Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich.
Vor Eintritt in unsere Tagesordnung möchte ich - sicherlich im Namen des ganzen Hauses - der deutschen
Fußballnationalmannschaft herzlich zum Einzug ins
Finale der Europameisterschaft gratulieren.
({0})
- Ich sehe stehende Ovationen bei einzelnen Mitgliedern
des Hauses.
Ich beziehe in diese Gratulation ausdrücklich die türkische Mannschaft ein, die mit bewundernswertem Einsatz, großem Kampfgeist und stetiger Fairness dieses
Spiel ganz wesentlich mitbestimmt hat.
({1})
Sowohl Kampfgeist als auch Fairness hat auch die
überwiegende Mehrheit der deutschen wie der türkischen Fans gezeigt, die sich im Stadion sowie auf den
Straßen und Plätzen dementsprechend bewegt und dargestellt haben. Ich glaube, der gestrige Abend hat zur
Gemeinschaft der Türken und Deutschen in Deutschland
erheblich beigetragen.
({2})
Nun müssen wir nach den außerordentlichen Ereignissen zu den normalen Geschäften zurückkehren, was
nicht ganz leicht fällt. Wir beginnen mit der Wahl eines
Mitglieds des Beirats bei der Bundesbeauftragten für
die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. Die
Fraktion der CDU/CSU schlägt erneut Professor
Manfred Wilke vor. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Damit ist Professor Wilke für eine weitere Amtszeit gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
FDP:
Haltung der Bundesregierung zu dem Bericht
der US-Luftwaffe über Sicherheitslücken bei
den US-Atomwaffenlagern in Deutschland
und Europa
({3})
ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4})
zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy,
Marieluise Beck ({5}), Volker Beck ({6}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Entwicklung in Afghanistan - Strategien für
eine wirkungsvolle Aufbauarbeit kohärent
umsetzen
- Drucksachen 16/8887, 16/9685 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Christian Ruck
Christel Riemann-Hanewinckel
Hüseyin-Kenan Aydin
({7})
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Ute Koczy, Kerstin Müller ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Staatsaufbau in Afghanistan - Pariser Konferenz zur kritischen Überprüfung und Kurskorrektur des Afghanistan Compacts nutzen
- Drucksachen 16/9428, 16/9711 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Detlef Dzembritzki
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller ({10})
({11})
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut
Königshaus, Dr. Karl Addicks, Christian
Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Die Regierungsverhandlungen mit China zur
Neuorientierung der Entwicklungszusammenarbeit und zur Förderung der chinesischen
Zivilgesellschaft nutzen
- Drucksache 16/9745 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({12})
Finanzausschuss
ZP 5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({13})
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({14}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Einhundertsiebte Verordnung zur Änderung
der Ausfuhrliste
- Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung -
- Drucksachen 16/9211, 16/9391 Nr. 2.1, 16/9698 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulla Lötzer
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({15})
Übersicht 11
über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
gericht
- Drucksache 16/9782 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({16})
zu den Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
2 BvE 2/08 und 2 BvR 1010/08
- Drucksache 16/9783 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({17})
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 442 zu Petitionen
- Drucksache 16/9767 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 443 zu Petitionen
- Drucksache 16/9768 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 444 zu Petitionen
- Drucksache 16/9769 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 445 zu Petitionen
- Drucksache 16/9770 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 446 zu Petitionen
- Drucksache 16/9771 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 447 zu Petitionen
- Drucksache 16/9772 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 448 zu Petitionen
- Drucksache 16/9773 -
k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 449 zu Petitionen
- Drucksache 16/9774 -
l) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 450 zu Petitionen
- Drucksache 16/9775 -
m) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 451 zu Petitionen
- Drucksache 16/9776 ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Haltung der Bundesregierung zur unrechtmäßigen Einleitung radioaktiver Lauge in das
ehemalige Salzbergwerk Asse II
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Müller ({28}), Dr. Uschi Eid, Ute Koczy, weitePräsident Dr. Norbert Lammert
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Angebot an die namibische Nationalversammlung für einen Parlamentarierdialog zur Versöhnungsfrage
- Drucksache 16/9708 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({29})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian
Toncar, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr ({30}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Menschenrechtslage in Tibet verbessern
- Drucksache 16/9747 ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({31}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Festnahme des chinesischen Dissidenten Hu
Jia
Entschließung des Europäischen Parlaments
vom 17. Januar 2008 zur Inhaftierung des chinesischen Bürgerrechtlers Hu Jia
EuB-EP 1652; P6_TA-PROV ({32}) 0021
- Drucksachen 16/8609 A.9, 16/9822 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Michael Leutert
Volker Beck ({33})
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Christel
Happach-Kasan, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Glaubwürdigkeit von G8 nicht verspielen Maßnahmen zur Bekämpfung der Nahrungsmittelkrise auf dem Gipfeltreffen in Hokkaido
beschließen
- Drucksache 16/9750 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({34})
Finanzausschuss
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Uschi Eid, Kerstin Müller ({35}), Marieluise
Beck ({36}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ursachen der Piraterie vor der somalischen
Küste bearbeiten - Politische Konfliktlösungsschritte für Somalia vorantreiben
- Drucksache 16/9761 ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel
Bahr ({37}), Martin Zeil, Heinz Lanfermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Auswüchse des Versandhandels mit Arzneimitteln unterbinden
- Drucksache 16/9752 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({38})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 21 und 46 e werden abge-
setzt.
Sind Sie auch mit diesen Vereinbarungen einverstan-
den? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich rufe unsere Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Modernisierung des GmbH-Rechts und
zur Bekämpfung von Missbräuchen ({39})
- Drucksache 16/6140 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({40})
- Drucksache 16/9737 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb
Mechthild Dyckmans
Ulrich Maurer
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({41}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Mechthild
Dyckmans, Birgit Homburger, Hartfrid Wolff
({42}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
GmbH-Gründungen beschleunigen und entbürokratisieren
- Drucksachen 16/671, 16/9737 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb
Mechthild Dyckmans
Ulrich Maurer
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt je
ein Entschließungsantrag der FDP-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries.
({43})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Die Reform des GmbH-Rechts, die wir heute verabschieden,
ist, wie Herr Gehb - ich glaube, gegenüber der FAZ schon gesagt hat, eine historische Reform.
({0})
Es ist in der Tat eine Überarbeitung des GmbHRechts, wie wir sie seit 1892 noch nicht gehabt haben.
Es ist eine ganz massive Entrümpelung und eine Anpassung dieses Rechts an die veränderten gesellschaftlichen
Verhältnisse. Insofern bedanke ich mich dafür, dass wir
so weit gekommen sind. Ich glaube, mit mir danken ganz
viele Bürgerinnen und Bürger, auch junge Menschen, die
Unternehmen gründen wollen. Unser Haus verzeichnet
zwar zu vielen Themen Eingänge, aber es war auffällig,
dass gerade zur Reform des GmbH-Rechts viele Briefe
und E-Mails kamen. Die Menschen haben uns gefragt:
Wann seid ihr denn endlich so weit? - Die Reform ist
schließlich sehr umfangreich beraten worden. Die meisten wollen keine Limited, sondern eine vereinfachte
GmbH, und dass sie keine Limited wollen, ist eine richtige und gute Entscheidung.
Dankenswerterweise ist im Zusammenhang mit der
Reform unseres GmbH-Rechts in den Zeitungen häufig
verbreitet worden, welche Nachteile es bringt, wenn man
zwar zunächst die Limited wählt, dann aber nach einem
Jahr feststellt, dass man seine Geschäftsabschlüsse leider
in Englisch und in London vorlegen muss. Das ist dann
für viele Menschen eine Überraschung. Insofern ist es
richtig und gut, dass wir mit diesem Gesetzentwurf eine
konkurrenzfähige Gesellschaftsform zur Verfügung stellen.
Meine Damen und Herren, wir haben hinsichtlich der
Gründung einer GmbH einen Aspekt sehr lange und sehr
sorgfältig diskutiert, und dieser betrifft die Änderungen
beim Mindeststammkapital. Wie Sie wissen, hat es
eine vollständige Änderung gegenüber dem Regierungsentwurf gegeben. Wir haben seinerzeit eine Absenkung
des Mindeststammkapitals auf 10 000 Euro vorgeschlagen, weil man ein gewisses Kapital braucht, um eine Gesellschaft zu gründen. Denn ohne Kapital kann man
nicht einmal ein Telefon anmelden oder einen Schreibtisch kaufen.
Hierzu gab es andere Auffassungen, und wir haben
gute Diskussionen geführt. Darüber hinaus fand eine
sehr gute Sachverständigenanhörung statt, die uns geholfen hat, den richtigen Weg zu finden. Deswegen gibt es
jetzt neben der Form der alten GmbH - so will ich es
einmal sagen - mit 25 000 Euro Mindeststammkapital
die neue Variante der GmbH, die sogenannte Unternehmergesellschaft ({1}), die insbesondere
durch den Einsatz eines einzelnen Abgeordneten dieses
Hauses in das Gesetz aufgenommen wurde. Vielen
Dank, Herr Dr. Gehb, für diese weitreichenden Vorschläge, die wir aufgegriffen haben!
({2})
- Na gut, so nickelich sind wir nicht.
({3})
Wir schaffen damit für die Existenzgründer in diesem
Lande genau das, was sie erwarten, nämlich eine Kapitalgesellschaft ohne festes Mindeststammkapital. Das
wird Unternehmungsgründungen erheblich erleichtern
und damit auch die Innovationskraft in Deutschland stärken. Wichtig ist doch, dass neue Ideen auch schnell in
die Tat umgesetzt werden können. Das ist es, was wir
wollen, um den Wissensstandort Deutschland voranzubringen.
Es ist nicht so, als ob wir nur die Unternehmensgründung erleichtern würden, indem wir das Kapital absenken
und kleinere Änderungen vornehmen. Vielmehr - ich
habe es schon am Anfang gesagt - reformieren wir das
GmbH-Recht umfassend, und zwar zum ersten Mal.
Eine Vielzahl von Reformen kennen wir aus dem Aktienrecht. Man spricht beim Aktienrecht bereits von der
„Aktienrechtsreform in Permanenz“.
Beim GmbH-Recht ist genau das Gegenteil der Fall:
Es ist eher eine Geschichte gescheiterter Reformvorhaben. Der erste Anlauf erfolgte bereits 1937, im Anschluss an die Aktienrechtsreform, und blieb im Zweiten
Weltkrieg stecken. Der zweite Reformanlauf Anfang der
70er-Jahre schaffte es nicht bis in den Rechtsausschuss.
Rückblickend muss man wohl sagen: Das war eine ganz
gute Entscheidung. Denn man wollte damals das GmbHRecht mit rund 300 Paragrafen im Grunde dem Aktienrecht anpassen und der Aktiengesellschaft, die damals
erste Siegeszüge antrat, eine vergleichbare Rechtsform
an die Seite stellen.
Ich meine, es war gut, dass man es so nicht gemacht
hat. Denn wir brauchen keine zweite Aktiengesellschaft.
Vielmehr brauchen wir die GmbH als eine Rechtsform
für den Mittelstand, also für die vielen Hunderttausenden von kleinen Unternehmungen, die das Rückgrat der
deutschen Wirtschaft bilden sollen. Diese Gesellschaftsform muss flexibel sein. Sie muss anpassungsfähig sein,
und sie muss vor allen Dingen einfach zu verstehen und
zu handhaben sein.
({4})
Genau dieses stellen wir jetzt mit dem überarbeiteten
GmbH-Recht sicher. Wir verfolgen ein Konzept der
starken Deregulierung. Das heißt, wir wollen die Gründung der GmbH sehr viel einfacher und vor allen Dingen
sehr viel schneller machen. Das ist unser Ziel. Vieles,
was vor 100 Jahren im Verwaltungsablauf noch selbstverständlich war, ist heute nicht mehr notwendig. Ich
nenne als Beispiel die nachgeschalteten Verwaltungsgenehmigungen. Es ist heute beispielsweise noch üblich,
dass man, wenn man eine Gaststätte aufmachen will, zunächst ein Gesundheitszeugnis braucht und sich erst danach die GmbH eintragen lassen kann. Künftig kann dies
parallel laufen, was zu einer Beschleunigung führt. Das
mag zwar nur ein kleines Beispiel sein, aber es ist eines
von vielen Beispielen, die zeigen, dass wir die Geschwindigkeit bei der GmbH-Eintragung deutlich erhöhen.
Gleichzeitig bekämpfen wir quasi als Gegengewicht
die Missbräuche am „Lebensende“ einer GmbH sehr
nachdrücklich. Insbesondere die sogenannten Bestattungsfälle von GmbHs, denen sich schon ein eigener
Gewerbezweig widmet, sollen härter verfolgt werden.
Gescheiterte Unternehmer werden sich in Zukunft also
nicht mehr ihrer Verantwortung entziehen können. Das
MoMiG verlagert die Gewichte weg von einer vorbeugenden Formstrenge hin zu einer nachsorgenden Kontrolle, die erst im Krisenfall eingreift, dann aber mit größerer Schärfe als in der Vergangenheit. Die Reform
knüpft also an das an, was wir gemeinhin mit dem mündigen Verbraucher oder mit dem aufgeklärten Bürger
und der aufgeklärten Bürgerin meinen. Die Idee ist, dass
sie sich informieren und möglichst vernünftige Entscheidungen treffen sollen. Nur im Versagensfall soll eingegriffen werden.
Ein weiteres grundlegendes Ziel des Entwurfs ist die
Rückkehr zum bilanziellen Denken im Haftungskapitalsystem der GmbH. Das betrifft sowohl die Kapitalaufbringung als auch die Kapitalerhaltung. Das Stichwort ist hier Cash-Pooling, ein Begriff, den insbesondere
die Töchter von größeren Unternehmen kennen und der
deshalb für die Großkonzerne unserer Wirtschaft von
Bedeutung ist.
Auch wenn viele Bürgerinnen und Bürger gewollt
hätten, dass die Reform etwas eher in Kraft tritt, meine
ich: Es war gut, dass wir diese große Reform nicht übers
Knie gebrochen haben. Dass sie jetzt ein Jahr später als
ursprünglich geplant vollendet wird, ist meines Erachtens kein Schaden. Denn wir können heute sagen: Wir
werden ein Gesetz verabschieden, das im Hause intensiv
unter Zuhilfenahme des Sachverstandes der Abgeordneten beraten worden ist und in das die Meinung vieler
Sachverständiger eingeflossen ist.
Ich möchte mich bei Ihnen allen recht herzlich dafür
bedanken, dass am Ende eine Reform dabei herausgekommen ist, von der wir sagen können: Sie wird uns helfen, die Rechtsform für den Mittelstand zukunftsfest für
die nächsten Jahre zu gestalten. Das ist ein wichtiges Signal für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
({5})
Das Wort erhält nun die Kollegin Mechthild
Dyckmans, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich vorweg zu sagen, lieber Kollege
Gehb: Der ganz große Wurf ist diese Reform nach Meinung der FDP nicht.
({0})
Frau Ministerin, die Ziele, die Sie sich mit dieser Reform gesetzt haben, begrüßen wir. Die Umsetzung ist allerdings gerade in dem von dem Kollegen Gehb so besonders herausgestellten Teil nicht gelungen.
Wirtschafts- und Mittelstandspolitik heißt für die FDP
zum einen, strukturelle Probleme abzubauen. Unsere
Unternehmen müssen von überflüssiger Bürokratie befreit werden. Deshalb unterstützen wir auch die mit der
Reform angestrebte Deregulierung. Dass Sie den FDPVorschlag aufgenommen haben, die Eintragung ins Handelsregister von der Vorlage behördlicher Genehmigungen zu lösen, begrüßen wir ausdrücklich. Beschleunigung bei der Handelsregistereintragung haben wir aber
auch schon durch das gemeinsam in dieser Legislaturperiode verabschiedete EHUG erreicht. So ist die
Gründung einer GmbH nach neuesten Zahlen bei uns in
Deutschland heute schon in durchschnittlich sechs
Werktagen möglich. Der EU-weite Durchschnitt liegt bei
dem Doppelten. Wir sind also bisher gar nicht so
schlecht.
Wichtig ist für uns Liberale auch eine Vereinfachung
des GmbH-Rechts. Gesetze müssen verständlich und in
der Praxis handhabbar sein. Gerade das GmbH-Gesetz
war jedoch sehr kompliziert, und die dazu entwickelte
Rechtsprechung des BGH war kaum noch nachvollziehbar. Eigenkapitalersetzende Darlehen, Cash-Pooling,
verdeckte Sacheinlage - dies alles sind Begriffe, bei denen sich Unternehmer und Rechtsanwälte die Haare
rauften. Es wurde Zeit für eine Vereinfachung und für
die Schaffung von Rechtssicherheit. Es wird sich aber
erst in Zukunft herausstellen, ob die gefundenen Regeln
tatsächlich die richtigen Lösungen sind; die Sachverständigen hatten hier doch noch einige Bedenken.
Das dritte Ziel des Gesetzentwurfes, das Sie angesprochen haben, die Missbrauchsbekämpfung, haben
Sie für die Voll-GmbH, wie wir meinen, im Großen und
Ganzen nicht schlecht umgesetzt. Leider zerstören Sie
mögliche Erfolge durch die Einführung der Mini-GmbH.
In den letzten Tagen ist mir gerade aus dem Bundesjustizministerium immer wieder vorgehalten worden,
man habe mit der GmbH-Reform einen sehr liberalen
Gesetzentwurf vorgelegt und verstehe daher überhaupt
nicht, warum die FDP diesem Gesetzentwurf nicht zustimme.
({1})
- Ich werde es Ihnen erklären. - Wir tragen den Gesetzentwurf nicht mit, weil Sie mit der Mini-GmbH einen
Systembruch begehen, der nicht notwendig ist und der
- im Gegenteil - dem Wirtschaftsstandort schaden wird.
({2})
Liberale Politik heißt für uns nicht Beliebigkeit, heißt
nicht Rosinenpickerei, heißt nicht, ohne ordnungspolitischen Rahmen jeden gerade so agieren zu lassen, wie es
für ihn am einfachsten ist. Liberale Politik bedeutet
Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Übernahme von
Verantwortung für wirtschaftliches Handeln. All dies haben Sie bei der Mini-GmbH nicht.
({3})
Sie verlassen den ordnungspolitischen Rahmen, indem
Sie eine Kapitalgesellschaft ohne Kapital zulassen, und
das, obwohl Sie - wenn auch spät - wieder zu der Einsicht gekommen sind, dass die Absenkung des Mindeststammkapitals für die GmbH gerade nicht der richtige
Weg ist.
Auch wenn Kollege Gehb immer wieder glaubt, mich
darüber belehren zu müssen, dass das Stammkapital
keine Voraussetzung für Gläubigerschutz ist, so kann ich
nur sagen: Jawohl, lieber Jürgen, das weiß ich.
({4})
Aber das Stammkapital ist ein wichtiges Signal
({5})
für Wirtschaftskraft, für Seriosität und damit letztendlich
auch für Gläubigerschutz.
({6})
Wer nicht einmal bereit ist, einen bestimmten Betrag für
seine unternehmerische Idee einzusetzen, um damit die
Ernsthaftigkeit seines Unternehmens zu unterstreichen,
wird scheitern.
({7})
Wie begründen Sie denn die Beibehaltung des Mindeststammkapitals? Da spricht man davon, das Ansehen
der GmbH als verlässlicher Rechtsform des Mittelstandes nicht beschädigen zu wollen und dass das Stammkapital als Seriositätsschwelle notwendig sei. Das alles
liest sich doch wie die Argumentation der FDP. Warum
aber gelten diese Argumente nicht für die Mini-GmbH?
Sie nehmen sehenden Auges in Kauf, dass unseriöse Gesellschaften am Wirtschaftsleben teilnehmen. Ihnen ist
es egal, welcher wirtschaftliche Schaden da entsteht.
({8})
Mit der Einführung der Mini-GmbH - Frau Ministerin hat es gesagt - wollen Sie auf die britische Limited
eingehen, obwohl Sie wissen, dass eine solche Gesellschaftsform nicht notwendig ist. Waren Sie, Frau Ministerin, es nicht, die ausdrücklich vor dem Gehb-Modell
gewarnt hat?
({9})
Haben Sie nicht noch kurz vor Verabschiedung des Regierungsentwurfs in der FAZ erklärt - ich zitiere Sie -:
Die Mini-GmbH ist ein Zugeständnis an den Koalitionspartner...
Und - das haben Sie heute noch einmal gesagt -:
Ganz ohne Kapital kann man kein Unternehmen
gründen, auch nicht im Dienstleistungssektor.
Was hat Sie nun eigentlich vom Gegenteil überzeugt?
Das haben Sie heute nicht erklärt. Die Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss kann es nicht gewesen
sein. Die Mehrheit der Sachverständigen war weder von
der Notwendigkeit noch gar von der Seriosität der MiniGmbH überzeugt.
({10})
Es ist richtig: Wir hatten in den letzten Jahren einen
kurzfristigen Boom von Limiteds in Deutschland, kurzfristig deshalb, weil nur ungefähr die Hälfte der Limiteds
statistisch das erste Geschäftsjahr überlebt und nur
3 Prozent - ich wiederhole: 3 Prozent - die ersten beiden
Jahre. Demgegenüber sind die GmbHs viel stabiler. Nur
2,5 Prozent der GmbHs geraten im ersten Jahr in finanzielle Schwierigkeiten.
Es ist also richtig, dass ein Großteil der Limiteds wirtschaftlich keinen Erfolg hatte. Warum? Diese Limiteds
sind schlicht überschuldet. Das liegt nicht am britischen
Recht, sondern an der fehlenden Finanzstärke dieser Limiteds. So wurde das Insolvenzverfahren bei 70 Prozent
der Limited-Insolvenzen im Jahr 2006 mangels Masse
nicht einmal eröffnet. Von diesen Insolvenzen - das bitte
ich zu beachten - waren knapp 1 500 Arbeitnehmer in
Deutschland betroffen, und die ausstehenden Forderungen beliefen sich auf rund 130 Millionen Euro. So viel
zum gesamtwirtschaftlichen Schaden.
({11})
Mini-GmbHs werden dasselbe Schicksal erleiden wie
die Limiteds. Sie werden bei Lieferanten, bei Banken
und bei Behörden auf Vorbehalte treffen. Sie sind hoch
insolvenzanfällig. Man kann natürlich sagen: Das ist das
Risiko des einzelnen Geschäftsmannes. Es wird auch die
Meinung vertreten, man könne die Mini-GmbH doch
erst einmal ausprobieren. Wir Liberale fragen aber auch
nach dem potenziellen wirtschaftlichen Schaden.
({12})
Wir fragen: Wer sind denn die Verlierer dieser Reform?
Eine ganz klare Antwort hat der Sachverständige Professor Goette bei der Anhörung gegeben: Verlierer ist die
Allgemeinheit. Der Fiskus, die Sozialkassen und die
kleinen Gläubiger sind die Gelackmeierten. - Das sind
nicht meine Worte, sondern die Worte von Professor
Goette. Bei jedem insolventen Unternehmen gibt es
Gläubiger, die ihr Geld nie sehen. Steuern und SozialabMechthild Dyckmans
gaben - das wissen wir - sind das erste, was eine Firma
nicht mehr zahlt, wenn sie wirtschaftliche Schwierigkeiten hat. Arbeitnehmer und deren Familien sind von dem
wirtschaftlichen Fiasko besonders betroffen.
Es wird versucht, die Mini-GmbH als „Einstiegsvariante“ zur GmbH hinzustellen, so in der FAZ, nach einer Pressemitteilung von Herrn Gehb. Wenn sie das denn
wenigstens wäre, wenn man wirklich die Möglichkeit
geschaffen hätte, zunächst mit einem geringen Mindestkapital zu beginnen, dann aber die GmbH mit einer festen Frist zu einer Voll-GmbH zwingend aufschließen zu
lassen und umzufirmieren, dann wäre das noch ein gangbarer Weg gewesen. Eine solche Verpflichtung sieht der
Gesetzentwurf aber nicht vor. Man hält bewusst an den
zwei eigenständigen Formen fest, und das ist falsch. Das
ganze Konzept der Mini-GmbH wird nicht gebraucht. Es
nutzt niemandem.
Zum Abschluss möchte ich auf eine ganz besondere
Variante des Gesetzes eingehen. Das GmbH-Gesetz wird
ein gesetzliches Musterprotokoll für Notare enthalten.
Ausgerechnet der Notar, der am besten ausgebildete Jurist,
({13})
der zu Recht weiterhin alle Gründungen vornehmen soll,
bekommt gesetzliche Beratung. Diesen Unsinn kann
man einfach nicht mitmachen.
({14})
Es ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers, Musterverträge,
Mustersatzungen und Musterprotokolle vorzugeben.
Glauben Sie wirklich, man kann unseren Alltag in gesetzliche Muster pressen? Wollen wir demnächst darüber
nachdenken und darüber diskutieren, welche Formularhandbücher für Notare und Rechtsanwälte künftig Gesetzesrang erhalten sollen? Nein, diesen Unsinn machen
wir von der FDP nicht mit.
({15})
Lassen Sie mich noch einen kurzen Satz zu dem Entschließungsantrag der Grünen sagen: Das ist Rosinenpickerei pur. Sie wollen zum einen eine Haftungsbeschränkung bei Kapitalgesellschaften und zum anderen die
steuerliche Behandlung als Personengesellschaft.
({16})
- Das ist genau der Punkt. Dazu sagen Sie so gut wie gar
nichts.
({17})
Wie der Gläubigerschutz aussehen soll, sagen Sie nicht.
Das ist genau der Punkt. Sie wollen zwar, dass die Unternehmen Gewinne machen, aber die Risiken und die
Schäden wollen Sie sozialisieren und auf die Allgemeinheit verlagern. Da machen wir nicht mit.
({18})
Zur vorliegenden Reform kann ich nur sagen: Ja, wir
brauchen eine Kultur der Selbstständigkeit. Ja, wir brauchen Existenzgründer, also Menschen, die bereit sind,
wirtschaftliche Verantwortung für sich und andere zu
übernehmen. Ja, wir brauchen eine starke, seriöse,
schnell und unbürokratisch zu gründende GmbH. Aber
nein, wir brauchen weder eine Mini-GmbH noch ein gesetzliches Musterprotokoll. Manchmal ist weniger
schlicht mehr.
Danke schön.
({19})
Dr. Jürgen Gehb ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manche
Gesetzesvorhaben kommen völlig unspektakulär daher
und entpuppen sich erst bei näherer Betrachtung als politische Schwergewichte. In diese Kategorie fällt auch die
GmbH-Reform. Sie ist nicht nur die umfassendste Reform des GmbH-Rechts seit dem Bestehen der GmbH im
Jahre 1892, sondern sie wird auch von manch einem in
der Fachliteratur, aber auch in der gängigen Literatur, die
jedermann zugänglich ist, als kleine Revolution bezeichnet. Frau Ministerin und Kollegin Dyckmans, der Herrgott verzeihe Ihnen Ihre Übertreibungen, die Sie mir bei
der Urheberschaft zugebilligt haben, und mir, dass ich
sie ganz gerne gehört habe.
In den verschiedensten Zirkeln, zum Beispiel auf dem
Deutschen Juristentag und bei Podiumsdiskussionen,
wird schon sehr lange über die GmbH, über Defizite und
über mögliche Veränderungen diskutiert. Nun ist das
Diskutieren das eine, das Umsetzen ist das andere. Dazu
braucht man nämlich Gestaltungskraft. Die Große Koalition ist auf dem Gebiet der Rechtspolitik handlungswillig und vor allen Dingen handlungsfähig.
({0})
Die Große Koalition wird hier und heute den Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und
zur Bekämpfung von Missbräuchen verabschieden.
Letztlich kommt es nicht darauf an, ob man Zeitungsartikel schreibt, ob man Interviews gibt oder ob man Fachaufsätze verfasst, es kommt nur darauf an, was schwarz
auf weiß im Bundesgesetzblatt steht. In einigen Wochen
wird dies im Gesetzblatt stehen. Das ist die Leistung der
Großen Koalition.
({1})
Ich möchte ohne Anspruch auf Vollständigkeit - und
schon gar nicht wie in einer Rechtsvorlesung - wenigstens stakkatohaft auf einige Gesichtspunkte eingehen
und sie aufzählen. Es gibt - das ist schon genannt worden - die berüchtigten Beerdigungsfälle, also Firmenbestattungen am Ende einer Gesellschaft. Es gibt die verzwickten verdeckten Sacheinlagen. Es gibt die großen
verdrussbereitenden eigenkapitalersetzenden Darlehen
und sonstige Leistungen, Nutzungsüberlassungen und
Vorratsgesellschaften. Schließlich geht es um das ganz
kontrovers diskutierte Cash-Pooling-System und vieles
mehr. All diese damit verbundenen Ärgernisse schaffen
wir ab. Die geplante Modernisierung werden wir erreichen. All den Missbrauch, den es bisher gegeben hat,
werden wir verhindern.
({2})
Lassen Sie uns einen kurzen Augenblick Zeit nehmen
und bei der Frage verweilen: Warum ist eine Reform
des GmbH-Rechts notwendig? Die GmbH wird ja als
das Erfolgsmodell seit ihrer Geburtsstunde 1892 bezeichnet, und 1 Million Gesellschaften mit beschränkter
Haftung ist ein schlagender Beweis dafür.
({3})
Aber alle Erfolgsmodelle, ob es sich um Autos oder
sonstige Waren und Güter handelt, kommen natürlich irgendwann in die Jahre und behalten ihren Erfolgsmodellcharakter nur, wenn sie den Zeiten angepasst werden. Das haben wir getan.
({4})
- „Neues Design“ sagt Herr Benneter.
({5})
Zu diesen bisher nur nationalen Gesichtspunkten einer Veränderung des GmbH-Rechts und einer Reform an
Haupt und Gliedern gesellt sich eine europäische Variante, nämlich - die Kenner von Ihnen wissen es - die europäische Rechtsprechung des EuGH. Ich nenne nur
die Verfahren Centros, Daily Mail, Überseering oder Inspire Art. Sie haben dazu geführt, dass wir aus unseren
geradezu paradiesischen Verhältnissen - jedenfalls hinsichtlich der Exklusivität der deutschen Rechtsordnung jäh auf den Boden der Wirklichkeit zurückgeworfen
worden sind. Plötzlich stellen wir fest, dass sich deutsche Firmengründer auch anderer europäischer Rechtsformen bedienen können, zum Beispiel einer französischen oder einer spanischen. Beispielhaft bzw. pars pro
toto sei die englische Limited erwähnt, die in quantitativer Hinsicht - das ist schon gesagt worden - noch immer
eine große Bedeutung hat.
Diese europäischen Herausforderungen kann man
nicht bewältigen, wenn man nur eine Änderung der
GmbH-Konfiguration, wie wir sie kennen, vornimmt. Es
ist nun einmal nicht möglich, eine Allzweckwaffe bzw.
eine - ich formuliere es einmal volkstümlich - eierlegende Wollmilchsau zu schaffen. Man kann nicht einen
Sportwagenfahrer, der gerne Porsche fährt, einen sechsfachen Familienvater, der einen Caravan braucht, und
eine biedere Familie, die gerne ein Mittelklasseauto
fährt, oder den Single mit einem Smart gleichzeitig bedienen.
Daher haben wir gesagt: Neben der Änderung bei der
GmbH, die wir alle für notwendig halten und die wir ja
vorgenommen haben, müssen wir auch eine spezifische
Antwort auf die Herausforderungen der englischen
Limited geben. Das haben wir mit der sogenannten haftungsbeschränkten Unternehmergesellschaft, kurz „UG“
genannt, getan. Sie wird ihren Platz in § 5 a des Gesetzes
zur Modernisierung des GmbH-Rechts finden, und das
wird auch so bleiben.
Meine Damen und Herren, was zeichnet eine haftungsbeschränkte Unternehmergesellschaft aus? Der
Beweggrund, der uns zu dieser Regelung veranlasst hat,
war, dass wir eine preiswerte, schnelle und unkomplizierte Gründung ermöglichen und auch die GmbH von
dem Ballast, den sie mit sich bringt, entschlacken wollten. Unser Angebot ist die Gründung einer Gesellschaft
mit einem Stammkapital von 1 Euro. Allerdings besteht
die Pflicht zur Thesaurierung eines Viertels des jährlichen Gewinns, bis man das Stammkapital der GmbH
eingezahlt hat.
Liebe Mechthild Dyckmans, aus diesem Grunde haben wir die Höhe des Stammkapitals der GmbH bei
25 000 Euro belassen. Denn aufgrund des Angebots einer Einstiegsvariante war ein „Herumfummeln“ an der
Stellschraube Stammkapital - nach dem Motto:
25 000 Euro, 10 000 Euro, 5 000 Euro; wer bietet mehr,
wer bietet weniger? - gar nicht mehr nötig. Wir konnten
diese zugegebenermaßen bedeutungsvolle Seriositätsschwelle beibehalten.
Weil Sie eben von Konkursen geredet haben, möchte
ich Sie fragen: Wissen Sie eigentlich, wie hoch die Insolvenzsumme im Falle des Konkurses einer klassischen
GmbH ist? Im Schnitt beträgt diese Insolvenzsumme
800 000 Euro. 25 000 Euro Haftungskapital, mit dem
man das abfangen will, ist auch nur eine Quantité
negligable. Daher haben wir die Hürde für die Gründung
bei einem Stammkapital von 1 Euro eingebaut.
Im Gegensatz zu den erfolglosen Versuchen in der
Vergangenheit, allerdings bei politisch anders gearteten
Konstellationen - ich erinnere nur an das Mindestkapitalgesetz oder an das MiKaTraG -, haben wir es nun geschafft, der klassischen GmbH unter Beibehaltung ihrer
Attraktivität für diejenigen, die sich ihrer schon bedienen, eine kleine Schwester zur Seite zu stellen.
Meine Damen und Herren, es ging uns nicht nur darum, eine Regelung zu schaffen, die ein geringes
Stammkapital vorsieht, sondern auch darum, die Gründungskosten zu verringern. Wer mit einer EinmannGmbH vorliebnehmen will und zum Notar geht, der
zahlt 20 Euro Notargebühren und 100 Euro Registergebühren. Das Ganze geht auch noch ziemlich schnell, und
die Gründungskosten bleiben mit ungefähr 150 Euro
deutlich unter den Kosten für die Gründung einer Limited.
Nun wird kritisiert, das Gründungsprotokoll sei
Quatsch, und man brauche es nicht. Ich sage Ihnen:
Wenn Sie heute zum Arzt gehen und sagen, dass Sie ein
bestimmtes Rezept brauchen, dann greift der Arzt in eine
Schublade, holt seinen 08/15-Rezeptblock heraus und
schreibt es auf. Das kostet Privatpatienten wie mich, die
den 2,3-fachen Satz zahlen müssen, 20,11 Euro. Wer
mehr will, wem dieses Basismodell, dieser Smart Standard, nicht reicht, wer lieber einen Smart mit Schiebedach, parfümierten Haftreifen
({6})
und Ledersitzen will, der muss natürlich mehr zahlen.
Wer mehr will, muss abhängig vom Geschäftswert von
mindestens 25 000 Euro - da lacht das Herz, Herr
Benneter, nicht wahr? - mit nach oben offenen Grenzen,
freilich degressiv, mehr zahlen. Das wollen wir auch.
Mehr Leistung - mehr Gegenleistung; das ist auch auf
anderen Gebieten so, das ist ein ganz einfaches Prinzip.
Wenn ich schon für die Urheberschaft der Unternehmergesellschaft verantwortlich gemacht werde, will ich
sagen: Solange etwas Erfolg hat, wollen alle der Urheber
gewesen sein. So ist es auch diesmal: Es ist kurios, wer
sich jetzt alles als Erfinder der UG geriert. Bei Misserfolg steht man allerdings als Waisenknabe da. Aber abwarten!
Es ist nicht nur der rechtspolitische Sprecher der
Union, der sich für die UG ausgesprochen hat, auch aus
der Wirtschaft kamen Rufe nach einer solchen Rechtsform. Ich erinnere daran, dass der Chefjustiziar des
DIHK, Herr Dr. Möllering, gesagt hat: Wir brauchen
noch eine zusätzliche Rechtsform für die ganz Kleinen.
({7})
Auch aus der Wissenschaft kamen entsprechende Stimmen. So gehen Teile dieser Idee auf den Nestor, auf den
Doyen der deutschen Gesellschaftsrechtslehre, Herrn
Professor Dr. Lutter, zurück; die UG hat ihm viel zu verdanken. Auch Professor Heribert Hirte hat uns mit zahlreichen Vorschlägen flankierend zur Seite gestanden.
Ihm ist ebenso zu danken wie den Mitarbeitern des Justizministeriums, die, was die UG angeht, zwar zum Jagen getragen werden mussten - freilich, Herr Seibert -,
aber das dann wunderbar begleitet haben.
({8})
Wir haben nicht nur national Rückenwind: Der Präsident der Wirtschaftskammer Österreichs hat erklärt, dass
er auf ein ähnliches Gesetz wie für die GmbH-Reform in
Deutschland nebst der UG warte. Wir brauchen uns nicht
zu wundern, wenn die Österreicher demnächst mit einer
ähnlichen Gesellschaftsrechtsform aufwarten.
