Zulagen kommen nicht der Altersvorsorge zugute, sondern wandern in die Tasche der Anbieter. Ein anderes unverdächtiges Magazin, das Manager Magazin, ({5}) beschreibt eine Form der Abzocke, die auch bei einigen anderen Zeitschriften nachzulesen war. Dort ist die Rede davon, wie der Gewinn der Versicherungsunternehmen im Grunde genommen dadurch gemehrt wird, dass man von einer Lebenserwartung von über 90 Jahren ausgeht, sodass die Risikoüberschüsse nur den Menschen zugutekommen, die deutlich über 90 Jahre alt werden. Das ist ein wirklich toller Erfolg. ({6}) Jetzt zu einem Test der Zeitschrift Finanztest. Finanztest hat übrigens bis jetzt die Riester-Renten immer überdurchschnittlich gut beurteilt. ({7}) - Wissen Sie, Herr Brauksiepe: Das ist so dümmlich. Sie können Renten natürlich nur vergleichen, wenn Sie auch die tatsächlichen Lebenshaltungskosten miteinander vergleichen. Volker Schneider ({8}) ({9}) Die Zeitschrift Finanztest hat 53 Versicherungsanbieter überprüfen wollen. Davon hat sie von 24 sicherheitshalber schon einmal gar keine Auskünfte über die Gebühren und Kosten bekommen, die dort anfallen. Von den übrigen Anbietern wurde gerade einmal acht mit „gut“ und nur zwei mit „sehr gut“ bewertet. Das heißt, 80 Prozent werden von der Zeitschrift Finanztest im Grunde genommen so eingeschätzt, dass man sie nicht ernsthaft irgendjemandem empfehlen kann. Aber Sie halten das für ein Erfolgsmodell. Deshalb fordern wir - das ist für mich sehr gut nachzuvollziehen -, dass die Wirksamkeit der Riester-Rente überprüft wird. Wir machen konkrete Vorschläge, welche Fragestellungen in eine solche Überprüfung einzubeziehen wären. Ich darf Sie daran erinnern: Das fordern nicht nur wir, sondern das hat in der Anhörung eine recht illustre Gesellschaft für gut befunden. Das haben nämlich der DGB, der Bund der Steuerzahler in Bayern, die Deutsche Rentenversicherung Bund, der Sozialverband Deutschland und die Einzelsachverständigen Frau Queisser und Herr Fachinger begrüßt. Sie haben alle gesagt, dass es grundsätzlich eine vernünftige Idee sei, an dieser Stelle die Wirksamkeit der Riester-Rente zu überprüfen. Aber Sie machen es nicht mit. Die einzige Begründung, die Sie dafür liefern, ist, dass wir die RiesterRente schlechtreden wollen. Ich kann das nicht nachvollziehen. Wenn Sie an dieser Stelle nichts zu verbergen haben, müssten Sie es mitmachen. Weil Sie aber Angst vor dem Ergebnis haben, wollen Sie nicht, dass ein entsprechender Bericht kommt. ({10}) Deshalb versuchen Sie, das abzubiegen. Ich sage Ihnen: Dies ist offensichtlich auch ein Ergebnis einer solchen Art von politischer Landschaftspflege. Denn wenn jemand so viel Geld bezahlt, dann erwartet er auch, dass schlechte Nachrichten über ihn unterdrückt werden. Besten Dank. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über zwei Anträge, die zu einer Zeit eingebracht worden sind, als in der Öffentlichkeit über den Anstieg von Altersarmut heftig diskutiert wurde. ({0}) In einer Fernsehsendung wurde der Eindruck erweckt, es würde sich für Beschäftigte mit Versicherungszeiten von 30 Jahren, für Menschen mit niedrigem Einkommen und für Langzeitarbeitslose überhaupt nicht lohnen, privat vorzusorgen. ({1}) In der Folgezeit haben sich nicht nur die FDP, sondern teilweise auch Vertreter der Großen Koalition in einen Wettstreit begeben: Wir haben täglich neue Vorschläge zu Freibeträgen und zur Grundsicherung gehört, und zwar von verschiedenen Seiten. ({2}) Die Linke hat den Antrag „Riesterrente auf den Prüfstand stellen“ vorgelegt. Sie, meine Damen und Herren, wollen die Riester-Rente aber nicht nur evaluieren, Sie wollen sie abschaffen. Sagen Sie das doch ehrlich, schließlich steht das in der Begründung. ({3}) Wir Grünen haben schon lange auf die steigende Altersarmut hingewiesen. Wir forderten die Bundesregierung wieder und wieder auf, schnellstens vorbeugende Maßnahmen gegen Altersarmut zu beschließen; ({4}) denn hier schlummert in der Tat eine gesellschaftspolitische Zeitbombe, und darauf muss man rechtzeitig politisch reagieren. Wir wissen, die Armutsrisiken werden in Zukunft steigen. Heute sind es gut 2 Prozent der Rentner und Renterinnen, die auf Grundsicherung angewiesen sind. Zukünftig wird sich diese Zahl aber vervielfachen. Im Unterschied zur FDP und zur Linken sind wir der Meinung, dass bei den Ursachen und nicht bei den Symptomen angesetzt werden muss. ({5}) Das heißt, wir wollen die vorgelagerten Systeme der Alterssicherung stärken, um Altersarmut zu verhindern. Wir sind der Meinung, dass Altersarmut in der gesetzlichen Rentenversicherung vermieden werden muss. ({6}) Für uns gilt der Grundsatz: Wer ein Leben lang arbeitet und sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellt, muss eine Rente oberhalb der Grundsicherung erreichen können. ({7}) Auf die Veränderungen am Arbeitsmarkt muss mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, aber auch mit einer Weiterentwicklung der Rentenpolitik reagiert werden. Dazu brauchen wir endlich gesetzliche Mindestlöhne. Das reicht nicht aus, ist aber ein Baustein. Wir brauchen eine Weiterentwicklung der Rentenpolitik und eine Garantierente oberhalb der Grundsicherung für Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben. ({8}) Die Bundesregierung wollte uns lange Zeit Sand in die Augen streuen, indem sie behauptet hat, dass der Aufschwung alle Probleme lösen werde. Schaut man in den jüngsten Bericht des Statistischen Bundesamtes vom September, stellt man fest, dass er unsere Einschätzung bestätigt. Dort heißt es nämlich: Auch in dem gesamtwirtschaftlich erfolgreichen Jahr 2007 sind die sogenannten „Normalarbeitsverhältnisse“ rückläufig geblieben. Trotz günstiger Entwicklung bei der Erwerbslosigkeit wurde der Trend nicht gestoppt, „Normalarbeitsplätze“ ({9}) - jetzt müssen Sie zuhören - durch atypische Beschäftigungsformen zu ersetzen. - Deshalb - ich wiederhole mich ganz bewusst - müssen wir das Problem an der Wurzel anpacken und nicht nur Korrekturen vornehmen. ({10}) Die vorgelegten Anträge der FDP und der Linken lehnen wir ab. Nach dem Vorschlag der FDP soll bei der Grundsicherung im Alter ein Freibetrag von maximal 260 Euro monatlich für die private und die betriebliche Vorsorge anrechnungsfrei bleiben. ({11}) Einkommen aus der gesetzlichen Rentenversicherung sollen aber zu 100 Prozent angerechnet werden. Das verstehen wir ehrlich gesagt nicht so richtig. ({12}) Meine Kollegen von der FDP, Sie wollen gesetzlich Versicherte schlechter behandeln als privat und betrieblich Versicherte. Ich sage dazu: Typisch FDP! ({13}) Wenn man dieser Logik folgt, muss man fragen: Was ist denn eigentlich mit einer alten Dame, die in ein Pflegeheim geht und 10 000 Euro auf ihrem Konto hat? Sie muss das Geld einsetzen, wenn sie Leistungen vom Staat haben möchte. Ihr Vorschlag wird, glaube ich, eine ganze Menge anderer Dinge nach sich ziehen. ({14}) Herr Kolb, Sie dokumentieren damit, dass Sie nicht auf die solidarische Sicherung bauen, sondern Menschen, die privat und betrieblich vorsorgen können, bevorzugen wollen. ({15}) Die Linke will aus der Riester-Förderung aussteigen und die Mittel zur Stärkung der gesetzlichen Rente verwenden. Herr Schneider, ich finde, Sie schütten damit das Kind mit dem Bade aus. Ich frage Sie einfach einmal: Wie wollen Sie es den über 11 Millionen Menschen, die einen Riester-Vertrag abgeschlossen haben, erklären, warum die einzige Förderung privater Altersvorsorge, die mit Elementen des sozialen Ausgleichs versehen ist, von morgen an nicht mehr gelten soll? Wissen Sie nicht, dass zwei Drittel der Riester-Sparer ein Einkommen von weniger als 30 000 Euro pro Jahr haben? ({16}) Es ist also nicht so, dass nur diejenigen, die ein hohes Einkommen haben, Riester-Verträge abschließen, sondern gerade Klein- und Mittelverdiener. ({17}) Vertrauen in die Alterssicherung entsteht nur dann, wenn sich die Menschen auf das Geschaffene verlassen können. Da helfen keine ideologischen Scheuklappen. Frau Präsidentin, ich fasse zusammen: ({18}) Für die eine Seite dieses Hauses ist die Privatvorsorge Teufelszeug, die andere Seite möchte die Privatvorsorge zulasten der gesetzlichen aufblähen. Das ist nicht sachgerecht. Wir Grünen wollen in einem ersten Schritt die Beiträge von Geringverdienenden aufstocken. ({19}) Wir wollen, dass Selbstständige, die keine obligatorische Altersvorsorge haben, in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Wir wollen über ein Beitragssplitting die eigenständige Rente von Frauen stärken. Das sind die Rezepte gegen Altersarmut. Ich danke Ihnen. ({20})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin Lydia Westrich. ({0})

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schneider, es gibt einmal jährlich den Rentenversicherungsbericht; den lesen auch Sie fleißig. In jeder Legislaturperiode erhalten wir den Alterssicherungsbericht. Das alles wird durch den Sozialbeirat begutachtet. Dieses Gutachten bekommen wir ebenfalls. Wir diskutieren in den Ausschüssen laufend über die aktuelle Entwicklung. In unserer schönen Bibliothek können Sie die regelmäßigen Veröffentlichungen und Statistiken der Zentralen Zulagenstelle für Altersvermögen einsehen. Es steht uns also bereits eine Fülle von Informationen zur Verfügung. Aber es kann ja anscheinend nie genug sein. Sie haben schon drei Kleine Anfragen zu diesem Thema allein in diesem Jahr gestellt. Doppelt und dreifach genäht hält besser, meinen Sie.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, nicht nur das, Kollege Schneider würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. ({0})

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich wüsste nicht, was er fragen will; denn er weiß noch nicht, was ich sagen will. ({0}) Schnell einen Antrag geschrieben und eine neue Berichtspflicht eingefordert, dann müssen Sie sich nicht die Mühe machen, selber zu schauen, ob die gewünschten Informationen nicht schon vorhanden sind. Wir werden Ende des Jahres den jährlichen Rentenversicherungsbericht und den Alterssicherungsbericht erhalten. ({1}) Wenn Sie Ihr Anliegen, gründliche Auskünfte über die Entwicklung und Wirkung der Riester-Rente zu erhalten, wirklich ernst meinten, hätten Sie diese Berichte doch abgewartet. Nein, es geht Ihnen nicht um Auskünfte, sondern wieder einmal darum, ein erfolgreiches Projekt wie die Riester-Rente, die allen Unkenrufen zum Trotz von vielen Millionen Bürgern genutzt wird, weiter zu verteufeln. ({2}) Herr Schneider, dazu, wie Sie sie verteufeln, haben Sie hier wieder einmal ein Beispiel geliefert. Sie wollen ganz bewusst die Bürgerinnen und Bürger verunsichern. Das Schizophrene an der Sache ist, ({3}) dass Sie, meine Damen und Herren von der Linken, im Bundestag die Riester-Rente ganz erbittert bekämpfen, aber zu Hause in Ihren Beratungszimmern, wo es niemand sieht und hört, füllen Sie den Leuten die Anträge aus und legen ihnen nahe, einen Riester-Vertrag abzuschließen. Das hat mir gerade neulich eine junge Frau aus meinem Wahlkreis berichtet. Natürlich habe auch ich ihr dazu geraten, einen Vertrag abzuschließen, und mich gefreut, wie vernünftig Ihre Basis vor Ort doch ist. Sie scheint kapiert zu haben, dass der große demografische Wandel, der sich in unserer Bevölkerung vollzieht, auch an den Systemen der Alterssicherung nicht spurlos vorübergehen kann. Das erste Mal seit Jahren sind selbst in meiner strukturschwachen Region gute Lehrstellen nicht besetzt. Sie können nicht wegdiskutieren, dass die Zahl älterer Menschen im Verhältnis zur Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter bereits jetzt zunimmt. Sie reden trotz aller neuen Erkenntnisse und trotz der Entwicklungen, die jedes Kind sehen kann, ständig von einer lebensstandardsichernden gesetzlichen Altersversorgung wie zu Zeiten Norbert Blüms. Das ist den Menschen ins Gesicht gelogen. Mein Vater ist 88 Jahre alt. Er hat ein Arbeitsleben - durch den Krieg unterbrochen - von vielleicht 40 Jahren und eine Rentenzeit von bisher 28 Jahren hinter sich. Gott möge sie noch lange, lange andauern lassen. Auch Sie und ich wollen diesen langen, geruhsamen Lebensabend haben. Aber selbst am einfachen Beispiel meiner Familie - meine Mutter ist Gott sei Dank ein ähnlicher Fall - sehen Sie, dass dies nicht funktionieren kann: 40 Jahre Beitragszahlung und 30 Jahre Rente bei weniger Beitragszahlern. ({4}) Da müssten die Rentenversicherer schon sehr riskant auf dem gleichfalls von Ihnen verteufelten Finanzmarkt zocken, um diese Rendite erzielen zu können. Aber sie haben keinen Kapitalstock; sie sind umlagefinanziert. Deswegen müssen sie auf die Entwicklungen eingestellt werden, wenn die Sozialkassen nicht vor die Wand laufen sollen. Das scheinen Sie zu wollen. ({5}) Selbst bei mäßig erhöhten Beitragszahlungen in der gesetzlichen Rentenversicherung, wie wir sie Unternehmen und Arbeitnehmern zumuten könnten, ist es auf Dauer unmöglich, dass eine immer geringere Zahl von beschäftigten Beitragszahlern in der Lage ist, für immer mehr Rentner immer längere Rentenbezugszeiten in der gegenwärtigen Höhe zu finanzieren. Das ist doch Ihr ewiges Mantra: Wir hätten alles im Griff, wenn die Versicherungsbeiträge um ein paar Prozentpunkte steigen würden. ({6}) Das ist grundfalsch. Sie wiegen die Menschen wieder in einer scheinbaren Sicherheit, nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“. Rot-Grün hat im Jahr 2000 die Weichen anders gestellt. Wir haben die Verantwortung auch für die junge Generation ernst genommen. Die Dreisäulenaltersvorsorge ist der richtige Weg. Gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche Altersvorsorge und Riester-Rente ergänzen einander. Die Bürgerinnen und Bürger haben das kapiert. 11 Millionen Riester-Verträge beweisen das. Der neue Wohn-Riester wird - davon bin ich überzeugt - die Anzahl dieser Verträge weiter steigen lassen. Die Säule der privaten Vorsorge wird sich gerade für Geringverdiener, für die Sie letztlich eine Lanze brechen wollen, auszahlen. Ich bin froh, dass wegen unserer Förderung gerade der prozentuale Anteil der Kleinverdiener an der Gesamtzahl der Vertragsabschlüsse - danach haben Sie gefragt - so hoch ist. Wenn man in einem Allversorgerstaat wie der DDR aufgewachsen ist, kommt man aus seiner Haut vielleicht nicht mehr heraus. Ich treffe viele Leute, auch mit kleinerem Verdienst, die stolz sind, ihre Familie ernährt zu haben und die im Alter auf ihre eigene Vorsorge und nicht auf den Staat zurückgreifen wollen. Sie freuen sich über die Riester-Förderung in Höhe von 60 Prozent oder mehr und lassen sich auch durch Monitor-Berichte nicht irremachen. Aber genau das, die Menschen zu verunsichern, beabsichtigen Sie von der Linken doch. In 20 Jahren reden wir vielleicht einmal über Ihren Antrag, der so schlecht ist. Sie sagen dem 25-jährigen Wachmann, der gerade seinen Riester-Vertrag abgeschlossen hat: Du bist doch dumm; da zahlst du ein und hast die Versicherung reich gemacht; später bekommst du sowieso nur die Grundsicherung wie jeder, der nicht eingezahlt hat. Wissen Sie denn, ob es die Grundsicherung in 35 Jahren überhaupt noch gibt? ({7}) Dann wäre der Wachmann wirklich arm, wenn er den Vertrag gekündigt hätte. Wissen Sie es? ({8}) Vielleicht geht es Deutschland in dieser Zeit aber so gut, dass die Riester-Rente nicht mehr angerechnet zu werden braucht. Dann wäre sie ein gutes Zubrot. Wird er Wachmann bleiben, oder wird er eine Weiterbildung machen und mehr verdienen? Grundsicherung wäre für ihn dann gar kein Thema mehr, aber die zusätzliche RiesterRente schon. ({9}) War er nun dumm, als er den Riester-Vertrag abgeschlossen hat, oder wäre es dumm gewesen, auf Ihren Rat zu hören, es nicht zu tun und die Versicherung nicht reich zu machen? Das will ich Ihnen schon noch einmal ins Stammbuch schreiben: Die Studie, die Sie von den Linken zur Begründung Ihres Antrags heranziehen, enthält richtige Analysen, aber sie zeigt falsche Schlussfolgerungen auf. Das passiert einmal, und Sie sind darauf hereingefallen: Erstens. 2005 war die Datenlage ganz anders. Die Anzahl der Riester-Verträge hat sich in dieser Zeit verdoppelt. Zweitens. Die Studienmacher haben den Zweck der Riester-Rente nicht kapiert. Wir wollten den Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung auf einem bezahlbaren Niveau halten. Wir wollten auch die Vermögensbildung für das Alter fördern. Die jährlichen Fördermilliarden erhöhen gerade das Altersvermögen der Kleinsparer.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende, bitte.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn die Studie besagt, die Menschen mit kleinen Verdiensten sparen nicht mehr Geld, sondern für etwas anderes, so wird außer Acht gelassen, dass unsere staatlichen Zulagen das Angesparte dieser Kleinverdiener vervielfachen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Westrich!

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das sind keine Mitnahmeeffekte, sondern das ist gewollte Zukunftsverantwortung. Deshalb brauchen wir die Berichtspflicht bezüglich bereits vorhandener Daten nicht.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Westrich, kommen Sie zum Ende, bitte.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir stützen die Riester-Rente für Kleinverdiener. Wir wollen die Umlenkung der - wenn auch noch so kleinen Sparquote der Haushalte in eine Altersvorsorge. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag gerne ab. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Schneider.

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin Westrich, das, was Sie eben vorgetragen haben, ist wirklich - erlauben Sie mir das harsche Urteil - ein Ausbund von Oberflächlichkeit. ({0}) Es würde sich rentieren, darauf noch einmal ausführlich einzugehen; aber das schenke ich mir jetzt. Es geht mir nur um einen einzigen Punkt. Sie haben am Anfang behauptet, wir forderten etwas, was längst nachzulesen wäre. Ich würde Ihnen empfehlen: Lesen Sie unseren Antrag! Darin ist präzise aufgelistet, was wir wollen. Sie werden feststellen: Kein einziger dieser Aspekte ist im letzten Alterssicherungsbericht oder im letzten Rentenversicherungsbericht genannt. Das war der erste Punkt. Mein zweiter Punkt. Wir haben keinen der Aspekte, die in diesen Berichten erwähnt sind, noch einmal aufgeführt. Wir haben ganz gezielt nach dem gefragt, was bis heute nicht in diesen Berichten enthalten ist. Ich frage mich, warum Sie uns diese Auskünfte entgegen der Volker Schneider ({1}) Empfehlung aller Sachverständigen so nachhaltig verweigern wollen. Das ist Ihr schlechtes Gewissen. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt gebe ich dem Kollegen Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja? Schauen wir einmal. Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns mit dem Antrag der FDP und mit dem Antrag der Linken. Die eine Seite möchte, dass die kapitalgedeckte Vorsorge bei Geringverdienern in geringerem Umfang angerechnet wird, die andere Seite möchte, dass die Riester-Rente auf den Prüfstand gestellt wird. Ich möchte meinen Vorrednern beipflichten: Eigentlich ist mit „Riesterrente auf den Prüfstand stellen“ gemeint, dass Sie die Riester-Rente abschaffen wollen. Das ist das Ansinnen der Linken in diesem Hause. Sie können nämlich nur mit staatlichen Systemen, nicht aber mit freiheitlichen Systemen leben. ({0}) Sie wollen die Leute bei ihren Anlageentscheidungen bevormunden. An dieser Stelle sieht man sehr deutlich, dass der Ansatz der Sozialisten bzw. der Kommunisten durchschlägt. ({1}) Werte Damen und Herren, die Linken äußern immer wieder die große Befürchtung: Wenn nicht alles, wie sie es wollen, staatlich organisiert ist, dann führt das ins Unglück. In diesem Fall würde das bedeuten, dass die Menschen in Zukunft möglicherweise der Altersarmut anheimfallen. Dem möchte ich ausdrücklich widersprechen. Gerade diese Bundesregierung hat die wesentlichen Grundlagen dafür geschaffen, dass die Menschen zukünftig nicht mit Altersarmut konfrontiert sein werden. Deutschland hat derzeit die geringste Altersarmut aller europäischen Länder zu verzeichnen. Außerdem hat es die kluge Politik dieser Bundesregierung ermöglicht, dass viele Menschen in Arbeit und Brot gekommen sind. Dass die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse um 1,5 Millionen gestiegen ist, bedeutet mehr Schutz vor Altersarmut. ({2}) Dies ist das Verdienst dieser Bundesregierung und eine Grundlage dafür, dass die Altersversorgung weiterhin sicher ist. Dass in der Altersversorgung weiterhin Sicherheit herrscht, hat mit dem Umlagesystem der gesetzlichen Rentenversicherung zu tun. Herr Rohde, ich möchte ausdrücklich feststellen: Das Umlagesystem ist kein Auslaufmodell, sondern die Grundlage der sozialen Sicherung der Menschen im Alter. Allerdings muss es um ein kapitalgestütztes System ergänzt werden. Die Länder, in denen die Altersversorgung ausschließlich auf ein kapitalgestütztes System ausgerichtet war, werden es in Zukunft sehr schwer haben - das wird angesichts der aktuellen Finanzmarktkrise deutlich -, die Altersversorgung der Menschen zu gewährleisten. Deshalb stehen wir zum Umlagesystem. ({3}) Genauso treten wir aber auch für die gleichzeitige Förderung des kapitalgestützten Systems ein. Mein Kollege Weiß hat bereits darauf hingewiesen, wie viel wir in dieser Legislaturperiode zur Stärkung der kapitalgestützten Säule beigetragen haben. Ich möchte noch anmerken, dass gerade für die Selbstständigen in unserem Land zwar nicht die RiesterRente, dafür aber die Rürup-Rente eine bedeutsame Stütze des Altersvorsorgesystems darstellt. Hier spielen die Versicherungsunternehmen eine Rolle. Sie legen das Geld der Sparerinnen und Sparer zielorientiert und sicher an. Für viele Anlageformen im Rahmen der RiesterRente gilt - das ist schriftlich dargelegt -, dass nicht nur das eingezahlte Kapital zur Auszahlung kommen, sondern über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg auch ein gewisser Zins erwirtschaftet werden muss. Herr Kollege Schneider, ich möchte das, was Sie vorhin hier gesagt haben, mit aller Schärfe zurückweisen. Sie haben gesagt, dass hier sozusagen aufgrund von Parteispenden Entscheidungen zugunsten von kapitalgestützten Vorsorgemöglichkeiten getroffen worden sind. ({4}) Das ist, gelinde gesagt, wirklich nicht tolerabel ({5}) - und vor allen Dingen eine Verleumdung. Es gibt natürlich Spenden - auch die Linken erhalten Spenden - für die Unterstützung der Parteien, damit sie ihren staatsbürgerlichen Auftrag erfüllen. Diese sind richtig und auch gut angelegt. Wenn sie sich auf alle Parteien gleichmäßig verteilen, dann wird dadurch sehr deutlich, dass damit die staatsbürgerliche Arbeit der Parteien unterstützt und nicht irgendeine Entscheidung erkauft werden soll. ({6}) In diesem Zusammenhang wäre es weitaus besser, wenn die Linke, die PDS bzw. die SED nachforschen würde, wo das SED-Vermögen hingekommen ist, ({7}) das Ihr Parteivorsitzender Gysi möglicherweise ins Ausland transferiert hat, um es über Scheinfirmen jetzt möglicherweise wieder in Ihren Parteiapparat fließen zu lassen. ({8}) Das ist das schamlose Verhalten der Linken, der PDS bzw. der SED: Sie gibt den Bürgerinnen und Bürgern hier keine Auskunft über ihr SED-Vermögen. Das ist der Betrug. An diesem Verhalten werden die Menschen Sie natürlich messen. Ich fordere Sie auf, in diesem Zusammenhang hier nicht solche Verdächtigungen auszusprechen, sondern im Gegenteil zu einer vernünftigen Politik für die Bürgerinnen und Bürger und insbesondere auch für die Rentnerinnen und Rentner in unserem Land zurückzukehren. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Enkelmann das Wort. ({0})

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Da immer wieder der Vorwurf an uns gerichtet wird und wir gefragt werden, wo denn das SED-Geld geblieben ist: Erstens. Fragen Sie die Kollegen der CDU, wo das CDU-Geld geblieben ist. Zweitens. Wenden Sie sich bitte vertrauensvoll an den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Herrn Papier. Er war Vorsitzender der Unabhängigen Kommission zur Ermittlung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der Deutschen Demokratischen Republik - unter anderem auch des Vermögens der CDU. Es gibt einen Abschlussbericht, den Sie nachlesen können. Sie sind schon länger hier im Parlament. Er ist hier vorgestellt worden. Es liegt also alles auf dem Tisch. Informieren Sie sich bitte! ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/10356. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der FDP auf Drucksache 16/7177 mit dem Titel „Altersvorsorge für Geringverdiener attraktiv gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der antragstellenden Fraktion FDP angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8495 mit dem Titel „Riesterrente auf den Prüfstand stellen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? ({0}) Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen durch die Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, Hartwig Fischer ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Förderung von Bildung und Ausbildung Entwicklungspolitischen Schlüsselsektor konsequent ausbauen - zu dem Antrag der Abgeordneten HüseyinKenan Aydin, Monika Knoche, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Entwicklung braucht Bildung - Den deutschen Beitrag erhöhen - Drucksachen 16/9424, 16/8812, 16/10360 Berichterstattung: Abgeordnete Anette Hübinger Hellmut Königshaus Ute Koczy Hierzu haben die Fraktionen vereinbart, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Dr. Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion das Wort. ({3})

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir heute über ein Thema debattieren können, zu dem wir im Ausschuss fraktionsübergreifend einen Konsens erzielt haben. Wir wollen die Bedeutung von Bildung in der Entwicklungszusammenarbeit voranbringen, stärken und fördern. Ich glaube, es ist richtig, an dieser Stelle zu betonen, dass Bildung ein wesentliches Fundament für eine gelungene, nachhaltige Entwicklungspolitik und Entwicklung ist. Nicht umsonst ist in den Millenniumsentwicklungszielen als zweites Ziel festgelegt, dass bis zum Jahr 2015 eine vollständige Primärschulbildung für alle Jungen und Mädchen erreicht werden soll. Das bedarf großer Anstrengungen. Wir möchten mit unserem Antrag dazu beitragen, dass dies gelingen kann. Wir wissen, dass Bildung die Basis für weitere Maßnahmen in der Entwicklungszusammenarbeit und einer nachhaltigen Armutsbekämpfung ist, ob es um Millenniumsentwicklungsziele im Gesundheitsbereich, die Halbierung von Hunger und Armut oder - wie meine Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel später noch ausführen wird - um die Geschlechtergerechtigkeit durch die Gleichstellung von Mann und Frau geht. Bildung ist aber mehr. Bildung ist ein grundsätzliches Menschenrecht und aus diesem Grund von besonderer Bedeutung und auch in unserem Ausschuss entsprechend zu unterstützen. Bildung ist die Basis für gesellschaftliche Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben. Demokratie, die wir alle in unseren Debatten um Good Governance auch in den Partnerländern der einen Welt fördern wollen, kann nur gelingen, wenn die Gesellschaften eine entsprechende Basis an Bildung mitbringen. ({0}) Das ist die Voraussetzung für zivilgesellschaftliches Engagement, das wir in der Entwicklungszusammenarbeit brauchen. Sie ist, wie gesagt, die Basis für demokratische Strukturen und Entwicklungen. Wir brauchen nicht nur in den Bundesländern bei uns zu Hause Bildungsgerechtigkeit und Bildungschancen, sondern müssen uns auch in der Entwicklungspolitik und der Zusammenarbeit mit den Ländern der Dritten Welt dafür einsetzen. Wir müssen uns gemeinsam mit unseren Partnerländern dafür einsetzen. Deshalb freue ich mich, dass es Teil unseres Antrags ist, die Abschaffung von Schulgebühren und Lehrmittelkosten voranzubringen, wo dies noch nicht gelungen ist. Schulmittel müssen kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Gebührenfreie Grundbildung von Kindern muss überall die Grundvoraussetzung für das Lernen sein. ({1}) Wenn wir das mit unseren Partnerländern erreichen wollen, bedeutet das im Übrigen auch, dass wir uns mit der Finanzausstattung der Haushalte unserer Partnerländer auseinandersetzen müssen und ihnen dort Hilfestellung geben müssen, wo dies nötig ist. Wir haben in unserem Antrag - auch das finde ich besonders wichtig - auf die ILO-Kernarbeitsnormen Bezug genommen. Für den Bereich der Bildung bedeutet das ein weltweites Verbot von Kinderarbeit. ({2}) Wer möchte, dass die 218 Millionen Kinder, die weltweit durch Kinderarbeit ausgebeutet werden, zur Schule gehen können, kann nicht umhin, sich für die Kernarbeitsnormen und das weltweite Verbot von Kinderarbeit einzusetzen. ({3}) Darüber hinaus gibt es gute Ansätze und Projekte der Entwicklungszusammenarbeit, die für diese Kinder eine Brücke in das formale Bildungssystem darstellen und ihnen Chancen bieten. Ein Drittel der Kinder, die in Kinderarbeit ausgebeutet werden, leben in Indien. Es gibt inzwischen Projekte der Deutschen Welthungerhilfe, die sich gemeinsam mit indischen Partnerorganisationen bemühen, Kindern den Zugang zum formalen Bildungssystem zu ermöglichen, Brückenfunktionen zu nutzen sowie Eltern und die örtlichen Verwaltungen einzubeziehen, um einen Beitrag dazu zu leisten, diesen Kindern - den Ärmsten der Armen - Chancen zu bieten. ({4}) Wir haben in unseren Antrag einen Punkt aufgenommen, auf den ich besonders stolz bin. Bei dieser Gelegenheit möchte ich einigen Schülern aus Hamburg meinen Dank aussprechen, die bei der Debatte über die globale Bildungskampagne vor dem Reichstagsgebäude nachdrücklich darum gebeten haben, in unseren Antrag aufzunehmen, dass auch Menschen mit Behinderungen in den Entwicklungsländern Chancen brauchen, am Bildungssystem teilzuhaben. Weit über 90 Prozent der Kinder mit Behinderung haben in Entwicklungsländern keine Chance, am Bildungsprozess teilzuhaben. Es ist gut, wenn wir uns dafür einsetzen, dies zu ändern. ({5}) Es passiert schon einiges in diesem Bereich. Auf bilateraler Ebene ist Deutschland im Bereich der Grundbildung mit 120 Millionen Euro, im Bereich der beruflichen Bildung mit knapp 80 Millionen Euro und im Bereich der Hochschulen, aber auch im Bereich der Bildungsmaßnahmen, die die Verbesserung der Qualität sowie die Lehrerausbildung und -fortbildung zum Ziel haben, mit 60 Millionen Euro engagiert. Es gibt zudem gute internationale Initiativen wie Education For All und Fast Track Initiative, die unterstützt gehören und deren Engagement bedeutend gestärkt werden muss. Dazu möchten wir insbesondere das BMZ mit unserem Antrag ermutigen. ({6}) Die Gründe dafür sind klar. Noch immer sind 77 Millionen Kinder weltweit ohne jedweden Zugang zu Schulbildung. 774 Millionen Menschen weltweit sind Analphabeten. Nicht nur die Zahl derer, die in die Schule kommen, ist interessant, sondern auch die Zahl derer, die in der Schule bleiben. Die Verweildauer in der Schule ist von Bedeutung. Leider ist die Schulabbrecherrate noch immer sehr hoch, insbesondere wenn es um den Schulbesuch von Mädchen geht. Der UNESCO-Weltbildungsbericht vom vergangenen Herbst spricht eine deutliche Sprache. Positiv sind die steigenden Einschulungsraten. Ich glaube, darüber freuen wir uns alle. Bedenklich ist, dass die Divergenz zwischen den Ländern mit steigenden, gleichbleibenden und manchmal auch mit schlechteren Einschulungsraten noch immer sehr groß ist. Fast die Hälfte der Kinder, die keinen Zugang zu Schulbildung haben, lebt in Subsahara-Afrika. Das sind knapp 40 Millionen. Allein diese Zahl macht deutlich, dass das Engagement für mehr Kinder, die in die Schule gehen, nicht nachlassen darf und sogar - auch und gerade mit finanziellen Mitteln - verstärkt werden muss, genauso wie das Engagement für mehr Qualität in der Ausbildung. ({7}) Wir brauchen mehr Lehrer, und zwar gut ausgebildete, Lehrer, die eine pädagogische Ausbildung absolviert haben. Es gibt Beispiele, die zeigen, wo sich Deutschland sehr gut engagiert. In Tadschikistan erhalten seit 2005 jedes Jahr 1 000 Lehrer im Rahmen eines Lehrerfortbildungsprogramms der GTZ eine Qualifikation für den Lehrerberuf. Das ist ein entscheidender Beitrag. Einen entscheidenden Beitrag stellen manchmal auch ganz banale Dinge dar. Ich war vor wenigen Monaten im Ostkongo und konnte in einem Dorf, ungefähr zwei Stunden von Bukavu entfernt, lernen, was Qualität in der Bildung bedeutet. Dort ist vor einem halben Jahr das erste Mal eine Präsenzbibliothek errichtet worden. „Präsenzbibliothek“ ist sicherlich ein großes Wort. Schließlich handelt es sich nur um wenige gedruckte Bücher und Zeitschriften, die es plötzlich in diesem kongolesischen Dorf gab. Aber sogar das stellt einen riesigen Fortschritt in der Qualität der Bildung dar. Warum? Bis zu diesem Zeitpunkt haben nur 70 Prozent der Schüler die Abschlussprüfungen bestanden, weil sie bei diesen Prüfungen zum ersten Mal bedrucktes Papier, gedruckte Schrift sehen konnten. Mit dieser kleinen Maßnahme, also mit wenigen Büchern und gedruckten Materialien, wurde innerhalb kürzester Zeit die Abschlussrate um 20 Prozent erhöht. Wenn man in die Qualität der Bildung investiert - entweder in ganz kleine Maßnahmen oder fundamental in die Lehrerbildung -, tut man den jungen Menschen weltweit etwas sehr Gutes. ({8}) Wir haben uns in unserem Antrag im Wesentlichen auf drei Punkte konzentriert: die Förderung der Grundbildung, der beruflichen Bildung und der akademischen Bildung. Gerade Grundbildung und berufliche Bildung sind Bereiche, in denen die deutsche Entwicklungszusammenarbeit eine große Expertise, große Kenntnisse hat.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube, wir tun gut daran, auch in Zukunft das, was von unseren Partnerländern nachgefragt wird, aufzugreifen, und zwar aus den Gründen, die ich am Anfang angesprochen habe.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin!

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bildung ist ein Menschenrecht, Bildung schafft gesellschaftliche Teilhabe und persönliche Emanzipation, und Bildung steht damit auch in einer Tradition, die uns Sozialdemokraten sehr nahe ist, wenn ich etwa an Arbeiterbildung denke. Was bei uns gilt, gilt auch weltweit. Danke. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Hellmut Königshaus spricht jetzt für die FDP-Fraktion. ({0})

Hellmut Königshaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003709, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Tat herrscht hier - die Kollegin Kofler hat das gesagt über die Ziele beim Thema „Bildung in Entwicklungsländern“ weitestgehend Konsens. Wir alle wissen, dass Armut und Bildungsarmut in den Entwicklungsländern unmittelbar zusammenhängen, übrigens nicht nur dort, aber eben auch dort. Nur, wenn wir das hier gemeinsam feststellen - auch die Koalition hat das in ihrem Antrag sehr deutlich ausgeführt -, dann frage ich mich, warum Sie dann der Bundesregierung danken. Die Bundesregierung hat doch in diesem Bereich bisher wirklich versagt und ihn sträflich vernachlässigt. ({0}) Tatsache ist doch, dass die Förderung der Grundbildung in den letzten Jahren zurückgegangen ist. ({1}) So wurden, um die genaue Zahl zu nennen, von insgesamt 4 877,573 Millionen Euro deutscher bilateraler Entwicklungshilfe im Jahr 2002 lediglich 77,227 Millionen Euro der Förderung von Grundbildung zugeschrieben. Das ist ein Anteil von 1,6 Prozent der ODA, während wir heute bei einem Anteil von nur noch 1,5 Prozent der ODA sind. ({2}) Die Bundesregierung hat diesen Bereich bisher sträflich vernachlässigt. Sie hat jetzt allerdings im Entwurf des Haushaltsplans vorgesehen, dass im Bereich der Bildung ein Aufwuchs vorgenommen wird, und zwar auf 148,50 Millionen Euro im Jahr 2009; aber die Größe des Grundbildungsbereichs - das ist das Entscheidende, über das wir uns hier unterhalten - ist daraus überhaupt nicht abzulesen. Deshalb müssen wir hier eine Klarstellung fordern. Wir als FDP fordern schon seit Jahren regelmäßig eine Aufstockung in diesem Bereich, in der Regel in der Größenordnung von 60 Millionen Euro. Das differiert je nach der Gesamtlage. Sie haben das leider immer abgelehnt. Vielleicht können wir uns diesmal darauf verständigen, dass wir in diesem Bereich vorangehen. ({3}) Die Koalition fasziniert zurzeit das Thema Bildung, nicht nur bei der Entwicklungszusammenarbeit, sondern auch hier in Deutschland. ({4}) Die Kanzlerin reist bekanntermaßen durch Deutschland und veranstaltet Bildungsgipfel. ({5}) Sie lenkt dadurch eigentlich davon ab, dass sie für diesen Bereich mitnichten zuständig ist. Es gibt in diesem Bereich keine Zuständigkeit, jedenfalls nicht im Bereich der Grundbildung. Deshalb ist das, was dort abläuft, weiter nichts als eine Farce. ({6}) - Sie brauchen das nicht mit Empörung zurückzuweisen. Ich brauche nur Ihre Kanzlerin zu zitieren. ({7}) Sie hat zum Beispiel dem Kollegen Tauss, der hier ähnlich wie Sie argumentiert hat, gesagt, sie wolle ihm mit Verlaub doch sagen, dass man ihm schließlich angeboten habe, wenn er sich für Schulpolitik interessiere, in den Landtag zu gehen, weil das nicht Sache des Bundestages sei. Sie hat auch gesagt, wer Leidenschaft für die Schulpolitik habe, der sei im Bundestag falsch aufgehoben. Wer sich als Kanzlerin um die Schulpolitik kümmert, die Ländersache ist, ist dort ebenfalls falsch aufgehoben. ({8}) Aber das ist nicht unser Thema heute; die Föderalismuskommission ist ein anderes Thema. Die FDP kämpft seit Jahren für ein verstärktes Engagement im Bildungsbereich der Entwicklungsländer; denn Bildung ist ein essenzieller Bestandteil der nachhaltigen Entwicklung einer Gesellschaft. Laut OECD gibt es eine enge Beziehung zwischen den Ausgaben für weiterführende Schulen und für Schul- und Hochschulausbildung und der Wirtschaftsentwicklung eines Landes. In den vergangenen 20 Jahren habe sich das am stärksten - so die OECD - in Argentinien, Chile und Jamaika gezeigt. Jamaika ist ohnehin ein gutes Stichwort für die Entwicklung. ({9}) Die Probleme in den Entwicklungsländern sind evident. Weltweit ist jedem siebten Menschen der Zugang zu grundlegender Schulbildung verwehrt. 85 Prozent der Schreib- und Leseunkundigen sowie derjenigen, die keine Möglichkeit haben, eine Ausbildung zu absolvieren, leben in Entwicklungsländern. Hier müssen wir ansetzen. Das bedeutet insbesondere: Wir müssen dafür Sorge tragen, dass nicht nur die Schule und der Lehrer da sind, sondern zum Beispiel auch das Lehrmaterial. Selbst daran fehlt es häufig. Kollegin Kofler hat darauf hingewiesen, dass man Gebührenfreiheit braucht. Ich möchte erwidern: Das gilt auch bei uns zu Hause, in den Bundesländern. ({10}) Da müssen wir uns alle an die eigene Nase fassen. ({11}) - Ich sage ja: Wir müssen uns alle an die eigene Nase fassen. Die Schulbuchfreiheit gibt es zum Beispiel in Berlin nicht, wo bekanntermaßen eine linke Partei in der Regierung vertreten ist. ({12}) Wir dürfen Forderungen nicht nur für die Entwicklungsländer erheben, sondern müssen sie genauso für unser eigenes Land erheben. Dafür wollen wir sorgen. Eben ist von der Kollegin Kofler das Thema Kinderarbeit angesprochen worden; das ist mir wichtig; das ist in der Tat ein ganz wesentlicher Punkt. Niemand will Kinderarbeit. Aber wir müssen sehen, dass es Wechselwirkungen gibt. Als der Kollege Klimke und ich in Indien waren und dort speziell dieses Thema angesprochen haben, haben wir die Not von Eltern erlebt, die ihre Kinder nicht ernähren können und sie aus der Not heraus an andere abgegeben, mitunter sogar verkauft haben. Das kann nicht das Ziel sein. Deshalb kommt es darauf an, dass wir vernünftige Modelle finden, die es den Eltern möglich machen, ihre Kinder großzuziehen und ihnen auch eine Schulbildung zu ermöglichen. Das ist wichtig. Es geht nicht an, grobschlächtig, wie das in dem Antrag zum Teil geschieht, ({13}) Lösungen zu finden, die überall greifen sollen. Es gibt in den einzelnen Ländern sehr unterschiedliche Voraussetzungen. Es kommt darauf an, dass wir diese unterschiedlichen Voraussetzungen beachten und entsprechende Lösungen finden. Die Fokussierung auf dieses Thema ist wichtig. Wir unterstützen Sie in dieser Zielsetzung. - Frau Präsidentin, ich sehe das Blinken und komme auch zum Schluss. Es ist wichtig, Lösungen zu finden. Wir sollten uns bemühen, die Probleme vor Ort jeweils differenziert zu betrachten, statt einfach alles über einen Kamm zu scheren und überall die gleichen Lösungen anzustreben. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, für die Aufmerksamkeit und Ihnen, Frau Präsidentin, für die Geduld. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Anette Hübinger hören wir jetzt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Anette Hübinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bildung ist in Deutschland ein zentrales Thema. Unsere Bundeskanzlerin beschreibt es sehr treffend, wenn sie sagt: Unser Land muss zur Bildungsrepublik Deutschland werden. Was uns in Deutschland etwas wert ist, muss uns auch in den anderen Ländern dieser Welt recht sein. Daher gehört für die Unionsfraktion auch in unseren Partnerländern die Bildung der Menschen - neben Armutsbekämpfung und Bewahrung der Schöpfung - zu den Schlüsseln unseres entwicklungspolitischen Handelns. ({0}) Erst wenn Menschen ihre Talente entfalten können und befähigt werden, selbstbestimmt ihr Leben in die Hand zu nehmen, werden wir einen nachhaltigen Erfolg unserer Entwicklungszusammenarbeit verzeichnen. Dazu brauchen Menschen Bildung, die Wissen, Werte und Fähigkeiten vermittelt. Sie brauchen darüber hinaus eine Bildungsstruktur, die ihre Bedürfnisse und Lebensumstände berücksichtigt, Herr Kollege Königshaus. Bildung muss für alle zugänglich sein. ({1}) Diese Aussage darf sich nicht nur auf eine Grundbildung beziehen, sondern muss alle Bereiche der Bildung, von der frühkindlichen Bildung bis zur Möglichkeit des lebenslangen Lernens, umfassen. ({2}) Eine Konzentration unserer Hilfen auf die Grundbildung allein würde bedeuten, die Tür nur einen Spaltbreit zu öffnen und die Chancen auf eine Entwicklung durch Bildung zu reduzieren. Genau das wollen wir als Koalitionsfraktion nicht. Deshalb haben wir in unserem heute zu diskutierenden Antrag einen breiteren Ansatz gewählt, der für die Bildungssituation in unseren Partnerländern zukunftsweisend sein wird. Heute befasst sich in New York die UN-Vollversammlung unter anderem mit der bisherigen Umsetzung der acht Millenniumsentwicklungsziele. Grundbildung für alle Mädchen und Jungen ist das zweite der acht Ziele, die es bis 2015 weltweit umzusetzen gilt. Nach den bisherigen Bilanzen sind wir hierbei auf einem richtigen Weg. In acht der zehn dokumentierten Regionen ist nach Auskunft der UN dieses Ziel bereits zu 90 Prozent erfüllt. So besuchen heute 29 Millionen Kinder mehr eine Schule als noch 1999. Allerdings liegt die Einschulungsquote südlich und nördlich der Sahara noch weit unter der 90-Prozent-Marke. Auch kann uns die Zahl der Analphabeten auf dieser Welt nicht ruhen lassen. Trotz guter Fortschritte bleibt noch viel zu tun. Die internationale Gebergemeinschaft steht ebenso wie Deutschland in der Pflicht, ihre Anstrengungen fortzusetzen und noch zu verstärken. In der schwerpunktmäßigen Zusammenarbeit mit unseren Partnern erreichte Bildung im Jahr 2007 einen Anteil von 5,84 Prozent; das waren rund 116 Millionen Euro. Das war mehr als geplant, aber der Betrag muss unseres Erachtens noch gesteigert werden. ({3}) Für den Bereich der Grundbildung verwendeten wir etwa ein Drittel des Geldes. Auch dieser Anteil müsste, Herr Kollege Königshaus, vergrößert werden. Meine Damen und Herren, frühkindliche Bildung und Grundbildung sind der Schlüssel für jedes weitere Lernen. Dabei stellen wir fest, dass es immer noch eine ungleiche Verteilung des Angebots zwischen Stadt und ländlichem Raum gibt. Um hier stärker voranzukommen, brauchen wir mehr regionale und praxisorientierte Ansätze. Wir müssen uns stärker mit den Gegebenheiten vor Ort auseinandersetzen und im Dialog mit den Partnern neue Ansätze entwickeln, um Schulbesuche zu erleichtern. Ich denke da an die Abschaffung des Schulgeldes, das Bereitstellen von Lernmaterial und Anreizmodelle für Lehrer, eine Lehrtätigkeit im ländlichen Raum aufzunehmen, aber auch an so einfache Dinge wie die Anpassung der Ferien an den landwirtschaftlichen Kalender - oft werden die Kinder zur Hilfe bei der Ernte benötigt - oder die Einführung von Schulspeisung. So hat beispielsweise in Kolumbien, im Süden von Bogota, das Kolpingwerk Kolumbiens gemeinsam mit dem kolumbianischen Institut für Familie und Wohlfahrt 15 Schulkantinen eingerichtet. Die Betreuung und das Essen in den Kantinen haben dazu beigetragen, dass die Kinder heute viel regelmäßiger zur Schule gehen und sich auch Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen zum Schulbesuch angemeldet haben. ({4}) Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie pragmatische Ansätze die allgemeine Lebenssituation von Kindern erheblich verbessern können und darüber hinaus ihre Bildungschancen erhöhen. Um das Bildungsdefizit in unseren Partnerländern zu beseitigen, reicht die Steigerung der Schulbesuchsrate allein nicht aus. Die Qualität des Schulabschlusses muss auch zu einer Weiterbildung befähigen. Eltern müssen erkennen, dass Kinder einen nachhaltigen Nutzen aus ihrem Schulbesuch haben, dass Kinder nach der Grundbildung lesen, schreiben und rechnen können. Dies ist oft nicht der Fall. Hierzu ist neben stimmigen Lehrplänen gut ausgebildetes Lehrerpersonal in genügendem Ausmaß eine entscheidende Komponente, damit Quantität und Qualität ineinander greifen. ({5}) Neben den Einschulungsraten sollten wir verstärkt auf die Abschlussraten achten. In den ärmsten Ländern bricht jedes vierte Kind die Grundschule vorzeitig und ohne Abschluss ab, und für Millionen von Grundschulabsolventen steht kein weiterführendes System zur Verfügung. Deshalb ist es genauso wichtig, angepasste und leistungsfähige Sekundarschulbereiche insbesondere im ländlichen Raum zu installieren. Hilfreich kann hier sicherlich auch die Möglichkeit des E-Learning sein. Mit dem erfolgreichen Abschluss ihrer Ausbildung sollen die jungen Menschen für ein eigenverantwortliches Leben befähigt sein und die Qualifikation für eine weiterführende technische oder akademische Ausbildung erhalten haben; denn wie bei uns in Deutschland ist der Mangel an ausgebildeten Fachkräften im Produktions- und Dienstleistungsbereich auch in Entwicklungsländern ein immer größer werdendes Problem. Wir verfügen über ein hervorragendes Know-how im Bereich der Berufs-, Weiter- und Hochschulbildung. Genau hier lag in der Vergangenheit auch der Fokus unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit im Bildungsbereich. Unsere Partner sprechen uns immer wieder darauf an, unser Engagement in der Berufsausbildung zu verstärken, da sie erkannt haben, dass dies der beste Weg ist, bei der eigenen Industrialisierung voranzukommen und eine Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen, die nötig ist, um in der globalisierten Welt bestehen zu können. ({6}) Daher sollte dieser Schwerpunkt wie auch die Grundbildung weiter ausgebaut und verbessert werden. Eine Kooperation mit ansässigen Wirtschaftsunternehmen im Rahmen von Private-Public-Partnership-Projekten muss unseres Erachtens gefördert werden, wie zum Beispiel die Gründung einer Berufsakademie, die von in Südafrika ansässigen deutschen Unternehmen geplant ist. Die Bedeutung von Berufsausbildungsprogrammen spielt besonders im nonformalen Sektor eine große Rolle. Für junge Menschen, denen es nicht möglich war, am formalen Bildungssystem teilzunehmen, ist solch eine Ausbildung oft die einzige Möglichkeit, eine Qualifikation zu erhalten. Meine Damen und Herren, als letzten Punkt möchte ich noch auf die Zusammenarbeit im Hochschul- und Wissenschaftsbereich, der auch in den Entwicklungsländern aufgrund der Globalisierung einen immer höheren Stellenwert erhält, eingehen. Im Rahmen der Internationalisierungsstrategie werden wir unter der Federführung von Bundesforschungsministerin Annette Schavan Ansätze entwickeln, um in unseren Partnerländern moderne Hochschulbildungs-, Forschungs- und Innovationssysteme zu stärken bzw. zu entwickeln. Dabei werden wir entwicklungspolitische Instrumente mit wissenschaftlich-technischen abstimmen. Durch eine Stärkung der Hochschul- und Forschungsstrukturen wollen wir auch einer Abwanderung von Eliten aus Entwicklungsländern vorbeugen. Gut ausgebildete Fachkräfte sind für die Entwicklung in diesen Ländern unverzichtbar. ({7}) In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich auf das Engagement unserer Bundesregierung hinweisen, einen internationalen Verhaltenskodex herbeizuführen, der das Abwerben von Lehrern verhindern soll. Bei der Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der Bildung sollten wir aber auch verstärkt die Potenziale der deutschen Auslandsschulen, der Goethe-Institute oder auch der Auslandsvertretungen unserer Stiftungen nutzen und sie zur Stärkung der Bildungssysteme unserer Partner einsetzen. Bildung ist die Chance auf Entwicklung. Diese Chance wollen wir unseren Partnerländern nicht vorenthalten. Der Antrag der Koalitionsfraktionen unterstreicht diesen Ansatz. Ich bitte daher um Ihre Zustimmung. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt HüseyinKenan Aydin. ({0})

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Bildung ist ein Grundrecht. Art. 26 der UN-Menschenrechtscharta schreibt dieses Grundrecht auch fest. Hier wird klargestellt, dass jeder das Recht auf unentgeltliche Grundbildung hat. Auch das zweite der Millenniumsentwicklungsziele fordert: Primarausbildung für alle. Die Regierungen haben sich in Dakar im Jahr 2000 darüber verständigt, eine obligatorische, gebührenfreie und vor allem qualitativ gute Grundbildung für alle Kinder bis zum Jahr 2015 sicherzustellen. Daher ist auch Frau Merkel darauf verpflichtet. Damit haben alle Regierungen erkannt, dass der beste Beitrag zur Entwicklung armer Länder eine breit angelegte Initiative zur Verbesserung der Grundbildung ist. So weit scheinen sich alle auf dieser Welt einig zu sein, auch hier in diesem Hause. Die Globale Bildungskampagne stellte fest: Wenn Mädchen in den armen Ländern nur ein Jahr länger zur Schule gingen, würde ihr zukünftiges Einkommen um bis zu 20 Prozent höher liegen. Das käme auch der Entwicklung regionaler, wie aber auch nationaler Märkte zugute, da die Kaufkraft damit höher liegen würde. Wenn alle Kinder eine Grundschule besuchen könnten, hätten wir 700 000 HIV-Infektionen pro Jahr weniger, da Bildung auch zur Aufklärung beiträgt. Dennoch gehört der Sektor Grundbildung im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit zu einem der am stärksten vernachlässigten Sektoren in den letzten Jahren. Da hat Herr Königshaus vollkommen recht. Deshalb muss mehr in Grundbildung investiert anstatt gestrichen werden, auch wenn die Geberländer ihre Zusammenarbeit harmonisieren. ({0}) Denn weltweit sieht die Bildungssituation immer noch alles andere als befriedigend aus. 780 Millionen Erwachsene können weder lesen noch schreiben. Mindestens 72 Millionen Kinder haben keine Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Die Mehrheit von ihnen sind Mädchen. Allein in Afrika haben 34 Prozent der Kinder keine Möglichkeit, die Grundschule zu besuchen. Die Schulabschlussraten liegen in vielen Ländern bei unter 30 Prozent, weil man leider nur auf Quantität anstatt auf Qualität setzt. Qualität hat mit finanziellen Mitteln, mit personellen Ressourcen und mit der Ausstattung von Schulen zu tun. Diesen Zahlen zum Trotz: Für das Jahr 2009 ist weiterhin ein Anteil von nur 120 Millionen Euro für Grundbildung vorgesehen. Berechtigterweise hat der internationale Bildungsbericht 2008 der Kanzlerin das Zeugnis „ausreichend“ ausgestellt. ({1}) Durchgefallen ist die Bundesrepublik Deutschland vermutlich nur deswegen nicht, um ein Sitzenbleiben zu vermeiden. ({2}) Unter den Geberländern belegt Deutschland nur den 14. Platz. Dieses Versprechen haben Sie gebrochen, vor allem Frau Merkel als Kanzlerin, die sich diesen Millenniumszielen ebenfalls verpflichtet hat. Daher liegt Ihnen heute ein Antrag von uns vor, der Sie noch einmal an dieses Versprechen erinnert und die Einhaltung endlich einfordert. Auch die Regierungsfraktionen haben einen Antrag vorgelegt, in dem richtige Feststellungen getroffen werden ({3}) aber sonst nichts. Denn am Ende haben Sie Angst vor der eigenen Courage bekommen. Sie beenden Ihren Antrag mit Floskeln. Sie möchten weiter reden; wir wollen allerdings handeln. ({4}) Mit Schönreden ist keinem Kind in Afrika geholfen. Um den entsprechenden Anteil an den von der EU angesetzten 4,3 Milliarden Euro beizutragen, müsste Deutschland seinen für Bildung vorgesehenen Betrag auf 913 Millionen Euro erhöhen. Davon sind Sie noch meilenweit entfernt. Wie sieht die Wirklichkeit aus? Afghanistan hat mit 72 Prozent die höchste Analphabetenrate weltweit - und das nach fast sieben Jahren des sogenannten Wiederaufbaus. Dennoch ist der Schwerpunkt in Afghanistan auch 2009 beileibe nicht Grundbildung. Der Großteil des Geldes für den zivilen Aufbau geht an den Sektor Gestaltungsspielraum. Hierunter soll auch die Demokratisierung fallen. Doch wie wollen Sie ein Land, das von Hungerkrisen bedroht ist, das sich im Krieg befindet und in dem 70 Prozent Analphabeten leben, demokratisieren? Können Sie mir das verraten? Stimmen Sie nicht auch mit mir darin überein, dass dazu vor allem Bildung notwendig ist? Stattdessen werden weiter über 500 Millionen Euro für Kriegseinsätze in Afghanistan eingesetzt. Ich fordere Sie auf: Beenden Sie diese Einsätze! Mit diesen eingesparten 500 bis 600 Millionen Euro könnte man in Afghanistan einen besseren Aufbau durch Bildung und damit auch Demokratisierung vorantreiben. Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Mir liegen noch zwei Anmeldungen für Zwischenfragen vor. Sollen dies nun Kurzinterventionen werden? Dann machen Sie eine Kurzintervention, Herr Raabe.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Aydin, wir hatten gerade diese Woche auf Einladung von Frau Staatssekretärin Kortmann einen afghanischen Abgeordneten als Gast. Er hat uns berichtet, dass im Süden des Landes, wo Schulen aufgebaut werden, diese Schulen von den Taliban sofort niedergebrannt und zerstört werden. Er hat uns eindringlich gebeten, militärischen Schutz zu geben. Er hat nämlich gesagt, dass es gar keinen Sinn macht, Schulen zu bauen, wenn wir nicht gleichzeitig durch Militär dafür sorgen, dass diese Schulen stehen bleiben. Ich finde, das sollten Sie bedenken. Man leistet in Afghanistan viel für die Bildung, wenn man nicht nur Schulen baut, sondern auch dafür sorgt, dass diese Schulen stehen bleiben. Sie unterstützen allerdings indirekt diejenigen, die diese Schulen zerstören, ({0}) und insofern setzen Sie sich dort weniger für Bildung ein als wir. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nun haben Sie, Frau Pfeiffer, das Wort.

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Aydin, ich kann mich eigentlich dem anschließen, was der Kollege Raabe gesagt hat. Ich rate Ihnen dringendst, sich einmal nach Afghanistan zu begeben. Schauen Sie sich dort eine Schuleröffnung an; das habe ich gemacht. Wir haben zusammen mit dem Staatssekretär Kossendey eine Schule für 1 500 Kinder eröffnet. Davon waren mehr als die Hälfte Mädchen. Das ist also an sich schon eine tolle Schule. Das, lieber Kollege Aydin, konnten wir nur machen, weil sowohl die afghanischen als auch die deutschen Sicherheitskräfte nicht uns bewachten, sondern die Schuleröffnung an sich. Dies bestätigt genau das, was wir sagen, dass nämlich dieses Land nur dann eine Zukunft hat, wenn wir dem Umstand Rechnung tragen, dass Entwicklung nur möglich ist, wenn die Sicherheit gewährleistet ist. Wenn wir nicht sichern, können wir nicht aufbauen. Die Reihenfolge, die Sie vorschlagen, lieber Kollege, ist meines Erachtens also völlig falsch. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Aydin, zur Antwort, bitte.

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Kollege Raabe, liebe Kollegin Pfeiffer, ich habe bereits in meiner Rede darauf hingewiesen, dass der sogenannte Aufbau mit militärischen Hilfen seit sieben Jahren andauert, und seit sieben Jahren ist kein Fortschritt zu erkennen. ({0}) Sieben Jahre lang ist es nicht gelungen, die Taliban mit den Mitteln des Krieges zu bekämpfen. ({1}) Die Taliban werden auch in weiteren sieben Jahren mit Kriegsmitteln nicht bekämpft werden können. ({2}) Das sollten Sie endlich begreifen. Deshalb fordere ich Sie noch einmal auf: Beenden Sie den Kriegseinsatz in Afghanistan! ({3}) Bereiten Sie das mit einer vernünftigen Exit-Strategie vor. Lassen Sie Afghanen Afghanistan in die Hand nehmen, und lassen Sie sie uns mit unseren Mitteln dabei unterstützen, dass das Land vernünftig aufgebaut wird; das geht nicht mit einem Kriegseinsatz. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Ute Koczy hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So wichtig das Thema Afghanistan auch ist: Ich möchte mich zum Thema Bildung äußern; denn das steht heute Abend im Mittelpunkt. Ich möchte zunächst - wie alle anderen auch; da sind wir uns zum Glück einig - darauf hinweisen, dass Bildung ein Schlüsselelement für die Weiterentwicklung und die Beseitigung von Armut ist. ({0}) Wer über eine gute Bildung verfügt, hat einfach mehr Chancen, am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Dass das inzwischen Konsens ist und auch wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt wird, ist, denke ich, ein gutes Zeichen. Wir wissen auch - das zeigen die Studien -, dass dadurch die Wahrscheinlichkeit geringer wird, dass sich Menschen mit HIV infizieren; denn wenn eine Person entsprechend gebildet ist, dann weiß sie damit umzugehen. Bildung führt also in der Gesundheit und auch in anderen Bereichen zu Fortschritten. Das gilt ebenfalls für die Mütter- und Kindersterblichkeitsrate. Bildung bewirkt, dass die hohe Rate sinkt. An dieser Stelle wird der klassische Zusammenhang deutlich: In dem Augenblick, in dem man bei Bildung ansetzt, werden auch in anderen Schlüsselbereichen der Entwicklungspolitik Erfolge erreicht. Angesichts dessen ist es gut, dass die Weltgemeinschaft inzwischen darauf hingewiesen hat, dass die Grundschulbildung für alle Kinder bis 2015 ein zentrales Millenniumsentwicklungsziel ist. Es gibt gemeinsame Anstrengungen, und es gibt auch Erfolge. Es gibt vor allem in der Subsahara hohe Steigerungsraten bei der Einschulungsquote. Sie stieg dort im Zeitraum von 1999 bis 2005 von 57 Prozent auf 70 Prozent. Dies zeigt, dass mit den Millennium Development Goals eine positive Entwicklung erreicht worden ist. Das ist Ansporn genug, sich noch stärker dafür einzusetzen, dass die 70 Millionen Kinder, die noch keine Schulbildung haben, diese auch noch erhalten. ({1}) Deutschland sollte sich überlegen, wie es sich in diesem Bereich stärker engagieren kann. Wir haben mit Aufmerksamkeit gelesen, was die Koalition, aber auch die Linke geschrieben hat: Im Jahr 2005 landete Deutschland mit seinen Beiträgen zur Grundbildung in der Entwicklungszusammenarbeit auf Platz 16 der 22 Hauptgeberländer der OECD. Das ist natürlich keine Erfolgsgeschichte. Es zeigt vielmehr, wie stark man dies vernachlässigt hat. Deswegen ist es sehr wichtig und zu begrüßen, dass die Ausgaben im Rahmen der bilateralen Zusammenarbeit für das Haushaltsjahr 2009 verdoppelt werden sollen. Aber ich füge hinzu: Das ist nicht ausreichend, um das Ziel tatsächlich zu erreichen. Ich hätte mir auch gewünscht, dass die Beiträge für die Fast-Track-Initiative der Weltbank höher ausgefallen wären; denn diese Initiative scheint ein ganz guter Ansatz zu sein, um die Eigenverantwortung in den Partnerländern beim Thema Bildung zu stärken. Frau Kollegin Kofler hat darauf schon hingewiesen. Zu den Anträgen folgende Bemerkungen: Der Antrag der Koalitionsfraktionen beschreibt den gesamten Bereich „Bildung in der Entwicklungspolitik“. Neben der Grundbildung nennen Sie einige weitere wichtige Handlungsfelder wie zum Beispiel weiterführende Bildung, Berufsschulbildung und Ausbildung in fragilen Staaten. Es lässt sich allerdings im Forderungsteil nicht immer nachvollziehen, worin denn der optimale deutsche Beitrag liegen soll. Das heißt, viele der Forderungen sind richtig, aber sie sind zu unkonkret. Beispiel: Eine Ihrer Forderungen ist, sich dafür einzusetzen, die Fast-TrackInitiative der Weltbank ihrer Bedeutung nach angemessen finanziell auszustatten. Die Frage ist aber: Was ist „angemessen“? Da hätten wir uns natürlich gewünscht, dass man hier klare Zahlen auf den Tisch legt. Wir von der Opposition weisen Sie gerne darauf hin, dass Sie an dieser Stelle ein bisschen unkonkret geblieben sind. Wer mehr Priorität für die Grundschulbildung einfordert, muss aber auch die starke Diskrepanz bei den Ausgaben für den Schwerpunkt Bildung und den Ausgaben für die Hochschulkooperation mit den Entwicklungsländern ansprechen. Da stellen sich schon die Fragen: Wie viele Universitäten gibt es denn in Afrika? Wie werden diese unterstützt? Besteht da nicht ein schwarzes Loch, weil wir viel zu wenig Aufmerksamkeit darauf gerichtet haben, sodass wir an einer Veränderung arbeiten müssen? Spannend wird es auch, wenn Sie von den komparativen Vorteilen Deutschlands bei der Konzeption von Bildungssystemen sprechen. Da hätte mich schon interessiert, wo Sie diese sehen, und vor allen Dingen, wie diese in Entwicklungsländer eingebracht werden können. Grundsätzlich frage ich mich, wie die Bundesregierung all die verschiedenen Bildungsbereiche, die Sie ansprechen und die ich auch für wichtig halte, mit einem Budget von knapp 150 Millionen Euro für 2009 tatsächlich bewältigen will. Es reicht eben nicht aus, nur den Bogen zu spannen und ein Kessel Buntes zusammenzufügen, ohne zu präzisieren, wohin man will. Deswegen werden wir uns bei diesem Antrag enthalten. Das gleiche Votum gilt auch für den Antrag der Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion. Dieser Antrag ist aufgrund der knapp gehaltenen und guten Analyse der aktuellen Situation lesenswert. Aber wir sind nicht Ihrer Auffassung, dass die Studienplatzkosten ausländischer Studierender in Deutschland nicht auf die ODA-Quote angerechnet werden sollen. Das hätte andere Förderungsinstrumente zur Folge. Wir sind daher der Auffassung, dass Sie da und in weiteren Punkten nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen haben. Deswegen enthalten wir uns bei Ihrem Antrag. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel spricht jetzt für die SPD-Fraktion. ({0})

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren auf den Rängen im Parlament zu dieser etwas vorgerückten Stunde! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weltweit verbringen Frauen wesentlich mehr Zeit als Männer mit Erwerbs- und Hausarbeit. Frauen erhalten für diese Arbeiten weniger, geben aber mehr Geld für die Ernährung und die Gesunderhaltung ihrer Familien aus. Frauen investieren ihr Geld eher in die Bildung ihrer Kinder, als Männer dies tun. Frauen könnten, wenn wir ihnen die Möglichkeit geben, wesentlich mehr zum wirtschaftlichen Wachstum ihrer Länder beitragen. Aber 60 Prozent der Frauen weltweit sind Analphabetinnen. Es sind zuerst die Mädchen, die aus der Schule genommen werden, wenn Eltern das Geld für Schuluniform, Schulgeld oder Lehrmittel fehlt. Mädchen müssen die Schule verlassen, weil ihre Arbeitskraft gebraucht wird, und Mädchen werden viel zu jung verheiratet, statt sie lernen zu lassen. ({0}) Mädchen, die die Schule besuchten, werden zu Frauen und Müttern, die für sich und ihre Kinder besser sorgen, weil sie nämlich durch das Lernen etwas über ihren Körper erfahren haben. Dadurch verringert sich ihr Risiko, bei der Geburt ihrer Kinder zu sterben. Durch die Bildung ernähren sie sich gesünder und achten auf medizinische Versorgung für ihre Kinder. Die Sterblichkeitsrate ihrer Kinder ist nur halb so hoch wie bei Müttern ohne Schulbildung. ({1}) 73 Prozent der Kinder, deren Mütter die Schule besucht haben, werden in die Schule geschickt. Bei Müttern ohne Schulbildung dürfen dagegen nur 51 Prozent der Kinder in die Schule gehen, und das sind dann meistens die Jungen. ({2}) Frauen mit Schulbildung sind in der Lage, sich sowohl um ihre eigenen Rechte als auch um die Rechte ihrer Kinder besser zu kümmern. Meine Damen und Herren, diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass Bildung weit mehr ist als bloße Wissensanhäufung. Bildung hat insofern eine hohe Rendite: Jeder Euro, der investiert wird, hat eine Rendite von mindestens 50 Euro. Bildung ist emotionale, kognitive und gesundheitliche Bildung. Fehlende Bildung von Mädchen und Frauen hat auch Auswirkungen auf die Jungen und auf die Männer und damit auf die Entwicklungschancen einer ganzen Gesellschaft. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle von einem Projekt berichten, das ich in Äthiopien kennengelernt habe. Die Kindernothilfe, ein evangelischer Verein aus Duisburg, initiiert dort Selbsthilfegruppen. Angesprochen werden die ärmsten unter den armen Frauen. Allein schon, dass andere Menschen sie als so wertvoll erachten, dass sie angesprochen werden, dass ihre Bedürfnisse und Nöte in den Mittelpunkt rücken, stärkt und bildet ihre Persönlichkeit. Sie erleben sich erstmalig als Menschen, die Rechte haben. Sie machen die Erfahrung, dass Menschenrechte unabhängig von Armut oder Reichtum, unabhängig von Bildung, unabhängig vom Geschlecht, also auch für die Frauen, gelten. Ein Satz, den wir immer wieder gern wiederholen, ist, dass Menschenrechte unteilbar sind. Diese Frauen erleben es ganz praktisch. ({3}) Diese Frauen erhalten Beratung und Unterstützung dabei, gemeinsam von ihrem wirklich minimalen Besitz einen winzigen Bruchteil zu sparen. Gemeinsam entscheiden sie auch, was mit dem Geld geschehen soll, was für sie wichtig ist, nicht, was für die wichtig ist, die sie dazu anleiten. Jede Einzelne kann aus dem großen Topf einen Kredit bekommen. Existenzgründungen werden möglich. Sie können besser für ihre Familien sorgen; denn sie bestimmen über den Einsatz der Gelder. Sie verfügen über Wissen und Mittel, und sie treffen - oft erstmalig - eigenständige Entscheidungen. Durch diese Erfahrungen geschieht Bewusstseinsbildung. Die Frauen erkennen, dass sie ihr Leben und das Leben ihrer Kinder selbst in die Hand nehmen können. Sie wissen, dass sie sich gemeinsam gegen die Tradition der Genitalverstümmelung zur Wehr setzen müssen, und sie haben es geschafft - auch wieder gemeinsam -, ihre Töchter, ihre Kinder vor dieser Form der Gewalt zu bewahren. Sie erfahren auch, dass Schulausbildung dabei hilft, eine Lebensperspektive zu entwickeln und den Weg aus der Armut zu finden. Diese Erfahrung, für sich selbst etwas bewirken zu können, für eigene Belange und Rechte gemeinsam einzutreten, geben die Frauen an ihre Kinder weiter. Das ist eine ganz andere Art von Bildung. Hier kann Demokratiebildung entstehen und wachsen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Wenn wir Mädchen und Frauen Bildung ermöglichen, wenn die Frauen die gleichen Chancen erhalten wie die Männer, dann kann Zukunftsbildung stattfinden. Wir haben das in unserem Antrag in mehreren Punkten deutlich beschrieben. Wenn wir die Frauen in ihrem Engagement unterstützen, werden wir auch den Millenniumszielen näherkommen. Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag unbedingt zuzustimmen, den Frauen zuliebe. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/10360. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/9424 mit dem Titel „Förderung von Bildung und Ausbildung Entwicklungspolitischen Schlüsselsektor konsequent ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalition, Gegenstimmen von FDP und Linke sowie Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8812 mit dem Titel „Entwicklung braucht Bildung - Den deutschen Beitrag erhöhen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von Koalition und FDP gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Lobbyisten in den Ministerien - Drucksache 16/9484 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Haushaltsausschuss Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren, wobei Die Linke fünf Minuten erhalten soll. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Zu Beginn der Debatte gebe ich das Wort dem Kollegen Roland Claus für Die Linke. ({1})

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Allein der Titel unseres Antrages erklärt unser Anliegen: „Keine Lobbyisten in den Ministerien“. Gemeint sind etwa 100 Vertreter der privaten Wirtschaft, der Banken und von Wirtschaftsverbänden, die zeitweilig in den Bundesministerien arbeiten, aber auf den Gehaltslisten von Unternehmen stehen. Wir führen darüber seit etwa zwei Jahren im Bundestag eine Debatte. Es gab Anfragen aller drei Oppositionsfraktionen und Medienrecherchen. Eine fraktionslose Abgeordnete hat diese Frage schon 2003 gestellt. Deshalb hat sich der Haushaltsausschuss des Bundestages mit dem Sachverhalt beschäftigt. Der Bundesrechnungshof hat einen sehr eindringlichen Bericht verfasst, aus dem ich einen Satz zitieren möchte: Das Risiko von Interessenkonflikten besteht allerdings in erster Linie bei Beschäftigten von Einzelunternehmen und Verbänden, die naturgemäß eigene, häufig gewinnorientierte Interessen verfolgen. Genau dort liegt der Kern des Problems. Während die Bundesregierung, nicht zuletzt per Amtseid, dem Gemeinwohl verpflichtet ist, sind Vertreter einer Bank selbstverständlich in erster Linie dem Gewinninteresse der Bank verpflichtet. Wer diesen Interessenkonflikt gering schätzt oder gar aus der Welt räumen will, der ist schlicht und einfach naiv. ({0}) Nun sind diese Verbände nicht etwa ausgewogen vertreten. Man könnte denken, die Bundesregierung schaut sich die ganze Zivilgesellschaft an und bildet sie entsprechend ab: vom Arbeitslosenverband über Gewerkschaften bis zum Bundesverband privater Banken. Aber Fehlanzeige! Es ist schön einseitig. Ich will Ihnen nicht alle hundert Namen vorlesen, aber Beispiele: Bayer AG, BASF, Eon, PricewaterhouseCoopers, Kreditanstalt für Wiederaufbau - an mehreren Stellen vertreten -, Daimler, Dresdner Bank. Das ist schon ein relativ einseitiges Bild. ({1}) Der Haushaltsausschuss hat deshalb im Juni einen Beschluss gefasst, und zwar einstimmig, und gesagt: Wir brauchen klarere Regelungen. Der Ausschuss hat zur Kenntnis genommen, dass die Bundesregierung erklärt hat, sie wolle dazu ebenfalls einen Beschluss fassen. Das hat sie im Juni auch gemacht. In wesentlichen Punkten aber ist sie nicht den Vorgaben des Haushaltsausschusses gefolgt, was dazu führte, dass der haushaltspolitische Sprecher der Union im Ausschuss wirklich im Quadrat gesprungen ist, nicht etwa, weil er sich gefreut hat, sondern weil er sich geärgert hat. Jetzt spricht die Bundesregierung schlicht von einem Austauschprogramm. Was wird denn dort ausgetauscht? Die Meinung der Bundesregierung gegen die Meinung der Deutschen Bank, oder was? Oder man verharmlost das und sagt: Die tun nichts. Woher kenne ich den Spruch bloß? Wenn man einmal zusammenrechnet, was diese 100 Leute im Jahr verdienen, dann kommen mindestens 10 Millionen Euro dabei heraus. Das ist ein Vielfaches dessen, was die Bundestagsparteien - außer der Linken - von der Allianz an Spenden bekommen; davon war schon die Rede. Deshalb haben wir unseren Antrag gestellt. Ich sage Ihnen noch etwas: Sie können nicht den ganzen Morgen in einer Debatte zubringen, in der Sie mehr Regulierung der internationalen Finanzmärkte fordern und verlangen, dass endlich Ordnung geschaffen wird - es sind viele harsche Worte gefallen -, und eine fortgesetzte Lobbyarbeit für Banken in den Bundesministerien dulden. Das passt nicht zusammen. ({2}) Für uns ist eine Konsequenz, dass Lobbyisten nicht in den Ministerien beschäftigt sein sollten. Im Übrigen hoffe ich, dass sich das Gerücht nicht bestätigt, wonach die Bundesregierung beabsichtigt, die Treuhand Liegenschaftsgesellschaft, also den ostdeutschen Immobilienlogistiker, an Lone Star zu verkaufen. Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag „Keine Lobbyisten in den Ministerien“. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ralf Göbel hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.

Ralf Göbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003535, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Frühsommer dieses Jahres haben wir schon einmal eine Debatte über die Mitarbeit von Externen in der Bundesverwaltung geführt. Grundlage und Anlass für die damalige Debatte war der Bericht des Bundesrechnungshofes, der einige kritische Anmerkungen zu Art und Umfang der Einbeziehung Externer in verschiedenen Bereichen der Bundesverwaltung gemacht hat. Der Zeitraum, der vom Rechnungshof untersucht wurde, reichte von 2004 bis 2006. Der Rechnungshof hat damit eine wichtige Diskussion angestoßen, die allerdings nicht neu ist. Es geht um die Frage, in welchem Umfang es öffentlichen Verwaltungen erlaubt ist, verwaltungsexterne Personen temporär mit Aufgaben der öffentlichen Verwaltung zu betrauen bzw. sie in Prozesse einzubinden. Das ist ein Thema, das in der wissenschaftlichen Diskussion schon sehr lange erörtert wird, und zwar - je nach Position des Betroffenen - mit verschiedenen Ergebnissen. Ich plädiere dafür, dieses Thema sehr differenziert zu betrachten. Pauschalierungen sind hier nicht geeignet, Alarmismus im Übrigen auch nicht. Ein Personaltausch zwischen Wirtschaftsverbänden und Verwaltung ist nicht grundsätzlich verwerflich; denn er bietet die Möglichkeit, gegenseitig in die Strukturen und Prozesse Einblick zu nehmen und Erkenntnisse zu gewinnen, wie die andere Seite arbeitet und wie andere Verfahren laufen können. Es gibt sicherlich auch keine Einwände dagegen, Sachverstand zeitlich begrenzt einRalf Göbel zubringen, insbesondere bei komplexen Materien. Ich glaube, das ist ein wesentlicher Schritt zu mehr Qualität gesetzlicher Regelungen. Es ist wesentlich besser, wenn Experten, die sich in diesen komplexen Materien auskennen, an diesen Vorhaben mitwirken, ({0}) als wenn sich die öffentliche Verwaltung alleine damit beschäftigt. Es ist aber klar - das ist im Sommer dieses Jahres schon betont worden -, dass es keinen Einsatz von Externen geben darf, wenn es zu Interessenkollisionen kommt. Es ist klar, dass kein Einsatz stattfinden darf, wenn dadurch Wettbewerbsvorteile erzielt werden können. Auch ist klar, dass ein Einsatz nicht möglich ist, wenn dadurch das Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit und die Gemeinwohlverpflichtung der öffentlichen Verwaltung infrage gestellt wird. Ebenfalls ist klargestellt worden, dass Transparenz gegeben sein muss. Die Bundesregierung hat die Grundsätze, die nicht nur vom Haushaltsausschuss, sondern auch vom Innenausschuss aufgestellt worden sind, in eine Verwaltungsvorschrift umgesetzt, die Verbindlichkeit für alle Bundesministerien besitzt. Sie wurde am 18. Juni dieses Jahres im Kabinett beschlossen und am 25. Juli im Bundesanzeiger veröffentlicht. Meines Erachtens hat die Bundesregierung alles aufgegriffen, über das im Deutschen Bundestag zu diesem Thema diskutiert worden ist: Die Zulässigkeit und die Steuerung eines Einsatzes sind geregelt. Eine Risikoabschätzung ist vorzunehmen, und es ist eine Kontrolle durchzuführen. Entlohnung und Transparenz sind geregelt. Wir werden demnächst im Innenausschuss und im Haushaltsausschuss einen Bericht über den Einsatz Externer in der Bundesverwaltung bekommen, so wie es in der Verwaltungsvorschrift geregelt ist. Darüber hinaus ist ein Verhaltenskodex für diejenigen erstellt worden, die als Externe in der Bundesverwaltung arbeiten. Insoweit halte ich den Antrag, über den wir heute diskutieren, für völlig überholt. Ich glaube auch, dass einige Formulierungen im Antrag etwas weit von der Wirklichkeit entfernt sind. In der Begründung lese ich: Die Lobbyisten dürfen erst im geordneten parlamentarischen Verfahren ihre Vorstellungen öffentlich vortragen. Das heißt ja, dass weder Gewerkschafter noch Unternehmensvertreter noch Verbände im Vorfeld eines Gesetzgebungsverfahrens mit den Ministeriumsvertretern reden dürfen. Mich würde einmal interessieren, wie die Praxis im Bundesland Berlin ist, ob sich die Senatoren der Linken auch dort ein Rede- und Kontaktverbot verordnen lassen, bevor sie einen Gesetzentwurf in das Berliner Abgeordnetenhaus einbringen. ({1}) Ich glaube, das, was hier gefordert wird, ist abenteuerlich. Gewerkschaften werden im Übrigen ihre helle Freude daran haben, zu erfahren, dass die Sozialreferenten an den deutschen Auslandsvertretungen abgezogen werden müssen, weil die Linke das in ihrem Antrag genauso fordert wie den Abzug der Wirtschaftsvertreter, die in den Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt sind. Zum Schluss komme ich auf die Antragsbegründung zu sprechen. Als Beamtenrechtler freut mich sehr, dass die Linke nun den in Art. 33 Abs. 4 des Grundgesetzes verankerten Funktionsvorbehalt so hochhält und das Beamtentum preist. Ich muss allerdings sagen: Ich war dann auf Ihrer Homepage. Unter dem Stichwort „öffentlicher Dienst“ steht: Die Abschaffung des Berufsbeamtentums wird angestrebt. ({2}) Ich glaube, das zeigt, wie seriös dieser Antrag zu behandeln ist. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Christian Ahrendt das Wort für die FDPFraktion. ({0})

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Claus, Sie haben bei Ihrer Aufzählung beispielsweise darauf verzichtet, zu erwähnen - es war in der Anfrage der FDP-Fraktion nachzulesen -, dass die IG Metall im Arbeitsministerium vertreten ist. Insofern sind die Lobbyinteressen gleichermaßen an vielen Stellen vertreten. Was wichtig ist - das sprachen Sie zu Recht an -: Es kann nicht sein, dass rund 108 Mitarbeiter im Zeitraum 2004 bis 2006 an Gesetzgebungsvorhaben mitgewirkt haben, ohne dass man es weiß. Es kann auch nicht richtig sein - diese Fälle hat der Rechnungshof dokumentiert -, dass Mitarbeiter, die von Unternehmen oder Verbänden bezahlt werden, an Gesetzesvorhaben mitgewirkt haben, die ihre Unternehmen oder Verbände betrafen. Das ist inakzeptabel - das steht außer Frage -, und zwar aus dem einfachen Grund: Ein Gesetzgebungsverfahren ist mit dem Anspruch verbunden, dass die Interessen gegeneinander abgewogen und dann im Sinne des Gemeinwohls gewichtet werden. Allerdings findet Gesetzgebung nicht im Elfenbeinturm statt; sie muss sich letztendlich an der Lebenswirklichkeit orientieren. Sie haben die Finanzmarktkrise angesprochen. Ohne dass ich den Herrschaften im Finanzministerium zu nahe treten möchte: Ich glaube nicht, dass Sie ohne Spezialisten, die sich auf den internationalen Finanzmärkten auskennen, vernünftige Regularien entwickeln können, ({0}) durch die man in der Lage ist, Krisen zukünftig zu vermeiden. Es ist sehr wohl wichtig, dass Spezialisten schon frühzeitig in Gesetzesinitiativen eingebunden werden, damit keine Gesetze entworfen werden, die an der Lebenswirklichkeit vorbeigehen. Das Problem bekommt man dadurch in den Griff - teilweise ist das schon umgesetzt -, dass man die Gesetze mit entsprechender Transparenz versieht. Das kann man beispielsweise dadurch erreichen, dass, wenn aufseiten der Ministerien Spezialisten mitgewirkt haben, in den Gesetzesvorlagen ausdrücklich darauf hingewiesen wird. Das hätte erstens den Vorteil, dass man im Initiativverfahren gar kein Interesse daran hat, Beeinflussungen vorzunehmen, weil man weiß, dass die Konkurrenz darauf sofort anspringen würde. Der zweite Vorteil wäre, dass man kompetentes Wissen frühzeitig einbinden könnte, um Gesetze nicht an der Wirklichkeit vorbeigehen zu lassen. Der Vorschlag, den Sie mit Ihrem Antrag machen, nämlich hier ein Beschäftigungsverbot auszusprechen, bedeutete schlichtweg, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Er hat auch keine Grundlage im Grundgesetz. Wenn Sie den entsprechenden Art. 33 richtig lesen, dann werden Sie feststellen, dass der Gesetzgeber gesagt hat: In der Regel sollen im öffentlichen Dienst Beschäftigte an hoheitlichen Aufgaben mitwirken. Das heißt aber nicht: ausschließlich. Insofern hat schon der Grundgesetzgeber eine entsprechende Öffnung vorgenommen. Es besteht kein Anlass, Ihrem Antrag zu folgen. Das meiste ist umgesetzt. Mehr Transparenz ist wünschenswert. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Peter Friedrich spricht jetzt für die SPDFraktion. ({0})

Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003754, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben nicht nur im April, sondern auch im Juni dieses Jahres eine Debatte über das Verhältnis von Parlament, Regierung und Interessenvertretungen geführt. Als Ergebnis dieser Debatte möchte ich festhalten: Wir alle waren einvernehmlich der Überzeugung, dass Interessenvertretungen zu einer demokratischen Verfassung gehören und dass Interessenvertretung legitim ist, wenn sie keinen unzulässigen Einfluss auf staatliche Institutionen ausübt. Wir alle wissen: Es ist notwendig, dass in einem Gesetzgebungsverfahren alle Betroffenen angehört und all ihre Befürchtungen und Sorgen berücksichtigt werden. Gleichwohl stehen wir vor der Aufgabe, die Verhältnisse klarer zu regeln, und zwar nicht nur im konkreten Fall der Mitarbeit in einem Ministerium, sondern insgesamt. Aufgrund der ungeregelten Verhältnisse im Zusammenhang mit Lobbyismus bzw. Interessenvertretung könnte das Vertrauen in die Legitimität des Handelns von Parlament und Regierung infrage gestellt werden. Das gilt in besonderer Weise für die vorübergehende Mitarbeit von Personen in Bundesbehörden. Der Bundesrechnungshof hat hierzu einen Bericht vorgelegt - er wurde bereits angesprochen - und eine ganze Reihe von Hinweisen gegeben, die das Bundesinnenministerium in die entsprechende Dienstanweisung weitestgehend aufgenommen hat. Herr Claus, gestatten Sie mir, auf Folgendes hinzuweisen: Ich habe den Bericht des Bundesrechnungshofes und den Bericht des Innenministeriums genau gelesen. Ich finde, dass Sie mit Ihrer Interpretation ein bisschen über das Ziel hinausgeschossen sind. Nicht alle 100 Lobbyisten, von denen Sie sprachen, gehörten deutschen Unternehmen an. Das betraf nur den kleinsten Teil von ihnen, genauer gesagt 16 Prozent, und auch diese 16 Prozent waren nicht per se an entsprechenden Stellen. Wir alle kennen solche Beispiele und sind darüber besorgt. Deswegen müssen wir hier etwas tun. In manchen Unternehmen - es kam der Zwischenruf „Fraport!“; ein anderes Beispiel ist die Telekom - kam es in der Vergangenheit zu Fehlentwicklungen, die wir beenden müssen. Wenn wir den Inhalt der Vorlage der Bundesregierung umsetzen, können sie aus unserer Sicht weitgehend beendet werden. Sie dürfen nicht so tun, als handele es sich in jedem Fall, in dem jemand die Seiten wechselt, um eine unberechtigte Einflussnahme in Bundesbehörden. Das ist nicht so. Das Programm, durch das Mitarbeitern aus der Privatwirtschaft zeitlich begrenzt und in Positionen mit geringer Verantwortung die Möglichkeit gegeben wird, einmal auf die andere Seite, nämlich in ein Ministerium, zu blicken - das gilt auch umgekehrt -, ist sehr sinnvoll. Dadurch können das wechselseitige Verständnis und die Gesetzgebung verbessert werden. Außerdem kann die Arbeit privater Unternehmen und Organisationen besser kontrolliert werden. Durch die Beispiele, die Sie angeführt haben, haben Sie allerdings den Anschein erweckt, als seien all diese Personen Entsandte der Industrie. Das war bisher mitnichten so. Es traf lediglich auf wenige Einzelfälle zu, die uns gleichwohl besorgt machen sollten. Des Weiteren finde ich, dass Ihr Antrag an einer Stelle ein ganz gewaltiges Manko aufweist; deswegen ist die SPD-Fraktion mit der Vorlage des Innenministeriums noch nicht ganz zufrieden. Sie fordern in Ihrem Antrag, den Bundesbehörden zu untersagen, externe Personen zu beschäftigen, die für Verbände oder für eine Personenund Kapitalgesellschaft mit nichtstaatlichen Anteilseignern arbeiten. Hierzu möchte ich Ihnen ein Beispiel nennen: die Deutsche Bahn. Da Sie sich an den Diskussionen über die Deutsche Bahn immer aktiv beteiligt haben, wissen Sie: Die Bahn ist zu 100 Prozent ein Bundesunternehmen. Gleichwohl möchte natürlich auch ich wissen: Wie ist hier der Personalaustausch geregelt? Wie ist hier die Situation im Hinblick auf die Mitarbeit in Ministerien? Ich halte es nach wie vor für legitim, dass bestimmte Personen abgestellt werden, auch von nachPeter Friedrich gelagerten Behörden und öffentlichen Unternehmen. Ich möchte aber, dass Transparenz besteht. Der Bürger sollte erfahren: Wer hat mitgewirkt? Wer stand dahinter? Wenn ich mir den Bericht des Innenministeriums, der uns jetzt vorliegt, ansehe und zur Kenntnis nehme, wie hoch die Zahl externer Personen ist und wie das Kriterium „extern“ gefasst ist, muss ich sagen: Dieses Raster halte ich, ehrlich gesagt, für etwas zu grob. Auch hier wird der Begriff „öffentlicher Dienst“ verwendet. Dann wird eine ganze Reihe von Personen dem öffentlichen Dienst gleichgestellt: juristische Personen, Gesellschaften oder andere Personenvereinigungen, die sich ausschließlich in öffentlicher Hand befinden, zwischenstaatliche oder überstaatliche Einrichtungen, an denen der Bund, ein Land oder eine andere Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts im Bundesgebiet oder ihre Verbände durch Zahlung von Beiträgen oder Zuschüssen oder in anderer Weise beteiligt sind. - Das ist ein sehr weites Feld. Ich sage Ihnen noch einmal: Es geht nicht darum, einen Austausch per se zu untersagen, sondern darum, Transparenz zu schaffen. Alle sollten wissen, wer dort tatsächlich arbeitet. Daher hält die SPD den Vorschlag, im jeweiligen Gesetz zu vermerken, wer an seiner Beratung und an seinem Zustandekommen beteiligt war - dieser Vorschlag wurde eben gemacht -, für sinnvoll und zielführend. Des Weiteren sollten die Berichte über den Einsatz Externer öffentlich sein, um diese Transparenz herzustellen. Es reicht aus unserer Sicht nicht aus, dies allein den Ausschüssen zur Verfügung zu stellen, sondern wir finden, dass einer breiten Öffentlichkeit mitgeteilt werden kann, wer an den Gesetzgebungsverfahren tatsächlich mitwirkt. Nach allem, was wir wissen, kann man das durchaus publizieren; denn es gibt ja nichts, was dort geheim gehalten werden müsste. Dadurch würde Transparenz hergestellt und Vertrauen dafür geschaffen werden, dass es dort ordnungsgemäß zugeht. Wir haben daran keinen Zweifel, aber eine entsprechende Transparenz ist notwendig. Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, um den es in dieser Debatte immer wieder geht. Für den Deutschen Bundestag gibt es ein Verbändeverzeichnis, in dem aufgeführt ist, welche Verbände prinzipiell zu Anhörungen etc. eingeladen werden können. Leider wird dieses Verbändeverzeichnis bei Anhörungen in der Regel nicht angewendet, sondern es werden weit mehr Verbände eingeladen, als darin aufgeführt sind. Häufig wissen wir eigentlich nicht, wer hinter diesen Verbänden steht und wer die Interessen vertritt, die diese Verbände formulieren. Deswegen ist es unser Wunsch und unsere Hoffnung, dass wir es gemeinsam hinbekommen, dass dieses Verbändeverzeichnis dahin gehend erweitert wird, dass wir in Zukunft nicht mehr nur den Sitz und den Namen erfahren, sondern auch, wer diesen Verbänden welche Zuwendungen und Mittel für ihre Tätigkeit als Interessenvertretung zur Verfügung stellt. Das wäre ein weiterer Schritt. Eine Interessenvertretung soll, muss und kann erfolgen; sie muss aber transparent sein und sich nachvollziehen lassen. In diesem Sinne wäre ich froh, wenn wir als Parlament bei dem, was jetzt vom Innenministerium auf dem Tisch liegt, noch ein bisschen weitergehen würden. Es ist Aufgabe des Parlaments, darüber zu wachen, dass die Gesetzgebung ordnungsgemäß verläuft, und es ist Aufgabe des Parlaments, die Exekutive zu kontrollieren. Deswegen finden wir, dass das eine Aufgabe für das gesamte Parlament und nicht nur für einzelne Ausschüsse ist. Wir denken, dass das, was jetzt von der Bundesregierung in Reaktion auf den Bericht des Bundesrechnungshofs auf den Weg gebracht wurde, noch ein wenig ausgebaut werden muss, um die notwendige Transparenz tatsächlich zu erreichen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Transparenz in der öffentlichen Verwaltung und Neutralität des exekutiven Handelns sind natürlich wichtige Themen für die Demokratie. Deshalb haben wir bereits im April dieses Jahres einen Antrag eingebracht, den wir am 25. April hier gelesen haben. Aus diesem Grunde fragt man sich: Warum müssen wir im Nachklapp um diese Zeit noch einmal über einen Antrag zu diesem Thema debattieren, zumal er einfach schlecht gemacht ist? ({0}) Sie sagen, dass es keine externen Mitarbeiter bei Bundesbehörden mehr geben solle. In Ihrer Begründung zitieren Sie auch noch den Satz des Bundesrechnungshofs, wonach ein besonderes Problem bei Personenunternehmen bestehe. Ausgerechnet diese lassen Sie aus Ihrem Antrag aber heraus. Das, was Sie hier vorgelegt haben, ist also völlig undurchdacht. Ihr Antrag klingt populistisch. ({1}) Sie wollen das überhaupt nicht mehr. Damit lösen Sie die Probleme nicht, und hinsichtlich der Abgrenzung ist dieser Antrag auch noch dilettantisch gemacht. Ich glaube, es ist wirklich wichtig, dass wir überlegen, wie wir Transparenz erreichen können. Die Richtlinien, die die Bundesregierung in Kraft gesetzt hat, finde ich dafür in der Tat einfach nicht ausreichend. Wir haben in unserem Antrag - orientiert an dem Bericht des Bundesrechnungshofs - wesentlich klarere Vorgaben gemacht. Ich finde, wenn Sie Mitarbeiter von Externen einstellen - gegen eine befristete Einstellung habe ich gar nichts -, dann soll jeder hier im Hohen Hause und in der Volker Beck ({2}) Öffentlichkeit aufgrund eines Footprints wissen, wie diese Person an dem Gesetzentwurf, der im Hohen Haus eingebracht wird, mitgewirkt hat. ({3}) Das muss transparent sein, damit ich mich fragen kann, ob Expertisen oder Interessen eingeflossen sind. Ich muss wissen, wer daran gearbeitet hat. Wenn ich weiß, dass das keine Bundesbeamten waren, dann habe ich ganz andere Prüffragen hinsichtlich einer Vorlage, als wenn ich mir dessen nicht bewusst bin. Wenn die Verwendung externer Mitarbeiter prinzipiell nichts Anrüchiges ist, wie die Bundesregierung meint und was ich grundsätzlich verstehe, dann muss man sich vor Transparenz auch nicht scheuen und dann kann am Ende auch der Jahresbericht des Bundesinnenministeriums zu diesem Thema auf der Homepage des Ministeriums im Internet stehen. Jeder Bürger weiß dann, wenn er irgendwo anruft, ob er mit einem Bundesbeamten, einem Angestellten des öffentlichen Dienstes oder mit jemandem redet, der extern entsandt wurde, weil er eine bestimmte Erfahrung und Expertise in die Verwaltung einbringt oder auch weil sein Unternehmen will, dass man etwas Erfahrung hinsichtlich der Bundesverwaltung sammelt, was erst einmal nichts Illegitimes ist. Ich glaube, wir dürfen bei der ganzen Debatte über Lobbyismus und Demokratie nicht den Lobbyismus und die Interessenvertretung in der demokratischen Gesellschaft insgesamt für kritikwürdig halten. Entscheidend ist, inwiefern die Interessenvertretung von der Willensbildung im Parlament und auch vom exekutiven Handeln getrennt ist und dass der Bürger nachvollziehen kann, dass keine illegitime externe Einflussnahme und schon gar keine Einflussnahme, die mit Geldflüssen korreliert, stattgefunden hat. ({4}) Das erwarten die Menschen von uns, und in diesem Punkt müssen wir nacharbeiten. Es war schon eine Unverschämtheit des Bundesinnenministeriums insbesondere gegenüber den Koalitionsfraktionen, in der Sommerpause ungehindert von parlamentarischer Einflussnahme eine nicht ausgegorene Richtlinie als Verwaltungsvorschrift in Kraft zu setzen. ({5}) So geht man mit seinen Koalitionsfraktionen nicht um. Man sieht auch an den Mienen Einzelner, dass bei ihnen heimlich das Messer in der Tasche aufgegangen ist. ({6}) Das ist kein guter Umgang miteinander insbesondere in einer Frage, bei der die Regierung in der Kritik des Parlaments stand. ({7}) Sie hatten als letzten Punkt das Lobbyistenregister angesprochen. Ich meine, dass wir damit weiterkommen müssen. In unserer Fraktion hat in der Sommerpause eine mit 200 Personen gut besuchte Veranstaltung zu dieser Frage stattgefunden. Wir müssen allerdings - dazu hatte die Linksfraktion schon einen Antrag vorgelegt - auch die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen beachten, in denen wir uns bewegen. Dazu gehört etwa die Frage, inwieweit wir in die internen Angelegenheiten beispielsweise von Vereinen eingreifen können. Denn auch die Vereinigungsfreiheit ist ein geschütztes Gut. Wir brauchen hier mehr Transparenz und Verbindlichkeit. Aber das Ganze muss mit Augenmaß und im Hinblick auf unsere Verfassung und die Grundrechtspositionen erfolgen. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dr. Georg Nüßlein hat jetzt das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion.

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Mit Rücksicht auf die späte Stunde und die Kollegen wollte ich meine Rede eigentlich zu Protokoll geben. ({0}) Aber weil niemand anders dazu bereit war, rede ich jetzt trotzdem und sage etwas, was ich sonst nicht zu Protokoll gegeben hätte: Was dieses Hohe Haus garantiert nicht braucht, sind SED-Nachfahren, die uns sagen, wie man saubere Politik betreibt. ({1}) Dass es Regelungsbedarf gab, ist unbestritten. Es wurde aber deutlich, wie weit das Verfahren fortgeschritten ist. Sie springen jetzt auf einen fahrenden Zug auf und tun so, als wären Sie Lokomotivführer. ({2}) - Das hätten Sie wohl gern. Ich sage das auch deshalb, weil ich heute den ganzen Tag verfolgt habe, was für ein Getöse auf der linken Seite insbesondere zu bayerischen Themen veranstaltet wurde. Ich meine, dass die Initiative des Haushaltsausschusses und der entsprechende Kabinettsbeschluss - Peter Altmaier sitzt hier - richtig, konsequent und ausreichend waren. Es war notwendig, mehr Transparenz zu schaffen, wie es der Kollege Göbel umfassend dargestellt hat. Was aber beibehalten werden muss, ist der Wissenstransfer zwischen der Wirtschaft - das ist in Deutschland noch ein wichtiger Faktor, jedenfalls zumindest solange Sie nichts zu sagen haben - und unseren Ministerien. Schon als ich Ihren Antrag gelesen habe, hatte ich den Verdacht, dass es wieder um irgendeine wirtschaftsfeindliche Initiative geht. Aber nachdem ich Ihre Begründung gehört habe, Herr Kollege Claus, bin ich mir sicher. Denn Sie haben lamentiert, dass zwar die Wirtschaftsvertreter, aber nicht die Arbeitslosenverbände und andere - wen auch immer Sie aufgezählt haben - eingebunden sind. Ich teile die Kritik an der Beteiligung von Externen - von Lobbyisten, wenn Sie so wollen - in einem so frühen Stadium des Gesetzgebungsverfahrens. ({3}) Letzten Endes kommt es aber darauf an, was wir selber aus den Referentenentwürfen machen. Ich kann nur dazu ermutigen und auffordern, im parlamentarischen Verfahren das eine oder andere zu ändern, was wir auch tun. Ich würde nicht ohne Weiteres behaupten, dass ein Referentenentwurf ohne Beteiligung Dritter - insbesondere vonseiten der Wirtschaft - unbedingt besser wird. Das glaube ich nicht. Der Bürokratieabbau ist ein eigenes Thema. Ich sage Ihnen ganz offen: Wer glaubt, dass wir zum Abbau der Bürokratie zu wenige Beamte haben, täuscht sich aus meiner Sicht. Ich meine, dass es darauf ankommt, möglichst früh Expertise in die Verfahren zu bringen, und dass die Lobby in den parlamentarischen Verfahren eine gewisse Rolle spielen sollte. Mit solchen Anträgen wie dem vorliegenden erwecken Sie den Eindruck - dieser besteht draußen sowieso -, dass wir von der Lobby beherrscht werden. Lassen Sie mich deutlich sagen, dass die Lobby im politischen Verfahren wichtig ist, weil wir nur so die Chance haben - wenn man so einseitig ist wie Sie, spielt das natürlich keine Rolle -, die Positionen verschiedener Seiten kennenzulernen und zu erfahren, welche Konsequenzen aus dem einen oder anderen Verfahren zu ziehen sind. Erst dann kann man zu einer wohlabgewogenen Position kommen. Ich weiß, dass insbesondere Sie, meine Damen und Herren von der linken Seite, ein ganz spezielles Problem mit wohlabgewogenen Positionen haben. Das werden wir nicht ändern. Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9484 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie ein- verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 f auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({0}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- rung Tourismuspolitischer Bericht der Bundes- regierung - 16. Legislaturperiode - - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne- ten Ernst Burgbacher, Jens Ackermann, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Tourismuspolitischer Bericht der Bundesre- gierung - 16. Legislaturperiode - - Drucksachen 16/8000, 16/8194, 16/10187 - Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Brähmig Annette Faße Dr. Ilja Seifert b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette Faße, Brunhilde Irber, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Messen und Geschäftsreisen als Chance für den Tourismusstandort Deutschland - Drucksachen 16/5958, 16/9255 - Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Klimke Ernst Burgbacher Bettina Herlitzius c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({3}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Bernward Müller ({4}), Dr. HansPeter Friedrich ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- geordneten Annette Faße, Renate Gradistanac, Bettina Hagedorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Chancen des demographischen Wandels im Tourismus nutzen - zu dem Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Britta Haßelmann, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Barrierefreiheit und demografischer Wan- del - Auf die Herausforderungen für den Tourismus reagieren - Drucksachen 16/8777, 16/9315, 16/10073 - Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Klimke Renate Gradistanac Dr. Ilja Seifert Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Brähmig, Uda Carmen Freia Heller, Dr. HansPeter Friedrich ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette Faße, Engelbert Wistuba, Dr. CarlChristian Dressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Reformationsjubiläum 2017 als welthistorisches Ereignis würdigen - Drucksache 16/9830 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({7}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Brähmig, Anita Schäfer ({8}), Dr. HansPeter Friedrich ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette Faße, Gabriele Hiller-Ohm, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Bauernhofurlaub und Landtourismus weiter fördern - Ländliche Räume nachhaltig stärken - Drucksache 16/10320 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({10}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Barrierefreier Tourismus für alle in Deutschland - Drucksache 16/10317 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({11}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss Zu dem Tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Es ist verabredet, hier eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als Erstem dem Kollegen Ernst Hinsken für die Bundesregierung das Wort. ({12}) Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundesregierung für Tourismus: Verehrte Frau Vizepräsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Tourismus ist neben der Biotechnologie, dem IT-Sektor und der Gesundheitswirtschaft die Wachstumslokomotive des 21. Jahrhunderts. Wir sprechen nicht umsonst von einer Leitökonomie der Zukunft. Wir können uns in der Bundesrepublik Deutschland froh und glücklich schätzen, dass gerade die Tourismuswirtschaft momentan boomt. So hatten wir im vergangenen Jahr fast 362 Millionen Übernachtungen. Unter den Übernachtungsgästen waren 55 Millionen Ausländer. Dies entspricht einem Zuwachs von 3,6 Prozent. Wir können uns auch darüber freuen, dass gerade die Tourismuswirtschaft seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 läuft. Der Ball rollt, und die Zahlen und Ergebnisse werden immer besser. Besonders erfreulich ist für mich als Tourismusbeauftragtem der Bundesregierung, dass inzwischen viele Mitbürgerinnen und Mitbürger erkannt haben, dass es sich bei der Tourismuswirtschaft um einen Wirtschaftsfaktor handelt, der mehr und mehr ausgebaut werden kann. Wir haben gerade zu Beginn dieses Jahres seitens der Bundesregierung den Tourismuspolitischen Bericht vorgelegt. Der Bericht zeigt, dass die Tourismusbranche vor ganz großen Herausforderungen steht. Wenn ich die Herausforderungen mit einem Kuchen vergleiche, dann stelle ich fest: Wir alle sind gefordert, alles zu tun, um ein großes Stück dieses Kuchens, der weltweit zur Verteilung ansteht, abzubekommen; denn um den einzelnen Gast, den einzelnen Touristen wird weltweit gebuhlt. Da dürfen wir nicht abseitsstehen. Da müssen wir dabei sein. Zurzeit sind wir seitens der Bundesregierung dabei, Leitlinien für die Zukunft des Tourismussektors zu erarbeiten. ({13}) Wir wollen damit den vielen kleinen und mittelständischen Betrieben der Tourismusbranche einen Schub geben. Wir wollen günstige Rahmenbedingungen schaffen. ({14}) - Herr Kollege Brähmig, von denen können Sie es nicht erwarten. Das müssen Sie selber machen. ({15}) - Ich sage das bei der Gelegenheit. Wenn ich heute darauf verweise, dass wir an solchen Leitlinien arbeiten, so möchte ich besonders unterstreichen, dass es mir darum geht, einen Konsens auch über parteipolitische Grenzen hinweg zu finden; Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken ({16}) denn Tourismus ist etwas, was uns alle angeht und was uns allen auf den Nägeln brennt. Ich bin besonders dankbar dafür, dass Sie, Frau Kollegin Faße, sich heute Morgen neben dem Kollegen Brähmig hervorragend eingebracht haben. ({17}) Wir wollen gerade mit diesen Leitlinien Deutschland weiterhin kraftvoll im Ausland vermarkten; ({18}) denn Tourismuspolitik ist die beste Außenpolitik, die es überhaupt gibt. ({19}) Wir wollen die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen in den Bereichen Steuern, Verkehr, Umwelt und Verbraucherschutz optimieren, um nur einige wenige zu nennen. Wir wollen den steigenden Anforderungen des globalisierten Tourismus mit noch mehr Qualität begegnen. Unser Land ist nicht mit immer weiß-blauem Himmel, ({20}) Sonne, Meer, viel Wärme und dergleichen gesegnet. ({21}) Wir müssen das durch Qualität ersetzen, und wir sind dabei. - Kollege Dr. Nüßlein, ich pflichte Ihnen bei, dass es in Bayern noch ein bisschen besser als in anderen Regionen der Republik ist. ({22}) Wir wollen darüber hinaus dafür sorgen, dass wir europaweite, ja weltweite Wettbewerbsverzerrungen abbauen. Es gilt insbesondere, die Stärken, die wir haben, noch stärker herauszustellen. Wo liegen unsere Stärken? Bei Messen und Geschäftsreisen zum Beispiel ist Deutschland top. Deutschland ist Nummer eins bei den Messen in aller Welt, Deutschland ist Nummer zwei bei den Kongressen auf der ganzen Welt, und bei Geschäftsreisen liegt bei uns der Anteil bei 28 Prozent, während er weltweit, auf die einzelnen Länder bezogen, nur bei 16 Prozent liegt. Hier gilt es, unsere Marktführerschaft auszubauen. Das geht nicht von selber. Da brauchen wir vernünftige Rahmenbedingungen. Deshalb habe ich vor einigen Monaten Vertreter der Messewirtschaft zu mir ins Ministerium geladen, um zu beraten, was getan werden soll und getan werden muss, damit die Messewirtschaft einen weiteren Schub bekommt und wir ganz vorne bleiben. ({23}) Stark ist Deutschland, unsere Republik, auch beim Städte- und Kulturtourismus. Ich könnte hier etwas nennen, was die Mitbürgerinnen und Mitbürger und insbesondere die Politiker momentan bewegt, nämlich die Luther-Dekade von 2008 bis 2017. Doch ich kann mich hier kurzfassen, weil sich meine Kollegin Heller noch ausführlich dazu äußern wird. Ich möchte bei der Gelegenheit aber auch neue Trends ansprechen, die nicht vernachlässigt werden dürfen. ({24}) - Nicht nur die Chinesen. Sie werden sich besonders freuen, wenn sie in Ihre Nähe kommen. - Ich meine mit neuen Trends auch den Religionstourismus. ({25}) Im vergangenen Jahr gab es weltweit über 200 Millionen Religionstouristen, die mehr als fünf Tage unterwegs waren. Man muss natürlich unterscheiden zwischen dem Pilger, der nach Mekka geht, und demjenigen, der auf dem Jakobsweg wandert, der vor allen Dingen die Stille und die Natur sucht und zu sich selber finden möchte, oder der auf dem Benedikt-Weg in Altötting, Kollege Mayer - auch eine große Attraktion in der Bundesrepublik Deutschland -, wandert. ({26}) Schließlich haben wir 861 Wallfahrtsorte und über 800 000 Pilgerreisen allein in der Bundesrepublik Deutschland zu verzeichnen. Lassen Sie mich noch auf Folgendes verweisen: Wenn ich die breite Palette des Bereiches Tourismus hier anspreche, dann wäre meine Schilderung nicht vollständig, wenn ich nicht auch den Urlaub auf dem Bauernhof erwähnen würde. Hier profitieren vor allen Dingen benachteiligte Gebiete. Es ist eine zusätzliche Einnahmequelle für Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Tourismus in der Fläche praktizieren. Auch hier haben wir Gas gegeben. Auch hier haben wir positive Zahlen zu verzeichnen. Auch hier wollen wir die Betroffenen mehr denn je unterstützen. ({27}) Zwei letzte Bemerkungen. Erstens. Für uns ist vor allen Dingen der demografische Faktor wichtig, dem es Rechnung zu tragen gilt. Wir können nicht wegdiskutieren, dass in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2030 jeder Dritte älter als 60 Jahre ist und dass es im Jahr 2040 mehr über 50-Jährige als unter 50-Jährige gibt. ({28}) Die Altersgruppe der 49- bis 74-Jährigen macht in der Bundesrepublik Deutschland zwar nur 29 Prozent aus; im Tourismussektor sind es allerdings 48 Prozent. Das ist Zukunftsmusik. Es gilt, dies aufzugreifen und Rahmenbedingungen zu schaffen. Da sind wir alle gefordert, damit die Tourismuswirtschaft diese neuen Strömungen erfassen und berücksichtigen kann. Zweitens. Ich muss noch den barrierefreien Tourismus erwähnen; sonst wäre mein Kollege Dr. Seifert bestimmt nicht zufrieden. Barrierefreiheit bedeutet in mei19110 Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken nen Augen ein Glückserlebnis für viele Mitbürgerinnen und Mitbürger, auch in der Bundesrepublik Deutschland. ({29}) Es lohnt sich, daran zu arbeiten. Über den Kongress mit über 200 Teilnehmern hinaus, den wir vor 14 Tagen im Ministerium durchgeführt haben, gilt es, weitere Maßnahmen zu treffen und das Notwendige zu tun. ({30}) - Liebe Frau Kollegin Dr. Enkelmann, wir wissen schon, worauf es ankommt. Wenn Sie bereit sind, das mitzutragen, ({31}) sind Sie auf dem richtigen Weg. Das würde ich Ihnen auch empfehlen. Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, darf ich von Herzen für die Aufmerksamkeit danken. ({32})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Ernst Burgbacher hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Ernst Hinsken, die Rede hat genau das widergespiegelt, was Inhalt des Berichts ist, nämlich eine Aufzählung von Feststellungen über den Deutschlandtourismus, aber eigentlich etwas völlig Unpolitisches. Ich habe in der Rede jegliche politische Botschaft vermisst. Das vermisse ich leider auch in dem Bericht. Ich will der kleinen Abteilung im Bundeswirtschaftsministerium ausdrücklich danken, die mit einer Riesenarbeit vieles zusammengestellt hat, was von der Anwendung her allerdings nicht allzu viel bringt. Wir sind hier im deutschen Parlament, und wir haben darüber zu reden, was politisch getan werden muss. Das ist unsere Aufgabe. Im Bericht habe ich all die Ziele gelesen und dann als Konsequenz, die Branche müsse angesichts der Veränderungen offener und flexibler werden. Ich sage Ihnen: Die Branche hat sich weit geöffnet. Die Branche ist flexibel. Das eigentliche Problem ist, dass die Bundesregierung weder offen noch flexibel ist. ({0}) Ich will in der Kürze der Zeit nur einige Punkte aufzählen, die wir kritisieren: Das Erste. Es besteht eine völlig falsche Organisation in der Bundesregierung. Das Amt des Tourismusbeauftragten wurde geschaffen. Er hat eine klitzekleine Abteilung, aber das Wichtigste, die Mittel, die für den Tourismus vorhanden sind, sind gerade einmal zu einem guten Drittel beim Wirtschaftsministerium veranschlagt; der Rest ist bei anderen Ministerien. Damit kann man keine Tourismuspolitik machen. Deshalb brauchen wir eine Strukturreform in der Regierung. Notwendig ist eine Konzentration der Mittel und der Aufgaben im Wirtschaftsministerium. Dann können wir eine schlagkräftige Tourismuspolitik machen. ({1}) Das Zweite. Der Tourismusbeauftragte hat uns gerade gesagt, er habe die Vertreter der Messewirtschaft eingeladen. Es ist ja schön, wenn die eingeladen werden. Ich vermisse aber jegliche Aussage dazu, was eigentlich dabei herausgekommen ist, ob die Bundesregierung auch nur irgendeine Konsequenz aus diesem Gespräch gezogen hat. Es gab dann eine Einladung an die Reisebusveranstalter, um mit ihnen Maßnahmen aufgrund der gestiegenen Energiekosten zu diskutieren. Es wurde diskutiert; das Ergebnis war null, wirklich null. So kann man nicht Politik machen. Wenn ich sie einlade, muss ich nachher auch sagen, welche Konsequenzen ich daraus ziehe. ({2}) Das ist überhaupt nicht erfolgt. ({3}) Bei den großen Fragen, die die Tourismuswirtschaft beschäftigen, ist leider völlige Fehlanzeige. Lieber Ernst Hinsken, wir hören bei jeder Veranstaltung, bei der der Tourismusbeauftragte auftritt, die Forderung nach Einführung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes für die Hotellerie. Mich wundert es dann schon, ({4}) warum die CSU, die bayerische Landesregierung, als die baden-württembergische Landesregierung den Antrag im Bundesrat eingebracht hatte, dies umzusetzen, im Wirtschaftsausschuss dagegengestimmt hat. Das muss uns einmal jemand erklären. Ich kann das doch nicht bei allen Veranstaltungen fordern, und die eigene Partei und die eigene Regierung lassen mich dann im Regen stehen. ({5}) Dass Bayern nachher im Bundesrat doch dafür gestimmt hat, lag an entsprechendem Druck. Aber wer weiß denn von uns, was nach dem nächsten Sonntag passiert? Ich habe diese Frage heute Morgen dem Vorsitzenden des Finanzausschusses gestellt. Er hat sich gewunden und überhaupt nichts gesagt. Deshalb müssen die Menschen draußen wissen: Mit der Union wird das nicht passieren; es wird nur passieren, wenn die FDP stark wird und weiter Druck machen kann. ({6}) Die CSU hat es geschafft, dieses Thema bei den Skiliften plötzlich durchzubringen. Andere haben dabei mitgemacht, weil sie gesagt haben, das sei ja nicht unvernünftig. Dass aber an dieser Stelle geblockt wird, müssen die Leute draußen wissen. Das sollte man den Menschen draußen deutlich sagen. Ähnliches haben wir bei Themen wie Jugendarbeitsschutzgesetz und Feinstaubdebatte. Welchen Wahnsinn veranstalten wir im Augenblick im Hinblick auf den Deutschlandtourismus, wenn ausländische Touristen nicht wissen, wie sie in die Städte hineindürfen, wenn die Busse ihre Leute am Stadtrand ausladen müssen und sie dann in alte Kutschen vom ÖPNV umgeladen werden! Welcher Unsinn ist das! Nichts davon wurde korrigiert; alles ist wie vorher. Das ist keine Tourismuspolitik. Darauf können wir wirklich verzichten. ({7}) Ganz entscheidend ist: Tourismuspolitik ist Mittelstandspolitik. Wir alle wissen: Die touristische Struktur in Deutschland ist - zum Glück ist es so - weitgehend mittelständisch geprägt. Deshalb wäre eine aktive Tourismuspolitik vor allem, Rahmenbedingungen für den Mittelstand zu setzen. Exakt das Gegenteil wurde gemacht: Die größten Steuererhöhungen in der Geschichte der Bundesrepublik haben den Mittelstand besonders stark getroffen. Darunter leidet der Mittelstand. Darunter leiden aber auch alle Menschen. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Familien mit zwei Kindern, die Urlaub gemacht haben, um fast 10 Prozent zurückgegangen. Das ist das deutlichste Zeichen für die verfehlte Politik. Angesichts dessen darf man hier doch nicht alle möglichen hehren Ziele formulieren. Ich muss den Menschen das Geld in der Tasche lassen, damit sie reisen können. Das ist das oberste Gebot. ({8}) Ich muss den Mittelstand unterstützen, damit er wirklich tätig werden kann, und darf ihn nicht durch Steuererhöhungen, durch die Androhung einer mittelstandsfeindlichen Erbschaftsteuerreform und anderes strangulieren. Meine Damen und Herren, Tourismuspolitik bedeutet die Setzung richtiger Rahmenbedingungen. Da hilft kein Bericht, da helfen keine Leitlinien, sondern da hilft politische Aktivität. Diese vermissen wir, und wir werden sie an jeder Stelle weiter anmahnen und, wenn wir in Verantwortung sind, auch entfalten. ({9}) Dort, wo wir es in den Ländern tun können, machen wir es. Keine Angst, auch im Bund werden wir es bald wieder tun. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Gabriele Hiller-Ohm hat jetzt das Wort für die SPDFraktion. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Burgbacher! Ich bedanke mich für meine Fraktion bei den Autoren des Tourismuspolitischen Berichts, natürlich ganz besonders bei unserem Tourismusbeauftragten Ernst Hinsken. ({0}) Der Tourismus in Deutschland boomt. Mit rund 360 Millionen Übernachtungen haben wir eine Zahl erreicht, von der wir lange nicht zu träumen wagten. Das waren nämlich noch einmal 8 Millionen mehr als im Fußball-WM-Rekordjahr 2006. Rund 2,8 Millionen Arbeitsplätze hängen direkt und indirekt vom Tourismus ab. Fast 120 000 junge Menschen finden hier einen Ausbildungsplatz. Schon diese Zahlen machen deutlich, wie wichtig der Tourismus für unser Land ist. Es ist deshalb mehr als ärgerlich, dass der Tourismus in der Haushaltsdebatte der letzten Woche vom zuständigen Wirtschaftsminister Michael Glos mit keinem einzigen Wort erwähnt wurde. Auch heute ist er wieder nicht da. Es ist zwar ziemlich spät geworden, aber ich hätte mich trotzdem sehr über seine Anwesenheit gefreut. ({1}) Vollkommen unverständlich ist darüber hinaus, dass sein Kollege Laurenz Meyer in der Haushaltsdebatte einen Gegensatz zwischen Industrie- und Dienstleistungssektor konstruiert hat, der einfach nicht haltbar ist. ({2}) Industrie ist wichtig, aber das Dienstleistungsgewerbe ist es natürlich auch. Meine Heimatstadt ist ein gutes Beispiel: Lübeck war ein bedeutender Werftenstandort, an dem viele Tausend Arbeitsplätze hingen. Die sind alle weggebrochen. Wäre da nicht der Tourismus, der Gott sei Dank seit Jahren boomt, ({3}) so sähe es düster aus. So wie in Lübeck wird es in vielen Teilen Deutschlands sein. Deshalb ist es so wichtig, nicht nur auf die Industrie zu setzen, sondern auch den Tourismus zu stärken und für eine gute Infrastruktur zu sorgen. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lutz Heilmann von der Linken zulassen?

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, auf keinen Fall. ({0}) Meine Damen und Herren, intakte Naturlandschaften, hohe Qualitätsstandards, vernünftige Arbeitsbedingungen und gute Löhne gehören zu einer guten touristischen Infrastruktur. Um auf der Erfolgsspur zu bleiben, muss im Tourismus noch besser aus- und weitergebildet werden. Gute Serviceleistung hat ihren Preis. Deshalb muss Schluss sein mit Hungerlöhnen, von denen die Menschen nicht leben können. ({1}) Wir kämpfen gerade auch im Hotel- und Gaststättengewerbe für einen gesetzlichen Mindestlohn. ({2}) Es ist auch richtig, dass wir endlich tourismuspolitische Leitlinien formulieren müssen, an denen wir unsere Politik ausrichten können. Außerhalb von Großstädten leben zwei Drittel der gesamten Bevölkerung. Deshalb ist der Tourismus besonders in den ländlichen Regionen so wichtig. Er bietet hier Beschäftigungs- und Wachstumschancen. ({3}) Es gibt im Landtourismus inzwischen rund 25 000 Anbieter, etwa 1,6 Millionen Urlaubsaufenthalte und einen geschätzten Umsatz von fast 950 Millionen Euro. Zur weiteren Stärkung des Landtourismus haben wir einen umfassenden Forderungskatalog im vorliegenden Koalitionsantrag ausgearbeitet: Erstens. Wir brauchen genaue Zahlen. Deshalb wollen wir eine Grundlagenuntersuchung mit fundierter Datenlage, damit bestehende Marktpotenziale noch besser erschlossen werden können. Zweitens. Für den Tourismus im ländlichen Raum müssen genügend Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden. Ich freue mich, dass es gelungen ist, die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ auf 700 Millionen Euro aufzustocken. ({4}) Drittens. Auch Menschen mit kleinem Geldbeutel, Herr Burgbacher, haben ein Recht auf Urlaub. ({5}) Der Landurlaub bietet hier gute Möglichkeiten vor allem für Familien mit Kindern. ({6}) Viertens. Überregionale Tourismusprojekte müssen unter den Ländern besser abgestimmt werden. Das setzt Synergieeffekte frei. Fünftens. Wir setzen uns ebenfalls für weniger Hürden bei der EU-Förderung von grenzüberschreitenden Tourismusvorhaben ein. ({7}) Sechstens. Klimaschutz und Tourismus dürfen keine Gegensätze sein. Deshalb fordern wir eine gute Erreichbarkeit der ländlichen Regionen mit öffentlichen Verkehrsmitteln, insbesondere mit der Bahn. ({8}) Wir haben noch zehn weitere Forderungen in unserem Antrag formuliert. Aus Zeitgründen kann ich diese leider nicht mehr vorstellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Deutsche Zentrale für Tourismus will den Landurlaub im nächsten Jahr stärker bewerben. Das begrüßen wir ausdrücklich. Dann stehen Aktivurlaub, Radfahren und Wandern im Mittelpunkt des nationalen Tourismusmarketings.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin!

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich freue mich ganz besonders, dass in diesen Tagen auf unser Drängen hin vom Ministerium eine Studie zum Wandertourismus in Auftrag gegeben worden ist.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, Sie müssen jetzt dringend zum Ende kommen.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. - Diese Studie wird uns mit Sicherheit viele weitere wertvolle Informationen zur Stärkung des Landtourismus liefern. Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Ilja Seifert für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik steht die Gesundheit der Bevölkerung - nicht die Gesundheitswirtschaft oder die Pharmaindustrie. Im Mittelpunkt der Sportpolitik steht der Sport, stehen also die Sportlerinnen und Sportler - nicht Adidas und Nike. Im Mittelpunkt der Verkehrspolitik steht der sichere und pünktliche Transport von Personen und Gütern - nicht die Verkehrsunternehmen und die Autokonzerne. Im Mittelpunkt der Verteidigungspolitik steht die Sicherung des Friedens - nicht die Rüstungsindustrie. ({0}) Das Gleiche gilt für die Tourismuspolitik, lieber Herr Kollege Brähmig: Im Mittelpunkt müssen die Bedürfnisse der Bevölkerung nach Erholung, nach Bildung, nach Gesundheit stehen - nicht die Tourismuswirtschaft. ({1}) - Herr Brähmig, Sie wissen doch so gut wie ich, dass es nicht so ist. Sie kennen die entsprechenden Leitlinien so gut wie ich und wissen, dass es da um die Tourismuswirtschaft und nicht um die Menschen geht, die sich erholen und bilden wollen. ({2}) Das ist der entscheidende Unterschied zwischen der Tourismuspolitik der Bundesregierung und der Art und Weise, wie die Linke das Thema angeht. Sie machen das Mittel zum Zweck. Die Linke tritt ganz deutlich für einen Tourismus für alle ein. Wir wollen, dass alle Menschen reisen können, um sich zu erholen, um sich zu bilden und um etwas für ihre Gesundheit zu tun. Es ist nicht akzeptabel, dass zunehmend mehr Menschen in diesem reichen Land - vor allem Familien mit Kindern, insbesondere mit kleinen Kindern - nicht mehr reisen können, weil ihnen das Geld dafür fehlt oder weil sie ihren Jahresurlaub nicht planen oder nicht nehmen können. ({3}) Wir wollen, dass auch Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger und deren Kinder einmal Urlaub machen können. ({4}) Das gehört in den Mittelpunkt der Politik und nicht das Bestreben, dass es der Wirtschaft besonders gut geht. ({5}) Wir sagen nicht, dass es ihr schlecht gehen soll. Sie ist aber nicht der Zweck, sondern nur das Mittel. Die Linke - das hat der Herr Tourismusbeauftragte freundlicherweise mit Blick auf mich gesagt; aber es geht nicht um mich, sondern um die Menschen, die es betrifft, und am Ende um Bequemlichkeit für alle - tritt für einen durchgängig barrierefreien Tourismus ein. „Durchgängig barrierefrei“ bedeutet, die gesamte touristische Kette einzubinden: vom Internetangebot über das Abholen zu Hause, die Fahrt zum Urlaubsort, die Unterbringung am Urlaubsort bis hin zu den Sehenswürdigkeiten am Urlaubsort und natürlich wieder retour. Wie nötig es ist, dafür noch viel zu tun, zeigten nicht zuletzt die Konferenz der Bundesregierung am 11. September und die dort vorgestellte Studie. Lassen Sie uns - es ist ja erfreulich, dass wir dieses Thema gemeinsam angehen wollen - gemeinsam vorankommen. Der heute hier vorliegende Antrag der Linken ist sicher ein sehr guter Weg, den wir gemeinsam gehen können. ({6}) Die Linke tritt auch für einen ökologisch verantwortbaren Tourismus ein. Wir wollen, dass alle Menschen reisen und sich die Welt anschauen können, um ihre Weltanschauung auszuprägen. Es geht uns darum, dass nicht nur wenige Gutbetuchte reisen können. Für uns ist es wichtig, dass Umwelt und Tourismus nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dies sage ich in dem Wissen, dass der Tourismus einer der Verursacher für Umweltschäden ist. Wir müssen hierfür einen entsprechenden Ausgleich schaffen. Die Linke tritt ebenfalls verstärkt für die Entwicklung des Tourismus auf dem Lande ein. Ich freue mich, dass, nachdem die Linke bereits am 17. Dezember des vergangenen Jahres einen entsprechenden Antrag vorgelegt hat, nun auch die Koalition nachzieht ({7}) und der Tourismusausschuss sogar meinem Vorschlag folgt, am 21. Januar nächsten Jahres eine entsprechende Anhörung auf der Grünen Woche durchzuführen. ({8}) - Das ist doch gut; denn dies zeigt, dass man auch zusammenarbeiten kann und nicht immer nur aufeinander eindrischt. Ich will euch gerne loben, wo ihr zu loben seid. Aber ihr müsst auch einsehen, dass man nicht alles loben kann. Die Linke - das will ich ausdrücklich sagen - tritt auch ein für eine sich gut entwickelnde Tourismuswirtschaft, insbesondere im kleinen und mittelständischen Bereich, für gute Arbeitsplätze, gute Ausbildungsplätze und für gute Löhne für gute Arbeit und will Niedriglöhne und prekäre Beschäftigungsverhältnisse verhindern. ({9}) Lassen Sie mich zum Abschluss einen letzten Punkt erwähnen, der mir sehr am Herzen liegt. Es geht um die Schulfahrten. Wir brauchen keinen Bildungsgipfel, auf dem uns die Kanzlerin erzählt, dass Bildung für alle wichtig sei; vielmehr brauchen wir eine verbindliche Regelung dafür, dass jede Schulklasse mindestens einmal im Jahr eine Klassenfahrt machen kann, und zwar als Bestandteil des staatlichen Bildungsauftrags, sodass die Lehrerinnen und Lehrer entsprechend abgesichert sind. An dieser Stelle sollte der Bund nicht länger wegschauen. ({10}) Hierfür brauchen wir Lösungen. Es wäre sehr schön, wenn die Kanzlerin dazu auf dem Bildungsgipfel klare Worte sagen würde und die Regierung dazu entsprechende Maßnahmen einleiten würde. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und bis bald. ({11}) - Dass das auch eine touristische Komponente hat, will ich gar nicht bestreiten. Das sehen wir sogar sehr positiv.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich hatte den Eindruck, Herr Kollege, Sie waren mit Ihrer Rede fertig. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das war nur noch die Antwort auf einen Zuruf, Herr Präsident.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bevor ich als nächster Rednerin der Kollegin Bettina Herlitzius, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort erteile, möchte ich sagen: Herr Seifert, Ihr Vorschlag zur Grünen Woche hat mir außerordentlich gut gefallen. Ich habe spontan überlegt, ob nicht die Verlagerung von Plenardebatten zur Grünen Woche die Gemütlichkeit dieser Veranstaltung erheblich fördern könnte. Aber das greifen wir bei passender Gelegenheit im Ältestenrat auf. Bitte schön, Frau Herlitzius.