({9})
Last, but not least: Wer gelegentlich liest - dieses
„liest“ wird zugegebenermaßen anders geschrieben -,
konnte gestern im Handelsblatt lesen, dass die Europäische Kommission, so Binnenmarktkommissar McCreevy,
eine Europäische Privatgesellschaft einführen will: die
sogenannte Societas Privata Europaea - in keiner meiner
Reden darf ein lateinischer Ausdruck fehlen.
Herr Kollege, nach der Geschäftsordnung des Bundestages wäre es zulässig, auf lateinische Begriffe zu
verzichten.
({0})
Ich mache nur das, was zulässig ist - obwohl manche
hier, was die freie Rede angeht, eigentlich gänzlich gegen die Geschäftsordnung verstoßen.
({0})
Die Europäische Kommission schlägt vor, dass es für
die Gründung einer Societas Privata Europaea genügen
soll, 1 Euro einzubringen. Ich möchte einmal wissen,
wie Sie dagegen angehen wollen, Frau Dyckmans! Aber
wollen wir warten, bis die Europäische Kommission
endlich zu Potte kommt? Nein. Hic et nunc, hier und
jetzt, heute machen wir das!
({1})
Ganz zum Schluss: Verehrte Frau Dyckmans, liebe
Mechthild,
({2})
bei der ganzen Kritik, die du vorgelesen hast, hättest du
dir an deinem parlamentarischen Urahnen, dem nationalliberalen Abgeordneten Dr. Bamberger ein Beispiel nehmen sollen, der sich schon am 21. März 1892 in der
199. Sitzung des Reichstages bei der Einführung der
GmbH neben der Aktiengesellschaft - die übrigens genauso bekämpft worden ist wie jetzt die UG, die neben
der GmbH eingeführt werden soll - wahrscheinlich - ich
war nicht Zeitzeuge, auch wenn ich manchmal fast so
aussehe ({3})
ganz lässig hingestellt und erklärt hat: Allen Verzagten
und allen Kritikern sei gesagt, dass sie sich erst einmal
anschauen sollen, wie sich das Neue in der Praxis bewährt. - Das empfehle ich auch. Wir sollten nicht aus
Angst vor dem Tode Selbstmord begehen! Wir sollten
uns anstecken lassen von dem Optimismus der Pioniere
des Gesellschaftsrechts!
({4})
Wir sollten nicht kleinkariert und kleinmütig an einer
Gesellschaftsrechtsreform herummäkeln, die - davon
bin ich überzeugt - sowohl den Gründungswilligen als
auch den Investoren als auch den großen Konzernen einen Rechtsrahmen bietet, innerhalb dessen die Leute
ihre unternehmerische Findigkeit, ihren Ideenreichtum
umsetzen können. Ich bin der Meinung, mit der Reform,
die wir heute verabschieden, wird die GmbH, wird das
Gesellschaftsrecht fit für das 21. Jahrhundert.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Das Wort erhält nun die Kollegin Sabine
Zimmermann, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Herr Dr. Gehb, Sie sprachen
eben von einem neuen Design für das Gesetz. Ich denke,
es geht nicht um die Fassade, sondern um den Inhalt.
Deswegen muss ich Ihnen hier wirklich widersprechen.
({0})
Wir beraten heute einen Gesetzentwurf in zweiter und
dritter Lesung, der den Namen, den er trägt, aus unserer
Sicht nicht verdient.
({1})
Wir haben diesen Gesetzentwurf im Ausschuss - ich
muss sagen: in seltener Einmütigkeit mit der FDP - abgelehnt.
({2})
Dies werden wir auch heute tun. Aus unserer Sicht gibt
es keinen Anlass, die bewährte Rechtsform der GmbH
durch eine neue Unterform zu ergänzen. Diese sogenannte Unternehmergesellschaft ist missbrauchsanfällig, bietet keinen hinreichenden Gläubigerschutz und ist
deshalb aus unserer Sicht völlig überflüssig.
({3})
Als Grund für diese Gesellschaftsform hat Dr. Gehb
- ich muss ihn wieder zitieren - in der ersten Lesung am
20. September 2007 Folgendes gesagt:
Wir stehen in einem europäischen Wettbewerb
nicht nur hinsichtlich der Erzeugung von Gütern
und Dienstleistungen, sondern auch hinsichtlich der
Rechtsordnungen und der Rechtsformen. Diesen
Wettbewerb nehmen wir an. Wir wollen und müssen ihn gewinnen.
({4})
Für mich stellt sich die Frage, ob dieser von Ihnen
ausgerufene Wettbewerb zwangsläufig so aussehen
muss, dass die niedrigsten Standards anzusetzen sind.
Wenn überhaupt ein Vergleich zwischen Rechtsordnungen gezogen werden kann, dann sollte dies aus der Sicht
meiner Fraktion nach dem Maßstab der Verwirklichung
sozialstaatlicher und demokratischer Grundsätze erfolgen. Dies scheint mir hier nicht der Motor und der Maßstab der Veränderung gewesen zu sein.
Sie unterstellen, dass viele Gründer darauf angewiesen sind, möglichst viel Kapital mit einem möglichst geringen Risiko zu erwirtschaften. Warum dies das Beste
ist, kann uns allerdings niemand begründen. Warum
muss ein Unternehmer, der als Marktteilnehmer Gewinne erzielt, von den Risiken seines Tuns möglichst
freigestellt werden? Ich frage Sie: Wie wollen Sie das
den Millionen Arbeitslosen erklären, denen in den vergangenen Jahren immer mehr Risiken der Lebenssicherung aufgebürdet worden sind?
({5})
- Ja, ich frage auch Herrn Benneter zum Beispiel. Sie
sind ja in einer sozialen, demokratischen Partei, deren
Mitglied ich auch einmal war.
({6})
Die Gründer, die Sie mit 1 Euro mal eben eine Gesellschaft gründen lassen wollen, werden am Markt tätig
sein. Die Unternehmergesellschaft wird also Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen und darüber
hinaus viele weitere Gläubiger haben.
Was macht dieser Unternehmer denn, wenn er statt
der erwarteten Gewinne ganz im Gegenteil Verluste einfährt?
({7})
Er wird früher oder später logischerweise in die Insolvenz gehen. Meine Kollegin von der FDP hat es gesagt:
Wer dann die Kosten trägt, scheint Ihnen gleichgültig zu
sein.
({8})
- Dass Sie nicht unserer Meinung sind, ist ja allgemein
bekannt.
({9})
Ebenso gehen Sie darüber hinweg, dass die neuen Unternehmen, die mit einer weitestgehenden Haftungsbeschränkung entstehen sollen, sehr viel häufiger pleitegehen. Gerade das lehrt ja die Erfahrung mit den britischen
Limiteds. Von den Unternehmern, die sich in Deutschland für diese britische Rechtsform entschieden haben,
ist ein hoher Prozentsatz längst insolvent. Mit ihrer grandiosen Innovation, mit ihren Unternehmergesellschaften,
organisieren Sie einen Wettbewerb der Pleiterekorde.
Wenn es um Arbeitslose und Rentner geht, dann drehen Sie jeden Cent dreimal um. Wenn es aber um Gründer geht, dann soll es egal sein, wie viel Geld für Rechtsstreitigkeiten und sonstige Folgekosten verloren geht.
Möglichst schnell und möglichst einfach sollen Unternehmen gegründet werden. Viel mehr als ein Dogma haben Sie hier nicht zu bieten.
Sie alle haben sicherlich schon von Fällen gehört, in
denen die Zahlung der Arbeitslöhne angefochten wurde
und die Löhne an den Insolvenzverwalter zurückgezahlt
werden mussten. Versetzen Sie sich jetzt doch bitte einmal in die Lage eines Arbeiters oder eines Angestellten.
Sollen sie, wenn sie bei einem solchen Unternehmen beSabine Zimmermann
schäftigt sind, ihren Lohn etwa gleich beim Insolvenzverwalter abgeben, weil sie ja schließlich wussten, dass
sie bei einer GmbH light arbeiten, die eben immer ein
bisschen mehr Risiko in sich birgt? Ich habe dies bewusst zugespitzt
({10})
- es hat garantiert etwas damit zu tun -, weil die Koalition, wie uns scheint, anders an eine GmbH-Reform herangeht, als wir das tun würden. Während sich die Koalition fragt, mit welchen Rechtsordnungen sie um die
Wette eifern kann, richten wir unseren Blick auch auf die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und fragen uns,
wie wir deren Situation in solchen GmbHs verbessern
können. Hierzu gibt es allerhand Anknüpfungspunkte im
Bereich der Demokratisierung der Entscheidungsprozesse in den Unternehmen.
Auch der Gläubigerschutz muss gestärkt werden.
Denn dadurch werden Arbeitsplätze erhalten und andere
Unternehmen - vor allem im Mittelstand - davor geschützt, bei einer Krise des Vertragspartners selbst in
eine Krise zu geraten.
Es gäbe also viel zu tun. Mit der Unternehmergesellschaft marschiert die Koalition in die entgegengesetzte
Richtung und vermindert den Gläubigerschutz. In der
Begründung zur Einführung dieser Unternehmergesellschaft wird lapidar auf die Vielzahl von Gründungen in
der Form der Limited hingewiesen. Wie viele Gründungen aber gibt es genau? Wie viele sind schon wieder gelöscht worden? Warum ist das geschehen, und wie ergeht
es den Gläubigern solcher Limiteds? Welche Probleme
ergeben sich für die Gründer selbst?
All diese Fragen sind nicht seriös beantwortet worden, sonst hätten Sie diesen Gesetzentwurf nicht in dieser Form vorgelegt. Zum Teil sind die von mir genannten
Fragen in der Anhörung des Rechtsausschusses beantwortet worden. Die Antworten fielen deutlich gegen die
Unternehmergesellschaft aus. Es wurde klar herausgestellt, dass der faktische Verzicht auf das Stammkapital
ein Risiko für die Gläubiger darstellt. Es wurde auf die
französischen GmbHs mit weniger als 7 500 Euro
Stammkapital hingewiesen. Ebenso wurde deutlich darauf hingewiesen, dass die englischen Limiteds viel insolvenzanfälliger sind als Unternehmen nach dem bislang
geltenden deutschen Recht. Ähnliches droht nun mit der
Einführung der unterkapitalisierten Unternehmergesellschaft.
Gegen diese von uns und vielen Sachverständigen geäußerten Warnungen führen Sie merkwürdige Argumente an. Über das Argument, selbst die 25 000 Euro
der GmbH, die als Stammkapital aufzubringen sind,
seien nichts im Vergleich zu den gewöhnlich auftretenden Schulden, kann man sich nur wundern. Man fragt
sich, ob es sich dabei um Zynismus oder Gedankenlosigkeit handelt.
Sie vergessen auch die Seriositätsschwelle, die vom
Stammkapital ausgeht. Die Ansparpflicht für das
Stammkapital, die für die neue Unternehmergesellschaft
gelten soll, mag für Sie eine kleine Beruhigungspille
sein. Aus unserer Sicht ist das aber keine Lösung.
({11})
Es ist auch nicht gesagt, dass der Gesetzentwurf den
Gründern selbst wirklich hilft. Denn sie kommen damit
eher zu dem Trugschluss, dass nichts leichter ist, als ein
Unternehmen zu gründen. Im Zweifel sind die Gründer
besser beraten, wenn sie durch entsprechende Hürden
davon abgehalten werden, unwirtschaftliche Unternehmungen zu gründen. Wegen mangelnder Kreditwürdigkeit werden sie von den Banken sowieso nur dann Geld
bekommen, wenn sie persönlich haften.
({12})
- Ja, aber auch das kann durch Ihren Gesetzentwurf zu
einem Problem werden; denn Sie fördern die Leichtfertigkeit im Umgang mit unternehmerischen Entscheidungen.
({13})
- Sie haben gleich die Möglichkeit, darauf einzugehen.
({14})
Ein zu schnelles und leichtfertiges Eingehen persönlicher Haftungsrisiken wird durch Ihr Gesetz indirekt gefördert. Wenn die Gründer mit ihrer Geschäftsidee falsch
liegen, sind sie doppelt hart getroffen: als Unternehmer
gescheitert und in persönlichen Schulden versunken.
Sie haben an keiner Stelle den Bedarf für die Einführung der Unternehmergesellschaft nachgewiesen. Wenn
Sie den Vergleich der Rechtsordnungen sozial verantwortlich und ernsthaft durchführen würden, dann wären
ganz andere Schlussfolgerungen zwingend notwendig.
Dann gäbe es längst den Mindestlohn. Da Sie aber diesen Vergleich nicht sozial verantwortlich durchführen,
kann man nur mit Schrecken abwarten, welche Neuerungen uns beim großen Wettbewerb der Rechtsordnungen
erwarten.
Alles in allem kann man zur Einführung der Unternehmergesellschaft nur festzustellen: Wie Sie hier
auf den Namen „Gesetzentwurf … zur Bekämpfung
von Missbräuchen“ kommen, ist schleierhaft und
vollkommen unverständlich. Sie öffnen dem Missbrauch Tür und Tor.
({15})
Wir werden dem nicht zustimmen.
Danke.
({16})
Nun hat der Kollege Jerzy Montag das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich
vorgestern die FAZ gelesen habe, war ich fast geneigt,
den Einstieg meiner heutigen Rede zu verändern; denn
dort steht, von 2006 bis 2008 sei die Zahl der Neugründungen erschreckend zurückgegangen. Ich dachte: Oh
Gott! Was ist passiert? Ich habe ein ganz anderes Bild. Aber am Ende des gleichen Zeitungsartikels steht der
Satz, verantwortlich für den Rückgang seien vor allem
die gute Konjunktur in den vergangenen Jahren und die
damit einhergehende Entspannung auf dem Arbeitsmarkt. Die höhere Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt erklärt also die gesunkene Zahl der Gründungen. Danach
war ich ein bisschen beruhigt. Ich habe mich dann den
Zahlen des Statistischen Bundesamtes zugewandt. Danach gab es im Jahr 2006 in Deutschland 53 000 GmbHNeugründungen, 12 500 sogenannte Neuzuzüge und
8 000 Übernahmen - dabei handelt es sich um die Errichtung einer GmbH durch Kauf, Erbe oder Rechtsformänderung -, insgesamt 77 500 GmbHs.
Das GmbH-Recht ist seit fast 30 Jahren unverändert.
Die angestrebte Reform ist die größte und strukturell
entscheidendste seit der Gründung dieser Rechtsform.
({0})
Unternehmer haben ein Interesse, sich bei überschaubarem Risiko wirtschaftlich zu betätigen, einem Risiko,
das auf die wirtschaftliche Betätigung begrenzt ist und
nicht ihr Privatvermögen betrifft.
({1})
Dies ist seit über 100 Jahren ein Erfolgsmodell in
Deutschland. Insbesondere der Linken sage ich: Der
Mittelstand bildet den Kern dieses Modells mit überschaubarem wirtschaftlichen Risiko. Das ist auch der
Kern dessen, mit dem in Deutschland die Arbeitslosigkeit bekämpft werden kann.
({2})
Sie wollen dieses Modell mit Ihren populistischen Äußerungen grundsätzlich schleifen. Damit greifen Sie unmittelbar in die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ein und
erhöhen die Arbeitslosigkeit, statt mitzuhelfen, sie zu
mindern.
({3})
Über die Jahrzehnte haben sich Schwächen beim
GmbH-Recht herausgebildet. Wir haben Lücken erkannt, genauso wie die Rechtsprechung. Es haben sich
neue Entwicklungen ergeben, die neue Regelungen erfordern. Mit dem Gesetz werden alle Probleme angepackt, von der Geburt bis zur Insolvenz und zur sogenannten Bestattung. Das ist der Kern des GmbH-Rechts.
Wir unterstützen dieses Reformwerk und werden ihm
zustimmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie suchen krampfhaft nach zwei, drei Punkten - und seien sie
noch so unbedeutend -, um Ihre Ablehnung zu begründen. Das ist angesichts des Reformwerks überhaupt
nicht angemessen.
({4})
Punkt eins ist das beurkundungspflichtige Musterprotokoll, liebe Kollegin Dyckmans. Fakt ist - die Kollegen
Notare werden mir das bestätigen -: Die Notare haben
das längst und brauchen kein Musterprotokoll. Sie haben
sich längst auf das Gesetz vorbereitet und haben in ihrer
eigenen Mustersammlung, die sie bei ihrem Verband
kaufen, bereits ein entsprechendes Musterprotokoll, das
sie per Knopfdruck abrufen können. Es stimmt, dieses
beurkundungspflichtige Musterprotokoll wird nicht gebraucht. Aber das ist kein Grund, den Gesetzentwurf abzulehnen. Man muss wirklich mit der Lupe suchen, um
so etwas zu finden.
({5})
Punkt zwei ist die Debatte über das sogenannte Gründungskapital. Ich sehe, dass man bei der Argumentation
hin und her laviert. Die Bundesjustizministerin Zypries
hat einmal gesagt: Es ist vernünftig, die Höhe des Mindeststammkapitals auf 10 000 Euro abzusenken, alles
andere bringt nichts. Jetzt ist genau das Gegenteil eingetreten. Es ist etwas Neues hinzugekommen, nämlich die
UG. Die Höhe des Mindestkapitals ist nicht auf 10 000
abgesenkt worden; sie ist bei 25 000 Euro geblieben, so
wie wir es immer hatten.
({6})
- Hören Sie mir bis zum Ende zu. Die andere Argumentation ist: Diese Summe hat die Funktion einer Seriositätsschwelle. Ich halte das alles für Argumente neben der
Sache. Wir haben von den Sachverständigen gehört
- das wissen wir doch -, dass dies keine Seriositätsschwelle ist.
({7})
Ob man 10 000 Euro, davon 50 Prozent als Bareinlage, oder 25 000 Euro, davon 50 Prozent als Bareinlage, braucht, ist, je nachdem, wie man sich betätigen will,
entweder viel oder gar nichts. Wenn man ein Darlehen
braucht und dafür Schulden machen muss, gilt sowieso
die persönliche Haftung. Sie sagen selber: Bei einer
durchschnittlichen Insolvenzsumme von 800 000 Euro
spielen 10 000 oder 25 000 Euro überhaupt keine Rolle.
Die Frage über die Höhe des Gründungskapitals mag
im 19. Jahrhundert eine Rolle gespielt haben. Heute ist
das unerheblich. Deswegen ist die Frage, ob die Große
Koalition und das Bundesjustizministerium bei dieser
Position mal so und mal anders argumentiert haben, unwichtig, wenn es darum geht, wie man diesen GesetzentJerzy Montag
wurf bewertet. Das ist der zweite Punkt, bei dem ich Ihnen vorwerfe, dass Sie ein Haar in der Suppe suchen.
({8})
Punkt drei. Viele junge Leute haben eine Idee und
wollen Unternehmer werden und suchen daher nach einer neuen und modernen Form, in der sie sich betätigen
können. Diesem Bedürfnis muss man Rechnung tragen.
Wenn man das nicht tut, dann verschließt man viele
Möglichkeiten und verbaut den jungen Menschen Zukunftschancen. Man muss ihnen vielmehr ein Angebot
machen, damit sie mit einer Beschränkung in Höhe des
finanziellen Risikos, das sie in ihrem Gewerbe oder in
ihrem Unternehmen tragen können, anfangen können,
sodass sie nicht auf ihr persönliches Vermögen zurückgreifen müssen.
Aufgrund der europäischen Rechtsprechung können
diese neuen Unternehmer ausländische Rechtsformen
wählen. Wir waren uns fast alle einig, dass dies durch
ein deutsches Angebot insbesondere deswegen verbessert werden muss, weil diese Rückgriffe auf englisches,
spanisches oder französisches Recht für die Betroffenen
ab dem zweiten Jahr zu erheblichen Nachteilen führen.
Insofern haben wir hier auch eine Schutzfunktion.
({9})
Die von Ihnen vorgeschlagene UG ist nicht so
schlecht, wie ihre Feinde und Gegner sie machen wollen.
Aber wir Grünen sagen: Sie hat genau für diese Personen
einen strukturellen Nachteil. Weil dieses Angebot als
Kapitalgesellschaft ausgestaltet ist, führt dies notwendigerweise dazu, dass die Steuer von den ersten 3 Euro
Gewinn, die dieses Unternehmen macht, 1 Euro einbehält.
({10})
30 Prozent gehen für die Körperschaftsteuer und weitere
Steuern ab. Von den ersten 4 Euro, Herr Benneter, die
ein solcher Jungunternehmer aus dem Unternehmen als
Gewinn entnimmt, nimmt sich die Steuer wiederum
1 Euro, also 25 Prozent. Das ist kontraproduktiv.
Wir sagen: Die UG, wie Sie sie gemacht haben, hat
nicht so viele Fehler, dass man deswegen das ganze Gesetz ablehnen muss, Frau Dyckmans.
({11})
Das ist nicht glaubwürdig. Wir Grünen haben ein besseres Angebot, nämlich die Personengesellschaft mit beschränkter Haftung.
({12})
Mit unserem Entschließungsantrag sagen wir: Verbinden
wir doch die Vorzüge der UG
({13})
mit einer steuerrechtlichen Lösung in Form einer Privatgesellschaft.
Damit komme ich zu Ihnen, Frau Kollegin
Dyckmans. Sie werfen uns vor, Rosinenpickerei zu betreiben und uns um Gläubiger und um Dritte nicht zu
kümmern. Ich darf Ihnen dazu aus unserem Entschließungsantrag vorlesen, weil Sie offensichtlich nicht in der
Lage waren, bis zum Schluss zu lesen, sonst hätten Sie
uns keine solchen Vorwürfe gemacht:
Besonderes Augenmerk ist bei der Gestaltung einer
solchen neuen Gesellschaftsform auf verbesserten … Gläubigerschutz durch strenge Rechnungslegungs- und Publizitätspflichten, erhöhte
Verantwortung der … Gesellschafter für die ausreichende Kapitalisierung der von ihnen betriebenen
Gesellschaft und andere Maßnahmen zum Schutz
von Gesellschaft, … Gesellschafter und … Gläubiger zu richten.
Der Vorwurf gegen uns, wir würden uns diesem Problem
nicht widmen, ist also falsch, widerlegt durch dieses
Zitat.
Der Gesetzentwurf, den die Koalition vorgelegt hat,
ist gut und richtig. Wir werden ihm zustimmen. Die paar
Schönheitsfehler haben wir benannt und zu Protokoll gegeben. Das ist aber kein Grund, den Gesetzentwurf abzulehnen.
({14})
Ich komme zum Schluss. Herr Präsident, meine Damen und Herren, es ist für mich eine einmalige Situation: Erstmals, seitdem ich im Hohen Hause Abgeordneter bin, habe ich meine Redezeit nicht vollständig
ausgeschöpft. Das wird sich nicht wiederholen.
({15})
Herr Kollege, diese Drohung wird ohnehin im Protokoll vermerkt. Ich werde sie aber den Kollegen im Präsidium gewissermaßen als Vorwarnung mit auf den Weg
geben.
({0})
Als nächster Redner erhält der Kollege Klaus Uwe
Benneter für die SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Kollege Montag, in der Kürze liegt die Würze.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
Rechtsform der GmbH ist ein Erfolgsmodell. Das ist,
Frau Dyckmans, gelebter Mittelstand. GmbH bedeutet
heute Wertschätzung und Anerkennung.
({1})
Die GmbH ist seit mehr als 100 Jahren ein gesellschaftsrechtliches und wirtschaftspolitisches Erfolgsmodell.
({2})
- Dann sagen Sie das hier auch und machen Sie es nicht
schlechter, als es ist.
Bei 82 Millionen Einwohnern 1 Million GmbHs, das
zeigt, dass viele Menschen ihr Können, ihre Arbeitskraft, ihre ganze Kreativität in solche erfolgreiche Unternehmungen oft über Generationen hinweg investieren.
({3})
Dennoch - das ist nicht zu verkennen - haben sich etliche Mängel über ein Jahrhundert - 1892 liegt ja doch
schon so weit zurück - eingestellt. Kreativ sind ja nicht
nur die Unternehmer gewesen, sondern kreativ waren
auch die Rechtsanwender, beispielsweise die professionellen GmbH-Bestatter, die das bestehende Recht dazu
genutzt haben, sich der Insolvenz und der Liquidation zu
entziehen. Ihr probates Mittel war, marode GmbHs bewusst in Führungsverantwortungslosigkeit und vor allen
Dingen Nichterreichbarkeit zu steuern. Diesen Firmenbestattern legen wir jetzt das Handwerk,
({4})
und zwar durch klare Zustellungsregelungen, durch eine
verschärfte Haftung der Geschäftsführer bei unverantwortlichen Auszahlungen an Gesellschafter in der Krise
der Gesellschaft und durch erweiterte Gesellschafterpflichten bei Führungslosigkeit der GmbH. Das alles
sind Antworten auf Ihre Behauptung, wir würden eine
leichtsinnige Reform machen.
Kreativ war ja auch die Rechtsprechung. Das ist bei
Hunderttausenden GmbHs kein Wunder. Sie hat in manchen Bereichen dazu geführt, dass das Recht für die Anwender überhaupt nicht mehr nachvollziehbar war. Das
betraf die Rechtsprechung zu den Rechtsfolgen verdeckter Sacheinlagen, die im Insolvenzfall wertmäßig
nochmals und dann doppelt erbracht werden mussten.
Die meisten GmbH-Gesellschafter, wenn man einmal
von Konzerntöchtern absieht, haben ja keine großen
Rechtsabteilungen im Rücken. Diese wurden bisher mit
weit übertriebenen Rechtsfolgen überrumpelt. Das
konnte niemand mehr nachvollziehen.
Wir gestalten jetzt die Rechtsfolgen verdeckter Sacheinlagen besser und einfacher. Die gefundene Anrechnungslösung, wonach die Sacheinlage nach Eintragung
der Gesellschaft auf die an sich vereinbarte Geldeinlage
angerechnet wird, ist korrekt. Sie verleitet den Geschäftsführer nicht zum Lügen. In der Sachverständigenanhörung wurde die noch im Regierungsentwurf vorgesehene Lösung zu Recht moniert. Wir stellen jetzt klar,
dass der Gesellschafter für die Werthaltigkeit seiner Einlage beweispflichtig ist und bleibt.
Meine Damen und Herren, kreativ waren auch die Registerrichter. Bisher war vorgegeben, dass die GmbHGründer alle erforderlichen verwaltungsrechtlichen
Genehmigungen für das Unternehmen beizubringen
hatten. Daraus wurde auch noch die Forderung, Negativatteste vorzulegen, also dass eine Behörde bescheinigt,
dass eine Erlaubnis gerade nicht erforderlich ist.
Welche Blüten das treibt, habe ich selbst erlebt. An
mich hat sich ein junger Mann gewandt, der die Idee
hatte, Autorückscheiben mit Abtönfolien gegen zu viel
Sonne und vielleicht auch gegen zu viele neugierige Blicke anderer Autofahrer zu bekleben. Er sollte ein Negativattest beibringen, das besagt, dass es sich bei seinem
Vorhaben nicht um ein Kfz-Handwerk handelt. Als er
dann bei der Kfz-Innung war, wurde ihm gesagt, er solle
erst einmal ein Negativattest beibringen, welches besage, dass es kein Glaserhandwerk sei. Da er beide Negativatteste nicht beibringen konnte, hat auch das Registergericht die Eintragung verweigert. Solcher Art sind
die Blüten, die Unternehmensgründer zum Wahnsinn
treiben konnten.
Wir machen damit grundsätzlich Schluss. Wir trennen
Gesellschaftsrecht und Verwaltungsrecht. Verwaltungsrechtliche Fragen gehören in den Bereich der Verwaltung und nicht in den des Registergerichts. Die GmbH
kann sich gründen und erst dann die erforderlichen Genehmigungen für das Unternehmen einholen. Die zuständigen Behörden können sich darum kümmern, ob
eine gegründete GmbH Genehmigungen braucht und
wofür diese erforderlich sind.
In vielen unkomplizierten Standardfällen ermöglichen
wir künftig rasche, kostengünstige GmbH-Gründungen
mit einem notariellen Musterprotokoll. Für 126 Euro
können Sie jetzt eine GmbH mit einem normalen
Stammkapital von 25 000 Euro gründen. Die Gründung
einer Unternehmergesellschaft mit 1 Euro Stammkapital
- darauf hat der Kollege Gehb schon hingewiesen - kostet jetzt 20 Euro. Jetzt bemängeln Sie, Frau Dyckmans,
dass wir als Gesetzgeber uns als Gouvernante für Notare
aufspielen und für diese ein Protokoll entworfen haben.
Richtig, das können die auch alleine; das weiß ich aus eigenem Erleben.
({5})
- Ich schon, gut. - Das Musterprotokoll, Frau
Dyckmans, ist keine Hilfestellung für Notare, sondern
für die potenziellen Gründer, für die Laien.
({6})
Ein Blick ins Gesetz - also heute ins Internet -, und die
Gründer wissen, dass das kein bürokratisches Monstrum,
sondern ein kurzes, verständliches, lesbares Musterprotokoll ist. Ich denke, das ist das, worauf es ankommt.
Das macht Unternehmensgründern Mut und die entsprechende Laune. Dagegen können Sie eigentlich nichts haben, auch Sie, Frau Dyckmans, nicht.
({7})
Der EuGH hat 2002 eine in Deutschland eigentlich
gut eingeübte, funktionierende Rechtspraxis ausgehebelt. Gründungs- und Verwaltungssitz durften danach
nicht auseinanderfallen. Das ist aufgehoben worden und
mit der Niederlassungsfreiheit in Europa begründet worden. In der Folge hatten wir zunehmend die Rechtsform
der britischen Limited, das heißt, es konnten nach englischem Recht Gesellschaften mit beschränkter Haftung
ohne irgendein Mindestkapital gegründet werden. Von
den sehr üblen Folgen wurden wir erst viel später überrascht.
Wir reagieren auf diese Rechtsprechung. Jetzt sind
einmal wir kreativ. Wir erlauben künftig deutschen
GmbHs, ihren Betrieb ins Ausland zu legen und zu verlegen. Das war bisher für eine deutsche GmbH nicht
möglich. Jetzt besteht die Möglichkeit, dass deutsche
Unternehmen ihre europäischen Auslandstöchter in der
ihnen bekannten Rechtsform der GmbH gründen und
führen. Das ist für deutsche exportorientierte Unternehmen eine große Verbesserung. Bisher mussten deutsche
Unternehmen in jedem Mitgliedstaat eine nach dortigem
Recht geregelte Gesellschaft gründen. Das war logischerweise mit vielen Gesellschafts-, Rechts- und Formfragen und erst recht mit hohen Kosten verbunden. Jetzt
wird unsere deutsche GmbH exportfähig.
Weiterhin wurde ein für uns Sozialdemokraten wichtiges Anliegen geregelt, nämlich in der Insolvenz die
Sanierungschancen und damit die Arbeitsplätze nach
Möglichkeit zu erhalten. Anders als von der Linken hier
behauptet, haben wir die für die Insolvenzpraxis wichtige Nutzungsüberlassung in der Insolvenz klarer geregelt. Es geht dabei um die Gegenstände, die man
braucht, die der Gesellschaft von den Gesellschaftern
überlassen worden waren, die aber für die Betriebsfortführung und zur Sanierung von erheblicher Bedeutung
sind und bei denen immer die Gefahr bestand, dass sie
sofort ausgesondert wurden und damit die Chancen auf
Sanierung zunichte gemacht wurden. Die Herausgabe
dieser Gegenstände können die Gesellschafter jetzt ein
Jahr lang nicht verlangen. Das ist ein klarer Zeitraum. In
diesem Zeitraum ist eine Sanierung möglich, sie kann in
dieser Zeit gelingen.
Wir schaffen mit der Unternehmergesellschaft ({8}) ein neues Angebot für Firmengründer,
die eben kein Mindeststammkapital von 25 000 Euro
brauchen und mit weniger auskommen können. Interessanterweise behauptet jetzt die Linke Arm in Arm mit
der FDP, die Limiteds in Deutschland hätten gezeigt,
dass unseriöse Unternehmensgründer es darauf anlegen
würden, Mitarbeiter, Sozialversicherungen und den Fiskus zu schröpfen. Diese seien die Leidtragenden, wenn
von Anfang an unsolide und zahlungsunfähige Unternehmergesellschaften ({9}) in Deutschland agieren würden. Die Unternehmergesellschaft ist
nicht in erster Linie eine Antwort auf die Limited, sondern auf die weitverbreiteten und wohlbegründeten
Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines gesetzlich vorgegebenen Mindeststammkapitals. Es gibt viele Praktiker, die
behaupten, das Stammkapital habe allenfalls in der Insolvenz eine Funktion, nämlich dann, wenn es in irgendeiner Art und Weise nicht ordentlich eingezahlt
wurde und deshalb nachgezahlt werden müsse. Das
Stammkapital soll ein Ausweis von Solidität und Seriosität sein, Frau Dyckmans. Das ist doch ein Witz!
({10})
- Gehen Sie einmal auf die Hamburger Reeperbahn.
Dort können Sie immer etliche Herren treffen, die locker
25 000 Euro in bar in der Tasche haben. Bei diesen Herren ist das sicherlich kein Ausweis von Seriosität.
({11})
Sie meinen, dass derjenige, der weniger als 25 000 Euro
einsetzen will oder kann, nicht in den Genuss der beschränkten Haftung kommen soll. Damit fallen Sie
Dr. Bamberger doch in den Rücken und in der über einhundertjährigen Geschichte der GmbH weit zurück. Dieses Misstrauen war 1892 angebracht. Damals mussten
GmbH-Gründer 20 000 Goldmark aufbringen; das war zu
der Zeit ein Vermögen. Deshalb gab es Skepsis und Argwohn gegenüber Kapitalgesellschaften. Frau Dyckmans,
Sie als Neoliberale machen sich diese heute zu eigen.
Das ist nicht nachzuvollziehen.
Herr Kollege Benneter, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Herr Präsident, ich komme zum Fazit: Wir behalten
unser Erfolgsmodell, die klassische GmbH, die wir
rundum erneuert haben. Nach dem gleichen Erfolgsrezept bekommen wir eine ansehnliche Unternehmergesellschaft, der wir mit einiger Berechtigung eine gute
Zukunft voraussagen können.
({0})
Kollege Benneter hat nun die Redezeit verbraucht, die
Kollege Montag freundlicherweise nicht genutzt hat.
Damit sind wir wieder im Limit, womit keine neue
Rechtsform für unsere Debatten gemeint ist.
Der nächste Redner ist der Kollege Andreas Lämmel
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! MoMiG - das ist ein schöner Name für ein Gesetz,
verglichen mit den Bezeichnungen manch anderer Gesetze, die wir im Deutschen Bundestag verabschieden.
Das MoMiG ist insgesamt ein außerordentlich gut gelungenes Gesetzeswerk. Gestern hat eine große Tageszeitung, das Handelsblatt, Folgendes dazu geschrieben:
„Mo“ steht für Modernisierung und Benutzerfreundlichkeit. Der Wortbestandteil „Mi“ drückt
aus, dass sich die Geschäftsführer bei Missbrauch
wärmer anziehen müssen.
Diese große Wirtschaftszeitung hat noch einmal deutlich gemacht, dass es sich bei dieser Reform um die
größte seit 100 Jahren handelt. Wir sehen es also nicht
nur selber so, sondern es wird auch von außen bestätigt,
dass diese GmbH-Reform sehr wichtig für unser Land
ist.
Die drei Teile des Gesetzes betreffen erstens die Erleichterung und Beschleunigung von Unternehmensgründungen - dazu ist schon viel gesagt worden -, zweitens die Erhöhung der Attraktivität der GmbH als
Rechtsform - auch dazu ist schon einiges gesagt worden und drittens die Bekämpfung von Missbräuchen.
Ich will mich mit den Argumenten auseinandersetzen,
welche die FDP und die Linke vorgebracht haben. Es ist
schon erstaunlich, dass die Wirtschaftskompetenz heutzutage von der FDP offensichtlich langsam zu den Grünen wandert; denn die Unterstützung, die das MoMiG
bei den Grünen findet, ist bemerkenswert.
({0})
Frau Dyckmans, es ist schon erstaunlich, dass keiner
der FDP-Wirtschaftspolitiker heute hier vertreten ist. Sie
sind offenbar nicht gekommen, weil sie Ihre Auffassung
möglicherweise nicht ganz teilen.
({1})
Ich kann mich an Zeiten erinnern, in denen die FDP und
erst recht die Linken Erleichterungen für Unternehmensgründer, eine zweite Chance für Unternehmer, die schon
einmal gescheitert sind, und die Entbürokratisierung von
Unternehmensgründungen gefordert haben. Insofern
kann ich Ihre Argumentation, die Sie heute von diesem
Pult aus geführt haben, nicht nachvollziehen.
({2})
Wenn wir uns das Gründungsgeschehen ansehen,
stellen wir fest, dass in guten Zeiten von deutschen
Gründern in einem Monat 3 000 GmbHs und 1 000 Limiteds gegründet werden. Man muss also zur Kenntnis
nehmen, dass das Gründungsgeschehen in Deutschland
sich absolut verändert hat.
Mit dem Einzug des Internets in unser tägliches Leben haben sich Geschäftsmodelle entwickelt, die nicht
erst 25 000 Euro Grundkapital brauchen, um eine Gesellschaft zu gründen; dieses Geld kann schon genutzt
werden, um ein paar Computer oder andere Gerätschaften zu kaufen und das Geschäft aufzubauen.