Bettina Herlitzius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003887, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass Sie noch so zahlreich hier sind, zeigt dies doch, wie wichtig der Tourismus für unser Land und für unsere Wirtschaft ist, vor allen Dingen, wenn man den Worten unseres Tourismusbeauftragten Hinsken folgt. In den letzten Tagen war der Presse zu entnehmen, dass der Deutschlandtourismus boomt. Er wächst auf Weltniveau. Der Zuwachs beträgt 5,1 Prozent. Der Markt wächst weiter. Aber ich möchte an dieser Stelle betonen: Wachstum kann stattfinden, ohne dass der Wohlstand steigt. Das heißt, wir müssen dringend darauf achten, in welche Richtung der Tourismus wächst. ({0}) Das scheint bei einigen Kolleginnen und Kollegen hier im Raum immer noch nicht angekommen zu sein. Die FDP fordert wie immer in ihrem Entschließungsantrag die Schaffung weiterer wirtschaftsliberaler Rahmenbedingungen. Lieber Kollege Burgbacher, wir haben doch schon heute äußerst kritische Arbeitsverhältnisse in der Branche. Wenn der Tourismus zum Wirtschaftsfaktor einer Region werden soll, dann kann das nur funktionieren, wenn die Menschen in dieser Region auch von diesen Arbeitsplätzen leben können. Ein Kellner verdient heute - das ist Tariflohn - 7,50 Euro. Es ist schon sehr schwierig, damit eine Familie zu ernähren. Dabei werden noch nicht einmal überall 7,50 Euro gezahlt. Das heißt, hier müssen wir nachsteuern; hier ist noch einiges offen. ({1}) Zum Beispiel kann man auch - das sage ich jetzt als Grüne und ein Stück weit mit Stolz - mit Naturschutz Geld verdienen. Die fast 800 000 Menschen, die jährlich den Bayerischen Nationalpark besuchen, finanzieren 939 Vollzeitstellen. ({2}) - Das ist heute mal ein gutes Beispiel aus Bayern. ({3}) Steigende Preise und hohe Energiekosten verändern die Anforderungen der Urlauber an die Urlaubsorte. Deutschland wird wieder als Reiseland interessant. Aber auch die touristische Zielgruppe verändert sich. Unsere Gesellschaft wird älter. Bis 2040 werden 40 Prozent der Reisenden über 60 Jahre alt sein. Das heißt, der Markt verändert sich. Die meisten Veranstalter haben sich noch nicht darauf eingestellt. Wir müssen hier mit all unseren Kräften politisch nachsteuern. Wir müssen dafür sorgen, dass der Tourismus in Deutschland nachhaltig und auch barrierefrei gestaltet wird. Davon profitieren alle Gruppen in dieser Gesellschaft. ({4}) Kommen wir zu meinem Lieblingsthema, dem öffentlichen Nahverkehr. Aktuell kann man auf der Homepage der DB lesen, dass sie überlegt, wieder touristische Ziele in ihr Programm aufzunehmen. Guten Morgen, Herr Mehdorn! Ähnlich ist es beim Bedienzuschlag. Auch dieses Thema wurde auf relativ unglückliche Weise in die Presse gebracht. Dies ist jedoch absolut kontraproduktiv, wenn es darum geht, Touristen an den öffentlichen Nahverkehr zu gewöhnen. Darüber muss man heute reden; dies ist ja nicht mehr selbstverständlich. ({5}) Die Regierungskoalition hat uns einen „großen“ Antrag zu den Chancen des demografischen Wandels vorgelegt. Aber in ihm wird dieses Thema kaum behandelt. Genau das sind jedoch die Fragen, um die wir uns kümmern müssen und über die wir uns politisch unterhalten müssen. Wir haben dazu einen eigenen Antrag eingebracht; auch die Linke hat dieses Thema bearbeitet. Das zeigt, wie wichtig dieses Thema ist und wie wenig bisher passiert ist. Die Anforderungen an die Barrierefreiheit bzw. - so muss man vorsichtig sagen - Barrierearmut sind nicht nur bei Mobilitäts- und Unterkunftsfragen wichtig. Diese Anforderungen gelten vielmehr für alle Dienstleistungen des Tourismusbereiches. Dazu gehören: unkomplizierter Gepäcktransport sowie lesbare, leicht verständliche und auch hörbare Reiseinformationen, was heute auf den Bahnsteigen nicht selbstverständlich ist. Es muss eine komplette Reisekette von Tür zu Tür geben, die für jeden nutzbar ist. Barrierefreiheit und Servicebereitschaft sind zukunftsfähige Qualitäts- und Komfortmerkmale. Deutschland könnte hier - wie auch in einigen anderen Bereichen - Vorbild sein. Das wäre ein entscheidender Wirtschaftsfaktor. Hier ist noch viel zu tun. Über eines müssen wir uns im Klaren sein: Der demografische Wandel der Gesellschaft ist kein deutsches, sondern ein europäisches Problem. Wir nehmen den Tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung zur Kenntnis, aber wir legen ihn nicht zu den Akten. Er ist ein guter Bauplan, weil er alle im Zusammenhang mit dem Tourismus wichtigen Themen enthält. Wir werden hier aber noch ganz stark politisch nacharbeiten müssen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Brunhilde Irber, SPD-Fraktion. ({0})

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute stimmen wir über die beiden Koalitionsanträge „Messen und Geschäftsreisen als Chance für den Tourismusstandort Deutschland“ und „Chancen des demographischen Wandels im Tourismus nutzen“ ab. Ich möchte dazu Stellung nehmen. Ich kann die Bedeutung von Messen und Geschäftsreisen gar nicht oft genug betonen. 2006 wurden in Deutschland fast 160 Millionen Geschäftsreisen unternommen und dabei annähernd 50 Milliarden Euro umgesetzt. Geschäftsreisende geben mit 148 Euro pro Tag doppelt so viel Geld aus wie reine Urlaubsgäste. ({0}) Als Messestandort macht Deutschland international eine glänzende Figur. In Europa sind wir die Nummer eins für Messen und Tagungen und weltweit hinter den USA die Nummer zwei. Deshalb würde gerade Geschäftsreisenden die Umsetzung des Single European Sky zur effizienten Abwicklung des europäischen Luftverkehrs besonders zugutekommen. ({1}) Um Geschäftsreisen weiter anzukurbeln, fordern wir auch die stärkere Ausrichtung auf die Auslandswerbung der Deutschen Zentrale für Tourismus. Bei Geschäftsreisen geht es um den Wachstumsmotor unserer Tourismuswirtschaft. Bei allem Verständnis für notwendige Sicherheitsbelange können wir uns langwierige und bürokratische Visaverfahren bei der Einreise für Messe- und Kongressbesucher nicht leisten. ({2}) Das schadet uns, und deshalb brauchen wir eine effizientere Bearbeitung der Antragsverfahren. Deutschlandweit ist heute jeder dritte Hotelgast Tagungs- oder Kongressteilnehmer. Um in diesem Markt professionelle Dienstleistungen zu erbringen, brauchen wir gut ausgebildete und qualifizierte Mitarbeiter. Deshalb appellieren wir an die Länder, in die Ausbildungspläne von Berufs-, Fach- und Hochschulen für Touristiker den Schwerpunkt „Geschäftsreisemanagement“ aufzunehmen und die Förderung von Fremdsprachenkenntnissen sowie von interkulturellem Verständnis voranzutreiben. Für Unternehmen sind Geschäftsreisen aber nicht nur eine wirtschaftliche Notwendigkeit, sondern auch ein Kostenfaktor. Laut VDR halten viele Unternehmen daher vermehrt Video- und Telefonkonferenzen ab. Insbesondere durch ein verbessertes Reisemanagement und den Abbau bürokratischer Hemmnisse im Bereich Statistik-, Nachweis-, Dokumentations- und Buchführungspflichten könnten die Kosten für Geschäftsreisen - gerade angesichts steigender Energie- und Reisekosten erheblich vermindert werden. ({3}) Besonders für kleine und mittlere Unternehmen, deren durchschnittliche Ausgaben pro Geschäftsreise um über 20 Prozent gestiegen sind, wären Verbesserungen im Reisemanagement eine wichtige Hilfe. Die Schaffung effektiver Rahmenbedingungen für Geschäftsreisen ist echte Mittelstandsförderung. Dieser Antrag ist ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn einige meiner Vorschläge nicht realisierbar waren. Weiter gehenden Handlungsbedarf sehe ich unter anderem im zu komplizierten Steuersystem für Geschäftsreisen und in den exzessiven Aufbewahrungsfristen für Reisekostenabrechnungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu einer effektiven Infrastruktur für Geschäftsreisen gehören auch mehrsprachige Hinweistafeln an den großen Messestandorten. Wir fordern auch, beim Bau der Verkehrswege auf vernünftige Umsteigezeiten zu achten. Insbesondere wollen wir von der Deutschen Bahn AG und anderen Verkehrsanbietern einen barrierefreien Zugang zu den Bahnhöfen und Verkehrsmitteln, und das nicht nur für mobilitätseingeschränkte und ältere Menschen, sondern für alle, denen Barrierefreiheit einen besonderen Gewinn bringt. Es ist ein Zugewinn an Komfort für alle. ({4}) Weil wir wissen, dass die Barrierefreiheit ein touristisches Qualitätsmerkmal ist, arbeiten wir mit unserem Koalitionspartner an einem eigenen Antrag, den wir in Kürze vorlegen werden. Deshalb sind die Anträge der Linken und der Grünen obsolet. ({5}) Der Reisemarkt für Ältere ist das Zukunftssegment der Tourismusbranche schlechthin; das hat auch der TAB-Bericht „Zukunftstrends im Tourismus“ gezeigt. Die Alterung unserer Gesellschaft mit einem Seniorenanteil von heute 25 Prozent und im Jahre 2050 sogar 37 Prozent bietet der Tourismuswirtschaft die Möglichkeit, das Potenzial des Seniorentourismus auszuschöpfen. Denn Seniorinnen und Senioren sind eine finanzstarke und aktive Zielgruppe, und bis 2035 werden sie mindestens 6 Prozent mehr für Reisen ausgeben. Deshalb schlage ich vor, dass wir die Forderungen unseres Antrages „Chancen des demographischen Wandels im Tourismus nutzen“ umsetzen und dass die Bundesregierung das Ihre dazu tut. Ich bitte Sie deshalb, unserem Antrag zuzustimmen. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das war ein vorzüglicher Schlusssatz, Frau Kollegin Irber. ({0})

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß, Herr Präsident. Einen Satz hätte ich aber gerne noch gesagt, wenn ich darf.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der wird aber nicht besser; ich sage es Ihnen vorher. ({0})

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube, schon. - Wir warten auf die tourismuspolitischen Leitlinien. Herr Tourismusbeauftragter, ich möchte Ihnen ein Satz mitgeben: Verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut. Deshalb bitte ich, die Leitlinien auch entsprechend auszustatten. Danke schön. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich fürchte, ich habe mit meiner Prognose recht behalten. ({0}) Nun hat die Kollegin Uda Heller das Wort. ({1})

Uda Heller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003550, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Tourismusbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Stunden wurde in der Landesvertretung von Sachsen-Anhalt die Luther-Dekade vorgestellt. Das Interesse von Presse und Gästen war groß. Mein Heimatland Sachsen-Anhalt ist ein geschichtsträchtiges Land, welches deutsche und europäische Geschichte vereint. Allein vier UNESCO-Weltkulturerbestätten, die Straße der Romanik, Leben und Wirken von Kaiser Otto I. und die Himmelsscheibe von Nebra zeugen von Fülle und Vielfalt der Kulturhistorie. Die Wiege und das Sterbebett von Martin Luther befinden sich in meinem Wahlkreis, in der Lutherstadt Eisleben. Mit dem Reformationsjubiläum rücken nun aber auch die zahlreichen Wirkungsstätten Luthers in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen in den Fokus der Öffentlichkeit. Wir müssen es schaffen, sie zu vernetzen und gemeinsam zu vermarkten. Am vergangenen Sonntag hatte ich die Ehre, an der feierlichen Eröffnung der Luther-Dekade in Wittenberg teilzunehmen. In einem deutsch-englischen Festgottesdienst und bei einer Festveranstaltung erinnerten Vertreter von Kirche, Politik und Kultur an die Verdienste des Reformators. Große Ereignisse müssen einen Anfang nehmen, um ihren programmierten Erfolg erreichen zu können. Die langfristige Vorbereitung des Jubiläums bietet Gelegenheit, sich mit Martin Luther tatsächlich und neu auseinanderzusetzen. Über einen Zeitraum von fast zehn Jahren hinweg werden wir uns auf vielfältige Art und Weise mit seinem Leben und Wirken beschäftigen. Der Höheund Endpunkt der Luther-Dekade wird am 31. Oktober 2017 mit dem 500. Jahrestag des Anschlages jener 95 Leitsätze gegen den Ablass erreicht sein. Wir sind eingeladen zum Mitreden, Mitwirken und Mitgestalten. Kirche, Wissenschaft, Musik, Literatur und Kunst nähern sich diesem außergewöhnlichen Datum mit Tagungen, Podiumsdiskussionen, Lesungen, Konzerten und Ausstellungen. Der Luther-Weg lässt uns auf den historischen Spuren Luthers wandeln und bringt uns gleichzeitig die Schönheiten des Landes näher. Eine offizielle Jubiläums-Website gibt einen aktuellen Überblick über diverse Aktivitäten. Wir alle können stolz darauf sein, eine derart faszinierende Persönlichkeit wie Martin Luther ehren zu können. Seine Botschaften haben die Welt verändert. Deshalb lautet der Titel unseres Antrages „Reformationsjubiläum 2017 als welthistorisches Ereignis würdigen“. Wir wollen sowohl das kirchliche als auch das staatliche Interesse an diesem Jubiläum in Einklang bringen. Hierzu bedarf es einer Gemeinschaftlichkeit bei den Vorbereitungen. Als Tourismuspolitiker erkennen wir natürlich das große Potenzial religiös motivierter Besucher, für die es ein großes persönliches Bedürfnis ist, während der Dekade zu den Wirkungsstätten Martin Luthers in Mitteldeutschland zu reisen. ({0}) Hält man sich vor Augen, dass es weltweit 400 Millionen Protestanten gibt, wird einem diese Dimension deutlich. Insbesondere mit vielen Gästen aus den USA ist zu rechnen. Das ist also eine einmalige Chance für den Tourismus, die es zu nutzen gilt. Es stellt eine weitere Herausforderung dar, all diese Aktivitäten zu koordinieren und zu vermarkten, und das über fast zehn Jahre hinweg. Ich denke, diese VorbereiUda Carmen Freia Heller tungszeit ist einmalig. So viel Zeit hatten wir noch nie zur Vorbereitung eines Jubiläums. Unterstützt werden all diese Initiativen durch einheitliches Marketing und durch eine von allen Akteuren gemeinsam entwickelte Wort-Bild-Marke. Ein solches Ereignis hat es, wie ich schon sagte, in Deutschland in dieser Form noch nicht gegeben. Deswegen rufe ich alle Parteien auf, mit dafür zu sorgen, dass das ein Erfolg wird. ({1}) Allein Sachsen-Anhalt investiert in die Luther-Dekade und das eigentliche Reformationsjubiläum einen zweistelligen Millionenbetrag, welcher in Denkmalschutzmaßnahmen, Infrastrukturprojekte, Marketingaktivitäten und die Koordinierungstätigkeit des eigens dafür gegründeten Lenkungsausschusses fließt. Diese außerordentlichen finanziellen Belastungen können weder Sachsen-Anhalt noch Thüringen noch Sachsen ohne die Unterstützung durch die Bundesregierung schultern. Vor diesem Hintergrund haben die Koalitionsfraktionen den vorliegenden gemeinsamen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht, in welchem die Bundesregierung aufgefordert wird, zur Würdigung dieses Jubiläums und zum Nutzen der damit verbundenen Chancen beizutragen. Die Bundesregierung soll vor allem im Rahmen bestehender Programme in involvierten Bundesländern und Kommunen diese bei Investitionen und Infrastrukturverbesserungen unterstützen. Dazu möchte auch ich noch einmal aufrufen. Ich sehe, dass der Herr Präsident mich mahnt. Deshalb will ich zum Ende meiner Rede kommen. Schließen möchte ich mit einem verblüffend zeitgemäßen Zitat von Martin Luther, welches der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Professor Böhmer, auf der Festveranstaltung vorgetragen hat: Dem Volk aufs Maul schauen, ihm aber nicht nach dem Mund reden. Nahe bei den Menschen sein, ihre Sprache sprechen und ihre Denkweise verstehen. Volkstümlich zu sein, ohne jemals opportunistisch zu werden. Tun, was man sagt, und sagen, was man tut. Diese Grundsätze Martin Luthers sollten für uns alle gelten. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Engelbert Wistuba, SPD-Fraktion. ({0})

Engelbert Wistuba (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003266, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die am vergangenen Sonntag in Wittenberg eingeläutete Lutherdekade und das Reformationsjubiläum im Jahr 2017 sind aus touristischer Sicht ein Glücksfall für Deutschland. Wir haben dabei nicht nur das von der Deutschen Zentrale für Tourismus identifizierte touristische Potenzial der weltweit 400 Millionen Protestanten im Blick, von denen mehr als 70 Millionen Lutheraner sind. Das Reformationsjubiläum ist aufgrund seiner religiösen, aber eben auch kulturhistorischen Bedeutung von hohem internationalen Interesse. Zehn Jahre lang wird es in Deutschland zahllose Veranstaltungen geben: wissenschaftliche, kirchliche und kulturelle. Im Fokus stehen die Lutherstädte Wittenberg und Eisleben mit den Luther-Gedenkstätten und sicherlich auch die Wartburg in Thüringen. Das alles sind im Übrigen UNESCO-Weltkulturerbestätten. Aber auch alle anderen Städte mit Lutherbezug wie Augsburg, Coburg, Marburg, Nürnberg, Worms, Erfurt, Torgau und nicht zuletzt auch Zerbst - um nur einige zu nennen - werden spürbar touristischen Zulauf erhalten. Damit kann Deutschland als Kulturdestination seine gute Positionierung auf dem touristischen Markt ausbauen und verbessern. Diese Chance, die man durchaus mit den Hoffnungen und Wünschen im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft vergleichen kann, darf nicht vertan werden. Das heißt, wir müssen auch etwas dafür tun, damit es einmal mehr heißen kann: Die Welt zu Gast bei Freunden - diesmal allerdings für einen Zeitraum von zehn Jahren. ({0}) Mit der DZT haben wir einen starken Partner. Das internationale Marketing läuft bereits auf Hochtouren. Die Goethe-Institute vermitteln ein umfassendes Deutschlandbild durch Informationen über das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben. Die Reformation als prägendes kulturhistorisches Ereignis ist deshalb ideal geeignet, um in den deutschen Kulturinstituten mit Ausstellungen, sonstigen Veranstaltungen und mit der einen oder anderen informativen Broschüre auf die LutherDekade und das Reformationsjubiläum aufmerksam zu machen. Ich bin überzeugt, dass unser Außenminister das genauso sieht. Unsere Forderung, die Aus- und Weiterbildung im Tourismus verstärkt voranzutreiben, ist nicht neu; das stimmt. Aber gerade am Beispiel solcher Großereignisse mit ganz besonderen Anforderungen an Servicequalität, Fremdsprachenkenntnisse und eben auch Geschichtskenntnisse ({1}) sieht man, dass es nur heißen kann: Nicht kleckern, sondern klotzen. Denn die Investition in Köpfe zahlt sich schließlich wirtschaftlich aus. Wenn das Büro für Technikfolgenabschätzung den Tourismus als Leitökonomie im 21. Jahrhundert bezeichnet, dann sollte es diesbezüglich keine kontroversen Diskussionen geben. Bei der Vorbereitung solcher Großereignisse spielt ohne Zweifel die Barrierefreiheit eine große Rolle. Wir haben in Deutschland sicherlich schon vieles umgesetzt, aber das Thema bleibt eine Dauerbaustelle. Die Entwicklung und Umsetzung von barrierefreien touristischen Angeboten sind auch im Hinblick auf den demografischen Wandel ein Gebot der Stunde. Ich meine, wir sollten unsere Bemühungen in dieser Hinsicht erheblich verstärken. ({2}) Es gibt kein Großereignis ohne infrastrukturelle Erfordernisse. Mir ist klar, dass zum Beispiel verkehrstechnische Verbesserungen auf der einen Seite und die bauliche Sanierung zentraler Stätten, Gedenkorte und Kirchen der Reformation auf der anderen Seite richtig viel Geld kosten. Trotzdem sage ich: Wir müssen alles dafür tun, unsere kulturellen Leuchttürme zu erhalten und die Substanz zu verbessern. Im Rahmen der Kultur- und Denkmalförderung, etwa der Kulturstiftung des Bundes und der Städtebauförderung, wird schon einiges geleistet. Es wird in diesem Zusammenhang gern vom „Fass ohne Boden“ gesprochen, vielleicht um allzu große Begehrlichkeiten im Keim zu ersticken. Unsere Kulturgüter sind Teil unserer Identität; deshalb sollten wir die Anstrengungen noch einmal forcieren und bereits bestehende Programme ausbauen. Vor zehn Jahren wurde erstmals das Amt des Kulturstaatsministers besetzt. Kanzler Schröder berief seinerzeit Michael Naumann für diese wichtige Aufgabe. Seither hat sich in der deutschen Kulturpolitik vieles positiv entwickelt. Ich gehe davon aus, dass Staatsminister Neumann mit uns an einem Strang zieht. Die aktuelle Woche des bürgerschaftlichen Engagements nehme ich zum Anlass, all den ehrenamtlichen Helfern zu danken, die ihre Freizeit und mitunter auch ihre finanziellen Ressourcen einsetzen, um unsere Kulturdenkmäler offenzuhalten und zu pflegen. Lassen Sie uns die Chancen nutzen, die sich in den kommenden zehn Jahren bieten. Lassen Sie uns getreu dem LutherSpruch „Wer eine Stunde versäumt, der versäumt auch wohl einen Tag“ alle gemeinsam an die Arbeit gehen. Ich bin sicher: Es lohnt sich. Ich habe mich beeilt. Ich hatte nur vier Minuten. Danke für das Verständnis. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu den vier Minuten, die Sie hatten, hat Ihnen der wieder einmal sehr großzügige Präsident weitere 45 Sekunden als Zugabe gewährt. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Tourismus zum Tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung und zum Entschließungsantrag der Fraktion der FDP zu dem genannten Bericht. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10187, in Kenntnis des Tourismuspolitischen Berichts auf Drucksache 16/8000 den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8194 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/10380 zum Tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt. Tagesordnungspunkt 11 b. Hier geht es um die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus zum Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Messen und Geschäftsreisen als Chance für den Tourismusstandort Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9255, den Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/5958 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Stimmt jemand dagegen? - Enthält sich jemand der Stimme? Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition mehrheitlich angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11 c. Hier geht es um eine weitere Beschlussempfehlung des Ausschusses, und zwar auf Drucksache 16/10073. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/8777 mit dem Titel „Chancen des demographischen Wandels im Tourismus nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9315 mit dem Titel „Barrierefreiheit und demografischer Wandel - Auf die Herausforderungen für den Tourismus reagieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Bei den Tagesordnungspunkten 11 d bis 11 f wird interfraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9830, 16/10320 und 16/10317 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu Einvernehmen? - Das immerhin ist der Fall. Dann können wir diesen Tagesordnungspunkt in großem Einvernehmen durch einen gemeinsamen Beschluss zum Abschluss bringen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 a auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck ({0}), Monika Lazar, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - Bestechung und Bestechlichkeit von Abgeordneten - ({1}) - Drucksache 16/6726 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Innenausschuss Präsident Dr. Norbert Lammert Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Hans-Christian Ströbele für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde geht es um uns, die Bundestagsabgeordneten, zumindest unter anderem. Es geht darum, dieses Parlament von einem Makel zu befreien. ({0}) Seit dem Jahre 1999 sind wir durch das Korruptionsabkommen des Europarates und seit dem Jahre 2003 durch das UNO-Übereinkommen gegen Korruption aufgefordert, im Gesetz endlich eine umfassende Regelung zur Strafbarkeit der Korruption und Bestechung von Abgeordneten zu treffen. Dieser Aufforderung sind wir nicht nachgekommen, obwohl die Bundesregierung beide Abkommen mit formuliert, unterstützt und unterschrieben hat. ({1}) Der Bundesgerichtshof, ein hohes deutsches Gericht, ({2}) hat den Gesetzgeber, den Deutschen Bundestag, im Mai 2006 aufgefordert, hinsichtlich der Strafbarkeit eine Lücke zu schließen. ({3}) Auch dieser Aufforderung sind wir nicht nachgekommen. Nach derzeitiger Gesetzeslage ist in Deutschland zwar die Bestechung ausländischer Abgeordneter strafbar, nicht aber die Bestechung deutscher Abgeordneter, es sei denn, es geht um Stimmenkauf. Das ist ein Makel. Das ist sogar ein ganz gravierender Makel, da wir von Ländern auf der ganzen Welt, vor allen Dingen von Ländern des Südens, verlangen, Good Governance zu praktizieren, ({4}) etwas gegen Korruption zu tun und an der Spitze von Staat und Gesellschaft verlässliche und klare Regelungen zur Strafbarkeit von Korruption einzuführen, das selbst aber nicht tun, sondern meinen, das nicht nötig zu haben. ({5}) Das können wir nicht länger hinnehmen. Wie ich weiß, haben sich viele von Ihnen schon über dieses Thema unterhalten. Offensichtlich hat die Koalition es bisher aber nicht geschafft, auch nicht mithilfe der Bundesregierung und nicht durch Beratung des Bundesjustizministeriums, einen entsprechenden Gesetzentwurf zu erarbeiten. Deshalb legt heute die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einen solchen Gesetzentwurf vor. Dieser Gesetzentwurf ist maßvoll und gut durchdacht. ({6}) In ihm werden alle Bedenken berücksichtigt, die gegen eine solche gesetzliche Regelung vorgebracht werden. ({7}) In diesem Gesetzentwurf ist geregelt, dass Abgeordnete in Deutschland oder Mitglieder anderer Volksvertretungen in Bund, Ländern und Gemeinden dann zu bestrafen sind, wenn sie einen rechtswidrigen Vorteil als Gegenleistung dafür fordern, sich versprechen lassen oder gar annehmen, dass sie in Ausübung ihres Mandats in der Volksvertretung oder im Gesetzgebungsorgan eine Handlung zur Vertretung oder Durchsetzung der Interessen des Leistenden oder eines Dritten vornehmen. ({8}) Die Frage, was unter „rechtswidrig“ zu verstehen ist, regeln wir in Art. 1 Abs. 3 des Gesetzentwurfes. Dort heißt es: Ein rechtswidriger Vorteil liegt vor, wenn seine Verknüpfung mit der Gegenleistung als verwerflich anzusehen ist. ({9}) Das ist eine Regelung, die dem Strafgesetzbuch nicht fremd ist. Wir haben sie aus § 240 des Strafgesetzbuches, dem Nötigungsparagrafen, übernommen. Mit dieser sehr engen Regelung - es gibt auch andere Vorschläge, die viel weiter gehende Regelungen beinhalten - tragen wir allen Bedenken Rechnung. Eines der Bedenken, dem wir Rechnung tragen, ist, dass Abgeordnete in Zukunft zum Beispiel Probleme haben könnten, Spenden für ihre Partei zu akquirieren, da sie sich bei diesem Versuch in den Bereich der Strafbarkeit begeben könnten. Wir tragen auch dem Bedenken Rechnung, dass Abgeordnete in ihrer Kariere, zum Beispiel bei ihrer Wahlaufstellung, dadurch behindert werden könnten, dass zunächst ein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet wird, das ihren Ruf ruiniert, aber später sang- und klanglos eingestellt wird. Das sind ja die Bedenken, die dort immer vorgebracht werden. Dazu kann ich nur sagen: Abgeordnete sind auch keine besseren Menschen. Auch bei Abgeordneten kann es immer welche geben, die sich bestechen lassen. Dass auch Abgeordnete nebenher erhebliche Geldbeträge beziehen - manchmal ist es völlig unerklärlich, für was -, hat es in der Vergangenheit, auch in der nahen Vergangenheit, gegeben. Deshalb sagen wir, dass wie für Amtsträger auch für Abgeordnete eine solche gesetzliche Regelung - nicht die gleiche, aber eine ähnliche - ins Gesetzbuch aufgenommen werden muss. Wir möchten diesem Deutschen Bundestag auf die Sprünge helfen und haben einen Vorschlag vorgelegt, damit hier im Plenum des Deutschen Bundestages endlich offen darüber gesprochen wird, damit die Auffassungen gegenübergestellt werden und damit wir zu einem vernünftigen Gesetz kommen. Wir haben den Vorschlag vorgelegt, Sie brauchen nur zuzustimmen. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Siegfried Kauder von der CDU/CSU-Fraktion ist der nächste Redner.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn dieser Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen Gesetz würde, ({0}) dann hätten 612 Abgeordnete des Deutschen Bundestages die beste Chance, Versuchskaninchen in einem Ermittlungsverfahren zu werden. ({1}) Staatsanwälte und Richter würden das politische Handeln sezieren und selektieren, weil der vorgelegte Straftatbestand mit normativen Elementen viel zu weit und ungewiss gefasst ist. ({2}) Wir reden aber nicht nur über 612 Abgeordnete des Deutschen Bundestages, sondern auch über Tausende von Landtagsabgeordneten und Abgeordneten des Europäischen Parlaments und über Zigtausende ehrenamtlich tätige Mitglieder in Gemeinderäten und Kreistagen. ({3}) Wir reden also nicht nur über uns, sondern wir haben einen Gesetzentwurf zu beraten, bei dem es auch um andere geht. ({4}) Was sind Vorteilsannahme und Bestechlichkeit? Ein Beamter, ein Richter oder ein sonst im öffentlichen Dienst Tätiger wird verurteilt, wenn er für eine Diensthandlung einen Vorteil annimmt. Auch wir als Abgeordnete nehmen öffentliche Ämter wahr. Ich fühle mich aber nicht als Beamter, nicht als Richter und nicht als sonst im öffentlichen Dienst Tätiger. Wir sind freie Abgeordnete und nicht weisungsgebunden, sondern nur unserem Gewissen verantwortlich. ({5}) Darin unterscheiden wir uns deutlich von Beamten. Was bei einem Politiker Korruption sein soll, beschäftigt die Rechtsgelehrten schon seit vielen Jahrzehnten. ({6}) Im Jahre 1871, dem Jahr der Reichsgründung, hat man sich mit diesem Thema befasst. ({7}) Aus gutem Grund hatte man sich auf ein Minimalprogramm beschränkt. Die Wahlfälschung und der Stimmenkauf für Wahlen zu den Volksvertretungen wurden strafbar. ({8}) Die Diskussion unter den Rechtsgelehrten war virulent und hielt lange Zeit an, letztendlich hatte sich aber nichts geändert. Man lebte damit. ({9}) In der ersten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages hat man dieses Thema wieder aufgegriffen. Es gab einen Schritt zurück; denn im Jahre 1927 hatte das Reichsgericht den Straftatbestand ausgeweitet - abgedruckt im 62. Band auf Seite 6 ({10}) und das Gesetz dahin gehend ausgelegt, dass sich ein Abgeordneter auch strafbar machen kann, wenn er seine Stimme bei Abstimmungen in der Volksvertretung kaufen lässt. Darüber debattierten die Abgeordneten im Jahre 1953. Sie werden nicht überrascht sein, dass sie zu keinem Ergebnis kamen. ({11}) Siegfried Kauder ({12}) Deshalb ergab sich daraus wiederum ein Schritt zurück: nur noch der Stimmenkauf bei Wahlen zu Volksvertretungen war strafbar. Daran änderte sich bis zum Jahre 1994 nichts. Die Rechtsgelehrten machten sich aber Gedanken darüber, wie man das Thema Korruption bei Parlamentariern in den Griff bekommen könnte. Von 1957 bis 1960 tagte die Große Strafrechtskommission - zugegebenermaßen in Abständen. Die Crème de la Crème des deutschen Strafrechts erhitzte sich über die Frage, was für den Parlamentarier strafbar sein soll. Ich empfehle jedem, die Protokolle nachzulesen. Sie sind im 13. Band der Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission - Besonderer Teil - veröffentlicht. ({13}) Es ist mir im Gedächtnis geblieben, was Professor Bockelmann zu der beabsichtigten Gesetzgebung ausgeführt hat. Wenn der Gesetzgeber einen Straftatbestand mit normativen Elementen - also mit wertausfüllenden Elementen - schmückt, sagt er eigentlich nichts. Das ist das Problem und die Krux des Gesetzentwurfs von Bündnis 90/Die Grünen. Dieser Gesetzentwurf lässt mehr Fragen offen, als er klärt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele? ({0})

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne doch.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Kauder, haben Sie eine Erklärung dafür, warum wir von 120 Staaten der Welt verlangen - überwiegend ist das schon umgesetzt worden -, dass sie die Tätigkeit von Abgeordneten auch im Strafgesetzbuch regeln, obwohl es in den meisten Ländern inzwischen strafbar ist, wenn sich Abgeordnete bestechen lassen, und warum das ausgerechnet in Deutschland nicht möglich sein soll?

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ströbele, ich will Ihnen erklären, warum es gerade mit dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen nicht möglich ist. ({0}) Damit darf ich weiter fortfahren. ({1}) - Sie haben doch die Antwort bekommen. Sie können wieder Platz nehmen. Die Diskussion war sehr intensiv. Dabei fiel eines auf. Die Rechtsgelehrten kamen zu dem Ergebnis, dass sie zu wenig Ahnung von politischem Handeln hätten und sich daher in dieses Thema nicht einfinden könnten. Die Diskussion war zwar von vielen rechtlichen Argumenten gespickt; sie enthielt aber fast kein Beispiel. Das habe ich in Ihrer Rede vermisst, Herr Kollege Ströbele. Welches politische Handeln soll über den bereits existierenden Straftatbestand des § 108 e StGB hinaus strafbar werden? Eines kam deutlich zum Ausdruck: Die Verwerflichkeitsklausel, die Sie dem § 240 des Strafgesetzbuches entnommen haben, ist für politisches Handeln und parlamentarische Arbeit nicht geeignet. Wir müssen uns also andere Lösungsansätze überlegen. Es gibt Literatur dazu, die ich ebenfalls empfehlen kann. Regina Michalke hat sich in der Festschrift für Rainer Hamm aus dem Jahr 2008 mit der Verwerflichkeitsklausel befasst. Wie wollen Sie es regeln? Nimmt ein Politiker einen Vorteil für seine Handlung im Deutschen Bundestag an, soll das strafbar sein, wenn Mittelund Zweckrelationen zwischen Vorteil und Handeln verwerflich sind. ({2}) Verwerflichkeit ist ein normativer Begriff, und in der Rechtssprache wird er durch einen anderen, genauso unverständlichen Begriff ersetzt. Verwerflichkeit ist durch ein besonders hohes Maß an sittlicher Missbilligung definiert. Jetzt wissen wir es. ({3}) Es stimmt, was Professor Bockelmann gesagt hat: Wenn ein Gesetzgeber normative Begriffe verwendet, dann sagt er letztendlich gar nichts. Nun werden Sie einwenden, dass es bei § 240 des Strafgesetzbuches, dem Nötigungsstraftatbestand, auch möglich ist. Ich beziehe mich noch einmal auf Regina Michalke in der Festschrift für Rainer Hamm aus dem Jahr 2008: Der § 240 Strafgesetzbuch ist völlig anders strukturiert, als der Straftatbestand des § 108 e des Strafgesetzbuches, sprich Abgeordnetenbestechung. ({4}) In § 240 Abs. 2 - dem Nötigungsstraftatbestand - sind die Nötigungsmittel genau definiert. Das können Sie hinsichtlich der Abgeordnetenbestechung nicht eins zu eins übernehmen. Sie sehen, dass Ihr Projekt nur scheitern kann. Wir brauchen keine normativen, sondern deskriptive Straftatbestandsmerkmale. Wir müssen dem Abgeordneten in den Kommunalparlamenten genau sagen, was er tun darf und was nicht. Wir könnten eigentlich aus dem Leben lernen. Es gibt einen Bereich, in dem wir Menschen ins Messer laufen Siegfried Kauder ({5}) ließen, weil wir eine Gesetzeslücke nicht geschlossen haben. Mancher Professor der Medizin hat sich hochschulrechtlich richtig verhalten und Drittmittel eingeworben, wie es ihm das Hochschulrecht vorschreibt. Aber statt eines Dankeschöns hat er ein Strafverfahren wegen Vorteilsannahme bekommen. Diese Professoren wurden in erster Instanz zu Freiheitsstrafen verurteilt und mussten sich ihr Recht vor dem Bundesgerichtshof erkämpfen. Hier hat der Bundesgerichtshof gesetzgeberische Tätigkeit angemahnt. Wir sind dem nicht nachgekommen, obwohl wir es tun könnten. Setzen wir Parlamentarier nicht als Versuchskaninchen einem Ermittlungs- und Strafverfahren aus! Regeln wir diesen Sachverhalt sinnvoll! Wir werden dazu in den Ausschusssitzungen Gelegenheit haben. Ich kann Ihnen schon jetzt sagen: Ihr Modell kann nur scheitern. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Jörg van Essen ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. ({0})

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war schon Berichterstatter bei früheren Beratungen über das Thema Abgeordnetenbestechung. Die Problematik, die wir damals sehr sorgfältig erörtert haben, besteht unverändert fort. Herr Ströbele, mir ist aufgefallen, dass Sie viele Ausführungen gemacht haben, eines aber gar nicht angesprochen haben, nämlich die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerte Freiheit des Mandats. Das im Grundgesetz verankerte Modell des Abgeordneten ist völlig anders als das des Beamten, des Amtsträgers, des Richters. ({0}) - Warum haben Sie das dann nicht angesprochen? - Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass Abgeordnete anders behandelt werden müssen als Amtsträger; das ist ganz selbstverständlich. ({1}) Zur Freiheit des Mandats des Abgeordneten gehört, dass er anders als beispielsweise ein Beamter - ich war einer -, der objektiv sein muss, völlig einseitig Interessen vertreten darf, beispielsweise die seines Wahlkreises. ({2}) Das gehört zur Demokratie. Wir sind Abgeordnete dieses Parlaments, um Interessen zu vertreten. Damit haben wir eine völlig andere Aufgabe als beispielsweise der Beamte, der bei seinen Entscheidungen keine Interessen zu vertreten hat, sondern objektiv zu sein hat. Daraus folgt, dass es außerordentlich schwierig ist, jemandem vorzuwerfen, dass er sich völlig einseitig für seinen Wahlkreis einsetzt. Die meisten von uns - ich behaupte: fast alle - tun dies aus guten Gründen. Wir engagieren uns dafür, dass die Interessen unserer Wahlkreise oder der Gruppen, in denen wir beispielsweise als Gewerkschaftsvertreter tätig sind, im Deutschen Bundestag vertreten sind. Das haben wir zu berücksichtigen. Mir hat Ihr ständiger Hinweis auf andere Länder überhaupt nicht gefallen. ({3}) Zu den Ländern, die die entsprechenden Konventionen unterzeichnet und umgesetzt haben, gehören unter anderem Italien und China. ({4}) Ich werde permanent von Journalisten gefragt: Warum Italien und Deutschland nicht? Das Ergebnis kennen wir alle. Italien hat zwar unterschrieben. Wenn es aber ernst wird, wird im italienischen Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den Betroffenen, beispielsweise den Ministerpräsidenten, von Strafverfolgung freistellt. ({5}) Hören Sie bitte auf, uns vorzuwerfen, andere seien besser als wir! ({6}) Auch China hat, wie gesagt, unterzeichnet. Daran, dass dieses Land ein Modell für freie Abgeordnete ist, habe ich meine Zweifel. Hören Sie also bitte auf, uns das vorzuhalten! ({7}) Mir gefällt überhaupt nicht, dass es permanent Tendenzen Richtung Verbeamtung des Bundestages gibt. Dafür, dass das aus Ihrer Fraktion kommt, habe ich Verständnis. Viele haben keinen Berufsabschluss. ({8}) Dann ist es ganz schön, wenn man als Abgeordneter wenigstens eine Verbeamtung hat. Aber ich erinnere an das, was die Kollegin Meseke, die spätere Präsidentin des Bundesrechnungshofes, bei einer früheren Debatte gesagt hat: Jeder Schritt in Richtung Verbeamtung der Abgeordneten ist schlecht für die Demokratie. - Das wird die Devise für die FDP-Bundestagsfraktion sein. Ich warne sehr davor, die Mandatsträger in den Gemeindeparlamenten, den Landesparlamenten, im Bundestag und im Europaparlament gleichzubehandeln; denn die Verfassung gibt denjenigen, die Mitglied eines obersten Verfassungsorgans sind, andere Rechte. Deshalb müssen wir das bei der Gesetzgebung berücksichtigen. Was ich wie der Kollege Kauder ganz kritisch sehe, ist der Begriff der Verwerflichkeit. Wenn man an manche Zeitungen mit großen Buchstaben denkt, dann könnte man den Eindruck gewinnen, dass schon die Tätigkeit des Abgeordneten an sich verwerflich ist. Deshalb wird sehr schnell entsprechend argumentiert werJörg van Essen den, und was immer wir machen, sehr schnell als verwerflich angesehen werden. Der Kollege Kauder hat zu Recht darauf hingewiesen, dass in § 240 StGB, dem Sie den Begriff entlehnt haben, zusätzliche Festlegungen im Tatbestand enthalten sind, die das Ganze eingrenzen. Genau das sehen Sie nicht vor. ({9}) Deshalb ist das, was Sie vorgeschlagen haben, ein völlig falscher Weg. Er bringt uns nicht voran. Wenn Sie geglaubt haben, dafür bekämen Sie Beifall, ({10}) dann muss ich Ihnen sagen: Ich habe in Vorbereitung auf die Debatte heute Abend einen Artikel in einer wissenschaftlichen Zeitschrift gelesen - Kollege Kauder weiß bestimmt, auf welcher Seite das stand, was ich gelesen habe; mir ist das leider entfallen -, und darin ist Ihnen der Vorwurf gemacht worden, dass Ihr Entwurf, den Sie heute vorlegen, völlig untauglich ist. Also, in der Wissenschaft finden Sie keinen Beifall, bei meiner Fraktion auch nicht, und ich hoffe, bei den anderen Fraktionen im Deutschen Bundestag ebenfalls nicht. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker, SPDFraktion.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe fast den Eindruck, wir hätten den Gesetzentwurf gleich an den Rechtsausschuss überweisen sollen. Dann hätten wir die Debatte, in der wir die lieben Kolleginnen und Kollegen mit vielen rechtlichen Begriffen zu später Stunde vielleicht noch langweilen, abkürzen können. Der Herr Bundespräsident hat am Dienstag bei der Eröffnung des Deutschen Juristentages eine, wie ich meine, sehr gute Rede gehalten. Er hat die Politik ermahnt, nicht überzogene Erwartungen zu wecken. Herr Kollege Ströbele, ich glaube, das gilt auch für dieses Thema. Wir sollten es etwas tiefer hängen und keine Erwartungen wecken, die hinterher nicht erfüllt werden können. Wir alle sind uns einig, dass Abgeordnete, also Volksvertreter, nicht bestechlich oder korrupt sein dürfen. Wir alle sind uns auch darin einig, dass die ganz überwiegende Zahl der Abgeordneten in den kommunalen Parlamenten, in den Landtagen, im Bundestag und auch im Europäischen Parlament genau das nicht sind. Sie sind nicht korrupt, um es ganz deutlich zu sagen. ({0}) Wenn wir auch davon überzeugt sind, dass sie nicht korrupt sind, so bedarf es trotzdem Regelungen, um mögliche Zuwiderhandlungen verfolgen zu können. Schwarze Schafe gibt es überall im Leben, und so gibt es sie natürlich auch unter Abgeordneten. ({1}) Über eines sollten wir uns, Herr Kollege Kauder und Herr Kollege van Essen, auch einig sein, und daran führt kein Weg vorbei: Die geltende Regelung im § 108 e StGB reicht nicht aus. ({2}) Die Vorschrift genügt nicht den internationalen Vorgaben, die wir in Deutschland gezeichnet haben, aber nicht ratifizieren können. Da haben Sie vollkommen recht. Es ist peinlich, wenn wir dem nicht nachkommen. ({3}) Es gibt aber auch seit zwei Jahren eine Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die klargemacht hat, was ich schon seit Jahrzehnten behauptet habe, was aber 24 Oberlandesgerichte anders gesehen haben. Der Bundesgerichtshof hat nämlich festgestellt, kommunale Mandatsträger seien keine Amtsträger, weshalb für kommunale Mandatsträger nicht unsere Vorschriften im StGB für Straftaten im Amt gelten würden. Die Vorsitzende des Strafsenats, die das entschieden hat, die heutige Generalbundesanwältin Frau Harms, hat damals in dem Urteil deutlich gemacht, dass eine Lücke im Gesetz existiert. Diese Lücke muss geschlossen werden, und daher sind wir aufgefordert, nicht nur schlaue Reden zu halten, sondern diese Lücke zu schließen. ({4}) Herr Kollege Ströbele, wir hätten diese Lücke schon lange schließen können. Sie und ich, wir beide wissen das. Denn wir hatten im Jahr 2005 in einer Kommission - der Kollege Manzewski war dabei - eine Regelung erarbeitet. ({5}) - Nun hören Sie doch zu! Jetzt wird es Ihnen peinlich. Ich meine, es war eine sehr gute Regelung, die wir damals erarbeitet hatten. ({6}) - Okay, die von uns entworfen war, vielen Dank. ({7}) Aber dann mussten wir koalitionstreu sein, und wir durften sie nicht ins Parlament einbringen, weil uns die Grünen blockiert haben. Man höre und staune. ({8}) Das war eine Regelung, die dem Kollegen Beck zu weit und dem Kollegen Ströbele nicht weit genug ging. ({9}) Also war gar nichts zu machen. Man hat sich damals gegenseitig blockiert. Aber - und das ist vielleicht die Tragik bei uns Sozialdemokraten ({10}) - darf ich weitermachen? - wir möchten auch jetzt, in der Großen Koalition, gern eine Regelung vorlegen, die wiederum wir erarbeitet haben. Nun will unser Koalitionspartner nicht. ({11}) Wir sollten uns im Ausschuss zusammensetzen und dort einmal eine vernünftige Debatte führen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Stünker, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Die Zeit ist schon sehr weit fortgeschritten, Herr Kollege von Klaeden; ich möchte jetzt gern zum Ende kommen. Wir können das sicherlich auch unter vier Augen austauschen. ({0}) - Lassen Sie uns noch einmal einen Moment ernst werden! Wo liegt das Problem? Das Problem liegt - das ist hier schon häufig angesprochen worden - im Tatbestandsmerkmal des Vorteils. Es geht um den Vorteilsbegriff. Das Merkmal ist in Ihrem Entwurf zu schwammig gefasst. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden im Ergebnis in die Hände der dritten Gewalt, in die Auslegung gegeben, was mit dem freien Mandat aus Art. 38 des Grundgesetzes sicherlich nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Wir sind uns völlig einig: Nach Art. 38 des Grundgesetzes darf der Abgeordnete Interessenvertreter sein. Er muss Interessenvertreter sein. Er ist parteilich. Er darf parteilich sein. Das alles ist richtig. Wenn wir uns alle darüber einig sind, warum schaffen wir dann nicht einen Tatbestand, bei dem wir an genau das anknüpfen, was uns das Grundgesetz in Art. 38 im Grunde vorgibt? ({1}) Es heißt dort: An Aufträge und Weisungen sind die Abgeordneten nicht gebunden; sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen. ({2}) Warum implementieren wir nicht diese verfassungsrechtlichen Grenzen in den zu bildenden Straftatbestand, liebe Kolleginnen und Kollegen? Der Straftatbestand könnte dann wie folgt lauten: „Der Abgeordnete macht sich strafbar, wenn er ... sich bereit zeigt, bei der Wahrnehmung seines Mandats Aufträge oder Weisungen deshalb zu erfüllen, weil ihm dafür ein Vorteil versprochen oder gewährt wird.“ Das ist ein Vorschlag von uns, um eine Lösung zu finden. Er ist mit Art. 38 - freies Mandat des Abgeordneten - möglicherweise kompatibel. Dann bräuchten wir uns nicht mehr darüber zu unterhalten, ob der Vorteil unbillig oder rechtswidrig sein muss; denn bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit geht es immer auch um die Angemessenheit. Es gibt also Lösungsmöglichkeiten für ein schweres rechtliches Problem. Wir meinen, dass wir in eine Regelung zur Strafverfolgung ein weiteres Element aufnehmen müssten. Wir sollten darüber nachdenken, ob dann, wenn der Tatbestand erfüllt sein könnte, als Voraussetzung für eine Strafverfolgung nicht auch noch die Ermächtigung der Volksvertretung notwendig ist, ob wir also das Strafrecht mit dem Recht der Immunität verbinden müssen. ({3}) Die Befürchtung, die überall geäußert wird, ist ja: Bereits eine entsprechende Überschrift in der Bild-Zeitung, dass jemand durch eine Anzeige in ein Ermittlungsverfahren geraten ist - das kann ja völlig im Sande verlaufen -, führt zum politischen Tod. Das muss man mit bedenken. ({4}) Ein Beispiel von heute aus einer Zeitung bei uns im Norden passt da. Das habe ich heute Mittag auf den Tisch bekommen. Die Überschrift lautet: „Staatsanwalt ermittelt nach Anzeige gegen ...“. Es geht um einen Kollegen von uns in Niedersachsen. In dem Artikel heißt es dann, dass der Staatsanwalt bestätigt usw. Dem ist man heute gleich nachgegangen. Keine der Regeln ist eingehalten worden. Nach den RiStBV, den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren, wie das schöne Büchlein heißt, hätte zuerst innerhalb bestimmter Fristen eine Anzeige an den Parlamentspräsidenten erfolgen müssen. Bei der Staatsanwaltschaft dort ist angerufen worden und siehe da: Der Sachverhalt ist ein ganz anderer. Aber der Staatsanwalt, der dort zitiert ist, hat genau diese Erklärung abgegeben. Morgen kommt eine Gegendarstellung. Aber wir wissen, was von einer solchen Gegendarstellung im Ergebnis zu halten ist. ({5}) Von daher: Wir alle sehen die Probleme. Wir müssen - damit will ich schließen und meine Redezeit nicht ganz ausnutzen; es ist schon spät geworden - miteinander reden. Wir müssen gemeinsam beraten. Herr Kollege Gehb und Herr Kollege Kauder, wir haben den rechtlichen Sachverstand, um eine Regelung zu finden, bei der wir unsere Kolleginnen und Kollegen in den Parlamenten nicht ins Messer laufen lassen. Das dürfen wir nämlich nicht; Sie haben darauf zu Recht hingewiesen. Uns aber ein Redeverbot aufzuerlegen und diese Frage gar nicht mehr zu diskutieren, das, glaube ich, kann nicht die Lösung sein. Von daher meine Bitte an den Koalitionspartner - Sie persönlich muss ich gar nicht ansprechen -: Reden Sie noch einmal mit Ihren Oberen! Wir sollten die Beratungen wieder aufnehmen. Schönen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die Rede des Kollegen Wolfgang Nešković nehmen wir zur Protokoll.1) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/6726 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Bilanzrechts ({0}) - Drucksache 16/10067 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Parlamenta- rischer Staatssekretär Alfred Hartenbach, Antje Tillmann, CDU/CSU, Klaus Uwe Benneter, SPD, Mechthild Dyckmans, FDP, Dr. Barbara Höll, Die Linke, Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.2) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 16/10067 an die in der Tagesord- 1) Anlage 8 2) Anlage 9 nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke Hoff, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NSG-Ausnahmeregelung für Indien beschädigt das nukleare Nichtverbreitungsregime Zustimmung der Bundesregierung ist Beleg einer falschen Abrüstungspolitik - Drucksache 16/10355 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die FDP-Fraktion die Kollegin Elke Hoff. ({4})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu sehr später Stunde reden wir heute über ein wichtiges Thema, das es eigentlich verdient hätte, an prominenterer Stelle hier im Deutschen Bundestag behandelt zu werden. Deswegen freue ich mich auch, dass es uns gelungen ist, gemeinsam mit unseren Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen heute ein Zeichen zu setzen und unserer Missbilligung über etwas Ausdruck zu verleihen, was die Bundesregierung in der parlamentarischen Sommerpause dieses Jahres auf den Weg gebracht hat. Die Entscheidung für eine Ausnahmeregelung für Indien ohne die langfristige und verbindliche Verpflichtung Indiens zur nuklearen Abrüstung und zum Beitritt zum Atomteststoppvertrag bricht nach unserer Auffassung mit allen Prinzipien der internationalen Nichtverbreitungspolitik und bedroht das ohnehin schon wankende nukleare Nichtverbreitungsregime endgültig in seiner Existenz. ({0}) Es wurden einem Nichtmitglied kostbare Rechte eingeräumt, ohne dafür die entsprechenden Pflichten einzufordern. Indien wird dadurch nicht näher an das nukleare Nichtverbreitungsregime herangeführt, sondern erhält einen Sonderstatus als privilegierter Kernwaffenstaat außerhalb des Atomwaffensperrvertrages. Das ist der Weg in nukleare Doppelstandards, das ist der Weg in die Un19126 terscheidung zwischen guter und schlechter Proliferation, und das ist, meine Damen und Herren, ein totaler Irrweg; ({1}) denn er bedeutet über kurz oder lang das Ende des Atomwaffensperrvertrages, das Ende des internationalen Nichtverbreitungsregimes und den Beginn einer Phase unkontrollierter nuklearer Aufrüstung. Nur durch ein intensives und glaubwürdiges Engagement der Weltgemeinschaft für die Institutionen der Nichtverbreitung, nur durch eine globale Abrüstungsinitiative, wie sie erfahrene Staatsmänner wie Außenminister Henry Kissinger oder Hans-Dietrich Genscher wiederholt eingefordert haben, werden sich der entstandene Schaden noch begrenzen und ein Zerfall des Nichtverbreitungsregimes vielleicht noch verhindern lassen. Abrüstung und Rüstungskontrolle sind viel zu kostbare Säulen der internationalen Sicherheit, als dass sie zu strategischen Instrumenten von Geo- oder auch Wirtschaftspolitik werden dürften. Die FDP hat wiederholt gefordert, dass Deutschland endlich wieder eine Vorreiterrolle für die internationale Abrüstung und Nichtverbreitung einnimmt. Unser Land hat sich auf diesem Politikfeld auch durch liberale Außenpolitik ein stabiles Renommee aufgebaut. Deshalb schmerzt es meine Fraktion besonders, dass eine solche abrüstungspolitische Fehlentscheidung unter deutschem Vorsitz und unter Führung eines deutschen Außenministers in der Nuclear Suppliers Group getroffen worden ist. ({2}) Dabei hatte der Bundesaußenminister ja bereits persönlich die richtigen und notwendigen Kriterien für eine Heranführung Indiens an das Nichtverbreitungsregime und für eine außenpolitisch verantwortliche Entscheidung der NSG benannt. Auf einer Abrüstungskonferenz der SPD im Juni 2006 nannte er als Kriterien den Beitritt Indiens zum Atomteststoppvertrag, ein Moratorium für die Produktion von spaltbarem Material für Waffenzwecke und die Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung. Und so hätten die Kriterien für eine Zustimmung der Bundesregierung in der NSG auch am 6. September 2008 lauten müssen. In der abrüstungspolitischen Grundsatzrede des Außenministers auf der Münchner Sicherheitskonferenz in diesem Jahr kam das heikle Thema jedoch erst gar nicht vor. Wer in der anschließenden Diskussion etwas zu der deutschen Haltung zum US-indischen Nuklearabkommen wissen wollte, wurde ebenfalls enttäuscht. Konkretes, gar eine deutliche Positionierung gab es nicht. Die Bundesregierung hat der indischen Sonderregelung in der NSG zugestimmt, ohne das Parlament und die deutsche Öffentlichkeit auch nur ein einziges Mal im Vorfeld über ihre Entscheidung zu informieren. ({3}) Die Entscheidung wurde klammheimlich in der parlamentarischen Sommerpause getroffen. Dies ist aus unserer Sicht, wie Herr Kollege Hoyer richtig bemerkt hat, ein unerhörter Vorgang. ({4}) Aber die Bundesregierung hat nicht nur Parlament und Öffentlichkeit über ihre Positionierung im Unklaren gelassen. Wenn man die Berichterstattung ausländischer Medien, insbesondere die indische verfolgt und mit Vertretern anderer Delegationen gesprochen hat, wurde eines sehr deutlich: Die Bundesregierung hat ihren NSGVorsitz aktiv dazu genutzt, für eine Sonderregelung für Indien zu werben, sie hat kleine Staaten wie Irland, die Niederlande oder Neuseeland mit ihrer Kritik an den fehlenden abrüstungspolitischen Bedingungen der Sonderregelung im Regen stehen lassen, und sie hat nie die von Außenminister Steinmeier benannten abrüstungspolitischen Kriterien zur Grundlage ihrer Entscheidung gemacht. So sieht, meine Damen und Herren, keine glaubwürdige Abrüstungspolitik aus. Da hilft es auch nicht, immer wieder treuherzig auf Mohammed al-Baradeis Unterstützung für das US-indische Nuklearabkommen zu verweisen und diese wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Denn bereits im Jahr 2005 hat der IAEO-Direktor die entscheidende Einschränkung seiner Haltung hinzugefügt: „Managed properly, it would take us forward.“ - Nur richtig gehandhabt würde ein US-indisches Nuklearabkommen Indien näher an das Nichtverbreitungsregime heranführen und die internationalen Bemühungen um nukleare Nichtverbreitung voranbringen. Das bedeutete auch seiner Meinung nach, das US-indische Nuklearabkommen zu einem Tauschgeschäft zu machen: Energieentwicklungshilfe gegen das Eingehen verbindlicher Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag. Nur, dieses Geschäft auf Gegenseitigkeit hat eben nicht stattgefunden. Indien hat keine verbindlichen Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag übernommen. Deshalb hätte die NSG, hätte die Bundesregierung einer Sonderregelung für Indien auch nicht zustimmen dürfen. Deshalb muss Deutschland als glaubwürdiger Nichtkernwaffenstaat und verantwortungsvoller nuklearer Lieferstaat an seiner restriktiven Exportpolitik für Nukleartechnologie gegenüber Indien festhalten. Ich appelliere hier auch im Namen der Kollegen, die gemeinsam mit uns den Antrag formuliert haben, an die Bundesregierung, zumindest in diese Richtung weiterzumarschieren und uns bitte hier im Plenum zu erklären, wie es zu dieser, aus unserer Sicht wirklich verheerenden Entscheidung kommen konnte. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Eckart von Klaeden, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Wir wissen aus zahlreichen Unterrichtungen durch das Auswärtige Amt, dass nicht nur dort, sondern auch im Parlament über die richtige Entscheidung zu dieser Frage lange Zeit gerungen worden ist. Am Ende des Entscheidungsprozesses hat Außenminister Steinmeier eine Führungsentscheidung getroffen, die unsere volle Unterstützung verdient, nämlich: Die Ausnahmeregelung der Nuclear Suppliers Group für Indien war notwendig. Das, was die Grünen und die FDP hier vorlegen, stellt nicht nur eine Misstrauenserklärung gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika dar - das ruft in der deutschen Öffentlichkeit heutzutage ja keine besondere Aufmerksamkeit mehr hervor -, ({0}) sondern stellt auch eine Misstrauenserklärung gegenüber Indien dar. Darauf wird, wenn aus einer der beiden Fraktionen oder Parteien, je nach Konstellation, der Wunsch vorgetragen wird, einmal den Außenminister zu stellen, sicherlich zurückzukommen sein. ({1}) Die entscheidende Frage ist doch: Hat Indien das Vertrauen verdient, das ihm durch diese Ausnahmeregelung entgegengebracht wird? Vor Jahren haben sich die Grünen - damals mit der Unterstützung der Opposition von CDU/CSU und auch der Unterstützung der FDP - in der rot-grünen Koalition dafür eingesetzt, Indien im Rahmen der G-4-Initiative zu einer Vetomacht im Weltsicherheitsrat zu machen. Glauben Sie wirklich, dass diese Entscheidung richtig gewesen wäre, wenn, wie Sie es in Ihrem Antrag deutlich machen, Indien gleichzeitig eine Gefahr für das nukleare Nichtverbreitungsregime wäre? Wäre diese Initiative wirklich verantwortbar gewesen? Ja, diese Initiative ist meiner Meinung nach damals richtig gewesen. Indien gehört in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. ({2}) - Indien kann ja gar nicht Mitglied des Nichtverbreitungsvertrages sein, Frau Kollegin Hoff. Sie müssten einmal den Vertrag lesen. Denn Indien ist Nuklearmacht, und die Aufnahme einer weiteren Nuklearmacht ist in dem Vertrag gar nicht vorgesehen. Es gibt überhaupt kein Verfahren dafür. ({3}) Also, Indien stellt immer wieder diese Forderung. Indien sagt ja: Wir sind bereit, Mitglied des Nichtverbreitungsvertrages zu werden, wenn ihr akzeptiert, dass wir Nuklearmacht sind. ({4}) Zu sagen, dass Indien zwar eine Gefahr für das Nichtverbreitungsregime ist, und gleichzeitig zu fordern, dass Indien in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Vetomacht soll, dass es also für andere Staaten internationales Recht setzen soll, bedeutet nur - Sie lehnen nämlich das eine ab und befürworten das andere -, dass Sie entweder den Nichtverbreitungsvertrag oder den Sicherheitsrat gering schätzen. ({5}) Ihre Position ist nicht schlüssig. ({6}) Wir dagegen sind der Ansicht, dass Indien dieses Vertrauen verdient, ({7}) dass Indiens Aufstieg neben dem Aufstieg Chinas die Welt in den kommenden Dekaden unübersehbar verändern wird. Wir meinen, dass Indien in den letzten Jahren und Jahrzehnten wichtige Initiativen ergriffen hat. Indien hat in Südasien Verantwortung übernommen, zum Beispiel bei der Lösung der politischen Krise in Nepal. Es hat seine Beziehungen zu den ASEAN plus Drei und den Vereinigten Staaten verstärkt. Indien kommt damit seinem angesichts seiner Größe verständlichen Ziel näher, als Großmacht eine Gleichrangigkeit mit seinem chinesischen Nachbarn zu erreichen, und das ist ein wesentlicher Grund für seine nuklearen Ambitionen gewesen. ({8}) - Sie wollen jetzt doch nicht wirklich die Lage in Pakistan, Herr Kollege Ströbele, und die Proliferationspolitik Pakistans mit der Indiens vergleichen. Das zeigt, wie sehr bei Ihnen die Maßstäbe verrutscht sind. ({9}) Seit 1974 hat Indien eine verantwortungsvolle Politik betrieben und sich als eine verantwortungsvolle Atommacht erwiesen: Anders als sein Nachbarland Pakistan, das Sie, Herr Kollege Ströbele, gerade als Kronzeuge eingeführt haben, war Indien zu keinem Zeitpunkt an der Proliferation von Nuklearmaterial oder Know-how beteiligt. Anders als Pakistan hat Indien zudem in seiner Nukleardoktrin von Anfang an auf den Ersteinsatz von Atomwaffen verzichtet. Darüber hinaus hat Indien erklärt, keine Atomwaffen gegen Nichtnuklearstaaten einzusetzen, und es hat sich seit 1974 an diese Nukleardoktrin gehalten. Das sind wesentliche Unterschiede zu Pakistan, das Sie gerade hier eingeführt haben. ({10}) Zudem hat die indische Regierung ein freiwilliges Moratorium für neue Atomtests erklärt. Ich sehe auch keinen direkten Zusammenhang zwischen der NSG-Entscheidung und den Bemühungen um eine friedliche Lösung der Krise um das iranische Nuklearprogramm. Indien ist in dieser Frage nicht mit dem Iran zu vergleichen. Indien hat den Nichtverbreitungsvertrag nicht unterzeichnet. Iran hingegen ist dem NVV beigetreten, und es gibt erhebliche Zweifel an der Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem NVV durch das Teheraner Regime. Die E-Drei-plus-Drei haben dem Iran das Angebot einer zivilen nuklearen Zusammenarbeit unterbreitet, wenn das Land das Vertrauen in den ausschließlich friedlichen Charakter seines Programms wiederhergestellt hat. Auch bedroht Indien nicht die Existenz eines anderen Staates, wie das der Iran offen gegenüber Israel tut. Die Rede des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad vor der UN-Vollversammlung hat das ja wieder unter Beweis gestellt. Wie alle Schwellenländer ist Indien ein Land mit steigendem Energiebedarf. ({11}) Der Energiebedarf Indiens, das über keine eigenen Ölund Gasvorkommen verfügt, steigt stetig an. Es verfügt über große eigene Kohlevorkommen, deren Verstromung allerdings zu den rapide wachsenden CO2-Emissionen des Landes beitragen würde. Man kann daher Indien schwer den Zugang zu nuklearer Energie verweigern - das ist ja ein Argument, das immer wieder von der FDP vorgetragen wird, aber von den Grünen nicht unterstützt wird -; denn Indien ist für seine wirtschaftliche Entwicklung auf die Bereitstellung von Nuklearenergie angewiesen. Indien das vorzuenthalten, was man dem Iran immer wieder anbietet, ist nicht sonderlich überzeugend. Mit dem Ausbau der Atomkraft hofft die Regierung in Delhi zudem, den Zuwachs der CO2-Emissionen einzudämmen. Es ist auch nicht überzeugend, wenn die Gegner des amerikanisch-indischen Nuklearabkommens behaupten, dass dadurch der NVV geschwächt werde. Meines Erachtens wird der NVV gerade durch die Annäherung Indiens an den Vertrag gestärkt. Ihr Argument, Frau Kollegin Hoff, ist ja nur dadurch plausibel geworden, dass Sie das englische Zitat von al-Baradei unzutreffend ins Deutsche übersetzt haben; denn Sie haben die selbstverständliche Kondition, dass eine Vereinbarung vernünftig ausgeführt werden muss, in einer Weise verändert, wie sie im englischen Zitat al-Baradeis nicht enthalten war. Indien hat zugestimmt, 14 seiner bis 2014 verfügbaren 22 Kernkraftwerke einer Inspektion durch die IAEO zu unterwerfen. Das ist der wesentliche Punkt, den alBaradei als eine Heranführung an das NVV-Regime genannt hat. Das vereinbarte Safeguards-Abkommen zwischen Indien und der IAEO dürfte bald unterzeichnet werden. ({12}) Am 5. September hat der indische Außenminister vor der Entscheidung der NSG die indische Nichtverbreitungsverpflichtung noch einmal bekräftigt. Auf dieser indischen Nichtverbreitungsverpflichtung baut die Ausnahmeregelung der NSG auf. Falls Indien erneut einen Atomtest durchführen sollte oder seine Safeguards- oder NSG-Verpflichtung verletzt, kann jedes NSG-Mitglied ein Sonderplenum einberufen, das über geeignete Maßnahmen bis hin zur Suspendierung oder Beendigung des Nuklearhandels mit Indien entscheidet. ({13}) Ich halte es daher für richtig, dieser Ausnahmeregelung zuzustimmen. Ich glaube, dass Indien angesichts seiner jahrzehntelangen verantwortungsvollen Nuklearpolitik dieses Vertrauen verdient. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Paul Schäfer, Fraktion Die Linke. ({0})

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anfang September ist ein neues Kapitel eines Stücks geschrieben worden, das man auch „Chronik eines angekündigten Todes“ nennen könnte. Die Bundesregierung kann sagen, sie ist nicht nur dabei gewesen, sondern sie hat sogar den Vorsitz bei dieser Veranstaltung geführt. Das hat doch eine besondere Pikanterie. Diese Nuklearlieferantengruppe ist 1976, also zwei Jahre nach den indischen Atomtests, gegründet worden, und zwar genau zu dem Zweck, Nuklearlieferungen an Indien zu verhindern. Jetzt gibt es eine Ausnahmeregelung der Nuclear Suppliers Group, indem gesagt wird: Wir dürfen an Indien liefern. - So etwas nennt man doch wohl Paradigmenwechsel, oder? Ich finde, es ist eindeutig - darum braucht man nicht herumzureden - ein Dammbruch, weil Indien dafür prämiert wird - anders kann man es nicht sehen -, dass es sich im Widerspruch zum NPT zu einer Atommacht entwickelt hat. Um diesen Sachverhalt kommen Sie nicht herum. Wenn man jetzt solche Präzedenzfälle schafft, wird man es viel schwieriger haben, vom Iran und von anderen eine Abkehr von ihren nuklearen Ambitionen zu verlangen. Herr von Klaeden, alle Gründe, die Sie für die Sonderbehandlung Indiens anführen - Sie sagen beispielsweise, es sei eine vertrauenswürdige Nuklearmacht -, beinhalten offensichtlich die Ansage, dass wir uns nicht allzu sehr um Recht und Gesetz kümmern. Damit wird der Willkür Tür und Tor geöffnet. Wer definiert denn, dass Indien eine verantwortungsvolle Atommacht ist? Diese Willkür tut den internationalen Beziehungen nicht gut. Wir brauchen verlässliche rechtliche Grundlagen. Ein entsprechendes Verhalten wäre von Indien einzufordern gewesen. Paul Schäfer ({0}) Es ist schon erwähnt worden, dass es eine Chance innerhalb der NSG gegeben hätte, ein klares Nein zu sagen, um die Beteiligten dazu zu bringen, darauf zu drängen, dass Indien die Bedingungen des NPT erfüllt. Es hätte dafür eine Mehrheit gegeben. Aber die Bundesregierung hat sich an die Spitze derjenigen gesetzt, die dem Druck nachgegeben haben, der vor allem von den USA ausgegangen ist. Diesem Druck konnte keines der kleinen Länder standhalten; sie sind sozusagen in die Knie gegangen. Es hätte also eine Möglichkeit gegeben, das zu verändern. Dass dies nicht passiert ist, zeigt: Worte und Taten klaffen bei der Bundesregierung weit auseinander. Man kann - leider, muss man an dieser Stelle sagen auch vermuten, dass es dort unlautere Motive nicht nur seitens der USA gibt, die Materialien liefern wollen und die im nuklearen Bereich Geschäfte machen wollen. Man muss dies auch für andere Regierungen vermuten. Wenn ich mir die Entwicklung der deutschen Rüstungsexporte nach Indien anschaue und wenn ich berücksichtige, dass man da spekuliert, was U-Boot-Lieferungen oder den Verkauf des Eurofighters betrifft, kann ich mich nicht ganz des Eindrucks erwehren - diese Frage stelle ich zumindest in den Raum -, dass da auch Exportinteressen eine Rolle spielen. Man hat also die eigene abrüstungspolitische Position aufgeweicht und geschwächt mit der Konsequenz, dass der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen in der Tat akut gefährdet ist. Wir sind in der Situation - das ist an dieser Stelle oft genug gesagt worden -: Wenn es 2010 nicht zu eindeutigen Ergebnissen auch in Richtung einer klaren Abrüstungspolitik kommt, dann wird es insgesamt eine Erosion geben, und dann wird man auf einer schiefen Bahn sein, auf der es kein Halten mehr gibt. Es wäre das Minimum gewesen, die rote Linie, die sich die Bundesregierung selbst gesetzt hat, in den NSG-Verhandlungen einzuhalten, das heißt, eine verbindliche Erklärung zu erreichen, dass Indien dem Atomteststoppvertrag beitritt, sich an dem Produktionsmoratorium für nukleare Waffen beteiligt und all seine Anlagen der Kontrolle der Safeguards der IAEO unterstellt. Das jetzt erreichte Abkommen kann man nur als Förderprogramm für den militärischen Bereich ansehen. Wenn nur Teile der Anlagen einer Kontrolle unterstellt werden, dann können Materialien transferiert werden und für militärische Programme genutzt werden. Das ist ein Förderprogramm für die nukleare Aufrüstung in der Region. Dem hätte man Einhalt gebieten müssen; da hätte man Nein sagen müssen. Genau das ist das richtige Ansinnen des Antrages von FDP und Grünen, der deshalb grundsätzlich unterstützungswürdig ist. Danke. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Gernot Erler.

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute hier über eine Entscheidung, die unterschiedliche Wirkungen haben kann. Allen nachzugehen, ist in vier Minuten nicht möglich. Deshalb konzentriere ich mich auf eine. Das Ziel der Bundesregierung besteht darin, Indien in Verbindung mit den Entscheidungen der IAEO und der NSG näher an das internationale Nichtverbreitungsregime heranzuführen und damit aus seiner Isolation zu lösen. Diesem Ziel kommen wir jetzt näher. Indien hat sich auf das globale Nichtverbreitungsregime zubewegt und steht jetzt stärker in der Verantwortung als vorher, vor allem durch das am 1. August von der IAEO gebilligte Safeguards-Abkommen. Indien wird jetzt die Mehrzahl seiner Reaktoren unter Safeguards stellen. Das bedeutet mehr Kontrolle als bisher und damit einen deutlichen Gewinn für das Safeguardssystem und für die Nichtverbreitung. ({0}) Eine Wertung, wie ich sie letzten Mittwoch von dem Kollegen Trittin gehört habe, die Belieferung Indiens mit Atommaterial und Uran sei kein Gewinn, sondern ein Verlust an Rüstungskontrolle, ist irreführend. Die NSGEntscheidung erlaubt die Lieferung von NSG-kontrollierten Nukleargütern nur an zivile Anlagen unter Safeguards. Die IAEO-Kontrollen verhindern gerade, dass das Material in den militärischen Sektor gelangt. Nicht von ungefähr hat der indische Außenminister Mukherjee in seiner Erklärung vom 5. September erstmals öffentlich die nichtverbreitungspolitischen Verpflichtungen seines Landes genannt und bekräftigt. Hierzu zählen das Testmoratorium, die Safeguards-Verpflichtungen, die Schaffung effektiver indischer Exportkontrollen und die Verpflichtung, sich an den Richtlinien der NSG und des MTCR auszurichten. Die indische Regierung hat sich ausdrücklich zum Ziel des Abschlusses eines Vertrages über ein Verbot der Produktion von Spaltmaterial für Kernwaffen - für die Fachleute: FMCT - wie auch dem Ziel einer kernwaffenfreien Welt bekannt. Indien verpflichtet sich, die sensiblen Nukleartechnologien, zu denen unter anderem die Anreicherung von Uran gehört, nicht weiterzugeben. Hieran wird sich Indien in Zukunft messen lassen müssen. Dass dies ein für Indien weit gehender Schritt war, zeigt die starke Kritik der indischen Opposition an dieser Entscheidung. Die Ausnahmeregelung der NSG baut auf den indischen Verpflichtungen, die ich hier genannt habe, auf. Sollte Indien hiervon abweichen - Kollege von Klaeden hat darauf hingewiesen -, greifen die nichtverbreitungspolitischen Regeln, die wir in die Erklärung eingearbeitet haben. Die NSG hätte dann die Möglichkeit, Sanktionen zu verhängen, einschließlich der Suspendierung des Nuklearhandels. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erklärung der NSG war ein Kompromiss, einer zwischen 45 Mitgliedstaaten, ({2}) einer, bei dem wir wichtigen Nichtverbreitungselementen Raum schaffen konnten. Was jetzt passiert, ist ein Zwischenschritt. Unser Ziel bleibt - an ihm werden wir weiter arbeiten - Indiens Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag - die Probleme sind hier genannt worden - sowie zum internationalen Teststoppabkommen und ein Produktionsmoratorium für Spaltmaterial für militärische Zwecke. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatsminister, Sie haben entgegen Ihrer sonstigen Art eine Erklärung hier abgelesen. Das nehme ich zur Kenntnis. ({0}) Atomwaffen sind der Extremismus der Militärtechnik, und der Nichtverbreitungsvertrag versucht, in diesem Bereich wenigstens nukleare Anarchie zu verhindern und gleichzeitig die Dinge in Richtung nuklearer Abrüstung zu bewegen. Wir wissen alle: In den letzten Jahren ist der Nichtverbreitungsvertrag in eine erhebliche Krise gekommen. Erinnern wir uns: 1974 war der erste indische Nukleartest. Wodurch wurde er möglich? Durch Plutonium, das aus einem Reaktor, von Kanada geliefert, dafür abgezweigt werden konnte. Die Schlussfolgerung daraus war die Gründung der Nuclear Suppliers Group durch USA, Kanada, die Bundesrepublik und einige andere Länder. Und nun soll es diese Ausnahmeregelung für Indien geben. Herr von Klaeden, wenn da von Misstrauen gegenüber Indien gesprochen wird, ist das in diesem Zusammenhang die unpassende Kategorie. ({1}) Aber wir müssen zunächst feststellen, dass Indien keine verbindliche Abrüstungsverpflichtung im Nuklearbereich eingegangen ist, ({2}) dass kein Beitritt zum Atomteststopp erklärt wird und dass schließlich auch ein überprüfbares Moratorium für die Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial nicht zugesagt wird. Was die IAEO-Kontrollen in den 14 zivilen Anlagen und in den acht anderen Anlagen angeht, die für die militärische Nutzung entscheidend sind: null. Außerdem kann Indien auch von sich aus die Kontrollen der IAEO beenden. Ich verstehe, dass die IAEO sagt: Jetzt haben wir den Fuß in der Tür. Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, das sei insgesamt eine Annäherung an den Nichtverbreitungsvertrag, ist aber eine falsche Bewertung. Dazu haben Sie in Ihren vier Minuten Rede nichts gesagt. In frei gesprochenen weiteren vier Minuten würden Sie angesichts der Wirkung dazu vermutlich etwas anderes sagen. Wie will man gegenüber dem Iran denn jetzt bitte schön noch irgendwie glaubwürdig vertreten - das ist schon gesagt worden -: Ihr dürft das, was die anderen machen, nicht; die sind halt Atommacht usw. Das bekommen Sie nicht mehr auf die Reihe. ({3}) Israel und Pakistan haben selbst gesagt: Das wollen wir auch - Präzedenzfall. Eine Ablehnung kann man nicht plausibel machen. Na gut, Pakistan kann man sagen: Euch können wir nicht trauen. Aber Israel? Israel trauen Sie doch sehr. Warum denn da nicht? ({4}) Was Pakistan angeht: Gestern hatten wir dazu eine Aktuelle Stunde. ({5}) - Jetzt will ich keine Zwischenrede. ({6}) - Ich erzähle weiter. Sie können dann sehen, das ist ganz schön sinnvoll. Wir haben festgestellt, dass Pakistan ein politisches Pulverfass ist, vielleicht das gefährlichste weltweit. Erinnern wir uns daran, was 1999 war - das ist nachzulesen -, als es sieben Wochen lang einen kriegerischen Konflikt zwischen Pakistan und Indien gegeben hat: 13-mal ist von beiden Seiten der Einsatz von Atomwaffen angedroht worden. Bitte schön! Das heißt im Klartext: Wenn auf indischer Seite jetzt die Möglichkeit besteht - ich will das nicht unterstellen -, in Sachen nuklearer Aufrüstung weiterzumachen, dann ist die Perzeption beim Gegner doch eindeutig. Dann geht die Sache auch da hoch. Das müssen Sie bitte berücksichtigen. ({7}) Die Bundesregierung trägt eine ganz erhebliche Mitschuld an dieser Art von Entscheidung. Herr Staatsminister, Sie haben vorhin von einem Kompromiss gesprochen. Sie wissen selbst, wie schlimm das gelaufen ist: Die kritischen Kleinen, die Rückgrat hatten, sind von den Spitzen der USA fertiggeWinfried Nachtwei macht worden, und die Bundesregierung, die gegenüber dem größten Verbündeten in solchen Angelegenheiten schon einmal Rückgrat bewiesen hat, hat das dieses Mal offensichtlich nicht getan. Es ist wirklich ein Hohn, wenn Sie in diesem Zusammenhang von einem Kompromiss reden. Ich habe den Eindruck, dass elementare Sicherheitsund Abrüstungsinteressen anderen Interessen geopfert wurden. Davon wird natürlich gar nicht gesprochen. Es geht aber immerhin um einen Markt von 150 Milliarden Dollar. Legitimerweise sind daran natürlich alle möglichen Seiten interessiert. Ich glaube, das war das Entscheidende.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Nachtwei!

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ja, bitte.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zwei dringende Bitten an die Koalition: Erstens. Reden Sie hier wenigstens nicht um diese Fehlentscheidung drum herum. Uta Zapf, ich glaube, Sie können das ein bisschen korrigieren. Zweitens. Wenigstens sollte es jetzt keinerlei Nuklearlieferungen an Indien geben. Das ist das Mindeste. Australien zum Beispiel macht uns das vor.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Nachtwei, ich muss Sie jetzt wirklich unterbrechen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich beende jetzt meine Rede. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen von Klaeden.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Nachtwei, Sie haben gerade behauptet, dass die israelische Regierung eine Sondergenehmigung verlangt habe, die dem indisch-amerikanischen Nukleardeal entspricht. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dafür einen Nachweis liefern könnten. ({0}) Zweitens. Sie haben das Verhalten Indiens mit dem Verhalten Pakistans verglichen. Ich darf Sie darauf hinweisen, dass Pakistan gegen das Prinzip, an das sich Indien hält, nämlich keine Proliferation zu betreiben, verstoßen hat. Und Pakistan schließt in seiner Nukleardoktrin den Ersteinsatz von Nuklearwaffen gerade nicht aus. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zu diesen beiden Punkten Stellung nehmen könnten. Wenn ich noch einen dritten Punkt anführen darf: Die Nuklearpolitik Indiens hat sich in den vergangenen Jahren nicht verändert. Warum haben Sie eigentlich die Aufnahme dieses Landes in den VN-Sicherheitsrat unterstützt? Hätte ein solches Land tatsächlich in den VNSicherheitsrat gehört?

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Erstens zu Israel. Es hat zumindest Pressemeldungen gegeben, dass es solches Ansinnen von israelischer Seite gäbe. Das gebe ich jetzt nur wieder; ich kann es nicht verifizieren. Ich sage es also mit Vorsicht. Zweitens. Es ist völlig richtig: Wenn wir die Kategorien „vertrauenswürdige Staaten“ und „weniger vertrauenswürdige Staaten“ anwenden würden, würde Indien als erheblich vertrauenswürdig gelten. Das ist klar. Pakistan würde als viel weniger vertrauenswürdig oder kaum oder gar nicht vertrauenswürdig gelten. Diese Kategorie ist eingeführt worden, aber sagt in diesem Zusammenhang nichts aus. Es geht um den Universalismus dieser Regel. Es wird nicht unterschieden zwischen Vertrauenswürdigen, für die es scheunentorgroße Ausnahmen gibt, und den anderen, den Kritischen, bei denen es dann anders läuft. Das ist das Problem. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gestehe, es ist für mich eine bittere Debatte. Sie ist noch zusätzlich bitter geworden, weil wir hier in einer Art diskutieren, die dem Problem, vor dem wir jetzt stehen, überhaupt nicht angemessen ist. Es macht keinen Sinn, dieser Bundesregierung vorzuwerfen, an allem schuld zu sein, und zu behaupten, dass sie es hätte verhindern können. Vielmehr müssen wir, denke ich, vielleicht in einer nachfolgenden Debatte über die Dinge reden, die jetzt zu besorgen sind. Frau Hoff hatte einen Vorschlag gemacht, den ich nur unterstützen kann. Wir haben hier schon mehrfach Debatten darüber geführt. Bis auf die CDU/CSU, die sich in dieser Phase eigentlich immer bedeckt gehalten hat, haben wir allesamt, die wir hier sind, die Forderungen an Indien aufgestellt, die hier auch als Vorausbedingungen zitiert worden sind, um einen solchen Deal überhaupt seriös abschließen zu können. Die Vorausbedingungen sind: CTBT-Beitritt, Stopp der Produktion von waffenfähigem Material, ein anständiges Safeguards-Abkommen und ein Zusatzpro19132 tokoll. All diese Bedingungen sind nicht erfüllt. Sie stehen auch nicht in der Erklärung der Nuclear Suppliers Group. ({0}) Das macht mir große Beschwerden; das sage ich ehrlich. ({1}) - Es war unser Außenminister dieser Koalition, und es war Frau Merkel, die begeistert war über diesen Deal und das in Indien mehrfach geäußert hat. ({2}) Und es war Herr Glos, der begeistert ist über das Geschäft, das jetzt zu machen ist, und eine Hermesbürgschaft möchte. ({3}) - Nein, diese Bemerkung ist unfair und gehört sich nicht. ({4}) - Na, in Ordnung. Dann finde es besonders unanständig, weil Steinmeier unser Kanzlerkandidat ist und weil das, was er in diesen Verhandlungen durchstehen musste und durchgestanden hat, hier ganz vorsichtig als Druck bezeichnet worden ist. Die USA sind doch in ganzen Divisionen losmarschiert und haben die Folterwerkzeuge vorgezeigt. Das waren nicht nur die Daumenschrauben, auch die Eiserne Jungfrau und das Waterboarding ({5}) wurden gegen die Staaten angewandt, die nicht bereit waren, dem zuzustimmen. ({6}) Lassen Sie mich jetzt noch auf einen weiteren Punkt kommen, der eher mit Abrüstung zu tun hat. Mir tut, ehrlich gesagt, besonders weh, dass wir Indien nicht haben darauf verpflichten können, seine Waffenarsenale zu kappen und sich den Abrüstungsbedingungen der Nuklearstaaten zu unterwerfen. Mir tut auch weh, dass - übrigens mit Zustimmung von Herrn al-Baradei, der dann seine Bedingungen offensichtlich vergessen hat, ich habe sie nie gehört, Frau Hoff - ein Safeguards-Abkommen geschlossen worden ist, das nicht der Interpretation entspricht, die die USA uns gegeben haben, und das überhaupt nicht den Kriterien des Hyde Act entspricht. Vielmehr lässt es Indien, wenn es testet und dann möglicherweise mit Sanktionen belegt wird, sich von diesem Safeguards-Abkommen zurückziehen. ({7}) - Ich halte sie für falsch. Das habe ich hier, an dieser Stelle, aber schon öfter gesagt. ({8}) Wir können damit nicht so umgehen, wie es jetzt geschieht; vielmehr müssen wir den Tatsachen ins Auge sehen und dann versuchen, nach vorne zu schauen. Es gibt auch in dem Safeguards-Abkommen keine Restriktionen, die einem Standardabkommen entsprechen. Indien hat mit diesem Abkommen nach meiner Ansicht einen Freibrief bekommen. Ich denke, noch viel schlimmer ist Folgendes: Selbst wenn die Amerikaner jetzt auf ihren Hyde Act rekurrieren, können jetzt alle anderen Lieferstaaten liefern. ({9}) Gerade heute, am 25. September, sitzen die Franzosen in Neu-Delhi und arbeiten an diesem Abkommen. Das heißt, auch die im Antrag enthaltene Forderung, etwas auf dem europäischen Wege zustande zu bringen, ist illusorisch. Insofern ist das, was uns in der Tat als Option bleibt, darauf zu bestehen, dass das, was der Außenminister Indiens angekündigt hat, eine Verpflichtung wird, dass Indien sich also daran hält. Wir sollten eine große Abrüstungsoffensive mit initiieren. Es ist nicht so, dass das nicht in der Luft liegt. Im Moment gibt es eine ganze Menge Initiativen, die vor allen Dingen von NGOs getragen werden. Sie finden ihren Durchschlag in einem neuen Bewusstsein. Ich hoffe auf die amerikanische Regierung und darauf, dass der nächste Präsident weiser ist. Ich wünsche mir natürlich, dass die Aussagen von Obama umgesetzt werden können. Er hat sich verpflichtet, CTBT zu unterschreiben. Das würde die Abrüstung international schon einmal ein Stück voranbringen. ({10}) Obama hat sich auch zu internationalen multilateralen Abrüstungen bekannt. ({11}) Ich denke, diese Perspektive zeigt uns eine Aufgabe auf

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Zapf!

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- ich bin fertig -, die wir mit Indien, mit den USA und mit unseren europäischen Nachbarn zu erfüllen haben. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 16/10355 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sowie an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vor- schläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei- sung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bundesbericht zur Förderung des Wissenschaftlichen Nachwuchses - Drucksache 16/8491 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Sportausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Gehring, Priska Hinz ({1}), Krista Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wissenschaft als Beruf attraktiver machen Den wissenschaftlichen Nachwuchs besser unterstützen - Drucksóache 16/9104 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für. Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Marion Seib, CDU/CSU, Dieter Grasedieck, SPD, Uwe Barth, FDP, Dr. Petra Sitte, Die Linke, Kai Gehring, Bündnis 90/ Die Grünen, und den Parlamentarischen Staatssekretär Andreas Storm.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/8491 und 16/9104 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Kipping, Katrin Kunert, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Sozialticket für die Deutsche Bahn AG - Drucksache 16/10264 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3}) Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4}) 1) Anlage 10 Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Klaus Hofbauer, CDU/CSU, Uwe Beckmeyer, SPD, Patrick Döring, FDP, Katja Kipping, Die Linke, Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion spricht sich klar für Mobilität aus. Wir haben hierzu bereits viel auf den Weg gebracht, auch zugunsten von bedürftigen Menschen, und wir arbeiten ständig an Verbesserungen für Mobilität sowohl in den Ballungszentren als auch im ländlichen Raum. Insofern teile ich auch die Feststellung der Fraktion Die Linke, dass Mobilität ein elementares Merkmal unserer heutigen Gesellschaft ist. Aber! Ein derart pauschaler und undifferenzierter Antrag, wie ihn Die Linke zum Sozialticket für die Deutsche Bahn AG stellt, hat mit überlegter, nachhaltiger und verantwortungsvoller Politik nichts gemein. Verantwortungsvolle Politik setzt voraus, dass man überlegt, was kann und will der Staat leisten und was kann der Einzelne selbst tun. Wir müssen diejenigen Menschen unterstützen, die tatsächlich auf Hilfe angewiesen sind. Und das tun wir auch! Behinderte Menschen, die zweifellos auf Hilfe angewiesen sind, werden in Deutschland selbstverständlich unterstützt. Sie sind wirklich bedürftig und vielfach nicht in der Lage, Kosten für Mobilität selbst zu übernehmen. Sie können daher bereits heute kostenlos den öffentlichen Personenverkehr nutzen. Fahrtkosten zu Bewerbungsgesprächen werden weitgehend erstattet, denn unser vorderstes Ziel ist es, Menschen in Arbeit zu bringen. Das ist Hilfe zur Selbsthilfe. Die Menschen werden damit in die Lage versetzt, selbst für sich zu sorgen, benötigen dann in den meisten Fällen keine Hilfe mehr und können sich damit ein Bahnticket ohne Unterstützung leisten. Diejenigen Menschen, denen trotz Arbeit das Geld fehlt, um mobil zu sein - Menschen im Niedriglohnbereich etwa, die auf ergänzende Hilfeleistungen nach SGB II angewiesen sind -, werden auch nicht vergessen. Die für ihre Mobilität notwendigen Kosten, zum Beispiel für eine Monatskarte, finden bei Berechnung der ergänzenden Hilfeleistung Berücksichtigung. Wie wenig durchdacht und undifferenziert die Forderungen der Linken in ihrem Antrag zum Sozialticket sind, zeigt sich zudem daran, dass sie es pauschal für alle Empfänger von Leistungen nach SGB II, SGB XII sowie nach dem Asylbewerberleistungsgesetz fordert. Die Anzahl des mit diesem Vorschlag ins Auge gefassten Personenkreises liegt etwa bei 7 bis 8 Millionen Menschen. In Kombination mit der gleichzeitig vorgeschlagenen Erhöhung des Eckregelsatzes von derzeit 351 Euro auf 435 Euro kann ich dieser Partei nur attestieren, dass ihr jeder Sinn für die Realität abhanden gekommen ist - soweit er überhaupt jemals vorhanden war. Eine Erhöhung um fast 100 Euro ist nicht nur unfinanzierbar, sondern hätte zur Folge, dass sich der Abstand zum Niedriglohnsektor minimiert und damit weit mehr Menschen in den Kreis der ergänzenden Hilfeleistungen aufrücken würden als heute. Vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Mobilitätsunterstützung, die diese Menschen schon heute erhalten, käme es zu einer Doppelförderung - Berücksichtigung von Mobilitätskosten bei ergänzender Hilfeleistung plus das Sozialticket. Außerdem würde die Zahl der Anspruchsberechtigten für das Sozialticket dann auf etwa 14 Millionen Menschen steigen. Das hat nicht einmal mehr im Ansatz etwas mit Realität zu tun! Die Kette der Punkte, die darlegen, wie wenig durchdacht der Antrag der Linken ist, lässt sich beliebig fortführen. So wird vorgeschlagen, dass der Bund über seine Vertretung in den Aufsichtsgremien der Deutschen Bahn auf deren Preisgestaltung einwirkt, damit diese die Bahncard 25 statt für 55 Euro für lediglich 5 Euro abgibt. Mir war nicht klar, dass der Linken niemand gesagt hat, dass die Bahn ein als Aktiengesellschaft organisiertes und eigenständig wirtschaftlich operierendes Unternehmen ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das ist schon seit 1994 so! Der Bund kann auf die operative Geschäftsführung der Bahn schlichtweg keinen Einfluss nehmen, auch nicht im Aufsichtsrat. Überlegt hat sich Die Linke offenbar auch nicht, welche Konsequenz aus der Abgabe der Bahncard 25 zum Preis von 5 Euro folgt - für den Fall, dass die Bahn diesen Schritt geht. Wie bereits erwähnt beträgt die Anzahl der Anspruchsberechtigten nach Vorstellung der Linken etwa 14 Millionen. Bei einem regulären Preis von 55 Euro pro Bahncard müsste die Bahn also bereit sein, 14 Millionen Menschen einen Preisnachlass von 50 Euro zu gewähren. Da die Bahn ein wirtschaftlich denkendes Unternehmen ist, wäre die sichere Folge eines solchen Entgegenkommens eine Fahrpreiserhöhung der ohnehin schon teuren Fahrscheine für alle anderen Bahnkunden. Vor zwei Wochen haben wir uns zu Recht bei der Bahn dafür stark gemacht, dass der Bedienzuschlag nicht erhoben wird. Die Linke hatte dies ebenfalls gefordert. Und heute macht sie Vorschläge, die die Bahn dazu zwingt, ihre Fahrpreise zu erhöhen. Diese Logik erschließt sich mir schlichtweg nicht. Ich möchte mich nochmals ausdrücklich zu der Notwendigkeit von Mobilität bekennen. Sie gehört zu den vordringlichsten Aufgaben der Großen Koalition. Der Antrag der Fraktion Die Linke ist jedoch undifferenziert, nicht durchdacht und damit ungeeignet, nachhaltig für mehr Mobilität in Deutschland zu sorgen. Mit diesem Antrag offenbart Die Linke einmal mehr, wie wenig sie in der Lage ist, Regierungsverantwortung zu übernehmen, und wie sehr ihre Vorschläge von reinem Populismus geprägt sind.

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir wissen um die Debatten zur Einführung von Sozialtickets für den öffentlichen Personennahverkehr in verschiedenen Städte Deutschlands. Diese sind nicht ohne Probleme und haben zu völlig gegensätzlichen Entscheidungen geführt. Unabhängig davon haben wir hier heute uns zu dem vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke zu verhalten. Für die SPD-Bundestagsfraktion möchte ich grundsätzlich feststellen, dass der Erhalt von Transferleistungen über private Unternehmen in Form von verbilligten Produkten oder Leistungen generell intransparent ist und damit zu großen Ungerechtigkeiten führen kann. Bezahlt werden muss dies ohnehin durch den Steuerzahler, weil der Staat bzw. die öffentlichen Hände Zuschüsse an die entsprechenden Unternehmen zu leisten haben. Wenn man den vorliegenden Antrag in seinem substanziellen Kern bewertet, muss man feststellen: Der Antrag ist höchst problematisch, weil unsolidarisch und ungerecht. Was ist zum Beispiel mit einer alleinerziehenden Mutter von zwei Kindern, die halbtags arbeitet und damit zwar mehr als den Hartz-IV-Satz verdient, aber mit ihrem Einkommen gerade über die Runden kommt. Was ist mit dem Rentner, der 40 Jahre lang am Band gearbeitet hat, aber heute nur eine bescheidende Rente bekommt? Auch er wird nicht in den Genuss eines „Sozialtarifs“ kommen. Die von Ihnen vorgenommene Beschränkung der Anspruchsberechtung grenzt viele Menschen aus. Jemand, der nur über ein geringes Einkommen verfügt, das gerade eben über dem Hartz IV-Satz liegt, wird nicht in den Genuss eines so genannten Sozialtickets kommen. Finden Sie das fair? Zugleich suggerieren die Antragsteller, dass die Deutsche Bahn AG eine Art VEB-Bahn sei, die willkürlich ihre Preise senken kann. Tatsächlich würden für die Einführung eines „Sozialtickets“ jedoch die Steuerzahler zahlen: Der Rentner mit seinem geringen Einkommen, der zweimal im Monat seine Enkel besuchen will, jedoch kein „Sozialticket“ bekommt, müsste höhere Steuern zahlen oder höhere Preise oder aber beides. Wo bleibt da die Solidarität? Mit der Forderung der Fraktion Die Linke werden willkürlich Grenzen gezogen, die fragwürdig sind. Das bestätigt nur eines: Wenn die Fraktion Die Linke Gerechtigkeit erzwingen will, führt dies zu Ungerechtigkeit. Wenn Die Linke Solidarität erzwingen will, führt dies zur Entsolidarisierung. Sie, meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, sind auf dem völlig falschen Dampfer. Ziel muss es doch sein, möglichst viele Menschen in Arbeit zu bringen und nicht, sie vom Sozialstaat abhängig zu machen. Ziel muss es doch sein, als Arbeitnehmer ein Mindesteinkommen für gute Arbeit zu erzielen, ein Einkommen, mit dem dieser sich und seine Familie ernähren kann, anstatt mit ungerechten Sozialtarifen die Welt verbessern zu wollen. Ihre Konzepte, meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, sind reines Flickwerk. Niemals gab es in Deutschland so viele Beschäftigte wie heute: Über 40 Millionen Erwerbstätige und rund 27,2 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftige Zu Protokoll gegebene Reden sprechen einen eindeutige Sprache. Sie sind das Ergebnis unserer Politik. Mit einer Arbeitslosenquote von 7,8 Prozent haben wir im Mai 2008 erstmals seit November 1992 wieder die 8-Prozent-Marke unterschritten. Die Arbeitslosenquote ist im August sogar auf 7,6 gefallen. Allein im vergangenen Jahr haben mehr als eine halbe Million Menschen eine reguläre Beschäftigung gefunden. Guter Lohn für gute Arbeit - das muss unser Ziel sein. Denn nur gute Arbeit macht den Einzelnen zufrieden und schafft sozialen Zusammenhalt und Wohlstand für alle.

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Idealismus wächst mit dem Abstand zum Problem. Das erleben wir wieder einmal im Zusammenhang mit dem Antrag der Linken, den wir heute beraten. Damit fordert sie, eine Bahncard 25 zu einem Normalpreis von 55 Euro für die Empfänger sogenannter Hartz- IV-Leistungen für 5 Euro anzubieten. Um es auf den Punkt zu bringen; Das ist sozialpolitischer Populismus und verkehrswirtschaftlicher Unsinn in einem. Mit dem vorliegenden Antrag soll die DB AG verpflichtet werden, Leistungsempfängern sozusagen 50 Euro im Jahr zu schenken. Warum aber soll ein privates Unternehmen das tun? Ein privates Unternehmen - das erkläre ich meinen Kollegen von der Linken immer wieder gerne - möchte Leistungen anbieten und damit Geld verdienen. Das soll so sein, das ist Marktwirtschaft. An den Konsequenzen der Wirtschaftsvorstellungen der Linken haben wir bis heute zu arbeiten und stehen in diesem Zusammenhang immer noch, vor großen Herausforderungen. Ebenso wenig wie wir Bäckereien, Getränkehändler, Drogerien und Tankstellen zu Geschenken an bestimmte Personengruppen verpflichten, werden wir das bei der Deutschen Bahn tun. Denn auch wenn Sie’s vielleicht nicht wahrhaben wollen, die Deutsche Bahn wird nach und nach ein privates Unternehmen werden. Und das ist richtig - oder wollen Sie die Organisationsprivatisierung rückgängig machen und zurück zur Behördenbahn? Die Probleme auf diesem Sektor, den Sie von der Linken weiter staatlich regulieren wollen, liegen an ganz anderer Stelle: Die Bahntickets sind insgesamt zu teuer und der Service ist nicht gut genug. Da können Sie meinen, das alles sei mit Überregulierung und Staatseinfluss zu lösen. Doch ein Blick in die Geschichte der Bahn zeigt, dass die Zeit der Deutschen Bundesbahn die schlechteste und ineffizienteste der gesamten Bahngeschichte war. Nicht umsonst waren die ersten Eisenbahnunternehmen im 19. Jahrhundert keine Staatsbahnen, sondern Unternehmen. Dahin müssen wir zurück: Mehr Service und attraktivere Preise erreichen Sie nie, indem Sie sogenannte Sozialtickets für eine Staatsbahn verteilen. Was wir brauchen, ist Wettbewerb auf der Schiene. Damit ist allen Bürgerinnen und Bürgern viel mehr geholfen als mit einer reduzierten Bahncard 25 für Empfänger von Hartz-IVLeistungen. Abgesehen davon stellt sich die Frage der Erforderlichkeit: Bereits heute gibt es verschiedene günstige Reisemöglichkeiten, wenn man danach sucht. Das sind bei der Deutschen Bahn die Sparpreise 25 und 50 und die Dauerspecials. Aber auch die durch Mitfahrzentralen vermittelten Fahrgelegenheiten machen Reisen innerhalb Deutschlands günstiger. Was zunächst so nett klingt, entpuppt sich dann schnell als Forderung nach staatlichen Lenkungsmaßnahmen im Leben der Leistungsempfängerinnen und -empfänger. Denn wer allein Bahnfahren subventionieren will, Radfahren, Autofahren oder andere Fortbewegungsmöglichkeiten aber links liegen lässt, der will im Rahmen der Transferleistungen das Verhalten der Menschen bestimmen. Wir Liberale dagegen wollen die Mindestbedingungen eines eigenverantwortlichen Lebens absichern, nicht weniger, aber - das sei an dieser Stelle auch deutlich gesagt - nicht mehr. Denn der Vorrang eines selbst verdienten Lebensunterhalts verbietet, eine staatliche Rundumversorgung für die Menschen zu schaffen, deren Unterhalt von den Arbeitenden miterwirtschaftet wird. Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. Wenn wir schon über die Menschen sprechen, die am Erwerbsleben teilnehmen, aber nur über ein kleines Einkommen verfügen oder über eine kleine Rente, obwohl sie lange gearbeitet haben, dann muss ich Folgendes feststellen: Die Linke will mit diesem Antrag Transferleistungsempfänger besser stellen als Menschen mit einem geringen Einkommen. Und das ist für mich weder sozialnoch gesellschaftspolitisch zu verantworten. Daher stehen die Liberalen nach wie vor für eine andere Sozialpolitik: Wer die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so gestaltet, dass mehr Menschen Arbeit haben, der tut viel mehr für die ganze Bevölkerung als derjenige, der auf Kosten anderer immer wieder Geschenke an bestimmte Gruppen verteilt. Dieser Antrag ist ein erneuter Beweis dafür, dass Marx und Murks nicht nur phonetisch, sondern auch inhaltlich nah beieinander sind.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dass Menschen ihre Verwandten und Freunde besuchen oder Urlaub machen und zu ihnen mit den öffentlichen Verkehrsmittel reisen können, ist das Normalste der Welt. Nicht aber für Menschen, die vom Armuts- und Ausgrenzungsgesetz Hartz IV und analogen Grundsicherungsgesetzen betroffen sind. Der Eckregelsatz der Grundsicherungen enthält nur 11,04 Euro pro Monat für Mobilität mit öffentlichen Verkehrsmitteln sowie 2,99 Euro für Reisen. Ein Einzelfahrschein im innerstädtischen öffentlichen Nahverkehr liegt je nach Region bereits zwischen 1,20 und 2,20 Euro. Die Preise für Monatskarten oder für den Fernverkehr übersteigen diesen Betrag um ein Vielfaches. Deshalb und weil es immer mehr bedürftige Menschen gibt, bilden sich in immer mehr Städten und Kommunen Bündnisse, die für die Einführung von ermäßigten oder kostenfreien Sozialtickets für den lokalen oder regionalen öffentlichen Nahverkehr eintreten. Diese konnten in einigen Städten und Regionen bereits ein Sozialticket durchsetzen, so etwa in Berlin, in Dortmund oder in Köln. In vielen Orten stehen soziale Bündnisse in Verhandlungen mit der örtlichen Verwaltung und Verkehrsunternehmen oder arbeiten an Zu Protokoll gegebene Reden Volksbegehren zur Durchsetzung eines Sozialtickets. Diese Bemühungen sind zu unterstützen. Ihnen stehen auf der Ebene des überregionalen öffentlichen Fernverkehrs keine vergleichbaren Möglichkeiten oder Initiativen gegenüber, obwohl dies angesichts der Kosten für Fahrten mit der Deutschen Bahn AG dringend notwendig wäre. Die Einführung eines Sozialtickets für die Deutsche Bahn AG würde dieses Defizit beseitigen. Das Sozialticket für die Deutsche Bahn AG soll einer Bahncard 25 entsprechen, die Anspruchsberechtigte zum Preis von 5 Euro erhalten. Anspruchsberechtigt sind Leistungsbeziehende nach dem SGB II, dem SGB XII und dem Asylbewerberleistungsgesetz sowie deren Angehörige. Aus Gründen der Praktikabilität kann ein solches Sozialticket ganz einfach in das bestehende Preis- und Ermäßigungssystem der Deutschen Bahn AG eingepasst werden: Menschen, die über ihren Transferleistungsbescheid bzw. den ihrer Bedarfsgemeinschaft ihre Berechtigung für ein Sozialticket für den Bahnfernverkehr nachweisen können, erhalten an den DB-Verkaufsstellen eine Bahncard 25 zum Preis von 5 Euro. Diese ermöglicht in Kombination mit den sogenannten Sparpreisen eine Ermäßigung von bis zu 62,5 Prozent. Mit einer Bahncard 50 wären hingegen nur maximal 50 Prozent Ermäßigung möglich. Damit wird dem Interesse des Unternehmens an einfacher Handhabbarkeit ebenso Rechnung getragen wie dem Interesse von Hilfebedürftigen an möglichst hohen Ermäßigungen und an einem unbürokratischen, nicht stigmatisierenden Verfahren. Und damit wird zumindest ein kleiner Schritt unternommen, um Menschen eine Minimalteilhabe an der Gesellschaft zu gewähren sowie grundlegende Bedürfnisse nach familialen und sozialen Kontakten zu befriedigen. Ein kleiner Schritt, der uns aber nicht der Notwendigkeit einer sofortigen Anhebung der Regelsätze auf 435 Euro und der weiteren Einführung einer repressionsfreien sozialen Grundsicherung enthebt.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der vorliegende Antrag der Linken enthält im Titel ein semantisches Missverständnis. Offensichtlich geht es nicht darum, der Bahn ein Sozialticket auszustellen, sondern um Sozialtickets für Bezieher von ALG II bei der Deutschen Bahn. Zunächst stelle ich fest, dass die im Regelsatz für Mobilität vorgesehenen Anteile viel zu niedrig sind. Für 2,99 Euro im Monat kann man nicht verreisen, egal mit welchem Verkehrsmittel. Es ist daher unser vordringliches Ziel, den Regelsatz für Bezieher von ALG II auf 420 Euro anzuheben. Das muss vorrangiges Ziel vor der Schaffung einzelner Vergünstigungen sein. Der Vorschlag, dass die Deutsche Bahn AG eine auf 5 Euro rabattierte Bahncard 25 für die Bezieher von ALG-II-Leistungen anbieten soll, ist aus unserer Sicht dennoch prüfenswert. Da die Bahncard 25 mit dem Sparpreis 25 und dem Sparpreis 50 kombiniert werden kann, kann bei rechtzeitiger Buchung und Zugbindung ein Rabatt von 62,5 Prozent auf den Normalpreis erzielt werden. Fahren mehrere Personen mit einer Bahncard 25 zusammen, sinkt der Einzelpreis durch den Mitfahrerrabatt noch weiter. Auf vielen Strecken werden damit sogar vermeintliche Preisbrecher wie das 29-Euro-Ticket der Deutschen Bahn unterboten. Allerdings wird die Deutsche Bahn AG für die Einführung eines Sozialtickets einen finanziellen Ausgleich verlangen, wie es bei Sozialtickets im Nahverkehr gesetzlich auch geregelt ist. Geht man beispielsweise davon aus, dass eine Million Menschen von diesem Angebot Gebrauch macht und die Differenz zwischen 58 Euro Normalpreis und 5 Euro Sozialticketpreis erstattet werden muss, ergibt sich eine jährliche Summe von 53 Millionen Euro. Angesichts der Tatsache, dass die Deutsche Bahn AG aus dem Bundeshaushalt mittel- oder unmittelbar jährlich rund 9 Milliarden Euro erhält, dürfte diese Summe durch Umschichtungen aus diesen Mitteln gegenfinanzierbar sein. Man muss aber auch klar sagen, dass eine solche Maßnahme Geld kostet, die dann an anderer Stelle fehlt. Es ist zudem falsch, sich nur auf das eine Unternehmen Deutsche Bahn AG zu fixieren. Es gibt bereits heute andere Fernverkehrsanbieter auf der Schiene, und es gibt andere Möglichkeiten, in Deutschland zu reisen. Hier beginnen auch die Probleme mit dem Vorschlag der Linken: Sollen Fernlinienbusse auch verpflichtet werden, Sozialtickets anzubieten? Was ist mit den anderen Bahnen, die im Fernverkehr fahren. Sollen diese ebenfalls verpflichtet werden, Sozialtickets einzuführen? Was ist mit den Mitfahrzentralen? Eine gesetzliche Regelung für Sozialtickets müsste alle Fernverkehrsanbieter umfassen. Alternativ könnte der Eigentümer, vertreten durch den Verkehrsminister, die Deutsche Bahn AG auffordern, ein Sozialticket einzuführen. Schließlich hat die Politik ja auch massiv Einfluss darauf genommen, dass der Bedienzuschlag von der Deutschen Bahn AG zurückgenommen wurde.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/10264 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen wünschen Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke, Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit der Mehrheit der Stimmen des Hauses abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen, Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der ÜberweiVizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner sungsvorschlag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit der Mehrheit des Hauses angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Nationales Reformprogramm Deutschland 2008 bis 2010 Umsetzungs- und Fortschrittsbericht 2008 - Drucksache 16/10250 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Doris Barnett, SPD, Rainer Brüderle, FDP, Dr. Herbert Schui, Die Linke, Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, und die Parlamentarischen Staatssekretärin Dagmar Wöhrl.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/10250 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta Haßelmann, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Diskriminierende Altersgrenzen im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements aufheben - Drucksache 16/9630 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) Rechtsausschuss Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Markus Grübel, CDU/CSU, Angelika Graf ({2}) und Sönke Rix, SPD, Sibylle Laurischk, FDP, Elke Reinke, Die Linke, und Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.2) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9630 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- 1) Anlage 11 2) Anlage 12 verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Energieeinsparungsgesetzes - Drucksachen 16/10290, 16/10331 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Volkmar Uwe Vogel, CDU/CSU, Rainer Fornahl, SPD, Joachim Günther ({4}), FDP, Hans-Kurt Hill, Die Linke, Peter Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen und die Parlamentari- sche Staatssekretärin Karin Roth.3) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- fes auf den Drucksachen 16/10290 und 16/10331 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- sen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Gudrun Kopp, Martin Zeil, Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung wettbewerblicher Strukturen im Markt für Postdienstleistungen ({5}) - Drucksache 16/8906 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Martin Zeil, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wettbewerbsintensität im Binnenmarkt für Postdienstleistungen erhöhen - Drucksache 16/8773 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol- gende Kolleginnen und Kollegen: Alexander Dobrindt, CDU/CSU, Klaus Barthel, SPD, Gudrun Kopp, FDP, Sabine Zimmermann, Die Linke, und Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen. 3) Anlage 13

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vor uns liegt ein wahres Sammelsurium von unterschiedlichsten Gesetzesänderungen, die sich auf den Postbereich beziehen. Die FDP denkt, damit den Märkten für Postdienstleistungen neue Impulse zu geben. Die FDP fordert mehr Wettbewerb. Das wollen wir auch. Aber mehr Wettbewerb führt nicht immer automatisch zu mehr Beschäftigung, wie wir es begrüßen würden. Darüber hinaus will die FDP eine steuerliche Gleichbehandlung aller Anbieter im lizenzierten Bereich durch eine Einführung der Umsatzsteuerpflicht für die Deutsche Post AG. Die steuerliche Gleichbehandlung findet meine Zustimmung, nur die Art der Umsetzung ist sicherlich streitbar. Hier ist die Bundesregierung auch schon aktiv geworden. Erst gestern hat das Bundeskabinett einen Entschluss zur Mehrwertsteuerfrage bei Postdienstleistungen gefasst. Die Deutsche Post AG wird damit ihr Steuerprivileg im Geschäft mit Großkunden verlieren. Das ist ein weiterer richtiger Schritt für faire Wettbewerbsbedingungen im Postmarkt. Für vollkommen richtig halte ich, Postsendungen im privaten Bereich weiterhin von der Mehrwertsteuer zu befreien. Somit haben Privatleute keine Preiserhöhungen aufgrund der Liberalisierung zu fürchten. Ein Punkt des gestrigen Beschlusses ist genauso wichtig: Wettbewerber erhalten zukünftig auch die Steuerbefreiung, wenn sie ebenfalls in ganz Deutschland flächendeckend Briefe zustellen und Briefe annehmen. Insgesamt halte ich dies für einen guten Weg bei der Frage der Mehrwertsteuergleichbehandlung. Auch die alternativen Postdienstleister begrüßen insoweit diesen Vorschlag. Der Universaldienst wird sich für die Menschen nicht verteuern und die Wettbewerbsbedingungen werden sich weiter verbessern. Beim Lesen Ihrer zahlreichen Gesetzesänderungen für den deutschen Markt der Postdienstleistungen ist mir eins klar ins Auge gesprungen: Dies alles sind Vorschläge, welche die Entwicklung des Postmarktes in Deutschland nicht im Geringsten berücksichtigen. Mit der Postreform I aus dem Jahre 1989 und der Postreform II anno 1994 haben wir die Weichen für die Umwandlung der Deutschen Bundespost und damit für die Privatisierung eines ehemaligen Staatsmonopolisten gestellt. Das Leitmotiv der Postreformen war: Wettbewerb als die Regel, staatliches Monopol als die zu begründende Ausnahme. Im Jahre 2000 folgte dann der Börsengang der Deutschen Post AG. Doch den größten Umbruch haben wir zum Anfang dieses Jahres geschafft: mit der vollständigen Liberalisierung des deutschen Postmarktes und dem kompletten Wegfall des Monopols, also der gesetzlichen Exklusivlizenz der DPAG. Das Datum 1. Januar 2008 ist der Meilenstein für mehr Wettbewerb im Postmarkt. Nichtsdestotrotz liegt dieser Meilenstein gerade einmal neun Monate zurück. Jetzt muss sich dieser neu und vollständig geöffnete Markt erst einmal etablieren und festigen. Bei allem gilt, wenigstens drei wesentliche Punkte zu bedenken: Erstens. Der Entwicklung von einem ehemaligen staatlichen Monopolbereich zu einem vollständig privatisierten Markt müssen wir bei unserer Postpolitik Rechnung tragen. Dies bedeutet beispielsweise: Es gibt immer noch circa 27 000 Briefträger im Beamtenstatus bei der Deutschen Post AG. Der letzte Postbeamte wird voraussichtlich im Jahr 2040 in Pension gehen. Bis dahin wird die DPAG die Verbindlichkeiten, die aus dem Beamtenstatus resultieren, schultern müssen. Zweitens. Wir müssen bei unserer Postpolitik bedenken: Deutschland ist in Europa einer der Vorreiter bei der Öffnung seines Postmarktes für in- und ausländische Wettbewerber. Viele andere EU-Staaten werden erst einige Jahre später ihre Märkte für den freien Wettbewerb öffnen. Ein freier Postmarkt kann aus meiner Sicht nur dann besser sein, wenn es ein europäisch funktionierender Markt ist. Wir erleben auch Märkte, bei denen wir große Hoffnungen hatten und wo inzwischen Bedenken eingetreten sind. Ich erinnere an den Strommarkt. Drittens. Schließlich müssen wir auch in Zeiten der Digitalisierung - in Zeiten der elektronischen Post - die Entwicklungen auf dem Postmarkt bedenken und berücksichtigen. Die Zahl der Paketsendungen steigt bisher jährlich. Hier haben sich auch schon viele Wettbewerber der Deutschen Post AG erfolgreich am Markt etabliert und behauptet. Das ist eine ausdrücklich positive Entwicklung. Dagegen bleibt die Zahl der Briefsendungen seit vielen Jahren konstant. Hier ist kein Wachstum zu verzeichnen. Dieser Teilmarkt stagniert. Wollen wir den Übergang von einem ehemals staatlichen Monopol zu einem freien Wettbewerb positiv begleiten, so müssen wir die richtigen Rahmenbedingungen setzen. Es geht dabei um die Rahmenbedingungen für die Kunden, die Rahmenbedingungen für die betroffenen Unternehmen und um die Rahmenbedingungen für die betroffenen Arbeitnehmer. Wir dürfen nicht vergessen: In diesem Bereich der Postdienstleistungen sind in Deutschland mehr als 200 000 Menschen beschäftigt. Deswegen dürfen wir nicht nur von Märkten und mehr Wettbewerb reden; wir sollten vor allem auch über die Menschen und deren berufliche Perspektiven nachdenken. Wir müssen die flächendeckende Versorgung der Menschen mit einfachen Postdienstleistungen gewähren und sicherstellen. Dabei sind günstige Preise wichtig, genauso die Nähe zum Kunden und eine gute Qualität der Dienstleistung. Besonders die flächendeckende Versorgung mit Briefdienstleistungen im ländlichen Raum muss an dieser Stelle ein besonderes Gewicht haben. Ich befürchte, bei einem Wettbewerb, wie die FDP ihn beschreibt, bleiben die Bedürfnisse dieser Menschen in den ländlichen Regionen auf der Strecke. Es reicht mir nicht, zu wissen, dass theoretisch eine Postfiliale in allen Regionen Deutschlands möglich ist. Unsere Aufgabe muss es sein, sicherzustellen, dass die Menschen überall ihre Briefe und Pakete - ohne Tageswanderung - an jedem Werktag verschicken und erhalten können. Den Übergang von einem ehemals staatlichen Monopol zu einem freien Wettbewerb positiv begleiten, bedeutet für mich daher, einen geregelten Übergang zu schaffen, und zwar unter Berücksichtigung der Interessen der Kunden und der Beschäftigten der bisherigen Monopolbranche und ebenso unter Berücksichtigung der berechZu Protokoll gegebene Reden tigten Interessen der neuen Marktteilnehmer. Ganz gewiss werden wir daher die Post-Universaldienstleistungsverordnung an die neuen Marktbedingungen anpassen müssen, um für alle Marktteilnehmer die Chance zum Erbringen des Universaldienstes zu stärken. Und sicher werden wir zügig auch eine Lösung in der Frage der gleichen Umsatzsteuerbehandlung aller Postdienstleistungsunternehmen angehen. Wichtig ist: Wir arbeiten daran und sind dabei auf einem guten Weg. Und ja, wir wollen den Wettbewerb im Postmarkt; aber wir setzen uns für einen Wettbewerb innerhalb der sozialen Marktwirtschaft ein.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir sind der FDP sehr dankbar, dass sie in Form der vorgelegten Anträge immer wieder daran erinnert, welche verbraucherfeindliche und arbeitsplatzvernichtende Politik sie auch im Postbereich verkörpert. Dabei geht es gebetsmühlenartig immer wieder um drei Bereiche: die Mehrwertsteuer, den Mindestlohn und den Universaldienst. Mit der Mehrwertsteuer will sie alle belasten, den Mindestlohn will sie wieder abschaffen und den Universaldienst will sie zerstören. Zunächst zur Mehrwertsteuer: Wie allgemein bekannt ist, wird der Europäische Gerichtshof - voraussichtlich noch in diesem Jahr - sein Urteil zum Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission fällen, das sich auch gegen Deutschland richtet. Dabei geht es um die Frage, inwieweit die im europäischen Recht ausdrücklich vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung für öffentliche Postdienstleistungen unter den Bedingungen der bevorstehenden völligen Marktöffnung noch geboten und möglich ist. Meine Fraktion und ich können nur raten, dieses Urteil abzuwarten. Deshalb wollen wir auch die Beratungen über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu diesem Thema erst nach einem solchen Urteil abschließen. Unsere inhaltliche Position dazu ist unverändert: Wir wollen die Pflichtleistungen derjenigen Postdienstleister, die die Gesamtpalette eines gesetzlich definierten Universaldienstes erbringen, im Interesse der Kunden von der Mehrwertsteuer frei halten. Es ist und bleibt ein Unterschied, ob ein oder mehrere Unternehmen das flächendeckende Postangebot, wie es nach dem Grundgesetz der Bund zu gewährleisten hat, erbringen oder ob sich Unternehmen auf bestimmte ertragreiche Marktsegmente oder Regionen konzentrieren. Einmal mehr entpuppt sich die FDP als Steuererhöhungspartei. Sie will Postdienste für die Kleinverbraucher um die Mehrwertsteuer, also 19 Prozent, erhöhen und explizit sogar einen ermäßigten Steuersatz ausschließen. Da passt es in die ganze Logik nahtlos hinein, dass der FDP-Antrag unter der Überschrift „wettbewerbliche Strukturen“ die Axt an den Universaldienst selbst legen will. Sie will mindestens folgende Leistungen aus dem Pflichtangebot streichen: - Briefe zwischen 50 und 2 000 Gramm, - Pakete zwischen 10 und 20 Kilogramm, - mindestens 4 000 Filialen durch Streichung der Mindestzahl von 12 000 Filialen, - alle Briefsendungen in einer Zahl von über 50 Stück, - die Laufzeit und Qualität der Briefdienstleistung sowie die werktägliche Zustellung, - Eilzustellung, - Nachnahme. Was dann noch vom Universaldienst übrig bleibt, mag sich jeder selbst ausmalen. Auf jeden Fall würde der Großteil dessen, was heute Postdienste ausmacht, nicht mehr allen Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung stehen. Als Beispiel will ich den Verein oder den mittelständischen Betrieb nennen, die Einladungen oder Rechnungen mit einer Zahl von mehr als 50 Stück versenden wollen. Die bisherigen Erfahrungen machen wenig Hoffnung, dass der Markt aus sich heraus all diese Leistungen erbringen würde - schon gleich gar nicht zu akzeptablen Bedingungen. Die Koalition ist sich einig, zwar die einzelnen Pflichtleistungen der jetzigen PUDLV zu überprüfen, insgesamt aber das derzeitige Leistungsniveau inklusive der Selbstverpflichtung der Deutschen Post zu erhalten und zu präzisieren. Woher die FDP ihre Erkenntnisse über einen diesbezüglichen anders lautenden „Gesetzentwurf“ bezieht, bleibt eines der vielen Postgeheimnisse. Die FDP ist also bereit, die Interessen der Kundinnen und Kunden sowie des ländlichen Raumes auf dem Altar ihrer pervertierten Wettbewerbsideologie zu opfern. Die Krönung dieser Ideologie lesen wir jedoch im Kapitel über die sozialen Aspekte des Postmarktes. Dort lesen wir: Die Berücksichtigung sozialer Belange als Ziel der Regulierung … widerspricht dem wettbewerblichen Charakter der Regulierung ehemals staatseigener Netzindustrien … Die Sozialklausel …, welche die Erteilung einer Lizenz an die Arbeitsbedingungen … knüpft, ist ein Fremdkörper … Die Einführung eines Mindestlohns für den Briefbereich verhindert die Entfaltung eines funktionsfähigen Wettbewerbs … Einmal mehr können wir schwarz auf weiß lesen, dass die FDP die Existenzsicherung von Arbeitnehmerinnen und -nehmern nicht im Einklang mit dem Wettbewerb sieht, sondern als Störfaktoren. Wir stellen den Menschen in den Mittelpunkt und nicht ein längst widerlegtes Systemmodell. Sie können sicher sein: Die SPD wird nicht locker lassen in ihrem Kampf für flächendeckende Mindestlöhne. Gerade im Postbereich haben wir gesehen, was sich an Dumping von Arbeitsbedingungen in jeder Hinsicht entwickelt hat. Einmal mehr halten wir fest, dass die Behauptung, durch Mindestlöhne würden Arbeitsplätze vernichtet, durch nichts belegt ist. Der Hinweis auf die Pleite der PIN AG, der dann vonseiten der FDP und der Mindestlohngegner immer wieder kommt, ist schlichtweg peinlich. Zu Protokoll gegebene Reden Inzwischen konnte sich jeder davon überzeugen, dass die PIN AG an ihrem eigenen fehlenden Geschäftsmodell, an ihrer chaotischen Struktur, an ihrer mangelnden Leistungsqualität, an Managementversagen und ihrem Großaktionär gescheitert ist - längst bevor ein Mindestlohn in Kraft trat. Alles in allem freue ich mich darauf, diese Anträge der FDP ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Das wird uns Gelegenheit geben, einmal mehr die erfolgreiche sozialdemokratische Linie in der Postpolitik aufzuzeigen: Bezahlbare Leistungsqualität für alle erhalten und verbessern, Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen sichern und ausbauen. Darüber hinaus ist es überfällig, wenn wir schon über eine Novellierung des Postgesetzes sprechen, die derzeitige Regulierungsdichte und -tiefe zu überprüfen. Der Universaldienst einschließlich seiner Finanzierung, die Zuverlässigkeit der Anbieter, der Daten- und Verbraucherschutz und der Schutz vor Marktmachtmissbrauch sowie faire Wettbewerbsbedingungen - auch im europäischen Kontext - könnten durch schlanke Regulierung gesichert werden. Mit Recht wirft zum Beispiel das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ({0}) die Frage auf, weshalb wir in Deutschland ein Regulierungsregime im Postsektor aufgebaut haben, das dem der Telekommunikations- und der Energiebranche an Komplexität in fast nichts nachsteht. Mit Recht wird dort festgestellt, dass ein postalisches Netz materiell und ökonomisch nicht mit den physikalischen Netzen der anderen Bereiche vergleichbar ist. So fehlten hohe Marktzutrittsbarrieren oder „Bottlenecks“, also schwer überwindbare Monopolstrukturen. Deshalb sei auf Netzzugangs- und Entgeltregulierung weitgehend zu verzichten. Hier, meine Damen und Herren von der FDP, wäre eine Überprüfung der Notwendigkeit und Angemessenheit von Regulierung aller Mühen echter Liberaler wert. Sonst rufen Sie ständig nach Deregulierung und Bürokratieabbau. Bei der Post hingegen kann die FDP gar nicht genug regulieren, wie die beiden heute vorliegenden Anträge erneut beweisen. Ich hoffe jedenfalls, dass wir die Gelegenheit auch nutzen, jenseits der Einzelfragen und Einzelinteressen die Gesamtkonzeption der Postpolitik wieder in den Mittelpunkt zu rücken.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die gegenwärtige Finanzmarktkrise hat, zumindest hinsichtlich ihrer Konsequenzen in Deutschland, deutlich gezeigt, wohin es führt, wenn Staatsbanker mit politischer Unterstützung agieren können. Eine Staatsbank nach der anderen hat sich verspekuliert und den Steuerzahler auf den Verlusten sitzen lassen. Das Gleiche erleben wir in milderer Form seit Jahren auf dem Postmarkt. Auch hier wird ein Monopolunternehmen, das noch immer zu 30 Prozent in Staatsbesitz ist, von der Bundesregierung an allen Ecken und Kanten gepäppelt und privilegiert. Die Leidtragenden sind einmal mehr die deutschen Steuerzahler und Postkunden, die die Steuergeschenke für die Deutsche Post AG finanzieren dürfen und obendrein noch auf die Früchte des Wettbewerbs im Postwesen verzichten müssen, also auch hier wieder höhere Preise als notwendig zahlen. Dies belegt, dass Union und SPD die Interessen eines halbstaatlichen Großkonzerns, dessen Spitzenbelegschaft lieber in Liechtenstein als in Deutschland versteuert, höher achten als die Interessen der anderen 80 Millionen Bundesbürger. Gerade als der Kunde hoffen konnte, endlich einen Wettbewerbsmarkt für Post- und Zustelldienste genießen zu können, mit dem Fall der Exklusivlizenz für die Briefbeförderung zum 1. Januar 2008, fiel den Lobbyisten in der Konzernzentrale der Deutschen Post AG wieder ein neuer Kniff ein, um ihr Unternehmen vor dem bösen Wettbewerb zu schützen. Der Post-Mindestlohn war geboren, und Union und SPD ließen sich von den angeblichen Gutmenschen mehr als nur bereitwillig vor ihren Monopolkarren spannen. Im Ergebnis kann die Deutsche Post AG zufrieden sein. Mit einem Postmindestlohn nahe zehn Euro und einer Umsatzsteuerbefreiung wird der raue Wind des Wettbewerbs zum milden Lüftchen. Dieses Manöver mag sich bei den Parteispenden für Union und SPD auszahlen, den Bürgern in Deutschland bleibt damit versagt, was längst selbstverständlich sein sollte: nämlich die Wahl zwischen verschiedenen günstigeren Angeboten und innovativen Lösungen. Damit muss endlich Schluss sein. Die FDP hat deshalb heute ein Gesetz in den deutschen Bundestag eingebracht, mit dem die wesentlichen Wettbewerbshemmnisse auf dem deutschen Postmarkt endlich zu beseitigen wären. So wäre es wesentlich, dass zum Beispiel das Postgesetz deutlich entschlackt und auf seinen Ursprungszweck, nämlich die Rahmensetzung für einen wettbewerblichen Postmarkt, zurückgeführt wird. Wir brauchen keine Sozialklausel und auch keinen Regulierer, der sich um die Arbeitsbedingungen in Monopolbereichen kümmert. Dies kann der Gesetzgeber an anderer Stelle regeln, und zwar branchen- und sektorenübergreifend. Die Bundesnetzagentur sollte sich dagegen auf die Herstellung wettbewerblicher Rahmenbedingungen konzentrieren. Ich denke, die Debatte über die Lohnstrukturen bei den Postwettbewerbern hat sogar den Mindestlohnbefürwortern gezeigt, dass die Bundesnetzagentur hier nicht der richtige Ansprechpartner ist. In gleicher Weise müssen wir auch die Post-Universaldienstleistungsverordnung PUDLV, endlich von überflüssigem Ballast befreien. Nicht nur die Monopolkommission hat zu Recht darauf hingewiesen, dass zu detaillierte Vorschriften hier Innovation und Strukturwandel behindern. Entscheidend für den Wettbewerb auf dem Postmarkt sind jedoch insbesondere die Frage des Postmindestlohns und der Umsatzsteuerbefreiung der Deutschen Post AG. Es kann überhaupt keinen Zweifel geben, dass der von der Bundesregierung zu verantwortende Mindestlohn für den Postsektor zu einer umfassenden Marktbereinigung zugunsten des Ex-Monopolisten geführt hat. Sie, meine Herren und Damen von den Regierungsfraktionen, tragen die Verantwortung dafür, dass die Liberalisierung im Keim erstickt wurde und wenigstens 6 000 Menschen ihre Zu Protokoll gegebene Reden Arbeit verloren haben. Vorfahrt für Arbeit sieht anders aus, Frau Bundeskanzlerin! Aber es geht ja auch noch weiter. Der renommierte Wettbewerbsrechtler Wernhard Möschel bezeichnet den Postmindestlohn als einen verbotenen und nichtigen Kartellvertrag, der gegen deutsches und europäisches Kartellrecht verstößt, und fordert das Bundeskartellamt zum Handeln auf. Darüber hinaus sieht er die Bundesregierung hier sogar in der Regresspflicht. Das würde dann wirklich dem Fass den Boden ausschlagen. Erst durch einen Rechtsbruch ein Monopol zementieren und dann auf Steuerzahlers Kosten den Schaden reparieren. Hier kann es für den Augenblick jetzt nur eine Handlungsoption geben: Der Postmindestlohn gehört ersatzlos gestrichen, und zwar am besten gestern. Der zweite wichtige Punkt betrifft die Frage der Umsatzsteuerbefreiung der Deutschen Post AG. Hier bahnt sich mit der Kabinettsentscheidung von gestern die nächste skandalöse Weichenstellung durch die Bundesregierung an. Ausgerechnet der angebliche Sparminister Peer Steinbrück möchte freiwillig auf rund 500 Millionen Euro an Einnahmen pro Jahr verzichten, um de facto an der Umsatzsteuerprivilegierung der Deutschen Post AG festzuhalten. Es ist doch völlig klar, dass auf lange Sicht kein anderes Unternehmen in der Lage sein wird, die Anforderungen für die Erbringung von Universaldienstleistungen zu erfüllen. Vollends absurd wird es dann aber, wenn künftig neben der Bundesnetzagentur nun auch noch das Bundeszentralamt für Steuern postwettbewerbliche Prüfungen vornehmen soll. Im Übrigen darf nicht unterschlagen werden, dass die Deutsche Post AG durch die Aufhebung der Umsatzsteuerbefreiung im Gewerbekundenbereich bei den vorsteuerabzugsberechtigten Kunden nunmehr sogar Wettbewerbsvorteile gegenüber dem Status quo gewinnt. Es bleibt deshalb dabei, die einfachste Lösung wäre eine Umsatzsteuerpflicht für alle Unternehmen, davon hätte dann auch der Bundeshaushalt etwas. Unter dem Strich kann ich nur an alle Beteiligten appellieren, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Der Wettbewerb muss endlich Einzug halten, die Monopole sind zu schleifen. Dies ist im Interesse aller Bürger und Steuerzahler, wenn auch vielleicht nicht im Sinne der Monopolisten. Denen sind wir als Abgeordnete aber auch nicht verpflichtet.