({3})
Hätten wir diese Unternehmergesellschaft nach 1990
in Ostdeutschland schon gehabt, hätte sich manches
menschliche Drama vermeiden lassen. Viele haben sich
in eine Rechtsform begeben, bei der im Falle der Insolvenz bis ins Privatvermögen durchgegriffen wird, und
die Betroffenen sind heute Sozialhilfeempfänger. Das
wollen wir verhindern. Wir wollen jungen Gründern mit
der beschränkten Haftung eine Möglichkeit geben, ihr
Geschäftsmodell abzusichern, ohne ihr gesamtes Privatvermögen in das Geschäft einbringen zu müssen.
({4})
Zum Thema Musterprotokolle. Auch an dieser Stelle
kann ich nur staunen. Die FDP begibt sich hier auf den
Pfad, eine einzelne Berufsgruppe - vermeintlich - zu
schützen.
({5})
Wir hätten natürlich sehr gern die Mustersatzung ermöglicht - das muss ich ganz deutlich sagen -, aber die
Mehrheit hat sich letztendlich für das Musterprotokoll
entschieden. Die Mustersatzung wäre noch etwas weiter
gehend gewesen und hätte, wirtschaftspolitisch gesehen,
für einfache Unternehmensgründungen viele Vorteile geboten, viele Kosten, auch Beratungskosten, gespart.
({6})
Das wäre eine starke Entbürokratisierung gewesen.
Aber auch das Musterprotokoll ist ein großer Schritt
voran. Herr Montag, ich glaube, Sie haben es gesagt:
Man muss das vom Unternehmen und nicht vom Notar
her sehen. Die Frage ist: Wie viele Gänge muss der Unternehmer machen? Wie viel Beratungsleistung muss er
einkaufen, um überhaupt zur Unternehmensgründung zu
kommen?
Allein diese Punkte des Gesetzentwurfs sind ganz
entscheidend.
Das dritte Thema ist der Missbrauch. Wir haben
nach der deutschen Einheit in Ostdeutschland einige Erfahrungen mit dem Missbrauch von GmbHs sammeln
müssen. Der Schaden, der dadurch verursacht worden
und letztlich bei der Gesellschaft verblieben ist, ist erheblich gewesen.
({7})
Das hat das Modell der sozialen Marktwirtschaft in den
Augen vieler in Misskredit gebracht.
({8})
Um ihr Vermögen geprellte Unternehmer fragen sich natürlich, wieso es möglich ist, mit einer GmbH solchen
Missbrauch zu betreiben.
Insofern ist es sehr wichtig, dass solchen Missbräuchen ein Ende gesetzt wird. Damit wird auch die Rechtssicherheit erhöht, und es kann der gute Ruf Deutschlands
in Bezug auf Rechtssicherheit, wenig Korruption und
wenig Missbrauch erhalten werden.
Frau Zimmermann, sich mit Ihren Argumenten auseinanderzusetzen, lohnt nicht. Sie würden am liebsten
wieder VEBs gründen - das wissen wir -,
({9})
aber Ihr Modell ist pleitegegangen. Ohne beschränkte
Haftung ist es absolut pleitegegangen.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Bedenkenträger
gab es damals, als das GmbH-Recht eingeführt wurde.
Bedenkenträger gibt es heute. Bedenkenträger wird es
auch morgen noch geben. Bedenkenträger wird es immer geben. Aber uns liegt ein Gesetzeswerk vor, auf das
wir stolz sein können. Herzlichen Dank allen Beteiligten, die mit dafür gekämpft haben.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Garrelt Duin,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will mir ein Beispiel an dem Kollegen Montag nehmen. Als Jurist stimme ich dem zu, was die Vorredner aus den
verschiedenen Fraktionen, zumindest aus den Koalitionsfraktionen und eben auch Herr Montag von den
Grünen, deutlich gemacht haben, nämlich dass wir hier
auf einem juristisch wertvollen und richtigen Weg sind.
Als Wirtschaftspolitiker, als der ich hier spreche, möchte
ich das ebenso unterstreichen. Ich bin nämlich der festen
Überzeugung, dass mit dieser Reform des GmbHRechts etwas getan wird, was in Deutschland nach den
vielen Jahren, wo wir das Gesetz unangetastet gelassen
haben, wirklich notwendig ist. Ich möchte nicht von
„überfällig“ sprechen, aber jetzt ist wirklich der richtige
Zeitpunkt, um das auf den Weg zu bringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, die
deutsche Wirtschaft lebt von den kleinen und mittleren
Unternehmen. 3,4 Millionen kleine und mittlere Unternehmen sowie Selbstständige prägen die Wirtschaft in
unserem Land. 99,7 Prozent aller Unternehmen in
Deutschland sind solche kleinen und mittleren Unternehmen. Neben der Sicherung des Bestandes dieser Unternehmen müssen wir uns besonders um die Gründung
von neuen Unternehmen bemühen. Wir müssen Menschen ermuntern, dass sie den Mut aufbringen, ein Unternehmen zu gründen.
({0})
Eine entsprechende Dynamik brauchen wir in Deutschland in den nächsten Jahren. Ich bin sicher, mit diesem
Gesetz und anderen Maßnahmen, auf die ich gleich zu
sprechen komme, gehen wir den richtigen Weg, um für
eine solche Dynamik zu sorgen.
({1})
Herr Montag, Sie haben recht mit dem, was Sie aus
einem Zeitungsartikel von dieser Woche zitiert haben.
Aus dem in der letzten Woche veröffentlichten „KfWGründungsmonitor 2008“ geht hervor, dass die Zahl der
Neugründungen 2007 im Vergleich zum Jahr 2006
deutlich zurückgegangen ist. Im Vergleich zum Jahr
2006 beträgt der Rückgang 21 Prozent. Damit liegt die
Zahl der Neugründungen auf dem niedrigsten Stand seit
der Jahrtausendwende. Sie, Herr Montag, haben schon
auf die Gründe dafür hingewiesen: Aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs haben sich viele wieder in abhängige Beschäftigungsverhältnisse begeben. Unter anderem dadurch ist dieser Rückgang zu erklären.
Es ist jetzt aber die Aufgabe der Politik, Anreize zu
setzen, um zu Existenzgründungen zu ermutigen. Wir
haben ja in dieser Woche auch weitere entsprechende
Maßnahmen auf den Weg gebracht. Denken Sie an das
Forderungssicherungsgesetz und die Förderung von
Wagniskapital. Damit und mit der GmbH-Reform sind
wichtige Schritte getan, um die Attraktivität der GmbH
im internationalen Wettbewerb zu steigern, ihre Neugründung unbürokratischer zu gestalten und - das ist von
den Justizpolitikern hier eben ausreichend deutlich gemacht worden - wirkungsvoll Missbräuche bei Insolvenzen zu bekämpfen.
Es wäre möglich gewesen, grundsätzlich ein Mindeststammkapital von 10 000 Euro vorzusehen. Wir haben
darüber in den Ausschüssen diskutiert. Aber die jetzt gefundene Lösung - einmal die klassische GmbH mit einem Stammkapital von 25 000 Euro und die GmbHVariante mit geringeren Kapitalanforderungen - entspricht absolut den Anforderungen, die zu Beginn unserer Beratungen als ursprüngliche Maßgabe galten. Ich
bin davon überzeugt, dass wir mit dieser Reform verhindern, dass die Zahl von mittleren und kleinen Unternehmen zurückgeht. Vielmehr setzen wir notwendige Anreize, damit das nicht eintritt.
Insgesamt müssen wir aber darauf achten, dass wir
das Gründungsklima in Deutschland weiter verbessern.
Da reichen solche Gesetze wie das heute zu verabschiedende allein nicht aus. Es muss vielmehr einen noch engeren Schulterschluss bzw. einen noch engeren Dialog
zwischen Wirtschaft und Politik geben. Wer heute Unternehmer ist, muss Politik verstehen; daran führt kein
Weg vorbei. Wir als Politiker müssen aber auch versuchen, zu verstehen, was einen Unternehmer antreibt.
Wir müssen nicht als Lobbyist seiner Interessen auftreten; aber wir müssen ein Verständnis dafür entwickeln,
welche Nöte und Sorgen er hat, damit er seine unternehmerische Tätigkeit voll ausfüllen kann. Dazu gehört,
dass wir Dinge wie Wettbewerbsfähigkeit, Innovation
und Mut zum Risiko im Blick haben.
Wir müssen den Menschen sagen, dass wir ihren Mut
zum Risiko, ein Unternehmen zu gründen, auch belohnen wollen. Wir dürfen ihnen nicht - das klang bei Ihnen, Frau Zimmermann, eben so durch - Angst machen,
dass das alles wieder schiefgehen könnte und große Gefahren drohten.
({2})
Vielmehr müssen wir ihnen den Rücken stärken, wenn
sie ein Unternehmen gründen wollen.
({3})
Wir wollen die Selbstständigkeit neben dem GmbHGesetz auch durch Bürokratieabbau fördern. Den
Ausführungen der Vorredner zum Bürokratieabbau
möchte ich mich ausdrücklich anschließen. Wir haben
im Rahmen der GmbH-Reform nicht die Interessen der
Notare zu vertreten, sondern wir sind dafür da, die Interessen von Existenzgründern zu vertreten. Ich glaube,
dass wir das hier auch deutlich gemacht haben.
({4})
Wir tun auch mit dem Meister-BAföG etwas zur Förderung der Selbstständigkeit. Wir wollen die Schulungsund Beratungsmöglichkeiten für Gründerinnen und
Gründer ausbauen. Wir werden sicherlich auch im Bereich der Bildung - wie können wir das Thema Wirtschaft in die Schulen hineinbringen? - noch das eine
oder andere auf den Weg bringen müssen.
Damit ich meinem Versprechen gerecht werde, die
Redezeit nicht ganz auszuschöpfen, will ich mit Folgendem schließen: Wir als Große Koalition wollen den
Unternehmergeist in Deutschland wecken - hoffentlich
mit der Unterstützung von vielen. Die hier eingeleiteten
Maßnahmen im GmbH-Gesetz weisen in die richtige
Richtung. Lassen Sie uns den Menschen Mut machen,
ein Unternehmen zu gründen und dadurch Arbeitsplätze
in Deutschland zu schaffen! Wenn die Politik sagt: „Es
droht zu viel; lass es lieber sein; schau, dass du irgendwie anders durchs Leben kommst“, dann werden die
Menschen diesen Mut nicht finden. Lassen Sie uns mit
einem klaren Beispiel und auch deutlichen Worten vorangehen! Heute ist jedenfalls dafür ein guter Tag.
Vielen Dank.
({5})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Daniela Raab, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist die Krux eines jeden letzten Redners, dass
im Prinzip alles Richtige und - rechts und links von mir bedauerlicherweise auch alles Falsche schon gesagt
wurde. Volker Beck hat vorhin gerufen: Offensichtlich
hat die Große Koalition keine wirklich wichtigen Tagesordnungspunkte mehr. Warum sonst sollten wir die
GmbH-Reform in der Kernzeit debattieren? - Ich
glaube, lieber Kollege Beck, Sie haben auch an den Ausführungen Ihres Kollegen Montag gemerkt
({0})
- sehen Sie, wir haben daraus gelernt -:
({1})
Die GmbH-Reform ist ein wichtiges Werk.
Liebe Kollegen, insbesondere der Regierungskoalition und der Grünen, die Rechtspolitiker haben bewiesen, dass sie etwas sehr Gutes zu Ende bringen können,
vor allem, dass sie nicht nur Rechtspolitik können, sondern auch Wirtschaftspolitik. Auch diese Debatte zeigt:
Uns liegt ein Gesetzentwurf vor, der sowohl vom klassischen Mittelstand als auch von potenziellen kleinen
Existenzgründern sehnsüchtig erwartet wurde.
Alles, was wir für die klassische GmbH tun - wo wir
sie aufmöbeln, wo wir sie modernisieren, wo wir sie
auch den Zeiten, in denen wir leben, anpassen -, ist
schon aufgeführt worden. Lieber Kollege Gehb, ich bin
dir wirklich ausgesprochen dankbar, dass du hier der
Vorreiter warst und wir dich dabei unterstützen durften.
Natürlich mussten wir uns überlegen, wie wir damit umgehen, dass die Limited auch in Deutschland immer
mehr Anhänger findet und dass die Limited ganz offensichtlich eine Gesellschaftsform ist, die in unser Rechtssystem nicht passt und vor der wir die Menschen vielleicht ein Stück weit bewahren müssen. Wenn wir uns
die Daten aus Deutschland, aus Großbritannien und den
Niederlanden - dort wird die Limited vorwiegend verwendet -, die uns vorliegen, anschauen, dann müssen
wir feststellen: Sie weist eine hohe Frühsterblichkeit auf,
und sie ist damit am Markt de facto schon gescheitert.
Nachdem wir das gesehen hatten, war die Entscheidung klar: Wir wollen keine verwässerte GmbH, wir
wollen keine nur abgespeckte Mini-GmbH. Liebe Frau
Kollegin Dyckmans, eine Mini-GmbH ist das nicht. Dieser Ausdruck ist nicht nur despektierlich, sondern auch
falsch.
({2})
Der Kollege Jürgen Gehb hat sich auf den Weg gemacht und überlegt, was wir tun können. Es gab einige
Widerstände, auch aus den eigenen Reihen. Lieber
Jürgen, wir können uns gut erinnern: Wir konnten nicht
sofort alle auf unsere Seite ziehen, als wir für dein
Modell einer „Unternehmergesellschaft ({3})“ plädiert haben; aber wir haben nunmehr auch
das geschafft. Wir mussten einige Kompromisse schließen, die aber absolut akzeptabel sind.
Wir haben jetzt eine Unternehmergesellschaft ohne
Stammkapital. Wir haben dennoch eine Haftungsbeschränkung. Wir haben unglaublich leichte Gründungsmechanismen, die wir im Prinzip auch auf die GmbH anwenden können. Wir ermöglichen gleichzeitig das
Aufwachsen dieser Unternehmergesellschaft zur GmbH,
wenn die Voraussetzungen letztendlich erfüllt sind. Damit, liebe Kollegen von der FDP, ist die UG nicht nur
eine bessere Limited - das wäre eine Beleidigung für
diese wirklich schöne Rechtsform -, sondern die einzig
richtige und funktionierende Gesellschaftsform für
kleine Existenzgründer.
Wir beweisen nämlich, dass beides geht: Rechtssicherheit, und zwar in einem sehr ausgeprägten Maße,
und dennoch überschaubare Gründungsmodalitäten. Ich
glaube, gerade an dieser Stelle ist es durchaus angebracht, dass wir uns selber einmal auf die Schulter
klopfen; wir tun dies ja nicht oft. Denn genau diese
Kombination, wenig Vorschriften und dennoch Rechtssicherheit zu schaffen, gelingt uns in diesem Hohen
Haus leider viel zu selten. Wir können hier beispielhaft
voranschreiten; denn wir beweisen: Wir schaffen auch
mit wenigen, aber guten und überschaubaren Vorschriften eine ganz sichere Rechtslage für alle Beteiligten.
({4})
Es ist schon viel auf die FDP repliziert worden. Ich
möchte nicht alles wiederholen, aber es erstaunt mich,
und ich bin auch ein bisschen enttäuscht; das sage ich Ihnen ganz ehrlich. Ich war gestern im Ausschuss enttäuscht, und ich bin es auch heute wieder
Wir hören immer so viel von: Ihr müsst mutig voranschreiten. Ihr müsst etwas für den Wirtschaftsstandort
tun. Nutzt die Chancen, die wir euch geben. - Dann
schaffen wir in fast ganz großer Übereinstimmung hier
im Hause ein Instrument, aber dann wird haarklein rumgezuppelt und rumgezupft und geguckt, wo vielleicht
noch irgendwo etwas stecken könnte, was zu kritisieren
wäre. Vielleicht haben Sie einfach ein Problem damit,
dass wir schneller waren und vor Ihnen darauf gekommen sind.
({5})
Ich meine, wir werden in den nächsten Jahren sicherlich erfolgreich evaluieren können, dass gerade diese
haftungsbeschränkte Unternehmergesellschaft auf dem
Markt ankommt und genutzt wird. Die Justizministerin
hat völlig zu Recht gesagt: Diese Rechtsform ist vor Ort
sehnsüchtig erwartet worden.
Wir alle haben zahlreiche E-Mails von potenziellen
Existenzgründern bekommen, die schlicht und ergreifend auf den gesetzgeberischen Startschuss warten, damit sie sich selbst in die Startlöcher bewegen und etwas
vorwärts bringen können.
Ich sage Ihnen eines: Wir haben die GmbH-Reform
geschafft. Wir werden heute noch das Forderungssicherungsgesetz schaffen, und wir machen die FGG-Reform.
Es ist insofern eine gute Woche für die Rechtspolitik.
({6})
Ich richte einen Dank an diejenigen, die organisieren,
wann wir debattieren dürfen. Denn wir haben endlich
schöne Debattenzeiten und können beweisen, dass
Rechtspolitik mitten im Leben steht
({7})
und wichtige Gesetzesvorhaben voranbringt, die die
Menschen persönlich betreffen. In diesem Sinne: Machen wir weiter so! Es kann fast noch besser werden.
Danke schön.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung
von Missbräuchen. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9737, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf der Drucksache 16/6140 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich der Stimme? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit großer Mehrheit angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer möchte dagegen stimmen? - Möchte sich jemand
der Stimme enthalten? - Damit ist der Gesetzentwurf mit
den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linken
angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9796? - Wer ist
dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Der Entschließungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9795? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Damit ist auch dieser Entschließungsantrag mit großer
Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 5 b und setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlung
des Rechtsausschusses auf der Drucksache 16/9737 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/671 mit dem Titel
„GmbH-Gründungen beschleunigen und entbürokratisieren“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese
Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 6 sowie den
Zusatzpunkt 4 auf:
6 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Jürgen Trittin, Marieluise Beck ({0}), Volker
Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zur China-Politik der Bundesregierung
- Drucksachen 16/7212, 16/9513 ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut
Königshaus, Dr. Karl Addicks, Christian
Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Die Regierungsverhandlungen mit China zur
Neuorientierung der Entwicklungszusammenarbeit und zur Förderung der chinesischen
Zivilgesellschaft nutzen
- Drucksache 16/9745 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Finanzausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist auch das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will an
dieser Stelle vorab noch einmal die Anteilnahme und das
Mitgefühl meiner Fraktion - ich denke, aller Mitglieder
des Hauses - anlässlich der vielen Opfer des Erdbebens
in Sichuan ausdrücken. Ich wünsche den Chinesinnen
und Chinesen alles Gute bei der weiteren Bewältigung
dieser Katastrophe und beim Wiederaufbau.
({0})
In der Bewältigung dieser Katastrophe hat sich auch
ein Stück des neuen China gezeigt, nicht nur im Vergleich zum schlechten Beispiel in Birma. Offenheit und
Öffentlichkeit und die Annahme internationaler Hilfe
begleiteten eine große solidarische Kraftanstrengung.
Ich sage Ihnen: Wir wünschen, dass diese Offenheit in
China zur Regel wird, übrigens auch bei der Aufarbeitung der Versäumnisse, die die Folgen des Erdbebens in
so mancher Schule so verschlimmerten.
Als wir im letzten Herbst unsere Große Anfrage zu
China formulierten, hatten wir die unübersehbare Bedeutung im Kopf, die China heute für das globale Geschehen hat. Kaum ein anderes Land zieht so widersprüchliche Fantasien und Bilder auf sich wie China.
Von der „gelben Gefahr“ über den „erwachenden Drachen“ bis zum jetzt ausgerufenen „Weltkrieg um Wohlstand“ reichen die Bilder und Ängste, die China in vielen
Gesellschaften des Westens hervorruft.
Es ist interessant: Dieser Diskurs hat eine ganz andere
Sicht auf China abgelöst, die vor wenigen Jahren noch
dominierte. Das war die Sicht der China-Bewunderer, jener Wirtschaftseliten, die in China vor allen Dingen einen Riesenmarkt sahen. Dazu gehörte auch die Sicht eines damaligen Wirtschaftsministers, der es ganz
vorbildlich fand, wie China in zwei Jahren eine Transrapidstrecke plante und baute. Dabei hatte er aber einfach
vergessen, dass dafür Menschen entschädigungslos enteignet und aus ihren Häusern vertrieben worden sind und
dass die Pfeiler im Schlamm der Jangtse-Mündung so
schlecht gegründet wurden, dass sie heute repariert werden müssen.
Wir suchen also nach Antworten zwischen falscher
Verdammnis und blinder Apologetik: Wie sieht die Bundesregierung den Akteur China auf der ökonomischen
und politischen Bühne der Welt? Wie ist seine Rolle in
einer multipolar gewordenen Welt, in der Länder wie
Brasilien, China und Indien eine immer wichtigere Rolle
spielen? Sieht die Bundesregierung China als Konkurrenz und Bedrohung oder als strategischen Partner?
Eines wissen wir: Es gibt heute kein Problem auf diesem Globus, das man ohne oder sogar gegen China lösen
könnte. Denken Sie an den Klimawandel, an die wachsende Konkurrenz um die sehr endlichen Ressourcen, an
die Debatte um die Nahrungsmittelpreise. Heute wissen
wir: Selbst der Dollarkurs hängt sehr viel mehr vom Anlageverhalten der Nationalbank Chinas ab als von den
Entscheidungen der US-amerikanischen Fed. Schon
lange investieren Unternehmen in China nicht mehr in
erster Linie wegen niedrigerer Löhne, sondern weil sie
diesen Markt einfach nicht mehr ignorieren können.
Wir hatten gedacht, dass wir auf diese Fragen eine
Antwort von der Bundesregierung bekommen. Sie hat
zwar umfassend geantwortet; aber die Vielzahl der Antworten bezeugt eines: Es gibt keine einheitliche Politik
Deutschlands gegenüber China. Es gibt eine Reihe kleinteiliger Einzelantworten; aber eine Konzeption gibt es
nicht.
({1})
Interessant ist, dass die Bundesregierung auf diese
Konzeptionslosigkeit, lieber Kollege, auch noch stolz
ist. Auf unsere Frage, ob es ein Chinakonzept gibt, wird
geantwortet, das lohne nicht, weil man angesichts der
Veränderungen in China flexibel sein müsse; es gebe
aber Konzepte von einzelnen Ressorts. Das heißt also,
die Ressorts sind nicht so flexibel wie die Bundesregierung, deren Auswärtiges Amt für die Koordinierung zuständig ist.
Wir haben nach Projekten in China gefragt. Was sind
eigentlich die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit? Auch
da ist die Antwort bezeichnend: Es gibt keine Übersicht;
es gibt auch keine Evaluierung der Zusammenarbeit mit
China. Das gilt auch für die sehr verstreute Entwicklungszusammenarbeit mit China, die sich auf Klimapolitik sowie Wirtschafts- und Strukturreformen konzentrieren soll, was wir begrüßen.
Dazu haben wir aber natürlich eine Frage: Wenn es,
wie es in der Antwort heißt, ein besonderes deutsches Interesse für die Bereiche Klimapolitik, Wirtschaft und
Rechtsstaatlichkeit gibt, wie konnte es dann eigentlich
passieren, dass das BMZ nach den Unruhen am
14. März mal eben die Verhandlungen über die Ausgestaltung der EZ ausgesetzt hat? Man kann so oder so darüber denken. Mich würde einmal interessieren, lieber
Herr Erler: Ist das eigentlich mit dem Auswärtigen Amt
abgestimmt worden? Ist es im deutschen Interesse, genau diejenigen Felder der deutschen Kooperation fallen
zu lassen, an denen Deutschland ein virulentes Interesse
hat?
({2})
Oder war das einfach nur die Pressepolitik des BMZ der
HWZ? Es hätte ja elegant sein können, wenn der Außenminister in der Frage des Empfangs des Dalai-Lama gesagt hätte: Das ist jetzt vielleicht nicht ganz angemessen;
da schicke ich die Entwicklungsministerin vor. - Es
wäre vielleicht auch eine gelungene Intrige gewesen,
wenn es die Kanzlerin geschafft hätte, Frau WieczorekZeul gegen den Kanzlerkandidaten Steinmeier zu instrumentalisieren.
({3})
Ich glaube, wir in diesem Hause sind uns alle darin einig, dass keine dieser Vermutungen zutrifft. Wissen Sie,
warum nicht? Weil das voraussetzen würde, dass sie miteinander reden. Genau das findet aber nicht statt.
({4})
Ich glaube, dass es bei dem gesamten Vorgang im
Hinblick auf den Dalai-Lama-Besuch gar nicht um die
Menschenrechte in China und in Tibet gegangen ist,
sondern ausschließlich um Innenpolitik und Wahlkampfaufstellung in Deutschland. Ich finde, die Menschenrechte in China sind nicht geeignet, in dieser Weise für
innenpolitische Auseinandersetzungen in Deutschland
benutzt, um nicht zu sagen: missbraucht zu werden.
({5})
Wenn Sie es beispielsweise mit den Menschenrechten
ernst meinen würden, dann würden Sie jetzt die Bereitschaft Deutschlands erklären, jene Uiguren, die seit Jahren in Guantánamo einsitzen, die die US-Armee selber
als unschuldig und ungefährlich betrachtet und denen ein
Gericht bescheinigt, dass sie keine feindlichen Kombattanten sind, endlich hier aufzunehmen, weil man sie
nicht nach China abschieben kann; denn dort wären sie
der Verfolgung ausgesetzt. Ich denke, das wäre eine vernünftige Menschenrechtspolitik.
({6})
Es gibt noch einen anderen Ansatz, sich China zu nähern. Das ist der Ansatz, den ich in der Asien-Strategie
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gefunden habe.
({7})
Darin sagt man, man solle sich mehr auf Indien statt auf
China konzentrieren.
({8})
Denn Indien sei gut und China sei böse, weil Indien eine
Demokratie sei, China aber ohne Zweifel nicht.
({9})
Das ist, lieber Herr Ramsauer, der gleiche Ungeist, der
gerade in den USA abgewählt wird,
({10})
nämlich die Aufteilung der Welt in Gut und Böse, in
Schwarz und Weiß.
Genauso wenig wie in Indien heute alles gut ist, weil
es demokratisch ist, ist in China heute alles schlecht und
autoritär. Nichts würde den Menschen in China heute
weniger nutzen und zur Lösung der globalen Probleme
weniger beitragen als eine neue Frontstellung gegenüber
China. China ist eine autoritäre, aber fragmentierte Gesellschaft. Wir brauchen eine auf Kooperation ausgerichtete Politik gegenüber China, die aber jenseits von
Besserwisserei und jenseits von Leisetreterei funktioniert, die die Fortschritte, die es im Bereich der Menschenrechte gibt, thematisiert, die aber auch thematisiert,
dass es im Vorfeld der Olympiade Rückschritte in der
Menschenrechtspolitik gegeben hat, die klarmacht, dass
wir zwar auf Chinas Kooperation angewiesen sind, aber
auch bestimmte Erwartungen haben. Wer ein neuer Akteur in der Weltpolitik ist, muss sich auch der Verantwortung für die Lösung der Probleme dieser Welt stellen,
({11})
sei es in Darfur oder sei es im Umgang mit dem Atomprogramm des Iran. Das ist die richtige Herangehensweise. Wir brauchen eine China-Politik, die auf den Aufbau einer strategischen Kooperation setzt, und zwar
jenseits von Besserwisserei und jenseits von opportunistischer Leisetreterei. Wir hätten uns gewünscht, das in
der Antwort der Bundesregierung zu lesen. Was wir vorgefunden haben, war viel Richtiges und manch Fragwürdiges, aber alles nicht sortiert.
Vielen Dank.
({12})
Herr Kollege Trittin, in Ergänzung Ihrer Ausführungen zur Menschenrechtsfrage möchte ich darauf hinweisen, dass es gerade im Kontext des Rechtsstaatsdialogs
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der
Volksrepublik China ganz sicher erwünscht wäre, wenn
die seit langem geplante Reise des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages, die erst vor Kurzem bedauerlicherweise zum wiederholten Male an Vorbehalten und Einwänden auf chinesischer Seite
gescheitert ist, nun endlich zustande kommen könnte.
({0})
Nun erteilte ich das Wort dem Kollegen Eckart von
Klaeden für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Herr Kollege Trittin, bei aller Wertschätzung muss ich
Ihnen leider sagen: Ihre Rede zu China hat nicht zu den
stärksten Reden gehört, die Sie in diesem Haus gehalten
haben.
({0})
Was Sie über die fehlende Konzeption der Bundesregierung und unser Asien-Papier gesagt haben, war eher
Ausdruck freien Assoziierens als Ausdruck der Tatsache, dass Sie sich mit dem Konzept der Bundesregierung
oder unserer Asien-Strategie beschäftigt haben.
({1})
Das, was unsere Asien-Strategie zum Ausdruck
bringt, aber auch der Politik der Bundesregierung zugrunde liegt, ist unser Interesse an einer nachhaltigen
Stabilität in der Entwicklung Chinas. „Nachhaltige Stabilität“ setzt einen qualitativen Stabilitätsbegriff voraus.
Neben der wirtschaftlichen Entwicklung geht es um die
politische Öffnung, um demokratische, vor allem rechtsstaatliche Reformen im Innern, um ein gutes Verhältnis
zu den Nachbarn und eine verantwortungsvolle Teilnahme an internationalen Entscheidungsprozessen im
globalen Rahmen, insbesondere als Mitglied des Weltsicherheitsrates.
China ist dank seines ökonomischen und politischen
Aufstiegs zu einem bedeutenden Akteur geworden, und
zwar nicht nur auf den internationalen Märkten, sondern
auch in der internationalen Politik. Seit 2005 ist China
nach den USA, Japan und Deutschland die viertgrößte
Volkswirtschaft. 2007 hat es mit über 11 Prozent erneut
die höchste Wachstumsrate unter den großen Volkswirtschaften erzielt. Sein Anteil am Welthandel ist von unter
1 Prozent vor 20 Jahren auf heute 5 Prozent angestiegen,
und die Exportrate steigt weiter an. Ausländische Direktinvestitionen strömen weiterhin in das Land, und chinesische Unternehmen treten im Ausland zunehmend
selbst als Investoren auf.
Dieser ökonomische Aufstieg hat zwangsläufig zu einem politischen Aufstieg Chinas geführt. China ist heute
eine Macht mit nicht nur regionalen, sondern auch globalen Ambitionen. China ist ohne Zweifel eine Weltmacht im Werden. Deswegen werden unsere Beziehungen, aber auch die Beziehungen Europas zu China
immer wichtiger. Daher ist es gut, dass wir heute an so
prominenter Stelle eine grundsätzliche Debatte über unsere China-Politik führen.
China ist für uns zu einem der weltweit wichtigsten
Wirtschaftspartner geworden. Die deutsch-chinesischen
Wirtschaftsbeziehungen sind in der Tat eine beeindruckende Erfolgsgeschichte. Der Außenhandel Deutschlands mit China hat sich in den Jahren 2000 bis 2007 fast
verdreifacht. Da die Importe aus China seit einiger Zeit
die deutschen Exporte dorthin übersteigen, erzielt China
gegenüber Deutschland - auch gegenüber Europa - einen wachsenden Handelsüberschuss. China hat sich zudem zu einem wichtigen Produktionsstandort für deutsche Firmen entwickelt. Es gibt kaum ein großes
deutsches Unternehmen, das nicht in China produziert.
Das ist gut so; denn wir haben zur Sicherung unseres eigenen Wohlstandes ein Interesse daran, dass sich unsere
Unternehmen an die Wachstumsdynamik in China ankoppeln.
Chinas Einfluss wächst aber nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in politischer, diplomatischer, kultureller und militärstrategischer Hinsicht. Durch seine wachsende wirtschaftliche Kraft, zunehmende Softpower, seine
Stellung als ständiges Mitglied im VN-Sicherheitsrat
und sein aktiveres Engagement in regionalen und multilateralen Strukturen ist ein chinesischer Beitrag zur Lösung vieler regionaler und globaler Fragen heute nicht
mehr wegzudenken.
Die deutsch-chinesischen Beziehungen sind eng, substanzreich und robust. China ist für uns ein wichtiger
Partner in Asien, und wir sind für Peking ein ebenso
wichtiger Partner in Europa. Es gibt zwischen beiden
Seiten eine breite Palette von Dialogen in den Bereichen
Wirtschaft, Wissenschaft, Umwelt und Politik. Dazu gehört auch der Menschenrechts- und Rechtsstaatsdialog,
der auszubauen und zu fördern ist, wie es der Präsident
gerade angesprochen hat. In der Außenpolitik ist inzwischen auch der notwendige Dialog über für beide Seiten
relevante außen- und sicherheitspolitische Themen wie
Iran, Sudan und Afrika aufgenommen worden. China ist
also ein wichtiger Partner für uns.
China wird insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht
aber auch zu einem immer stärkeren und direkten Wettbewerber. Deutsche und europäische Unternehmen konkurrieren bereits heute in verschiedenen Weltregionen
mit chinesischen Firmen, zum Beispiel um Infrastrukturprojekte im Nahen Osten oder in Afrika, aber auch zunehmend bei der Lieferung von Investitionsgütern und
Maschinen. Hierbei kommen der chinesischen Seite insbesondere ihre erheblichen Kostenvorteile zugute.
China ist auch der größte Produktimitator der Welt.
Westliche Unternehmen verlieren in China und in zunehmendem Maße auch auf Drittmärkten und selbst auf dem
Heimatmarkt jedes Jahr Milliardenbeträge durch Produktpiraterie. Durch die erheblichen Investitionen europäischer Unternehmen in China, die überwiegend in
Joint Ventures erfolgen, wächst das Risiko, dass zu viel
Know-how zugunsten chinesischer Firmen auf die beschriebene Weise abfließt.
Auch im Energie- und Rohstoffbereich ist die Konkurrenz Chinas weltweit zu spüren und hat zu den Preiserhöhungen beigetragen, die wir seit einiger Zeit bei Öl
und Gas erleben.
Mit China - das ist Bestandteil unserer Asien-Strategie und ein Umstand, Herr Trittin, der nicht geleugnet
werden sollte - steigt ein nicht demokratischer und nicht
liberaler Staat in der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Hierarchie auf. China hat in den vergangenen
30 Jahren ein Entwicklungs- und Modernisierungsmodell geschaffen, das bisher außerordentlich erfolgreich ist. Moderne autoritäre politische Führung wird
kombiniert mit staatlich beaufsichtigtem Kapitalismus.
Meines Erachtens steht der Beweis noch aus, ob das
chinesische Modell langfristig eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen kann. Daran sind insbesondere deswegen Zweifel angebracht, da nach unserer Auffassung - das
betrifft den nachhaltigen Stabilitätsbegriff, der unserer
Asien-Strategie zugrunde liegt und von Ihnen gerade infrage gestellt wurde - eine nachhaltige Entwicklung nur
dann möglich ist, wenn sich China zu einem System
weiterentwickelt, das auf Partizipation ausgerichtet ist
und die Menschenrechte schützt. Das hat nichts mit der
Auffassung zu tun, dass China böse und Indien gut sei;
das steht nicht in unserer Strategie und ist auch sonst nirgendwo in unseren Reden oder Stellungnahmen zu finden. Ich glaube, das gehört zu einer differenzierten
Wahrnehmung der Realität Chinas. Dazu gehört auch,
dass das chinesische Modell sich in einigen Entwicklungsländern ganz offensichtlich erheblicher Attraktion
erfreut und damit die Anziehungskraft westlich liberaler
Ordnungsprinzipien mindert.
Auch wenn die Veränderungen in China in den letzten
drei Jahrzehnten ohne Zweifel bemerkenswert sind,
müssen wir feststellen, dass sich das westliche Entwicklungsmodell nicht unmittelbar auf China übertragen
lässt. Zwar ruht heute die Herrschaft der KP Chinas
nicht mehr auf dem Kommunistischen Manifest, doch
sind weder Demokratie noch Rechtsstaatlichkeit noch
Bürgergesellschaft an seine Stelle getreten. Ihre Herrschaftslegitimation zieht die chinesische KP aus dem
wirtschaftlichen Erfolg und - als Surrogat für die Partizipation - aus zunehmendem Nationalismus.
Bei uns wird immer wieder angenommen, dass sich
aus den verstärkten wirtschaftlichen Beziehungen automatisch eine Weiterentwicklung des politischen Systems
in unserem Sinne ergeben muss. Vor dem Glauben an einen solchen Automatismus, denke ich, gilt es zu warnen.
({2})
Denn es ist eine falsche Annahme, die chinesische Führung betreibe freiwillig oder unfreiwillig eine Politik, an
deren Ende zwangsläufig die eigene Selbstentmachtung
in einer Mehrparteiendemokratie und einem Rechtsstaat
mit Gewaltenteilung und unabhängiger Rechtsprechung
stehen müsse. Gerade hier stößt das von vielen propagierte Konzept „Wandel durch Handel“ an seine Grenzen. Es muss von der Politik begleitet werden. Ich lehne
das Konzept „Wandel durch Handel“ nicht ab, glaube
aber, dass es weder absolut gilt, wie das manchmal dargestellt wird, noch automatisch zum Erfolg führt.
Wir müssen uns auch mit der Frage beschäftigen,
welche Risiken für Chinas Entwicklung in Zukunft entstehen könnten, zum Beispiel aufgrund der inneren Entwicklung, der wirtschaftlichen Entwicklung, des großen
Armutsgefälles und des Verhältnisses von Nationalstaat
zu Provinzen.