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

„Für mehr Billigjobs und eine schlechtere Versorgung der Verbraucher“ - das wäre eine ehrliche Überschrift der FDP-Anträge gewesen, die heute beraten werden. Denn was verbirgt sich hinter ihrer Forderung nach mehr Wettbewerb? Die FDP will keine feste Anzahl von Briefkästen mehr garantieren und sie will den Post-Mindestlohn beseitigen, um nur zwei Punkte zu nennen. Von der FDP ist man so etwas gewöhnt. Tragisch ist nur, dass die Bundesregierung dazu keine wirkliche Alternative bietet. Sicher, wir haben seit diesem Jahr in Deutschland im Briefdienst einen Mindestlohn. Dieser war nötig. Schließlich hat die Politik der Regierungen Merkel und Schröder zu der Ausbreitung von Billiglöhnen im Briefdienst beigetragen. Union und SPD tönen, der Briefmarkt müsse liberalisiert werden, wir brauchten hier mehr Wettbewerb, wohlwissend, dass im Briefgeschäft die Personalkosten einen Großteil der Unternehmensausgaben ausmachen und deswegen der Wettbewerb über die niedrigsten Löhne ausgetragen wird. Die Bilanz der Privatisierung der Post und der Liberalisierung des Postmarktes in Deutschland ist katastrophal: 140 000 Arbeitsplätze hat bisher die Privatisierung der Post vernichtet - oftmals Vollzeitarbeitsplätze mit ordentlichen Einkommen, die nun durch Billigjobs ersetzt werden. Die Deutsche Post will in diesem Jahr alle ihre Filialen schließen und zieht sich mit einem kompetenten und qualifizierten Service aus der Fläche zurück. Die Preise der Briefbeförderung für den Normalverbraucher haben sich seit 2005 erhöht. Für Großkunden hat die Post dagegen Rabatte angekündigt. Aus dieser katastrophalen Bilanz der Privatisierung hat die Bundesregierung jedoch keine Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil: Sie hat den Briefmarkt in Deutschland 2008 nun völlig für den Wettbewerb geöffnet. Sie arbeitet gegenwärtig daran, die Grundversorgung zu verschlechtern. Zugleich ist die Deutsche Post ein Global Player auf dem Weltmarkt. Mit ihrem Abenteuer in den USA hat sie in den letzten Jahren mehrere Milliarden Euro Verlust gemacht. Angesichts dieser Ergebnisse ist ein Kurswechsel dringend nötig. Die Linke wird hier die Bundesregierung unter Druck setzen. Schließlich zeigen die Nachbarländer Deutschlands, dass es auch anders geht. Die Niederlande haben die angekündigte vollständige Marktöffnung zurückgezogen. In Frankreich zwangen massive Proteste der Gewerkschaften den französischen Präsidenten Sarkozy, seine Privatisierungspläne für die Post auf Eis zu legen. Dort wird nun eine Volksabstimmung zur geplanten Börseneinführung der Post gefordert. Wir sollten uns in Deutschland daran ein Beispiel nehmen. Der Postdienst ist nicht dafür da, Profite zu machen, sondern dafür, die Bürgerinnen und Bürger ordentlich mit Briefdienstleistungen zu versorgen. Dafür steht die Linke.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die FDP fordert in ihrem Gesetzentwurf eine Stärkung wettbewerblicher Strukturen auf dem Postmarkt. Das hört sich zunächst gut an, und auch wir streben einen fairen und funktionierenden Wettbewerb an. Mit Datum 1. Januar 2008 ist die Exklusivlizenz der Deutschen Post AG aufgehoben worden. Wir haben dies unterstützt, weil nur dadurch überhaupt Wettbewerb auf dem Postmarkt entstehen kann. Die privaten Anbieter auf dem teilliberalisierten Postmarkt hatten im Hinblick auf die angekündigte vollständige Marktliberalisierung bereits erhebliche Investitionen getätigt. Nach Auskunft der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage auf Drucksache 16/4979 aus dem letzten Jahr Zu Protokoll gegebene Reden Kerstin Andreae ({0}) erwartete die Bundesregierung von einer vollständigen Liberalisierung die Entstehung neuer Arbeitsplätze sowie ein qualitativ und quantitativ hochwertiges Angebot an Postdienstleistungen bei sinkenden Preisen. Demnach hat die bislang vollzogene Marktöffnung zu einer gestiegenen Dienstleistungsqualität sowie insgesamt tendenziell niedrigeren Preisen bei Briefen und Paketen geführt. Zudem hat die Angebotsvielfalt zugenommen. Darüber hinaus betont die Bundesregierung zu Recht, dass auch trotz einer einseitigen Liberalisierung des deutschen Postmarktes nicht von einem unfairen Wettbewerb ausgegangen werden kann. Die Arbeitsplätze bleiben auch bei vollständiger Liberalisierung im Land - unabhängig davon, wer die Post zustellt. Zudem zeigen die Erfahrungen aus bereits liberalisierten Ländern, dass auch bei vollständiger Marktöffnung keine signifikanten Umsatzeinbrüche für den ehemaligen Monopolisten zu erwarten sind. Allerdings besteht trotz der beschriebenen Erfolge der erfolgten Teilliberalisierung berechtigte Kritik an teilweise unzureichenden Arbeitsbedingungen im teilprivatisierten Postgewerbe. Diese Kritik trifft sowohl einzelne Wettbewerber als auch Subunternehmen, die im Auftrag der Deutschen Post AG mit über 20 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Dienstleistungen erbringen und deutlich unterhalb des Lohnniveaus der DPAG bezahlen. Wir von Bündnis 90/Die Grünen sind der Auffassung, dass Deutschland endlich zu verbindlichen Regelungen für Mindestarbeitsbedingungen kommen muss, die die Lohnspirale nach unten stoppen. Tarifverträge und die Regelungskraft der Sozialpartner bieten keinen hinreichenden Schutz gegen Fehlentwicklungen mehr. In den vergangenen Jahren haben tariflich organisierte Branchen mit sehr niedrigen Entgelten genauso zugenommen wie tariflich nicht organisierte Bereiche mit Niedriglöhnen. Nur umfassende Regelungen für Mindestarbeitsbedingungen, die alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einbeziehen, sowohl tariflich organisierte wie nicht organisierte Wirtschaftsbereiche erfassen und die Tarifautonomie wieder stärken, können weiteres Lohndumping verhindern und zuverlässig vor Armutslöhnen schützen. 80 Prozent der Bevölkerung und eine parlamentarische Mehrheit hier im Bundestag haben sich klar für Mindestlöhne ausgesprochen. Auch das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Vergaberecht zeigt, wie dringend notwendig branchen- und regionalspezifische Mindestlöhne sind, um Lohndumping unmöglich zu machen. Die FDP blendet diese Fakten in Ihrem Gesetzentwurf leider vollständig aus. Die Sozialklausel im Postgesetz erfüllt eine wichtige Funktion. Durch einen Wegfall dieser Klausel wäre Lohndumping Tür und Tor geöffnet. Die Folgen wären weitere ergänzende Leistungen nach ALG II. Diese Art von Wettbewerb zulasten der Steuerzahler werden wir nicht mittragen. Wettbewerbsverzerrungen sind aber auch die Folge der unterschiedlichen steuerlichen Behandlung von Marktteilnehmern bei Postdienstleistungen, die bereits im Wettbewerb erbracht werden. Diese einseitige Steuerbefreiung benachteiligt private Konkurrenten der DPAG im erheblichen Umfang. Mit der vollständigen Marktliberalisierung drohen durch die Steuerbefreiung weitere Wettbewerbsverzerrungen. Wir fordern daher schon seit langem, die ungleiche Umsatzbesteuerung der Marktteilnehmer auf dem Postmarkt zgunsten der Deutschen Post AG zu beenden und die EU-Rechtsvorschriften eindeutig anzuwenden. Welche Position die Bundesregierung in dieser Sache vertritt, blieb uns über Monate verborgen. Zunächst war unser Wirtschaftsminister Glos für, Finanzminister Steinbrück gegen die Abschaffung der einseitigen Steuerprivilegierung. Vor wenigen Tagen sprach sich Steinbrück dann überraschend auch für die Abschaffung aus. Seit gestern wissen wir: Es bleibt doch weitgehend alles beim Alten. Dieses Koalitionschaos schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland. Wir benötigen wieder Rechts- und Planungssicherheit für alle Beteiligten. Faire Wettbewerbsbedingungen auf der einen Seite, wirksame Mittel gegen Lohndumping auf der anderen Seite. So lautet unsere Botschaft. Die FDP hat da in ihrem Gesetzentwurf leider nicht genügend nachgedacht. Einfach nur alles dem Markt zu überlassen, das wäre die falsche Botschaft und würde zulasten der Steuerzahler gehen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/8906 und 16/8773 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Investitionszulagengesetzes 2010 ({0}) - Drucksache 16/10291 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Manfred Kolbe, CDU/ CSU, Simone Violka, SPD, Christian Ahrendt, FDP, Roland Claus, Die Linke, und Peter Hettlich, Bündnis 90/ Die Grünen.

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit dem Investionszulagengesetz 2010 wollen wir, wie im Koalitionsvertrag festgelegt und auf der Klausurtagung der Bundesregierung in Meseberg im August 2007 nochmals bekräftigt, auch weiterhin Erstinvestitionen auf dem Gebiet der östlichen Länder unterstützen. Das ist auch gut so. Auch wenn der gesamtwirtschaftliche Aufschwung sehr gute Fortschritte gemacht hat, bleibt dennoch bis zur Angleichung an die wirtschaftlichen VerhältManfred Kolbe nisse in den westlichen Ländern weiterhin viel zu tun. Aufgrund der immer noch doppelt so hohen Arbeitslosigkeit in den östlichen Ländern ist die Verlängerung der Investitionsförderung ein wichtiges Instrument, um in Deutschland gleiche Wirtschaftsverhältnisse zu schaffen. Mit diesem Investitionszulagengesetz 2010 legen wir für das weitere Wirtschaftswachstum einen ordentlichen Grundstein. Die faktischen Kennzahlen der schwächeren ostdeutschen Wirtschaft sind: Die Arbeitslosenquote ist mit rund 13 Prozent doppelt so hoch wie im Westen. Auch der Abwanderungstrend von Ost nach West sowie ins Ausland ist nach wie vor ungemindert. Per Saldo verloren die östlichen Bundesländer zuletzt jährlich über 50 000 zumeist junger Fachkräfte. Die gesamtwirtschaftliche Leistung Ostdeutschland beträgt zurzeit knapp 70 Prozent des westdeutschen Niveaus. Dieses Investitionszulagengesetz soll, gemäß dem Entwurf der Bundesregierung, zu Investitionszulagen in Höhe von 550 Millionen Euro im Jahr 2011, 770 Millionen Euro in 2012, 540 Millionen Euro 2013, 315 Millionen Euro 2014 und noch einmal 90 Millionen Euro 2015 führen. Wie in den vergangenen Jahren werden dadurch sicherlich Investitionen von mehreren Milliarden Euro in den östlichen Bundesländern angeregt. Die Investitionszulage ist ein sehr beliebtes Förderinstrumentarium, das vom Handwerk und vom Mittelstand sehr gern angenommen wird, weil es eine Rechtssicherheit bietet, wie es kein anderes Förderinstrumentarium gewährt. Auch deshalb sollten wir die Gewährung der Investitionszulage fortsetzen. Sie ist unbürokratisch. Sie ist nicht mit langen Genehmigungsverfahren verbunden. Nach Art. 87 EG-Vertrag sind staatliche Beihilfen an Unternehmen mit dem gemeinsamen Markt nur ausnahmsweise vereinbar. Solche Ausnahmen liegen - wie beim Investitionszulagengesetz 2010 - vor, wenn es einen entsprechenden zeitlichen und regionalen Bezug gibt. Seitens der Europäischen Kommission wurde dies entsprechend für die östlichen Länder Deutschlands bestätigt. Lassen Sie mich im Folgenden einige Anmerkungen zum Gesetzentwurf der Bundesregierung machen: Erstens. Fördergebiet sind weiterhin die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, SachsenAnhalt, Thüringen und nun auch ganz Berlin. Zweitens. Begünstigte Investitionen sind Erstinvestitionen, die mindestens fünf Jahre zum Anlagevermögen eines Betriebs des verarbeitenden Gewerbes, der produktionsnahen Dienstleistungen oder des Beherbergungsgewerbes gehören. Erstinvestitionen bzw. Erstinvestitionsvorhaben sind die Errichtung einer neuen Betriebsstätte, die Erweiterung einer bestehenden Betriebsstätte, die Diversifizierung der Produktion und die Vornahme einer grundlegenden Änderung des gesamten Produktionsverfahrens. Die Investition muss mindestens fünf Jahre im Betrieb verbleiben, um einen tatsächlich nachhaltigen Beitrag zur Regionalentwicklung zu leisten. Begünstigte Wirtschaftszweige sind wie bisher das verarbeitende Gewerbe, die produktionsnahen Dienstleistungen und das Beherbergungsgewerbe. Drittens. Investitionszeitraum ist die Zeit nach dem Tage der Verkündung des Gesetzes bis zum 31. Dezember 2013. Viertens. Der Fördersatz beträgt im Jahr 2009 12,5 Prozent, 2010 10 Prozent, 2011 7,5 Prozent, 2012 5 Prozent und im Jahr 2013 2,5 Prozent. Meiner persönlichen Meinung nach sollte diese scharfe Degression nochmals überprüft werden. Die Wirtschaft im Osten wächst seit 2003 langsamer als die im Westen, und vor diesem Hintergrund ist ein Auslaufen der Investitionszulage problematisch. Außerdem wäre im letzten Förderjahr der Verwaltungsaufwand für die Betriebe und die öffentliche Hand dann höher als die eigentliche Förderung. Hier erhoffe ich mir im Gesetzgebungsverfahren die Prüfung der Einführung eine Veränderung der Degression der Fördersätze, damit das Verhältnis von Aufwand und Nutzen gewahrt bleibt. Alles in allem setzt der vorliegende Entwurf der Bundesregierung für ein Investitionszulagengesetz 2010 ein richtiges Signal an die Wirtschaft in den östlichen Ländern. Eine entsprechend schnelle Gesetzesberatung ist im Sinne der dortigen Wirtschaft notwendig, um weitere Planungssicherheit zu erhalten. Hierfür sollten wir im Bundestag einen Beitrag leisten.

Simone Violka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003250, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Obwohl wir uns bereits im Jahr 19 nach der Wende befinden und dank dem Engagement von Unternehmerinnen und Unternehmern, aber auch von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und der Gewerkschaften, viele gut am Markt etablierte Unternehmen im Osten entstanden sind, ist der Aufbau Ost noch lange nicht abgeschlossen. Vierzig Jahre geplante Misswirtschaft lassen sich eben leider nicht von heute auf morgen beseitigen, und der Nachholbedarf war ja auch riesig. Bevor die Wirtschaft richtig in Schwung kommen konnte, mussten erst umfangreiche Infrastrukturmaßnahmen erfolgen. Nicht zu vergessen die Rückstände bei Umwelt- und Arbeitsschutz und bei der Infrastruktur der Versorgungsträger. Hier wurde in wenigen Jahren unglaubliches geleistet. Als ein gutes und wirksames Instrument beim Aufbau Ost hat sich dabei die Investitionszulage erwiesen. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass es für das Investitionszulagengesetz 2007, welches Ende des Jahres 2009 ausläuft, mit dem jetzt einzubringenden Investitionszulagengesetz 2010 ein Nachfolgegesetz gibt, welches die Förderung auch nach 2009 möglich macht und die geförderten Maßnahmen bis 2013 sicherstellt. Bereits beim Investitionszulagengesetz 2007 waren intensive Verhandlungen mit den zuständigen Stellen in Brüssel notwendig, die diesem Förderinstrument eher skeptisch gegenüberstanden und nach wie vor -stehen. Deshalb geht an dieser Stelle auch mein Dank an die, welche durch intensive Gespräche und Verhandlungen in Brüssel dieses heute einzubringende Gesetz erst möglich gemacht haben. Das ging aber nicht, ohne auf Forderungen der Gesprächspartner einzugehen. Eine Forderung war die Festsetzung eines Endpunktes der Förderung und ein degressiver Verlauf der Fördersätze bis zu diesem Zu Protokoll gegebene Reden Endpunkt. Dieser Forderung wird mit der vorliegenden Ausgestaltung des Investitionszulagengesetzes 2010 Rechnung getragen, auch wenn ich als Ostdeutsche mir gewünscht hätte, dass die Ausgestaltung weniger degressiv wäre und es auch keinen Endpunkt 2013 gäbe. Aber da ich aus eigener Erfahrung die negative Einstellung der Brüssler Kommission zu diesem Gesetz kenne, weiß ich, wie gering dabei der Verhandlungsspielraum war. Ohne diesen Kompromiss wäre bereits 2009 Schluss mit diesem Förderinstrument. Wir haben damit für den Osten viel gewonnen, und anstatt den Zugeständnissen nachzuweinen, sollten wir bis 2013 das Beste daraus machen. Nach wie vor fehlt es im Osten nicht an Menschen mit innovativen Ideen, sondern an finanziellen Mitteln, um diese Ideen in Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum umzuwandeln. Aufgrund der momentan herrschenden internationalen Finanzkrise kann man ja kaum glauben, dass die Banken häufig Kredite wegen zu hohen Risikos und fehlender bzw. nicht ausreichender Sicherheiten verwehrten und verwehren. Ich kann nur hoffen, dass diese Krise auch für deutsche Banken heilsam ist und man sich dort einmal überlegt, ob die Geschäftsphilosophie noch stimmt. Denn wenn man in Banken Kredite für Firmenerweiterungen wegen erhöhter Auftragseingänge für zu risikoreich hält, gleichzeitig aber bei hochspekulativen Geldgeschäften kräftig zuschlägt ohne auch nur den Hauch einer Absicherung, dann komme nicht nur ich ins Grübeln. Neben anderen Förderinstrumenten wollen wir mit diesem Gesetz weiter Unterstützung leisten. Die Beträge zeigen, dass es sich bei dieser Unterstützung um ganz schöne Brocken handelt. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf wird es zu folgenden Förderungen kommen: Im Jahr 2011 sind es 550 Millionen Euro, im Jahr 2012 770 Millionen Euro, 2013 540 Millionen Euro, 2014 315 Millionen Euro und um Jahr 2015 wegen der degressiven Ausgestaltung noch einmal 90 Millionen Euro. Das ist eine gute Nachricht für die Unternehmer, vor allem aus Mittelstand und Handwerk, die in der Vergangenheit bereits diese Förderung gern in Anspruch genommen haben, nicht zuletzt, weil sie rechtssicher, schnell und unbürokratisch ist. Das kann leider nicht jede Fördermöglichkeit von sich behaupten. Dank dem Entgegenkommen von Brüssel konnte mit dem Investitionszulagengesetz 2010 auch die Förderlücke abgeschafft werden. Möglich wurde das, weil die Europäische Kommission am 6. August 2008 eine allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung verabschiedet hat, wonach eine Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen im D-Fördergebiet, also Berlin, weiterhin möglich ist. Vorher war eine Förderung in diesem Gebiet auf bis Ende 2008 begonnene Investitionsvorhaben beschränkt. Dadurch wurde ein nahtloser Übergang der Förderung für alle Gebiete ermöglicht. Neu ist auch, dass kleine Unternehmen jetzt stärker gefördert werden. Für Erstinvestitionen bei kleinen Unternehmen beträgt die Investitionszulage 20 Prozent der Bemessungsgrundlagen, und für mittlere Unternehmen beträgt sie zukünftig 10 Prozent. Auch damit wird einer Forderung aus Brüssel Rechnung getragen. Wir werden uns im Ausschuss sicher noch ganz genau mit diesen Veränderungen beschäftigen. Allerdings muss es unser aller Ziel sein, dass ein Investitionszulagengesetz 2010 das Plenum verlässt, welches auch in Brüssel seine Zustimmung findet. Denn wir sind auf diese Zustimmung angewiesen, wenn wir auch für die nächsten Jahre den wirtschaftlichen Aufbau im Osten mit Fördermitteln unterstützen wollen.

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Fortführung von Investitionszulagenförderung nach 2009 bis zum Ende des Jahres 2013 ist begrüßenswert. Die FDP-Fraktion wird der Verlängerung des Investitionszulagengesetzes daher erneut zustimmen. Auch heute noch stellt die Förderung von betrieblichen Investitionen in den neuen Ländern ein zentrales und vor allem verlässliches Instrument für die kleinen und mittelständischen Unternehmen dar. Die degressive Ausgestaltung der Fördersätze berücksichtigt hingegen die Interessen der öffentlichen Haushalte und hat zum Ziel, dass kontinuierlich eine Basis für eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung geschaffen wird. Die Absicht, die Investitionszulage langfristig auslaufen zu lassen, ist daher grundsätzlich erstrebenswert. Es bleibt nur zu hoffen, dass die errechneten Staffelsätze für den benötigten Wirtschaftsaufschwung ausreichen, um vor allem der Abwanderung und der hohen Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Das noch geltende Investitionszulagengesetz 2007 hat erstmals das Beherbergungsgewerbe berücksichtigt, was im Hinblick auf die Attraktivität vieler Gebiete als Reiseziel ein wichtiger Schritt war. So konnte sich insbesondere Mecklenburg-Vorpommern in den letzten Jahren zu einem Topstandort im Deutschlandtourismus entwickeln. In Anbetracht dessen, dass Übernachtungsgäste und Tagesausflügler jedes Jahr fast 100 Millionen Aufenthaltstage in Mecklenburg-Vorpommern verbringen und der Tourismus damit mit einem Bruttoumsatz von über 3,5 Milliarden Euro einen der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren darstellt, wird die überragende Bedeutung von Investitionszulagen klar. Daher freue ich mich ganz besonders, dass diese Branche auch nach dem Investitionszulagengesetz 2010 weiterhin unterstützt wird. Aus aktuellem Anlass möchte ich jedoch auf einen negativen Umstand bei Investitionszulagen hinweisen. Wenn Kontrollmechanismen versagen, ist leider überall dort, wo es um Rechtsansprüche auf Geld oder geldwerte Vorteile geht, kriminellen Gemütern Tür und Tor geöffnet. Im konkreten Beispiel geht es um den Missbrauch von Investitionszulagen. Wie dubios Mitarbeiter der Gemeindebehörden handeln können, zeigt der neue alte Subventionsskandal im Finanzministerium MecklenburgVorpommerns. Nach dem Investitionszulagengesetz 1999 galten die Anschaffung und Herstellung neuer Gebäude als begünstigte Investitionen, wenn sie sich in besonders förderfähigen Gebieten befanden. Eine traurige Berühmtheit erlangten in diesem Zusammenhang die sogenannten Zu Protokoll gegebene Reden Kerngebiete. Diese dienen vorwiegend der Unterbringung von Handelsbetrieben. Für die Überprüfung des Tatbestandsmerkmals „Kerngebiet“ genügt ein Blick in den entsprechenden Bebauungsplan. Leider neigten in den vergangenen Jahren einige Sachbearbeiter der Bauämter zur Bescheinigung solcher Kerngebiete, obgleich dies nicht zutraf. Auf diese Weise erbrachte der vermeintlich Anspruchsberechtigte die erforderliche Bescheinigung der Gemeindebehörde und erwarb damit die Voraussetzungen für eine Investitionsmaßnahme. So gilt als sicher, dass den Verantwortlichen im Finanzministerium seit längerem bekannt ist, dass es überwiegend von 2000 bis 2003 insgesamt 48 Veranlagungen gab, die - diplomatisch ausgedrückt - Anlass zu Nachfragen gaben. In mindestens drei Fällen wurde die Investitionszulage unrechtmäßig ausgezahlt. Weil sich hier die Aufklärung der Betrugsfälle aus verschiedenen Gründen äußerst schwierig gestaltet, beschränke ich mich auf die obige Schilderung. Man kann nur hoffen, dass diese Fälle zu den Ausnahmen gehören. Daher möchte ich gerne erläutern, warum es auch 2008, 18 Jahre nach der Wiedervereinigung, erforderlich ist, die Förderungsdauer zu verlängern. Die neuen Bundesländer sind auf ihrem Weg zu einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft seitdem ein beträchtliches Stück vorangekommen. Trotz dieser Erfolge sind weiterhin offensichtliche Defizite vorhanden. Um Anschluss an das Niveau in den alten Bundesländern zu erreichen, ist ein mühsamer Weg zu durchschreiten, mit dem kaum jemand zu Beginn des Umstrukturierungsprozesses gerechnet hatte. Insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit ist zu einer Belastungsprobe für die neuen Bundesländer geworden, die es auch mittels Investitionszulagen abzubauen gilt. Weitere Probleme stellen die mangelnde Eigenkapitaldecke der Kleinunternehmen, die gerade die mittelständische Landschaft in den neuen Bundesländern prägen, und der damit mittelbar zusammenhängende Rückzug der Geschäftsbanken aus der Kreditwirtschaft insbesondere in Ostdeutschland dar. Ohne eine ausreichende Eigenkapitaldecke ist es schwierig, Erweiterungsinvestitionen vorzunehmen, die gerade in Zeiten einer wirtschaftlichen Erholung wichtig sind, um Marktpositionen zu behaupten und selbstverständlich auch auszubauen. Die Investitionszulage bleibt weiterhin ein zentraler Bestandteil ihrer Finanzierbarkeit, weil die Zulage den Anteil benötigter Fremdmittel reduziert. Nun verbessert die Investitionszulage zwar nicht die Kreditversorgung, sie verbessert aber als direkte Unternehmensförderung die Kapitaldienstfähigkeit der Unternehmen. Auch unter diesem Gesichtspunkt kommt der Verlängerung des Investitionszulagengesetzes weiterhin eine hohe Bedeutung zu. Alles in allem ist die Verlängerung des Investitionszulagengesetzes für den Aufbau Ost unerlässlich und damit zwingend geboten.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das Gesetz regelt eine Fortführung der Investitionsförderung in den neuen Bundesländern über das Jahr 2009 hinaus. Das begrüßen wir. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zutreffend hervorgehoben: Der Bundesrat begrüßt den vorliegenden Gesetzentwurf. Er trägt den immer noch bestehenden Defiziten der ostdeutschen Wirtschaft Rechnung und ermöglicht daher auch in den nächsten Jahren noch eine Fortsetzung der intensiven Investitionsförderung. Gleichzeitig aber wird ein Endpunkt für dieses Förderinstrument festgelegt, indem ein degressiver Verlauf der Fördersätze nach 2009 festgeschrieben wird, der das endgültige Auslaufen der Investitionszulage nach 2013 zum Ziel hat. Weiterhin merkt der Bundesrat dazu an, dass die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ({0}) für ganz Deutschland eine hohe Bedeutung hat. Dies gilt natürlich vor allem für einen großen Teil der ostdeutschen Regionen, aber auch für Regionen in Westdeutschland - auch hier gibt es viele Städte und Gemeinden, die auf Grund struktureller Umbrüche mit hoher Arbeitslosigkeit und geringen Steuereinnahmen kämpfen. Die Folge sind Haushaltsnotlagen und immer neue Schulden, die keine Spielräume für dringend notwendige Maßnahmen, insbesondere im Bereich der Infrastruktur, lassen. Die GRW bietet das in Ost- und Westdeutschland dringend benötigte Instrumentarium für die Verbesserung der wirtschaftsnahen Infrastruktur und die Schaffung von Anreizen für Unternehmensansiedlungen und -erweiterungen und damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Dies setzt aber auch eine angemessene und dem ausgeweiteten Aufgabenspektrum angepasste Mittelausstattung voraus. Der Bundesrat erwartet von der Bundesregierung, dass ein überwiegender Teil der durch den vorliegenden Gesetzentwurf entstehenden Steuermehreinnahmen durch eine nachhaltige Aufstockung der GRW für die Instrumente der Regionalen Strukturpolitik wieder zur Verfügung gestellt wird. Die Mittelausstattung der GRW ist seit 1998 drastisch verringert worden, obwohl sie durch die unmittelbare Abhängigkeit der Förderhöhe von der Anzahl der neu geschaffenen oder gesicherten Arbeitsplätze nachweisbar zielgenaue Effekte erzielt …“ Der vorliegende Entwurf verstetigt also die Trennung zwischen Ost und West. Solange jedoch im Grundgesetz die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse postuliert wird, ist es politisch nahezu fahrlässig, die Investitionszulage für die neuen Länder ab 2009 kontinuierlich abzusenken, um sie dann nach 2013 auslaufen zu lassen. Natürlich unterstützt Die Linke die weitere Förderung, gleichzeitig setzt sie sich jedoch gegen die Einstellung der Investitionszulage nach 2013 und damit eines Instrumentes zur Förderung des Mittelstandes in den neuen Ländern ein. Denn niemand wird bezweifeln wollen, dass die besondere Förderung gerade des ostdeutschen Mittelstandes notwendig ist, um den neuen Ländern zu dem selbsttragenden Aufschwung zu verhelfen, der ihnen von der Großen Koalition immer versprochen wird. Eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit, kaum Forschung und EntZu Protokoll gegebene Reden wicklung, die Verfestigung prekärer Arbeitsverhältnisse, ein geringeres Lohn- und Rentenniveau sprechen eine andere Sprache. Nun trifft es ja zu, dass aufgrund des ökonomischen Wandels auch in den alten Bundesländern strukturschwache Regionen entstanden sind, die staatlicher Hilfe bedürfen. Dies aber zulasten der ostdeutschen strukturschwachen Regionen zu machen, spottet jeder nachhaltigen Politik Hohn. Hier wird offensichtlich Ost gegen West bei der Wirtschaftsförderung ausgespielt. Apropos sozial: Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass durch die Kürzung der Investitionszulage und der Aufteilung der Gelder zwischen Ost und West irgendeine Strukturschwäche behoben werden kann? Wie sollen denn durch die allgemeine Ausdünnung des Förderniveaus die bestehenden und anwachsenden Probleme sinnvoll und nachhaltig bekämpft werden? 49 der 50 strukturschwächsten Landkreise Deutschlands befinden sich laut dem Prognos-Zukunftsatlas in den neuen Ländern. Anstelle den Osten erfolgreich zu fördern, wie es Die Linke immer fordert, und die strukturschwachen Regionen im Westen ebenso nachhaltig zu unterstützen, helfen Sie weder den Menschen im Osten noch im Westen. Dass diese Regierung jedoch statt langfristig und finanzpolitisch sinnvoll zu agieren, jeden finanzökonomischen Unsinn mitmacht, ist den Steuerzahler leider schon mehr als teuer zu stehen gekommen. Dass diese Regierung die schwächeren Regionen - gleich ob Ost oder West - perspektivisch ihrem Schicksal überlässt, wird die Menschen darin ebenfalls noch teuer zu stehen kommen. Dass Sie dann jedoch versuchen, diesen von ihrer Politik mehrfach benachteiligten Menschen ein X für ein U vorzumachen, zeugt schlichtweg von schlechtem politischem Stil. Die Fraktion Die Linke wird in den Ausschussberatungen Vorschläge zur nachhaltigen Verbesserung des Gesetzentwurfes einbringen.

Peter Hettlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003554, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der wirtschaftliche Aufholprozess Ostdeutschlands stagniert seit Mitte der 1990er-Jahre. Das Wirtschaftswachstum in den neuen Bundesländern lag selbst mitten im konjunkturellen Aufschwung 2007 um 0,3 Prozent hinter dem Wachstum in den alten Bundesländern zurück. Und auch für 2008 wird ein Wachstumsrückstand prognostiziert. Damit findet trotz aufwendiger Wirtschaftsförderung und rückläufiger Bevölkerungszahlen in Ostdeutschland keine Angleichung des Bruttoinlandsproduktes pro Einwohner zwischen Ost und West statt. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle errechnete, dass bei diesem Tempo die Angleichung der Pro-Kopf-Einkommen noch 320 Jahre dauern wird. Den neuen Ländern stehen nur noch bis 2019 überproportionale Finanzmittel aus dem Solidarpakt II zur Verfügung. Im sogenannten Korb 2 des Solidarpakts II sind die überproportionalen Leistungen des Bundes an die neuen Länder und Berlin zusammengefasst. Von dem zugesagten Gesamtvolumen in Höhe von 51 Milliarden Euro bis 2019 sind im Zeitraum 2005 bis 2007 bereits circa 16 Milliarden Euro abgeflossen. Angesichts dieser ernüchternden gesamtwirtschaftlichen Erfolgsbilanz fordert Bündnis 90/Die Grünen schon seit langem, dass die Wirtschaftsförderung des Bundes in den neuen Bundesländern auf den Prüfstand gehört. Das bedeutet, dass die uns noch verbleibenden 35 Milliarden Euro des Korbes 2 des Solidarpakts II zielgerichteter und wirksamer eingesetzt werden müssen. Die Investitionszulage ist die volumenmäßig größte Einzelmaßnahme innerhalb des Korbes 2. Anerkannte Wirtschaftsinstitute und der Sachverständigenrat hatten bereits vor der letzten Verlängerung der Investitionszulage im Jahr 2006 kritisiert, dass die Investitionszulage aufgrund des Rechtsanspruchs zu geringe Steuerungsmöglichkeiten aufweist und zu viele Mitnahmeeffekte erzeugt. Einen erheblichen Missbrauch bei dieser Steuersubvention belegten die Nachschauen der Finanzämter in Brandenburg und Thüringen. In Brandenburg forderten die Finanzämter 24,2 Millionen Euro Investitionszulage zurück - ein Viertel der beantragten Summe. In Thüringen waren es 13 Millionen Euro. Die anderen Bundesländer verzichten lieber auf derartige Nachschauen und nehmen den Missbrauch damit billigend in Kauf. Geradezu skandalös ist, dass die Investitionszulage weder statistisch erfasst noch evaluiert wird. Die Bundesregierung weiß weder, wer die Förderung beansprucht, noch wie viel Unternehmen gefördert wurden, ob die Fördervoraussetzungen eingehalten oder die Förderungen missbräuchlich in Anspruch genommen wurden. Das ist ein verantwortungsloser Umgang mit Steuergeldern! Mit der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur - GA - steht den neuen Bundesländern dagegen ein Förderprogramm mit identischem Wirkungsmechanismus wie bei der Investitionszulage zur Verfügung. Auch bei der GA werden Investitionen in das Sachanlagevermögen bezuschusst. Aber im Gegensatz zur Investitionszulage können die Länder mit der GA regionale und sektorale Schwerpunkte setzen und somit zielgerichtet fördern. Eine Verlängerung der Investitionszulage, wie im vorliegenden Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD gefordert, geht bei feststehenden Gesamtvolumen des Korbes 2 des Solidarpakts II zulasten anderer, für die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern weitaus bedeutsamerer Maßnahmen. Die noch zur Verfügung stehenden 35 Milliarden Euro müssen vor allem in das ebenfalls im Korb 2 definierte Politikfeld „Innovation, Forschung und Entwicklung, Bildung“ fließen. Darüber hinaus müssen mit den Korb2-Mitteln verstärkt innovative Konzepte für die Entwicklung in peripheren Regionen Ostdeutschlands gefördert werden. Wir schlagen vor, dass zum Beispiel revolvierende Fonds eingerichtet werden, aus denen zinsgünstige Darlehen mit Eigenkapital ersetzendem Charakter - Mezzanine-Finanzierungen - ausgereicht werden. Dadurch können Mittel für eine nachhaltige Wirtschaftsforschung auch über das 2019 hinaus sichergestellt werden. Die Investitionszulage muss in eine Innovationszulage umgewandelt werden. So werden statt verlängerter WerkZu Protokoll gegebene Reden bänke Unternehmen mit strategischen Unternehmensfunktionen in Ostdeutschland gefördert. Wir fordern darüber hinaus die Einrichtung eines zielund wirkungsorientierten Controllings der eingesetzten Fördermittel und endlich die Fortschreibung der Fortschrittsberichte wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 16/10291 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Spieth, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Das Gesundheitssystem nachhaltig und paritätisch finanzieren - Gesundheitsfonds, Zusatzbeiträge und Teilkaskotarife stoppen - Drucksache 16/10318 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Dr. Rolf Koschorrek, CDU/CSU, Peter Friedrich, SPD, Dr. Konrad Schily, FDP, Frank Spieth, Die Linke, Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Rolf Koschorrek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003791, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Seit 1989 gab es in Deutschland sechs Gesundheitsreformgesetze, deren Ziel es war, die Kosten bzw. den Kostenanstieg im Gesundheitswesen zu begrenzen. Darüber hinaus gab es von 2001 bis 2006 fünf Gesetze zur Begrenzung der Arzneimittelkosten. Das jüngste Reformgesetz, das GKV/WSG, das wir Anfang 2007 beschlossen haben, ist die bislang erste Reform in unserem Gesundheitswesen, die für die Patienten statt Leistungseinschränkungen sogar eine Erweiterung der Leistungen, zum Beispiel im Bereich der Rehabilitation und Palliativmedizin, bringt. Diesmal steht nicht die Kostenbegrenzung im Zentrum der Reform. Im Mittelpunkt des GKV/WSG steht vielmehr der Wettbewerb unter den GKV-Kassen und der Gesundheitsfonds mit dem Umbau der gesamten Finanzierung, der Einnahmen- und Ausgabenseite unseres Gesundheitssystems. Richtig ist: Die Union favorisiert nach wie vor das Konzept der Gesundheitspauschale und die Abkopplung der Gesundheits- von den Lohnkosten. Wir akzeptieren den Gesundheitsfonds als Kompromiss und Wegmarke. Der bundeseinheitliche Beitragssatz, den die Versicherten und ihre Arbeitgeber in den Fonds einzahlen, trägt dazu bei, einen Finanzausgleich zwischen den Bundesländern und einen Ausgleich der bisherigen regionalen Unterschiede in der medizinischen Versorgung zu schaffen. Nicht zuletzt machen wir mit dem Gesundheitsfonds den Anfang zu einer Steuerfinanzierung von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben in der Krankenversicherung. Der im vorliegenden Antrag kritisierte Zusatzbeitrag wird in Form einer Nachzahlung oder Rückerstattung erhoben. Soweit sollten auch die Kollegen von der Fraktion Die Linke das Gesetz und das Konzept des Gesundheitsfonds kennen und verstanden haben. Dieser Betrag sorgt dafür, dass die GKV-Kassen in einen Wettbewerb untereinander treten. Er veranlasst die Kassen zur Reduzierung ihrer Verwaltungskosten und bietet den Versicherten eine erheblich höhere Transparenz bei den Kosten und Leistungen der Kassen, als wir sie jetzt im System haben. Seine Höhe, das heißt, ob ein Plus oder ein Minus unterm Strich steht, ist ganz wesentlich davon abhängig, wie wirtschaftlich eine Kasse zu arbeiten vermag und welche Leistungen sie den Versicherten bietet. Der Zusatzbetrag, das heißt Nachzahlung oder Rückerstattung, ist unabhängig von dem Einkommen des Versicherten, und damit haben wir zumindest eine partielle Abkopplung der Gesundheits- von den Lohnkosten. Darüber hinaus sorgt der Zusatzbetrag zusammen mit der ebenfalls im GKV/WSG neu geschaffenen Möglichkeit der Wahltarife dafür, dass die Versicherten sich die Kasse verstärkt nach ihren persönlichen Prioritäten aussuchen können und werden. Das heißt, sie können unter finanziellen Kriterien die kostengünstigste Kasse wählen oder unter qualitativen Kriterien eine Kasse, die ihren individuellen Anforderungen und Bedürfnissen am besten entspricht. Dies ist ein wichtiger, nach meiner Überzeugung schon lange überfälliger Schritt, mit dem der Versicherte im GKV-System vom pauschalen Beitragszahler und Leistungsempfänger zum selbstbestimmten und verantwortlichen Akteur wird, der seine individuelle Entscheidung treffen und Einfluss nehmen kann. Umfragen unter GKV-Versicherten zeigen seit einigen Jahren schon, dass diese sich mehr Flexibilität und Gestaltungsmöglichkeiten für ihren Krankenversicherungsschutz wünschen. Dabei geht es nicht nur um die in dem vorliegenden Antrag der Linken kritisierten Selbstbeteiligungsoder Kostenerstattungstarife. Neben einer ganzen Reihe von anderen Wahltarifen, können die gesetzlichen Kassen jetzt zum Beispiel eben auch spezielle Tarife mit einer Erstattung für Naturarzneimittel anbieten. Früher gab es solche Tarife lediglich in der privaten Krankenversicherung und war den privat Versicherten vorbehalten. Ein solches Angebot stößt vor allem bei Frauen unter den GKV-Versicherten auf Interesse, die zum Beispiel bei der Techniker-Krankenkasse rund 90 Prozent der Versicherten in diesem Tarif ausmachen. Ein weiterer zentraler Faktor im Konzept des Gesundheitsfonds ist die Erweiterung des bisherigen RSA zum MorbiRSA. Durch ihn erhalten die Krankenkassen für die chronisch Kranken unter ihren Versicherten einen finanziellen Ausgleich für den krankheitsbedingten erhöhten Versorgungsbedarf. Der neue MorbiRSA erfüllt im Zusammenhang mit dem Gesundheitsfonds zwei zentrale Funktionen: zum Einen schafft er faire und soweit als möglich gleiche und gerechte Voraussetzungen für den Wettbewerb unter den Kassen, zum Zweiten verlagert er das Gesundheitsrisiko der Versicherten von den Ärzten auf die Kassen, auch dies ist ein Schritt, der lange überfällig ist. Schwierig ist die Frage der konkreten Ausgestaltung des MorbiRSA, der laut Gesetz 50 bis 80 schwerwiegende und kostenintensive Krankheiten umfassen soll, bei denen die durchschnittlichen Ausgaben der betroffenen Versicherten um 50 Prozent höher liegen als bei den nicht betroffenen Versicherten. Der „einfache“ RSA wurde 1994 im Zusammenhang mit der Ausweitung des Kassenwahlrechts eingeführt. Auch damals war es das Ziel, mit dem RSA Wettbewerbsverzerrungen zwischen den GKV-Kassen abzubauen. Er berücksichtigte die Höhe der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder, die Zahl der beitragsfrei mitversicherten Familienmitglieder sowie das Alter und Geschlecht der Versicherten und die Zahl derjenigen, die eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Diese überschaubare Anzahl konkreter Kriterien wurde 2002 ergänzt durch einen „Risikopool“ der Krankenkassen für Versicherte mit besonders teuren Krankheiten und für Versicherte, die zum Beispiel als Diabetiker an DiseaseManagement-Programmen teilnehmen. Zurzeit arbeitet das BVA an der Gewichtung und Bewertung einer Auswahl von 80 Krankheitsgruppen mit Hunderten von Einzeldiagnosen, die als Grundlage des Finanzausgleichs unter den Krankenkassen dienen wird. Es ist dringend erforderlich, dass alle Kriterien einer wissenschaftlichen Evaluation der Daten und Verteilungsmechanismen erfüllt sind, um zielgenau die Finanzmittel der einzelnen Kasse vorausberechnen zu können. Es wäre wünschenswert, dass auch die Fraktion Die Linke im Interesse eines dauerhaft leistungsfähigen Gesundheitssystems einmal ihre ideologische Vorurteile und linken Reflexe hintanstellt. Wer die Fakten kennt und weiß, dass bei Fortbestehen des heutigen Systems der Beitragssatz im Jahr 2050 auf 25 bis 29 Prozent ansteigen würden, der weiß auch, dass wir eine grundlegende Reform in unserem Gesundheitswesen brauchen. Wer den Gesundheitsfonds vorurteilsfrei und mit einer gewissen Bereitschaft, auch einmal etwas Neues zu akzeptieren, betrachtet, der wird zu dem Fazit kommen: Der Fonds enthält vernünftige, zukunftsweisende und tragfähige Regelungen für unser Gesundheitssystem. Er stellt richtige Weichen für ein zukunftsfähiges System mit mehr Eigenverantwortung und der Abkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnkosten. Der Gesundheitsfonds wurde bereits - und das nicht ganz zu Unrecht - als „wohl größte Veränderung seit dem Weltkrieg“ im Bereich der Sozialpolitik bezeichnet. Unter organisatorischen Gesichtspunkten bedeutet dies eine große Herausforderung für alle Beteiligten. Wir arbeiten auf Hochtouren daran.

Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003754, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Heute diskutieren wir im Deutschen Bundestag einen Antrag der Linksfraktion, in dem der Gesundheitsfonds abgelehnt wird, da er angeblich die „Entsolidarisierung der Versichertengemeinschaft“ und eine „Privatisierung von Gesundheitsrisiken“ betreibe, wie es in dem vorliegenden Papier heißt. Morgen debattieren wir an gleicher Stelle über einen Antrag der FDP, der mit dem Gesundheitsfonds den angeblichen „Einstieg in ein staatlich zentralistisches Gesundheitswesen“ verbindet. Wie so häufig in den Debatten um die Gesundheitsreform dieser Legislaturperiode trifft keines der populär klingenden Argumente beider Fraktionen zu. Im Gegenteil: Wir stärken Solidarität und Wettbewerb im Gesundheitswesen zum Wohle der Patientinnen und Patienten. Zumindest die Linksfraktion weiß dies auch. Herr Kollege Spieth hat mehrfach an dieser Stelle den Gesundheitsfonds gelobt. Das System der einheitlichen Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung, das wir mit dem Gesundheitsfonds begründen wollen, haben Sie in der Plenardebatte vom 24. April 2008 im Deutschen Bundestag als „einen der wenigen positiven Punkte der letzten Gesundheitsreform“ bezeichnet. Und am 18. Januar 2008 haben Sie den Fonds sogar gegenüber den Vertreterinnen und Vertretern der FDP-Fraktion verteidigt. Sie sagten damals - laut Plenarprotokoll -: Der Gesundheitsfonds ist nicht das Problem. Und weiter: Unter anderem die FDP schlägt jetzt aus nachvollziehbaren Gründen auf den Sack Gesundheitsfonds. Eigentlich meint sie etwas ganz anderes: Der FDP geht es im Kern um die Stärkung von Privilegien - das ist meine feste Überzeugung - und nicht darum, etwas mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen. Genau um die Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit geht es uns mit der Einführung des Fonds, meine Damen und Herren von der Linkspartei. Wir wollen mit dem Gesundheitsfonds die Gerechtigkeit unter den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern stärken. Schon heute leistet jede Krankenkasse beinahe identische Leistungen, der Beitragssatz variiert aber erheblich. Dies ist unter Solidaritätsaspekten nicht länger hinzunehmen. Auch nicht länger hinzunehmen ist die bisherige Risikoselektion der Krankenkassen, weshalb wir mit der Einführung des Gesundheitsfonds auch den Risikostrukturausgleich verbessern. Dies wird die Solidarität in unserem Gesundheitssystem ebenfalls spürbar stärken. Mit dem Gesundheitsfonds setzen wir dem Wettbewerb im Gesundheitswesen einen starken, verlässlichen Rahmen, der für mehr Gerechtigkeit unter den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern führen wird. Bei gleichen Beitragssätzen und nahezu identischen Leistungen im Krankheitsfall verbessern wir für die Menschen die Vergleichbarkeit einzelner Krankenkassen spürbar. Heute noch haben wir einen Wettbewerb um gesunde, möglichst junge und bestenfalls einkommensstarke Versicherte, die der Krankenkasse viel Geld einbringen und wenig kosten. Ab dem neuen Jahr werden wir einen neuen Wettbewerb unter den Krankenkassen um möglichst gute Leistungen für die Versicherten erleben. Wenn die Beitragssätze für alle Kassen gleich sind, wird sich der Wettbewerb unter den Krankenkassen auf möglichst gute Leistungen im Krankheitsfall und zur Vermeidung von Krankheiten sowie auf eine hohe Kundenorientierung konzentrieren. Zu Protokoll gegebene Reden Der Patient und die Patientin an sich werden im Mittelpunkt der Bemühungen stehen - und nicht ein möglichst junger, möglichst gesunder oder möglichst zahlungskräftiger Versicherter. Heute noch ist die Risikoselektion der Krankenkassen ein Wettbewerbsinstrument. Das ist unsolidarisch, deshalb beenden wir dieses System. Zudem werden wir einen Wettbewerb um die Vermeidung des Zusatzbeitrages erleben. Es ist doch ganz logisch, dass keine Kasse den Zusatzbeitrag erheben will, sondern interne Betriebskosten soweit als möglich senken und die Wirtschaftlichkeitsreserven zu heben versuchen wird, um den Zusatzbeitrag zu vermeiden. Umfragen legen nahe, dass ein Drittel der Versicherten von ihrem außerordentlichen Kündigungsrecht Gebrauch machen und zu einer anderen Kasse wechseln werden, sofern ihre bisherige Kasse einen Zusatzbeitrag erheben möchte. Da ist es doch ganz klar, dass alle Kassen sich auf diesen Wettbewerb um möglichst gute Leistungen für die Versicherten und um eine möglichst wirtschaftliche Versorgung einlassen werden. Für die Versicherten wird bei der Entscheidung für oder gegen eine Krankenkasse viel stärker als bislang das Preis-/Leistungsverhältnis im Mittelpunkt ihrer Entscheidung stehen. Ist der Preis bei allen gleich, rückt die Leistung in den Vordergrund. Die Krankenkassen überlassen wir aber auch nicht einfach nur sich selbst und dem Wettbewerb. Vielmehr öffnen wir den Kassen erweitere Handlungsmöglichkeiten für eine möglichst wirtschaftliche Versorgung ihrer Versicherten. Die Kassen können beispielsweise Leistungen ausschreiben, Rabattverträge abschließen und Wahltarife anbieten. Damit führen wir die Krankenkassen in eine neue Verantwortung als aktive Akteure des Gesundheitssystems. Mit dem Gesundheitsfonds, meine Damen und Herren von der Linksfraktion und von der FDP, schaffen wir einen solidarischen Wettbewerb im Sinne der Versicherten. Der Wettbewerb ist solidarisch, weil er für alle Versicherten die gleichen Bedingungen schafft. Aber wir schaffen trotzdem einen Wettbewerb der Kassen untereinander, der sich aber nicht negativ auf die Versicherten auswirken wird. Deshalb bringt uns der Antrag der Linksfraktion, der unserer Debatte zugrunde liegt, nicht voran. Und deshalb kann man auch den Widerstand der FDP gegen den Fonds nicht verstehen. Wir verbinden genau die beiden Werte, die ihre beiden Parteien gegeneinander auszuspielen versuchen. Messen Sie uns am Ergebnis, den die Einführung des Fonds mit sich bringen wird.

Dr. Konrad Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003840, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Antrag der Fraktion Die Linke ist völlig einseitig aufgebaut. Er zielt expressis verbis auf die Einführung einer Bürgerversicherung, die staatlich administriert werden soll, ab. Auf den Gesundheitsfonds bezogen findet sich im Antrag ein richtiger Satz: „Der Gesundheitsfonds löst keine Probleme, sondern schafft nur neue“. Diesem Satz können wir uns anschließen, allerdings mit völlig anderer Begründung. Es muss Gestaltungsfreiheit geschaffen werden, nicht staatliche Verwaltung, die meistens eine Mangelverwaltung ist. Wir benötigen eine ganzheitliche Souveränität der Bürger als Versicherte mit voller Eigenverantwortung und einem Höchstmaß an wirtschaftlicher Transparenz. Erreichen wir dies nicht, wird die Therapiefreiheit und Freiberuflichkeit bald auf der Strecke bleiben. Die zu diesem Thema unterbreiteten Vorschläge der FDP weisen in die richtige Richtung. Wir lehnen den Antrag der Fraktion Die Linke ab.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vor 125 Jahren wurde die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland geschaffen. Sie war Vorbild für den Aufbau der Krankenversicherung in vielen europäischen Ländern. Dieses Erfolgsmodell wird in seinen Grundfesten seit 20 Jahren erschüttert. Gerade in den letzten fünf Jahren gab es eine Lawine von Leistungskürzungen. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz 2004 - eineinhalb Jahre vor dem offiziellen Beginn der Großen Koalition - wälzten SPD und Union zusammen mit den Grünen Gesundheitskosten auf die Versicherten ab. So wurden einige Leistungen ganz gestrichen und bei anderen müssen wir jetzt erheblich zuzahlen. Das Konzept der Schröder’schen Agenda-2010-Politik, „den Armen nehmen, den Reichen geben“, wird auch in der Großen Koalition fortgesetzt. Die neue Sozialstaatsdoktrin lautet „Senkung der Lohnnebenkosten“. Im GKV-Modernisierungsgesetz ist siebenmal das Wort „Lohnnebenkosten“ zu lesen und dass diese für die Arbeitgeber gesenkt werden sollen. Die logische Schlussfolgerung ist, dass Arbeitnehmer und Rentner alleine zahlen. Konkret wurden das Sterbegeld, das Entbindungsgeld und die Kostenübernahme rezeptfreier Medikamente aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gestrichen. Nur noch in Ausnahmefällen, bei extrem starken Sehbehinderungen werden die Kosten für Brillen übernommen. Die künstliche Befruchtung wird nur noch zur Hälfte gezahlt und auch maximal mit drei Versuchen statt wie zuvor vier. Sterilisationen werden nur noch übernommen, wenn sie medizinisch notwendig sind. Die Übernahme der Kosten für Fahrten zum Arzt oder ins Krankenhaus wurde gestrichen und/oder erheblich eingeschränkt. Ganz neu eingeführt wurden Eintrittsgebühren zu Arztpraxen, Zahnarztpraxen und zu Notfalldiensten. Diese 10 Euro Praxisgebühr pro Quartal können sich aufsummieren auf bis zu 120 Euro im Jahr. Krankenhausaufenthalte und Kuren kosten seither 10 Euro am Tag und bis zu 280 Euro im Jahr. Gleiches gilt für häusliche Krankenpflege. Zuzahlungen für Medikamente wurden auf 5 bis 10 Euro je Packung angehoben. Für Hilfsmittel und Heilmittel muss man ebenfalls 5 bis 10 Euro pro Verordnung hinlegen. Der Durchschnittsverdiener in der gesetzlichen Krankenversicherung mit circa 2 600 Euro kann bei Anwendung aller vorgenannten Regelungen mit über 600 Euro im Jahr zusätzlich zu seinem Krankenversicherungsbeitrag belastet werden. Zu Protokoll gegebene Reden Neu ist auch, dass auch die Geringverdiener nun grundsätzlich Zuzahlungen zahlen müssen. Die Härtefallregelung wurde abgeschafft. Würde die Regelung von Norbert Blüm noch gelten, brauchten Menschen mit einem Einkommen bis etwa 1 000 Euro nicht zuzahlen. Dank der Politik der Bundesregierung gibt es ohne Cash heute keine Behandlung mehr. Doch damit nicht genug: Ohne Arbeitgeberbeitrag finanzieren die Arbeitnehmer und Rentner seit Mitte 2005 das Krankengeld und den Zahnersatz, Durch einen juristischen Kniff wurde es möglich, Rentner de facto für Krankengeld zahlen zu lassen, obwohl ein Rentner natürlich niemals Krankengeld bezieht. Dazu wurde ein Sonderbeitrag in Höhe von 0,9 Prozent des Einkommens eingeführt, den die Versicherten ohne Beteiligung der Arbeitgeber zu zahlen haben. Damit wurde der Grundsatz der paritätischen Finanzierung, also das Prinzip halbehalbe, erstmals direkt abgeschafft. Dieser Sonderbeitrag kostet die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung 9 Milliarden Euro, also jeden Beitragszahler durchschnittlich zusätzlich 180 Euro pro Jahr. Mit der „Reform“ 2007, dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, wurde der Weg der einseitigen Belastung konsequent fortgesetzt. Der geplante Gesundheitsfonds, der zum 1. Januar 2009 in Kraft treten soll, wird es nicht schaffen, dass endlich alle für die gleiche Leistung auch den gleichen prozentualen Anteil ihres Einkommens zahlen. CDU/CSU und SPD haben beschlossen, dass die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen zulasten der Versicherten gehen. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es ein komplexes Konstrukt innerhalb des Gesundheitsfonds: Anfang 2009 sollen die Krankenkassen 100 Prozent ihrer Ausgaben aus dem Fonds erhalten. Schon Ende 2009 werden die Einnahmen des Fonds dazu nicht mehr ausreichen. Aber die Beiträge werden erst wieder erhöht, wenn die Kosten zu weniger als 95 Prozent gedeckt sind. Nach unseren Berechnungen wird dies voraussichtlich 2012 oder 2013 der Fall sein. Da aber die Kostensteigerungen bei Ärzten, Krankenhäusern und Medikamenten weiter stattfinden werden, haben die Kassen nur eine Alternative: Sie müssen den sogenannten Zusatzbeitrag erheben. Dies kann auch in Form einer „kleinen Kopfpauschale“ erfolgen. Ab 2010 werden alle Kassen voraussichtlich Zusatzbeiträge von ihren Versicherten verlangen müssen. Und natürlich: Die Lohnnebenkosten-Senkungs-Ideologie wirkt weiter: Es zahlt erneut nur der Versicherte! Das sind weitere bis zu 10 Milliarden Euro, die nicht mehr paritätisch finanziert werden. Diese politische Entscheidung belastet jeden Beitragszahler mit durchschnittlich 200 Euro pro Jahr. Halbe-halbe? Das war einmal! Die Linke ist gegen diesen Gesundheitsfonds, weil er den falschen Weg von Rot-Grün unter Schwarz-Rot fortsetzt. Diese Politik führt zu steigenden Kosten für Arbeitnehmer, Rentner, Arbeitslose Studenten, aber nicht zu einer besseren Gesundheitsversorgung. Die politisch gewollten Mehrbelastungen kosten insgesamt jeden Beitragszahler zusätzlich durchschnittlich 466 Euro pro Jahr. Die Arbeitgeber freuen sich über satte Entlastungsgeschenke. Die Linke lehnt diese Art der gesetzlich verordneten Umverteilung von unten nach oben ab. Wir wollen stattdessen eine solidarische Bürgerinnenund Bürgerversicherung. Das heißt: Wir wollen, dass jede und jeder, egal ob angestellt, selbstständig, Rentner, Beamter, Pensionär, arbeitslos, Student oder Politiker in der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung abgesichert ist. Jeder zahlt den gleichen Prozentsatz seines gesamten Einkommens als Beitrag. Bei Erwerbseinkommen zahlt der Arbeitgeber wieder die Hälfte der Beiträge. Wenn dann alle aus allen Einkommensarten die Gesundheitsversorgung finanzieren, und nicht nur Erwerbstätige und Rentner, dann kann der Beitragssatz deutlich gesenkt werden. Statt mit 15,5 Prozent unter den Bedingungen dieses Gesundheitsfonds, käme das Bürgerversicherungsmodell rechnerisch mit 8,6 Prozent Beitragssatz aus und das bei gleichen Leistungen. Da wir die Zuzahlungserhöhungen und Leistungskürzungen der letzten Jahre wieder rückgängig machen und den medizinischen Fortschritt für alle gewähren wollen, ist ein Beitragssatz von etwa 10 Prozent für alle erforderlich. Solidarität rechnet sich!