Um sich auf Schwierigkeiten einzustellen, sollte man
aus unserer Sicht nicht nur mit China selbst über die
weitere Entwicklung sprechen, sondern auch die Nachbarn Chinas und die gesamte Region stärker in den
Dialog einbeziehen. Das gilt für unsere traditionellen
Verbündeten wie Japan und Südkorea, aber auch für die
ASEAN-Staaten.
Je mehr wir ein Umfeld schaffen, in dem wir die Entwicklung Chinas positiv begleiten, und je mehr sich die
Deutschen und die Europäische Union bei der Gestaltung dieses Umfeldes engagieren - allerdings als Ergänzung und nicht als Alternative zum Ausbau unserer bilateralen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen -,
desto besser ist die Aussicht darauf, dass sich die positive Entwicklung Chinas zum Nutzen unserer beiden
Länder und zum Nutzen Asiens und Europas fortsetzt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist gut, dass Kollege Trittin diese Debatte mit Bemerkungen zu den Opfern der Erdbebenkatastrophe in China
eröffnet hat. Es ist immer wieder erforderlich, dass wir
unser Mitgefühl mit den Opfern zeigen, unsere Hilfsbereitschaft anbieten und vor allen Dingen die Dimension
dieser Katastrophe begreifen, die wahrscheinlich alles
übertrifft, was wir in den letzten Jahrzehnten erlebt haben. Das wird eine dauerhafte Aufgabe sein, auch dann,
wenn die Medien nicht mehr unmittelbar vor Ort sind.
Denn der nächste Winter kommt bestimmt. Auch dann
werden dort noch zig Millionen Menschen betroffen
sein, die unsere Hilfe und Solidarität brauchen.
({0})
Es wäre auch nicht schlecht, wenn wir einmal, zum
Beispiel beim Katastrophenschutz, von den Chinesen
lernen würden. Von China lernen, das ist ohnehin etwas,
was wir uns auf die Fahne schreiben sollten, anstatt ständig nur oberlehrerhaft gegenüber China aufzutreten.
({1})
Selten gab es im Bundestag und in Deutschland eine
so intensive Auseinandersetzung mit China wie in diesem Jahr. Das ist gut und richtig. Trotzdem fällt auf, dass
wir uns eigentlich immer nur mit Einzelfacetten befassen.
Mein Eindruck ist: Das Tempo der Veränderung, nicht
nur in der ökonomischen Sphäre, wird bei uns weder
analytisch noch konzeptionell nachvollzogen. Stattdessen dominieren verschiedene Facetten das Bild: Facetten
der Geschichte einer großen und Tausende Jahre alten
Kulturnation, Facetten der Geschichte des Kommunismus, Facetten der Vielfalt der Völker und Regionen Chinas, die zusammenzuhalten für jede chinesische Regierung eine gigantische Herausforderung ist, Facetten wie
Menschenrechte, Umwelt, Klima, Wahrnehmung internationaler Verantwortung, Religionsfreiheit, Medienfreiheit und vieles mehr.
In der Antwort der Bundesregierung auf die Große
Anfrage sind viele gute Informationen enthalten. Man
findet Aussagen über Stärken und Schwächen. Aber wie
bewerten wir das? Offenbar gibt es ja, wie wir heute
Morgen festgestellt haben, zwei China-Politiken der
Bundesregierung, wenn nicht mehr.
Wenn man genauer hinsieht, stellt man fest, dass hier
der klassische Konflikt zwischen Gesinnungsethik und
Verantwortungsethik besteht. Für die Glaubwürdigkeit
in Wertefragen und die Bedienung eigener taktischer
oder innenpolitischer Zwecke ist immer angesagt, sich
auf die Gesinnungsethik zu berufen. Wer aber auch und
gerade in Wertefragen, zum Beispiel bei der Verbesserung der Menschenrechtslage, etwas erreichen und seine
eigenen Interessen strategisch wahren will, der kommt
allein mit der Berufung auf die Gesinnungsethik nicht
aus. Wir sollten uns nicht dem Vorwurf aussetzen, mehr
am Beifall zu Hause interessiert zu sein, wenn wir Fehlentwicklungen anprangern, als an der Lösung der Probleme, unter denen die Menschen vor Ort leiden.
({2})
Nur das Gesamtbild kann die Grundlage eines strategischen Ansatzes sein.
Bei der Analyse kommt man zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem, ob man diesen Ansatz
statisch oder dynamisch auslegt. Der Status Chinas und
der Status unserer Beziehungen geben an vielen Stellen
Anlass zu Kritik. Man muss aber sehen, woher China
kommt und wohin es sich in den letzten 20 Jahren entwickelt hat. Man muss den gewaltigen Fortschritten Rechnung tragen und zumindest einmal feststellen, dass die
Entwicklung im Großen und Ganzen in die richtige
Richtung geht.
({3})
Es kommt auf die Basis an, auf der man Kritik äußert.
Niemand wird von uns erwarten - von uns Liberalen
schon gar nicht -, dass wir unsere Grundüberzeugungen
in Menschenrechtsfragen über Bord werfen oder sie verstecken. Aber für eurozentrische Besserwisserei, für
Überheblichkeit sollte kein Platz sein. Ehrlichkeit und
die Vermeidung doppelter Standards sind angesagt.
({4})
Als Freund Chinas, auf der Basis von Respekt und
Sympathie kann man heutzutage chinesischen Gesprächspartnern gegenüber die heikelsten Themen ansprechen.
({5})
Denn die Veränderungsdynamik Chinas geht weit über
die ökonomische Sphäre hinaus. Im Grunde beobachten
wir einen faszinierenden Prozess der Verwestlichung.
Wir sollten das nicht als Bedrohung empfinden, sondern
als Chance.
({6})
Warum sind manche Fragen in der Diskussion mit den
chinesischen Partnern so heikel? Weil das Riesenreich
seine Traumata hat. Stabilität und harmonische Entwicklung sind ein Stichwort, Zusammenhalt der Nation
- so viele Ethnien leben in China - ist ein anderes. Und
dann ist da dieses Relikt des Altkommunismus, nämlich
die Haltung zu Religion und Religionsfreiheit: Religion
als Opium für das Volk. Es ist höchste Zeit, dass auch
unsere chinesischen Partner Marx in die Mottenkiste
packen.
Bisweilen fragt man sich, warum unsere chinesischen
Partner es uns so schwer machen, warum sie nicht mehr
Gelassenheit, warum sie nicht mehr Selbstbewusstsein
an den Tag legen, wie es ihrer Kultur und Tradition eigentlich entspricht. Warum zum Beispiel greifen sie, wie
kürzlich geschehen, auf die Sprache der Kulturrevolution zurück und lösen damit bei uns so viele Irritationen
aus? Wir sollten unsere chinesischen Partner ermutigen,
gelassener zu sein, souveräner zu sein und nicht jede kritische Anmerkung als Anschlag auf die nationale Einheit
oder auf die stabile und harmonische Entwicklung zu
empfinden. Weder eine Abkehr von der Ein-China-Politik noch eine Destabilisierung Chinas kann Ziel oder
Motiv deutscher Politik sein.
({7})
Es gibt große Probleme, es gibt aber auch Fortschritte. Es gibt eine Riesenarmut, und die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter. Aber man muss
auch sehen: Zwischen 1959 und 1961 sind 30 Millionen
Menschen durch Hunger umgekommen. So etwas wäre
im heutigen China nicht mehr möglich. Das muss man
anerkennen.
Im Bereich der Rechtsstaatlichkeit gibt es über die
Frage der Menschenrechte weit hinaus viele Dinge, die
man sich noch wünschen würde. Aber die Chinesen arbeiten daran, und das, was erreicht worden ist, ist enorm.
Es ist auch ein Ergebnis kleiner Beiträge deutscher Politik; das sollten wir nicht verstecken.
({8})
Noch vieles ist umzusetzen. Wir sollten uns als Partner
anbieten.
Ab nächster Woche ist Tibet wieder für Ausländer
geöffnet. Das ist eine gute Nachricht. Ich danke dem
Präsidenten dafür, dass er eine Anmerkung zur Reise des
Menschenrechtsausschusses gemacht hat.
Auch in der Tibet-Frage sind Ehrlichkeit und Realismus angesagt, sowohl was die Historie angeht als auch
was die Gegenwart und die Zukunft angeht. Unser Rat
an die chinesischen Freunde lautet: Ihr seid gut beraten,
den direkten Dialog mit dem Dalai-Lama zu suchen und
den Dialog ernsthaft zu führen.
({9})
Wer weiß, was nach ihm kommt.
Wir erwarten, dass unsere chinesischen Partner die
Gesetze zum Schutz der Tibeter tatsächlich umsetzen.
Wir müssen allerdings unseren tibetischen Gesprächspartnern gegenüber klarmachen, dass auch Gewalt von
ihrer Seite nicht nur nicht zielführend, sondern inakzeptabel ist.
({10})
Das heißt, dass wir in den Gesprächen mit dem religiösen Führer der Tibeter - die wir selbstverständlich führen dürfen - sagen müssen, dass wir um eine präzise Definition von Autonomie nicht herumkommen
({11})
und dass wir keine Forderung unterstützen - die wird
nicht von ihm kommen, aber möglicherweise von anderen -, die auf eine Destabilisierung Chinas hinauslaufen
würde.
Unter dem Strich: Sehen wir China als Partner oder
als Gegner? Meine Damen und Herren, der Westen hat
keine China-Strategie. Partnerschaft oder Eindämmung? Eindämmung ist das Thema neokonservativer
Think Tanks in den Vereinigten Staaten und woanders.
Eines müssen wir in der Tat eindämmen, nämlich den
Nationalismus, der auch in China droht,
({12})
wenn wir die Empfindungen der Menschen in China in
unsere Überlegungen nicht hinreichend einbeziehen.
Wer China ständig nur als Bedrohung und strategischen Widersacher sieht, wird China als strategischen
Gegner bekommen und - noch wichtiger - nichts von
den Dingen erreichen, die uns hinsichtlich der inneren
Probleme Chinas besonders am Herzen liegen. Bei keinem dieser Probleme werden wir dann etwas zum Besseren wenden können.
Herzlichen Dank.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Walter Kolbow für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wie der Kollege Trittin und der Kollege Hoyer, so will
auch ich für die SPD-Bundestagsfraktion noch einmal
das Mitgefühl für die Erdbebenopfer zum Ausdruck
bringen und in diesem Zusammenhang deutlich machen,
dass die Hilfen, die von der Bundeswehr und den vielen
Spenderinnen und Spendern öffentlich und privat geleistet worden sind, geholfen haben und sicherlich auch weiter helfen werden.
({0})
Ich denke, es ist gut, dass der Bundestagspräsident
angesprochen hat, dass der Menschenrechtsausschuss
nicht nur nach China möchte, sondern in unserem Namen auch soll, und dass das Argument - wir nehmen das
natürlich ernst -, dass man dort im Moment wegen der
Erdbebenkatastrophe nicht zur Verfügung stehen kann,
noch einmal überdacht werden sollte, damit diese Reise
möglich wird.
({1})
Herr Kollege Hoyer, ich stehe nicht an, deutlich zu sagen, dass vieles von dem, was Sie hier vorgetragen haben, auch den Intentionen der sozialdemokratischen
China-Politik entspricht. Herr Kollege Trittin, ich weiß,
dass das kräftige Sowohl-als-Auch, das bei der Beantwortung kompliziertester Fragen häufig auch eine
Grundposition von Willy Brandt gewesen ist, auch auf
das Problem hier zutrifft.
Ich sage an dieser Stelle: Natürlich sind wir alle im
Respekt vor Papieren, Auffassungen, Reiseergebnissen
und Diskussionen in unserem Lande daran interessiert
und von unserem Anspruch her auch dazu verpflichtet,
eine China-Strategie zu entwikkeln. Zu einer Strategie
bedarf es aber natürlich auch des Sich-Einlassens auf
strategische Positionen. Hier ist gesagt worden, dass
dem natürlich nicht nur der chinesische Pragmatismus
gelegentlich entgegensteht, der diese Dinge für uns kompliziert, weswegen auch die Aufforderung an die chinesischen Partner ergeht - wie meine Vorredner das schon
gesagt haben -, sich auf diese ehrliche Debatte so einzulassen, wie sie sich im eigenen Land auch auf die Überwindung ihrer schrecklichen Vergangenheit und Traumata - denken Sie nur an die Kulturrevolution und an
das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens
im Jahre 1989 zurück - eingelassen haben.
({2})
Ich denke, dass wir dadurch herausgefordert werden,
Positionen zu überwinden, die 1966 bis 1969 während
der ersten Großen Koalition zum Ausdruck kamen - sie
sind heute nicht angeklungen -, als Kurt Georg
Kiesinger den Deutschen zurief: „Ich sage nur China,
China, China“. Auch wegen der offenen und ehrlichen
Aussprache - an dieser werden wir uns messen lassen;
das gilt aber auch für unsere chinesischen Partnerinnen
und Partner - sind die Ängstlichkeit in diesem Zusammenhang und die Mystifizierung des chinesischen Partners ebenfalls bei weitem überwunden.
({3})
Ich denke, dass durch das EU-Projekt zur Durchführung von Dorfwahlen in China - um eines herauszugreifen, von dem ich glaube, dass dadurch Optimismus geweckt werden kann -, das von 2001 bis 2006
durchgeführt worden ist - inzwischen sind Dorfwahlen
anerkannter Bestandteil der administrativen Strukturen
in der Volksrepublik China -, deutlich gemacht wird,
dass eine solche Kooperation möglich ist, dass es über
einzelne Inhalte dieser Kooperation hinausgehen kann
und dass sie Basis für Strategien werden kann; denn auf
dem 17. Parteitag im Oktober 2007 hat sich der General18212
sekretär Hu Jintao immerhin zu dem Ziel der Partizipation und zur Basisdemokratie in der Bevölkerung bekannt. Daneben hat er auch unter der Überschrift
„Harmonisierung der Gesellschaft“ den Anspruch verkündet, dies weiterzuentwickeln. Wir haben diesen Weg
eingeschlagen und führen Diskussionen, auch mit den
Verantwortlichen in der Kommunistischen Partei Chinas. Dort ist ein Diskussionsprozess eingeleitet worden,
zu dem auch die Auseinandersetzung mit dem Alleinvertretungsanspruch gehört. Die Diskussion verläuft zwar
zögerlich, aber immerhin hat sie begonnen. Dabei wird
der Blick auch auf Parteiendemokratien in anderen Ländern gerichtet.
Aber was die Strategie, mit der dieses Land mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern den Herausforderungen
begegnet, und die bereits angesprochene Gefahr des Nationalismus angeht, müssen wir Geduld aufbringen und
auch mit Rückschlägen fertig werden. Wir müssen aber
auch dazu beitragen, solche Rückschläge zu vermeiden.
({4})
Es ist deutlich geworden, dass die Chinesen weltpolitische Spieler sind, ohne die in Bereichen wie
Entspannung, Abrüstung, Rüstungskontrolle und friedensschaffende Maßnahmen auch in Hotspots der Weltgemeinschaft keine Erfolge mehr erzielt werden können.
Gerade das Beispiel Nordkorea zeigt, dass China mittlerweile gewillt und fähig ist, seiner politischen Verantwortung in den internationalen Beziehungen nachzukommen und damit auch eine konstruktive Rolle in
brennenden Situationen wie einem Atomkonflikt einzunehmen bereit ist. Auch daran muss man den chinesischen Partner messen und dieses positive Engagement
auch auf andere Krisenregionen wie den Iran oder den
Sudan übertragen.
Ich denke, dass es intellektuell durchaus redlich ist,
wenn wir uns - auch vor dem Hintergrund unserer Entschließungen zu den Laogai-Lagern und zur Verfolgung
der Falun Gong - auch mit dem Thema Tibet befassen.
Wir wollen das nicht überheblich mit erhobenem Zeigefinger tun - das wurde bereits angesprochen -, sondern
wir gehen auch dieses Thema mit Respekt vor einem
Dialog, der zum Ziel führen soll, an und laden die chinesischen Partner ein, die Verhandlungen mit den Exiltibetern wieder aufzunehmen. Wir machen deutlich, dass wir
auf Ergebnisse setzen und dass die Aufnahme von Verhandlungen vor dem Beginn der Olympischen Spiele ein
sinnvolles Zeichen des Friedens wäre, der diese Spiele
begleiten soll.
({5})
Ich danke Ihnen.
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Wolfgang Gehrcke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich möchte für die Fraktion Die Linke meine Überlegungen damit beginnen, Beileid und Mitgefühl für die
furchtbare Naturkatastrophe auszusprechen. Es liegt
zwar kein Antrag vor, aber vielleicht kann man das
- ähnlich wie es der Auswärtige Ausschuss bereits getan
hat - im Namen aller Fraktionen des Deutschen Bundestages den chinesischen Partnerinnen und Partnern übermitteln. Ich würde das sehr begrüßen; denn es erleichtert
vieles, wenn man die eigenen Überlegungen aus einer
solchen Position heraus vertritt. Ich sehe in diesem
Punkt auch keine Differenzen.
({0})
Wenn man versucht, den Stellenwert unserer Beziehungen zu China strategisch einzuordnen - aus meiner
Sicht ist das Verhältnis Deutschlands bzw. der Europäischen Union zu China, um das es heute geht, eine der
wichtigsten Fragen der deutschen Außenpolitik -, dann
ist es zu bedauern, wenn in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Grünen nur auf Einzelprojekte und einzelne Ressorts verwiesen wird.
Grundsätzlich stellt sich die einfache Frage, ob es so
etwas wie eine deutsche China-Politik gibt, welches ihre
Grundzüge sind und ob die Beziehungen zu China einen strategischen Stellenwert für Deutschland haben.
Herr Staatsminister, ich habe mich schon mehrfach darüber beschwert, dass die Bundesregierung alle möglichen Politikfelder mit dem Etikett „strategisch“ versieht.
Es gibt zwar strategische Partnerschaft und strategische
Zusammenarbeit, aber in den meisten Fällen ist damit
kein großer strategischer Inhalt verbunden. Die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und China hätte tatsächlich einen strategischen Stellenwert. Es muss doch
der Bundesregierung möglich sein, diesen strategischen
Stellenwert nicht auf einzelne Bereiche beschränkt - das
ist Verschwendung -, sondern zusammenfassend zu formulieren. Ich finde, das ist ein Mindestanspruch, den
man erheben muss.
({1})
China ist eine Weltmacht oder auf dem Weg zu einer
Weltmacht. Ich will gleich hinzufügen, damit das nicht
falsch ausgelegt wird: Ich war immer und bin ein Gegner
einer unipolaren Welt und von Ansprüchen auf eine solche Welt. Die Alternative zu einer unipolaren Welt ist
nicht eine bipolare Welt. Die Alternative dazu ist vielmehr eine Gemeinschaft unterschiedlicher Akteure, Völker und Vereinigungen. Das macht einen großen Unterschied in der Betrachtung unseres Verhältnisses zu China
aus.
({2})
Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, hört
sich banal an, obwohl er fast die Grundlage für alles ist.
Ich finde es herausragend, dass heute keine Menschen
mehr in China verhungern. Die einfache Überlebensfrage nach einer Schale Reis ist beantwortet. Es gibt in
China sicherlich Armut, Ungerechtigkeit und viele ungeWolfgang Gehrcke
löste Probleme. Aber dass dieses Land mit einer Milliardenbevölkerung es schafft, seine Menschen zu ernähren,
ist ein gewaltiger Schritt, den man nicht mit kleiner
Münze beantworten darf. Aus meiner Sicht ist das tief
beeindruckend.
({3})
Wir sollten versuchen, zu ermessen, was es bedeutet,
wenn Menschen nicht mehr verhungern müssen.
Drittens müssen wir uns darüber klar sein, dass kein
Weltproblem ohne die Hilfe oder - genauer gesagt ohne aktive Mitarbeit Chinas zu lösen ist. Wir sollten
uns wünschen, dass China in noch stärkerem Maß Verantwortung in der Weltpolitik übernimmt. Ich will einige Bereiche nennen. Die Bewältigung von Klimaentwicklung und Klimakatastrophen, die Beantwortung der
Fragen nach dem ökologischen Überleben der Welt und
die Bekämpfung des Hungers in allen Teilen der Welt
sind ohne China nicht möglich.
Ich will auch ansprechen, warum es uns so schwerfällt, die Stärke und den Einfluss Chinas bei einer friedlichen Lösung in Afghanistan zu nutzen - das ist eine einfache Überlegung -, und zwar in Kooperation mit den
Nachbarn Afghanistans, dem Iran und anderen, und eine
entsprechende Politik zu betreiben.
({4})
Das hieße, Militär endlich mit Politik zu beantworten.
Ich glaube zudem, dass wir keine Lösung in den Fragen betreffend das Atomprogramm Nordkoreas und das
mögliche Atomprogramm des Irans erreichen, wenn wir
China nicht als fairen Mittler - China hat das Recht, die
westliche Politik nicht ständig zu unterstützen und ihr zu
widersprechen - in Anspruch nehmen.
({5})
Außerdem wird es eine Reform der UNO ohne China
nicht geben - das ist klar -, nicht nur weil China Mitglied des UN-Weltsicherheitsrates ist. Hat es nicht auch
für die deutsche Politik eine hohe Bedeutung, dass wir
über China einen besseren Draht zu den sogenannten
Blockfreien - obwohl es keine Blöcke mehr geben soll entwickeln könnten?
China kann in mehrfacher Hinsicht für eine kooperative Welt nutzbringend sein. Die Grundlage dazu ist - ich
finde es spannend, Herr Kollege von Klaeden, dass das
in Ihrer Rede überhaupt nicht auftauchte; aber das müssen Sie selber wissen - eine Ein-China-Politik. Gerade
von einer Partei wie der CDU/CSU, die sich zu einem
Zeitpunkt, als ich eine gegensätzliche Position vertrat, so
sehr für eine Ein-Deutschland-Politik eingesetzt hat,
hätte ich, was eine Ein-China-Politik betrifft, mehr Aufmerksamkeit und Klarheit erwartet.
({6})
Vor diesem Hintergrund müssen wir gemeinsam über
eine Lösung des Tibet-Problems nachdenken. China
wäre gut beraten, sich an die eigene Verfassung exakt zu
halten, die autonome Regionen sowie die Gleichheit der
Nationen, der Sprachen, der Sitten und der Gebräuche
vorsieht.
({7})
Das ist Gegenstand der chinesischen Verfassung. Es liegt
in der Auseinandersetzung der Kooperation zwischen
Tibetern und Chinesen, dies in die politische Praxis umzusetzen.
Ich sage Ihnen aber auch: Die Definition des DalaiLama - er war Gast bei uns im Auswärtigen Ausschuss von Autonomie - nicht auf das Gebiet Tibet, sondern auf
die Abstammung bezogen; er sprach wörtlich von Religion und Blut - lässt sich schwer in Rechte fassen.
({8})
Aber auch eine solch offene Sprache gegenüber unseren
Partnern kann man sich doch nicht gegenseitig untersagen. Überlegen Sie sich einmal: Wenn in China Ähnliches wie in der damaligen Sowjetunion passiert wäre,
eine Auflösung des Staatengebildes in Einzelstaaten,
dann hätte dies die Welt nicht ausgehalten.
({9})
Deswegen muss man vorsichtig sein und den Anfängen
mit einer vernünftigen Politik wehren.
Ich möchte uns, mich selbst immer eingeschlossen,
gemeinsam mahnen, in Stil und Gestus einen anderen
Umgang zu pflegen. Allzu oft klingt in unseren Reden
durch: Wir sind die Belehrenden, und ihr seid die Lernenden. Dieser Gestus kann gerade vor dem Hintergrund
der Kolonialgeschichte Europas in China nicht akzeptiert werden.
({10})
Das Land legt großen Wert auf Würde, Stolz und Selbstbewusstsein. Wir müssen eine Sprache finden, in der
nicht immer der Eurozentrismus in Erscheinung tritt. Ich
denke, es ist wichtig, dass der belehrende Ton weg muss.
({11})
- Ich erinnere daran, dass ich vorhin von kleiner Münze
gesprochen habe, Herr Kollege.
Ich will eine letzte Bemerkung zur chinesischen Außenpolitik machen. Ich finde die chinesische Außenpolitik durchaus berechenbar. Sie bewegt sich sehr hart
am Text der Charta der Vereinten Nationen.
({12})
Ich finde - damit will ich abschließen, Frau Präsidentin,
obwohl noch vieles zu sagen wäre -, dass die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die entsprechende Frage
etwas sehr Vernünftiges geschrieben hat. Ich zitiere:
Da der Erhalt eines friedlichen Umfeldes für die
Entwicklung des Landes höchste Priorität besitzt,
ist Chinas Militärpolitik und -doktrin defensiv
ausgerichtet; der Ersteinsatz von Nuklearwaffen
wird ausgeschlossen.
Wenn ich das Gleiche von den USA behaupten könnte,
dann wäre ich sehr glücklich und dann wäre der Welt
wirklich gedient.
({13})
In diesem Sinne möchte ich gerne, dass wir zusammen eine vernünftige Politik entwickeln.
Herzlichen Dank.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Erich Georg Fritz für
die CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Antwort der Bundesregierung auf die
Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,
Herr Trittin, ist tatsächlich zu einem Kompendium über
China geworden. Wenn Sie die Struktur bemängeln,
Herr Kollege Trittin, dann muss ich Ihnen sagen, dass
sie, wie Sie bei der Lektüre feststellen können, ausschließlich an Ihrer Frageweise liegt. Von daher dürfen
Sie sich nicht beklagen, wenn die Bundesregierung so
antwortet, wie Sie gefragt haben.
Ich glaube, dass die Antwort der Bundesregierung auf
die Anfrage ziemlich genau das ganze Feld der inneren
Entwicklung Chinas mit seinen Erfolgen und Widersprüchen darlegt. Sie zeigt die unendlichen Bedürfnisse und
Möglichkeiten, die in einer Zusammenarbeit Europas
und insbesondere Deutschlands mit China liegen. Ich
habe den Eindruck, dass die Antwort weder politisch geschönt noch zu drastisch ist. Sie nennt einfach die Dinge
beim Namen. Insofern halte ich die Antwort im Sinne eines vernünftigen Umgangs mit unserem Partner für angemessen.
({0})
Bei der Zusammenfassung kommt man zu einigen
Einschätzungen, die für die weitere Diskussion vielleicht
nicht unwesentlich sind. 30 Jahre wirtschaftliche Reformen und Entwicklungen in China haben nicht nur dieses
Land, sondern auch die Welt verändert. Das heißt für
China und für die Welt, dass ein altes Kulturvolk auf die
weltpolitische Bühne zurückgekommen ist.
Wenn man sich klarmacht - Herr Gehrcke, vielleicht
mit Ihrer begeisternden Zustimmung früher -, was dieses Volk auf diesem Weg mitgemacht hat, ist die Kraft,
ist der Elan, sind die sich entwickelnden Fähigkeiten geradezu bewundernswert, die China an den Tag legt.
({1})
Dass nicht nur wir Deutsche, sondern dass die Welt
Probleme hat, den kulturellen Hintergrund dieser Entwicklung zu lesen - das gilt nicht nur für Unternehmer,
sondern auch für Politiker, für alle, die mit China zusammenarbeiten. Dieses Land hat sich selbst zurückgezogen
und den Austausch nicht gepflegt. Jetzt ist es zurück.
Beide Seiten lernen, nicht nur, weil wir dazu genötigt
sind, sondern auch, weil wir Freude daran haben, mit
dieser neuen Herausforderung umzugehen.
Es ist ein Land mit einer ungewöhnlichen wirtschaftlichen Dynamik. Die Welt nimmt das erstaunt zur Kenntnis, häufig genug voller Angst. Es gibt eine Verringerung von Armut im großen Stil. Ist das denn gar nichts
wert? Warum reden wir nicht darüber,
({2})
dass dieser Weg der wirtschaftlichen Liberalisierung
Chinas zu einer Verringerung von Armut führt wie in Indien und Brasilien auch? Ich habe manchmal das Gefühl,
alle, die früher vom Teilen geredet haben, haben damit
nichts mehr im Sinn, wenn etwas plötzlich über den
Wettbewerb erworben und nicht mehr gnädig gegeben
wird. China ist nun einmal in der Rolle dessen, der sich
seinen Anteil über den Wettbewerb nehmen kann. Freilich gibt es auch an dieser Form des Wettbewerbs das
eine oder andere zu kritisieren.
Der politische Bedeutungszuwachs Chinas ist noch
nicht immer in Peking und in der Welt mit den richtigen
Ressourcen hinterlegt. Aber das ist doch kein Wunder.
Wenn Sie sich einmal anschauen, wie schnell der Generationenwechsel in der Führungsschicht und bei den international Aktiven gelungen ist, dann ist es schon erstaunlich, welche Qualität man vorfindet.
({3})
Darauf müssen wir uns einstellen. Da gibt es neue Herausforderungen, die wir erst einmal bestehen müssen.
Aber noch ist und fühlt sich China nicht in der Lage, in
jeder Weise, zu jeder Zeit und an jeder Stelle Verantwortung zu übernehmen. Diese Ansprüche an die Übernahme von Verantwortung in internationalen Angelegenheiten, an Chinas Mitgestaltung werden aber gestellt.
Deshalb muss sich China von vielen, allein auf nationales Interesse konzentrierten Vorstellungen lösen.
Diese positive Entwicklung Chinas bedeutet aber
auch, dass China es jetzt mit Ängsten und Widerständen
auf der Welt zu tun hat, mit denen umzugehen es bisher
überhaupt nicht gewohnt war. Deshalb sind manche Reaktionen, die wir in den letzten Monaten erlebt haben,
natürlich vor diesem Hintergrund zu sehen.
China muss soziale und regionale Disparitäten ausgleichen. Dagegen ist der Ausgleich in den Beitrittsländern der Europäischen Union geradezu eine Bagatelle,
obwohl wir wissen, wie schwierig solche Prozesse sind.
Die Rohstoffsicherung für eine so dynamisch wachsende
Wirtschaft zu betreiben, ist natürlich eine Herausforderung. Für die gab es auch in China kein Drehbuch. Wir
beklagen uns zu Recht, dass wir da einem Prozess zuschauen, den wir in seinen Auswirkungen wenig beeinflussen können und den wir an vielen Stellen in der Art
des Vorgehens nicht gutheißen.
Mit internationalen Ansprüchen auf Standards für
Menschenrechte, Ressourcenschonung, KlimaverantworErich G. Fritz
tung, soziale Entwicklung und den Ausbau des Rechtsstaats wird China von allen Seiten konfrontiert. Wir sind
an diesem Prozess beteiligt. Jeder, der diese Gespräche
führt, weiß, dass die Möglichkeit eines Dialogs, das Verständnis für diesen Dialog und die Bereitschaft, sich einzulassen, in China zugenommen haben, auch wenn die
Ergebnisse nach wie vor nicht so sind, wie wir sie gerne
hätten.
Die Vorteile aus der Öffnung der Märkte für chinesische Produkte sind natürlich mit dem Anspruch hinterlegt, die Regeln, die man unterschrieben hat, konsequent
einzuhalten und alles dafür zu tun, dass in Peking nicht
nur ein Gesetz gemacht wird, sondern dass man sich
auch vor Ort in den Unternehmen, in den Handelsströmen an die akzeptierten Regeln hält.
Die vielfältigen Umweltprobleme und deren Folgen
für die Bevölkerung dürfen nicht länger verdrängt werden. Dies bietet eine ganz neue Form der Zusammenarbeit. Der Bericht der Bundesregierung zeigt, was darin
steckt und was wir auf diesem Feld zum Vorteil beider
Seiten leisten können.
Einzusehen, dass auf Dauer ein modernes, weltoffenes China, wirtschaftlich erfolgreich und international
angesehen, den Bürgern nicht die wesentlichen Partizipationsmöglichkeiten vorenthalten kann, zu akzeptieren,
dass Menschenrechte nicht nach Gutdünken verweigert
werden können, dass Meinungs- und Religionsfreiheit
nicht unterdrückt werden können, wenn man diesen Prozess nicht innerhalb des eigenen Landes gefährden will,
und dass man Pluralismus in Gesellschaft und Politik auf
Dauer braucht, weil anders die kreativen Kräfte dieses
Volkes nicht zu erhalten sein werden - auf dieser Basis
ist es möglich, den Dialog mit China zu führen.
({4})
Ich glaube, dass der gerade vorhin angeklungene Gegensatz zwischen Gesinnungsethik oder werteorientierter Außenpolitik und pragmatischer Außenpolitik eine
Konstruktion ist, die eigentlich gar nichts taugt. Es kann
doch nur darum gehen, dass wir die Interessen, die auf
beiden Seiten vorhanden sind, die auch gemeinsame sein
können - ich hoffe, in Afrika wird es in Zukunft besser
gemeinsam gehen -, natürlich vor dem Hintergrund der
eigenen Wertvorstellungen diskutieren. Ich denke, dass
man dem Anspruch der Chinesen auf Vertrauen und gerechten und fairen Umgang miteinander und Respekt
voreinander umso besser gerecht werden kann, je mehr
sich Wertvorstellungen durch einen dauerhaften Dialog
einander annähern, und dass daraus ein umso größeres
Verständnis und damit erst die Möglichkeit des gegenseitigen Respekts erwachsen.
Es gibt viele Dinge im Zusammenhang mit unserer
China-Politik, die diskussionswürdig sind. Aber diese
Politik ist so, weil die Wirklichkeit so ist. Deshalb sollte
man sich davor hüten, zunächst einmal eine Schablone
zu basteln und dieser die China-Politik anzupassen. Lassen Sie uns vielmehr an den Stellen, wo Menschen aktiv
miteinander umgehen, in der Wirtschaft, in der Politik,
zunehmend in der Kultur, alle Chancen für den Dialog
nutzen. Dann wird es eine Entwicklung zum gegenseitigen Vorteil geben.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die Bundesregierung spricht nun Herr Staatsminister Gernot Erler.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich möchte diese Debatte nutzen, um noch einmal
unser tiefes Mitgefühl für die Opfer der Erdbebenkatastrophe vom 12. Mai zum Ausdruck zu bringen.
Das Ausmaß dieser Katastrophe, bei der über 5 Millionen Wohnhäuser zerstört wurden, ist schwer vorstellbar.
Die chinesische Regierung hat schnell reagiert, die chinesische Gesellschaft hat große Solidarität mit den Betroffenen gezeigt. Die Offenheit, mit der die chinesische
Führung auf die internationalen Hilfsangebote, auch auf
unsere, reagiert hat, hat Eindruck gemacht und dazu beigetragen, dass diese Hilfe schnell bei den Betroffenen
ankam. Dass dies nicht selbstverständlich ist, wissen wir
von anderen aktuellen Katastrophenfällen. Wir werden
China auch bei den jetzt anstehenden Aufgaben der Sicherung und des Wiederaufbaus nach Kräften unterstützen.
({0})
Wenn man über unsere China-Politik redet, sollte man
sich zunächst vergewissern, mit welchem Partner man es
hier zu tun hat. China ist ein riesiges Land mit 1 300 Millionen Menschen, mit einer jahrtausendealten, reichen
Kultur, das in den letzten beiden Jahrzehnten ein geradezu atemberaubendes Entwicklungstempo vorgelegt
hat, mit zweistelligen Wachstumsraten in den letzten
fünf Jahren und einer äußerst konkurrenzfähigen Außenwirtschaft, die über den Außenhandel inzwischen eine
Devisenreserve von 1,6 Billionen US-Dollar angesammelt hat. Aber China ist eben auch eine Gesellschaft, die
vor enorm großen Herausforderungen steht. Wie dieses
Land mit seinen vielen Völkern und Religionen zusammenhalten? Wie eine Identität und ein Zusammengehörigkeitsgefühl für 1,3 Milliarden Menschen schaffen und
aufrechterhalten? Wie die Dynamik des Wirtschaftswachstums so steuern, dass möglichst viele Menschen
am Wohlstandsgewinn teilhaben und dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich nicht zu groß werden?
Wie eine Balance finden zwischen der notwendigen
Handlungsfähigkeit der Regierung und der ebenso notwendigen Transformation und Modernisierung von Staat
und Gesellschaft?
Dazu kommt ein unvermeidbarer Lernprozess. Chinas Rolle als Global Player wächst. Damit schwindet
aber auch Chinas Chance, sich allein auf die eigenen
Probleme zu konzentrieren. Vielmehr muss China inter18216
Dr. h. c. Staatsminister Gernot Erler
nationale, globale Verantwortung übernehmen, und
zwar in Bezug auf Frieden und Konfliktlösung auf verschiedenen Kontinenten, die Zivilisierung des Wettbewerbs um Rohstoffe und Energieressourcen sowie gemeinsame Antworten auf die globalen Umwelt- und
Klimawandelprobleme.
Liebe Kollegen Trittin, Hoyer und Gehrcke, die Bundesregierung hat sich, was ihre China-Politik angeht, entschieden. Sie verfolgt eine Grundlinie, die jede Isolierung und Ausgrenzung vermeiden will, die auf
Einbindung, eine Verantwortungsgemeinschaft und vor
allem auf Dialog setzt.