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vor vier Wochen hat die Bundesfamilienministerin den gesetzlich Krankenversicherten einen guten Rat auf den Frühstückstisch gelegt. Per Sonntagszeitung teilte sie ihnen mit, dass sie ihre Krankenkasse verlassen sollen, wenn diese einen Zusatzbeitrag von ihnen verlangt; denn den müssten nur solche Kassen verlangen, die schlecht wirtschaften. Gut wirtschaftende Kassen könnten ihren Versicherten Geld zurückgeben. Dieser Sonntagsgruß der Ministerin passte sich nahtlos in die gewohnte Rhetorik der Koalition ein, wenn die Sprache auf den Zusatzbeitrag kommt. Der wird der Öffentlichkeit als Gradmesser für die Wirtschaftlichkeit einer Krankenkasse verkauft. Das ist selbstverständlich Unsinn, weil die Konstruktion des Zusatzbeitrags dessen Höhe von ganz anderen Faktoren abhängig macht als vom verantwortungsvollen Umgang einer Krankenkasse mit Versichertengeldern. Der Koalition wurde schon während des Gesetzgebungsverfahrens durch von ihr selbst bestellte Gutachter gezeigt, dass durch die Kombination von Zusatzbeitrag und 1-prozentiger Belastungsobergrenze die Höhe des Zusatzbeitrags bzw. der Beitragsrückerstattung davon bestimmt wird, wie viel oder wenig die Mitglieder einer Kasse verdienen. Eine Kasse mit vielen Geringverdienern muss einkalkulieren, dass viele ihrer Mitglieder den Zusatzbeitrag nicht vollständig bezahlen können. Diese Beitragsausfälle muss sie dann durch einen höheren Zuschlag - und damit durch die Belastung ihrer besser verdienenden Mitglieder - wieder ausgleichen. Diesen Zusammenhang kann sie auch durch noch so gutes Wirtschaften nicht außer Kraft setzen. Von diesen ErkenntnisZu Protokoll gegebene Reden sen hat sich die Koalition aber nicht beirren lassen und die Gutachten einfach in den Schreibtisch gesteckt. Unsinn ist das Gerede vom Zusatzbeitrag als Gradmesser der Wirtschaftlichkeit aber vor allem, weil für die Koalition dieser Zuschlag ein zentraler Bestandteil der künftigen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Ab dem Jahr 2010 soll der Gesundheitsfonds nur noch 95 Prozent der Leistungsausgaben der Krankenkassen finanzieren müssen. Die restlichen 5 Prozent - das entspricht nach heutigem Stand einem Betrag von 7,5 Milliarden Euro - soll dann über Zusatzbeiträge aufgebracht werden. Das heißt, weil die Koalition keine vernünftige Finanzreform der Krankenversicherung hinbekommen hat, greift sie den Versicherten tief in die Tasche. Damit es aber niemand merkt, ruft sie selbst am lautesten: „Haltet den Dieb!“ Dabei werden die Versicherten die Auswirkungen des Zusatzbeitrags nicht nur in ihren Geldbeuteln spüren. Durch ihre Ratschläge, sich bei der Kassenwahl vor allem an Zusatzbeitrag und Rückerstattung zu orientieren, fördert die Bundesregierung eine Schnäppchenmentalität, die in der Gesundheitsversorgung nichts zu suchen hat. Die Krankenkassen setzt sie damit wiederum unter Druck, die Erhebung des Zusatzbeitrags so lange wie nur irgend möglich hinauszuzögern. In den nächsten beiden Jahren werden die Kassen vor allem darum konkurrieren, wer den längsten Atem hat und möglichst lange ohne Zuschlag auskommt. Das wird zu einem rigiden Sparregime in den Kassen führen. Patientinnen und Patienten, die auf besonders teure Therapien angewiesen sind, werden das zu spüren bekommen. Für innovative Versorgungsformen, die erst einmal Anlaufkosten verursachen, wird kein Geld übrig sein. Eine veränderte Grenzziehung zwischen eigenverantwortlich und solidarisch zu tragenden Lasten kann kein Tabu sein. Das gilt auch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, für die Reduzierung der Lohnnebenkosten. Allerdings muss es dafür gute Gründe geben und die dafür verantwortlichen Politikerinnen und Politiker müssen auch bereit sein, für diese Gründe und die von ihnen ergriffenen Reformmaßnahmen einzustehen. Das ist bei der Gesundheitsreform 2004 der Fall gewesen. Angesichts der Situation auf dem Arbeitsmarkt haben wir uns damals bewusst dafür entschieden, die Parität zu verschieben und Selbstbeteiligungen auszubauen. Und wird haben diese Reformen damals auch offen vertreten. Vieles Weitere ist im Rahmen der Agenda 2010 dazugekommen. Ein Blick auf die Arbeitslosenzahlen zeigt, dass diese Politik erfolgreich war. Allerdings ist die Situation heute eine sehr viel andere. Gesundheitsfonds und Zusatzbeitrag sind nicht zustande gekommen angesichts steigender Arbeitslosenzahlen und zu hoher Arbeitskosten. Mit Problemen im Gesundheitswesen oder in anderen gesellschaftlichen Bereichen haben sie nichts zu tun. Tatsächlich sind sie Ausdruck einer Koalition, die so in ihren inneren Widersprüchen gefangen ist, dass sie sich nur noch mit sich selbst beschäftigt. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass diese Reform der Koalition so peinlich ist, dass sie es nicht gewesen sein will.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 16/10318 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Gesundheit und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sowie an den Ausschuss für Arbeit und Soziales zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb - Drucksache 16/10145 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Günter Krings, CDU/CSU, Dirk Manzewski, SPD, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP, Ulla Lötzer, Die Linke, Nicole Maisch, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentarischen Staatssekretärs Alfred Hartenbach.1) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/10145 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({1}), Winfried Nachtwei, Marieluise Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für klare menschen- und völkerrechtliche Bindungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr - Drucksache 16/8402 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Holger Haibach, CDU/CSU, Christoph Strässer, SPD, Florian Toncar, FDP, Dr. Norman Paech, Die Linke, Volker Beck ({4}), Bündnis 90/Die Grünen, und des fraktionslosen Gert Winkelmeier. 1) Anlage 14

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr leisten seit vielen Jahren in Auslandseinsätzen einen wichtigen Beitrag nicht nur für die Sicherheit Deutschlands, sondern auch für den Schutz der Menschenrechte. Sie nehmen teil an humanitären und friedenssichernden Missionen und sorgen durch ihre Präsenz für den notwendigen Schutz, der in einer Krisenregion erst die unabdingbaren Voraussetzungen für den Wiederaufbau schafft: Stabilität und Sicherheit! Dafür gebührt ihnen unser tief empfundener Dank. Militärisches Handeln findet allerdings nicht im luftleeren Raum statt. Das bedeutet, dass das Handeln von Soldatinnen und Soldaten von verschiedenen Faktoren abhängig ist: vom Einsatzgebiet, von der Aufgabenstellung und nicht zuletzt von den anderen Akteuren vor Ort ob feindlich, freundlich oder neutral. Militärisches Handeln wird schließlich nicht alleine von der Bundeswehr geleistet, sondern in der Regel in Zusammenarbeit mit anderen Partnern im Rahmen der UN, der EU oder der NATO. Vor diesem Hintergrund entstehen neue Fragestellungen und Probleme, die der Antrag, den wir heute debattieren, aufgreift. Diese Fragestellungen sind auch deshalb wichtig, weil die Bundeswehr über mehr als vier Jahrzehnte nicht in Auslandseinsätze eingebunden war und sich somit viele Fragen bis Mitte der 90er-Jahre einfach nicht gestellt haben. Ich möchte in diesem Zusammenhang eine Bemerkung vorausschicken: Jeder militärische Einsatz, der auf den Schutz der Menschenrechte zielt, verliert in dem Augenblick dramatisch an Legitimation, in dem die militärisch Handelnden Mittel und Wege nutzen, die den Menschrechten zuwiderlaufen. Schon aus dieser Erwägung heraus - ohne auf die zwingende moralische Notwendigkeit zur Einhaltung der Menschenrechte einzugehen muss sich das Handeln der internationalen Staatengemeinschaft und damit eben auch der Bundeswehr an menschenrechtlichen Standards orientieren. Ich bin der festen Überzeugung, dass der Bundesverteidigungsminister, die militärische Führung der Bundeswehr und auch die Soldatinnen und Soldaten sich dieser Tatsache bewusst sind und auch in den allermeisten Fällen danach ihr Handeln ausrichten. Es ist jedoch nicht zu bestreiten, dass es in der Vergangenheit vereinzelt zu nicht hinnehmbaren Verletzungen dieser Prinzipien gekommen ist. Diese müssen aufgeklärt und die Ursachen hierfür beseitigt werden. Es ist mir allerdings wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich tatsächlich um Einzelfälle und nicht um ein „Massenphänomen“ handelt. Dennoch hat der vorliegende Antrag insofern seine Berechtigung, als er die Schwerpunkte anspricht, die für ein an menschenrechtlichen Standards orientiertes Handeln entscheidend sind: entsprechende Ausbildung, klare Befehlsstrukturen und ebenso klare Vorgaben für das Verhalten im Einsatz. Allerdings versucht der Antrag, den Anschein zu erwecken, diese Punkte seien bisher vernachlässigt oder gar nicht beachtet worden. Und diesen Versuch kann man getrost und mit guten Gründen als gescheitert ansehen. Gehen wir die Punkte im Einzelnen durch: „Klarheit über die menschen- und völkerrechtlichen Bindungen und die Grenzen des zulässigen Vorgehens bei Auslandseinsätzen zu schaffen“, wie es der erste Punkt Ihres Antrags fordert, ist doch mindestens genauso eine Herausforderung an den Deutschen Bundestag wie an die Bundesregierung. Wenn dem nicht so wäre, dann hätten wir als Abgeordnete im Rahmen der Mandatsverlängerung, aber auch im Rahmen unserer Mitwirkungsrechte im Wege des Parlamentsbeteiligungsgesetzes unsere Arbeit schlecht gemacht. Diesen Eindruck habe ich aber vor dem Hintergrund der intensiven, oft kritischen Debatten in diesem Haus und der noch intensiveren Arbeit in den beteiligten Ausschüssen nicht. Sie fordern weiterhin, dass Soldatinnen und Soldaten bei Auslandseinsätzen nicht durch Befehle Vorgesetzter in eine Lage gebracht werden sollen, in der sie zu Handlungen angehalten werden, die völker- und menschenrechtlichen Standards widersprechen. Diese Forderung ist, so richtig sie sein mag, doch ein wenig banal. Das Verbot von Befehlen, die gesetzlichen Bestimmungen zuwiderlaufen, ist ein alt hergebrachter Grundsatz der Bundeswehr und gilt im In- wie im Ausland. Das soll nicht heißen, dass es solche Fälle nicht hin und wieder gibt. Aber die Regelungen, die solches verbieten, gibt es eben auch. Ich verweise hier nur auf § 10 Abs. 4 des Soldatengesetzes, der es deutschen Soldaten verbietet, strafrechtswidrige Befehle anzunehmen und auszuführen. Konkret heißt es: „Er ({0}) darf Befehle nur zu dienstlichen Zwecken und nur unter Beachtung der Regeln des Völkerrechts, der Gesetze und der Dienstvorschriften erteilen.“ Hier wird das Völkerrecht ausdrücklich erwähnt. Im Übrigen will ich an dieser Stelle betonen und deutlich machen, dass die Bundeswehr schon seit langer Zeit ihre Soldatinnen und Soldaten intensiv auf Auslandseinsätze vorbereitet und dass dabei der Aspekt „Einhaltung von menschenrechtlichen und völkerrechtlichen Standards“ eine wichtige Rolle spielt. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf das VN-Ausbildungszentrum der Bundeswehr in Hammelburg verweisen. Da diese Einrichtung über eine Homepage verfügt, kann man sich im Internet über die Aktivitäten informieren, die unternommen werden, um militärisches und ziviles Personal für Einsätze im Rahmen der UN zu schulen. Dabei kann man auch feststellen, dass es eine intensive Zusammenarbeit auch mit Institutionen der Zivilgesellschaft und auch mit dem Zentrum für internationale Friedenseinsätze gibt. Insofern werden hier unter anderem genau die Inhalte vermittelt, die in dem vorliegenden Antrag eingefordert werden. Darüber hinaus werden die Einsatzkräfte auch mit sogenannten Taschenkarten ausgestattet, die ihnen in Kurzform im Einsatzfall als Informationsquelle über die Grenzen ihres Handelns zur Verfügung stehen. Für uns als CDU/CSU-Fraktion ist klar, dass wir die Einsätze der Bundeswehr und das Verhalten der Soldatinnen und Soldaten immer im Einklang mit den Standards des Völkerrechts und der Menschenrechte sehen wollen. Dass dies, besonders bei dem letztem Punkt, den der Antrag erwähnt, nämlich der Zusammenarbeit mit anderen Zu Protokoll gegebene Reden militärischen Verbänden aus anderen Nationen, manchmal zu schwierigen Situationen geführt hat und vielleicht auch führen wird, ist klar. Aber auch hier sollten wir uns davor hüten, Verbündete sozusagen unter Generalverdacht zu stellen, auch wenn bestimmte Vorfälle in der Vergangenheit Besorgnis erregt haben. Die Verantwortung, die Bundeswehr im Rahmen des Völkerrechts und in Übereinstimmung mit menschenrechtlichen Standards operieren zu lassen, sehen wir in gleicher Weise wie die Antragsteller. Der Eindruck, hier werde zu wenig getan, wird aber von uns nicht geteilt. Schließlich haben wir als Parlament die Verantwortung, Ja oder Nein zu sagen zu einem Einsatz. Diese Verantwortung schließt die Prüfung der Frage mit ein, ob der jeweilige Einsatz vertretbar ist und im Einklang mit den oben genannten Grundsätzen steht.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Bundesrepublik Deutschland ist seit vielen Jahren Vollmitglied der Vereinten Nationen. Mit dem Beitritt haben wir die Geltung der Charta anerkannt, und zwar insgesamt und nicht nur in Teilbereichen. Anerkannt haben wir damit auch Kapitel VII, wonach bei „Bedrohung“ oder einem „Bruch des Friedens oder einer Angriffshandlung“ auch militärische Sanktionsmaßnahmen nach Art. 42 durchgeführt werten können, wenn andere Maßnahmen nach Art. 41 VN-Charta unzulänglich sind oder sein würden. Unter diesen Obliegenheiten muss auch Deutschland sich der Verantwortung als Mitglied der Vereinten Nationen stellen und bei Vorliegen der völkerrechtlichen Voraussetzungen politisch entscheiden, ob und in welchem Umfang nach entsprechender Anforderung die Bundeswehr sich an derartigen friedenssichernden Maßnahmen der Vereinten Nationen beteiligt. Die einfache wie populistische Forderung „Keine Auslandseinsätze der Bundeswehr“ ist insofern verantwortungslos, die Bundeswehr ist fester Bestandteil internationaler Bündnissysteme. Sie übernimmt seit Jahren wichtige internationale Verantwortung und leistet mit ihren Auslandseinsätzen einen wichtigen Beitrag zur Friedenssicherung in Krisenregionen. Sie unterstützt die Vereinten Nationen bei der Wahrung der Menschenrechte, bei der Herstellung und Wahrung der Sicherheit in Krisengebieten und schafft damit Räume für zivile Organisationen bei der Auslieferung humanitärer Hilfsgüter und zum zivilen Wiederaufbau. Dabei finden militärische Einsätze nicht in rechtsfreien Räumen statt. Im Zentrum jedes Einsatzes muss die Wahrung der Menschenrechte stehen, wie sie sich aus den Grundsätzen des humanitären Völkerrechts, aber auch aus den Wertentscheidungen unseres Grundgesetzes ergeben. Sicherheitspolitik kann nur dann glaubwürdig sein, wenn sie bereit und fähig ist, Freiheit und Menschenrechte auch durchzusetzen - und vor allem auch selbst danach zu handeln. Deshalb geht die grundsätzliche Stoßrichtung des Antrages auch unter dem Aspekt einer notwendigen sachlich und öffentlich geführten Debatte zu diesem Thema in Ordnung. Wir müssen uns in Zukunft verstärkt die Fragen stellen: Wie weit reichen die Menschenrechtsverpflichtungen der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen? Wie werden die Soldaten informiert und geschult? Wie kann die Einhaltung der Verpflichtungen kontrolliert werden? Das sind Fragen, mit denen sich die zuständigen Ressorts und der Deutsche Bundestag weiter zu beschäftigen haben. Vor einigen Monaten berichtete das Magazin „Der Spiegel“ von einem Einsatz der Krisenreaktionkräfte in Afghanistan. Die Einheit sollte einen Taliban-Kommandeur dingfest machen, auf dessen Konto eine Reihe von Sprengfallen ging. Er wurde ausfindig gemacht, die Operation wochenlang geplant. Kurz vor dem Zugriff wurden die Pläne entdeckt. Der Verdächtige entkam, obwohl er hätte getötet werden können. Deutsche Soldaten beteiligen sich nicht am Targeting - dem gezielten Ausschalten von Feinden. Andere Nationen sehen das anders, was durchaus zu Reibungspunkten und Zielkonflikten führt. Die deutschen Soldaten brauchen Klarheit und Rechtssicherheit für ihr Handeln. Das gilt auch für die Gewahrsam- und Festnahme von Personen. Wie lange dürfen diese festgehalten werden, wem dürfen sie übergeben werden, welche Regeln gelten? Nach einem von Amnesty International vorgelegten Afghanistan-Report sei zum Beispiel nicht auszuschließen, dass überstellte Personen von afghanischer Seite misshandelt würden. Aus diesem Grunde wird derzeit auch ein Abkommen zwischen Deutschland und Afghanistan vorbereitet, um sicherzustellen, dass an staatliche afghanische Behörden zu übergebende Personen nach den internationalen und vertraglichen menschenrechtlichen Verpflichtungen behandelt werden und die Todesstrafe nicht an ihnen vollstreckt wird. Dies ist zur Herstellung von Rechtssicherheit dringend erforderlich, sogenannte Diplomatische Zusicherungen reichen hierfür nach meinem Verständnis nicht aus. Die Verpflichtung auf das Grundgesetz war und ist eines der Gründungsprinzipien der Bundeswehr. Bundeswehrsoldaten sind wie jeder andere Bürger auch den Werten des Grundgesetzes verpflichtet - auch bei Auslandseinsätzen. Es gibt keinen begründeten Zweifel daran, dass die Bundeswehr nicht alles unternimmt, die Einhaltung des Völkerrechts und der Menschenrechte zu gewährleisten. Die Ausrichtung ihres Handelns an die Einhaltung der elementaren Menschenrechte gehört zum Selbstverständnis der Soldatinnen und Soldaten. Gleichzeitig stellt der „Staatsbürger in Uniform“ den demokratischen Gegenentwurf zum unkritischen Befehlsempfänger dar. Dabei sind zwei Ebenen zu unterscheiden - zum einen die Ebene der dienstrechtlichen Vorgaben, zum anderen die Ebene des höherrangigen Rechts. Die Soldatinnen und Soldaten werden im Rahmen ihrer Ausbildung, einsatzlandspezifisch vor jedem Auslandseinsatz und auch während des Einsatzes über die Grundlagen des Humanitären Völkerrechts und des Internationalen Rechts ausgebildet. Auf die allgemeinen und besonderen Bestimmungen beim Festhalten oder Festnehmen von Personen wird in den sogenannten Taschenkarten, die den Soldatinnen und Soldaten zur Verfügung gestellt werden, eingegangen. Die Rechtsgarantien für Personen, die bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr in Gewahrsam genommen werden, wurden unter anderem in einem Befehl Zu Protokoll gegebene Reden vom 26. April 2007 im Einzelnen aufgeführt. Doch letztlich stellen die zentralen Dienstvorschriften der Bundeswehr eine untergesetzliche Normbasis ohne Außenwirkung dar. Deshalb bleibt weiter zu fragen, inwieweit auf der Ebene des höherrangigen Rechts Grundrechte aus dem Grundgesetz oder völkerrechtliche Verpflichtungen wie die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte oder der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte mittelbar oder besser unmittelbar Anwendung finden. Die Bundesregierung erklärt dazu, bei Einsätzen der Bundeswehr im Ausland, insbesondere auch im Rahmen von Friedensmissionen, sichere Deutschland allen Personen, soweit sie der Herrschaftsgewalt der Bundeswehr unterstehen, die Gewährung der im Zivilpakt anerkannten Rechte zu. Diese Erklärung stößt bei großen Teilen der Nichtregierungsorganisationen zu Recht auf Kritik. Juristisch spitzfindig verberge sich hinter der Erklärung nur eine Zusicherung der Paktrechte. Im Umkehrschluss könne man daraus schließen, dass die völkerrechtlichen Regelungen eigentlich keine unmittelbare Anwendung fänden, man sich aber freiwillig bereit erkläre, sie anzuwenden. Außerdem würden die Rechte nur Personen zugesichert, die der deutschen Herrschaftsgewalt unterstehen. Die Bundesregierung vertrete die Auffassung, die Bundeswehr übe ausschließlich Hoheitsgewalt der Vereinten Nationen aus, wenn sie im Rahmen eines Mandats des Sicherheitsrates handele, sodass die Grundrechte, die EMRK und der Zivilpakt keine Anwendung fänden. Denn auf Handlungen der Vereinten Nationen finden insbesondere internationale Menschenrechtsabkommen keine Anwendung, weil nur Staaten Vertragspartner dieser Übereinkommen sind. In diesem Fall würde nur das zwingende Völkerrecht gelten, dessen Schutzstandard unter dem der Menschenrechtsabkommen liegt. Eine solche Positionierung halte ich für unzureichend, relativiert sie doch den Charakter und die Verbindlichkeit der von uns ratifizierten Übereinkommen. Gerade in den Rechtswissenschaften finden auch andere Auslegungen Gehör. Für Einsätze der Bundeswehr nach Art. 24 Abs. 2 GG, der für internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen gilt, dürfen keine Hoheitsrechte vollständig übertragen werden. Beim Einsatz multinationaler Kontingente übertragen die Entsendestaaten nicht die vollständige Kommandogewalt. Auch Bundesregierung und Bundestag gehen schließlich davon aus, dass sie das Recht haben, für Auslandseinsätze der Bundeswehr nationale Bedingungen und Beschränkungen vorzusehen. Neben dem Mandat der Vereinten Nationen existiert also auch ein nationales Mandat. Es gelte eine Mehrebenenverantwortlichkeit. Aus diesem Grund bestehe kein Anlass, die Grundrechte des Grundgesetzes auf extraterritoriale Handlungen der Bundeswehr nicht anzuwenden. Die Solange-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und die Bosphorus-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte lassen es sogar geboten erscheinen, jeweils zu überprüfen, ob in materieller Hinsicht ein vergleichbarer Grundrechtsschutz besteht. Es bleibt zu überprüfen, ob und inwieweit kontextbezogen Modifikationen des Schutzumfanges zulässig sind. Modifikationen können sich im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung oder mit Blick auf die praktische Konkordanz im Widerstreit mit anderen Grundrechten und Verfassungsgütern ergeben. Doch im Ergebnis gilt die Verpflichtung der Gewährleistung des höchstmöglichen Schutzniveaus, und zwar verbindlich und ausnahmslos. Ein weiterer zentraler Punkt ist die unmittelbare Anwendbarkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Zivilpaktes. Im Fall Saramati hat der EGMR entschieden, die Menschenrechtskonvention sei nicht anwendbar, weil nationale Kontingente bei Friedensmissionen der Vereinten Nationen ausschließlich deren Hoheitsrechte ausüben wurden. Die Entscheidung wurde zu Recht mit Verwunderung aufgenommen, da das Gericht zum einen nicht die Frage aufwarf, ob nationale Kontingente parallel auch nationale Hoheitsgewalt ausüben, zum anderen weil der Gerichtshof von seiner eigenen Rechtsprechung abwich, wonach es bei der Anwendung der Menschenrechtskonvention bleibt, wenn ansonsten kein gleichwertiger Menschenrechtsschutz gewährleistet wäre. Aus der Intension der Konvention heraus dürfe kein schutzloser menschenrechtsfreier Raum geduldet werden. Die aktuelle Debatte in der Zivilgesellschaft und Fachöffentlichkeit zeigt, dass noch nicht auf alle Fragen und Herausforderungen die abschließenden Antworten gefunden wurden, weder von juristischer Seite, was auch auf sich widersprechende Urteile der nationalen und internationalen Gerichte zurückzuführen ist, noch von politischer Seite. Richtig ist es, auf konkrete Fragen im Rahmen jeden Einsatzes auch pragmatische Antworten zu suchen, wie die Verhandlungen mit der afghanischen Regierung über ein Abkommen zur Überstellung festgenommener Personen. In der Fachöffentlichkeit ist in der Diskussion den verfahrensrechtlichen Schwierigkeiten bei vorübergehend festgehaltenen Personen und der gegebenenfalls gebotenen Richtervorführung mit einer Zuordnung von Richtern im Einsatzgebiet oder der Möglichkeit der Videokonferenz zu begegnen. Gleichzeitig gilt es aber auch, quasi auf der Metaebene die menschen- und völkerrechtlichen Rahmenbedingungen weiter zu konkretisieren. Dazu gehören sicherlich auch die Überlegungen einer expliziten Verankerung der Menschenrechte in den Mandaten der Vereinten Nationen und des Bundestages, ein Weg, den ich vom Ansatz her nachdrücklich befürworte. Grundsätzlich bin ich auch der Auffassung: je konkreter die Mandatierung erfolgt, je mehr Wert auf den zivilen Wiederaufbau, auf Nation Building und Capacity Building gelegt wird, je konkreter die Menschenrechte Verankerung finden, desto besser. In diesem Zusammenhang möchte ich noch abschließend darauf hinweisen, dass der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe anlässlich des 60. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte plant, im Dezember eine Anhörung zum Thema „Menschenrechte und extraterritoriale Staatenpflichten“ durchzuführen. Das Thema bleibt also auf der politischen Agenda, ich freue mich auf eine sachgerechte und angemessene Debatte in den Ausschüssen. Alle Beteiligten, insbesondere auch die Soldatinnen und Soldaten, die in solchen Einsätzen viel riskieren müssen, haben Anspruch Zu Protokoll gegebene Reden auf Klarheit und Rechtssicherheit. Den kann nur die Politik schaffen.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der vorliegende Antrag lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage, welche völker- und menschenrechtlichen Grundsätze die Soldaten der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen binden. Damit soll sichergestellt werden, dass die Soldaten die Menschenrechte der Bevölkerung im Einsatzland achten. Zudem soll die Truppe klare Handlungsanweisungen erhalten, um zu verhindern, dass die Soldaten möglicherweise an Aktionen beteiligt werden, die ihr Mandat überschreiten und für die sie später zur Rechenschaft gezogen werden. Die Sicherstellung beider Ziele ist unerlässlich, um die Unterstützung der Bevölkerungen für die Präsenz der Bundeswehr in Einsatzgebieten zu bewahren und so zur Sicherheit der Soldaten beizutragen. Auch wenn der vorliegende Antrag sich mit einer wichtigen Thematik befasst, wählen die Grünen leider einen Zungenschlag, der dem engagierten Verhalten der deutschen Soldaten nicht gerecht wird. Der Antrag impliziert ein breites Fehlverhalten der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen. Die Formulierungen erwecken den Eindruck, als ob die Soldaten ohne menschen- und völkerrechtliche Bindungen bei Auslandseinsätzen vorgehen würden. Ferner unterstellen sie, dass bei Auslandseinsätzen grund- und menschenrechtliche Verpflichtungen nicht eingehalten werden und Soldaten möglicherweise zu Handlungen angeleitet werden, für die sie später strafrechtlich belangt werden können. Diese Prämissen treffen nicht zu. Richtig ist jedoch, dass der Dienstherr in einigen Fällen in seiner Befehlslage Unklarheit für die Soldaten geschaffen hat, die behoben werden müssen. Zur Rechtslage ist zu sagen, dass die Soldaten der Bundeswehr wie alle anderen deutschen Bürger an das deutsche Grundgesetz gebunden sind, in dem es in Art. 1 Abs. 1 GG heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Bedeutsam ist auch, dass die Bundeswehr als Teil der deutschen öffentlichen Gewalt bei Handlungen im Ausland nicht nur den Verpflichtungen der völkerrechtlich normierten Menschenrechte unterliegt, sondern auch in die durch Art. 1 Abs. 3 GG normierte Bindung an die deutschen Grundrechte einbezogen ist. Die Antragssteller führen am Anfang des Begründungsteils treffend aus: „Auslandseinsätze der Bundeswehr sind zwingend an das Völkerrecht und die Menschenrechte gebunden“. Seit ihrer Gründung gilt für die Soldaten der Bundeswehr, dass Befehlen, die das humanitäre Völkerrecht verletzen, nicht Folge zu leisten ist. Dabei ist weder die Erteilung solcher Befehle noch ihre Ausführung erlaubt. Ich möchte an dieser Stelle unterstreichen, dass das Verhalten der deutschen Soldaten bei Auslandseinsätzen den grund- und völkerrechtlichen Verpflichtungen gerecht wird. Vereinzelte Fälle von individuellem Fehlverhalten sind konsequent geahndet worden. In der Befehlslage hat das Bundesministerium der Verteidigung jedoch nicht immer die notwendige Sorgfalt walten lassen. Dazu möchte ich Ihnen ein Beispiel geben: Das Bundesverteidigungsministerium stellt den Soldaten wichtige Informationen oder Merksätze in Form von sogenannten Taschenkarten zur Verfügung. Dies sind kompakte Faltblättchen, welche die Soldaten griffbereit bei sich tragen sollen. In der 2006-er Ausgabe der Taschenkarte mit dem Titel „Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten“ wurde die Anweisung, dass die Soldaten der Bundeswehr die Regeln des humanitären Völkerrechts zu beachten haben, durch den Zusatz „soweit praktisch möglich“ eingeschränkt. Solche Fehler dürfen nicht vorkommen. Das Verteidigungsministerium ersetzte diese Textfassung im Juni 2008 durch eine Formulierung, die die vorbehaltlose Geltung des humanitären Völkerrechts wieder festschreibt. Der Antrag der Grünen geht auch auf die Behandlung von festgenommenen Personen durch die Bundeswehr ein. Das Bundesministerium der Verteidigung hat letztmalig durch den Befehl vom 26. April 2007 die Behandlung von Gefangenen durch die Bundeswehr geregelt. Mit diesem Befehl reagierte die Bundesregierung auf einen Antrag der FDP-Bundestagsfraktion auf Drucksache 16/2096 vom 30. Juni 2006. Es waren die Liberalen, die sich bereits vor über zwei Jahren mit diesem Themenkomplex befasst haben. Insofern hinken die Grünen der Debatte deutlich hinterher. Der Befehl des Ministeriums legt die menschenrechtskonforme Behandlung von Gefangenen fest. Da die Bundeswehr in Afghanistan keine Gefängnisse betreibt, werden Gefangene bisher an die örtlichen Behörden überstellt. Der angesprochene Befehl legt dazu fest: „Die Übergabe der in Gewahrsam genommenen Personen an Sicherheitskräfte aus Drittstaaten ist untersagt, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Beachtung menschenrechtlicher Mindeststandards nicht gewährleistet ist.“ Auch wenn der angesprochene Befehl einen Fortschritt bedeutet, besteht ein Defizit fort. So verlässt sich die Bundesregierung bei Überstellungen von Gefangenen weiterhin auf diplomatische Versicherungen des Empfängerstaates, anstatt sich durch regelmäßige, unangekündigte Kontrollbesuche ein eigenes Bild über die Haftbedingungen von überstellten Gefangenen zu machen. Also besteht hier noch Verbesserungsbedarf. Auf dieses Defizit zielt der vorliegende Antrag der Grünen jedoch leider nicht ab. In der Summe erweckt der Antrag der Grünen den Eindruck, dass die Einsätze der Bundeswehr nicht in einem klaren menschen- und völkerrechtlichen Rahmen stattfänden. Ferner seien die Soldaten der Gefahr ausgesetzt, zu Handlungen herangezogen zu werden, für die sie später strafrechtlich belangt werden könnten. Diese von den Antragsstellern vermutete rechtswidrige Praxis existiert so nicht. Daher zielt der Kern des Antrags ins Leere. Dennoch muss das Bundesministerium der Verteidigung weitere Verbesserungen in der konkreten Befehlslage vornehmen. Dies gilt insbesondere für die Sicherstellung der rechtsstaatlichen Behandlung von Gefangenen nach Überstellungen durch deutsche Stellen im Ausland. Die FDP hat auf diese Lücke bereits vor zwei Jahren aufmerksam gemacht. Zu Protokoll gegebene Reden Der in dem Antrag enthaltene Zungenschlag ist ein sprachlicher Duktus, der dem pflichtbewussten und engagierten Einsatz unserer Soldaten nicht gerecht wird. Daher lehnen wir diesen Antrag der Grünen ab.

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

In ihrem Antrag fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen menschen- und völkerrechtliche Standards für die Einsatzregeln der Bundeswehrsoldaten in Auslandseinsätzen. Diese müssen aber nicht nur mit dem Menschen- und Völkerrecht, sondern auch mit dem Grundgesetz vereinbar sein. Ebenfalls soll die Bundesregierung sich verpflichten, ihre Soldatinnen und Soldaten vor Einsätzen, die mit den Menschen- und Völkerrechten sowie mit dem Grundgesetz nicht kompatibel sind, zu bewahren. Das findet in vielen Punkten unsere Zustimmung. Allerdings gibt es einen zentralen Punkt, der unserer Auffassung nach fehlt: die generelle Vereinbarkeit von Auslandseinsätzen mit dem Völkerrecht. So fordert Die Linke seit langem, dass Auslandseinsätze nur dann gestattet werden, wenn sie völkerrechtskonform sind. Leider war und ist dies bis dato nicht immer der Fall. Sie erinnern sich nicht gerne daran: Aber die Bombardierung Jugoslawiens war ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht. Der damalige Außenminister Fischer hat seinerzeit mit dem untauglichen Argument der sogenannten humanitären Intervention versucht, den Überfall völkerrechtlich zu rechtfertigen. Es lag jedoch weder ein Fall der Selbstverteidigung noch ein Mandat des UN-Sicherheitsrats vor. Das war eine dreiste Verletzung des Völkerrechts. Die NATO hat Soldatinnen und Soldaten in einen völkerrechtswidrigen Krieg geschickt, in dem zudem zahlreiche Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung begangen wurden. Aber auch der gegenwärtige Einsatz im Rahmen des Antiterrorkampfes der OEF in Afghanistan ist völkerrechtlich nicht gedeckt. Auch wenn man mit Art. 51 der UN-Charta argumentiert - nach sieben Jahre Besatzung in Afghanistan ist der Verteidigungsfall längst hinfällig geworden. Und selbst die indirekte Beteiligung der Bundeswehr am Irakkrieg ist völkerrechtlich nicht gedeckt. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Fall Pfaff eindeutig bestätigt, dass die Unterstützungsleistung gegen das Völkerrecht verstieß. Das BVerwG sagt in seinen Leitsätzen sehr deutlich, ich zitiere: 6. … Für den Krieg konnten sich die Regierungen der USA und des UK weder auf sie ermächtigende Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates noch auf das in Art. 51 UN-Charta gewährleistete Selbstverteidigungsrecht stützen. 7. Weder der NATO-Vertrag, das NATO-Truppenstatut, das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut noch der Aufenthaltsvertrag sehen eine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland vor, entgegen der UN-Charta und dem geltenden Völkerrecht völkerrechtswidrige Handlungen von NATO-Partnern zu unterstützen. Wenn ein Auslandseinsatz der Bundeswehr völkerrechtskonform ist, so müssen es auch die Regeln für die Soldatinnen und Soldaten sein. So wird in dem Antrag richtig festgestellt, dass es der Bundesregierung bisher nicht gelungen ist, „die menschen- und völkerrechtlichen Grenzen und Bindungen bei Auslandseinsätzen klar zu definieren und erlaubtes von unerlaubtem Handeln deutlich abzugrenzen.“ Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sind zwar mit einer sogenannten Taschenkarte ausgestattet, aber diese lässt genug Spielräume, das humanitäre Völkerrecht zu brechen. Deutsche Soldatinnen und Soldaten laufen deshalb permanent Gefahr, das humanitäre Völkerrecht zu brechen: bei Gefangennahmen und bei der Behandlung von Gefangenen, mit der Auslieferung von Gefangenen an Dritte und mit den Aufklärungsflügen. Die Kriegsführung der USA in Afghanistan hat schon seit langem und in unerträglichem Maße die Regeln des humanitären Völkerrechts verletzt. Und je tiefer sich die Bundeswehr in diesen Krieg hineinziehen lässt, umso stärker läuft sie Gefahr, sich in die gleiche völkerrechtswidrige Kampfführung zu verstricken. Nach dem humanitären Völkerrecht sollte bei jedem Einsatz der Schutz der Zivilbevölkerung oberstes Gebot sein. Dies ist oft nicht der Fall, wie wir in Afghanistan fast täglich sehen. Bundesregierung und NATO sprechen von Kollateralschäden, wenn sie Tote in der Zivilbevölkerung, die Zerstörung von Krankenhäusern und wichtiger Infrastruktur meinen. Dies ist nicht nur eine zynische Verharmlosung, sondern auch eine Verschleierung der Tatsache, dass diese Kampfeinsätze sich außerhalb des Völkerrechts bewegen. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verfehlt zwar unserer Meinung nach das Kernproblem von Auslandseinsätzen und sogenannten Friedensmissionen. Dennoch ist es schon ein Fortschritt, dass er sich mit den Einsatzregeln für Soldatinnen und Soldaten auseinandersetzt und die Bundesregierung auffordert, hier Klarheit zu schaffen. Dies verlangt der vorliegende Antrag, und er findet deshalb unsere Zustimmung.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist schon bemerkenswert, dass wir die Bundesregierung auffordern müssen, endlich Klarheit über die menschen- und völkerrechtlichen Bindungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr zu schaffen. Auslandseinsätze der Bundeswehr - auch schwierige und gefahrvolle - finden ja schon seit einigen Jahren statt. Erst in den vergangenen Woche haben wir die Verlängerung der deutschen Beteiligung an den UN-Einsätzen im Sudan und vor der libanesischen Küste beschlossen. Die Beratung über die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan steht im kommenden Monat an. Umso beachtlicher ist es, dass es weiterhin keine Klarheit über den rechtlichen Rahmen dieser Einsätze gibt. Dies stellt nicht nur der Bundesregierung ein Armutszeugnis aus, sondern auch die beteiligten Soldaten vor große Probleme. Nach Art. 1 des Grundgesetzes binden die Grundrechte die vollziehende Gewalt, also auch die Streitkräfte, und zwar auch, soweit die Wirkungen ihrer Betätigung im Ausland eintreten. Einen territorialen Vorbehalt kennt das Grundgesetz nicht. Diese Feststellung ist auch in eiZu Protokoll gegebene Reden Volker Beck ({0}) nem anderen aktuellen Kontext von Bedeutung: Bei Einsätzen außerhalb des deutschen Staatsgebiets, beispielsweise auf Hoher See im Rahmen von FRONTEX zur Abwehr unerwünschter Zuwanderung. Im Hinblick auf den Einsatz der Bundeswehr im Ausland geht es um ganz konkrete Sachverhalte von großer praktischer Relevanz: Dürfen Personen festgenommen und festgehalten werden? Wenn ja, auf welcher Rechtsgrundlage und für welche Dauer? Wie steht es mit dem Gesetzesvorbehalt und dem Richtervorbehalt? Dürfen Festgenommene an andere Institutionen überstellt werden? Insbesondere letztere Frage stellt sich aktuell in Afghanistan, wenn Personen an den afghanischen Geheimdienst überstellt werden. Wie will die Bundesregierung sicherstellen, dass sie nicht gefoltert werden, ein faires Gerichtsverfahren erhalten und nicht zum Tode verurteilt und hingerichtet werden? Denn eines muss unmissverständlich klar sein: Jegliche deutsche Unterstützungsleistungen - auch unterhalb der direkten Übergabe selbst ergriffener Verdächtiger - begründen im Falle von Verstößen gegen die Menschenrechte eine Mitverantwortung. Deutsche staatliche Gewalt darf keine Beihilfe zur Folter oder unrechtmäßiger Inhaftierung leisten! Der Untersuchungsausschuss zu Murat Kurnaz und dem Einsatz der KSK in Afghanistan im Jahre 2002 hat in der vergangenen Woche seine abschließende Sitzung abgehalten. Sein Bericht wird uns hier im Hause noch beschäftigen. Schon jetzt lässt sich aber sagen: Der Ausschuss hat die Erkenntnis zu Tage gefördert, dass die Sondereinsatzkräfte damals nach Afghanistan beordert wurden, ohne dass diese Fragen auch nur ansatzweise geklärt waren. Das hat zu den bekannten Problemen geführt, unter anderem dem fragwürdigen Einsatz deutscher Soldaten bei der Bewachung von Personen, die im US-Gefangenenlager in Kandahar interniert wurden, bevor sie widerrechtlich nach Guantanamo verschleppt wurden. Erst im Jahre 2007 wurden durch einen Befehl des Verteidigungsministeriums grundlegende Handlungsanweisungen an die Soldaten gegeben: Festgenommene sind menschlich zu behandeln, müssen versorgt und dürfen nicht gefoltert werden. So begrüßenswert wie selbstverständlich diese Anweisungen sind, fällt doch auf, dass sie jegliche Bezugnahme auf die Grundrechte des Grundgesetzes, die Europäische Menschenrechtskonvention ({1}) oder Normen des humanitären Völkerrechts vermeiden. Dadurch wird die Unsicherheft darüber, welchem Rechtsregime das Handeln unterliegt, eher noch vergrößert. Gelten die Grundrechte des Grundgesetzes? Gelten die internationalen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte? Unterliegt der Einsatz den Regeln des humanitären Völkerrechts? Der sogenannte bewaffnete Kampf gegen Straftäter, wie der Einsatz von der Bundesregierung bezeichnet wird, findet mangels Festlegung in einer rechtlichen Grauzone statt. Das Konstrukt der „Strafverfolgung mit militärischen Mitteln“ führt dazu, die rechtlichen Grundlagen des Einsatzes zu vernebeln und sich von rechtlichen Bindungen zu lösen. Der ehemalige Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtsfragen im Bundesministerium der Justiz. Stoltenberg, hat jüngst in einer juristischen Fachzeitschrift erneut den Finger in die Wunde gelegt und gefordert, die Bundesregierung solle unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass sie bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr die grundsätzliche Geltung der Grundrechte des Grundgesetzes sowie die Anwendbarkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention ({2}) und des UN-Zivilpakts anerkennt. Denn die Grundrechte des Grundgesetzes finden auch dann Anwendung, wenn Handlungen der deutschen öffentlichen Gewalt außerhalb des deutschen Staatsgebietes stattfinden. Allein aus der Eingliederung in eine internationale Organisation oder aus der Zusammenarbeit mit Sicherheitskräften anderer Staaten folgt keine Veränderung des grundrechtlichen Prüfungsmaßstabs. Auch für die Ausübung von deutscher Hoheitsgewalt im Ausland gibt es keine grundrechtsfreien Räume. Nicht nur der Deutsche Bundestag braucht Klarheit über den Umfang und die rechtlichen Grenzen eines von ihm zu verantwortenden Auslandseinsatzes. Insbesondere die beteiligten Soldatinnen und Soldaten benötigen Rechtssicherheit. Sie dürfen nicht in rechtlichen Grauzonen operieren, und sie dürfen nicht im Unklaren gelassen werden, ob ihr Vorgehen rechtlich zulässig ist oder einen Rechtsverstoß darstellt

Gert Winkelmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003864, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Als ich den vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen durchgelesen hatte, war ich versucht, wie die Götter in der Odyssee in homerisches Gelächter auszubrechen. Ich möchte kreativ zitieren: Jetzo standen die Götter, die Geber des Guten, im Vorsaal; und ein langes Gelächter erscholl bei den seligen Göttern, als sie die Künste sahn des klugen Erfinders Volker Beck. Ich habe mir das Lachen allerdings verkniffen, denn dazu ist das Thema viel zu ernst. Schon der erste Satz des Antragsbegehrens hat es in sich. Da ist von der „völkerrechtlich korrekten“ Mandatierung von Auslandseinsätzen die Rede, als ob das bisher alles völlig in Ordnung gewesen wäre: vom gegen die Charta der UNO verabschiedeten Vorratsbeschluss am 16. Oktober 1998 zum Luftkrieg gegen Jugoslawien bis zur Beteiligung der Bundeswehr an der Operation Enduring Freedom. Demnächst, im November, werden wir wieder erleben, dass alle Befürworter und auch die möglichen grünen Gegner einer OEF-Mandatsverlängerung wahrheitswidrig Stein und Bein behaupten, die Resolutionen 1368 und 1373 ließen die Anwendung militärischer Gewalt zu. Ich sage hier jetzt schon einmal an die Adresse der Bundesregierung: Legen Sie dem Deutschen Bundestag nicht zum x-ten Mal einen Antrag vor, der sich auf eine nicht existierende Rechtsgrundlage beruft! Zurück zum heutigen Antrag. Es ist einfach unglaublich, mit welcher Chuzpe Sie, die Grünen, hier argumentieren. Jahrelang haben Sie sich ohne Widerstand von IhZu Protokoll gegebene Reden rem informellen Anführer „an der Nase der humanitären Intervention“ - so der vorwurfsvolle Bundestags-Originalton Fischer an die Regierung des Bundeskanzlers Kohl im Jahre 1995 - in Kriege führen lassen, um die Regierungsbeteiligung nicht aufs Spiel zu setzen. Und nun entdecken Sie Mängel bei der Einhaltung der Standards des humanitären Kriegsvölkerrechts, die Sie längst hätten abstellen können. Denn Sie trugen doch länger Regierungsverantwortung als die jetzige Koalition. Unter Ihrer aktiven Mitwirkung hat doch der Kriegskurs dieses Landes begonnen. Sie haben doch den Nachkriegskonsens Deutschlands aufgekündigt, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen sollte, weil Herr Fischer sonst nicht hätte Außenminister werden können. Allein aus diesem Grunde haben Sie den Bürgerkrieg im Kosovo zum Genozid umgelogen und die Basis dafür gelegt, dass Art. 26 des Grundgesetzes, das Verbot des Angriffskrieges, droht, zur Worthülse zu verkommen. Damit jetzt keine Missverständnisse aufkommen: Das Anliegen des Antrags unterstütze ich. Selbstverständlich dürfen unsere Soldaten nicht in rechtlichen Grauzonen allein gelassen werden. Und selbstverständlich haben Regierung und Bundeswehrführung alles zu tun, um ein völkerrechtlich einwandfreies Verhalten sicherzustellen. Da gibt es in der Tat Mängel, die abgestellt werden müssen. Das gebietet schon allein die Pflicht zur Fürsorge. Aber - das ist doch der entscheidende Punkt -: Diese Fürsorge fängt hier im Deutschen Bundestag an. Hier wird über die Auslandseinsätze der Bundeswehr entschieden. Und dies darf nur auf einer glasklaren Rechtsgrundlage erfolgen. Das ist jenseits der politischen Beurteilung des Einzelfalls über die Parteigrenzen hinweg unser aller Verantwortung und Verfassungspflicht. Beidem ist die Mehrheit hier im Parlament seit 1998 nur in Einzelfällen gerecht geworden. Das kann natürlich auch nicht gelingen, wenn die eigentlichen Gründe für einen militärischen Einsatz nicht benannt und stattdessen Vorwände konstruiert werden. Die erste Lüge gebiert dann automatisch die nächste. Die Fraktion der Antragsteller hat 1998 mehrheitlich entschieden, dass sich die Piloten der ECR-Tornados an Operationen beteiligen, die nach den für deutsches Handeln geltenden Normen nicht zulässig waren. Nun fordern sie, dass dies künftig nicht mehr der Fall sein dürfe; und begründen Ihren Antrag mit der völlig richtigen Aussage: „Auslandseinsätze der Bundeswehr sind zwingend an das Völkerrecht ... gebunden.“ Das will ich gerne als Ausdruck eines Lernprozesses in der Opposition werten, und ich hoffe, dass ich Sie bei künftigen Entscheidungen nicht mehr daran erinnern muss.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8402 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Vorschriften auf dem Gebiet des ökologischen Landbaus an die Verordnung ({0}) Nr. 834/2007 des Rates vom 28. Juni 2007 über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen und zur Aufhebung der Verordnung ({1}) Nr. 2092/91 - Drucksache 16/10174 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Marlene Mortler, CDU/CSU, Gustav Herzog, SPD, HansMichael Goldmann, FDP, Dr. Kirsten Tackmann, Die Linke, Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir führen heute zu später Stunde keine Diskussion um die Henne und das Ei, und wir stellen auch nicht die Frage, ob Biolebensmittel nun zu einer gesünderen Lebensweise führen als konventionell produzierte Lebensmittel. Nein, wir befassen uns heute in erster Lesung mit der Anpassung der Vorschriften des Öko-Landbaugesetzes und des Öko-Kennzeichengesetzes an die geänderten EG-rechtlichen Bestimmungen. Es ist notwendig und erforderlich, die Märkte zu beobachten und legislative Rahmenbedingungen an die Bedürfnisse anzupassen. Schauen wir uns einmal die Daten an. 2007 konnte der ökologische Landbau in Deutschland sowohl beim Zuwachs der ökologisch bewirtschafteten Flächen als auch bei der Zahl der ökologisch wirtschaftenden landwirtschaftlichen Unternehmen ein deutliches Wachstum erzielen. Dies geht aus den Jahresmeldungen der Länder über den ökologischen Landbau für 2007 hervor. Sehr gut vertreten war wieder einmal mein Heimatland Bayern. Für das erste Halbjahr 2008 sieht die Lage etwas ernüchternder aus. Wachsende Kaufunlust und durch Rohstoffengpässe gestiegene Lebensmittelpreise kennzeichnen aktuell den Markt. Erste Zeitungsartikel fragen nach dem Anfang vom Ende des Biobooms. So schwarz malen möchte ich hier nicht, sondern eher von einer Konsolidierungsphase sprechen. Die Branche holt wohl nur Luft für die nächsten Erfolgsmeldungen. Warnen möchte ich diejenigen, die revolutionäre Neuerungen vom vorliegenden Gesetzentwurf erwarten und einfordern. Die vorgesehenen Änderungen sind lediglich aufgrund von EU-Vorgaben erforderlich. Bewährt hat sich in Deutschland die bundesweite Zulassung privater Kontrollstellen. Diese werden jetzt mit der Einführung des Elements der Aufgabenübertragung verknüpft. Die neue Struktur des Ökokontrollsystems der Europäischen Union wird nunmehr in die amtliche Kontrolle der Einhaltung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts soMarlene Mortler wie der Bestimmungen über Tiergesundheit und Tierschutz eingebettet. Begrüßenswert ist die durch die EGÖko-Basisverordnung geschaffene neue Möglichkeit, eigene nationale Vorschriften für die Kennzeichnung von ökologischen Erzeugnissen in Einrichtungen der AußerHaus-Verpflegung und deren Kontrolle zu erlassen. Wir wollen dies schnellstmöglich umsetzen. Wenn ich schon beim Thema Kennzeichnung bin, muss ich kritisch hinterfragen, warum die EU unbedingt ein einheitliches verpflichtendes Biosiegel vorschreiben möchte. Es soll ab 1. Juli 2010 zusätzlich auf alle Produkte gedruckt werden. Ich sehe für unsere Verbraucher keine Vorteile. Wichtig ist für mich, das deutsche Biosiegel weiterzuentwickeln, auch gegen den Widerstand des Deutschen Einzelhandels und einiger Anbauverbände. Derzeit enthält das Biosiegel lediglich die Information, dass das entsprechende Ökoprodukt nach den Richtlinien der EG-Öko-Verordnung produziert und kontrolliert wurde. Die Transparenz der Herkunft der Ökoprodukte hat aber eine hohe Bedeutung. Daher ist die ablehnende Reaktion des Bioland-Verbandes zur geforderten Weiterentwicklung des Biosiegels völlig unverständlich. Der Verbraucher hat ein Recht, von allen Bioprodukten zu erfahren, woher die enthaltenen Nahrungsmittelrohstoffe stammen. Deshalb muss die Angabe über die Herkunft als eigenständige Information in Kombination mit dem Biosiegel verpflichtend sein. Hiervon würden alle profitieren: Bauern, Verarbeiter, Handel und Verbraucher; denn ein Mehr an Transparenz sorgt nicht nur für eine bessere Information, sondern letztlich auch für mehr Sicherheit. Weiterer Änderungsbedarf im Öko-Landbaugesetz ergibt sich aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs über Niederlassungserfordernisse für Kontrollstellen aus dem EU-Ausland im Öko-Landbaugesetz. Streichungen sind hierzu erforderlich. Dies trägt auch Anforderungen der EU-Dienstleistungsrichtlinie Rechnung. Die konzeptionellen Überlegungen für die kontinuierliche Überwachung von Kontrollstellen in Drittländern durch die EUKommission mit Unterstützung der Mitgliedstaaten stecken noch in der Anfangsphase. Dessen ungeachtet ist Deutschland gezwungen worden, die Forderung aufzugeben, nur Kontrollstellen mit Sitz oder Niederlassung im Inland zuzulassen. Weiter müssen Straf- und Bußgeldvorschriften überarbeitet und an die neue EG-Öko-Basisverordnung angepasst werden. Die Ideen des Bundesrates müssen wir uns in der Ausschussberatung sorgfältig ansehen. Eventuell können sie dann noch in unsere Beschlussempfehlung mit aufgenommen werden. Der Agrarausschuss des Bundesrates hat in seiner Sitzung vom 16. Juni 2008 beispielsweise einen Antrag Bayerns mit großer Mehrheit beschlossen. Er sieht vor, dass die Zollbehörden die Kontrollstellen der Länder über die Einfuhr von Ökowaren aus dem Ausland informieren. Der Antrag Bayerns wurde maßgeblich vom Land Hamburg unterstützt, da es Hauptumschlagspunkt für Importe ist. Die Kontrollstellen würden zeitnah einen Überblick erhalten und könnten so ein Risikomanagement durchführen. Außerdem würden die Zollbehörden ab dem 1. Januar 2009 unterstützt, wenn sie klären müssen, ob es sich bei dem Import um ein konformes, also der EU-Öko-Verordnung entsprechendes Produkt, oder um ein gleichwertiges, also nicht zu 100 Prozent der EUÖko-Verordnung entsprechendes Produkt handelt. Erfreulich ist, dass die vorgesehenen Änderungen im Gesetzentwurf keine finanziellen Auswirkungen auf die allseits belasteten öffentlichen Haushalte haben, und dass sie mit keiner Ausweitung der behördlichen Tätigkeit bei Bund und Ländern einhergehen. Die Union meint es ernst mit dem Thema Bürokratieabbau: Wir sehen daher den Vorschlag kritisch, eigens einen Beirat zur Interpretation und Umsetzung der EU-Öko-Verordnung zu schaffen. Die Einrichtung eines weiteren Gremiums ist nicht nötig. Schließlich tauschen sich die zuständigen Referenten der Länder ohnehin bei regelmäßigen Treffen intensiv über Erfahrungen ihrer Ressorts aus. Ein Mehr an Bürokratie ist überflüssig und wird es mit uns nicht geben.

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir beraten heute über ein neues Gesetz zur Anpassung der Vorschriften für den ökologischen Landbau. Hierbei reden wir über einen der kräftigsten Wachstumsmärkte, die wir haben - auf der Welt, in Europa und vor allem in Deutschland. Das nach wie vor ungebrochene Wachstum geht auf eine immer größer werdende Anzahl von Konsumentinnen und Konsumenten zurück, die bereit sind, für Zusatzleistungen höhere Preise zu zahlen. Dass das Umsatzplus im ersten Halbjahr 2008 „nur“ noch 3,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr beträgt - was manch einer schon gerne als schwächelnden Markt oder das Ende des Biotraums verkauft - findet seine Ursachen zum großen Teil auch darin, dass wir in diesem Jahr schon Angebotsengpässe am Markt verzeichnen. Es wird mehr nachgefragt, als nachgeliefert werden kann. Zudem macht sich der allgemeine Rückgang der Kaufkraft bemerkbar, und das lenkt den Verbraucher auch schon einmal in die niederpreisigen, aber gleichen Regale. Deutschland hielt auch 2007 mit einem Umsatz von 5,45 Milliarden Euro und einem Bio-Anteil von 3 Prozent am gesamten Lebensmittelmarkt mit Abstand Platz 1 der größten Absatzmärkte in Europa. Auch wenn andere Mitgliedstaaten in Europa große Zuwächse verzeichnen, ist und bleibt Deutschland die größte und für viele Importeure wichtigste Absatzregion in Europa. Das ist erfreulich, und es ist gewollt. Wir haben diese Entwicklung nicht nur als Glanzleistung der beteiligten Wirtschaft beobachtet, sondern auch politisch unterstützt und befördert. Das Bundesprogramm Ökolandbau und speziell das Biosiegel hat durch seine geschaffene Transparenz die Nachfrage nach Bioprodukten verstärkt. Das Vertrauen der Verbraucher ist eine der wichtigsten Grundlagen für den wachsenden Absatz, Vertrauen in die Annahme, dass Bioprodukte einen Mehrwert an gesellschaftlich gewollten Leistungen für unsere Umwelt und die Nachhaltigkeit haben. Dieses Vertrauen ist gerechtfertigt, und, man darf dabei nicht vergessen, dass der Sektor auch einem strengen Kontrollregime unterliegt. Vertrauen ist gut, Kontrolle noch besser. Doch ein Nachfrageüberhang bringt nicht nur steigende Preise mit sich, sondern auch unerwünschte TrittZu Protokoll gegebene Reden brettfahrer, die mit krimineller Energie den schnellen Profit suchen und damit des Vertrauen in eine ganze Branche riskieren. Hier brauchen wir eine eng verzahnte Kontrolle, nicht nur der Kontrollstellen, sondern auch ein brancheninternes Selbstverständnis, das Trittbrettfahrern die Luft dünn werden lässt. Auch brauchen wir mehr Landwirte, die auf ökologische Wirtschaftsweise umstellen und so den Nachfragedruck abfedern. Der Ökolandbau ist ein wichtiger und wachsender Teil der Landwirtschaft. 865 000 Hektar der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Deutschland wurden 2007 ökologisch bewirtschaftet. Das sind 5,1 Prozent, Tendenz weiter steigend, da immer mehr Landwirte sehen, dass wir es hier mit einem stabilen Markt zu tun haben. Wir brauchen mehr Landwirte, die umstellen. Nicht nur, um den Importanteil wieder zu senken und somit die Vorteile der Regionalität zu stärken, sondern auch, um die gesellschafts- und umweltpolitischen Vorteile nicht zu exportieren. Wir wollen die Mehrbeschäftigung im ökologischen Landbau hier haben, wir wollen unsere natürlichen Ressourcen hier schonen, wir wollen die Wertschöpfungskette hier ausschöpfen, und wir wollen unserer Umwelt Schäden ersparen, unsere Biodiversität schützen und die bunte Vielfalt in unseren ländlichen Räumen befördern. Aus diesen Gründen stehen wir auch jetzt hier; denn um all dieses zu erreichen, müssen wir auch die rechtlichen Grundlagen weiterentwickeln. Am 28. Juni 2007 hat der Rat die lange verhandelte EU-Verordnung 834/2007 angenommen. Diese löst die lang und gut gediente Ökobasisverordnung 2092/91 ab. Das macht es notwendig, unser Ökolandbaugesetz in verschiedenen, doch zumeist unstrittigen Punkten anzupassen. Die Vorlage der Bundesregierung greift auf, was notwendigerweise und mit wenig Spielraum umzusetzen ist. Neben den Folgeänderungen aus der neuen Basisverordnung geht es auch um die Umsetzung des anhängigen EuGH-Urteils zur derzeit vorgeschriebenen Niederlassungspflicht ausländischer Kontrollstellen. Die Umsetzung des EuGH-Urteils beschert uns einen sehr engen Zeitplan für das parlamentarische Verfahren, das wir pünktlich zum 1. Januar 2009 umgesetzt haben müssen. Das war Grund für mich, schon frühzeitig die Gespräche aufzunehmen, nicht nur überfraktionell hier im Hause sondern auch mit den Wirtschaftsbeteiligten und der Bundesregierung. Besonderes Augenmerk bekam hier die vielfach heterogene Umsetzung und Interpretation der Kontrollvorschriften durch die Länder und die schwierige Lage der beauftragten Kontrollstellen. Besonders in verschiedenen Bundesländern tätige Kontrollstellen berichten von erheblichen Problemen, für die wir noch nach Lösungen suchen. Auch prüfen wir noch verschiedene Möglichkeiten, um die Kontrollqualitäten noch besser zu machen, als sie heute schon sind, ohne einen Zusatzaufwand zu produzieren. Hierüber und über die Vorschläge der Länder werden wir in den Ausschussberatungen ausführlich beraten, um in der Sache konstruktiv weiterzukommen. Der Zeitdruck lässt uns zwar wenig Spielraum, doch die bisherige gute Zusammenarbeit über die Fraktionsgrenzen hinweg macht mir Hoffnung auf einen guten und schnellen Abschluss des parlamentarischen Verfahrens.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wegen der geänderten Rechtslage in der EU müssen wir das Öko-Landbaugesetz ändern. Ich hätte mir gewünscht, dass die Regierung die Gelegenheit beim Schopfe packt, die Mängel, die seit über einem Jahr diskutiert werden, mit dieser Novelle abzuräumen. Wir dürften uns doch in diesem Hause alle einig sein, dass es für eine erfolgreiche Zukunft der ökologischen Landwirtschaft unerlässlich ist, dass die Verbraucher Vertrauen in die Qualität der Produkte haben. Gerade angesichts steigender Importe ist es wichtig, dass die Kontrollen transparent und effektiv sind. Und doch hapert es in dem Gesetzentwurf gerade in diesem Punkt an der notwendigen Klarheit. Sowohl der Bauernverband als auch der Bundesverband Ökologischer Landbau und die Vereinigung der Kontrollstellen haben bereits im Vorfeld darauf hingewiesen, dass die bisherige Rechtspraxis geprägt ist von Zersplitterung zwischen den einzelnen Bundesländern. Diese Zersplitterung wirkt sich natürlich auf die Kontrollstellen und die auf die Ökobauern umgelegten Kosten aus. Deswegen ist es dringend erforderlich, einen bundeseinheitlichen Rahmen vorzugeben, um Wettbewerbsnachteile der deutschen Ökobauern gegenüber der europäischen Konkurrenz abzubauen. Derzeit haben wir Dreifachprüfungen durch unterschiedliche staatliche Stellen oder Institutionen, die staatlich überwacht werden. Selbstverständlich sind die Lebensmittel- und damit auch die Ökokontrollen Ländersache. Doch bei allem Bekenntnis zum deutschen Föderalismus dürfen die Ökokontrollen nicht in Kleinstaaterei verharren. Die kostenträchtigen und zeitintensiven Doppel- und Dreifachprüfungen müssen endlich ein Ende haben. In diesem Punkt muss der Gesetzentwurf dringend nachgebessert werden. Auch die Forderung des BÖLW nach einem nationalen Beirat für die Interpretation und Umsetzung der EG-ÖkoVerordnung sollte im Ausschuss noch einmal ernsthaft geprüft werden. Denn die Novelle sollte das Ziel haben, die Überregulierung abzubauen, die Prüfqualität effizienter zu erreichen und damit die Kontrollen kostengünstiger und transparenter zu gestalten. Im Übrigen muss künftig auch verhindert werden, dass ungeprüfte angebliche oder tatsächliche Ökoprodukte in den Markt gelangen; das setzt die Glaubwürdigkeit der gesamten Branche aufs Spiel. Im weiteren Verfahren gilt es also noch, intensiv in den Gesetzestext einzusteigen, um die erkannten Schwächen auszuräumen. Es bleibt zu hoffen, dass die Große Koalition sich einsichtig zeigt.