({1})
Dabei sind wir schon ein Stück vorangekommen. Wir
haben seit Jahren einen ernsthaften Strategiedialog - das
Wort „Strategie“ wurde also aufgegriffen -, einen durchaus nicht immer einfachen Menschenrechts- und Rechtsstaatsdialog und einen Umweltdialog. Insgesamt wurden
über 30 verschiedene Dialogmechanismen entwickelt.
Das sind hochrangig besetzte, echte Dialoge, die auf
gleicher Augenhöhe stattfinden und bei denen wir uns
auch den kritischen Fragen der chinesischen Seite stellen.
Das ist eine Politik, die auf konkrete Ergebnisse setzt,
die auf eine langfristige und nachhaltige Entwicklung
hinarbeitet, die aber - wie wir mehrfach erfahren haben manchmal auch von tagespolitischen Ereignissen nicht
unberührt bleibt. Das war zum Beispiel der Fall bei der
hochrangigen Begegnung mit dem Dalai-Lama, die zu
einer Unterbrechung der bilateralen deutsch-chinesischen Dialogforen führte. Diese Unterbrechung gehört
mittlerweile zum Glück der Vergangenheit an. Es waren
vor allen Dingen die Bemühungen des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier - zuletzt bei seiner
China-Reise vom 13. bis 15. Juni -, die den Weg für eine
Fortsetzung dieser Dialoge freigemacht haben.
({2})
Übrigens sparen diese Dialoge kein Thema aus, auch
nicht die Punkte, bei denen wir uns nachdrücklich eine
Änderung der chinesischen Politik wünschen, ob das die
massive Anwendung der Todesstrafe, die Administrativhaft oder den Umgang mit Dissidenten und mit Minderheiten angeht. Unsere Erfahrung ist, dass nur auf partnerschaftlicher Basis geführte Gespräche etwas bewirken
können; nur damit kann man Einfluss nehmen.
({3})
Nach den jüngsten Ereignissen in Tibet haben wir
mehrfach zu direkten Gesprächen zwischen der chinesischen Führung und dem Dalai-Lama geraten. Am 4. Mai
hat es eine erste Begegnung zwischen Pekinger Offiziellen und Vertretern des Teams des Dalai-Lama in
Shenzhen gegeben. Eine zweite war für den 11. Juni vorgesehen, wurde aber wegen der Erdbebenereignisse verschoben. Wir ermutigen dazu, auf diesem Weg weiterzugehen.
Die Welt braucht China als verantwortungsbewussten
Teilhaber der Weltgesellschaft. In jedem Schritt unserer
China-Politik - das ist unser Anspruch - muss dieses
Ziel erkennbar bleiben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Hellmut Königshaus
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind
dem Präsidenten sehr dankbar dafür, dass er eingangs
der Debatte darauf hingewiesen hat, dass noch einige
Menschenrechtsfragen, die im Zusammenhang mit der
Reise des Menschenrechtsausschusses zu sehen sind, mit
der chinesischen Seite zu diskutieren sind. Dieser Hinweis war sehr wichtig. Deshalb ist es sehr zu bedauern,
dass wir ausgerechnet die Menschenrechts- und die Tibet-Fragen heute leider voraussichtlich erst gegen
22 Uhr unter fast vollständigem Ausschluss der Öffentlichkeit besprechen werden.
Der Eindruck des Kollegen Trittin, dass es der Bundesregierung bei der China-Politik an einer kohärenten
Haltung fehlt, ist nicht falsch. Wenn man zur Regierungsbank schaut, wird auch optisch erkennbar, woran
das liegen könnte. Kein einziger Bundesminister hat sich
zu dieser Kernzeitdebatte hierher bewegt, übrigens auch
nicht Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, obwohl wir sie
zur Belohnung mit unserer Auffassung zur Entwicklungshilfe für China vertraut gemacht hätten. Das ist mir
unverständlich.
({0})
- Ja, die Staatssekretärin sitzt dort. Ihr sind unsere Auffassungen bestens vertraut - das weiß ich -; sie nimmt
diese Belohnung immer gern entgegen.
Wir sind uns beiderseits in dieser Frage schon in vielen Punkten entgegengekommen. Ich denke, wir sind uns
einig darüber, dass China - das räumt auch die Bundesregierung ein - kein Entwicklungsland im klassischen
Sinne mehr ist; viele der Ausführungen hier haben das
deutlich gemacht. China ist eine Großmacht: über 1 Billion Euro Devisenreserven, Wachstumsraten, von denen
wir hier nur träumen können, Exportweltmeister, wenn
man die EU-Binnenlieferungen der Deutschen einmal
außen vor lässt. China ist übrigens inzwischen selbst Geber. Allein nach Afrika fließen 7,5 Milliarden Euro.
Da stellt sich doch die Frage, warum dieses Land eigentlich nach wie vor der größte Nehmer deutscher Entwicklungshilfe ist.
({1})
Etwa 200 Millionen Euro beträgt die ODA-Leistung inzwischen. Wir haben uns gestern über Afghanistan und
über die Frage unterhalten, wo dort die strategischen Interessen liegen. Angesichts dessen ist dieser Fakt weitestgehend unverständlich. Ich frage insbesondere Sie,
meine Damen und Herren von der Koalition: Warum
machen Sie das weiter mit? Dazu sollten Sie hier eigentlich Stellung nehmen.
Wir von der FDP wollen nicht die Einstellung der
Entwicklungszusammenarbeit mit China, wie immer behauptet wird; wir wollen eine Umstellung, die den veränderten Voraussetzungen Rechnung trägt.
({2})
- Herr Tauss, herzlich willkommen! - Dazu gehört insbesondere, dass wir die Zivilgesellschaft stärken. Die
bisherige EZ beschränkt sich im Wesentlichen auf die
Zusammenarbeit mit staatlichen Organisationen - dafür
ist vielleicht noch Stamokap-Denken ein bisschen verantwortlich -, aber die richtigen Partner für eine nachhaltige Entwicklung sind auf Dauer die privaten Unternehmen und die zivilen Organisationen. Dahin müssen
wir kommen.
({3})
Wir müssen darauf achten, dass China, das selbst
überall als großer Investor und auch als großer Geber
auftritt, eingebunden wird und koordiniert auftritt mit
den traditionellen Gebern, zu denen wir gehören; denn
wir haben gemeinsam die Verpflichtung, die MDGs zu
erreichen. Wir brauchen die Chinesen, damit sie das
nicht konterkarieren.
China müssen wir also als Partner betrachten. Deshalb - Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss - müssen wir bereit sein, in unseren Beziehungen, in unserer
Entwicklungszusammenarbeit diese neuen Realitäten
zur Kenntnis zu nehmen und daraus Konsequenzen zu
ziehen.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Manfred Grund für
die CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es sind die Bilder des
schrecklichen Erdbebens, die sich bei uns so tief eingeprägt haben - Bilder von Eltern und Lehrern, die unter
den Trümmern von Schulgebäuden und Wohnhäusern
mit bloßen Händen nach ihren Kindern bzw. Schülern
suchen, Bilder auch von erschöpften Helfern. Ich denke
ebenfalls an das Bild des chinesischen Ministerpräsidenten, der sich angesichts dieses Leids seiner Tränen nicht
geschämt hat. Damit einhergehend zeigt sich eine große
Offenheit im Umgang mit dem Ausmaß dieser Katastrophe und in der Annahme von Hilfeleistungen.
Insbesondere die deutsche Erdbebenhilfe war vorbildlich. Neben einem mobilen Krankenhaus wurden
mehrere Wasseraufbereitungsanlagen und Unterkünfte
zur Verfügung gestellt. Herr Staatsminister, es war gut,
heute Ihre Aussage zu hören, dass diese Hilfe weitergeht, weil angesichts des Ausmaßes der Katastrophe, der
zerstörten Ortschaften, die in dieser Form wahrscheinlich nie wieder aufgebaut werden können, eine länger
andauernde Hilfe notwendig ist. Wir leisten sie gern,
weil wir dazu in der Lage sind und weil sie angenommen
wird. Vielen Dank auch an die Bundesregierung!
({0})
Unsere Hilfe und unser Mitgefühl gelten natürlich
den Menschen in Sichuan, der betroffenen Provinz. Aber
wir sollten auch die politische Dimension dieser geleisteten und entgegengenommenen Hilfe nicht unterschätzen. Damit ergibt sich ein positiver Effekt für die
deutsch-chinesischen Beziehungen.
Jetzt nehme ich das Thema von Herrn Königshaus
auf: Entwicklungszusammenarbeit. Genau diesen positiven Effekt erwarten wir auch von der Entwicklungszusammenarbeit mit China, wie sie auch ausgestaltet
sein mag.
({1})
Natürlich könnte China aufgrund der Devisenreserven - sie sind schon mehrfach genannt worden - infolge
des Handelsüberschusses unsere Unterstützung vom finanziellen Umfang her allein kompensieren. Unsere Zusammenarbeit erschöpft sich aber nicht in finanzieller
Unterstützung, sondern wir wollen wirtschaftliche und
finanzielle Hilfen geben. Insbesondere die technische
Zusammenarbeit stellt nicht eine Einbahnstraße dar, sondern wir bekommen auch etwas zurück, was uns im gegenseitigen Verhältnis guttut. Ich glaube, zwei Punkte
sprechen dafür, warum wir an der wirtschaftlichen und
der Entwicklungszusammenarbeit festhalten sollten:
Erstens. Natürlich ist China kein Entwicklungsland
mehr. Es ist ein Schwellenland, in dem Erste und Dritte
Welt manchmal ganz unvermittelt aufeinanderprallen.
Vergleiche von China mit anderen Partnerländern der
Entwicklungshilfe gehen häufig fehl. Wenn schon, dann
müsste man China mit Afrika vergleichen: So groß sind
die Gegensätze, aber auch die Dimensionen unserer
Hilfe.
Zweitens. Der Zweck unserer Entwicklungszusammenarbeit ist letztlich nicht allein am Volumen der finanziellen Hilfe zu bemessen, sondern auch an den Einflussmöglichkeiten, die wir in positivem Sinne dadurch
gewinnen können.
({2})
Dabei spielt der Wissenstransfer eine große Rolle, insbesondere geförderte Projekte im Bereich von Umweltund Energietechnologien. Deutsche Firmen sind mit
Umwelttechnologie in China auf dem Markt und setzen
dort einen ganz erheblichen Anteil ihres Volumens um.
Umgekehrt vermittelt diese Entwicklungszusammenarbeit
aber auch ein besseres Verständnis der Probleme und der
Entwicklungsprozesse in China. Die Entwicklungszusammenarbeit ist somit eigentlich ein Entwicklungsdialog. Ich glaube, allein das ist es wert, daran festzuhalten.
({3})
Wir sollten bei allem Kritischen, was hier und heute
von Vertretern aller Fraktionen angesprochen worden ist,
eines nicht aus dem Auge verlieren: China ist ein Land
mit 1 300 Millionen Menschen, in dem vor 30, 40 Jahren
noch Millionen Menschen verhungert sind. Die Regierung hat den Menschen dieses Landes erstmals, auch
wenn es nur schrittweise vorangeht, gesicherte Perspektiven eröffnet. Das ist eine Riesenverantwortung, die die
Regierenden da auf ihre Schultern geladen haben und die
sie nach meinem Dafürhalten auch nach bestem Wissen
und Gewissen umzusetzen versuchen.
Natürlich wird auf Dauer nur ein pluralistisches System den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt in China gewährleisten können. Auf Dauer
braucht China ein Regierungssystem, welches auf dem
Wettbewerb unterschiedlicher politischer Kräfte beruht.
Aber wenn wir von einem Wettbewerb der Systeme
sprechen, dann haben wir zugleich auch eine Perspektive
vor Augen. Auf längere Sicht wird es zu diesem Wettbewerb der Systeme kommen. Im Moment ist es China,
das versucht, sich diesem Wettbewerb zu stellen, und
auch erst einmal in diesem strategischen Wettbewerb bestehen muss. Keiner von uns hat versucht, das jetzige politische System der Volksrepublik zu verteidigen. Ich
glaube aber, wir alle setzen darauf, dass es eine evolutionäre Entwicklung gibt. Es gibt ja in den letzten 20 Jahren
erkennbare Fortschritte. Der letzte Tiefpunkt waren die
Geschehnisse auf dem Tiananmen-Platz. Danach gab es
in weiten Teilen eine sehr verantwortungsvolle Entwicklung.
Was wir brauchen, ist keine unkritische Haltung, sondern eine Politik des Verständnisses und des Engagements mit China. Was wir brauchen, ist ein konstruktivkritischer Dialog. Das kam heute eigentlich in fast allen
Reden zum Ausdruck. Ich glaube, wir sind in der Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China auf einem
guten Weg. Wir sollten so fortfahren.
Herzlichen Dank für diese Gemeinsamkeit in der Sache.
({4})
Nun hat für die SPD-Fraktion der Kollege Johannes
Pflug das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich zunächst sagen: Ich bin sehr
froh über diese Debatte am heutigen Vormittag, weil sie
sicherlich dazu beitragen kann, dass das in der Vergangenheit in der Öffentlichkeit, aber auch bei Veranstaltungen und in der Medienberichterstattung entstandene
Zerrbild der Volksrepublik China wieder einigermaßen
in den richtigen Rahmen gerückt wird.
({0})
Ich selbst bin in diesem Jahr dreimal in China gewesen, zum ersten Mal während der Ereignisse in Tibet.
Ich war zu der Zeit in Schanghai. Ich konnte am Abend
des 14. März noch die Berichterstattung von CNN sehen. Am nächsten Tag wurde die Berichterstattung von
CNN wie auch die anderer Fernsehsender zensiert. Ich
habe das für einen Fehler gehalten: CNN zeigte auch
brennende Autos und geplünderte Läden, keineswegs
nur demonstrierende Menschenrechtler oder Mönch. Es
war ein schwerer Fehler der chinesischen Politik, die Berichterstattung zu zensieren.
Zur Zeit des Erdbebens war ich zum zweiten Mal in
China und in Nordkorea. Ich konnte mich davon überzeugen, mit welcher Hilfsbereitschaft junge Menschen
vor öffentlichen Gebäuden auf der Straße spontan für die
Opfer des Erdbebens sammelten. In Chongqing ließ man
brennende Kerzen auf kleinen Teppichen über den
Jangtse schwimmen - natürlich gegen ein entsprechendes Entgelt -, ebenfalls für die Opfer des Erdbebens. Die
Welle von Hilfsbereitschaft war unglaublich.
Ich konnte mich in Schanghai von dem unglaublichen
Enthusiasmus überzeugen, den man vor Beginn der
Olympischen Spiele aufbrachte, als die Fackelläufer
durch die Stadt liefen. Tausende von jungen Menschen
standen mit Fähnchen und Bändern am Straßenrand und
winkten. Wir als Europäer wurden freundlich und herzlich aufgenommen. Da war nichts von Abkommandieren
oder Ähnlichem zu spüren, sondern nur von Enthusiasmus. Vor allen Dingen nach den Erdbeben herrschte das
Gefühl vor, von der Führung endlich ernst genommen
worden zu sein und eine offene Berichterstattung zu bekommen.
Herr Hoyer, ich gebe Ihnen recht: Da bildet sich Nationalgefühl heraus, nicht Nationalismus. Wer gestern
das Fußballspiel gesehen hat und die Straßen hier bei uns
vor und nach diesem Spiel beobachtet hat, der wird nicht
auf die Idee kommen, dass das, was man gesehen hat,
Nationalismus war. Ich würde das einmal als völlig normalen Umgang mit dem Nationalbewusstsein bezeichnen. Dennoch muss man diese Entwicklung durchaus im
Auge behalten.
Vor kurzem bin ich zum dritten Mal in China gewesen, und zwar mit unserem Außenminister und Kolleginnen und Kollegen. Diese Reise war sehr erfolgreich, vor
allen Dingen deshalb, weil Außenminister Steinmeier
nicht nur sehr hochrangige Gesprächspartner hatte und
gute Gespräche geführt hat, an denen wir teilweise teilnehmen konnten, sondern auch, weil er darauf bestanden
hat, dass er und wir Abgeordneten mit Regimekritikern
sprechen durften,
({1})
was von bestimmten Richtungen in der chinesischen Regierung, die es natürlich auch gibt, so nicht vorgesehen
war. Steinmeier hat sich da durchgesetzt. Diese Gespräche sind für uns sehr nützlich gewesen.
In der Großen Anfrage steht, dass die Entwicklung in
China bei den Menschen häufig Angst, Besorgnis und
ungeheuere Hoffnungen erweckt. Ich denke, das ist zu
Recht so formuliert. Es wird auch auf die mangelhafte
Lage von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten verwiesen und die Rolle Chinas in der Zukunft hinterfragt.
Niemand hat bisher verschwiegen, dass dieses große
Land natürlich auch große Probleme hat. Es gibt in
China große Umweltprobleme, Korruption - vor allem
auf den lokalen Ebenen -, Fehlallokation von Ressourcen, vermutlich im Wesentlichen durch die zentrale
Steuerung. Es gibt soziale Disparitäten in der Einkommensverteilung, in den sozialen Sicherungssystemen
und in der Bildung. Es gibt auch regionale Disparitäten
zwischen den Küstenstädten, den Großstädten im Landesinnern, den ländlichen Regionen und vor allem in der Infrastruktur. Aber all diese Probleme werden von der chinesischen Führung gar nicht geleugnet; vielmehr werden
sie nach meinen Erkenntnissen durchaus sehr gut angegangen. Man versucht, diese Probleme zu lösen.
Was wir sehen müssen, ist, dass China zur Lösung
dieser Probleme weiterhin auf hohes Wachstum setzt.
Hohes Wachstum erfordert Energie und Rohstoffe. Das
wiederum führt dazu, dass die Welt Chinas Aktivitäten
auf den internationalen Energie- und Rohstoffmärkten
sehr intensiv beobachtet und dass China dabei an die Interessensgrenzen anderer Staaten stößt. Hier stellt sich in
der Tat die Frage: Wie geht China mit den Interessen anderer Staaten um, und wie werden diese Konflikte gelöst?
Ohne dies hier in der Kürze der Zeit diskutieren zu
können, darf ich eines sagen: Wer die chinesische Politik
der letzten 20 Jahre beobachtet hat, der wird bestätigen
müssen, dass Chinas Außen- und Innenpolitik sehr pragmatisch auf Ausgleich und Konfliktvermeidung angelegt
ist. Dieser Pragmatismus führt zugleich zu stetigen Veränderungen der innerstaatlichen Strukturen, und zwar in
Richtung mehr Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung, sowie zur Verbesserung des Lebensstandards der
Bevölkerung; Kollege Gehrcke hat darauf hingewiesen.
({2})
Lassen Sie mich zum Abschluss etwas machen, was
in einem deutschen Parlament nicht unbedingt üblich ist.
Ich möchte gerne Ministerpräsidenten Wen Jiabao aus
seiner Rede zitieren, die er am 13. März zur Begrüßung
von Herrn Steinmeier und seiner Delegation gehalten
hat. Wen Jiabao sagte: Erstens. China wird auf jeden Fall
seine Öffnungspolitik fortsetzen. Zweitens. China wird
ein transparentes Rechtssystem aufbauen. Drittens.
China wird die Urheberrechte schützen. Viertens. China
wird den Bürokratieabbau fortsetzen. Die bilateralen Beziehungen zwischen China und Deutschland, der Europäischen Union und anderen Staaten müssen langfristig
und strategisch angelegt sein. Die Zusammenarbeit im
internationalen Bereich, insbesondere in den Vereinten
Nationen, im EU-China-Dialog, in der ASEM und in anderen Organisationen, muss gestärkt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich stimme
dem chinesischen Ministerpräsidenten voll und ganz zu.
Gleichzeitig betone ich aber, dass wir auch weiterhin unsere deutschen, europäischen und westlichen Werte offen vertreten werden. Dazu gehört selbstverständlich
auch, dass wir empfangen und reden werden, wann, wo
und mit wem wir es für richtig halten.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Man sollte allerdings beachten, dass die Resultate von
Treffen und Gesprächen - mit wem auch immer - in einem vernünftigen Verhältnis zu den mittel- bis langfristig verfolgten politischen Zielen stehen müssen. Das
wird auch in Zukunft zu Meinungsunterschieden führen.
Wichtig ist jedoch, dass wir darüber offen und ehrlich
sprechen. Nur dann kann sich Vertrauen bilden, und nur
dann wird aus Kooperation eine konzeptionelle strategische Partnerschaft und schließlich gute Freundschaft
zwischen den Menschen. Das ist wichtig.
Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.
Wir alle tragen gemeinsam Verantwortung - nicht nur
für unsere Völker, sondern für alle Menschen auf der
Welt.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Christoph Strässer für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Königshaus, Sie tun so, als würden
wir die menschenrechtliche Komponente bei der ChinaDebatte vernachlässigen. Wir hatten aber in den letzten
drei Monaten wohl vier Debatten zu den Themen China,
Menschenrechte und Tibet sowie Große Anfragen und
Aktuelle Stunden. Wenn uns also jemand vorwirft, wir
würden die Thematik der Menschenrechte in China
nicht problematisieren, dann ist dies eine Konterkarierung der Realität im Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren.
({0})
Lassen Sie mich diese menschenrechtliche Thematik
in einigen Punkten ansprechen. Das Erste, was Johannes
Pflug erwähnt hat, ist mir ganz wichtig. Ich möchte nämlich an einem Beispiel aufzeigen, wie und in welchen
Dimensionen auch unterschiedliche Facetten der chinesischen Wirklichkeit deutlich werden. Er hat unseren
Versuch angesprochen, mit Bürgerrechtlerinnen und
Bürgerrechtlern in Peking ein Gespräch zu führen. Das
hat die Deutsche Botschaft mit fünf prominenten Menschen vorbereitet. Allerdings erreichte uns am Vormittag
jenes Tages die Nachricht, dass das Gespräch abgesagt
wurde. Wir haben natürlich gefragt, warum dieses Gespräch abgesagt wurde und ob es seitens der Chinesen
gecancelt wurde. Aber nein, die Antwort lautete: Diese
Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler hatten Angst. Sie hatten Angst, weil vor ihren Häusern die Staatssicherheit positioniert war. Sie hatten Angst, weil sie in
Anrufen bedroht worden sind und um ihre persönliche
Sicherheit fürchten mussten.
Nun ist etwas passiert, was ich hervorheben möchte,
wenn es um Werte in der Außenpolitik geht. In diesem
Zusammenhang möchte ich das Agieren unseres Außenministers ganz hoch einsortieren. Er hat nämlich seinen
Besuch an dieser Stelle genutzt und in Gesprächen mit
dem Vizeaußenminister der Volksrepublik China gefordert: Unser Gespräch mit der chinesischen Führung werden wir nur dann ordentlich weiterführen können, wenn
es ein Gespräch mit Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern in Peking geben wird.
({1})
Meine Damen und Herren, dieses Gespräch hat dann
letztendlich stattgefunden. Ich kann Ihnen auch über die
Wirkung dieses Gesprächs berichten, die es nicht nur bei
uns entfaltet hat; wir sagen nämlich immer, dass es uns
gut tut. Die Frau - sie ist die Sprecherin der Toten vom
Tiananmen-Platz -, mit der wir gesprochen haben, hat
uns in einer sehr bewegenden Rede Folgendes gesagt:
Das heutige Gespräch mit dem deutschen Außenminister
ist für mich so etwas wie ein Durchbruch in meiner politischen Arbeit. Das wünschen wir uns. - Sie ist uns unendlich dankbar dafür gewesen, dass wir es möglich gemacht haben, dieses Gespräch zu führen.
({2})
Ich will an diesem Punkt noch etwas anderes deutlich
machen; das betrifft das, was wir heute diskutieren. An
diesem Ereignis wird deutlich, welch unterschiedliche
Perspektiven die chinesische Innenpolitik aufweist. Auf
der einen Seite gibt es - das ist uns auch sehr deutlich
gesagt worden - Probleme mit einem stark beharrenden
Apparat, der zum Beispiel für das Aufstellen von Staatssicherheitseinheiten vor den Häusern der Bürgerrechtler
verantwortlich ist. Aber es gibt eben auch die andere
Seite dieser chinesischen Politik,
({3})
für die die Reformer stehen, die sich in der Konfrontation, die wir vor Ort erlebt haben, durchgesetzt haben,
indem sie dieses Gespräch ermöglicht haben.
Für mich ist eine der Erkenntnisse aus dieser Reise
unserer Delegation, dass wir uns fragen müssen: Wen
unterstützen wir eigentlich? Wen unterstützt die deutsche Außenpolitik und mit welchen Mitteln? Ich kann
nur sagen: Unser klarer Anspruch muss sein, diejenigen
politischen Kräfte in China zu unterstützen, die an dieser
Reformpolitik, so langsam sie auch vorangeht und so
schwer sie durchzusetzen ist, festhalten. Denn mit diesen
Menschen werden wir einen Dialog führen können, der
letztendlich die Volksrepublik China, was den Aspekt
Menschenrechte betrifft, voranbringt. Das ist die klare
Botschaft.
({4})
Ich möchte noch an zwei anderen Stellen deutlich machen, wo wir die Diskussion über Probleme im Zusammenhang mit den Menschenrechten fortführen müssen.
Der Präsident hat die abgesagte Reise des Menschenrechtsausschusses schon angesprochen. Ich füge hinzu:
Wir wenden uns hier in dieser Angelegenheit zwar an
unsere chinesischen Partner und an den chinesischen
Botschafter. Aber der Menschenrechtsausschuss hat auf
seine Bitte, dass auch andere Ausschüsse auf die Absage
der Reise reagieren mögen, keine Reaktion erfahren.
Wenn man gegenüber den Chinesen den Mund spitzt,
aber intern nicht pfeift, dann wird unsere Kritik nicht
ernst genommen werden. Diesen Punkt sollten wir in unseren Beratungen einmal ansprechen.
Aus unseren Gesprächen ergibt sich folgende Botschaft: Wenn wir einen Dialog wollen - Dialog ist kein
Selbstzweck, aber er ist wichtig; wir haben gesehen, dass
es an vielen Stellen vorangeht -, dann brauchen wir dafür einen Partner. Ich sage es jetzt einmal etwas salopp:
Wir können uns als Deutsche, als Europäer oder als internationale Gemeinschaft unsere Partner auf der anderen Seite nicht backen. Sie sind so, wie sie sind. Deshalb
finde ich es ausgesprochen gut und richtig, wenn wir von
hier aus signalisieren, dass wir darin übereinstimmen,
dass wir sie akzeptieren müssen.
Eine Botschaft von Helmut Schmidt, die schon
30 Jahre alt ist und die sich heute bewahrheitet, lautet:
Die westliche Besserwisserei, die in Peking an den Tag
gelegt wird, ist von Übel. - Ich kann mich dieser Feststellung nur anschließen und sagen: Wir wollen und
müssen diesen Dialog weiterführen. Denn er wird dazu
führen, dass die von China betriebene Öffnungspolitik
auch unter menschenrechtlichen Aspekten unumkehrbar
ist. Dafür sollten wir gemeinsam arbeiten und andere
Dissonanzen im Zusammenhang mit der Frage, wer eine
wertegebundene und ethisch verantwortungsvolle Außenpolitik macht, zurückdrängen. Menschenrechtspolitik soll den Menschen nutzen; daran sollten wir sie messen.
Auch ich sage der Bundesregierung herzlichen Dank
für die Antworten, aber auch für ihre konstruktive Menschenrechtspolitik gegenüber China, die in den letzten
Wochen und Monaten betrieben worden ist.
Danke schön.
({5})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt.
Bezüglich des Zusatzpunktes 4 wird interfraktionell
die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9745
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich
sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 46 a bis 46 d
sowie 46 f und 46 g auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen
Gleichbehandlung der Auftragsforschung
öffentlich-rechtlicher Forschungseinrichtungen ({0})
- Drucksache 16/5726 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Zusammenführung der Regelungen über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes
- Drucksache 16/9741 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Ulrike Höfken, Nicole Maisch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Forschung für den ökologischen Landbau ausbauen
- Drucksache 16/9345 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({3})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({4}), Jan Mücke, Patrick Döring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Verlängerung der Hauptuntersuchungsintervalle für Oldtimer mit H-Kennzeichen
- Drucksache 16/9480 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
f) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({6}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({7})
Mediennutzung und eLearning in Schulen
Sachstandsbericht zum Monitoring „eLearning“
- Drucksache 16/9527 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
g) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({9}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({10})
Zielgruppenorientiertes eLearning für Kinder
und ältere Menschen
Sachstandsbericht zum Monitoring „eLearning“
- Drucksache 16/9528 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe,
das ist der Fall. Dann sind auch diese Überweisungen so
beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 47 a bis
47 p sowie den Zusatzpunkten 5 a bis 5 m. Dabei handelt
es sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 47 a:
47 a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
… Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes und eines … Gesetzes zur
Änderung des Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 16/9300 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({12})
- Drucksache 16/9570 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Christian Lange ({13})
Jörg van Essen
Dr. Dagmar Enkelmann
Volker Beck ({14})
Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/9570, den Gesetzentwurf auf
Drucksache 16/9300 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit der gleichen Mehrheit, das heißt einstimmig, an-
genommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Druck-
sache 16/9811. Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 47 b:
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({15}) zu dem Antrag der Abgeordneten Claudia
Roth ({16}), Winfried Nachtwei, Marieluise
Beck ({17}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
20 Jahre nach Halabja - Unterstützung für die
Opfer der Giftgasangriffe
- Drucksachen 16/8197, 16/9150 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Uta Zapf
Harald Leibrecht
Kerstin Müller ({18})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/9150, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8197 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh-
lung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Enthaltung der FDP-Fraktion und Gegenstimmen der
Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 47 c:
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({19}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Winfried Nachtwei, Alexander Bonde,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
NATO-Gipfel für Kurswechsel in Afghanistan
nutzen
- Drucksachen 16/8501, 16/9431 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Schmidbauer
Uta Zapf
Monika Knoche
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/9431, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8501 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 47 d:
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({20})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Hofbauer, Dirk Fischer ({21}), Dr. HansPeter Friedrich ({22}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heinz Paula, Uwe Beckmeyer,
Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Zwölf-Tage-Regelung in Europa wieder einführen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Patrick
Döring, Horst Friedrich ({23}), Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Wiedereinführung der Zwölf-Tage-Regelung
in Europa unterstützen
- Drucksachen 16/9076, 16/7861, 16/9739 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Hofbauer
Patrick Döring
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/9739, den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Druck-
sache 16/9076 anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP-Frak-
tion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 47 d. Der
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9739
den Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Wieder-
einführung der Zwölf-Tage-Regelung in Europa unter-
stützen“ auf Drucksache 16/7861 mit einbezogen. Über
diese Vorlage soll jetzt ebenfalls abschließend beraten
werden. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann
können wir so verfahren.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des eben genannten
Antrags der Fraktion der FDP. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der
Fraktion der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 47 e:
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({24}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zum Schutz des Klimas vor Veränderungen durch den Eintrag bestimmter
fluorierter Treibhausgase ({25})
- Drucksachen 16/9446, 16/9517 Nr. 2, 16/9731 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Michael Kauch
Lutz Heilmann
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9731, der Verordnung auf
Drucksache 16/9446 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkte 47 f bis 47 p: Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 47 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 431 zu Petitionen
- Drucksache 16/9616 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 431 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 47 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 432 zu Petitionen
- Drucksache 16/9617 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist auch die Sammelübersicht 432 mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 47 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 433 zu Petitionen
- Drucksache 16/9618 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 433 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 47 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 434 zu Petitionen
- Drucksache 16/9619 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 434 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 47 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 435 zu Petitionen
- Drucksache 16/9620 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 435 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 47 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 436 zu Petitionen
- Drucksache 16/9621 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 436 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen
der Fraktion der FDP angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 437 zu Petitionen
- Drucksache 16/9622 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 437 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen der Fraktion der FDP und Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 47 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 438 zu Petitionen
- Drucksache 16/9623 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 438 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 47 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 439 zu Petitionen
- Drucksache 16/9624 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 439 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen der Fraktionen der FDP und Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 47 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 440 zu Petitionen
- Drucksache 16/9625 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 440 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP
und der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 47 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 441 zu Petitionen
- Drucksache 16/9626 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 441 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 5 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({5}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Einhundertsiebte Verordnung zur Änderung
der Ausfuhrliste
- Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 16/9211, 16/9391 Nr. 2.1, 16/9698 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulla Lötzer
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9698, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 16/9211 nicht zu verlangen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDPFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion der Linken angenommen.
Zusatzpunkt 5 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({6})
Übersicht 11
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 16/9782 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 5 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({7})
zu den Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
2 BvE 2/08 und 2 BvR 1010/08
- Drucksache 16/9783 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({8})
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, eine Stellungnahme zu den Streitsachen vor
dem Bundesverfassungsgericht abzugeben und den Präsidenten zu bitten, Professor Dr. Dr. h. c. Ingolf Pernice
als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt
dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Zusatzpunkte 5 d bis 5 m. Es handelt sich noch einmal um Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 442 zu Petitionen
- Drucksache 16/9767 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 442 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 5 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 443 zu Petitionen
- Drucksache 16/9768 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Auch die Sammelübersicht 443 ist einstimmig
angenommen.
Zusatzpunkt 5 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 444 zu Petitionen
- Drucksache 16/9769 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 444 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 5 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 445 zu Petitionen
- Drucksache 16/9770 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 445 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 5 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 446 zu Petitionen
- Drucksache 16/9771 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 446 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 5 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 447 zu Petitionen
- Drucksache 16/9772 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 447 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 5 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 448 zu Petitionen
- Drucksache 16/9773 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 448 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen
der FDP-Fraktion angenommen.
Zusatzpunkt 5 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 449 zu Petitionen
- Drucksache 16/9774 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 449 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 5 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 450 zu Petitionen
- Drucksache 16/9775 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 450 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 5 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 451 zu Petitionen
- Drucksache 16/9776 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 451 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Haltung der Bundesregierung zur unrechtmäßigen Einleitung radioaktiver Lauge in das
ehemalige Salzbergwerk Asse II
Bevor ich die Aussprache eröffne, will ich Sie darauf
hinweisen, dass mir eine Rednerliste vorliegt, deren Reihenfolge aufgrund grundsätzlicher Vereinbarungen zwischen den Fraktionen erstellt wurde. Nachdem sie
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
erstellt worden war, äußerte die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen den Wunsch nach Änderung der Reihenfolge.
Diesem Änderungswunsch haben einige der anderen
Fraktionen widersprochen. Deshalb liegt die Entscheidung über die Reihenfolge der Redner bei mir. Ich
möchte es so handhaben, dass die Redner in der Reihenfolge sprechen, die zunächst vereinbart war; davon
möchte ich Sie in Kenntnis setzen.
Nun können wir mit der Aktuellen Stunde beginnen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin Schavan! Sehr verehrter Herr Minister Gabriel von dem ich erwartet hätte, dass er der Fraktion, die
diese Aktuelle Stunde beantragt hat, die Möglichkeit
gibt, mit ihrem zweiten Redebeitrag auf ihn zu reagieren!
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zum zweiten Mal,
seit ich Mitglied des Bundestages bin, debattieren wir
die Problematik Asse II, wieder auf Antrag der Grünen.
Schon beim ersten Mal haben wir Sie, Minister Gabriel,
aufgefordert, die Zuständigkeit für die Asse an sich zu
nehmen - nicht um Sie zu ärgern oder um Ihnen irgendein Versäumnis vorzuwerfen, sondern weil sich
schon damals abzeichnete, dass die nach bergrechtlichem Verfahren agierenden Betreiber mit der Einschätzung der Gefahrensituation heillos überfordert waren.
Schon damals war der Skandal groß genug.
Tausende von Jahren dauere es, bis die zufließende
Lauge, von der niemand weiß, woher sie kommt, in die
Kammern mit Atommüll eindringen könne. Diese Aussage traf die betreibende Helmholtz-Gemeinschaft im
letzten Jahr, wohl wissend, dass es seit Jahren verstrahlte
Lauge und Überschreitungen des Grenzwertes um das
bis zu Elffache gibt. So große Lockerheit bei einem
Standort, dessen Gebirgsschichten grundwasserführend
sind!
Die Vorstellung, dass Caesium-137 ins Trinkwasser
gelangt - das ist nach der Studie des BfS nach spätestens
150 Jahren nicht mehr auszuschließen -, ist der reine
Horror.
({1})
Angeblich ohne sich bewusst zu sein, dass sie dafür eine
strahlenschutzrechtliche Genehmigung bräuchten, verbrachten die Betreiber das Caesium-137 kurzerhand
200 Meter tiefer, frei nach der beliebten Methode „Aus
den Augen, aus dem Sinn“.
Frau Ministerin Schavan greift in diese Debatte nicht
ein. Ich will ganz klar sagen: Frau Ministerin, für mich
als Grüne sind Sie in dieser Frage auch nicht die richtige
Ansprechpartnerin. Denn was soll ich von jemandem
fordern, der trotz dieser illegalen Machenschaften keinerlei Zweifel an der Zuverlässigkeit des Betreibers hat?
So darf man mit Atommüll nicht umgehen. Genau deshalb gibt es das Atomrecht.
({2})
Bisher mag Ihre Argumentation, Herr Gabriel, dass
wir das Fachwissen derer, die die Asse kennen, brauchen, noch gut genug gewesen sein. Aufgrund Ihrer gestrigen Äußerung im Umweltausschuss - Sie sagten, das
Wichtigste seien Fachkompetenz und Zuverlässigkeit stellt sich aber die Frage: Was muss noch passieren, bis
auch Sie öffentlich sagen: „Die können es nicht!“?
({3})
Fordern Sie den Statusbericht, Herr Gabriel! Das ist
nicht verkehrt. Schicken Sie eine Taskforce nach Niedersachsen; aber lassen Sie diese Taskforce auch eigene
Messungen vornehmen und nicht nur nachfragen! Auf
Aussagen und Messungen der Helmholtz-Gemeinschaft
würde ich mich an Ihrer Stelle nicht verlassen. Bringen
Sie Ihre niedersächsischen Genossen dazu, gemeinsam
mit den Grünen und den Linken die Einsetzung eines
Untersuchungsausschusses zu fordern! Wann, wenn
nicht hier, ist er nötig? Handeln Sie endlich!
({4})
Ihre Zusicherung aus dem Jahre 2007, beim geplanten
Zusammenwirken mit dem BMBF die Beachtung aller
atomrechtlichen und strahlenschutzrechtlichen Aspekte
zu gewährleisten, konnten Sie nicht einlösen. Aus all
dem - aus Ihrer Forderung nach Fachkompetenz und Zuverlässigkeit, aus dem Umstand, dass der Betreiber davon ausgeht, für den Transport radioaktiv verseuchter
Lauge keine strahlenschutzrechtliche Genehmigung zu
benötigen, und in Anbetracht des unglaublichen Informations- und Kommunikations-GAUs - ergibt sich nur
eine logische Konsequenz: Nehmen Sie die Asse II in
Ihre Verantwortung und stellen Sie sie unter Atomrecht!
({5})
Ich kenne Ihre Argumentation und weiß, dass Sie darauf
nicht wirklich Lust haben. Das kann ich gut verstehen.
Aber Sie können nicht länger die Taube auf dem Dach
spielen, Herr Minister; Sie müssen die Rolle des Spatzen
übernehmen.
Es ist nicht mehr an der Zeit, weiterhin, wie gestern
im Umweltausschuss Frau Flachsbarth für die Union
ausführte, konstruktiv mit allen Beteiligten zusammenzuarbeiten. Es ist an der Zeit, klare und transparente Verhältnisse zu schaffen.
Noch etwas, Herr Gabriel: Auch wenn Sie immer
wieder betonen, dass Asse II einerseits und Morsleben,
Schacht Konrad und Gorleben andererseits nichts miteinander zu tun hätten - durch die räumliche Nähe haben
sie das natürlich doch. Wie wollen Sie bei einer Bevölkerung, die diesen Endlager-GAU miterleben muss, jemals wieder Akzeptanz für irgendein Lager für Atommüll gewinnen? Das, Herr Minister Gabriel, ist
tatsächlich nicht das Problem von Frau Schavan, sondern Ihres.
({6})
Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der
Kollege Axel Fischer.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
Verantwortung dafür, was heute bei Asse II passiert,
liegt doch nicht bei Herrn Gabriel. Umweltminister
Trittin war als Niedersachse damals sicherlich gut über
Asse II informiert.
({0})
Die Grünen hatten sieben Jahre Zeit - von 1998 bis
2005, als sie an der Bundesregierung beteiligt waren -,
die von Ihnen heute beschriebenen Gefahren abzuwehren und das vermeintlich Gute, was Sie heute gefordert
haben, zu machen.
({1})
Wenn das, was Sie, Frau Kollegin Kotting-Uhl, heute
fordern, so sinnvoll wäre, hätten Sie es doch in diesen
sieben Jahren machen können. Dass das Bergwerk vollläuft, dass Salz nachrutscht, dass die Stabilität nachlässt
und der Abfall irgendwann nicht mehr herauszuholen
sein wird, war schon lange absehbar, auch zu Ihrer Regierungszeit. Wenn Sie das damals schon wussten, muss
man sich fragen, warum Sie sieben Jahre lang nichts getan haben. Das müssen Sie sich heute vorwerfen lassen.
({2})
Es stellt sich die Frage, warum wir heute im Rahmen
einer Aktuellen Stunde diese Debatte führen. Die Grünen haben auf ihrer Bundesdelegiertenversammlung
vom 8. März 1998 beschlossen, dass der Liter Benzin in
zehn Jahren 5 DM kosten soll.
({3})
Mit dieser Forderung sind Sie, Herr Fell, in den Wahlkampf gezogen. Jetzt sind die zehn Jahre um; der Liter
Benzin kostet heute umgerechnet etwa 3 DM. Das hat einen handfesten Grund: Sie wurden vor drei Jahren - zum
Glück! - abgewählt.
({4})
Dafür knackt es jetzt an anderer Stelle: beim Strompreis. Knapp einen halben Euro muss der Verbraucher
für die Einspeisung einer Kilowattstunde Solarstrom
zahlen. Rechnet man die Durchleitungskosten hinzu,
sieht man, dass der Bezug einer Kilowattstunde Solarstrom mehr als 50 Cent kostet. Die hohen Energiepreise
machen uns alle ärmer.
Strom aus Kernkraftwerken kann für 2 Cent die Kilowattstunde eingespeist werden. Das wissen die Bürgerinnen und Bürger.
({5})
- Das ist vollkommen richtig. Wir reden aber natürlich
auch darüber, warum wir heute über dieses Thema diskutieren.
({6})
Meine Damen und Herren, Sie wissen genau, dass die
Akzeptanz der Kernenergie insgesamt zunimmt.
({7})
Es hat doch seinen Grund, warum Frankreich, England
und die Schweiz neue Kernkraftwerke bauen wollen.
Eine Weiternutzung bestehender deutscher Kernkraftwerke liegt in unser aller Interesse. Es macht nämlich
wenig Sinn, eine kostengünstige und CO2-freie Stromerzeugung
({8})
einfach aufzugeben.
({9})
Das spüren auch die Menschen.
Den Grünen geht es bei dieser Diskussion - wie bei
vielen anderen Tagesordnungspunkten - darum, die
Kernenergie in Deutschland auch aus ideologischen
Gründen insgesamt schlechtzureden. Wir müssen aber,
wenn Sie diesen Tagesordnungspunkt schon beantragen,
über die berechtigten Sorgen und Ängste der Bürger reden.
({10})
Dafür ist eine Aktuelle Stunde weniger geeignet als die
verantwortungsvolle Diskussion in den Ausschusssitzungen.
({11})
Ich bin mir sehr sicher, dass dieses Thema bei Bundesumweltminister Gabriel und Bundesforschungsministerin Schavan, bei der Bundesregierung, sehr gut
aufgehoben ist und dass wir auch im Ausschuss eine weitere verantwortungsvolle Diskussion zu diesem Thema
führen werden; natürlich haben wir sie auch schon geführt.
({12})
Es macht wenig Sinn, dass Sie hier versuchen, dieses
Thema zu instrumentalisieren, um Ihre Positionen nach
außen zu tragen. Wir müssen dafür sorgen, dass die
Axel E. Fischer ({13})
berechtigten Sorgen und Ängste der Bürgerinnen und
Bürger ernst genommen werden. Das liegt in unserer
Verantwortung.
Mir wäre es sehr recht, wenn Sie sich hier ein bisschen mehr mit einbringen könnten; denn ich sage es
noch einmal, Herr Trittin: Sie hatten sieben Jahre lang
Zeit und haben gar nichts getan. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie sogar die Forschungsmittel für Asse II
reduziert.
({14})
Das zeigt, mit welcher Verantwortung Sie da herangegangen sind, nämlich mit gar keiner. Heute versuchen
Sie mit dieser Debatte, das zu verschleiern.
({15})
Für den Bundesrat spricht nun der Minister für Umwelt und Klimaschutz des Landes Niedersachsen, HansHeinrich Sander.
({0})
Hans-Heinrich Sander, Minister ({1}):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren Abgeordnete! Das Salzbergwerk Asse II ist eine
radioaktive Altlast. Im Rahmen von Forschungsarbeiten
wurden in den Jahren 1967 bis 1978 rund 130 000 Fässer
mit schwach- und mittelradioaktiven Abfällen in diesem
Salzbergwerk eingelagert. Sie stammten größtenteils aus
der öffentlichen Hand. Dort wurden also Abfälle aus
Forschungsreaktoren und medizinische Abfälle zwischengelagert. In den 90er-Jahren ist ein Schließungskonzept entwickelt worden, um die Menschen in der Region vor diesen Abfällen zu schützen bzw. diese Abfälle
von der Biosphäre fernzuhalten.
Meine Damen und Herren, auch zur Zeit der rot-grünen Regierung ab 1998 ist dieses Bergwerk weiter betrieben worden. Herr Kollege Trittin, auch während Ihrer
Zeit als Bundesratsminister - 1990 hatten Sie noch die
Aufsicht über Asse II - und später als Bundesumweltminister haben wir im Lande nur wenig Unterstützung
von Ihnen erhalten.
({2})
Sehr geehrte Frau Kollegin Schavan und Herr Kollege Gabriel, seitdem Sie die Verantwortung übernommen haben - ich kann davon sprechen, weil ich auch
Ihre Vorgängerin in dieser Sache angeschrieben habe,
({3})
und zwar insbesondere hinsichtlich der für die Bevölkerung nicht ausreichenden Informationspolitik -, ist Bewegung in die Sache gekommen. Herr Gabriel, bei Ihnen
bedanke ich mich besonders, weil Sie auch als Wahlkreisabgeordneter Ihre Verantwortung wahrgenommen
haben und nicht mit Schuldzuweisungen auf die Landesregierung zugegangen sind,
({4})
sondern gemeinsam mit Ihrer Kollegin konstruktiv an
der Sache gearbeitet haben.
({5})
Um hier der Wahrheit Genüge zu tun, muss ich sagen:
Obwohl auch in den 90er-Jahren erhöhte Strahlenbelastungen festzustellen waren - wobei der Betreiber und
das Landesbergamt allerdings unterschiedlicher Ansicht
darüber waren, wo die Ursachen dafür lagen -, haben
wir als Umweltministerium erst am 12. dieses Monats
erfahren, dass es an zwei Stellen zusätzliche Strahlenbelastungen gab. Es ist nicht hinnehmbar, dass die Aufsichtsbehörde das erst so spät vom Landesbergamt erfährt,
({6})
weil das natürlich - das wissen alle hier in diesem
Hause, die Verantwortung tragen - zur Verunsicherung
in der Öffentlichkeit führt.
Von daher müssen wir ein Konzept entwickeln, mit
dem die Informationspolitik in Zukunft verbessert wird.
Herr Kollege Gabriel und Frau Kollegin Schavan, wir
müssen aber auch den Statusbericht möglichst bis Mitte
August fertigstellen.
Wir werden alle Beteiligten - sowohl Ihre Experten
aus dem Bundesumweltministerium als auch diejenigen
aus dem Bundesamt für Strahlenschutz in Salzgitter,
aber auch den Betreiber und das Landesbergamt - mit
einbinden, um ein Konzept zu entwickeln, wie wir weiter verfahren können. Wenn der Statusbericht vorliegt,
dann können wir - ich hoffe, dass alle Kräfte in diesem
Haus das unterstützen - das weitere Vorgehen festlegen
und klären, ob wir das vorhandene Schließungskonzept
weiterverfolgen oder ob zeitlich die Möglichkeit besteht,
Alternativen ins Auge zu fassen.
Über eines müssen sich alle - auch die Kolleginnen
und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen - klar sein:
Ab 2014 - das wird von keinem Wissenschaftler bestritten - ist die Standsicherheit des Bergwerks Asse nicht
mehr gegeben. Insofern geht es nicht um Schuldzuweisung, sondern darum, ein Konzept zu erarbeiten. Seit
Dienstag bin ich fest davon überzeugt, dass es uns gemeinsam mit dem Betreiber gelingen wird, noch in diesem Jahr ein Schließungskonzept zu erarbeiten. Das ist
notwendig, um mit der verbleibenden Zeit bis 2014 auszukommen.
Von wesentlicher Bedeutung dafür ist - das ist mir
sehr wichtig -, dass die Berichtsgruppe morgen ihre Arbeit aufnimmt. Wir haben alle Verantwortlichen - auch
Ihre Experten - schon morgen ins Ministerium eingeladen, um sofort damit zu beginnen.
({7})
Dabei werden wir auch den Landrat des Landkreises
Wolfenbüttel mit einbeziehen. Denn die Menschen vor
Ort müssen wissen, dass die Politiker handeln und sich
für sie einsetzen, statt zu dramatisieren, um irgendwelche politische Ziele zu verfolgen, wie es leider bei Ihnen
der Fall ist.
({8})
Daher appelliere ich an Sie, die Beteiligung der Öffentlichkeit mit zu unterstützen und Ihren Beitrag dazu
zu leisten. Herr Kollege Trittin, Sie haben seinerzeit den
schönen Arbeitskreis „AK End“ eingerichtet. Er ist zwar
in der Versenkung verschwunden, aber vielleicht besteht
jetzt die Chance, ein anderes Verfahren unter stärkerer
Beteiligung der Öffentlichkeit zu vollziehen.
In dem Sinne gehe ich davon aus, dass Sie unser Vorhaben unterstützen werden. Wir werden das Problem
Asse mit der Mehrheit in diesem Hause und mit der niedersächsischen Landesregierung lösen.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Jörg Tauss für die
SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich glaube in der
Tat, dass wir uns vor billigen Schuldzuweisungen hüten
sollten. Klar ist, Herr Minister, dass hinsichtlich des
bergrechtlichen Verfahrens und der Frage, inwiefern Berichte unterblieben sind - Frau Kollegin Griefahn hatte
damals schon als Umweltministerin gehandelt und entsprechende Informationen eingefordert -, eine Reihe
von Punkten diskutiert werden müssen. Darüber haben
wir gestern im Ausschuss beraten und mit dem Umweltministerium und dem Forschungsministerium eine Übereinkunft herbeigeführt. Herr Kollege Fischer, Sie
konnten gestern leider nicht an der Ausschusssitzung
teilnehmen. Wir haben eine Reihe interessanter Punkte
diskutiert, die alle in eine Richtung gehen.
Lustigerweise wird diese Debatte von Meldungen
überlagert - das ging schon heute Morgen im Frühstücksfernsehen los -, dass jetzt in Deutschland ein
Kernkraftwahlkampf geführt werden solle. Ich glaube,
gerade das Beispiel Asse II zeigt, dass wir als Sozialdemokraten guten Grund hätten, uns auf einen solchen
Kernkraftwahlkampf zu freuen. Das sage ich in aller
Deutlichkeit.
({0})
Klar ist: Kernkraft ist nicht billig; sie ist vielmehr die
teuerste Energie. In Baden-Württemberg hat die Kernkraft den größten Anteil an der Stromerzeugung. Diese
Situation ist unverantwortlich, was unter anderem das
Beispiel Tschernobyl zeigt. Kernkraft ist kein Ökostrom,
sondern sie ist dreckig. Dies beweist das Beispiel Asse.
({1})
Wir müssen Millionen, wenn nicht sogar Milliarden
Euro dafür aufwenden, den Abfall, der in früheren Jahren entstanden ist, zu entsorgen. Wie man damit umgehen kann, Herr Kollege Fischer, folgt nicht der Devise
„Klappe zu, Affe tot“, wie Sie es in der letzten Debatte
ausgedrückt haben. Leider ist es nicht so einfach.
({2})
- Ich rede nicht von den Brennstäben, sondern von dem
Material, das beispielsweise von der Wiederaufbereitungsanlage in Karlsruhe stammt und dort eingelagert
wurde. Das sind Urlasten der Kernenergie, die der Steuerzahler bezahlt und die beim Strompreis nicht berücksichtigt werden.
({3})
Das müsste man aber tun, wenn man eine ehrliche
Bilanz der Kernkraft ziehen wollte.
Ich nenne ein Beispiel. Bei uns in Karlsruhe wird gerade die Wiederaufbereitungsanlage abgebaut. Das sollte
ursprünglich 2 Milliarden DM kosten. Die Kosten liegen
nun bei 4 Milliarden Euro. Die endgültige Zahl steht
aber noch aus. Asse kostet uns pro Jahr 100 Millionen
Euro; das ist die aktuelle Zahl. Rechneten wir dies in den
Strompreis ein, wäre die Behauptung von der billigen
Kernenergie in diesem Land für jeden als Lüge erkennbar. Stünde uns dieses Geld zur Verfügung, könnten wir
vieles andere tun.
({4})
Zurück zu Asse. Es ist völlig klar, dass wir hier
schnellstmöglich vollständige Transparenz brauchen und
klären müssen, ob das, was wir in den letzten Jahren im
Vertrauen auf die bergrechtliche Situation toleriert haben, noch tolerabel ist. Ich halte es für richtig, dass wir
über ein atomrechtliches Verfahren oder zumindest über
ein dem Atomrecht vergleichbares Verfahren diskutieren.
({5})
Die Prüfmaßstäbe müssen in vollem Umfang den atomrechtlichen Genehmigungsverfahren entsprechen. Das
haben die Anwohner, die Menschen in Niedersachsen,
selbstverständlich verdient. Ein Bergamt, das nicht informiert, ist nicht geeignet, diese Aufgabe zu erfüllen.
({6})
Die Angriffe auf die Helmholtz-Gemeinschaft verstehe ich allerdings nicht. Dort sitzen Expertinnen und
Experten. Wir sind froh - darüber haben wir gestern im
Ausschuss diskutiert -, dass diese Fachleute uns in diesem aus wissenschafts- und forschungspolitischer Sicht
komplexen Bereich zur Verfügung stehen. Wen hätten
wir denn sonst? Ich halte es für richtig, dass die
Helmholtz-Gemeinschaft mit ihrer Kompetenz beteiligt
ist. Wir sollten uns an dieser Stelle vor Schuldzuweisungen hüten. Nicht die Helmholtz-Gemeinschaft, sondern
diejenigen haben die Verhältnisse verursacht, die irgendwann vor uns Atommüllfässer in Asse gelagert haben
nach dem Motto „Was weg ist, ist nicht mehr da; wir sehen es jedenfalls nicht mehr“. Heute müssen wir Hunderte Millionen Euro aufbringen, um die Folgen zu beseitigen.
({7})
Den berechtigten Sorgen der Bürgerinnen und Bürger
ist selbstverständlich Rechnung zu tragen. Dieses Thema
eignet sich nicht, um auf billige Art und Weise parteipolitische Vorteile zu erzielen. Dafür ist das Thema zu
ernst. Aber es ist gut, um einen Atomwahlkampf zu führen, wenn Sie es wünschen. Dann hätten wir zusätzliche
gute Argumente.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort der Kollege Hans-Kurt Hill.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Atommülllager Asse II geht es offenbar zu wie bei
Hempels unterm Sofa. Für mich ist es unfassbar, was da
abgeht. Nicht nur, dass der Betreiber des alten Salzbergwerks illegal Strahlenmüll eingelagert hat. Nein, der
Vorfall wird auch vom verantwortlichen CDU-Forschungsministerium und dem vor Ort verantwortlichen
Helmholtz-Zentrum München gezielt heruntergespielt.
Was ist geschehen? Erstens. Radioaktive Stoffe und
Abfälle wurden unter Missbrauch des Atomrechts eingelagert. Zweitens. Die Bevölkerung wurde ahnungslos gelassen. Drittens. Nun sollen die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler den Schaden bezahlen. All das lässt die
Bundesregierung offenbar kalt; denn sie zieht nicht die
richtigen Konsequenzen. Fest steht: Ohne die Menschen
vor Ort, die sogenannte Asse-Begleitgruppe, wäre das
Chaos nicht ans Tageslicht gekommen.
({0})
Dass diese Öffentlichkeit hergestellt wurde, ist zweifelsfrei dem jetzigen Bundesumweltminister zu verdanken,
der jetzt auch handelt. Allerdings könnte ich auch fragen, was Herr Gabriel als Ministerpräsident von Niedersachsen unternahm, als der Betrug in vollem Gange war,
oder was den grünen Umweltminister, Herrn Trittin, umtrieb, als er den Informationsfluss des Bundesumweltministeriums zu Asse II einfach abschnitt.
Klar ist: Hier geht es wieder einmal um das Verschleiern und Herunterspielen von radioaktiven Gefahren. Das
Helmholtz-Zentrum München hat den Salzstock Asse
30 Jahre lang mit öffentlichen Fördergeldern zur atomaren Endlagerforschung genutzt. Heute weiß man: Der
Betreiber wusste zu jeder Zeit, dass die Schachtanlage
einsturzgefährdet ist und dass es massive Wassereinbrüche gibt. Trotzdem hat er Teile des Atommülls wahrscheinlich unrückholbar verbuddelt.
({1})
Es wurden 77 Kubikmeter radioaktiv verstrahlter Lauge
und andere verstrahlte Betriebsabfälle in 925 Metern
Tiefe verklappt. Das war vorsätzlich und falsch.
Ich halte aber die Rolle des Landesbergamtes für entscheidend. Ich glaube nicht, dass diese als Genehmigungsbehörde weniger Informationen als der Betreiber
zu Asse II hatte. Über mindestens fünf Jahre hinweg
stimmte es der Umlagerung der verseuchten Lauge zu,
und zwar ohne weitere Prüfverfahren. Das ist Missbrauch von Rechtsvorschriften. Mit Gefahrenabwehr
nach Atomrecht hat das überhaupt nichts zu tun.
({2})
Aufzudecken ist, inwieweit sich das Landesbergamt
und das Helmholtz-Zentrum zum Zwecke der Verschleierung abgesprochen haben.
({3})
Es gibt hinreichende Erfahrungen aus der Atomwirtschaft, Herr Tauss, Gefahren herunterzuspielen und zu
verheimlichen. Warum sollte es hier anders sein? Ich erinnere an die Informationspolitik der Betreiber der
Atomkraftwerke von Brunsbüttel und Krümmel anlässlich der Zwischenfälle vor fast einem Jahr. Teile der
Bundesregierung - das ist schon angesprochen worden und auch die Atomlobby führen gerade eine verlogene
Werbekampagne zugunsten der Atomkraft auf allen Kanälen. Atomstrom ist und wird kein Ökostrom.
({4})
Was wir brauchen, ist Aufklärung über die Risiken
und Gefahren. Deshalb müssen jetzt die richtigen Konsequenzen gezogen werden: Dem Helmholtz-Zentrum
München ist die Betriebsgenehmigung zu entziehen.
({5})
Dabei muss der Betreiber aber in die Pflicht genommen
werden und den Schaden auf eigene Kosten beheben. Es
wäre ein weiterer Skandal, wenn wieder einmal die Bürgerinnen und Bürger die Zeche zahlen, während sich
einzelne mit öffentlichen Fördergeldern die Taschen füllen.
({6})
Ich habe gestern mit Bürgerinnen und Bürgern aus der
Region telefoniert, Herr Tauss.
({7})
Die Angst ist groß. Dabei sind zwei Dinge deutlich geworden. Da die Bundesregierung nicht gegen den Betreiber vorgeht, werden wieder einmal die Leute vor Ort die
Arbeit machen müssen und Anzeige erstatten.
Was die Strahlenbelastung betrifft, ist die Stimmung
wirklich auf dem Tiefpunkt. Das Bundesamt für Strahlenschutz hat deutlich gemacht, dass spätestens nach
150 Jahren mit dem Austritt von Radioaktivität über den
schon heute erlaubten Grenzwerten zu rechnen ist. Die
Menschen fragen sich daher: Warum sollten die Aussagen stimmen, dass zu keiner Zeit eine Gefährdung für
die Bevölkerung besteht? Die Linke fordert deshalb ein
Messprogramm für die Umgebungsluft und das Trinkwasser und eine unabhängige Überprüfung aller vorgenommenen Strahlenmessungen im Bergwerk.
({8})
Das Fazit ist und bleibt nach den Erkenntnissen von
Asse II: So schnell wie möglich raus aus der gefährlichen Atomenergie!
Vielen Dank.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Maria
Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Seit einigen Tagen ist bekannt, dass es im Versuchsendlager Asse II in der Nähe von Wolfenbüttel Laugenzuflüsse gibt, die mit Caesium-137 kontaminiert sind. Sowohl die Laugenzuflüsse als auch die mangelnde
Standsicherheit - in Gutachten wird davon ausgegangen,
dass das Bergwerk vermutlich nur noch bis Mitte des
kommenden Jahrzehnts ausreichend standsicher sei, um
Bergleute unter Tage arbeiten zu lassen - resultieren daraus, dass Asse II von 1909 bis 1964 als Salzbergwerk
genutzt wurde und durchlöchert ist wie ein Schweizer
Käse. Nach heutigen Maßstäben wäre es inakzeptabel,
einen solchen Salzstock als Endlager zu nutzen.
1965 aber kaufte das GSF-Forschungszentrum für
Umwelt und Gesundheit, heute das Helmholtz-Zentrum
München, im Auftrag des Bundes die Asse und führte
bis 1995 Forschungs- und Entwicklungsarbeiten für die
Endlagerung durch. Von 1967 bis 1978, bis Ministerpräsident Albrecht dem ein Ende setzte, fand die Einlagerung von mehr als 125 000 Fässern mit schwachradioaktivem Abfall und 1 300 Fässern mit mittelradioaktivem
Abfall statt.
Nach Beendigung der Forschungsarbeiten bereitet der
Betreiber die Schließung der Anlage vor. Das ist deshalb
ein höchst schwieriges Unterfangen, da der radioaktive
Abfall vermutlich zumindest zum Teil im Berg bleiben
muss. Man hatte ihn bei der Einlagerung nicht geordnet
abgestellt, sondern teilweise einfach in die Schächte gekippt und mit Salzabraum abgedeckt, was jetzt einen
bergmännischen Abbau mit Hacke und Spaten erforderlich machen würde. Dabei würde man die Bergleute
enormen Belastungen mit Radioaktivität insbesondere in
der Luft bei harter körperlicher Arbeit in Schutzanzügen
aussetzen. Wahrscheinlich hat man aber wegen der nachlassenden Standfestigkeit vermutlich gar nicht mehr die
Zeit, das Bergwerk zu räumen. Doch das wird derzeit
von der AG Optionsvergleich geprüft.
Eine geordnete Schließung ist aber ungemein wichtig
für Menschen und Umwelt, da seit 1988 Salzlauge ins
Bergwerk fließt, derzeit cirka 12 Kubikmeter am Tag.
Das Schließungskonzept muss verhindern, dass durch
das Wasser Radioaktivität aus dem Bergwerk in die Biosphäre gelangt.
({0})
Diese Situation ist für die Bürgerinnen und Bürger der
Standortgemeinden ungemein belastend. Um neues Vertrauen aufzubauen, haben das niedersächsische Umweltministerium als Kontrollbehörde vor Ort, das Bundesforschungsministerium, dem der Betreiber zugeordnet ist,
und das Bundesumweltministerium als oberste Überwachungsbehörde für den Umgang mit Radioaktivität im
Herbst 2007 im Zuge erweiterter Öffentlichkeitsbeteiligung vereinbart, Vertreter der regionalen Bevölkerung
eng in die Prüfung der unterschiedlichen Schließungskonzepte mit einzubeziehen. Nicht zuletzt durch diese
erweiterte Öffentlichkeitsbeteiligung wurde in den vergangenen Tagen die Kontamination von Teilen der Salzlauge bekannt. Zwar wusste der Betreiber bereits seit
einigen Jahren davon und hat dies auch dem niedersächsischen Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie
mitgeteilt. Doch von dort gelangte die Nachricht nicht,
wie eigentlich vorgeschrieben, zum niedersächsischen
Umweltministerium.
({1})
Darüber hinaus hat der Betreiber ohne strahlenschutzrechtliche Genehmigung die kontaminierte Lauge zusammen mit weiterem radioaktiven Abfall in die unterste
Sohle des Bergwerks, den sogenannten Tiefenaufschluss, verbracht. Laut Fachleuten besteht zwar keine
Gefahr für Mensch und Umwelt, allerdings wissen die
Experten noch nicht konkret, woher dieses Caesium-137
stammt. Das niedersächsische Umweltministerium als
Überwachungsbehörde hat daraufhin sofort eine weitere
Verbringung radioaktiven Materials in den Berg untersagt und bis auf Weiteres die Abstimmung aller Entscheidungen des LBEG bezüglich der Asse angeordnet.
Weiterhin haben der niedersächsische Umweltminister Sander, Bundesumweltminister Gabriel und die Bundesforschungsministerin Schavan am Dienstag in Berlin
vereinbart, bis August einen Statusbericht zur Situation
der Asse zu erarbeiten. Dabei helfen soll die Taskforce
aus Fachleuten von Bund und Land. Darüber hinaus sollen die Arbeiten zur Schließung der Asse - das ist insbesondere ein Optionsvergleich - sowie die Erstellung
({2})
der Langzeitsicherheits- und Störfallanalyse - darum
geht es eigentlich, Frau Künast - zügig vorangetrieben
werden.
({3})
Ich begrüße dieses Vorgehen der drei Minister ausdrücklich. Es geht darum, Frau Künast, keinen politischen
Profit aus dieser Sache zu schlagen,
({4})
sondern die Sorgen und Nöte der Anwohner ernst zu
nehmen.
({5})
Ziel aller Bemühungen muss es sein, die Bevölkerung
vor Ort und das Betriebspersonal jetzt und in Zukunft zu
schützen und Vertrauen in die Verantwortlichen zurückzugewinnen. Das Thema ist zu ernst für politische Spielchen und Schuldzuweisungen. Die Zeit ist zu knapp, um
akademisch über Vor- und Nachteile der Anwendung unterschiedlicher Rechtssysteme zu debattieren. Deshalb
begrüßt die Union, dass die drei Minister an der im
Herbst 2007 vereinbarten Zusammenarbeit festhalten. Es
geht jetzt darum, zügig ein Konzept für eine geordnete
und sichere Schließung der Asse zu erarbeiten, das die
Sorgen der Menschen aufnimmt und die offenen Fragen
der Bürger und Fachleute beantwortet.
({6})
Für die Unionsfraktion bitte ich deshalb die zuständigen Bundesministerien, den Ausschuss für Bildung und
Forschung sowie den Umweltausschuss regelmäßig über
den Fortgang der Arbeiten zu unterrichten.
({7})
Ich bitte sicherzustellen, dass trotz aller professionellen
Routine das Bewusstsein für die Notwendigkeit der besonderen Sorgfalt bei allen Beteiligten gewahrt bleibt.
({8})
Die Einrichtung eines Qualitätsmanagementsystems bei
der LBEG ist dazu ein guter Schritt.
Herzlichen Dank.
({9})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Jürgen Trittin das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Sander, Sie haben natürlich recht, wenn Sie mich
kritisieren.
({0})
In der Tat kann man mir vorwerfen, dass ich einen Minister, der sich mit einem T-Shirt, auf dem „Kernenergie
ist kerngesund“ steht, in Endlagern abbilden lässt, nicht
daran gehindert habe, Atomaufsicht in diesem Land zu
betreiben.
({1})
Ich kann Ihnen allerdings sagen: Wir hatten dazu einen
Vorschlag in die Föderalismuskommission eingebracht,
dessen Richtigkeit durch die Ausführungen von Frau
Flachsbarth unterstrichen worden ist. In der Tat ist es absolut notwendig, die Nuklearaufsicht, die Aufsicht über
die Atomkraftwerke und den Strahlenschutz, den Ländern wegzunehmen, damit sie nicht weiter in solchen
sach- und fachunkundigen Händen liegt.
({2})
- Lieber Herr Kollege, ich bin gerne bereit, über Verantwortung und über alle Fehler zu reden. Wir brauchen uns
nicht zu scheuen
({3})
- auch über die eigenen, Herr Eisel -, darüber zu reden.
Aber wenn das so ist, dann frage ich mich, warum die
CDU, die FDP und noch - ich vermute, das wird anders
werden - die SPD die Einsetzung des dafür notwendigen
Instruments, nämlich eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses, scheuen wie der Teufel das Weihwasser.
({4})
Gehen Sie doch voran! Machen Sie doch! Klagen Sie
doch Trittin an, und sagen Sie: Der ist verantwortlich!
Klären Sie das doch im Untersuchungsausschuss auf!
Aber setzen Sie sich dafür ein, anstatt auf Arbeitskreise
und weiteres Vertuschen zu setzen!
({5})
Zweite Bemerkung: Wir haben doch einen ganz einfachen Vorgang. Der Bundesumweltminister als Verantwortlicher hat eines festgestellt, nämlich dass er Zweifel
an der Zuverlässigkeit der Asse-Betreiber hat.
({6})
Der Bundesumweltminister hat recht, der Täter ist geständig. Die Bundesregierung antwortete auf meine
Kleine Anfrage: Nach den Erkenntnissen der Bundesregierung hat es das LBEG versäumt, das niedersächsische
Umweltministerium als Aufsichtsbehörde rechtzeitig zu
informieren und eine ausreichende strahlenschutzrechtliche Genehmigungsgrundlage für das Verbringen der
Lauge in den Tiefenaufschluss sicherzustellen. - Das ist
der Kern, da stellt sich die Frage der Verantwortung.
Wenn Sie, Herr Gabriel, sagen, der Betreiber ist unzuverlässig, dann schauen Sie auf Ihre rechte Seite. Da sitzt
der Betreiber, er heißt Annette Schavan. Das ist der
Punkt, an dem Handeln angesagt ist.
({7})
Ich will Ihnen eine ganz einfache Prophezeiung machen. Es wird noch Verschiedenes - auch die Rolle von
Frau Bulmahn - in dem Untersuchungsausschuss, den
Sie in Niedersachsen sicherlich mittragen werden, aufgeklärt werden. Es wird noch eine Weile diskutiert, und
es werden Statusberichte geschrieben. Am Ende - da
sind wir beide sicher - ist das Ergebnis eindeutig: Es
wird nicht mehr die Helmholtz-Gemeinschaft sein, und
es wird nicht mehr das Bergrecht sein, die die Schließung dieses Bergwerks organisieren, sondern es wird die
Institution sein, die das fachkundig zum Beispiel schon
in Morsleben und anderswo gemacht hat, nämlich das
Bundesamt für Strahlenschutz.
({8})
Wenn Sie einen kollegialen Rat hören wollen, dann sage
ich Ihnen: Entscheiden Sie das schnell! Entscheiden Sie
es selber, anstatt dazu gedrängt zu werden! Noch ist dazu
Zeit.
({9})
Letzte Bemerkung: Asse ist nicht irgendein Salzstock.
Asse war das Vorbild für Gorleben. Asse ist von Herrn
Professor Kühn, dem Hauptgutachter für Gorleben, begutachtet worden. Ich rufe gerne in Erinnerung, was
Herr Professor Kühn im Jahr 1967 über die Asse geschrieben hat:
Es lässt sich aus allen Gegebenheiten schließen,
dass die Gefährdung der Schachtanlage Asse II
durch Wasser oder Laugeneinbrüche als minimal
anzusehen ist bzw. mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit sogar auszuschließen ist. Vielmehr lässt sich die diesbezügliche Situation gerade
auch im Vergleich mit anderen Salzvorkommen als
durchaus günstig bezeichnen.
Wenn die Asse in ihren Grundvoraussetzungen gegen
Laugeneinbruch im Vergleich zu anderen Salzstöcken
geologisch eine günstige Situation aufweist, dann spätestens ist es an der Zeit, die Frage eines Auswahlverfahrens mit Blick auf Gorleben, die Orientierung auch auf
andere Wirtsgesteine statt auf Salz endlich auf die Tagesordnung zu setzen.
({10})
Wer jetzt so tut, als seien die Vorkommnisse in der
Asse nur ein peinlicher Zwischenfall gewesen, der verkennt, dass genau diese die Fragen zur Eignung von
Gorleben als Endlager neu aufwerfen. Hören Sie, die
Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, endlich auf,
bei dem Auswahlverfahren für ein Endlager einen Vergleich unterschiedlicher Wirtsgesteine, wie der Bundesumweltminister ihn durchführen möchte, zu blockieren! Nur dann werden Sie Ihrer Verantwortung für die
Zukunft gerecht.
({11})
Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung. Ich habe
gestern von Herrn Pofalla, dem Nachfolger von Herrn
Hintze,
({12})
gehört, Atomenergie sei Ökoenergie.
({13})
Das wäre die erste Ökoenergie, bei der man damit rechnen muss, dass sie Caesium, Plutonium und andere
Stoffe an die Biosphäre und an das Trinkwasser abgibt.
Wenn das Öko ist, dann bin ich kein Öko mehr!
Vielen Dank.
({14})
Christoph Pries hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Versuchsendlager
Asse II ist der GAU der deutschen Atomindustrie.
126 000 Fässer schwach- und mittelradioaktiven Atommülls lagern in einem Salzbergwerk, das feucht und einsturzgefährdet ist. Was lernen wir daraus?
Erstens. Die Halbwertzeit wissenschaftlicher Vorhersagen ist deutlich kürzer als die Halbwertzeit radioaktiver Stoffe.
({0})
Zweitens. Bei der Suche nach einem atomaren Endlager müssen Sorgfalt und Sicherheit immer höchste Priorität haben.
Drittens. Atomenergie ist keine Ökoenergie.