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es gab nicht viele Beispiele für einen derart geschlossenen inner- und außerparlamentarischen Protest gegen Zu Protokoll gegebene Reden einen Verordnungsvorschlag der EU-Kommission wie vor einem Jahr gegen den Entwurf einer neuen Verordnung zum ökologischen Landbau. Dieser Protest hat zu Veränderungen geführt, die auch für deutsche Bio-Bäuerinnen und -Bauern sowie Verbraucherinnen und Verbraucher tragbar sind. EU-Verordnungen müssen auf nationaler Ebene umgesetzt werden. Der hier vorliegende Gesetzentwurf dient der Umsetzung der neu gefassten EU-Verordnung zur Kontrolle und Kennzeichnung von Ökoprodukten. Dass die EU-einheitliche Kennzeichnung von Ökoprodukten auf das Jahr 2011 verschoben wird, kann man bedauern. Aber es ist immer noch die bessere Entscheidung angesichts der Situation, dass es noch immer kein einheitliches Siegel gibt, das in der Lage ist, die Kriterien in Sachen Verbrauchervertrauen und Erkennbarkeit zu erfüllen. Die Kommission hat nun vorgeschlagen, der Entwicklung eines Siegels mehr Zeit zu geben und diese mit einem EU-weiten Wettbewerb zu verbinden. Wir werden darauf achten, dass das dann auch zu einem akzeptablen Ergebnis führt. Der Markt für Ökoprodukte boomt. Über die vergangenen Jahre konnten zweistellige Zuwachsraten im Verbrauch registriert werden. Es gibt hierzulande unterdessen kein Unternehmen im Lebensmitteleinzelhandel mehr, das nicht Ökoprodukte anbietet. Das ist durchaus eine erfreuliche Entwicklung und widerspricht so mancher Behauptung, den Menschen wäre es letztlich egal, was sie essen, Hauptsache es ist billig. Wobei die allgemeine Armutsentwicklung die Entscheidungsspielräume vieler Menschen deutlich einschränkt. Dennoch ist es Realität: Nicht zuletzt aufgrund eines staatlich anerkannten Kontrollsystems genießen Ökoprodukte ein großes Vertrauen bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern. In den vielen Kontrolluntersuchungen, die zum Beispiel für Obst, Gemüse oder Fleisch außerhalb der biointernen Richtlinienkontrollen laufen, fallen Bioprodukte meist positiv auf. Wobei hier nicht nur die Qualität der Produkte, sondern die ökologische Erzeugung im Mittelpunkt steht. Dieser großen Beliebtheit auf dem Lebensmittelmarkt hinkt die einheimische Erzeugung von Bioprodukten hinterher. Das Wachstum in der landwirtschaftlichen Erzeugung und in der Weiterverarbeitung stagniert. Die Folge: Immer mehr Ökoprodukte und auch Rohstoffe werden importiert. Das ist bedauerlich, liegt der Flächenanteil bundesweit doch gerade einmal bei 5 Prozent. Die Linke unterstützt das Ziel, das schon von der rotgrünen-Regierung formuliert wurde, bis 2020 einen Anteil von 20 Prozent Bio auf dem Acker zu haben. Nur muss seitens der Politik mehr getan werden, um dieses Ziel zu erreichen. Als neue Barriere erweisen sich übrigens die spekulativen Pacht- und Bodenpreiserhöhungen, zu denen auch der Verkauf ehemals volkseigener Flächen durch die BVVG beiträgt. Gerade der Ökolandbau ist auf eine verlässliche Verfügbarkeit des Bodens angewiesen. Steigende Preise für konventionelle Agrarrohstoffe und die Verdienstmöglichkeiten durch das Energie-Einspeise-Gesetz haben die Verdienstoptionen für die Landwirtschaftsbetriebe erweitert, auch wenn die Wirkung durch explodierende Betriebsmittel- und Pachtpreise teilweise wieder zunichte gemacht wird. Wo es dennoch einen Zugewinn gibt, ist das auch in Ordnung. Nur reduziert sich damit auch die Bereitschaft, ökologisch zu wirtschaften. Anders gesagt: Die Umstellungsförderung und die Marktanreize für den Ökolandbau haben in der bisherigen Höhe keine ausreichende Wirkung mehr. Für Die Linke bedeutet das, dass positive Potenziale für Einkommen und Arbeitsplätze in den ländlichen Räumen nicht genutzt werden. Ökolandbau ist auf die Fläche und die Tierhaltung bezogen arbeitsintensiver und bringt wegen des höheren Preisniveaus der Erzeugnisse eine höhere Wertschöpfung. Die betrieblichen Einkommen der Biobetriebe lagen in den Agrarberichten der letzten Jahre immer deutlich über denen der konventionellen Vergleichsbetriebe. Nur reicht das allein offensichtlich nicht, um mehr Betriebe zur Umstellung zu motivieren. Denn die zwei- bis dreijährige Umstellungszeit ist sehr schwierig: Das Ertragsniveau sinkt, die Ernte darf nur als Umstellungsware verkauft werden, und das optimale und standortangepasste Bewirtschaftungssystem muss oft erst entwickelt werden. Eine schwierige Phase, die mit hohen Risiken verbunden ist, auch wegen fehlender Kontinuität und Verlässlichkeit der politischen Rahmenbedingungen. Auf der anderen Seite wächst die Nachfrage nach Ökoprodukten, und das nicht nur in Deutschland, auch andere EU-Länder ziehen nach, allen voran Skandinavien, Tschechien, aber auch die Beneluxstaaten und Frankreich. Ökoprodukte werden inzwischen in ganz Europa produziert und konsumiert. Ein einheitliches Regelwerk für die Erzeugung und Vermarktung von Ökoprodukten in Europa ist daher unumgänglich und eine zügige nationale Umsetzung im Interesse aller. Minister Seehofer muss darüber hinaus dazu beitragen, dass der einheimische Ökolandbau seine sozialen und ökologischen Potenziale erschließen kann.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Biomarkt in Deutschland boomt. Das vierte Jahr in Folge wachsen die Umsätze für Bioprodukte zweistellig. 2007 waren es 15 Prozent. Ein Segen für unsere Landwirtschaft? Leider nein. Die Schere zwischen Kundennachfrage und Angebot an deutschen Bioprodukten geht immer weiter auseinander. Denn die Zahl ökologisch wirtschaftender Betriebe erhöhte sich nur um 2,8 Prozent. Die ideologische Landwirtschaftspolitik der Union verschenkt lieber Jahr für Jahr Marktanteile ans Ausland, anstatt mit einer dringend benötigten Erhöhung der Umstellungs- und Beibehaltungsprämie den deutschen Bauern neue Einkommensmöglichkeiten zu sichern. Besonders gravierend sind für die Biobauern die der Kompromisspolitik von Bundeskanzlerin Merkel geschuldeten massiven Kürzungen der Gelder für die sogenannte zweite Säule der gemeinsamen Agrarpolitik. Seit 2007 fehlen damit für die ländlichen Räume jährlich 300 Millionen Euro EU-Mittel und weitere 100 bis 200 Millionen Euro aus den Etats von Bund und Ländern. Bund und Länder haben den Rotstift bei den Prämien für Ökolandwirte angesetzt. Ökobetriebe mussten ab 2007 auf bis zu 40 Prozent ihrer Förderung verzichten. Zu Protokoll gegebene Reden Diese drastische Verschlechterung der Wettbewerbsbedingungen schreckt nun Landwirte von der Umstellung ab, obwohl sie die wachsende Nachfrage gerne bedienen würden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, legen Sie endlich Ihre ideologischen Scheuklappen ab und schauen Sie auf die Fakten. Die herausragenden Leistungen des Ökolandbaus für Klima, Umwelt und Natur, für die Entwicklung der ländlichen Räume weltweit sowie für die Ernährungssicherung und Lebensmittelqualität sind klar und deutlich belegt. Beenden Sie Ihre Blockade der dringend benötigten finanziellen Aufstockung der zweiten Säule im Rahmen der aktuellen Überprüfung der europäischen Agrarpolitik. Beenden Sie endlich Ihre fadenscheinige Argumentation um die Verlässlichkeit. Denn den Landwirten, die sich mit der Erbringung gesellschaftlicher Leistungen zum Beispiel im Bereich des Naturschutzes, ein zweites Standbein erarbeitet hatten, haben Sie mit den Kürzungen bei der zweiten Säule jegliche verlässliche Grundlage entzogen. Ihre Politik ist keine Bauernpolitik, sondern Klientelpolitik für rationalisierte Großbetriebe und die Agrarindustrie, und zwar auf Kosten der bäuerlichen Betriebe und der Landwirte, die im Einklang mit der Natur wirtschaften wollen. Auch das heute vorliegende Öko-Landbaugesetz ist kein Ruhmesblatt. Obwohl die Ökobranche uns eindrücklich auf Probleme mit dem Gesetz hinweist, lehnen Sie es ab, gemeinsam mit den Länderagrarministern noch einmal nachzubessern. So bestehen in Deutschland seit geraumer Zeit erhebliche Probleme mit der uneinheitlichen Interpretation der EG-Öko-Verordnung, sei es bei der Biokennzeichnung von verarbeitetem Fisch aus Wildfang, der Etikettierung von Ökolebensmitteln oder der Verwendung von Aromen. Entscheidungen hierzu werden auf den Verwaltungsebenen der Länder und nicht im Bund und schon gar nicht in Zusammenarbeit zwischen Behörden, Branche und Wissenschaft getroffen. Diese uneinheitliche Interpretation führt jedoch zu enormen Wettbewerbsverzerrungen und damit zu Nachteilen für die Branche. Im Gesetz wird außerdem versäumt, die Rolle und die Aufgaben der Kontrollstellen sowie die Rechte und Pflichten der Unternehmen im Rahmen der Kontrolle rechtssicher zu definieren. Dies zementiert die sehr unterschiedliche Handhabung in den Bundesländern, die in der Branche und bei den Kontrollstellen zu hohen zusätzlichen Belastungen und Unsicherheiten führt. Ein Problem stellt auch dar, dass es keinen Überwachungsmechanismus gibt, um Unternehmen, die ihre Produkte als „Bio“ bezeichnen, obwohl sie nicht nach EGÖko-Verordnung kontrolliert werden, zu identifizieren und zu sanktionieren. Bessern Sie deshalb nach. Schaffen Sie gleiche Bedingungen für die deutschen Ökolandwirte und die Hersteller von Bioprodukten in allen Bundesländern.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/10174 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Leutert, HüseyinKenan Aydin, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für die soziale Rehabilitation von Kindersoldaten eintreten - Drucksachen 16/6358, 16/8789 Berichterstattung: Abgeordnete Hartwig Fischer ({1}) Burkhardt Müller-Sönksen Volker Beck ({2}) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hartwig Fischer ({3}), CDU/CSU, Angelika Graf ({4}), SPD, Burkhardt Müller-Sönksen, FDP, Michael Leutert, Die Linke, Volker Beck ({5}), Bündnis 90/Die Grünen.

Hartwig Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003526, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir debattieren hier heute über den Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für die soziale Rehabilitation von Kindersoldaten eintreten“. Aber leider steckt in dem Antrag nicht einmal ansatzweise das drin, was oben draufsteht. Nein, vielmehr benutzt die Fraktion Die Linke das Thema Kindersoldaten, um Ihre antiamerikanischen Ansichten kundzutun. Im Antrag wird das Schicksal des jungen Omar Khadr beschrieben, welcher als 15-jähriger Kindersoldat durch die amerikanischen Streitkräfte in Afghanistan gefangen genommen und in Guantánamo inhaftiert wurde. Mehr ist zu dem Thema „Kindersoldat“ und „Rehabilitierung“ in dem Antrag nicht zu lesen. Vielmehr macht die Linke nochmals deutlich, dass sie noch heute den Ansichten der SED nachhängt, die in den Vereinigten Staaten von Amerika den Erzfeind gesehen hat. Aber der Kalte Krieg ist zum Glück vorbei. Durch den Antrag wird nicht nur das Thema Kindersoldaten missbraucht, nein, er ist auch noch schlecht recherchiert. Es wird nämlich einfach nicht erwähnt, dass der angesprochene Omar Khadr bereits volljährig ist. Des Weiteren ist Herr Khadr kanadischer Staatsbürger, und Kanada hat sich bis heute geweigert, Herrn Khadr in Kanada aufzunehmen. Allein das zeigt, dass dieser Antrag so schlecht und widersprüchlich ist, dass die Linke nicht wirklich erwarten kann, dass die Fraktionen dieses Hauses auf einen solchen populistischen Antrag hereinfallen. Hartwig Fischer ({0}) Und ich muss Ihnen sagen, dass das Thema dafür viel zu wichtig ist. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden weltweit noch immer 250 000 Kinder als Soldaten missbraucht. Besonders gravierend ist die Situation in Ländern wie Kolumbien, Burma oder der Demokratischen Republik Kongo. Erst gestern erreichten uns neue Nachrichten, dass im Osten der Demokratischen Republik Kongo Hunderte von Kindern verschollen sind. Es wird berichtet, dass die Kinder durch die Rebellengruppe von Laurent Nkunda entführt worden sind und nun als Kindersoldaten oder Sexsklaven missbraucht werden. Aber Deutschland verschließt seine Augen nicht vor dieser Tatsache. Ich selber habe im Grenzgebiet zwischen Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo Projekte der Gesellschaft fürTechnische Zusammenarbeit - GtZ - besucht, die Kindersoldaten resozialisieren. Das geht allerdings nur, wenn sich die Anführer der Rebellen und somit der Kindersoldaten ergeben. Erst dann haben die Kinder die Möglichkeit, in die Gemeinschaft zurückzukehren, aus der sie oft geraubt wurden. Auf diesem schweren Weg müssen wir die Kinder unterstützen. Wir müssen ihnen zeigen, dass es ihnen nicht besser geht, wenn sie eine Waffe in der Hand halten. Wir müssen ihnen in ihrer jeweiligen Gesellschaft Wege aufzeigen, auf denen sie sich entwickeln können. Und da hilft uns ein solcher Antrag, wie ihn heute die Linke hier vorlegt, nicht weiter. Ich glaube, dass ich hier für fast alle Abgeordneten des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe sagen kann, dass wir eine Position bezüglich der Kindersoldaten haben, die weit über diesen Antrag hinausgeht. Wir verurteilen den Missbrauch von Kindern als Kindersoldaten zutiefst. Daher muss es in unserem Interesse sein, dass Thema ernst zu diskutieren. Wir müssen es auch bei unseren Besuchen in den Ländern und bei Regierungsgesprächen ansprechen. Nur so und nicht durch solche hetzerischen Anträge wie der der Linken können wir eine Verbesserung für die Kinder vor Ort erreichen.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Im vorliegenden Antrag geht es nicht, wie der Titel glauben macht, allgemein um die soziale Rehabilitation von Kindersoldaten. Vielmehr wird das bedauerliche Schicksal eines minderjährig inhaftierten und aus Afghanistan nach Guantanamo verschleppten kanadischen Staatsbürgers herangezogen, um daraus abgeleitet an die Bundesregierung allgemeine Forderungen bezüglich des Umgangs mit den USA zu stellen. Ich bin der Meinung, dass es einer im Parlament vertretenen Partei möglich sein muss, einen von ihr formulierten Antrag auch mit einem Titel zu versehen, der hält was er verspricht und nicht in die Irre führt. Ein irreführender Titel ist für mich bereits ein hinreichender Grund, einen Antrag abzulehnen. Warum sehe ich das so hart? Es ist wirklich schwierig, zu Ihrem Antrag Stellung zu nehmen. Denn wozu sollen wir eigentlich Stellung nehmen? Sollen wir zu Ihrer in der Überschrift geäußerten angeblichen Absicht Stellung nehmen, Kindersoldaten sozial zu rehabilitieren - dafür sind wir sicher alle -, oder zu der im Text geäußerten Aufforderung, die USA darauf aufmerksam zu machen, dass die inhaftierten Minderjährigen in Guantanamo entlassen werden müssen, oder zur Forderung, dass die Bundesregierung die Vereinigten Staaten an die Einhaltung des Fakultativprotokolls zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes erinnern soll? Den Eiertanz der Linken, wie er sich während der Antragsberatungen im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zugetragen hat, möchte ich gern an dieser Stelle darlegen: Die Fraktion Die Linke wollte nicht akzeptieren, dass wir den Antrag mit dem Verweis auf einen unpassenden Titel ablehnen würden. Sie meinten, sie hätten den Antrag aber ganz bewusst auf Kinder, die in Guantanamo inhaftiert sind, abgestellt. Erinnern Sie sich an den Titel Ihres eigenen Antrages? Guantanamo kommt darin nicht vor. Weiter argumentierten Sie, dass die Forderung, Guantanamo zu schließen, zu einer Ablehnung des Antrages geführt hätte. Als Begründung hätten wir vorgetragen, dass dies im Ausschuss schon mehrmals untermauert worden ist. Das ist korrekt. Aber ich frage Sie: Muss man Dinge, die man längst festgeschrieben hat, wirklich immer wieder beschließen? Lassen Sie mich Folgendes klarstellen: Wir, die Fraktion der SPD und auch die Bundesregierung, wollen, dass Guantanamo endlich geschlossen wird. Die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister haben das in Gesprächen mehrfach gegenüber der amerikanischen Regierung deutlich gemacht. Diese Ansicht teilen wohl alle hier im Bundestag vertretenen Fraktionen. Dieses Lager hätte niemals eröffnet werden dürfen. Dort werden alle Menschenrechte mit Füßen getreten. Guantanamo ist eines demokratisch gewählten amerikanischen Präsidenten und der Regierung der ältesten Demokratie der Welt unwürdig und schädigt das Ansehen der westlichen Welt nachhaltig immens. Und gerade weil wir uns da alle einig sind, finde ich es sehr bedauerlich, dass Sie diese Angelegenheit populistisch zweckentfremden, denn die fehlende handwerkliche Qualität bei der Erstellung Ihres Antrages zeigt, dass Sie dieses Thema leider nicht so ernst nehmen, wie wir alle es sollten. Den jungen Mann, Omar Khadr, den Sie in ihrem Antrag erwähnen, hat ein solches Schicksal ereilt, dass wohl keiner von uns mit ihm tauschen wollte. Sein Beispiel in Ihrem Antrag aufzugreifen, ist aus mehreren Gründen dennoch schwierig: Er war zum Zeitpunkt seiner Verhaftung 15 Jahre alt, also minderjährig. Wäre er als Minderjähriger entlassen worden, hätte sich seine Rückführung wohl einfacher gestaltet. Doch heute ist er volljährig. Und genau hier liegt das Problem, denn die Kanadier verlangen erst eine gerichtliche Verhandlung, weil sie einen verurteilten Terroristen nicht mehr zurücknehmen wollen, einen unschuldig Verschleppten aber wohl. Ein solches Verfahren scheint aber noch immer in weiter Ferne zu liegen. Sie sehen, wie schwierig dieses Feld und jeder Einzelfall sind. Rechtspolitisch gesehen ist dieser Fall beiZu Protokoll gegebene Reden Angelika Graf ({0}) spielsweise eine Angelegenheit zwischen den Kanadiern und den USA. Deutschland ist sich - der fehlenden formalen Zuständigkeiten zum Trotz - seiner moralischen Verantwortung bewusst und aus diesem Grunde nicht untätig. Der Außenminister und die Bundeskanzlerin bringen dieses Thema in diplomatischen Gesprächen immer wieder mit dem Blick fürs Ganze aufs Tableau. Ich hoffe sehr, dass ein neuer US-Präsident die Situation wandelt und dass die USA ihren Verpflichtungen, die sich aus dem Fakultativ-Protokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes ergeben, nachkommen, Guantanamo schließen, den Verschleppten ein rechtsstaatliches Verfahren vor einem ordentlichen Gericht ermöglichen, die Unschuldigen entschädigen und die tatsächlich Schuldigen bestrafen.

Burkhardt Müller-Sönksen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003818, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir sind uns alle darin einig, dass wir Politikerinnen und Politiker uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen Menschenrechtsverletzungen jeglicher Art einsetzen müssen. Dies trifft insbesondere für Kinder als eine besonders schutzbedürftige Gruppe zu. Im Einklang mit der Kinderrechtskonvention der VN von 1990 und den menschenrechtlichen Grundsätzen der Freien Liberalen setze ich mich neben der Schutzbedürftigkeit auch für die Rechtsansprüche von Kindern ein. Die Fraktion Die Linke greift in ihrem Antrag die Problematik der Kindersoldaten auf. Im Positionspapier der FDP-Bundestagsfraktion „Menschenrechte. Universal, unteilbar, bedroht“ setzen wir uns intensiv mit dem Thema auseinander: Es ist in vielen Ländern trauriger Alltag, dass Kinder als Kindersoldaten - darunter bis zu 40 Prozent Mädchen - missbraucht werden. Ihre Zahl wird auf weltweit rund 300 000 geschätzt, wobei nicht nur Rebellengruppen wie die „Lord’s Resistance Army“ ({0}) in Uganda, - aktuelle Anmerkung: Erst am 23. September 2008 berichtete dpa, dass ugandische Rebellen 90 Kinder in Nordostkongo verschleppten und sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Kämpfen gezwungen werden -, die „Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia“ ({1}) in Kolumbien oder Milizen im Kongo Kinder rekrutieren, sondern auch einige reguläre Armeen, wie zum Beispiel die Streitkräfte in Burma/ Myanmar. Oftmals werden sie vergewaltigt und unter dem Einfluss von Drogen zum Kämpfen gezwungen. Diese menschenverachtende Praxis einiger Bürgerkriegsparteien steht in eklatantem Widerspruch zur Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen sowie zum Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte. Auf dieser Grundlage fordern wir Liberale, dass „der Einsatz von Kindersoldaten von den UN erfasst und vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag konsequent verfolgt werden muss. Eine effektive Prävention gegen ungesetzliche Rekrutierung kann durch die Sicherstellung des Schulbesuchs, die Vermeidung von Familientrennungen, Früherkennungs-, Schutz- und Zusammenführungsprogramme für Kinder, die von ihren Familien getrennt wurden, sowie Bildungs- und Berufsausbildungsprogramme erreicht werden. In ihrem Antrag fordert Die Linke, die USA dazu aufzufordern, ihren Verpflichtungen nachzukommen, die sich aus der Unterzeichnung des Fakultativprotokolls zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten ergeben. Die Linke bezieht sich auf den Fall des kanadischen Staatsbürgers Omar Khadr, der 15-jährig von der US-Armee nach einem Angriff in Afghanistan festgenommen und später nach Guantánamo gebracht wurde. Da die USA gemäß Art. 6 Abs. 3 des Fakultativprotokolls zum Zeitpunkt der Festnahme Hoheitsgewalt über den Inhaftierten ausübten, waren sie verpflichtet, erforderlichenfalls jede geeignete Unterstützung zur physischen und psychischen Genesung und sozialen Wiedereingliederung zu ergreifen. Omar Khadr soll von den USA freigelassen und als ehemaliger Kindersoldat wieder in die Gesellschaft integriert werden. Leider ist es der FDP-Bundesfraktion nicht möglich, diesen Antrag zu unterstützen. Lassen Sie mich dies kurz erläutern: Erstens. Wir fordern eine umfassende Auseinandersetzung bezüglich der Einbeziehung von Minderjährigen in Kampfhandlungen, wo auch immer diese geschehen. Eine Konzentration auf Einzelfälle, wie sie hier im Antrag der Linken vorgestellt werden, entspricht nicht dem Ausmaß dieser brisanten Menschenrechtsverletzung an Kindern und Jugendlichen. An dieser Stelle verweise ich auf den umfangreichen Bericht „Global Report 2008“ der Coalition to Stop the Use of Child Soldiers, einem Zusammenschluss internationaler Organisationen. Dieser Bericht dokumentiert die Rekrutierungspraxis und den Einsatz minderjähriger Soldaten sowie ihre Entlassung und Reintegration in 197 Ländern. Zweitens. In Bezug auf die Kinderrechte in den Vereinigten Staaten von Amerika fordern wir nachdrücklich eine vorbehaltlose Ratifizierung der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen durch die USA. Es ist für uns Liberale in keiner Weise zu akzeptieren, dass die USA als eines der weltpolitisch bedeutendsten Länder die Kinderrechtskonvention nicht unterstützen und neben Somalia zu den beiden letzten Ländern gehören, die dieser fast universell unterzeichneten VN-Konvention nicht beigetreten sind. Drittens. Außerdem geht uns der Antrag nicht weit genug. Die FDP steht den Haftgründen und den Haftbedingungen in Guantánamo kritisch gegenüber und plädiert schon länger für eine sofortige Schließung des US-Gefängnisses auf Kuba. Dieser Aspekt kommt im Antrag überhaupt nicht zur Sprache. Der Antrag der Linken ist für uns Liberale somit insgesamt nicht weitgehend genug. Er lässt viele Aspekte unbeachtet und ist deshalb abzulehnen. Zu Protokoll gegebene Reden

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit der Ablehnung des von der Linken eingebrachten Antrages, sich für Omar Kahdr einzusetzen, beweist die Große Koalition einmal mehr, dass sie bei Menschenrechtsverletzungen mit zweierlei Maß misst. Gerade vor dem Hintergrund der Geschichte dieses GuantanamoHäftlings erscheint mir eine auch nur irgendwie geartete juristische wie auch politische Abwägung unangebracht. Dieser junge Mann hat wahrscheinlich in Afghanistan an Gefechten gegen Truppen der USA teilgenommen. Aber dieser junge Mann war zum Zeitpunkt der Kämpfe gerade einmal 15 Jahre alt. Sieht man sich dazu seine Biografie etwas genauer an, dann wird auch schnell klar, warum er da kämpfte, wo er kämpfte. Es ist gute deutsche Rechtstradition, gerade im Jugendstrafrecht und auch im Jugendstrafvollzug zum einen den Grundsatz der Resozialisierung und Erziehung in den Mittelpunkt zu stellen und sich zum anderen im Gerichtsprozess die Biografie des beschuldigten Minderjährigen genauer anzusehen, um die Geschichte, wie und warum er zur Straftat gekommen ist, zu verstehen. Ich denke, Sie stimmen mir zu, wenn ich behaupte, dass Guantanamo diese Anforderungen nicht erfüllt. Natürlich habe ich zur Kenntnis genommen, dass Sie Guantanamo missbilligen und die Schließung des Lagers fordern. Nur wird diese allgemeine Forderung genau diesem Einzelfall, diesem jungen Mann nicht gerecht. Hier hätte ich mir gewünscht, dass Sie sich für diesen jungen Mann stark machen und die Bundesregierung auffordern, sich für eine schnellstmögliche und rechtsstaatlich angemessene Lösung des Falls einzusetzen. Und dies kann nur heißen: Erstens. Die USA muss nachdrücklich aufgefordert werden, alle durch sie in Guantanamo inhaftierten Minderjährigen freizulassen und geeignete Maßnahmen zur sozialen Wiedereingliederung zu ergreifen. Zweitens. Die USA muss nachdrücklich aufgefordert werden, ihren Verpflichtungen, die sich aus dem Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung an bewaffneten Konflikten ergeben, nachzukommen. Schaut man sich jedoch Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses zum Antrag genauer an und versucht man, die Argumente, die SPD und Grüne im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe gegen den Antrag vorbringen, nachzuvollziehen, dann kann man nur verwundert den Kopf schütteln. Zum einen argumentiert die SPD, dass sie generell für die Schließung von Guantanamo ist und deshalb keine Einzelforderungen aufgestellt werden dürfen, die man nicht überblicken kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich traue ihnen ohne Weiteres zu, diesen konkreten Fall zu überblicken. Der dem Antrag zugrunde liegende Sachverhalt ist so klar und eindeutig, dass die Gegenargumente seitens der SPD nur vorgeschoben sein können. Ein weiteres Argument, welches von der SPD vorgebracht worden ist, um dem Antrag nicht zuzustimmen, ist, dass sich der Antrag der Linken auf Minderjährige bezieht, der im Antrag benannte Mensch nunmehr jedoch volljährig sei. Hier aber übersieht die SPD Punkt zwei unseres Antrages. Wir sind uns wohl darüber einig, dass die Pubertät ein einschneidender Abschnitt im Leben eines Menschen ist. Wenn man diese Zeit dann auch noch in Guantanamo verbringen muss, ist dies wohl nicht sehr förderlich. Da Omar Kadhr nun in Guantanamo volljährig geworden ist, glaubt die SPD nunmehr, den Antrag ablehnen zu können. Durch den Fall Omar Kadhr wird exemplarisch gezeigt, wie im Kampf gegen den sogenannten internationalen Terrorismus Menschenrechte keinerlei Beachtung mehr finden und selbst auf besonders Schutzbedürftige keine Rücksicht mehr genommen wird. Die Intention hinter diesem Antrag bleibt aber, zum einen Minderjährige sofort freizulassen, und zum anderen Menschen, die zur Zeit ihrer Inhaftierung minderjährig waren, die Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen, die sie ohne Zweifel benötigen und zu denen sich die Völkerrechtsgemeinschaft im benannten Fakultativprotokoll verpflichtet hat. Es ist und bleibt Aufgabe des Parlamentes, die Regierung hierzu zu verpflichten. Dass dies nicht geschehen ist, dass Koalition, FDP und Grüne diesem jungen Mann die ihm zustehende Hilfe versagten, bleibt rätselhaft. Ich habe dafür keine Erklärung. Die vorgebrachten Gegenargumente können nicht überzeugen. Sie sind zynisch.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Zahl der Kindersoldaten wird weltweit auf 250 000 geschätzt. Minderjährige werden dabei sowohl von regulären Armeen als auch von Rebellengruppen rekrutiert. In den meisten Fällen handelt es sich um Zwangsrekrutierungen. Größte Anstrengungen sind notwendig, um den Minderjährigen, die heute in bewaffneten Konflikten als Soldaten eingesetzt werden, die Rückkehr in ein ziviles Leben zu ermöglichen. Auch in der Bundesrepublik leben Kindersoldaten. Seit 1991 hält die Bundesregierung ihren Vorbehalt gegen die UN-Kinderrechtskonvention aufrecht und verweigert dadurch Flüchtlingskindern international anerkannte Mindestrechte. Der mehrfachen Aufforderung durch den Bundestag, diese Vorbehaltserklärung zurückzunehmen, verweigert sich die Bundesregierung. Damit bleibt die Möglichkeit, Flüchtlingskinder weiter drangsalieren zu können, bestehen. Der Umgang der deutschen Behörden mit geflüchteten Kindersoldaten ist beschämend. Dies gilt selbst dann, wenn die Kinder schlimmste körperliche und seelische Verletzungen erlitten haben, bei der Rückkehr in ihr Land verfolgt würden und unter Lebensgefahr stünden. Sie werden in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen nicht als Flüchtlinge anerkannt, sondern erhalten eine Duldung, also eine ausgesetzte Abschiebung. Auf die Große Anfrage unserer Fraktion zum Thema Kinderrechtskonvention antwortete die Bundesregierung Zu Protokoll gegebene Reden Volker Beck ({0}) im Juli 2007, dass sie eine Rücknahme dieses Vorbehalts gegen die UN-Kinderrechtskonvention zum einen für nicht erforderlich, zum anderen für „migrationspolitisch bedenklich“ halte, „da sie zu einem Anstieg der Einreise unbegleiteter minderjähriger Ausländer“ führen könne. Dies ist zynisch und inhuman. Wer aufgrund des Titels des Antrages der Linken „Für die soziale Rehabilitation von Kindersoldaten eintreten“ erwartet hat, der Antrag würde sich mit Kindersoldaten und den Herausforderungen ihrer Rehabilitation beschäftigen, wird enttäuscht. Eines ist klar: Omar Khadr und auch die anderen inhaftierten Minderjährigen müssen endlich aus Guantanamo freigelassen und bei ihrer Rehabilitation unterstützt werden. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung dies gegenüber den USA deutlich machen würde. Das Video der Befragung von Omar Kahdr, das vor kurzem veröffentlicht wurde, zeigt, dass in Guantanamo nicht nur gegen geltendes US-Recht verstoßen wird, sondern auch gegen jegliches internationales Recht zum Schutz von Kindern. Gleichwohl präsentiert die Linke mit ihrem Antrag einmal mehr eine Mogelpackung. Man nimmt Ihnen Ihr Engagement für Omar Khadr nicht ab. Das Thema Kindersoldaten wird von Ihnen nur benutzt, um die USA zu kritisieren. Das ist schäbig. Bei aller Anteilnahme am Schicksal von Omar Khadr findet sich in dem Antrag kein einziges Wort der Verurteilung der Taliban für deren Einsatz jugendlicher Kämpfer. Kein einziges Wort geht auf die 250 000 Kindersoldaten ein, die übrigens auch in ehemals sozialistischen Bruderstaaten wie Angola oder Birma zum Einsatz gekommen sind, kein Wort geht auf die skandalöse Haltung der Bundesregierung zur Kinderrechtskonvention ein. Meine Fraktion wird sich bei der Abstimmung über diesen Antrag enthalten. Offenbar war der Drang der alten Kader bei den Linken, den USA eins auf die Mütze zu geben, wieder einmal stärker. Sie sollten sich für ihren instrumentellen Umgang mit Menschenrechtsthemen schämen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8789, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6358 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes und zur Änderung anderer Vorschriften ({0}) - Drucksachen 16/10292, 16/10332 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Enak Ferlemann, CDU/CSU, Petra Weis, SPD, Patrick Döring, FDP, Heidrun Bluhm, Die Linke, Peter Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentarischen Staatssekretärs Uli Kasparick.1) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 16/10292 und 16/10332 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Lazar, Volker Beck ({2}), Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Verbot der Nazi-Jugendorganisation „Heimattreue Deutsche Jugend e.V.“ prüfen - Drucksache 16/9801 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Kristina Köhler, CDU/CSU, Gabriele Fograscher, SPD, Christian Ahrendt, FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grünen, und des fraktionslosen Kollegen Gerd Winkelmeier.

Dr. Kristina Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003569, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Halten wir zunächst fest: Die Heimattreue Deutsche Jugend ist ein neonazistischer Verein mit engen Verknüp- fungen ins rechtsextremistische Spektrum. Daran gibt es nach den veröffentlichten Erkenntnissen der Verfassungs- schutzämter keinen Zweifel. So wurden bundesweit so- wohl Verbindungen zur NPD als auch zu der neonazisti- schen Kameradschaftsszene festgestellt. Nicht umsonst gilt die HDJ vielen Experten zumindest als in der Tradi- tion der 1994 verbotenen rechtsextremistischen „Wiking- Jugend“ stehend. Zielsetzung der HDJ ist es - ich zitiere aus dem neues- ten Bericht des Verfassungsschutzes -, „über zunächst unpolitisch erscheinende Aktivitäten Jugendliche und Kinder an rechtsextremistisches Gedankengut heranzu- führen“. Die Indoktrination und die Aufhetzung von Kin- dern und Jugendlichen ist eine der Hauptaktionsfelder al- ler Formen des Extremismus; sie ist wahrscheinlich 1) Anlage 15 Kristina Köhler ({0}) zugleich die widerlichste. Als die Polizei vor wenigen Monaten ein HDJ-Zeltlager in Mecklenburg-Vorpommern aufgelöst hatte, fand man dort nicht nur verbotene NS-Symbole, sondern auch unterschiedliche Medien wie Kassetten und Landkarten, die klar dafür sprechen, dass hier die Kindern mit rechtsextremen Inhalten auf einen tiefbraunen Weg gebracht werden sollen. Ein Kamerateam, welches eines dieser Zeltlager filmte, zeigt Bilder, auf denen Zelte mit dem Schild „Führerbunker“ beschriftet waren und auf denen sich Kinder mit dem Hitlergruß begrüßten. Über die Gesinnung, welche dort verbreitet wird, kann es also kaum Zweifel geben. Gleiches gilt für das HDJ-Magazin „Funkenflug“, welches das Motto „Jung - stürmisch - volkstreu“ trägt. In diesem Heft fanden die Verfassungsschutzämter antisemitische und den Nationalsozialismus verherrlichende Inhalte. Die HDJ ist also kein harmloser Pfadfinderverein, auch wenn sie immer wieder versucht, sich als solcher darzustellen. Die HDJ ist vielmehr ein rechtsextremistischer Verein, der unter Vorspiegelung jugendpflegerischer Tätigkeit Kinder und Jugendliche ideologisiert. Umso wichtiger ist die öffentliche Aufklärung über die HDJ. Auf ihrer Homepage versucht der Verein nämlich, gezielt auch Kinder und Jugendliche zu werben, die außerhalb des rechtsextremistischen Spektrums stehen. Er sucht gezielt nach Grundstücken, auf denen Lager stattfinden können, nach Räumen für Heimatabende etc. Jedem, der diesen Verein unterstützt, muss klar sein, was er da tut. Er unterstützt keine demokratische Jugendarbeit und er unterstützt auch keine heimatverbundene Jugendarbeit. Denn die dort propagierte Heimat ist eine andere, als wir sie alle kennen und uns wünschen. Wenn wir über den Neonazismus in der HDJ reden, muss eines freilich auch deutlich gemacht werden: Der Rechtsextremismus-Vorwurf zielt auf die Köpfe dieses Vereins, nicht auf die Kinder. Das möchte ich für meine Fraktion klarstellen. Zumindest die 8- bis 14-Jährigen, die in solche Zeltlager gesteckt werden, sind keine Täter, sondern Opfer. Sie sind keine Rechtsextremisten, sondern sie werden von Rechtsextremisten missbraucht. Sie werden auf ein Leben jenseits dieser Gesellschaft vorbereitet. Auch wenn Sie es aus anderen Zusammenhängen kennen: Was hier passiert, ist nichts anderes als der Versuch, eine Parallelgesellschaft aufzubauen und die Kinder und Jugendlichen aus unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zu desintegrieren. Das können und das dürfen wir nicht zulassen. Dabei sollten wir uns auch nicht von der scheinbar geringen Größe dieser Organisation blenden lassen. Die Zahlen variieren hier deutlich, aber in jedem Fall reden wir von 100 bis 400 Mitgliedern. Es muss aber klar sein: Jedes Kind, welches neonazistisch ideologisiert wird, ist eines zu viel. Und jede Familie, die ihr Kind auf solche Lager schickt, ist eine zu viel, zumal die Zahlen eher dafür sprechen, dass es gewisse Wanderungsbewegungen aus der rechtsextremen Szene hin zur HDJ gibt. Die HDJ scheint also zurzeit im organisierten Rechtsextremismus sogar eher noch wichtiger zu werden. Das ist umso schlimmer. In den letzten Wochen und Monaten hat es von einigen Seiten den Ruf nach einem Verbot der HDJ gegeben. Das ist legitim, denn das Verbot ist und bleibt nun mal das schärfste Schwert in der Auseinandersetzung mit extremistischen Vereinen. Deshalb liegt die Latte hier aber auch um einiges höher, als das hier oftmals durchklingt. Ich warne deshalb davor, wenn hier mancher Kollege aus übertriebenem Geltungsbedürfnis so tut, als müsste der Bundesinnenminister doch einfach nur par ordre de Mufti entscheiden, die HDJ zu verbieten. Ein solches Verbot muss aber - das wissen wir alle - hundertprozentig gerichtsfest sein. Ansonsten droht ein Propagandaerfolg für den extremistischen Verein vor Gericht. Wie schwer ein solcher Propagandaerfolg wirken kann, wissen wir alle. Für die CDU/CSU kann ich sagen: Wir haben auch in dieser Frage vollstes Vertrauen in das Bundesinnenministerium und in den Bundesinnenminister.

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die SPD-Bundestagsfraktion ist der Meinung, dass inzwischen ausreichend Gründe vorliegen, den Verein „Heimattreue Deutsche Jugend e.V.“ zu verbieten. Der Verein „Heimattreue Deutsche Jugend - Bund zum Schutz für Umwelt, Mitwelt und Heimat e. V.“ - HDJ - ist eine bundesweit tätige Jugendorganisation, die ein rassistisches Weltbild vertritt und durch eine rechtsextremistische Ideologie geprägt ist. Mit mehreren Hundert Mitgliedern ist die HDJ, die im Jahr 2001 aus dem 1990 gegründeten „Bund Heimattreuer Jugend“ hervorging, fester Bestandteil des rechtsextremen Spektrums in Deutschland und verfügt über umfangreiche szeneübergreifende Kontakte. Zudem gibt es enge personelle Verflechtungen mit der NPD und der neonazistischen Kameradschaftszene. Ähnlich wie die im Jahre 1994 verbotene „Wiking Jugend“, man könnte die HDJ ebenso als deren Nachfolgeorganisation bezeichnen, zielt auch die HDJ mit ihrem sogenannten Lebensbund-Konzept darauf ab, Freizeitangebote für Familien und Kinder anzubieten, die der Verbreitung antisemitischer und völkischer Ideologie dienen. Die HDJ ist bestrebt, ganze Familien an die rechtsextreme Szene zu binden, denn nach Eigendarstellung der HDJ sollen bereits „Kleinstkinder“, aber auch Jugendliche für den Rechtsextremismus rekrutiert und nach Familiengründung ein Ausscheiden aus der rechtsextremistischen Szene verhindert werden. Besonders durch die im Internet zum Beispiel auf „youtube“ veröffentlichten Werbefilme versucht die Organisation gezielt, neue junge Mitglieder zu werben. Der Verein veranstaltet Zeltlager, Fahrten und Wanderungen mit dem Zweck einer paramilitärischen Ausbildung der Kinder und Jugendlichen. Durch ideologische Schulungen und die Ausübung militärischer Rituale wird für die Kinder eine völkisch-nationalistische Parallelwelt geschaffen. Nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz betreibt die HDJ - ich zitiere - „unter VorspiegeZu Protokoll gegebene Reden lung einer jugendpflegerischen Tätigkeit … eine gezielte Ideologisierung ihrer Mitglieder“. Weiterhin weist der Verfassungsschutz darauf hin, dass die HDJ versucht, ihre rechtsextremistische, nationalistische Ideologie hinter einer Selbstcharakterisierung als traditionsbewusst und wertorientiert zu verbergen. Als die Polizei im August 2008 erstmals ein Zeltlager der HDJ im Landkreis Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt auflöste, wurden bei den allesamt uniformierten Teilnehmern zahlreiche Gegenstände mit Symbolen der rechten Szene sichergestellt. Die Polizei erklärte dazu, dass die bei der Durchsuchung aufgefundenen und sichergestellten Unterlagen belegen würden, dass die gezielte Verbreitung rechtsextremistischer Inhalte den Tagesablauf der Teilnehmer bestimme und die Kinder im Zeltlager mit nationalistischem Gedankengut regelrecht beschult würden. Trotz des 2007 erlassenen Uniformierungsverbotes durch das Bundesministerium des Innern zeichnen sich die Auftritte der HDJ durch Uniformen oder uniformähnliche Pflichtkleidung, oftmals mit Verbands- und Sonderzeichen, aus. Im Stile militärischer Abzeichen erkennt man das Führungspersonal durch farbige Balken am Oberarm der Hemden. Fahnenappelle, das Marschieren in Reih und Glied sowie Fanfarenzüge konstituieren zudem den paramilitärischen Charakter der HDJ. Eine von der HDJ beim Bundesministerium des Innern beantragte Ausnahmegenehmigung vom in Deutschland geltenden generellen Uniformierungsverbot ist mit der Begründung abgelehnt worden, dass „eine Gesamtschau der Aktivitäten ergibt, dass die politische gegenüber der jugendpflegerischen Betätigung überwiegt. Ungeachtet des Verbotes und unbeeindruckt posieren die Mitglieder der HDJ weiterhin in Uniformen oder uniformähnlichen Kleidungsstücken in Werbefilmen, Kalendern oder im Verbandsorgan „Funkenflug“. In Ausgabe 4/2007 dieses Verbandsorgans wurden alle Mitglieder dazu aufgefordert, sich nicht an das Uniformierungsverbot zu halten. Das ist ein Zeichen dafür, dass sich die HDJ nicht an die Einhaltung von Recht und Gesetz hält. Außerdem finden sich in dieser Zeitung stark geschichtsrevisionistische, rassistische und antisemitische Inhalte. Die HDJ lehnt unsere freiheitlich demokratische Grundordnung strikt ab. Auch tolerantes Verhalten gegenüber Schwächeren wird im „Funkenflug“ 2/2006 als niedere Charaktereigenschaft eingestuft. Laut Bundesamt für Verfassungsschutz werden in dem Verbandsorgan der HDJ Texte publiziert, „in denen der Nationalsozialismus verherrlicht wird sowie antisemitische Einstellungsmuster deutlich werden.“ Inzwischen ermittelt auch die Staatsanwaltschaft zum wiederholten Male wegen Volksverhetzung, Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole, Verstoßes gegen das Uniformverbot, Körperverletzung sowie Bildung bewaffneter Gruppen. Ich meine, es ist Zeit, das längst überfällige Verbot auszusprechen. In diesem Zusammenhang begrüße ich den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Jahressteuergesetz 2009, der in § 51 Abgabenordnung neu regelt, dass extremistische Vereine von der Gemeinnützigkeit ausgeschlossen werden sollen. Eine Steuervergünstigung setzt voraus, dass die Körperschaft nach ihrer Satzung und ihrem tatsächlichen Handeln keine Bestrebungen gegen unsere freiheitlich demokratische Grundordnung fördert oder dem Gedanken der Völkerverständigung zuwiderläuft. Durch diese längst überfällige Regelung in der Abgabenordnung wird ein wichtiger Beitrag geleistet, den rechtsextremistischen Organisationen finanziellen Spielraum zu nehmen. Solche rechtsstaatlichen Schritte sind neben repressiven und präventiven Maßnahmen wichtig im Kampf gegen den Rechtsextremismus und extremistische Bestrebungen. Doch wo Verbote von extremistischen Vereinen nötig sind, sollte der Bundesinnenminister nicht zögern, diese auch zügig auszusprechen.

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Forderung nach einem Vereinsverbot der Heimattreuen Deutschen Jugend, HDJ, die die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem heute zur Debatte stehenden Antrag stellt, zeigt das Bedürfnis, aber auch die Notwendigkeit, rechtsextremistische Aktivitäten und Bestrebungen konsequent und nachhaltig zu bekämpfen. Diese Forderung hat die FDP-Fraktion als Gegenstand einer laufenden parlamentarischen Initiative ebenfalls zum Ausdruck gebracht. Es besteht Einigkeit darüber, dass die HDJ verboten gehört. Positiv hervorzuheben ist, dass das gegen die HDJ ausgesprochene Uniformverbot im Falle des Zuwiderhandelns im Benehmen mit den zuständigen Landesbehörden durchgesetzt wird. Fast wäre der Antrag allumfassend, beinhaltete er die Prüfung des Gemeinnützigkeitsstatus - dies ändert aber nichts an dessen Zustimmungswürdigkeit. Auf der Homepage der HDJ ist nämlich zu lesen, dass sich der Verein über Spenden finanziert. Daher liegt die Vermutung nahe, dass der rechtsextremistische Verein als gemeinnützig anerkannt ist und dadurch steuerliche Vorteile erlangt. An dieser Stelle möchte ich nur an den Verein Collegium Humanum erinnern, der über Jahre vom zuständigen Finanzamt als gemeinnützig eingestuft wurde. Für diejenigen, die es nicht mehr wissen: Collegium Humanum war ein rechtsextremistischer Verein, der erst durch massiven politischen und medialen Druck im Mai dieses Jahres nach über 40 Jahren seines Bestehens verboten worden ist. Mir drängt sich daher die Frage auf, ob rechtsextremistische Vereine in Deutschland eine Art Bestandschutz genießen. Neben der HDJ gibt es noch weitere Vereine, die im Verfassungsschutzbericht aufgeführt werden und bei denen der Verdacht besteht, dass sie mit ihren Aktivitäten die freiheitliche demokratische Grundordnung bedrohen. Wie erklärt man sich, dass Extremisten ganz besonders aus dem rechten, aber auch aus dem linken Lager ungehindert ihr Unwesen treiben? Dieser Zustand ist in einem demokratischen Rechtsstaat schlichtweg inakzeptabel. Der Jugendverein „für alle deutschen Mädel und Jungen im Alter von 7 bis 29 Jahren“ ist hochgefährlich, nicht zuletzt weil er über zunächst unpolitisch erscheinende AktiZu Protokoll gegebene Reden vitäten Jugendliche und Kinder an rechtsextremistisches Gedankengut heranführt. Dabei wird eine jugendpflegerische Tätigkeit vorgespiegelt, in Wahrheit jedoch eine gezielte Ideologisierung im Sinne einer nationalsozialistischen Gesinnung betrieben. Eine der Haupttätigkeiten der HDJ ist die Organisation von Freizeitcamps im Sinne einer „paramilitärischen Ausbildung der Jugend.“ So wurde beispielsweise Anfang August ein von der HDJ organisiertes Ferienlager bei Hohen Sprenz in Mecklenburg-Vorpommern polizeilich aufgelöst. Hakenkreuze, uniformierte Kinder und nationalsozialistische Lehrinhalte sprachen dort eine deutliche Sprache. In diesen Freizeitcamps wird offenbar die NS-Zeit durch Anlehnung an nationalsozialistische Insignien und Flaggenspiele als „selbstbewusster und unverkrampfter“ Umgang mit der Vergangenheit belebt. Mit mehreren Hundert Mitgliedern ist die HDJ ein fester Bestandteil der rechtsextremistischen Szene. Dabei hat die Heimattreue Deutsche Jugend, HDJ, nach Erkenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz ihre Wurzeln in der Wiking-Jugend, WJ. Es bestehen neben gemeinsamen Themen auch personelle Verbindungen zu der verbotenen Jugendorganisation, die erst nach 42 Jahren ihres Bestehens verboten wurde. Wie die Historie aufzeigt, lässt sich die Bundesregierung in diesen Angelegenheiten öfter Zeit. Wie bereits erwähnt, hat es beim Collegium Humanum ähnlich lange gedauert. Dies ist genau der Dreh- und Angelpunkt für die Unzulänglichkeit der Bundesregierung bei der Bekämpfung des Radikalismus. Anstatt sich auf das rechtsextremistische Umfeld zu konzentrieren, befasste sie sich viel zu lange mit einem aussichtslosen NPD-Verbotsverfahren. Die HDJ wird bereits vom Verfassungsschutz beobachtet und ein Vereinsverbot vom Bundesministerium des Innern hoffentlich konsequent vorbereitet. Jedoch muss ich betonen, dass das rechtsstaatliche Instrument des Vereinsverbotes nicht das Allheilmittel darstellt. Die Politik muss auch mit vollem Engagement an der Bekämpfung der Ursachen von Rechtsradikalismus arbeiten. Ein wichtiges Ziel soll daher ebenfalls sein, über Rechtsextremismus nicht mit dem erhobenen Zeigefinger zu informieren, sondern auf Aufklärung und nachhaltige Prävention zu setzen. So muss der Populismus, der von den „Rechten“ praktiziert wird, entlarvt werden. Was Rechtsextreme vor Ort machen, ist nichts anderes, als die Sorgen der Bürger für die Durchsetzung ihrer demokratiefeindlichen Ziele auszunutzen. Es ist daher die Pflicht der Demokraten, die Probleme in unserem Land offen anzusprechen. Nur durch einen ehrlichen Dialog, ehrliche Lösungen und Konzepte können wir den Bürgern die Absurdität der „rechten“ Scheinlösungen klarmachen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Bürger diese Offenheit langfristig honorieren werden. Die Bürger müssen das Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie auch für den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verantwortlich sind. Der Verherrlichung des Nationalsozialismus muss konsequent entgegengetreten werden, und Maßnahmen zur Prävention und Strafverfolgung müssen vollumfänglich ausgeschöpft werden.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dieser Sommer hat wieder einmal gezeigt, dass die Heimattreue Deutsche Jugend ein wichtiger Teil des organisierten Neofaschismus ist. Ein von ihr veranstaltetes Sommerlager wurde von der Polizei aufgelöst, nachdem die Neofaschisten dort gegen das Uniformierungsverbot verstoßen hatten. Doch nicht immer sind aufmerksame Bürgerinnen und Bürger zur Stelle, die gegen ein solches Treiben vorgehen. Von einzelnen Strafverfahren wird sich die Heimattreue Deutsche Jugend nicht in ihren Umtrieben abbringen lassen. Auch die Fraktion Die Linke setzt sich deshalb mit einem Antrag für das Verbot dieser neofaschistischen Organisation ein. Mit mehreren hundert Mitgliedern und einem bundesweiten Organisationsnetz stellt die HDJ eine der größten und wichtigsten Nachwuchs- und Rekrutierungsorganisationen der neofaschistischen Szene in Deutschland dar. Es liegen längst ausreichende Beweise dafür vor, dass die HDJ eine Nachfolgeorganisation der 1994 vom Bundesinnenministerium verbotenen Wiking-Jugend darstellt. So war der „Bundesführer“ der HDJ, Sebastian Räbiger, bis zum Verbot der Wiking-Jugend Leiter von „Gau Sachsen“. Auch weitere Spitzenfunktionäre der Wiking-Jugend finden sich heute an führender Stelle in der HDJ wieder. Schon die neonazistische Wiking-Jugend, die sich ganz bewusst an ihr Vorbild, die SS-Division „Wiking“ anlehnte, war seit ihrer Gründung 1952 jahrzehntelang in der BRD unbehelligt geblieben. Doch schließlich musste die Bundesregierung zugeben, dass die Wiking-Jugend das Ziel verfolgte, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen. Viel zu lange haben die staatlichen Behörden anschließend das braune Treiben der HDJ als Nachfolgeorganisation der Wiking-Jugend schlicht ignoriert. Nicht Polizei und Verfassungsschutzbehörden, sondern engagierte Einzelpersonen haben die Aktivitäten der HDJ in diesem Sommer öffentlich gemacht. Die HDJ bietet einen wichtigen Anlaufpunkt für neofaschistische Familien, die bei ihr im Freizeit- und Jugendbereich umfassende Angebote finden. Des Weiteren wird somit der Etablierung einer rechtsextremen Parallelwelt Vorschub geleistet. Kinder und Jugendliche aus neonazistischen Elternhäusern werden dort bei Lagerfeuerromantik mit der menschenverachtenden Ideologie der Neonazis, mit rassistischem und antidemokratischem Gedankengut indoktriniert. Paramilitärische Ausbildung, die von der HDJ sogenannte soldatische Erziehung, ist wichtiger Bestandteil ihrer Kinder- und Jugendcamps. Selbst Scheinhinrichtungen werden in Wehrsportübungen vollzogen. Die HDJ operiert in enger Verbindung mit der NPD und den Neonazikameradschaften sowie anderen rechtextremen Gruppierungen. Immer wieder treten führende Funktionäre der NPD als Schulungsleiter bei der HDJ auf. Der inzwischen zum stellvertretenden NPD-Vorsitzenden aufgestiegene Jürgen Rieger stellte jahrelang seinen Hof in der Lüneburger Heide für Versammlungen der Zu Protokoll gegebene Reden HDJ zur Verfügung. Im Gegenzug übernehmen ältere HDJ-Mitglieder immer wieder Ordnerfunktionen bei NPD-Veranstaltungen oder treten dort mit Kulturbeiträgen auf. Das Vorbild der HDJ ist eindeutig die Hitlerjugend. Jahreskalender der HDJ verzeichnen den Geburtstag von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß. Die HDJ beteiligt sich an einem jährlichen Gedenkmarsch, der dem Nazi-Idol, SA-Mann Horst Wessel, gewidmet ist. Ihre Zelte tragen Namen wie „Führerbunker“ und selbst Hakenkreuzsymbole wurden bei der Durchsuchung eines Zeltlagers gefunden. Bei den Lagern und Veranstaltungen der HDJ wird im Sinne ihres „soldatischen Erziehungsideals“ Uniform getragen. Über das allgemein geltende Uniformverbot im Versammlungsgesetz setzt sich die Gruppierung hinweg. Ein Verbot allein ist selbstverständlich nicht ausreichend. Gesellschaftliches Engagement ist weiterhin die zentrale Säule des Kampfs gegen rechts. Vorbildlich sind in diesem Zusammenhang eine Elterndemonstration in Detmold gegen die Verführung von Kindern und Jugendlichen durch die HDJ-Einheit Hermannsland, oder Hinweise aufmerksamer Bürger, die zur raschen Auflösung eines HDJ-Camps in Hohen Spenz führten. Begrüßenswert ist zudem die Entfernung eines HDJ-Führers aus dem Technischen Hilfswerk in Greifswald. Denn gerade bei der politischen Jugendarbeit gilt die antifaschistische Losung „Wehret den Anfängen“. Ich will am Schluss aber auch noch auf das Verhalten der Regierungskoalition zu sprechen kommen. Von allen drei Oppositionsfraktionen lagen dem Innenausschuss in seiner gestrigen Sitzung Anträge zu diesem Thema vor. Eine Entscheidung wurde aber vertagt. Offensichtlich ist den Regierungsfraktionen das Thema „Kampf gegen Rechtsextremismus“ nicht wichtig genug, um einmal die parlamentarischen Spielchen sein zu lassen und einem Antrag der Opposition zuzustimmen. Dieses Verhalten ist wirklich ungeheuerlich. Die Beratungen über ein Verbot der HDJ müssen jetzt zügig zu einem Ende geführt werden. Dafür wird sich meine Fraktion weiter entschieden einsetzen.

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nazi-Kinderlager haben in unserem Land nichts zu suchen. Darin besteht sicher bei allen demokratischen Politikerinnen, und Politiker Einigkeit. Dennoch gibt es den Verein Heimattreue Deutsche Jugend e. V. Unter seinem Vereinsdach haben sich Rechtsextreme zusammengetan und umgarnen Kinder und Jugendliche. mit Freizeitangeboten wie zum Beispiel Zeltlagern, Kanufahrten, Wanderungen und Lagerfeuern. Das weckt Gemeinschaftssinn, bringt Spaß und Abenteuer. Langsam werden Heranwachsende in die Gruppe integriert und geraten so schleichend in den Dunstkreis aggressiver Nazi-Ideologie hinein. Der Verein Heimattreue Deutsche Jugend e. V., kurz HDJ genannt, verfügt über .eine feste Einbindung in die. rechtsextreme Szene und hält Kontakt zu Kameradschaften, Parteien und anderen Vereinen. Die HDJ ist bundesweit aktiv und gut organisiert. Ihre Bundesgeschäftsstelle befindet sich in Berlin; koordiniert wird die Arbeit über vier sogenannte Leitstellen, welche sich wiederum in mehrere sogenannten Einheiten unterteilen. Ideologisch bekennt sich die HDJ zum sogenannten Neuheidentum, welches teilweise ein rassistisches Weltbild und nationalistische „Blut- und Bodenmythen“ verherrlicht. Der Bezug zum Nationalsozialismus lässt sich nicht leugnen. Dies belegen auch Fotos und Filmaufnahmen mutiger Journalistinnen und Journalisten. Dort sieht man zum Beispiel HDJ-Zelte mit Aufschriften wie „Führerbunker“ und „Germania“. Kinder begrüßen einander und ihre Ausbilder mit dem Hitlergruß. Fahnenappelle, Wehrsportübungen, Fackelmärsche bereiten auf paramilitärische Schulungen und Nazi-Propaganda vor. Bei ihren gemeinsamen Veranstaltungen tragen die HDJ-Mitglieder eine uniformartige Kleidung mit militärisch anmutenden Verbands- und Sonderabzeichen. Dies ist im Versammlungsrecht verboten; im Jahr 2007 untersagte das Bundesinnenministerium der HDJ ausdrücklich das Tragen von Uniformen. Die Organisation nimmt das jedoch nicht ernst. In ihrem Kalender „Unser Leben 2008“ sowie einem Internet-Werbefilm sind weiterhin uniformierte Mitglieder zu sehen. Die HDJ selbst beschreibt sich auf ihrer Internetseite als „traditionsbewusst und werteorientiert“. Ihr Selbstverständnis wird in folgendem Zitat deutlich: Wir sind uns unserer eigenen Herkunft und der Geschichte unseres Volkes bewusst Als junge Deutsche können wir so manches aus den Erfahrungen unserer Vorfahren lernen. Dies gelingt aber nur, wenn wir uns selbstbewusst und unverkrampft der eigenen Vergangenheit stellen. Völlig „unverkrampft“ knüpfen sie denn auch an die Traditionen der Hitlerjugend an. Gegen einen ihrer Führer ist zum Beispiel ein Verfahren anhängig wegen Vorführung des antisemitischen NS-Propagandafilms „Der ewige Jude“ in einem Freizeitlager. Ewiggestrige Werte und Geschichtsverfälschung verbreiten sie zudem in ihrer vierteljährlichen Broschüre „Funkenflug - jung - stürmisch - volkstreu“. Dort wird auch über das staatliche Uniformverbot gespottet und betont, dass man trage, was man wolle. Die HDJ muss als eine Nachfolgeorganisation der 1994 verbotenen Wiking-Jugend angesehen werden. Es sind personell und inhaltlich deutliche Kontinuitäten zu beobachten, wie auch die Bundesregierung bestätigte. Es gab schwerwiegende Gründe, die Wiking-Jugend zu verbieten. Dass ihre Anhänger heute unter anderem Vereinsnamen wieder auf Seelenfang gehen, können wir nicht akzeptieren. Deshalb fordert die grüne Bundestagsfraktion in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, die Voraussetzungen eines HDJ-Verbotes zu prüfen und bei positivem Prüfergebnis - wovon wir ausgehen - den Verein zu verbieten. Zu lange hat der Staat diesen Neonazis freie Hand gelassen. Das ist verschenkte Zeit, in der Kindern und Jugendlichen eine gefährliche Gehirnwäsche verpasst wird. Ziel der HDJ ist es, genügend Hass gegen unser demokratisches System, zu schüren, um dieses schließlich stürzen zu können. Bei ihren Treffen und Ferienlagern rekruZu Protokoll gegebene Reden tieren sie dazu gezielt eine „Nachwuchsarmee“. Wir dürfen diesem Treiben nicht länger zusehen! Der Verein Heimattreue Deutsche Jugend e. V. muss schnellstmöglich verboten werden Es freut mich persönlich sehr, dass auch FDP und Linksfraktion in ihren Anträgen gleichlautende Forderungen erheben und auch aus der Großen Koalition positive Signale zu hören sind. Im Fall der HDJ ist ein Konsens aller demokratischen Kräfte im Bundestag also sogar zwischen Opposition und Koalition erreicht. Einen solchen Konsens wünschte ich mir auch bei der Ausgestaltung der Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus. Verböte sind ja nur geeignet als Mittel zur Schadensbegrenzung. Repressive Maßnahmen, wie zum Beispiel Verbote, bringen nicht automatisch mehr Demokratie mit sich. Dafür brauchen wir attraktive demokratische Angebote für Kinder, Jugendliche und deren Eltern. Denn wo die Menschen sozial und kulturell eingebunden werden und sich vom Staat wertgeschätzt fühlen, können Nazis gar nicht erst landen.