({1})
Sie ist eine Hochrisikotechnologie und produziert radioaktiven Abfall, der für Jahrtausende sicher gelagert werden muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union, Sie wollen der Atomenergie ein Ökolabel aufkleben. Dann müssen Sie den Menschen ehrlich sagen:
({2})
Eine Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke um zehn Jahre bedeutet 3 500 Tonnen
hochradioaktiven und 8 000 Kubikmeter schwach- und
mittelradioaktiven Abfalls zusätzlich. Die SPD-Bundestagsfraktion will das nicht. Wir stehen auch deshalb weiterhin zum Atomausstieg.
({3})
Die Geschichte des Versuchsendlagers Asse ist ein
einziges Sammelsurium von Fehlprognosen und Intransparenz. Das neueste Kapitel dieser Geschichte ist die
Entsorgung von 77 000 Litern radioaktiver Lauge. Seit
2004 tritt auf der 750-Meter-Sohle Lauge auf, die mit
Caesium-137 kontaminiert ist. Die Caesium-Konzentration in der Flüssigkeit überschreitet den zulässigen
Grenzwert zum Teil um das Achtfache. Es ist nicht auszuschließen, dass die Lauge durch Kontakt mit dem eingelagerten Atommüll kontaminiert wurde.
Die Betreibergesellschaft hat diese Lauge aufgefangen und zwischen Februar 2005 und Januar 2008 auf der
975-Meter-Sohle nicht rückholbar entsorgt. Diese Entsorgung geschah ohne eine ausreichende strahlenschutzrechtliche Genehmigung, ohne Kenntnis der atomrechtlichen Aufsichtsbehörden und selbstverständlich ohne
Information der Öffentlichkeit.
Die Verantwortlichen haben die kontaminierte Lauge
nach eigenen Angaben aus Gründen des betrieblichen
Strahlenschutzes entsorgt. Wie kommt es dann, dass wir
in den jährlichen Strahlenschutzberichten nicht ein Wort
darüber finden? Wie kommt es darüber hinaus, dass wir
aus dem zusammenfassenden Laugenbericht vom
29. Februar 2008 alles Mögliche erfahren, nur nichts
über die vor der Einlagerungskammer 12 genommenen
Proben? Wie kommt es schließlich, dass die Wahrheit
erst auf kritische Nachfragen von Kommunalpolitikern
und Journalisten hin scheibchenweise ans Licht gekommen ist?
Informationen wurden der Öffentlichkeit ganz bewusst vorenthalten. Aus diesem Grund hat die SPDBundestagsfraktion erhebliche Zweifel an der Zuverlässigkeit der Betreibergesellschaft. Wir begrüßen daher,
dass Bundesumweltminister Gabriel diese Zuverlässigkeit nun überprüfen lässt.
({4})
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt zugleich die
Einsetzung einer Taskforce zu Asse II. Wir erwarten,
dass dadurch endlich alle Fakten zur und alle Missstände
in der Asse auf den Tisch kommen. Sehr geehrter Herr
Bundesumweltminister, unsere Unterstützung haben Sie.
Wie Sie nehmen auch wir die Sorgen der Bevölkerung
im Landkreis Wolfenbüttel sehr ernst. Für uns gilt:
Erstens. Es dürfen keine Maßnahmen vorgenommen
werden, die ein alternatives Schließungskonzept oder
eine vollständige bzw. teilweise Rückholung der eingelagerten Abfälle unmöglich machen.
({5})
Zweitens. Vor einer Entscheidung über den Abschlussbetriebsplan müssen alle Optionen eingehend geprüft werden. Die sicherste, nicht die einfachste Lösung
muss den Zuschlag erhalten.
({6})
Drittens. Auch eine Schließung der Asse nach Bergrecht muss den Prüfungsmaßstäben bei einem atomrechtlichen Genehmigungsverfahren in vollem Umfang
genügen.
Viertens. Die umfassende Information und Einbindung der Bevölkerung muss während des gesamten Verfahrens gewährleistet sein.
In diesem Zusammenhang möchte ich an alle Beteiligten appellieren: Arbeiten Sie konstruktiv zusammen!
Asse II ist ein Problem, für das wir alle verantwortlich
sind. Nicht formale Ressortzuständigkeit, sondern Kompetenz muss den Ausschlag geben. Das sind wir den
Menschen im Landkreis Wolfenbüttel schuldig.
({7})
Ich möchte meine Ausführungen mit einem Dank beenden. Mein Dank gilt Umweltminister Gabriel für sein
schnelles und konsequentes Handeln.
({8})
Mein Dank gilt aber auch den Kommunalpolitikern im
Landkreis Wolfenbüttel. Nur deshalb, weil im Umweltausschuss des Kreistages beharrlich Fragen gestellt werden, diskutieren wir heute über die Missstände im Versuchsendlager Asse II. Dieses Engagement sollte man
auch von dieser Stelle aus einmal würdigen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Jochen-Konrad Fromme hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Beitrag des Kollegen Trittin war ein Beweis
dafür, dass hier ein Stellvertreterkrieg geführt werden
soll.
({0})
Ich empfinde es als zynisch, dass mit den Ängsten der
Menschen Politik betrieben wird. Unsere Aufgabe ist,
uns um die Sicherheit der Menschen vor Ort zu kümmern. Es ist eine Erblast, mit der wir es zu tun haben.
({1})
Unser erstes Ziel muss sein, alles zu tun, was den Menschen dient.
({2})
- Herr Kollege Trittin, ich will Ihnen einmal Folgendes
sagen: Wer mit dem Finger auf andere zeigt, der zeigt
mit zwei Fingern auf sich selbst.
({3})
Sie waren von 1990 bis 1994 in Niedersachsen verantwortlich, Sie waren von 1998 bis 2005 im Bund verantwortlich, und da ist nichts passiert.
({4})
2005 hat es einen Kulturwechsel in der Frage des
Umgangs mit der Asse gegeben; denn seitdem herrscht
Offenheit, und wir kümmern uns um die Menschen. Die
Kollegin Schavan war die erste verantwortliche Forschungsministerin, die vor Ort war.
({5})
Bundesumweltminister Gabriel war als zuständiger Minister vor Ort. Sie, Herr Trittin, habe ich da noch nie gesehen, obwohl Sie lange für diese Fragen zuständig waren.
({6})
Dass die Informationen heute öffentlich sind, ist ein
Zeichen der neuen Kultur.
({7})
Erst die Tatsache, dass wir alles auf den Tisch gelegt haben, hat den Landkreis in die Lage versetzt, die Fragen
zu stellen.
Nun sage ich ganz offen: Transparenz hat für mich
auch etwas mit aktivem Handeln zu tun. Das bedeutet:
nicht nur auf Anfrage auf den Tisch legen, sondern selbst
Hinweise geben. Das ist hier nicht geschehen. Insofern
müssen wir besser werden.
Seit 2007 gibt es die Vereinbarung darüber, wie wir mit
diesen Dingen umgehen. Seitdem - das ist der Punkt - hat
sich vieles geändert. Wir haben die Menschen dort ernst
genommen und ihnen gesagt: Wir müssen uns um die
Sache kümmern. - Übrigens war ich schon viel öfter und
viel früher da als andere, selbst in der Zeit, als wir noch
in der Opposition waren. Ich glaube, es gibt kaum jemanden hier im Raum, der sich so oft um die Angelegenheiten dort gekümmert hat.
({8})
Wir haben die Asse-Begleitgruppe eingesetzt. Wir haben den Optionenvergleich eingeleitet. Ich sage es noch
einmal: Die Tatsache, dass wir heute darüber diskutieren, hat ihre Wurzel
({9})
in unserem veränderten Verhalten.
Entscheidend ist nicht die Frage, nach welchem Recht
man vorgeht. Im Hinblick auf Technik und Sicherheit
kommt es auf den richtigen Lösungsweg an, und es ist
völlig egal, ob wir den nach Bergrecht oder nach Atomrecht beschreiten.
({10})
Wenn wir aber noch lange Symposien darüber durchführen, dann verlieren wir Zeit, die die Menschen vor Ort
nicht haben. Darum geht es doch.
({11})
Ich sage Ihnen: Wir haben die positiven Elemente des
Atomrechts, nämlich die Öffentlichkeit, und die positiven Elemente des Bergrechts, nämlich die vermehrten
Klagemöglichkeiten der Bürger, im Verfahren freiwillig
verbunden. Wir haben sozusagen das Optimum aus beiden Rechtsgebieten gebildet. Etwas Besseres kann es
doch nicht geben.
Jedem, der heute Kritik daran übt, stelle ich immer
wieder die Frage, was er gemacht hat, als er die Möglichkeit hatte, zu handeln.
({12})
Ihnen, die Sie die heutige Aktuelle Stunde beantragt haben, kann ich nur sagen: Sie sollten sich schämen und
mit einem roten Kopf hier herauslaufen, weil Sie in den
Jahren, in den Sie Regierungsverantwortung trugen
- immerhin sieben Jahre Berlin und vier Jahre Hannover -,
nichts gemacht haben.
({13})
Sie sind doch die Letzten; denn - ich sage es noch einmal - Sie wollen sich gar nicht um Asse kümmern, sondern hier einen Stellvertreterkrieg führen. Das finde ich
nicht in Ordnung.
({14})
Zu dem Vorschlag, einen Untersuchungsausschuss
einzusetzen, sage ich: Das bringt uns, so reizvoll das
wäre, weil man da gerade Ihre Rolle, Herr Trittin, ganz
besonders gut beleuchten könnte, nichts.
({15})
Bündeln wir doch die Kräfte, um die Probleme anzupacken und technisch nach dem besten Weg zu suchen.
Egal, wie man zu den einzelnen Fragen steht, eines
steht doch fest: Wir haben verstrahlte Abfälle aus der
Medizin, aus der Forschung.
({16})
Ich habe noch nie gehört, dass Sie Nuklearmedizin ablehnen. Ich für mich persönlich lehne sie auch nicht ab.
Aber wenn man sie nicht ablehnt, dann muss man sich
auch um die Reste kümmern.
({17})
Deswegen brauchen wir Endlagerung, unabhängig von
der Energiefrage, bei der ich natürlich eine andere Auffassung habe als Sie. Das ist selbstverständlich, weil Sie
ja in den letzten Jahren nichts dazugelernt haben.
Meine Damen und Herren, deswegen sage ich: Es ist
verlogen, wenn man sich hier hinstellt und so tut, als
wenn man etwas für die Menschen tun wollte, aber in
Wahrheit nur Klamauk macht, um eine ganz andere
Frage zu diskutieren.
({18})
Lassen Sie uns doch die Sorgen der Menschen vor Ort
ernst nehmen und uns darum kümmern.
({19})
Ich sage Ihnen: Anders als Sie tun wir das.
({20})
Jetzt spricht der Kollege Klaus Hagemann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem ich
die aufgeheizte Debatte verfolgt habe, stellt sich mir nun
die Frage: Wie wirken sich diese Entwicklungen finanziell aus? Das ist die Hauptfrage; denn es geht ja darum,
eine Antwort auf die Frage zu finden, ob die Nutzung
von Atomenergie umweltfreundlich und preiswert ist.
Als Erstes frage ich mich: Für wen ist sie preiswert?
({0})
Ist sie für die Atomwirtschaft oder für den Steuerzahler
und die öffentliche Hand preiswert?
Wir diskutieren über Asse, aber das Thema ist noch
wesentlich komplexer; der Kollege Tauss hat das eben
schon angerissen. Ich möchte das nun aus finanzieller
und haushalterischer Sicht noch einmal etwas beleuchten. Es geht ja nicht nur um diese Einrichtung, sondern
es gibt noch 10 bis 15 weitere Einrichtungen, wo atomarer Abfall entsorgt wird. Hier fallen auch entsprechende
Kosten an, die bei keinem Preisvergleich zwischen atomarer und nichtatomarer Energie berücksichtigt werden.
({1})
Vielmehr werden sie vom Steuerzahler bezahlt. Diesen
Aspekt müssen wir auch mit einbeziehen.
Lassen Sie mich zunächst noch einiges zu Asse aus finanzieller Sicht hinzufügen: Im Finanzplan sind bis zum
Jahr 2017 insgesamt 775 Millionen Euro vorgesehen;
diese Zahl sollte man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Es handelt sich um Barmittel, aber logischerweise auch um Verpflichtungsermächtigungen, weil man
ja so weit in die Zukunft plant. Im Plan ist vorgesehen,
dieses Jahr 57 Millionen Euro auszugeben. Frau Ministerin Schavan hat gestern, so ist mir berichtet worden, im
Bildungsausschuss gesagt, dass die 57 Millionen Euro
nicht reichen und wir wahrscheinlich 100 Millionen
Euro brauchen, zu 100 Prozent vom Bund finanziert.
Man sieht also, dass die Schätzungen nicht mit der
Realität übereinstimmen und dass wir mehr brauchen
werden.
({2})
- Ja.
Dem Haushaltsausschuss ist ein Bericht vorgelegt
worden. Darin wird die Frage der Rückstellungen beantwortet. Ich darf daraus zitieren:
Die als Rückstellungen in den Passiva der Bilanzen
der Helmholtz-Gemeinschaftszentren ausgewiesenen Kostenschätzungen sind vielfach mit Unsicherheiten behaftet.
Wir sehen also, dass all diese Zahlen mit großen, dicken
Fragezeichen zu versehen sind. Wenn ich die Entwicklung in den letzten Jahren beobachte, dann stelle ich fest:
Sie sind nicht gleichmäßig leicht gestiegen, sondern
deutlich nach oben gegangen; das sei noch einmal herausgestellt. Die Helmholtz-Gemeinschaft wird zu
90 Prozent durch den Bund finanziert; auch das sollten
wir hier noch einmal deutlich machen.
({3})
Selbstverständlich muss gehandelt werden. Ich
glaube, da sind wir uns alle einig. Das oberste Prinzip
muss natürlich sein: Sicherheit der Menschen und der
Umwelt bedingt die Sicherheit der atomaren Anlagen.
Deswegen müssen sowohl alle technischen als auch alle
finanziellen Anstrengungen unternommen werden.
Wir haben uns schon im Herbst bemüht; das ist nicht
erst jetzt auf die Tagesordnung gekommen. Herr Bundesumweltminister, bei den Haushaltsberatungen haben
wir durchgesetzt, dass zwei Stellen aus dem Stellenplan
des Forschungshaushalts in Ihr Haus überwiesen werden, damit die Kontrolle dieser Maßnahmen im Bereich
Asse vorgenommen werden kann. Das ist nicht so leicht
gewesen. Beispielsweise die FDP hatte dagegengestimmt, Frau Flach.
({4})
Mit dem Koalitionspartner haben wir längere Diskussionen dazu gehabt.
Wir haben schon im Herbst im Haushaltsausschuss
beschlossen, dass jetzt, zum 30. Juni, ein Bericht über
Asse vorzulegen ist. Auch darauf möchte ich noch einmal hinweisen.
({5})
Die Finanzprobleme gelten nicht nur für Asse, sondern auch - Herr Tauss hat darauf hingewiesen - für die
Wiederaufbereitungsanlage in Karlsruhe. Da geht es um
- man höre und staune - 60 Kubikmeter atomar verseuchten Müll. Dieser Müll soll schon seit 20 Jahren entsorgt werden, und geschehen ist bisher nichts; man muss
es leider sagen. Man hat 1991 geschätzt: 2 Milliarden
DM sind zu bezahlen. Wir sehen heute, welche Summen
auf uns zukommen: Bis zum Jahr 2035 ist nach heutiger
Schätzung mit etwa 5 Milliarden Euro zu rechnen, und
zwar für die WAK und die anderen Forschungsreaktoren.
({6})
Ich sage noch einmal: 5 Milliarden Euro, die nirgendwo
eingestellt sind, müssen aufgebracht werden.
({7})
- Nicht für einen einzigen Reaktor, sondern für alle Forschungsreaktoren, in denen Atommüll eingelagert wird. Dieses Geld fehlt uns im Forschungshaushalt, um beispielsweise die Exzellenzinitiative zu finanzieren
({8})
oder das 3-Prozent-Ziel zu erreichen. Diese Kosten müssen in die Atomstrompreise einberechnet und gesamtgesellschaftlich gedeckt werden.
Ich verweise auf die Fixkosten, die in Karlsruhe zurzeit anfallen, und zwar für den Nullbetrieb. Obwohl
noch nichts geschieht, fallen dort Fixkosten an: Das sind
3 Millionen Euro im Monat, also 36 Millionen Euro im
Jahr. Noch kann dort nicht gehandelt werden, weil Genehmigungen nicht erteilt worden sind, weil Nachrüstungen vorgenommen werden müssen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Man hat in
Karlsruhe jetzt plötzlich ein bisher unentdecktes Fass gefunden. Man weiß noch nicht, was darin enthalten ist.
Auch hierdurch werden Mehrkosten entstehen. Hinzu
kommt: Ein verrückter Mensch hat atomaren Müll aus
Karlsruhe mit nach Hause nach Landau genommen. Daraufhin mussten neue Sicherheitsmaßnahmen ergriffen
werden. Dafür mussten zig Millionen Euro aufgebracht
werden. All diese Kosten müssen beim Atomstrom einberechnet werden; leider geschieht das nicht. Deswegen
sollten wir nicht weiterhin über neue Atomkraftwerke
reden. Die Zahlen machen das deutlich.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat der Bundesminister Sigmar Gabriel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
bei einer Reihe von Wortbeiträgen gedacht: Was werden
wohl die Menschen im Landkreis Wolfenbüttel, in Remlingen und in den umliegenden Ortschaften denken angesichts der begrenzten Bereitschaft einer Reihe von
Rednern, etwas dazu zu sagen, wie den Menschen vor
Ort geholfen werden kann?
Frau Kotting-Uhl, was haben Sie in Ihrem Redebeitrag eigentlich zum Problem und zur Lösung des Problems gesagt?
({0})
Meinem Eindruck nach gar nichts! Sie haben gesagt, wir
sollten das Verfahren wechseln, und es solle Atomrecht
gelten. Ihnen ist gar nicht aufgefallen, dass bei dem vorliegenden Problem das Atomgesetz die Grundlage der
Entscheidung des Bergamtes in Niedersachsen gewesen
ist. Und sie haben es falsch gemacht.
({1})
Das heißt, es scheint doch nicht um die Frage zu gehen, auf welchem Verfahrensweg man etwas betreibt,
sondern es scheint um die Frage zu gehen, ob ausreichend Kompetenz da ist und ob wir sie aufrüsten und
mehr tun müssen. Ich glaube nicht, dass es Sinn macht,
sich über die Frage zu unterhalten, welche Verfahrensschritte wir unternehmen. Ich glaube vielmehr, dass die
Leute einen Anspruch darauf haben, dass alle, die an diesem Thema beteiligt sind - das niedersächsische Landesbergamt, die Fachaufsicht in Niedersachsen, der Betreiber, die Leute im Forschungsministerium, die etwas
davon verstehen, und unsere Experten aus dem Bundesamt für Strahlenschutz und dem Bundesumweltministerium -, gemeinsam zusammenarbeiten, um das Problem
zu lösen. Es geht nicht darum, hier vor Ort Verfahrensspielereien zu betreiben.
({2})
Ich glaube übrigens, dass man über Gorleben lange
debattieren kann. Aber dass man, Frau Kotting-Uhl,
wirklich nichts anderes im Sinn hat, als anhand der Sorgen, die dort real existieren, sozusagen eine politische
Verantwortungsdebatte zu führen, um am Ende auf Gorleben zu sprechen zu kommen, wird der Problemlage vor
Ort in keiner Weise gerecht.
({3})
Deswegen sage ich Ihnen, was wir gemacht haben.
Wir haben 2007 zum ersten Mal ein gemeinsames Verfahren mit den eben beschriebenen Beteiligten vor Ort
organisiert. Wir, Frau Kotting-Uhl, haben uns dafür entschieden, die Vorschläge zur Stilllegung und zur Schließung des Bergwerks in der Asse ergebnisoffen zu überprüfen,
({4})
und zwar bis hin zu der Frage, ob wir dort nicht eine
Teilrückholung oder vollständige Rückholung einleiten
müssen; allerdings habe ich große Zweifel daran, dass
das jemals möglich sein wird.
Wir haben den Interessen der Bürgerinnen und Bürger
vor Ort Rechnung getragen. Wir haben gesagt: Wir werden erstmals dafür sorgen, das, was im Bergrecht nicht,
aber im Atomrecht verfahrensrechtlich geht, nämlich
eine Öffentlichkeitsbeteiligung, herzustellen. Und hier
hat Kollege Fromme absolut recht: Es ist doch erst durch
die Einrichtung dieser Begleitgruppe der Asse vor Ort
mit dem Landrat Jörg Röhmann, mit den Kritikern und
unter Einbeziehung externer unabhängiger Wissenschaftler gelungen, die Öffentlichkeit so zu beteiligen,
dass durch die Fragen, die jetzt gestellt wurden, die Probleme auf den Tisch des Hauses gekommen sind.
Ich habe nicht zu kritisieren, was in der Amtszeit meiner Vorgänger oder auch der Vorgängerinnen von Frau
Schavan passiert ist. Was ich allerdings nicht will, ist,
dass ausgerechnet Sie diejenigen kritisieren, die das endlich geändert haben. Das geht nicht.
({5})
Wir fordern den Langzeitsicherheitsnachweis. Das
Bundesamt für Strahlenschutz, von dem Sie sagen, dass
es zuständig sein soll, prüft den Langzeitsicherheitsnachweis. Wir haben große Zweifel daran, dass alle Fragen beantwortet worden sind. Wir haben gesagt: Ihr
müsst eine Störfallanalyse erstellen. - Die ist bis dahin
überhaupt nicht Gegenstand der Beratung gewesen.
Also, all das, was Sie einfordern - die Fachkompetenz
des Bundesamtes für Strahlenschutz und die des Bundesumweltministeriums -, ist in das Verfahren eingebracht worden, und es macht nicht viel Sinn, den Streit
darüber zu führen, ob es verfahrensrechtlich besser unter
Bergrecht oder unter Atomrecht fällt.
Ich sage Ihnen - das wissen Sie auch von mir -: Ich
bin natürlich der Überzeugung, dass eine Menge dafür
spricht, dass wir ein Bundesendlager nach § 9 a des
Atomgesetzes einrichten. Das wird auch weiter beraten
werden. Dazu gibt es - übrigens ausgehend von Ihrem
Banknachbarn - eine andere Rechtsauffassung. Denn
das Bundesumweltministerium hat früher die Auffassung vertreten, dass hier nach Bergrecht verfahren werden muss. Ich erspare es mir, Ihnen all das vorzulesen.
Es gab vorher unter dem Kollegen Trittin eine völlig andere Rechtsauffassung als die, die ich heute vertrete. Es
macht allerdings keinen Sinn, dass wir uns heute über
die Frage des rechtlichen Rahmens streiten.
({6})
Sind wir in der Praxis in der Lage, die Schritte einzuleiten, die gewährleisten, dass wir das richtige Schließungskonzept verfolgen? Ja oder nein? Hier sind der
Kollege Sander, die Kollegin Schavan und ich absolut
einer Meinung, dass wir es gemeinsam zu bewältigen
haben.
({7})
Daran gibt es keinen Zweifel, meine Damen und Herren.
({8})
In dem laufenden Verfahren ist es nach unserer Auffassung offensichtlich zu Rechtsverstößen gegen das
Strahlenschutzrecht gekommen. Wir werden jetzt überprüfen, was noch alles passiert ist. Wir wollen die Dokumentationen einsehen. Wir reden noch nicht über die
Schließungskonzepte; sie werden derzeit erst überprüft.
Wir wollen aber wissen, ob die Aussage des Kollegen
Sander zutrifft, dass die Standsicherheit des Grubengebäudes nur bis zum Jahre 2014 gewährleistet werden
kann. Die entscheidende Frage ist, ob wir überhaupt die
Chance haben, unterschiedliche Optionen zu verfolgen.
Niemand - auch Sie nicht - wird Bergleute mit einem
anderen Schließungskonzept als der Flutung dort hineinschicken können, wenn die Sicherheit des Grubengebäudes über 2014 hinaus nicht gewährleistet werden kann.
Wir wollen sicherstellen, dass auch geprüft wird, ob
durch technische Baumaßnahmen die Sicherheit des
Grubengebäudes nicht längerfristig aufrechterhalten
werden kann, zum Beispiel durch den Einsatz von Salzbeton. Bisher ist dort Salzgrus eingebaut worden und
nicht wie in Morsleben Salzbeton. Deswegen ist die Stabilität des Grubengebäudes dort nicht so hoch wie in
Morsleben. Wir wissen daher nicht, mit welchem Schließungskonzept wir am Ende vernünftigerweise arbeiten
müssen. Herr Kollege Sander hat recht, dass dies bis
zum Ende des Jahres geklärt sein muss.
Herr Kollege Hill, da Sie uns vorhin angegriffen haben, sage ich Ihnen: Beim Thema Morsleben können Sie
viel Kompetenz in Ihren Reihen finden. Wir bewältigen
da eine Altlast aus der DDR.
({9})
Machen Sie uns nicht zum Vorwurf, dass wir damit nicht
korrekt umgehen würden. Wir sind die richtige Behörde,
die vernünftig handelt.
({10})
Ich bin mir nicht ganz sicher, wie Sie vorhin Ihre Hinweise gemeint haben.
({11})
Gestatten Sie mir deshalb diese Bemerkung.
In der Sache selber wollen wir natürlich auch überprüfen, was eigentlich der Grund dafür ist, dass die
Helmholtz-Gemeinschaft bei der Anwendung des geltenden Strahlenschutzrechtes Vorschläge gemacht hat,
die zu Fehlentscheidungen führen, und warum die niedersächsische Bergbehörde dementsprechend falsch
reagiert hat. Natürlich gehört das auf den Tisch des Hauses. Wir haben Zweifel an der Fachkunde und Zuverlässigkeit des derzeitigen Betreibers.
Aber der nächste Schritt muss doch sein, zu klären,
wie man diese Zweifel ausräumen kann. Was immer wir
aufseiten der Betreiber verändern, so ist doch klar, dass
wir die, die dort arbeiten, auch in Zukunft auf Dauer
brauchen. Niemand kann doch auf die Idee kommen, die
jetzt dort arbeitenden Bergleute und Ingenieure auszutauschen.
({12})
Niemand hat mehr Kompetenz, was die Asse angeht,
als diejenigen, die dort arbeiten. Wir können ihnen nicht
vorwerfen, sie würden ihren Job nicht vernünftig machen. Es stellen sich vielmehr die Fragen: Ist die Prozesssteuerung sinnvoll? Ist das Management vernünftig
organisiert oder müssen wir da aufrüsten? Welche Leitfragen müssen die Basis für die Arbeit sein? Ich werfe
den Bergleuten und Ingenieuren doch nicht vor, sie würden falsch handeln. Die Prozesssteuerung läuft offensichtlich nicht korrekt.
({13})
Frau Kotting-Uhl, diese Leute und ihr Wissen brauchen
wir heute, morgen und leider auch noch übermorgen.
({14})
Ich will darauf hinweisen, dass das Problem nicht auf
triviale Art gelöst werden kann, indem wir das Verfahren
wechseln. Damit haben wir nichts gewonnen. Wir werden die Menschen auch weiterhin brauchen.
({15})
- Ich sage Ihnen einmal etwas zum Thema Verantwortung. Es gibt einen einzigen Vorfall, bei dem sich das
Bundesumweltministerium aufsichtsrechtlich eingeschaltet hat. Das war in der letzten Woche. Wir haben die
Verantwortung erstmals wahrgenommen. Davor hat sich
im Bundesumweltministerium niemand jemals rechtlich
eingeschaltet.
({16})
Machen Sie uns jetzt doch nicht den Vorwurf, wir würden unsere Verantwortung nicht wahrnehmen.
({17})
Der Kollege Jürgen Trittin ist der Letzte, dem man
vorwerfen könnte, er würde mit atomrechtlichen Fragen
nicht sorgfältig umgehen. Wir beide kennen uns ein paar
Tage länger aus unterschiedlichen Zusammenhängen.
Wir standen mal näher und waren mal etwas weiter voneinander entfernt. Ich werfe ihm nicht vor, dass er sich
damals bei der Entscheidung der Bundesregierung gegen
den Wechsel zum Atomrecht entschieden hat. Er wirft
mir meine Rolle heute ebenfalls nicht vor.
Ich bitte Sie, Frau Kotting-Uhl, Folgendes zu beachten: Wir wollen - das ist doch das, was Sie fordern - unserer Zuständigkeit als Bundesaufsicht gerecht werden.
Wir sind die oberste Strahlenschutzbehörde; deswegen
haben wir uns eingeschaltet. Wir sind die oberste Atomaufsichtsbehörde; deswegen haben wir uns eingeschaltet. Werfen Sie uns daher nicht das vor, was wir jetzt tun.
Genau das machen Sie aber heute.
({18})
Das werden wir uns von Ihnen nicht gefallen lassen. Da
können Sie sicher sein.
({19})
Letzte Bemerkung, was den Gesamtzusammenhang
mit der Region angeht. Frau Kotting-Uhl, Sie dürfen sich
bei der Debatte um die Endlagerung nicht wie Biedermann und die Brandstifter verhalten. Sie fragen uns
heute, wie wir vor Ort angesichts von Asse II Akzeptanz
für Schacht Konrad finden wollen. Um das zu erreichen,
dürfen Sie erstens nicht permanent Schacht Konrad in
der Öffentlichkeit infrage stellen.
({20})
Das ist unter anderem ein Projekt, für das Sie mitverantwortlich zeichnen. Zweitens müssen Sie den Menschen
die volle Wahrheit sagen, und die lautet, dass bei Konrad
der Langzeitsicherheitsnachweis, die Störfallanalysen,
also all das, was bei Asse II aufgrund der historischen
Dimension dieses Versuchsbergwerks nicht geschehen
ist, vorher stattgefunden hat. Das heißt, all die Probleme,
die wir heute haben, gibt es bei Konrad deshalb nicht,
weil vorher eine Prüfung stattgefunden hat und weil die
Mitarbeiter im Bundesamt für Strahlenschutz, die Sie für
kompetent gehalten haben, dafür geradegestanden haben
und der Auffassung sind: Konrad ist ein sicheres Endlager. Wenn Sie das den Menschen sagen und keine
scheinheiligen Fragen zu Schacht Konrad stellen, dann
werden Sie dazu beitragen, dass die Menschen vor Ort
Vertrauen in unsere Endlagerpolitik haben.
Herr Minister!
Wenn Sie aber immer wieder versuchen, Asse II in
Verbindung zu Konrad zu bringen, obwohl es keine Verbindung gibt, dann machen Sie das Gegenteil von dem,
was Sie hier einigermaßen scheinheilig vorgetragen haben. Darum geht es mir.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt Carsten Müller für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die heutige Debatte hat einiges gezeigt, vor allen Dingen aber eines - gestatten Sie mir diese Bemerkung als jemandem, der sowohl vom Schacht Konrad als
auch vom Schacht Asse II nicht weit entfernt wohnt -:
Die niedersächsische Landesregierung und die Bundesregierung nehmen die Sorgen der Menschen vor Ort
ernst.
Wichtig scheint mir allerdings die Feststellung zu sein
- das ist in der Diskussion etwas zu kurz gekommen -,
dass nach den Bekundungen der Bundesministerien
durch den heute an sich zu diskutierenden Vorgang,
nämlich das Umpumpen von radioaktiver Salzlauge,
nach heutigen Erkenntnissen ganz offensichtlich keine
Gefährdung für die Öffentlichkeit und die Belegschaft
im Schacht entstanden ist. Das ist eine wichtige Feststellung. Noch wichtiger ist, dass wir gemeinsam umgehend
dafür sorgen müssen, dass auch in Zukunft keine Gefährdung von der Schachtanlage Asse ausgeht, dass die
berechtigten Sorgen der Bevölkerung vor Ort Berücksichtigung finden und ihnen Rechnung getragen wird.
Darauf haben sich unsere gemeinsamen Anstrengungen
zu konzentrieren. Weil das so ist - auch das ist mehrfach
bekundet worden; leider ist es nicht von jedem Redner
beherzigt worden -, eignet sich das Thema dieser Aktuellen Stunde denkbar schlecht für parteipolitischen
Streit.
({0})
Aufgrund der vorangegangenen Redebeiträge möchte
ich Ihnen allerdings zwei Gesichtspunkte nicht ersparen, zum einen die Feststellung - Kollegin Flachsbarth
hat darauf richtigerweise hingewiesen -, dass es der
CDU-Ministerpräsident des Landes Niedersachsen,
Ernst Albrecht, war, der im Jahre 1977, also unmittelbar
nach seinem Amtsantritt, die Einlagerung insbesondere
des mittelradioaktiven Abfalls umgehend gestoppt hat.
Ich fand es zum anderen außergewöhnlich bemerkenswert - Kollege Gabriel ist eben darauf eingegangen -,
dass sich ein vorgeblicher Feuerwehrmann, der sich an
der Diskussion beteiligt hat, bei genauerem Hinschauen
eher als mitverantwortlicher Brandstifter entpuppt hat.
({1})
Beim Entpuppen - Frau Kotting-Uhl, Sie schauen etwas
ungläubig - versucht er, sozusagen durch lautes Geschrei Tumult auszulösen, um dann entwischen zu können. Das werden wir allerdings nicht zulassen.
({2})
Es ist eine Taskforce eingerichtet worden. Fachleute
aus dem Landesumweltministerium in Niedersachsen,
dem Bundesumweltministerium und dem Bundesforschungsministerium setzen sich zusammen und beraten
die Lage, das weitere Vorgehen - und das in großer
Transparenz. Das halte ich für außerordentlich wichtig;
das ist das berechtigte Anliegen der Menschen vor Ort,
({3})
des Landkreises, der interessierten Öffentlichkeit.
Ich möchte Bundesumweltminister Gabriel ganz ausdrücklich dafür danken, dass er in seinem Redebeitrag
eine außergewöhnlich differenzierte Betrachtung von
Asse II auf der einen Seite und anderen in Aussicht genommenen Endlagern auf der anderen Seite - beispielsweise Schacht Konrad und Gorleben - vorgenommen
hat. Nur so wird man den Schwierigkeiten und den Sorgen der Menschen vor Ort gerecht. Frau Kotting-Uhl, es
nutzt Ihnen nichts, weder kurz- noch mittel- noch langfristig, die Menschen weiter in Aufruhr und Angst zu
versetzen.
({4})
Wir müssen Lösungen finden.
({5})
Wenn Sie das abstreiten, empfehle ich Ihnen die Lektüre
Ihres eigenen Redebeitrages zu diesem Thema.
Ich möchte ausdrücklich der Bundesforschungsministerin Annette Schavan danken. Mit ihrem Besuch der
Schachtanlage am 9. Januar 2008 hat sie dieses Thema
ganz oben auf die bundespolitische Tagesordnung gesetzt. Das haben die Menschen in der Region - Sie können mir das glauben - wohltuend zur Kenntnis genommen. Ebenso nehmen sie wahrscheinlich die sachlichen
Redebeiträge von heute wohltuend zur Kenntnis. Ich unterstütze die Anstrengungen von Frau Schavan sehr. Ich
unterstütze auch die Forderung des niedersächsischen
Ministerpräsidenten Christian Wulff sehr, der sagt: Nun
schonungslose Offenheit und transparentes Vorgehen allenthalben,
({6})
Carsten Müller ({7})
damit wir die Bevölkerung, die berechtigterweise etwas
irritiert ist - der Bevölkerung geht es nicht anders als
uns -, informiert und unterrichtet halten.
({8})
Die Zeitachse ist dargestellt worden. Weil das ein
drängendes Problem ist, kann die Forderung von uns allen, die wir guten Willens sind, nur lauten: Das Problem
Asse II muss mit Sorgfalt, Sicherheit, Umsicht und vor
allen Dingen zügig gelöst werden. Ich hoffe, in dieser
Angelegenheit möglichst viele Mitstreiter zu finden.
Frau Kotting-Uhl, ich habe auch Sie noch nicht verloren
gegeben.
Vielen Dank.
({9})
Dieter Grasedieck spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Bürgerinnen und Bürger brauchen mehr
Transparenz. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen Zukunftslösungen. Das ist das Entscheidende. Darum müssen wir uns bemühen. Wir müssen die Sorgen der Menschen in diesem Gebiet ernst nehmen, und wir müssen
das Ganze aufarbeiten. Schuldzuweisungen und Vorwürfe sind manchmal unterhaltsam, wie diese Plenarsitzung zeigt, aber eigentlich sind Lösungen gefragt. Ich
muss Ihnen sagen: Unsere Bundesregierung ist diesbezüglich auf dem richtigen Weg,
({0})
und auch die Betreibergesellschaft bemüht sich, Hilfen
anzubieten.
Natürlich sind das echte Probleme. Asse macht deutlich, wie ohnmächtig wir manchmal sind und wie hilflos
wir auf solche Entsorgungsprobleme reagieren. Das Versagen der Behörden ist ein Thema; darüber haben Sie
ausführlich gesprochen. Wichtig sind die Lösungen, und
dafür brauchen wir belastbare Langzeitanalysen, die
vom Minister gerade angesprochen worden sind. Das ist
entscheidend; denn Atomkraft kostet uns schließlich viel
Geld; Klaus Hagemann hat vorhin schon darauf hingewiesen. Allein für die Stilllegung der Atomkraftwerke
sind im Langzeitprogramm der Bundesregierung 3 Milliarden Euro vorgesehen, für die Endlagerung fast 4 Milliarden Euro und für Morsleben - es ist vorhin schon gesagt worden, dass der Bund diese Kosten allein trägt 2 Milliarden Euro. Nein, Kernkraft ist kein billiger Ökostrom. Diese Aussage kann man nur unterstreichen.