Gert Winkelmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003864, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Man spreche nicht über Verbote, man spreche sie aus. Aber warum passiert dann nichts? Seit Jahren liegen die Beweise offen, aber die rechtsextreme Heimattreue Deutsche Jugend kann weiterhin ungestört ihr Unwesen treiben. Es reicht eigentlich schon, bei Wikipedia die personellen Übereinstimmungen zwischen der 1994 verbotenen „Wiking-Jugend“ und der HDJ zu lesen, um zu erkennen, dass sie de facto deren Nachfolgeorganisation ist. Genau das aber war mit dem Verbot ebenfalls untersagt worden. Ich verstehe das Zögern des Herr Minister nicht. Ob nun im ARD-Magazin „Panorama“ oder in den im Internet abrufbaren Werbefilmen für die HDJ: Es lassen sich ausreichend Gründe finden, diesen rechten Hetzern das Handwerk zu legen. Die Opfer, über die wir hier sprechen, sind Kinder. Sechsjährige werden schon zum Strammstehen gezwungen, auch bei Schnee und Kälte, wie es, ein Jugendherbergsbetreiber in Franken beobachtet hat. Einer der Propagandafilme wurde im Übrigen in dieser Burg in Wunsiedel gedreht, ohne Wissen des oder Genehmigung durch den Hausherren. Seit Mitte 2007 besteht wenigstens ein Uniformverbot für die HDJ, das diese allerdings alles andere als ernst nimmt: „Wir entscheiden immer noch selbst, welche Kleidungsstücke wir tragen.“ Es wäre an den Ländern, dem Verstoß gegen das Verbot nachzugehen, aber es passiert nichts. Dabei liegen inzwischen ausreichend Beweise vor, dass die HDJ in mehreren Fällen gegen das Verbot verstoßen hat. So berichtet beispielsweise ein Herbergsvater aus dem rheinland-pfälzischen St. Goarshausen, in der Nähe von Koblenz, dass in seiner Herberge zum Jahreswechsel 2007/2008 114 mehr oder weniger gleich gekleidete Kinder ihr Winterlager abgehalten hätten. Veranstalter war die Heimattreue Deutsche Jugend. Ist das keine Uniformierung? Dieser Herbergsvater schildert zudem seine Eindrücke einer paramilitärischen Atmosphäre; eine andere Mitarbeiterin spricht von Straf-Liegestützen gegen einzelne Teilnehmer des Lagers. Wir sprechen hier weiterhin über Kinder. Inzwischen liegen nämlich auch Bilder vor, die zeigen, wie Ausbildungslagers eine Hinrichtung nachstellen. Es ist schlicht nicht mehr verantwortbar, dass die Organisation ungehindert Kinder zu strammen Neonazis heranzieht. Hier muss der Rechtsstaat endlich eingreifen; denn es geht um die freiheitliche demokratische Grundordnung dieses Landes, die von derartigen Vereinen untergraben wird. Intern machen die Mitglieder doch gar kein Hehl aus ihrer Einstellung. Als inhaltlicher Bezugspunkt dient dabei der Nationalsozialismus, dessen Ideologieelemente sich wie ein roter Faden durch die Aktivitäten der HDJ ziehen. Ein völkischer Nationalismus ist ebenso zu erkennen wie die Verherrlichung des Todes oder die Kritik an der Gleichheit der Menschen. Wenn sich aber die Justiz - in diesem Fall die Staatsanwaltschaft Rostock, die die Ermittlungen wegen der Vorfälle in dem im August aufgelösten HDJ-Sommerlager einstellte - darauf zurückzieht, dass es gegen privat genutzte verbotene Symbole keine Handhabe gebe, dann muss das lnnenministerium endlich handeln. Irgendwann muss jeder Prüfvorgang ein Ende haben. Der Verfassungsminister Dr. Schäuble sollte der HDJ endlich das Handwerk legen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache16/9801 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock, Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Zeitbombe der Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee entschärfen - Drucksache 16/9103 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Ingbert Liebing, CDU/CSU, Detlef Müller, SPD, Dr. Christel Happach-Kasan, FDP, Lutz Heilmann, Die Linke, und Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Problematik, mit der wir uns heute beschäftigen, ist seit Jahren in vielen Variationen Thema in den Medien. Besonders in den Sommermonaten reicht die Bandbreite der Berichterstattung von der eindringlichen Warnung, sich überhaupt der Nord- oder Ostsee zu nähern, bis hin zur völligen Entwarnung. Was also sind die Fakten, wenn wir von Munitionsaltlasten vor der deutschen Küste sprechen? Fakt ist, dass tatsächlich Grund zur Sorge besteht. Unbestritten ist, dass es in regelmäßiger Folge zu Unfällen kommt, die auf versenkte Kriegsmunition zurückzuführen sind. Dies sind bis heute auch an der Ostsee, die besonders betroffen ist, glücklicherweise Einzelfälle. Dennoch: Gerade vor ein paar Tagen haben Mitarbeiter eines Bauernhofs in Timmendorf erst wieder ein 4 Meter langes Torpedoteil aus dem Wasser gefischt. Der Strand musste von der Polizei abgesperrt werden, und es dauerte mehrere Stunden, bis der Kampfmittelräumdienst Entwarnung geben konnte. Die Wissenschaft ist sich hingegen nicht einig, wie das Gefahrenpotenzial einzuschätzen ist. Grundsätzlich lassen sich in der Betrachtung der Thematik drei wesentliche Probleme definieren: Erstens. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde im großen Stil Kriegsmunition in Küstengewässern versenkt. Zuweilen geschah dies chaotisch, was angesichts der Gesamtsituation im Nachkriegsdeutschland nicht verwundert. Die genaue Lage dieser Altlasten ist in den seltensten Fällen bekannt. Wenn es zur damaligen Zeit Aufzeichnungen gegeben hat, stimmen diese aufgrund der Meeresströmung kaum noch mit der Realität überein. Größere Mengen Munition sind zudem nicht wie vorgesehen an besonders tiefen Stellen versenkt worden. Entsprechend verstreut liegen heute die Kampfstoffe am Meeresboden. Zusätzlich besteht Gefahr durch im Krieg verlegte Minen und auch durch gesunkene Kriegsschiffe, deren Waffen- und Munitionsbestand in der Regel nicht erfasst ist. Zweitens. Der Forschungsstand zur Gefährdung von Mensch und Natur ist niedrig. Für die Küsten bestehe im Moment kaum eine Bedrohung, weil sich viele Gifte im Wasser schnell verflüchtigten, sagt etwa der finnische Forscher Tapani Stipa vom Finnish Institute of Maritime Research in Helsinki. Er betont aber, auch sein Kenntnisstand sei gering. Hingegen hält der Meeresforscher Stefan Nehring, der eine viel beachtete Studie zum Thema herausgegeben hat, die verklappte Munition für eine Zeitbombe. Toxikologen der Universität Kiel befürchten, dass sich Gifte aus Brandbomben und Gasmunition über die Nahrungskette in Tieren anreichern könnten. Aber auch die kritischen Stimmen bestätigen schlussendlich, dass die bisherigen Erkenntnisse vollkommen unzureichend sind. Drittens. Die oftmals erhobene Forderung, die Munition umgehend zu bergen, könnte das Problem verschärfen, statt es zu lösen und zu einer erheblichen Gefährdung sowohl für das Ökosystem Meer als auch für den Menschen führen. Führende Experten haben wiederholt auf die Gefahren einer möglichen Bergung hingewiesen. Nach 60 Jahren sind viele der Ummantelungen durchgerostet, ein Einsammeln birgt daher im Zweifel unkalkulierbare Risiken. Und eine mögliche Sprengung kann wiederum wegen des damit verbundenen Lärms möglicherweise gravierende Gefahren für die insbesondere in der Ostsee ohnehin gefährdeten Meeressäuger haben. Die vordringlichste Aufgabe besteht also zunächst in der Erfassung der Menge und Lage der versenkten Munition sowie in der wissenschaftlichen Bewertung der möglichen Gefährdung. Was wir brauchen, ist eine verlässliche Gefährdungsabschätzung. Unabhängig von der Sache selbst stellt sich aber zunächst die Frage der Zuständigkeit. Die Beseitigung von Kampfmitteln aus der Zeit der Weltkriege ist als Gefahrenabwehr nach der föderalen Kompetenzverteilung des Grundgesetzes eine Aufgabe der Länder. Für das Aufspüren und die Bergung von Kampfmitteln im Meer ist daher grundsätzlich das jeweilige Küstenland zuständig. Der Bund veranlasst die Beseitigung von Kampfmitteln, wenn diese die Sicherheit des Schiffsverkehrs beeinträchtigen. Ungeklärt ist, wie mit Kampfmitteln verfahren wird, die außerhalb der deutschen Hoheitsgewässer liegen - dies trifft auf den größten Teil der bekannten Munitionsaltlasten zu. Einerseits ist die Gefahrenabwehr also Sache des Bundes. Andererseits ist der Schutz für Badende, Sporttaucher und Fischer, die sich außerhalb der Seewasserstraßen bewegen, Ländersache, obwohl es sich um die gleiche Gefahr, nämlich Kampfmittel aus dem Zweiten Weltkrieg, handelt. Dieser Wirrwarr an Zuständigkeiten und zu beachtender Gesetze muss beendet werden. Hier gab es in der Vergangenheit Versäumnisse, und hier besteht Handlungsbedarf. Insbesondere trifft dies auf die Koordination von Maßnahmen des Bundes mit denen der Länder zu. Dieses Problem ist keineswegs neu. Schon 1999 gab es Ergebnisse einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Aber offensichtlich sind Probleme ungelöst geblieben. Aber Sie als grüne Antragsteller müssen sich schon an Ihre eigene Vergangenheit erinnern lassen: Im November 2001 kam die damalige rot-grüne Bundesregierung zu der Einschätzung, dass angesichts der Menge der versenkten Munition und ihrer weiten Verbreitung eine Bergung weder technisch durchführbar noch finanziell realisierbar sei. Eine unmittelbare Gefahr - so der Bericht - gehe von der Munition auch grundsätzlich nicht aus, da sie regelmäßig mit einer bis zu mehreren Metern starken Sedimentschicht überdeckt sei. Nachzulesen ist dies in der Drucksache 14/7277. Der Tenor des heute vorliegenden Antrages, dass hier ein vergleichsweise neues Problem vorliegt und die jetzige Bundesregierung etwa versäumt hat, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, wird mir angesichts der Faktenlage nicht ganz verständlich. Schon im Jahr 2000 hatte die CDU-Fraktion im schleswig-holsteinischen Landtag eine Anfrage an die damalige rotgrüne Landesregierung gestellt. Die Antwort des damaligen grünen Umweltministers Klaus Müller: „In den deutschen Hoheitsgewässern der Ostsee wurde keine Kampfmunition versenkt, so dass hier auch keine Bedrohung vorhanden ist.“ Aus den verschiedenen Antworten aus dem Hause Müllers ergibt sich, „dass hier kein HandZu Protokoll gegebene Reden lungsbedarf gegeben ist“. Nachzulesen ist das in der Landtagsdrucksache 15/479. Es passt nicht zusammen, wenn die Grünen heute zum Handeln drängen, während Sie in Ihrer eigenen Regierungsverantwortung das Thema unter den Teppich gekehrt haben. Dazu passt auch nicht, dass Sie heute einen 20 Punkte umfassenden Maßnahmenkatalog vorlegen, obwohl doch eine Ihrer sicherlich berechtigten Forderungen nach Gefährdungsabschätzung ausdrücklich sagt, dass wir noch deutlich mehr Erkenntnisse brauchen, bevor wir falsche Maßnahmen ergreifen. Wir brauchen eine gemeinsame Lösung - in der Sache selbst genauso wie im Kompetenzgerangel. Es gibt viele Versuche einer vernünftigen Lösung, zum Beispiel auch durch die schleswig-holsteinische Landesregierung in Verantwortung von Umweltminister Christian von Boetticher. Wir brauchen langfristig tragfähige Lösungen, aber keine unausgegorenen Schnellschüsse. Einige Forderungen aus dem vorliegenden Antrag sind daher zum Teil bereits Realität, andere illusorisch und mit den Mitteln des Bundes kaum zu verwirklichen: Das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie hat Bestandsaufnahmen über Munitionsversenkungsgebiete in Nord- und Ostsee durchgeführt. Die bekannten Versenkungsgebiete sind seit langem in den amtlichen Seekarten gekennzeichnet. Darüber hinaus wird bei Baumaßnahmen an Seewasserstraßen der Baustellenbereich regelmäßig untersucht, um Personen- und Sachschäden vorzubeugen. Innovative Methoden im Umgang mit den Munitionsaltlasten werden längst erfolgreich angewandt etwa im vergangenen April durch Probesprengungen östlich der Kieler Außenförde. Eine Offenlegung sämtlicher Koordinaten oder auch nur eine annähernd verlässliche Datenbasis über Art und Umfang versenkter Giftstoffe aus Zeiten der Sowjetunion einzufordern, brächte kaum verwertbare Ergebnisse, ebenso wie einseitige Vorschläge an die Russische Föderation zur „Entsorgung militärischer Altlasten im Raum Kaliningrad“. Vielmehr brauchen wir gemeinsame Lösungen aller Ostseeanrainer etwa im Rahmen von HELCOM oder dem Ostseerat. Ich denke, wir alle stimmen darin überein, dass das Problem der versenkten Munitionsaltlasten aus dem Zweiten Weltkrieg auf die Tagesordnung gehört. Die ökologischen und im Übrigen auch die wirtschaftlichen Folgen einer Vernachlässigung dieser Thematik wären äußerst bedenklich. Daher muss das Kompetenzgeflecht aufgelöst und der Meeresboden langfristig zentral koordiniert nach versenkter Munition abgesucht werden. Ganz wesentlich ist, dass Sanierungskonzepte für die am stärksten belasteten Seegebiete entwickelt und umgesetzt werden. Nicht zuletzt die touristische Wirtschaft unserer Küste, aber auch die Fischerei ist an einer Lösung dieses Themas interessiert. Der Antrag der Grünen ist einerseits scheinheilig, weil Sie Ihre eigenen Versäumnisse in Ihrer Regierungszeit verschweigen. Andererseits handelt es sich um ein objektives Problem, das gelöst werden muss. Es ist eine komplexe Thematik, die nicht mit Schnellschüssen zu erledigen ist. Wir brauchen eine Schrittfolge: erstens Klärung der Kompetenzen, zweitens Gefährdungsabschätzung, drittens Maßnahmenkatalog, viertens internationale Verständigungen. Ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen einer Lösung einen deutlichen Schritt näherkommen können.

Detlef Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Seit mehr als 60 Jahren bergen Nord- und Ostsee ein gefährliches Sprengstoffpotenzial, denn an zahlreichen Stellen liegen auf dem Meeresgrund oftmals stark giftige Munitionsreste aus dem Zweiten Weltkrieg. In der Hektik der letzten Kriegstage hatten deutsche Soldaten die Munition versenkt, damit sie nicht den Alliierten in die Hände fällt. Weil die Kapitäne früher nach der Anzahl der Entsorgungsfahrten bezahlt wurden, waren diese sehr engagiert und kippten deshalb die gefährliche Fracht häufig schon auf dem Weg zum Versenkungsgebiet über Bord. Wer damit gerechnet hätte, dass diese Praxis nach Ende des Krieges der Vergangenheit angehört hätte, wurde bitter enttäuscht. Die unkontrollierte Entsorgungspraxis wurde von den Alliierten einfach übernommen und in noch viel größerem Maße durchgeführt. Bis 1948 bezahlten die Alliierten einfache Fischer dafür, Munitionsreste in ausgewiesenen Seegebieten zu versenken. Dabei handelte es sich um Bomben, Granaten und ganze Container - gefüllt mit einer tödlichen Fracht aus Senfgas, Phosgen oder Sarin. Allein auf dem Meeresgrund der Ostsee sollen in Fässern, Bomben etc. bis heute mindestens 65 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe wie Senfgas, Tabun, Zyklon B und Sarin lagern. Hinzu kommt, dass nach Meinung von Experten nach dem letzten Krieg zusätzlich mehrere hunderttausend Tonnen konventioneller Munition in der Nord- und Ostsee versenkt wurden. Diese verklappten Kampfmittel führen bis heute vereinzelt bei der Schleppnetzfischerei zu Problemen. Die Problematik wird noch zusätzlich dadurch verschärft, dass die Giftladungen, wie bereits erwähnt, häufig weit vor Erreichen der angeordneten Versenkungsstellen über Bord gelassen wurden, sodass heute niemand mehr weiß, wo sich die Altlasten wirklich befinden. Hinzu kommt, dass seit Jahren durch die Grundschleppnetzfischerei die Munitionsreste immer weiträumiger verteilt werden. Auch existieren bis zum heutigen Zeitpunkt keine verlässlichen Schätzungen darüber, wie viele Minen, Torpedosprengköpfe, Bomben und Giftgasgranaten sich in Küstennähe wirklich auf dem Meeresboden befinden. Dies alles stellt ein bedrückendes Szenario dar, und ich halte es für gut, dass der Antrag der Grünen das Thema der Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee wieder in unser Blickfeld rückt. Ich halte auch die Forderung der Grünen für richtig, dass wir eine klare Regelung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern brauchen, weil sich Bund und Länder oftmals gegenseitig die Verantwortung für die Entsorgung der Altlasten zugeschoben haben. Zu Protokoll gegebene Reden Detlef Müller ({0}) Allerdings, und das sage ich auch deutlich, halte ich auch nichts von übertriebener Panikmache. Wir haben es ja nicht mit einer plötzlich aufgetretenen Gefahr zu tun, sondern das Problem ist schon lange bekannt. Die Bundesregierung ist in dieser Angelegenheit nicht untätig gewesen. Und viele Forderungen, die im Antrag der Grünen enthalten sind, werden in der Praxis bereits umgesetzt. So ist Deutschland als Mitglied des OSPAR-Abkommens seinen Verpflichtungen nachgekommen. Die Abfrage und Bewertung erfolgt dazu alle drei Jahre, zuletzt in diesem Jahr, unter anderem als Beitrag zu einer Bewertung im Rahmen des OSPAR-Qualitätszustandsberichts 2010. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, bevor Sie nach einer gesetzlichen Meldepflicht für alle Unfälle mit Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee rufen, hätten Sie sich lieber mal kundig gemacht. Bei den Ländern bestehen längst etablierte Meldewege. Im Falle von Niedersachsen erfolgt dies zum Beispiel über die Behörden der Gefahrenabwehr. Die Ordnungsverwaltungen der Städte und Gemeinden oder die Polizei werden bei einem Fund von Munition tätig. Die Beseitigung der Munition obliegt dann der Verantwortung des Kampfmittelbeseitigungsdienstes. Im Bereich der niedersächsischen Küste gibt es sogar noch einen zweiten Meldeweg - eine Direktmeldung durch Küstenfischer direkt an den Kampfmittelbeseitigungsdienst. Sie fordern in Ihrem Antrag auch gründliche Untersuchungen. Wir haben ja bereits Forschungsberichte vorliegen, die nach bisherigem Stand keine unmittelbare Gefahr für Menschen, die Meeresumwelt oder die Küstenregion befürchten. Diese sind im Rahmen der von HELCOM und OSPAR zusammengetragenen Informationen auch öffentlich zugänglich. So haben zum Beispiel Untersuchungen für das Bornholm- und Gotlandbecken ergeben, dass in den Becken der Ostsee Munitionsaltlasten weitgehend mit Sediment bedeckt wurden, soweit sie nicht schon beim Einbringen in das weiche Oberflächensediment eingesunken sind. Aufgrund der geringen Bodenströmungen sind Freilegungen der Munitionsaltlasten hierbei nicht zu erwarten. Auch die Gefahr des Durchrostens der in der Ostsee lagernden und mit chemischen Kampfstoffen gefüllten Fässer wurde untersucht. Aufgrund der physikalisch-chemischen Eigenschaften der versenkten Kampfstoffe und der hydrographischen Gegebenheiten in den Versenkungsgebieten kann man davon ausgehen, dass für das Wasser keine großräumige Gefährdung entsteht. Die schwer abbaubaren Verbindungen sind nämlich meist sehr schlecht wasserlöslich, sodass sie im Sediment - also am Boden verbleiben. Nur in der Nähe der Versenkungen ist lokal begrenzt mit höheren Konzentrationen zu rechnen. Die besser löslichen Verbindungen wie Phosgen oder Lost werden relativ schnell im Wasser zu unschädlichen Verbindungen abgebaut. Daher sind im Wasser keine höheren Konzentrationen zu erwarten. Auch sind die gefährlichen Gebiete in allen Seekarten vermerkt. In den amtlichen Seekarten sind im deutschen Teil der Ostsee zum Beispiel dreizehn Gebiete als „Unrein ({1})“ eingezeichnet. Eine Eintragung erfolgt, wenn als zuverlässig angesehene Quellen das für die Erstellung der Seekarten zuständige Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie ({2}) auf Munitionsfunde hinweisen. Die Kennzeichnung in den Seekarten und ergänzende Warnhinweise, zum Beispiel, dass Ankern und Fischen verboten sind, warnt die Schifffahrtstreibenden und insbesondere die Fischer und soll somit das Unfallrisiko reduzieren. Auch die Bundesmarine ist angewiesen, die zuständigen Stellen kontinuierlich über Munition und Kampfmittel, die zum Beispiel im Rahmen des jährlichen multinationalen Ostseemanövers „Open Spirit“ geortet werden, zu informieren. Trotzdem, und auch das gehört auch zur Wahrheit, fahren einige Fischer in diese eigentlich gesperrten Bereiche, um dort zu fischen, weil sich in diesen Bereichen Rückzugsgebiete der Fische befinden und sie deshalb auf eine höhere Fangquote hoffen. Diese Fischer verhalten sich illegal, sie gehen bewusst ein hohes Risiko ein, weil es natürlich passieren kann, dass sich Granaten in den Schleppnetzen verfangen können. Zusammenfassend kann man feststellen, dass nach den uns vorliegenden Berichten zumindest hinsichtlich der Munitionsaltlasten keine großräumige Gefährdung in Relation zur gesamten Schadstoffbelastung zu erwarten ist. In diesem Zusammenhang verweise ich auf die Antwort der Bundesregierung in der Drucksache 16/353. Nach dem HELCOM-Abschlussbericht besteht nach den vorliegenden Kenntnissen demnach kein weitreichendes Risiko durch im Wasser gelöste Kampfstoffe für die Umwelt der Ostsee. Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass viele Forderungen im Antrag der Grünen bereits längst Realität und deshalb überflüssig sind. Sie dienen nur der Panikmache, dies können wir allerdings bei diesem zugegeben sensiblen Thema nicht gebrauchen. Trotzdem bedarf es in Zukunft vor allem einer besseren Verzahnung und Kompetenzzuweisung zwischen Bund und Ländern, es darf kein Kompetenzwirrwarr mit eventuellen Sicherheitsrisiken für die Bürger geben. Der Föderalismus in unserem Land darf uns an dieser Stelle nicht behindern!

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee sind seit Jahrzehnten ein schwer abschätzbares Risiko für Umwelt und Gesundheit von Menschen. Fischer können bei Munitionsfunden, Urlauber durch die Verwechselung von Phosphor mit Bernstein gefährdet werden. In der letzten Woche wurde auf dem Timmendorfer Strand ein mehrere Meter langes Mittelteil eines Torpedos angespült. Die Beispiele zeigen: Wir werden mit diesen Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkriegs noch viele Jahrzehnte leben müssen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat in dieser wie auch in der vorletzten Legislaturperiode die Bundesregierung in Kleinen Anfragen nach ihren Kenntnissen, Bewertungen und Maßnahmen befragt ({0}). Doch weder die jetzige schwarz-rote, noch die vorherige rot-grüne Regierung erwiesen sich als besonders auskunftsfreudig. Wenn Nord- und Ostsee betroffen sind, halZu Protokoll gegebene Reden ten sich die jeweiligen Bundesregierungen für nicht zuständig. Jüngstes Beispiel: Drei Wochen hat es gedauert, bis das illegale Versenken von Felsblöcken auf dem Außenriff von Sylt beendet wurde. Jeder in der Regierung wusste, es ist illegal, doch gegen den Zustandsstörer Greenpeace wollte keiner tätig werden, obwohl der Rechtsbruch offensichtlich war und der Schutz von FFHGebieten durch die Duldung eines solchen Rechtsbruchs ein Präzedenzfall wäre, der den Schutz von FFH-Gebieten erschwerte. Im vergangenen Sommer fand in Berlin die 16. Ostseeparlamentarierkonferenz statt. Im Juli haben wir auf der Grundlage zweier Anträge der Koalition sowie eines umfassenden Antrags der FDP mit dem Titel „Zukunftschancen des Ostseeraums - Wirtschaft; Ökologie; Kultur und Tourismus“ über die Ostsee debattiert ({1}). In diesen Zusammenhang gehört selbstverständlich auch das Thema Munitionsaltlasten, das von uns auch berücksichtigt wurde. Ein Jahr später nun spricht Bündnis 90/Die Grünen von der „Zeitbombe der Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee“, so der Titel des Antrags. Vor einem Jahr war die Ostsee den Grünen nicht einmal einen eigenen Antrag wert, und jetzt auf einmal sind die seit über 60 Jahren auf dem Grund der Ostsee liegenden Munitionsaltlasten eine Zeitbombe. Als Herr Trittin Umweltminister war, hat diese sogenannte Zeitbombe wohl auch schon getickt, aber der damalige Umweltminister hat dennoch absolut nichts unternommen. Dafür stellen die Grünen jetzt einen Katalog mit 20 Forderungen auf. Das ist entweder das Eingeständnis, dass sie selbst auf dem Gebiet nichts geleistet haben, oder ein weiteres Beispiel für die bei den Grünen zum Politikstil gehörende Panikmache. Wir sollten uns nichts vormachen: Wir können auch bei hohem Mitteleinsatz das Problem nicht aus der Welt schaffen, aber auch wir als FDP haben Vorschläge für einen besseren Umgang mit dem Problem. Nach offiziellen Unterlagen des Munitionsbergungsdienstes Mecklenburg-Vorpommern verfehlten über 600 Tonnen Sprengbomben und etwa 110 Tonnen Brandbomben bei der Bombardierung der Heeresversuchsanstalt für Raketenforschung in Peenemünde ihr Ziel und fielen in direkter Küstennähe ({2}) in die Ostsee. Berechnungen des Munitionsbergungsdienstes ergaben, dass sich circa 60 Tonnen weißer Phosphor in dieser Bombenfracht befunden haben. Weißer Phosphor ist im Meer persistent, das heißt, er wird nicht natürlich abgebaut und ist auch nach Jahrzehnten noch vollständig vorhanden. Der Schwerpunkt für Unfälle mit Phosphor liegt an den Stränden im nordöstlichen Bereich von Usedom, wo phosphorhaltige Brandmittel regelmäßig angeschwemmt und mit Bernstein verwechselt werden, was zu schweren Verbrennungen führen kann. Nach dem Krieg haben die Alliierten chemische Kampfmittel in großen Mengen in der Ostsee verklappt. In Fässern, Bomben etc. lagern bis heute mindestens 65 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe wie Senfgas, Tabun, Zyklon B und Sarin auf dem Meeresgrund der Ostsee. Nach Meinung von Experten ({3}) wurden nach dem letzten Krieg zusätzlich mehrere Hunderttausend Tonnen konventioneller Munition in der Ostsee versenkt. Diese verklappten Kampfmittel führen bis heute besonders bei der Schleppnetzfischerei zu Problemen. Die Bundesregierung ist bisher von der Einschätzung ausgegangen, dass von den Munitionsaltlasten keine Gefahr ausgehe. Sie stützt sich dabei auf Angaben der HELCOM von 1994, dass ein Großteil der in der Ostsee versenkten Munitionsaltlasten in Wassertiefen zwischen 70 und 120 Metern, im Skagerrak zwischen 200 und 700 Metern liege. In diesen Wassertiefen herrscht meist eine stabile Wassermassenschichtung mit einer nur schwachen Bodenströmung, weshalb der vertikale Stofftransport sehr gering ist, sodass keine direkte Gefahr von der Altmunition ausgeht. Die Bergung von Munitionsaltlasten aus dem Meer ist mit einem sehr hohen Risiko für das Ökosystem verbunden, da durch mechanische Beschädigungen größere Mengen der Kampfstoffe freigesetzt werden könnten, so das Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen aus dem Jahr 2004. Die Bundesregierung bezeichnet die Kennzeichnungen gefährdeter Gebiete als ausreichend. Verletzungen von Touristen zeigen jedoch, dass diese besser über das Risiko informiert werden müssen, das in der Verwechselung von Phosphor mit Bernstein liegt. Die Bundesregierung ist außerdem in der Pflicht, für mehr Aufklärung und Transparenz im Zusammenhang mit der möglichen Gefährdung der Ostsee durch Munitionsaltlasten zu sorgen. Angesichts der regelmäßig wiederkehrenden öffentlichen Diskussion über die Altlasten in der Ostsee wäre eine abgestimmte Informationspolitik von Bund und Ländern über das Thema sinnvoll und vertrauensbildend. Auch die Einführung einer deutschlandweiten Meldepflicht für Unfälle mit Munitionsaltlasten an Stränden und in der Fischerei ist sinnvoll und überfällig. Dänemark hat eine solche Meldepflicht. Es drängt sich der Gedanke auf, dass die Bundesregierung die Sorgen von Bevölkerung und Fachleuten nicht ernst nimmt. Hier besteht Handlungsbedarf, den die Bundesregierung entweder bisher nicht gesehen hat oder nicht sehen will. Da die Bundesregierung sich bisher als weitgehend handlungsunwillig erwiesen hat, ist es gut, dass jetzt immerhin in Schleswig-Holstein eine Arbeitsgruppe gebildet wurde, die sich mit den Munitionsaltlasten im Meer beschäftigt und dabei hoffentlich zu befriedigenden Ergebnissen kommen wird.

Lutz Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003766, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vergraben, Versenken und Vergessen ist das Rezept aller bisherigen Bundesregierungen für unseren Sondermüll. Seit kurzem hält das Endlager Asse II die Öffentlichkeit in Atem. Wie hier gepfuscht und vertuscht wurde, ist atemberaubend. Aber auch „gewöhnlicher“ Müll beschäftigt uns immer wieder, wenn Wohnungen auf alten Müllkippen gebaut wurden. Eine besondere Gefahr stellt die halbe Million Tonnen Altmunition dar, die seit Jahrzehnten auf dem Grund von Nord- und Ostsee verfallen. Die haben entweder im Krieg ihr Ziel verfehlt. Oder sie Zu Protokoll gegebene Reden wurden nach dem Krieg von Ost wie West einfach im Meer entsorgt. Sieht ja keiner, war wohl die Devise. Atommüll sieht man auch nicht. Aber dass der gefährlich ist, bestreitet nicht einmal die Atompartei CSU. Minen, Torpedos, Granaten und ungezählte Bomben der Kategorie „Großkampfstoffe“ sind extrem gefährlich. Das, was die Bomben im Krieg zum Glück nicht geschafft hatten, nämlich Schiffe zu versenken, das kann aber heute jederzeit passieren. Außer durch spontane Detonationen explodieren Bomben auch dann, wenn am Meeresboden schleifende Schiffsanker dagegenstoßen. Da kann auch mal ein Schiff untergehen. Besonders gefährdet sind Fischer, die mit ihren Netzen die Bomben an Bord holen. Erst im Frühjahr starben drei niederländische Fischer, als eine Bombe an Deck ihres Schiffes explodierte. Wenn sie nicht explodieren, dann zerfallen die Bomben an Deck. Atemnot, Erstickungen und Verätzungen sind die Folge, wenn Giftstoffe, die in den Bomben sind, freigesetzt werden. Für Badende und Erholungssuchende besteht die Gefahr von Verbrennungen durch an Strände gespülte Phosphorteilchen alter Brandbomben. Diese sind leicht mit Bernstein zu verwechseln. Sobald der Phosphor jedoch getrocknet ist, verursacht er starke Verbrennungen. Das Ökosystem ist ebenso betroffen. Fische und Pflanzen nehmen die Gifte auf, viele Fische verenden daran. Insbesondere die am Meeresboden lebenden Flundern sind betroffen. Und wer isst nicht gerne einmal die Ostseescholle? Sie sollte aber nicht vergiftet sein. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind bislang 581 Menschen zu Schaden gekommen. 283 Todesfälle sind zu beklagen. Wir reden hier also nicht über irgend so ein spinnertes Ökothema, wie das manche vielleicht abtun wollen. Wir reden hier ganz konkret über die Rettung von Menschenleben. Und was passiert? Nichts. Dabei sind viele Lagerstätten bekannt. Und technisch ist die Bergung, wenn auch aufwendig, möglich. Aber statt Menschenleben zu retten erleben wir seit Jahren einen kleinkarierten Streit zwischen Bund und Ländern. Dabei geht es - worum auch sonst - ums Geld. Offiziell geht es natürlich um die formale Zuständigkeit. Aber wer die hat, muss eben auch die Bergung der Munition zahlen. Derzeit ist nur die Gefahrenabwehr für den Schiffsverkehr dem Bund zugewiesen. Die Abwehr von Gefahren für Badende, Sporttaucher und Fischer außerhalb der Seewasserstraßen hingegen ist Ländersache. Den Verletzten oder den Angehörigen der Toten ist es aber völlig egal, ob nun der Bund oder die Länder Schuld haben, dass eine Bombe auf einem Schiff explodiert. Es kann nicht sein, dass für jede Bombe die Zuständigkeit erneut geprüft werden muss. Dann passiert nämlich lange erst einmal gar nichts. Ich fordere deshalb, dass die einheitliche Zuständigkeit des Bundes hergestellt wird. Warum? Es handelt sich überwiegend um ehemals reichseigene Munition aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Rechtsnachfolger des deutschen Reiches ist unbestritten der Bund. Der Bund ist Eigentümer der Gewässer vor den Küsten. Und die Länder sind damit schlicht finanziell überfordert. Deshalb unterstütze ich den Antrag der Grünen. Der ist zwar etwas schwammig formuliert, aber in der Sache richtig. Deswegen meine konkreten Forderungen an die Bundesregierung: Erstens. Innerhalb des nächsten halben Jahres soll der Bund die alleinige Zuständigkeit für Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee übernehmen. Zweitens. Es ist innerhalb des nächsten Jahres eine umfassende öffentliche Meldepflicht für Sprengstofffunde, Munitionsunfälle sowie Munitionsverluste einzuführen. Drittens. Spätestens in einem Jahr ist mit der umfassenden und einheitlichen Katalogisierung und Kartografierung aller Munitionsfunde zu beginnen. Viertens. Sofort ist mit der raschen und systematischen Bergung und dem Unschädlichmachen der Altmunition zu beginnen. Meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie könnten hier noch einmal Tatkraft demonstrieren. Oder wollen Sie sich bis zum Ende der Legislaturperiode nur noch streiten? Last but not least frage ich die Bundesregierung: Wurde die Ortung und Bergung von Munition bei den Kosten der Fehmarnbelt-Querung eingerechnet? Im Fehmarnbelt liegt meines Wissens jedenfalls eine Menge davon rum. 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sollte neben dem geschichtlichen Aspekt endlich auch damit begonnen werden, die äußerst realen explosiven Hinterlassenschaften der Nazi-Diktatur aufzuarbeiten. Es muss Schluss sein mit dem Verbrennen, dem Vergraben und dem Vergessen.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Auf den Böden von Nord- und Ostsee rosten noch immer mindestens 700 000 Tonnen Munition und Kampfstoffe aus dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit danach. Seit 1945 sind mindestens 581 Menschen Opfer von Unfällen geworden, 283 Menschen verloren ihr Leben. Heute geht von den tickenden Zeitbomben eine erhebliche Gefahr für Mensch, Umwelt, Fischerei und Tourismus aus. Regelmäßig werden Munitionsrückstände an deutsche Strände gespült. Dort stellen sie nicht nur eine erhebliche Gefahr für Urlauber und Badegäste, sondern auch für die touristische Attraktivität ganzer Regionen dar. Auch die Schifffahrt ist in erheblichem Maße betroffen: Fischer finden in ihren Netzen nach Angaben des Umweltgutachters Dr. Stefan Nehring durchschnittlich 3 000 Kilogramm Munitionsrückstände im Jahr, mehrere Fischkutter sanken bis heute. Der letzte große Unfall ereignete sich 2005, als drei niederländische Fischer getötet wurden. Große Fanggebiete in der Nordsee sind bereits für die Fischerei gesperrt. Kartierungen - wenn überhaupt vorhanden - erlauben es nur bedingt, Rückschlüsse auf die tatsächliche Gefährdung von Gebieten zu Zu Protokoll gegebene Reden ziehen: Durch Meeresströmungen kommt es zu teilweise erheblichen Abweichungen zwischen angegebenen Gefährdungsgebieten und tatsächlichen Fundstellen. In einer der meist frequentiertesten Wasserstraßen der Welt, der Kadetrinne, liegt das Wrack eines Kriegsschiffes mit mindestens drei Bomben an Bord. Rund 200 Schiffe passieren täglich die schwer schiffbare Passage, die durch ein ökologisch hoch sensibles Gebiet führt, darunter viele Öltanker. Ein Unfall an dieser Stelle hätte katastrophale Folgen für die Meeresumwelt. Die Antwort auf meine Kleine Anfrage „Munitionsaltlasten in der Kadetrinne“ vom 27. Juni 2008 ist bezeichnend für das bisherige Vorgehen der Bundesregierung in Sachen Munitionsrückstände: Mit dem Hinweis darauf, dass die Kadetrinne innerhalb der deutschen Ausschließlichen Wirtschaftszone ({0}) läge, dort Internationales Seerecht gelte, welches die Rechte und Pflichten nicht klar regele, weist die Bundesregierung jede Zuständigkeit von sich. Sollte von den Bomben eine Gefahr für die Schifffahrt ausgehen, was zum heutigen Zeitpunkt keinesfalls ausgeschlossen werden kann, wäre die Bundesregierung jedoch durch die von ihr geschlossenen internationale Verträge zwingend zum Handeln verpflichtet. Zu diesem Ergebnis kommt eine von mir in Auftrag gegebene Untersuchung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages. Die Bundesregierung hat sich in der Vergangenheit als unfähig erwiesen, sich dem Problem der Munitionsaltlasten in einem Maße anzunehmen, welches der Risiken und Gefahren auch nur ansatzweise gerecht wird: Nach wie vor sind die Kompetenzenregelungen zwischen Bund, Ländern und Behörden auf der einen Seite, zwischen der Bundesrepublik Deutschland, anderen Meeresanrainern und der Europäischen Union auf der anderen Seite völlig unzureichend geregelt. Grundlegende Daten für die Bewertung der von den Munitionsrückständen ausgehenden Gefahren und Risiken sowie offizielle Statistiken über Unfälle fehlen noch immer. So ist unklarer denn je, welche reellen Gefahren von den Munitionsaltlasten für die Meeresumwelt und den Menschen, für die Fischerei und Unterwasserbauvorhaben wie der Ostseepipeline tatsächlich ausgehen. Anstatt endlich zu handeln, betreibt die Bundesregierung frei nach dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“ ein gefährliches Spiel. Meine Fraktion fordert die Bundesregierung seit langem dazu auf, endlich klare Zuständigkeiten zu benennen, Statistiken als Grundlage einer seriösen Bedrohungsanalyse für Mensch und Umwelt zu erstellen, eine deutlich verbesserte Informationspolitik zu betreiben und effektive Sicherungsmaßnahmen, die die größten Risiken einzudämmen in der Lage sind, vorzunehmen. Die Zeit drängt: Die Durchrostung der Kampfmittel schreitet weiter voran, Spreng- und Kampfstoffe werden verstärkt freigesetzt. Kürzlich stellten Kieler Toxikologen eine zunehmende Konzentration von Arsen in Ostseeschollen fest. Sowohl der Mensch, der diese Giftstoffe über die Nahrungskette aufnimmt, als auch die Meeresumwelt sind zunehmend gefährdet. Mit unserem Antrag, der eine Reihe ganz konkreter Maßnahmen enthält, fordern wir die Bundesregierung nochmals entschieden dazu auf, sich der Problematik der tickenden Zeitbomben in unseren Meeren - sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene - endlich anzunehmen. Die Bundesregierung muss sich gegenüber der Europäischen Kommission im Rahmen der Europäischen Meerespolitik für effektive Managementkonzepte und klare Kompetenzzuweisungen einsetzen. Ein Aktionsprogramm unter Einbeziehung aller Ost- und NordseeAnrainerstaaten ist lange überfällig. Die Sanierung der Ost- und Nordsee ist nur als Gemeinschaftsaufgabe der Anrainerstaaten zu realisieren. Weitere Untersuchungen und wissenschaftliche Forschungen müssen dringend durchgeführt werden. Wenn vier Meter lange Torpedos an deutsche Strände gespült werden, muss selbst die Bundesregierung endlich begreifen, dass die Zeit des Wegguckens ein für allemal vorbei ist.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache16/9103 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Arbeitslosengeld II unbürokratisch berechnen und auszahlen - Rechts- und Planungssicherheit für Leistungsbeziehende schaffen - Drucksachen 16/7838, 16/8445 Berichterstattung: Abgeordneter Stefan Müller ({1}) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Karl Schiewerling, CDU/CSU, Angelika Krüger-Leißner, SPD, Dirk Niebel, FDP, Katja Kipping, Die Linke, und Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit diesem Antrag spricht sich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen grundsätzlich für die Beibehaltung des Prinzips pauschalierter Sozialleistungen aus. Die Pauschalierung ist ein wichtiges Prinzip im SGB II. Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat dies gefordert und in die Reform der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe mit hineingeschrieben; zum einen deshalb, weil die pauschalierte Regelleistung mehr Selbstständigkeit für Leistungsbeziehende bedeutet, zum anderen, weil Sozialverwaltungen von aufwendigen Einzelfallprüfungen verschont bleiben. Soweit abweichend von der Pauschalisierung der Regelleistung die Schaffung individueller Sonderbedarfe, insbesondere auch für Kinder und Jugendliche, gefordert wird, lehnen wir das grundsätzlich ab. Man kann individuellen Einzelfällen nicht durch eine gesetzliche Verordnung gerecht werden, ohne ein System aufbauen zu müssen, das hinterher kaum noch zu durchblicken ist. Zudem kann man nicht gleichzeitig bürokratische Einzelfallprüfungen bemängeln und auf der anderen Seite einen Anspruch auf individuelle Mehraufwandsentschädigung fordern. Diese Ansprüche müssten ebenfalls durch die Jobcenter überprüft werden, die bereits mit bürokratischen Einzelfallprüfungen überfrachtet sind. Sie kritisieren in ihrem Antrag die Arbeitslosengeld-IIVerordnung. Die Berücksichtigung von Sachleistungen, etwa der unentgeltlich bereitgestellten Verpflegung, ist erforderlich, weil die Betroffenen insoweit Leistungen erhalten, die den Lebensunterhalt teilweise sichern und dem gleichen Zweck wie die Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch dienen. Würde keine Anrechnung erfolgen, würden die Betroffenen insoweit doppelte Leistungen erhalten. Die Neuregelung enthält aber auch eine Bagatellgrenze, die Härten vermeiden und die Verwaltung von der Rückforderung kleinerer Beträge entlasten soll: Erst wenn das Einkommen aus dem Sachbezug der bereitgestellten Verpflegung in einem Monat einen Betrag in Höhe von derzeit 83,28 Euro monatlich übersteigt, wird es nach Abzug der Zuzahlungen als notwendige Ausgaben als Einkommen berücksichtigt. Da die durchschnittliche Dauer eines Krankenhausaufenthaltes in Deutschland bei 8,5 Tagen liegt, wird für die überwiegende Zahl der Betroffenen mit der Rechtsverordnung die Klarheit geschaffen, dass es zu keiner Minderung der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende kommt. Mit der Bagatellgrenze ist auch sichergestellt, dass beispielsweise ein kostenloses Mittagessen in der Schule oder im Kindergarten nicht als zusätzliches Einkommen angerechnet wird. Die Forderung der Grünen nach einer Nichtanrechnung karitativer Zuwendungen wie beispielsweise Lebensmittel- oder Möbelspenden ist bereits geltende Rechtslage und ist somit erfüllt. Ich finde die ganze Diskussion um Sonderbedarfe und die Höhe des Regelsatzes überflüssig. Immer wieder heißt es, die Kinderregelsätze seien unzureichend und ihre Bemessung nicht sachgerecht, und deshalb sei eine Erhöhung notwendig. Derzeit beziehen etwa 2,1 Millionen Kinder bis 17 Jahren Leistungen nach dem SGB II und etwa 16 000 nach dem SGB XII. Fälschlicherweise werden diese Kinder immer als arm bezeichnet. Würde man der Forderung nachkommen und die Kinderregelsätze erhöhen, würde wegen der steigenden Zahl der Anspruchsberechtigten die Zahl der so definierten „Armen“ nicht sinken sondern steigen. Im Übrigen ist das Sozialgeld für Kinder in der Grundsicherung deutlich höher als das Kindergeld, das die Familien erhalten, die knapp über den Sätzen des SGB II liegen. Wir müssen vielmehr dafür Sorge tragen, dass allen erwerbsfähigen Menschen - und somit den Eltern dieser Kinder - eine Chance auf Erwerbsarbeit eröffnet wird. Dahinter steht auch die Grundüberzeugung, wie sie unter anderem auch in der katholischen Soziallehre deutlich wird, dass staatliche monetäre Zuwendungen allein nicht zum Zustand sozialer Gerechtigkeit führen. Bloße Alimentation stellt menschenwürdige Lebensbedingungen und gerechte Verwirklichungschancen noch nicht sicher. Sie kann sogar das Gegenteil bewirken, wenn sie zu Passivität führt. Die Menschen brauchen verlässliche, langfristig angelegte Hilfestrukturen und Personen, die sie begleiten. Das verlangt gesicherte Finanzen und Rahmenbedingungen. Bund, Länder und Kommunen sind gefordert. Statt Leistungsausweitung ist es zielgerichteter, den Langzeitarbeitslosen eine Perspektive dahingehend zu eröffnen, dass sie einen Job bekommen und am Erwerbsleben teilnehmen können. Das ist und muss das Ziel der Grundsicherung für Arbeitsuchende sein. Im Mittelpunkt der Grundsicherung steht die Aktivierung der Hilfeempfänger. Das große Ziel ist, nicht vom Staat finanziell abhängig zu sein, sondern aus eigener Kraft das Leben zu finanzieren. Das ist auch menschenwürdiger.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zunächst das Positive: Die Grünen stehen weiterhin zur Pauschalierung der Regelleistungen. Das ist erfreulich, schließlich haben wir das mal zusammen beschlossen. Früher mussten die Betroffenen wegen jeder noch so kleinen Kleinigkeit beim Sozialamt um Bewilligung bitten. Dieser Praxis haben wir gemeinsam einen Riegel vorgeschoben. Die Vorteile unserer Entscheidungen, das Arbeitslosengeld II stärker zu pauschalieren als die alte Sozialhilfe, sind offensichtlich: geringerer Verwaltungsaufwand und damit Bürokratieabbau, größere Entscheidungsfreiheit der Betroffenen und Transparenz. Das war es dann aber auch schon mit den positiven Aspekten im Antrag der Grünen. Denn ansonsten zeichnet der Antrag ein unvollkommenes Bild. Zum einen bemängeln Sie bürokratische Einzelfallprüfungen und fordern eine stärkere Pauschalierung. Zum anderen fordern Sie aber die Berücksichtigung individueller Mehrbedarfe. Ihr Beispiel verdeutlich das: Mögliche Mehrbedarfe könnten durch den Kauf von Kleidung in Übergröße entstehen. Da frage ich Sie, was gilt als Übergröße? Wollen Sie festlegen, ob nun XL oder XXL als Übergröße gilt? Ist es nicht so, dass manchmal XL passt und manchmal XXL? Gilt das eine Sweatshirt dann als Mehrbedarf und das andere nicht? Stellen Sie sich vor, die Fallmanager müssten sich jeden Kassenzettel zeigen lassen, um zu kontrollieren, in welcher Größe Kleidungsstücke gekauft wurden. Dieser Vorschlag trägt mit Sicherheit nicht zum Bürokratieabbau bei. Bereits heute schon äußerst knappe personelle Ressourcen in den Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen würden zusätzlich gebunden. Der Auftrag, Menschen Alternativen zum ALG-II-Bezug aufzuzeigen Zu Protokoll gegebene Reden und sie in Arbeit zu vermitteln, würde vernachlässigt. Ich möchte nicht, dass wir Arbeitslosigkeit verwalten, sondern wir müssen sie aktiv bekämpfen. Lassen Sie mich in dem Zusammenhang etwas zu den Bedarfen von Kindern sagen. Ich unterstelle mal, dass jeder hier in diesem Saal sich der Bedeutung von Kindern in unserer Gesellschaft bewusst ist. Ich unterstelle auch, dass jeder sich der Bedeutung von Kinderarmut bewusst ist. Keine Frage, Kinderarmut gründet sich in der Regel in der Armut der Eltern. Aber es ist nicht nur ein finanzielles Problem. Es ist auch ein Problem fehlender Chancengleichheit in der Bildung und der gesellschaftlichen Teilhabe. Die Auffassung, dass allein monetäre Anreize das Problem der Kinderarmut lösen, halte ich für falsch. Wir müssen andere Wege beschreiten. Die SPD - als treibende Kraft in dieser Koalition - ist da auf dem richtigen Weg. Denn entgegen den Widerständen aus der konservativen Ecke haben wir mit dem Elterngeld zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf beigetragen. Und bereits nach einem Jahr können wir sagen: Das Eltergeld kommt gut an. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Kinderbetreuung. Mit dem Kinderförderungsgesetz, das wir am morgigen Freitag in erster Lesung behandeln, haben wir einen Rechtsanspruch für jedes Kind auf einen Betreuungsplatz durchgesetzt. Das gilt ab 2012. Auch die Zusage von Peer Steinbrück einer Beteiligung des Bundes an den Betriebskosten der Kitas macht deutlich: Wir meinen es ernst mit unseren Kindern. Wir haben in diesem Bereich viel getan. Und wenn Sie mich jetzt fragen, ob wir genug getan haben, dann sage ich Ihnen, man kann nie genug tun! Dennoch bin ich froh über das, was wir erreicht haben. Ein Wort noch zum Kindergeld. Für uns Sozialdemokraten ist klar: Jedes Kind ist uns gleich viel wert. Eine Staffelung des Kindergeldes nach erstem, zweitem oder drittem Kind, wird es mit uns nicht geben. Darüber hinaus ist es nur richtig, den Existenzminimumbericht der Bundesregierung in die Entscheidungsfindung mit einzubeziehen. Warten wir ihn ab - diskutieren dann und handeln zielorientiert. Lassen Sie mich zurückkommen zum Antrag. Es ist ärgerlich, wie Sachverhalte einfach falsch dargestellt werden. Der Antrag zeichnet nicht nur ein unvollständige sondern auch ein falsches Bild. Fakt ist, mit der Arbeitslosengeld-II-Verordnung ist eine Klarstellung der geltenden Rechtslage erfolgt. Mit anderen Worten, die Verordnung bedarf keiner Klarstellung, sie ist die Klarstellung! Und insbesondere bei dem von Ihnen angesprochenen Problem der Anrechnung von Verpflegung wurde Rechtsklarheit geschaffen. Grundsätzlich gilt Verpflegung als Einkommen bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II. Damit ist klar, dass es sich hier nicht um eine Absenkung der Regelleistung handelt oder ein Bedarf abweichend festgesetzt wird. Die Berücksichtigungen von Einkommen und Vermögen sind Grundprinzipien des Leistungsbezuges im SGB II. Einkommen und Vermögen sind Ausdruck der eigenen Leistungsfähigkeit und daher zu berücksichtigen. Ein doppelter Leistungsbezug wird verhindert. Das ist auch eine Frage der Gerechtigkeit. Trotz dieser prinzipiellen Überlegungen gilt unser Blick immer den Betroffenen, insbesondere bei der von Ihnen angesprochenen Verpflegung bei einem Krankenhausaufenthalt. Wir haben mit der Einführung der Bagatellgrenze von derzeit 83,28 Euro soziale Härten vermieden. Diese gilt grundsätzlich pro Monat. Das heißt in der Praxis, für einen Patienten, der ein Jahr lang den Höchstregelsatz an Arbeitslosengeld II bezieht, wird die Vollverpflegung erst ab dem 21. Tag des Aufenthaltes angerechnet. Bei einer durchschnittlichen Krankenhausaufenthaltsdauer von 8,5 Tagen ist ein Großteil von der Anrechnung gar nicht betroffen. Lassen sie mich abschließend noch zur Anpassung der Regelsätze etwas sagen. Als Grundlage für Anpassungen der Regelsätze brauchen wir valide Daten, die nach einem verlässlichen und transparenten Verfahren bestimmt werden. Willkür ist hier nicht geboten. Richtig ist, dass sich das Verfahren der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zur Ermittlung der Regelsätze bewährt hat. Richtig ist aber auch, dass der Zeitraum, diese Daten nur alle 5 Jahre zu erheben, zu lang ist. Ein Zeitraum von maximal 3 Jahren ist denkbar. Die Veränderungen vollziehen sich einfach schneller als zu früheren Zeiten. Zum Ende des Jahres erwarten wir die Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008. Darüber hinaus prüft das BMAS derzeit die Auswirkungen der aktuellen Preisentwicklung für Empfänger von ALG II. Auf Grundlage der Ergebnisse werden wir dann über eine Anpassung der Regelsätze reden und entsprechend handeln.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Grundsicherung für Arbeitsuchende sollte den bürokratischen Aufwand bei der Antragsbearbeitung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe eindämmen und Verwaltungskosten einsparen. Dennoch steigt die Klageflut an den Sozialgerichten seit Jahren, weil viele Details im Gesetz ungeklärt geblieben sind. Die meisten Fälle drehen sich um die Bedarfsberechnung, die Anrechnung von Einkommen und Vermögen, angemessene Wohnungskosten und Sanktionen. Diese Verfahren kosten die Zeit und das Geld aller Beteiligten. Die Gerichte geben bei ähnlichen Fallgestaltungen in Einzelfällen den Betroffenen Recht, in anderen machen sie eine Ablehnung nachvollziehbar. Das zeigt, wie groß die Unsicherheit ist. In diesem Antrag wird gefordert, die Arbeitslosengeld II-Sozialgeld-Verordnung des Arbeitsministeriums, die seit 1. Januar 2008 in Kraft ist, nach dem Grundsatz pauschalierter Regelleistungen zu überarbeiten. Außerdem sollen Verpflegungsleistungen bei stationären Aufenthalten grundsätzlich nicht als Einnahme auf die Regelleistung angerechnet werden. Die FDP hat sich für die Pauschalierung von Sozialleistungen eingesetzt. Die pauschalierten Regelsätze geben den Menschen die Freiheit, ihr Geld so einzusetzen, wie sie es brauchen. Deshalb unterstützen wir auch die grundsätzliche Forderung, bedürftigkeitsabhängige Sozialtransfers weitgehend zu pauschalieren. Das ist eine Maßnahme zur Schaffung größerer Transparenz und Rechtsklarheit. Leider weicht der Antrag von dieser Forderung wieder ab. Er hebt hervor, dass das Prinzip der individuellen BeZu Protokoll gegebene Reden darfsdeckung durch die Pauschalierung nicht ausgehebelt werden darf. Dabei scheint es auch wieder weniger um Entbürokratisierung und Vereinfachung zu gehen als darum, einen höheren Leistungsumfang bei den Arbeitslosengeld-II-Beziehern zu erreichen. Dies wird belegt durch die Formulierung, dass die Bundesregierung es versäumt, durch die Festlegung bedarfsgerechter Regelsätze das soziokulturelle Existenzminimum sicherzustellen, und die Forderung, bereitgestellte Verpflegungsleistungen grundsätzlich nicht auf die Regelleistung als Einnahme anzurechnen. Die gute Arbeitsmarktlage ist an den ALG-II-Empfängern vorbeigegangen. Ihre Situation hat sich nicht wesentlich verbessert. Eine schnellere Vermittlung in Beschäftigung hat nicht stattgefunden. Das Personal ist mit Verwaltungs- statt Vermittlungsaufgaben befasst. Weder wurden neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze für Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose geschaffen, noch wurden die Anreize zur Arbeitsaufnahme attraktiv gesetzt. Statt einen geregelten Niedriglohnsektor einzuführen, der auch diesen Menschen die Chance auf Beschäftigung gibt, werden weitere Arbeitsplätze durch die geplante Einführung von flächendeckenden Mindestlöhnen gefährdet. Mindestlöhne werden Arbeitsplätze in die Schwarzarbeit verdrängen und dadurch die Chancen von Langzeitarbeitslosen verschlechtern. Auch das Chaos bei der Betreuung von Langzeitarbeitslosen durch Arbeitsagenturen, Kommunen und Arbeitsgemeinschaften muss beendet werden. Wir wollen, dass alle Arbeitslosen in kommunalen Jobcentern betreut und beraten werden, weil die Kommunen besser auf individuelle Problemlagen und den regionalen Arbeitsmarkt reagieren können. In dieser Auffassung werden wir von vielen Optionskommunen unterstützt; nur die Bundesregierung weigert sich, dies zur Kenntnis zu nehmen. Das Arbeitslosengeld soll und kann durch Hinzuverdienste aufgestockt werden. Statt ständig einen höheren Leistungsbezug zu fordern, sollte alles unternommen werden, um den Betroffenen eine Perspektive auf Beschäftigung zu geben. Die Aufnahme einer auch nur gering entlohnten Beschäftigung muss gegenüber der alleinigen Inanspruchnahme staatlicher Transferleistungen attraktiver werden. Dazu müssen auch die bestehenden Regelungen zur sozialen Absicherung vereinfacht und unbürokratischer ausgestaltet werden. Unser Bürgergeld-Konzept bedeutet den notwendigen Systemwechsel. Unser Bürgergeld-Konzept ist ein transparentes Steuer- und Transfersystem aus einem Guss und bietet einen gleitenden und lohnenden Übergang in die Erwerbstätigkeit. Das Bürgergeld stellt ein Mindesteinkommen für jeden sicher, und zugleich schafft es zusätzliche Anreize, durch Arbeit ein höheres Netto-Einkommen zu erzielen. Damit ist es gerechter und wirksamer als jede Mindestlohnregelung. Das Bürgergeld muss individuell ausgestaltet werden, je nach Lebenssituation. Das Bürgergeld muss so berechnet werden, dass es bezahlbar bleibt und eine hinreichende Versorgung gewährleistet. Leistungsbezieher brauchen eine andere Perspektive als mehr Anträge für mehr Leistung, sie brauchen eine Perspektive auf einen Arbeitsplatz. Wir brauchen auch für diejenigen, die die finanzielle Grundlage des Leistungsbezuges sichern, eine andere Perspektive. Die Menschen in der Mitte der Gesellschaft müssen entlastet statt immer weiter belastet werden. Sie fragen sich zu Recht, warum der Aufschwung bei ihnen nicht angekommen ist, wo der Abschwung schon vor der Tür steht.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sowohl die grundsätzlichen Erwägungen als auch die konkreten Forderungen des Antrags 16/7838 werden von meiner Fraktion geteilt. Insbesondere bedarf es einer dringenden und gründlichen Überarbeitung der ALG-IIVerordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen im Sinne des Grundsatzes pauschalierter Leistungen, die wir aktuell als vollkommen falsch konzipiert betrachten. Auch sind wir nach wie vor der Auffassung, dass Verpflegungsleistungen bei stationären Aufenthalten oder Teilverpflegungen in Kindertagesstätten und Schulen grundsätzlich nicht auf die Regelleistung angerechnet werden dürfen. Dahin gehende Forderungen hat meine Fraktion ja auch immer wieder in eigenen Anträgen erhoben, so bereits mehrfach die deutliche Anhebung des Regelsatzes, die Berücksichtigung kinder- und jugendspezifischer Bedarfe und zuletzt die Nichtanrechnung von Verpflegung bei stationärem Aufenthalt auf die Regelleistung. Hier teilen wir die Sicht der Grünen, dass eine solche Anrechnung - auch jenseits einer Bagatellgrenze - dem Grundsatz der Pauschalierung widerspricht, und weisen die Interpretation des Ministeriums ({0}), dass mit der Verordnung dem Votum des Petitionsausschusses weitgehend entsprochen wurde, aufs Schärfste zurück. Insbesondere möchte ich noch einmal hervorheben, dass wir eine Ermessensentscheidung durch die Grundsicherungsträger bei der Überprüfung der Betriebsausgaben von Selbstständigen, die ergänzendes ALG II beziehen, ablehnen. Statt noch mehr unangemessenen bürokratischen Aufwand zu erzeugen, indem ein Streit um jeden Bleistift und jede Druckerkartusche stattfindet, sollte bei der Berechnung von Einkommen und der Absetzung von Betriebsausgaben von selbstständig Tätigen das Steuerrecht zum Maßstab gemacht werden und nicht, wie in der Verordnung vorgesehen, eine zweite Prüfung durch das Jobcenter vollzogen werden. So hätten die Jobcenter auch mehr Freiraum, um sich auf eine deutlich verbesserte Beratung und Vermittlung von Hilfesuchenden zu konzentrieren. Denn aktuell lässt die Beratungsqualität in staatlichen bzw. amtlichen Stellen immer noch sehr zu wünschen übrig. In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf unsere Forderungen nach der Stärkung von unabhängigen Beratungsstellen aufmerksam machen; denn sehr viele Hilfesuchende wenden sich in ihrer Not an solche Einrichtungen und suchen dort Rat und Unterstützung. Einer unserer Vorschläge dazu ist, zum Beispiel diese Einrichtungen mit qualifiziertem Personal zu verstärken. Das hätte zudem die Konsequenz, dass die Jobcenter etwas entlastet würden. Weitere positive und weitreichende Effekte kann die Bundesregierung aber vor allem dadurch erzielen, indem Zu Protokoll gegebene Reden als erster Schritt die Regelsätze bei Hartz IV endlich in Richtung einer armutsfesten Grundsicherung und in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht auf 435 Euro pro Monat angehoben werden. In einem zweiten Schritt muss dann eine repressionsfreie soziale Grundsicherung eingeführt werden, die diesen Namen auch wirklich verdient.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ({0}) hat zum 1. Januar 2008 eine neue Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosen II/Sozialgeld, kurz: ALG-II-Verordnung, auf den Weg gebracht. Diese Verordnung klingt nicht nur bürokratisch, sie enthält auch Regelungen, die selbstständigen Leistungsbeziehern eigene unternehmerische Entscheidungen nahezu unmöglich machen. Seit dem 1. Januar 2008 soll der Abzug von Betriebsausgaben nicht mehr nach den Maßstäben des Steuerrechtes erfolgen, sondern weitgehend dem Ermessen der Fallmanager in den Jobcentern unterliegen. Mit dieser Vorgabe werden nicht nur die Leistungsbehörden, sondern auch die Selbstständigen im ALG-II-Bezug über Gebühr belastet. Zum einen sind die Fallmanager für unternehmerisches Handeln nicht ausgebildet. Zum anderen sind Selbstständige aufgrund der neuen Regelung gezwungen, eine doppelte Buchführung ganz eigener Art aufzustellen: eine für das Finanzamt und eine für die Sozialbehörde. Die Zahl der Selbstständigen ist seit Einführung des Arbeitslosengeld II kontinuierlich gestiegen. Allein im Zeitraum von Januar 2007 bis April 2008 stieg die Zahl der selbstständig tätigen Leistungsbeziehenden, die nicht ohne ein ergänzendes ALG II über die Runden kommen, von 56 250 auf 96 940 Personen. Ohne das Abschreckungsinstrument der ALG-II-Verordnung wäre die Zahl der selbstständig tätigen Leistungsbeziehenden voraussichtlich deutlich höher. Das Arbeitslosengeld II hat demnach für Selbstständige eine zunehmende Bedeutung und wichtige Unterstützungsfunktion. Gleichwohl gängelt das BMAS den unternehmerischen Geist. Wieder einmal wird das überbordende Kontrollbedürfnis des BMAS getragen vom Gedanken des Sozialmissbrauchs. Dabei kann von Sozialmissbrauch im großen Stil keine Rede sein. Tatsächlich sind die aufgedeckten Missbrauchsfälle rapide zurückgegangen. In 2005 waren es noch 206 000 Fälle, 2007 wurden 87 000 Fälle nachgewiesen. Bis Juli dieses Jahres hat die Bundesagentur für Arbeit nur noch 9 000 ungerechtfertigte Zahlungen erfasst. Bundesarbeitsminister Scholz wäre deshalb gut beraten, wenn er die Selbstbestimmungsrechte der ALG-II-Beziehenden - hier der Selbstständigen - stärken würde, damit diese die notwendige Handlungsfreiheit gewinnen, sich selbst aus dem Leistungsbezug zu befreien. In dem hier zur Diskussion stehenden Antrag betonen Bündnis 90/Die Grünen die Notwendigkeit einer pauschaliert ausgezahlten Regelleistung. Das Prinzip pauschalierter Regelleistungen wurde erstmals mit den sogenannten Hartz-Reformen eingeführt. Unserer Meinung nach ist es nach wie vor sinnvoll, Sozialtransfers wie das Arbeitslosengeld II als pauschalen Betrag auszuzahlen. Dies schafft Planungssicherheit für die Leistungsbeziehenden und entlastet die Leistungsbehörden von bürokratischen Einzelentscheidungen, vorausgesetzt, die Regelleistungen sichern das soziokulturelle Existenzminimum. Vor diesem Hintergrund wurde zum 1. Januar 2005 das Arbeitslosengeld II eingeführt. Bedauerlicherweise ist die Bundesregierung auch im dritten Jahr nach Einführung dieser Leistung nicht in der Lage, die notwendigen Anpassungen vorzunehmen. Weder wurden die Regelleistungen auf ein existenzsicherndes Niveau angepasst, noch werden sie unbürokratisch ausgezahlt. So hat das BMAS trotz einer Vielzahl anderslautender Sozialgerichtsentscheidungen die Verrechnung von Krankenhauskost auf den Regelsatz in der hier zur Debatte stehenden ALG-II-Verordnung festgeschrieben. Zwischenzeitlich hat das Bundessozialgericht mit dem Urteil vom 18. Juni 2008 ({1}) jedoch grundsätzlich die Möglichkeit verneint, die Regelleistung bei Gewährung von Krankenhauskost zu kürzen. Das Bundessozialgericht hebt ausdrücklich den Grundsatz der Pauschalierung des Arbeitslosengeld II hervor und verneint die Rechtsauffassung der Bundesregierung, dass das Bedarfsdeckungsprinzip Grundlage für die Kürzung der Regelleistung bei Gewährung von Krankenhauskost sei. Die hier zur Debatte stehende Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosen II/ Sozialgeld stellt nicht nur eine bürokratische Gängelung en détail dar, sie hält auch nicht, was ihr Titel verspricht. Der Gesetzgeber hat das BMAS in seiner Verordnungsermächtigung lediglich dazu ermächtigt, zu regeln, „welche weiteren Einnahmen nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind“ ({2}). Genau deshalb heißt es im Titel der Verordnung auch: „Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen“. Gleichwohl regelt das BMAS ohne die nötige Rechtsetzungskompetenz, welche Einnahmen als Einkommen zu berücksichtigen sind, so auch bei der Regelung zur Verrechnung von Krankenhauskost mit dem Regelsatz. Eine Vielzahl von Sozialgerichten hat in diesem Jahr wenige Monate nach Inkrafttreten der ALG-II-Verordnung dem BMAS die nötige Rechtsetzungskompetenz in dieser Frage abgesprochen. Dieser Eingriff in die Leistungsauszahlung müsse durch ein Gesetz geregelt werden. Auch das Bundessozialgericht hat in der genannten Entscheidung deutliche Zweifel an der Rechtsetzungskompetenz des BMAS geäußert, obwohl es in seiner Entscheidung nicht über die neue ALG-II-Verordnung zu entscheiden hatte. Trotz dieser erdrückenden juristischen Niederlage ist das BMAS offenbar nicht bereit, sich die schweren handwerklichen Mängel der Verordnung einzugestehen und die rechtswidrige Verordnungsregelung zurückzunehmen. Aufgrund der nach wie vor bestehenden Rechtslage musste die Bundesanstalt für Arbeit in der Geschäftsanweisung Nr. 28 vom 20. Juli 2008 die Leistungsbehörden anweisen, die Entscheidung des Bundessozialgerichts nicht anzuwenden. Die Sozialgerichte werden weiterhin mit Klagen überhäuft, obwohl schon heute abzusehen ist, dass das Bundessozialgericht in letzter Instanz auch die neue Regelung zur Verrechung von Krankenhauskost auf Zu Protokoll gegebene Reden den Regelsatz in der zum 1. Januar 2008 gültigen ALG-IIVerordnung verwerfen wird. Ich bitte Sie, mit uns der Uneinsichtigkeit von Arbeitsminister Scholz ein Ende zu bereiten. Ich fordere Sie auf, unserem Antrag, die ALG-II-Verordnung im Sinne des Grundsatzes unbürokratischer, pauschalierter Leistungsgewährung zu überarbeiten, zuzustimmen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8445, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7838 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion der FDP angenommen. Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 26. September 2008, 9 Uhr, ein. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und allen Mitarbeitern noch einen schönen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.