({1})
Gestern waren Krümmel, Brunsbüttel und die schwedischen Atomkraftwerke unser Thema. Morgen wird vielleicht über andere Störfälle diskutiert werden. Heute diskutieren wir ausführlich über Asse II. In der Salzlauge
ist der Grenzwert um deutlich mehr als das Achtfache
überschritten worden. Das ist nicht zu vertreten. Wir
müssen die Gefahren sehen und die Probleme der Bürgerinnen und Bürger ansprechen. Wir müssen überlegen,
welche Lehren wir langfristig aus diesen Diskussionen
ziehen.
Zur Sicherheitsproblematik hat der Minister vieles
ausführlich dargestellt. Das muss fortgesetzt werden.
Wir haben keine Alternative. Wir müssen das Problem
lösen. Es ist eine überkommene Last, um die wir uns
jetzt kümmern müssen.
Wenn wir die Planung langfristig durchführen, sind
wir auf dem richtigen Wege. Die Bundesregierung bemüht sich schon seit Jahren darum, den Ökostrom - und
nicht den Atomstrom - an erster Stelle zu forcieren und
zu fördern.
({2})
Damit sind viele Arbeitsplätze verbunden. Unsere Förderung umfasst die unterschiedlichsten Bereiche, unter
anderem Windenergie. Da sind wir, die Bundesregierung
und die Koalition, erfolgreich. Wir gehen in eine neue,
sichere Zukunft ohne Atomkraft. Das ist entscheidend
und wichtig. Da vorhergesagt wird, dass wir auch im
Jahre 2030 unseren Bedarf noch nicht allein mit erneuerbaren Energien decken können, müssen wir uns die
Frage stellen: Muss die Förderung der Steinkohle nicht
über 2018 hinaus weiterlaufen? Das ist im Zusammenhang mit Asse eine entscheidende Frage; denn es ist direkt damit verbunden. Diese Lehre müssen wir daraus
ziehen.
({3})
Deshalb sage ich: Das Auftreten solcher Vorfälle kann
reduziert werden, wenn wir unsere eigenen Ressourcen,
zum Beispiel die Kohle, berücksichtigen. Sie ist entscheidend und wichtig. Asse zeigt deutlich, wie schwierig es ist, die gefährlichen Abfallprodukte zu entsorgen.
Deshalb brauchen wir Transparenz, Langzeitanalysen
und endlich Lösungen. Darum bemüht sich unsere Bundesregierung. Die Bürgerinnen und Bürger stehen dabei
im Mittelpunkt.
Danke schön.
({4})
Ich schließe die Aussprache. Damit ist die Aktuelle
Stunde beendet.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Bundeskindergeldgesetzes
- Drucksache 16/8867 18242
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes
- Drucksache 16/9615 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({0})
- Drucksache 16/9792 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Fischbach
Ina Lenke
Ekin Deligöz
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/9793 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ole Schröder
Petra Hinz ({2})
Otto Fricke
Alexander Bonde
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kinderzuschlag weiterentwickeln - Fürsorgebedürftigkeit und verdeckte Armut von
Erwerbstätigen mit Kindern verhindern
und bekämpfen
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Auswirkungen des § 6 a des
Bundeskindergeldgesetzes ({4}) sowie über die gegebenenfalls not-
wendige Weiterentwicklung dieser Vor-
schrift
- Drucksachen 16/8883, 16/4670, 16/9792 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Fischbach
Ina Lenke
Ekin Deligöz
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Golze, Jörn Wunderlich, Klaus Ernst, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Armut trotz Arbeit vermeiden - Benachteiligung Alleinerziehender beim Kinderzuschlag
beenden
- Drucksache 16/9746 Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Bundeskindergeldgesetzes der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, eine
Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Ingrid Fischbach für die CDU/CSU-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir sind heute mit der zweiten und dritten Lesung
des Entwurfs zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes an einer - wie ich glaube, mit Fug und Recht sagen
zu können - guten Stelle für die Familien, für diejenigen,
die in unserem Lande Kinder erziehen, angelangt.
({0})
Denn wir alle wissen, dass das Problem der Kinderarmut
eigentlich ein Problem der Elternarmut ist. Wenn Eltern
nicht in Arbeit sind und nicht für den Lebensunterhalt
sorgen können, leiden die Kinder. Die Folge ist Kinderarmut. Deshalb ist es richtig, wichtig und, ich glaube, der
wichtigste Punkt überhaupt, den Eltern Arbeitsmöglichkeiten zu verschaffen, den Arbeitsmarkt zu öffnen, damit
Eltern arbeiten können, um den Lebensunterhalt für sich
und ihre Kinder zu verdienen.
Es gibt aber den Fall - das ist leider eine Entwicklung
in unserer Gesellschaft -, dass Eltern in Arbeit sind und
den eigenen Lebensunterhalt finanziell bestreiten können, aber nicht genug Geld verdienen, um die Kinder gut
zu ernähren und ihre Entwicklung zu unterstützen. Um
diesen Familien zu helfen, hat die letzte Bundesregierung den Kinderzuschlag entwickelt; dies war vom Ansatz her richtig und nötig. Das heißt, dass wir in den Fällen, in denen das Einkommen der Eltern nicht für die
Kinder ausreicht, einen Zuschlag zahlen, damit die Eltern, die in Arbeit sind, nicht in Hartz IV rutschen, sondern weiterhin arbeiten und ihre Kinder ernähren können.
Allerdings - das hat die Entwicklung gezeigt - war
das Konzept, das auf den Tisch gelegt wurde, leider noch
nicht so ausgegoren, dass die meisten Eltern davon profitieren konnten, im Gegenteil: Die Ablehnungsquote lag
bei weit über 80 Prozent. Deshalb haben wir bei der
Weiterentwicklung des Kinderzuschlags an genau dieser
Stelle angesetzt und uns gefragt: Warum wurden die Anträge abgelehnt?
Die erste Änderung, die wir vorgenommen haben, behebt das Problem, dass die Mindesteinkommensgrenzen
nicht klar definiert waren. Die Eltern hatten individuelle
Ansprüche, wussten aber nicht, ob sie generell einen Anspruch auf den Kinderzuschlag haben oder nicht. Deshalb haben wir ganz klare Mindesteinkommensgrenzen
eingeführt: für Alleinerziehende bei 600 Euro, für Paare
bei 900 Euro. Nun können die Eltern erkennen, ob sie eiIngrid Fischbach
nen Anspruch auf den Kinderzuschlag haben oder nicht.
Dadurch wird sich die Ablehnungsquote sicherlich verringern, und die Eltern, die auf den Kinderzuschlag angewiesen sind, können ihn auch bekommen.
({1})
Ein weiterer wichtiger Punkt ist - das haben wir auch
in der Anhörung erfahren -, dass gerade Alleinerziehende, deren Armutsrisiko größer als das von Familien
ist, kaum vom Kinderzuschlag profitieren konnten. Um
das zu ändern, werden wir jetzt in einem ersten Schritt
ein kleines Wahlrecht einführen. Da die Redner der Opposition mit Sicherheit wieder kritisieren werden, dass
das nicht ausreicht, dass das viel zu wenig ist und dass
wir viel mehr tun müssten, möchte ich sagen: Das ist
richtig, aber wir müssen die Haushaltsvorgaben beachten.
Alleinerziehende und all die Personengruppen, die einen Mehrbedarf haben, zum Beispiel Alleinerziehende,
Behinderte oder Personen, die einer kostenaufwendigeren Ernährung bedürfen, können sich entweder für den
Mehrbedarfszuschlag entscheiden - in diesem Fall haben sie keinen Anspruch auf den Kinderzuschlag -, oder
sie können sich für den Kinderzuschlag entscheiden, um
nicht auf Sozialtransfers angewiesen zu sein. Ich glaube,
es ist vernünftig, diese Entscheidung den Eltern zu überlassen. Wir begrüßen sehr, dass es uns gelungen ist, hierfür auch im Nachhinein noch Mittel „lockermachen“ zu
können, wie wir im Ruhrgebiet sagen.
({2})
Es liegen einige Anträge der Oppositionsfraktionen
auf dem Tisch, die uns deutlich machen sollen, wo die
Knackpunkte sind und was alles noch verbessert bzw.
wesentlich verändert werden müsste, damit noch mehr
Kinder und Familien einen Anspruch auf den Kinderzuschlag haben.
Ich weise an dieser Stelle allerdings darauf hin: Die
Änderungen, die wir jetzt vornehmen, werden dazu führen, dass sich die Zahl der Kinder und Familien, die einen Anspruch auf den Kinderzuschlag haben, mehr als
verdoppelt; statt knapp 100 000 werden es bald
250 000 Kinder und Eltern sein. Es ist richtig und wichtig, dieses Signal zu setzen.
Natürlich wird Herr Wunderlich gleich wieder sagen,
dass einmal davon die Rede war, 500 000 Kinder und
Familien würden einen Anspruch auf Kindergeld haben;
({3})
das haben wir auch gesagt. Dieser Kritikpunkt wird
wahrscheinlich nicht nur von Herrn Wunderlich, sondern
von allen Oppositionsfraktionen angesprochen.
({4})
- Nein? Frau Lenke sagt gleich also etwas anderes.
({5})
Da bin ich aber gespannt. Ich kann mich nämlich daran
erinnern, dass auch Sie, Frau Lenke, im Ausschuss kritisch angemerkt haben, dass wir eigentlich noch mehr
tun könnten.
({6})
- Ja. Deswegen sollten Sie jetzt einmal zuhören, wie ich
das begründe. Dann wissen Sie, warum ich das kritisch
angemerkt habe. - Das ist natürlich richtig. Man kann
immer noch mehr tun, wenn man den Finanzrahmen erhöht. Für uns bedeuten Nachhaltigkeit und gute politische Entscheidungen aber auch, den Haushalt im Blick
zu behalten.
({7})
Für die Zukunft unserer Kinder ist es sehr wichtig,
dass unsere politischen Entscheidungen nachhaltig und
zukunftsfest sind und dass wir den Haushalt so gestalten,
dass wir den Familien, die darauf angewiesen sind, auch
in Zukunft noch einen Kinderzuschlag zahlen können.
Das können wir aber nur dann tun, wenn wir den Haushalt konsolidieren und uns an unsere Vorgaben halten.
Wir dürfen uns nicht auf blauen Dunst hin immer weiter
verschulden. Das ist nicht nachhaltig und nicht im Sinne
der Zukunft der Kinder und Familien.
Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, dass wir
mit diesen Veränderungen einen Riesenwurf gelandet
haben; da bin ich ganz ehrlich. Sie sind aber ein erster
richtiger und wichtiger Schritt. Wie Sie wissen, haben
auch wir in der Anhörung und bei der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs im Bundestag deutlich gemacht, dass
wir eigentlich ein großes Wahlrecht, also eine Wahlfreiheit für alle Eltern, einführen wollten; das ist aber nicht
zu finanzieren. Wir haben außerdem darüber nachgedacht, die Einkommensgrenzen anders zu gestalten; aber
auch das ist eine Kostenfrage. Deshalb fordere ich die
Kolleginnen und Kollegen, die nach mir ans Rednerpult
treten, auf - das richtet sich auch an die Grünen, Frau
Haßelmann -, deutlich zu machen, woher das Geld für
die Dinge, die sie fordern, kommen soll. Sie haben uns
auf Ihrer Seite, wenn Sie deutlich machen, woher das
Geld dafür kommen soll. An die Linken gerichtet sage
ich: Ihre Forderungen, Leistungen zu erhöhen und auszuweiten, nehme ich sehr wohl wahr, Herr Wunderlich.
Ich habe aber selten - um nicht zu sagen: gar nicht - erlebt, dass Sie gesagt haben, woher das Geld dafür kommen soll. Doch das wäre wichtig.
Meine Damen und Herren, mit der ersten Weiterentwicklung des Kinderzuschlags sind wir auf einem guten
Weg. Wir haben es möglich gemacht, dass doppelt so
viele Menschen Leistungen beziehen können. Ich sage
ganz ehrlich: Mir wäre es am liebsten, der Arbeitsmarkt
würde sich so weiterentwickeln, dass wir über den Kinderzuschlag gar nicht reden müssten, weil die Eltern genug verdienen, um sich und ihre Kinder zu ernähren.
Vielen Dank.
({8})
Die Kollegin Ina Lenke spricht jetzt für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schon
bei der Einführung des Kinderzuschlages durch SPD und
Grüne bestand ein eklatantes Missverhältnis zwischen
der Zahl der Anträge, die gestellt worden sind, und der
Zahl der Anträge, die tatsächlich bewilligt wurden.
88 Prozent der Anträge ist nicht zugestimmt worden; sie
wurden nach einem aufwendigen Berechnungsverfahren
abgelehnt. Das fördert die Verdrossenheit der Bürgerinnen und Bürger. So etwas sollte ein Parlament nicht machen.
Die vorgesehene Gesetzesänderung wird den Zustand
nicht heilen. Der politische Wille ist zwar da - von Ihnen
wie von uns -; aber dies blieb ohne durchschlagenden
Erfolg.
Anfang Juni hat eine Expertenanhörung stattgefunden. Diese Expertenanhörung hat viele Schwachpunkte
der Gesetzgebung in diesem Bereich aufgezeigt. Die
überwiegende Mehrheit der Experten und Expertinnen
war sehr kritisch, und das zu Recht. Ich zitiere aus dem
Protokoll - die Expertenanhörung hat ja öffentlich stattgefunden -, was Frau Becker gesagt hat:
Die … Evaluation des derzeitigen Kinderzuschlages ergibt … sechs kritische Punkte. … Der vorliegende Gesetzentwurf … greift nur zwei dieser
Punkte auf …
Der Vertreter der Prognos AG hat erklärt:
Die bestehende Regelung erfüllt diese Ziele zum
Teil, gleichwohl besteht erheblicher Verbesserungsbedarf …
Der Vertreter des Deutschen Vereins für öffentliche und
private Fürsorge hat ausgeführt:
Betrachtet man den Kinderzuschlag aus der Perspektive, ob die Hilfebedürftigkeit von Kindern im
SGB II im größtmöglichen Umfang vermieden
wurde, so ist festzustellen, dass dies nicht der Fall
ist.
({0})
Die Vertreterin des Verbands Alleinerziehender Mütter
und Väter - wir alle schätzen diesen Verband - hat gesagt:
Der Verband … hat die Einführung des Kinderzuschlags abgelehnt und akzeptiert ihn seither lediglich als Interimsmaßnahme.
Ich könnte noch weit mehr Experten und Expertinnen zitieren; leider fehlt mir dazu die Zeit.
Dass die Experten das Gesetz nicht rundheraus abgelehnt haben, liegt, liebe Frau Fischbach, einfach daran,
({1})
dass eine Sozialleistung ausgeweitet wird und es Geld
vom Staat gibt.
({2})
Meine Damen und Herren, die FDP-Bundestagsfraktion wird der Erweiterung dieses gut gemeinten, aber
schlecht gemachten Gesetzes nicht zustimmen. Ohne
eine grundsätzliche Neustrukturierung der Sozial- und
Steuerpolitik werden wir das große Problem der Armut
von Kindern und Familien nicht lösen. Der Kollege von
der SPD hat im Ausschuss richtigerweise gesagt: Es ist
ein Baustein. - Dem stimme ich zu; aber der Baustein ist
zu minimal.
Bei dieser Gelegenheit will ich der Bundesregierung
in Erinnerung rufen, dass sie - dazu gehören natürlich
CDU/CSU und SPD - mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent den Familien geschadet hat,
insbesondere denjenigen Familien, die ihr gesamtes monatliches Einkommen für das tägliche Leben ausgeben
müssen.
({3})
- Der Mehrwertsteuersatz auf Lebensmittel beträgt
7 Prozent; aber Kinder brauchen auch Schuhe, einen
Schulranzen usw., und der Mehrwertsteuersatz darauf
beträgt 19 Prozent. Wir wissen das beide, Frau
Fischbach.
({4})
In der Süddeutschen Zeitung las ich eine interessante
Aussage von der SPD:
Familien sollen mehr Geld bekommen …
Wäre es nicht besser, liebe Kollegen von der SPD, den
Familien von ihrem Verdienst mehr in der Tasche zu lassen?
({5})
Die FDP-Bundestagsfraktion hat Ihnen, dem Parlament, heute einen Antrag vorgelegt, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wird, zuerst - das ist mir und
auch der FDP wirklich wichtig - eine Analyse der
153 ehe- und familienbezogenen Leistungen vorzulegen.
Dabei geht es nämlich um 189 Milliarden Euro jährlich.
Herr Kues, bisher ist viel Papier vorgelegt worden - meterweise -, jedoch keine Wirkungsanalyse. Diese brauchen wir aber. Welche Leistungen bauen aufeinander
auf? Welche Leistungen sind historisch gewachsen? Wie
sollen wir Leistungen reformieren?
Wenn wir die Wechselwirkungen dieser 153 Leistungen kennen, dann können das Parlament und die Regierung auf dieser Grundlage Familien helfen, die staatlicher Hilfe bedürfen. Das Familienministerium drückt
sich um diese Analyse. Ich habe im Ausschuss eine negative Antwort bekommen.
({6})
Deshalb will ich hier noch einmal sehr deutlich sagen,
dass die Gesamtanalyse fehlt.
Ich komme jetzt zum Schluss. Die FDP will die Modernisierung des gesamten Sozialsystems durch die Einführung eines liberalen Bürgergeldes. Wir wollen möglichst alle steuerfinanzierten sozialen Hilfen des Staates
auf die Bedürftigkeit von Bürgern und Bürgerinnen - natürlich auch den kleinen - ausrichten. Wir wollen das
pauschaliert durch einen Universaltransfer erreichen.
Das soll in einem Bürgergeld zusammengeführt werden.
Durch den Armuts- und Reichtumsbericht wurde es
an den Tag gebracht: Die Armut steigt. Sowohl die finanzielle als auch die Bildungsarmut greifen weiter um
sich. Jeder sechste Mensch verlässt die Schule ohne Abschluss. Frau Fischbach, Sie sagten, dass die Zahl der
Familien, die Anspruch auf den Kinderzuschlag haben,
verdoppelt wird, und zwar auf 250 000, und dass das die
Familien aus der Armut bringt.
({7})
2,4 Millionen Kinder leben an der Armutsgrenze oder
sind arm. Deshalb sage ich Ihnen: Der Kinderzuschlag
ist auch als Baustein keine Lösung.
Lassen Sie uns doch gemeinsam nicht Bausteine, sondern ein Gesamtkonzept entwickeln! Dann sind wir bei
Ihnen. Wir werden jedenfalls eines vorlegen.
Vielen Dank.
({8})
Jetzt spricht Wolfgang Spanier für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn die FDP, wie das Frau Lenke hier gerade getan
hat, von einer Neuorientierung in der Sozialpolitik
spricht und dabei der Begriff „Steuersenkung“ auftaucht,
dann kann ich nur hoffen, dass sie wenigstens auf Bundesebene auch weiterhin politisch keinen Einfluss auf
die Sozialpolitik nehmen kann. Es wird einem angst und
bange, weil man ahnt, was dahintersteckt.
({0})
Ich war vier Jahre lang in der Opposition und weiß,
wie man reagiert, wenn man ein Gesetz eigentlich ganz
vernünftig findet, was man aber, weil man nun einmal in
der Opposition ist, so nicht aussprechen kann.
({1})
Man sagt immer: Es ist viel zu wenig und müsste mehr
sein.
({2})
- Ich spreche doch nicht immer nur von Ihnen, Frau
Lenke. Ich habe rundum geschaut.
({3})
Ferner sagt man: Die Wirksamkeit dieses Gesetzes ist ja
nur beschränkt. Mit diesem Gesetz werden Sie die Armut in unserem Land nicht beseitigen.
Niemand erwartet, dass das mit diesem Gesetz geschieht. Niemand erhebt diesen Anspruch. Es gibt hier
ein ganz konkretes Ziel: Wir wollen den Eltern helfen,
die arbeiten, ein Erwerbseinkommen haben und zwar
sich selbst, aber nicht ihre Kinder anständig mit diesem
Erwerbseinkommen unterhalten können. Sie bekommen
neben dem Kindergeld und dem Wohngeld sozusagen
ein zweites Kindergeld, mit dem wir sie aus der Bedürftigkeit herausholen wollen.
({4})
Ich habe in einem Zeitungsartikel gelesen, dass es dabei um die Beschönigung der Armutsstatistik gehe. Wer
so etwas unterstellt, der müsste ja verlangen, dass wir
überhaupt nichts gegen Armut und zur Armutsprävention tun, weil dadurch natürlich möglicherweise die Statistik verändert würde. Das kann kein Argument sein.
Dieses Instrument wirkt auch - vor allen Dingen für
die Eltern, die mehr als drei Kinder haben. Bei
44 Prozent der bewilligten Anträge geht es um solche
Familien. Das ist ein weitaus größerer Anteil - etwa
dreimal so hoch -, als es der Zahl dieser Familien in der
Realität entspricht. Die Kehrseite ist, dass es bei Alleinerziehenden wenig wirkt. Es ist richtig, dass lediglich
7 Prozent der bewilligten Anträge von Alleinerziehenden stammen. Deswegen haben wir an dieser Stelle noch
einmal angesetzt und die 7 Prozent auf immerhin 14 Prozent erhöht. Man muss aber dazusagen, dass nicht jedes
der verschiedenen Instrumente zur Prävention von Armut und zur Armutsbekämpfung alle Zielgruppen
gleichzeitig erreichen kann.
Wir müssen - darauf wurde heute noch nicht eingegangen - den Zusammenhang zwischen dem Kinderzuschlag und seiner Verbesserung und dem Wohngeld sehen. Der Bedarf an Wohngeld steigt automatisch, wenn
man nicht mehr die Unterkunftskosten nach SGB II erstattet bekommt.
Wir sind noch weitergegangen. Wir haben nicht nur
den Mehrbedarf an Wohngeld berücksichtigt, der durch
diese Veränderungen entsteht, sondern auch das Wohngeld deutlich erhöht. Im Durchschnitt waren es bisher
90 Euro pro Monat; künftig werden es 140 Euro pro Monat sein.
({5})
Davon profitieren zwar nicht nur Familien, sondern
auch 300 000 Rentnerinnen und Rentner. Es ist aber ein
weiterer Baustein, um Armutsprävention und Armutsbekämpfung in unserem Land durchzusetzen. Beides zusammen entspricht einem Aufwand von immerhin rund
500 Millionen Euro, die wir ausgeben, um deutliche Verbesserungen zu erzielen.
Ich wiederhole: Was wir heute beschließen, ist nur ein
Baustein, aber es ist ein wichtiger Baustein. Es geht
nicht nur um materielle Armut, sondern auch - das ist
besonders wichtig - um die Chance auf Teilhabe an Bildung. Dafür haben wir mit dem demnächst im Bundestag zu verabschiedenden Kinderförderungsgesetz bereits
einen weiteren Baustein im finanziellen Bereich vorgesehen, nämlich den deutlichen Ausbau der Krippenplätze für die unter Dreijährigen.
({6})
Damit verfolgen wir zwei Ziele: die deutliche Verbesserung der Förderung aller Kinder und gleichzeitig die
Erleichterung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Beides sind Instrumente zur Prävention und Bekämpfung von Armut. Von diesen neuen Möglichkeiten werden sicherlich besonders viele Alleinerziehende profitieren können. Zumindest ist das in meiner Heimatregion
der Fall.
Ein weiterer Punkt: Wir dürfen die Armutsbekämpfung nicht auf Familienpolitik und auch nicht auf Bildungspolitik reduzieren. Die Arbeitsmarktpolitik gehört
ebenfalls dazu. In diesem Bereich haben wir gemeinsam
Förderprogramme auf den Weg gebracht, die ebenfalls
dazu beitragen werden, Menschen aus der Bedürftigkeit
herauszuholen, weil Arbeit mit einem auskömmlichen
Erwerbseinkommen der beste Schutz vor Armut ist und
bleibt.
({7})
Eine Frage ist noch offen - Frau Fischbach, wir haben
in diesem Gesetzgebungsverfahren sehr vertrauensvoll
und gut zusammengearbeitet; das wünsche ich mir auch
von den Arbeits- und Sozialpolitikern -, nämlich dass
wir endlich den Mindestlohn im Rahmen des Entsendegesetzes in den kommenden Wochen wie verabredet unter Dach und Fach bringen.
({8})
Denn nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern auch die rasante Ausweitung im Niedriglohnsektor fördert Armut in
unserem Land. Mindestlöhne sind ein Instrument, um etwas dagegen zu tun.
Ich gebe den Freien Demokraten recht: Wir brauchen
ein Gesamtkonzept.
({9})
Das ist richtig. Wir Sozialdemokraten haben zehn Maßnahmen vorgelegt. Dabei ist Folgendes wichtig: Erstens
gibt es keinen Königsweg oder etwas wie einen Schalter,
den man nur umlegen muss, und schon gibt es keine Armut mehr in unserem Land.
({10})
Zweitens ist es wichtig, dass wir auf allen drei staatlichen Ebenen - in den Kommunen, im Land und im Bund zusammenarbeiten. Mir geht es nicht darum, Zuständigkeiten zuzuweisen und damit Verantwortung - vor allem
finanzielle Verantwortung - auf andere abzuschieben. Es
ist nun einmal so: Bildung ist zwar ein ganz entscheidender Schlüssel, um gerechte Chancen für alle Kinder zu
schaffen, aber sie liegt in erster Linie in der Zuständigkeit der Länder. Wir können das also nur gemeinsam erreichen.
Vor Ort entscheidet sich, wie den Kindern beispielsweise im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe über das
Materielle hinaus geholfen werden kann. Der Bund ist in
erster Linie für die materiellen Leistungen zuständig.
Beim Wohngeld und beim Kinderzuschlag haben wir einen deutlichen Schritt nach vorn getan. Das reicht aber
nicht aus. Im kommenden Herbst wird der nächste Existenzminimumbericht vorliegen. Dann werden wir über
das Kindergeld - auch ein wichtiges Instrument zur Armutsprävention -, Steuerfreibeträge und das Sozialgeld,
also den Regelsatz für Kinder, sprechen müssen. Wir Sozialdemokraten wünschen uns, dass wir in der Großen
Koalition im Herbst die Kraft aufbringen, den Bausteinen, die wir bereits beschlossen haben, diese weiteren
wichtigen Bausteine hinzuzufügen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Jörn Wunderlich hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen!
Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren und
hierzu den Kinderzuschlag mit Wirkung ab dem
Jahr 2006 weiterentwickeln.
Dieser Satz ist zweieinhalb Jahre alt und entstammt Ihrer
Koalitionsvereinbarung. Dass Sie Ihre selbst gesteckten
Ziele derart verfehlen, kann Ihnen nicht entgangen sein;
denn wir haben Sie oft genug daran erinnert. Ich gebe
zu: Ich hatte die Hoffnung, dass diese nicht geringe
Fristüberschreitung von Ihnen dazu genutzt wird, einen
Gesetzentwurf vorzulegen, der die Versprechen einhält,
die Sie in Ihrem Koalitionsvertrag geben. Der vorliegende Entwurf enttäuscht aber in den meisten Punkten.
Die Aufgaben, die der Koalitionsvertrag dem Kinderzuschlag zurechnet, sind in zentralen Punkten nicht erfüllt,
höchstens ansatzweise. Sie haben die zeitliche Begrenzung abgeschafft. Aufgrund der Änderungen werden Sie
einige Familien mehr als bisher erreichen, wird die Abschmelzrate auf 50 Prozent reduziert und die Mindesteinkommensgrenze - das wurde bereits angesprochen - gesenkt.
In der öffentlichen Anhörung wurde dem Gesetzentwurf aber das Zeugnis ausgestellt, das er verdient hat.
Alle neun Sachverständigen haben in ihren Statements
klargestellt, dass der Kinderzuschlag auch in der jetzt
vorgelegten Form kein effektives Mittel gegen Kinderarmut ist. Viele der dort genannten Kritikpunkte teilen wir
als Fraktion Die Linke. Ich will mich auf die für uns
wichtigsten beschränken.
Zentral ist für uns die Höhe des Kinderzuschlags. Den
Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung ist seit
langem bekannt, dass die Höhe von 140 Euro viel zu gering ist. Dennoch halten sie an dieser Höhe fest, wohl
wissend, dass sie den realen Problemen der Familie nicht
gerecht wird. Eine Gruppe trifft die Regelung - das
wurde bereits angesprochen - besonders hart: die Alleinerziehenden. Sie waren schon nach dem alten Modell
des Kinderzuschlags die Verlierer. Dass die Gruppe der
Alleinerziehenden größer wird und gleichzeitig das
höchste Armutsrisiko hat, kann man in den Untersuchungen von Prognos nachlesen.
Auch die letzten Änderungen in dieser Woche entpuppen sich schnell als Mogelpackung. Wer Alleinerziehende ernsthaft vor die Wahl zwischen Kinderzuschlag
und Mehrbedarf stellt, hat die Notwendigkeit des Mehrbedarfs nicht begriffen.
({0})
- Frau Fischbach, manchmal sollte man den eigenen
Kopf anstrengen. - Die festgestellten Mindesteinkommensgrenzen machen deutlich, dass Sie aus der Ablehnungsquote von 87 Prozent beim bisherigen Kinderzuschlag nichts gelernt haben. Wenn Sie die ALG-IIBedürftigkeit überwinden wollen, müssen Sie an diesen
Stellschrauben arbeiten.
Der Kinderzuschlag wurde unter Rot-Grün eingeführt
- ich zitiere -, „dass ein wesentlicher Teil der Familien
nicht wegen ihrer Kinder auf Sozialhilfe oder zukünftig
auf das Arbeitslosengeld II angewiesen sein soll“. Bekanntermaßen sind die - zuerst 150 000 - Kinder nicht
erreicht worden. Wie gesagt, wurden 87 Prozent der Anträge abgelehnt. Aber Sie wollen das alles als Erfolg verkaufen. In der Sendung Hart, aber fair am 28. Mai 2008
spricht die CSU-Generalsekretärin ernsthaft von den
- angeblichen - Verdiensten der Großen Koalition und
sagt: Wir haben den Kinderzuschlag erhöht.
({1})
Diese Aussage ist nachweislich falsch, um nicht zu sagen: gelogen.
Der Kinderzuschlag wird doch auch nach der Reform
bei 140 Euro liegen, Herr Singhammer. Den Kinderzuschlag von 140 Euro auf 140 Euro zu erhöhen, das ist
Ihre Erhöhung. Das ist genauso, als wenn Sie sagen würden: Wir erhöhen die Renten, weil die Zahl der Rentner
steigt.
({2})
Die Regierung kann sich nicht damit herausreden, dass
mehr Kinder in den Genuss des Zuschlages kommen
werden. Wie gesagt: Nur weil die Zahl der Rentner
steigt, wird doch die Rente nicht erhöht.
({3})
- Dazu komme ich noch.
Dass sich die Bundeskanzlerin, das Familienministerium und das Ministerium für Arbeit und Soziales ständig in den Angaben widersprechen „Erhöhen“, „Nicht
erhöhen“, „Doch erhöhen“, „Von Erhöhung war nie die
Rede“, habe ich schon gesagt und möchte ich hier nicht
im Detail wiederholen.
Das formulierte Vorhaben, den Kreis der Berechtigten
auszuweiten, um mehr Kinder zu erreichen, wurde mit
der Zahl von etwa 500 000 zu erreichenden Kindern umschrieben und dann auf 250 000 herunterkorrigiert. Dass
unsere Bundesfamilienministerin - leider ist sie nicht da ({4})
das damit begründet, dass mehr Familien vom wirtschaftlichen Aufschwung profitieren und deshalb das
Geld nicht brauchen, war für viele Familien wie eine
Ohrfeige. Der wirtschaftliche Aufschwung, von dem unsere Ministerin redet, endet für etliche Familien in Armut, weil er mit Minijobs und unwürdiger Arbeit einhergeht. Die Folgen sind allen bekannt. 2,6 Millionen
Kinder leben in dieser reichen Bundesrepublik in Armut.
Wir leisten uns einen Kinderzuschlag mit enormem Verwaltungsaufwand, der völlig am Ziel vorbeigeht. Ich
denke, bei Frau von der Leyen ist die Inkubationszeit für
Realitätsverluste überschritten.
({5})
Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren - das
war Ihre Zielsetzung im Koalitionsvertrag.
({6})
Dieses Ziel wird mit unserem Antrag eher erreicht; denn
allen hier im Haus - das klang durch - ist klar, dass der
Kinderzuschlag allein nicht die Lösung sein kann. Er ist
ein Baustein, der aber viel zu klein ist.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Fischbach zulassen?
Nein, ich möchte zum Ende kommen. Ich bin gleich
fertig, Frau Fischbach.
({0})
Deshalb fordern wir: Der Kinderzuschlag wird deutlich erhöht, die Mindesteinkommensgrenze und die
Höchsteinkommensgrenze entfallen, die Kinderzuschlagsberechtigung endet im Zuge der Einkommensanrechnung durch Abschmelzung.
({1})
- Herr Singhammer, wenn Sie immer dazwischenquatschen und nicht zuhören, dann können Sie es nicht begreifen.
({2})
Der Mehrbedarfszuschlag für Alleinerziehende wird im
Anrechnungsverfahren nicht berücksichtigt, aber im
Falle der Kinderzuschlagsberechtigung als Erhöhungsbetrag zum Kinderzuschlag gewährt. Darüber hinaus
wird ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt. Man kann
nämlich die Armut der Kinder nicht von der Armut der
Eltern abkoppeln.
Hören Sie doch einmal auf die Sozialverbände. Stimmen Sie unserem Antrag zu und gehen Sie die Kinderarmut nicht nur halbherzig, sondern wirklich an. Dem Argument der Haushaltskonsolidierung kann ich nur
entgegnen: Bauen Sie drei Kriegsschiffe weniger und investieren Sie das Geld in Familien. Dann sind sie besser
bedient. Familien brauchen, bezogen auf die Zukunftsperspektiven, Frau Fischbach, keinen Kinderzuschlag,
wenn die Eltern ordentlich verdienen und davon sich und
ihre Kinder ernähren können. Das ist zukunftsweisend.
({3})
Frau Fischbach, es mutet schon komisch an, wenn es
immer heißt, die Anträge der Linken seien nicht bezahlbar und würden deshalb abgelehnt, aber wenige Monate
später kommen praktisch wortgleiche Anträge von der
Koalition und sind dann plötzlich bezahlbar.
({4})
Das ist schon merkwürdig.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin
Fischbach das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Da Herr Wunderlich so feige war, keine Zwischenfrage
zuzulassen, nutze ich die Form der Kurzintervention.
Herr Wunderlich, ich habe meinen Kopf angestrengt,
Sie Ihren sicherlich auch. Aber was ich bei aller Anstrengung nicht erfahren habe, war, wie Sie denn nun,
auch wenn Sie dreimal angekündigt haben, dass das nun
kommt - ich habe sehr genau zugehört -, all das, was Sie
gerade vorgeschlagen haben, finanzieren wollen, nämlich die Ausweitung des Berechtigtenkreises und die Erhöhung des Betrages des Kinderzuschlages. Ich glaube,
nicht nur wir Kolleginnen und Kollegen wären sehr daran interessiert, das zu hören, sondern sicherlich auch die
Zuschauer auf den Tribünen. Vielleicht können Sie die
eine Möglichkeit, die Sie im Kopf haben, wie Sie das alles bezahlen wollen, darlegen.
({0})
Im Übrigen würde ich mich freuen, wenn wir zukünftig in einem vernünftigen Ton miteinander und auch über
Personen reden, die nicht anwesend sind. Ich fand das
sehr daneben, wie Sie sich gerade geäußert haben.
Herr Wunderlich hat das Wort zur Antwort.
Frau Kollegin Fischbach, Sie haben offensichtlich
eben nicht zugehört, als ich mich dazu geäußert habe.
Ich will nur ein Beispiel anführen:
({0})
Wenn der politische Wille da ist, ist auch das Geld da.
({1})
- Einen Moment. Durch Umschichtungen im Haushalt
ist vieles möglich.
({2})
- Frau Fischbach, wenn Sie nicht zuhören, dann ist das
Ihr höchstpersönliches Problem. Ich habe gerade am Pult
gesagt: Bauen Sie drei Kriegsschiffe in Form von Fregatten weniger und geben Sie das Geld den Familien.
Damit ist vielen Familien geholfen.
({3})
Die nächste Rednerin ist Britta Haßelmann für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und
Herren auf der Zuschauertribüne! Wir reden heute über
das Thema Kinderzuschlag im Bundeskindergeldgesetz,
also über ein Instrument innerhalb einer ganzen Palette
von Instrumenten. Bei den Rednerinnen und Rednern
der Großen Koalition ist schon deutlich geworden, dass
wir auch über Kinderarmut insgesamt reden. Das sollten
wir auch tun.
Meine Damen und Herren, ich verstehe nicht, warum
Sie sich in Reden auf Parteitagen in Programmen überschlagen: 10-Punkte-Plan der SPD, Kindergelderhöhung, Kinderfreibetragserhöhung der CDU/CSU.
({0})
So schaukeln Sie sich Woche um Woche hoch. Das alles
kostet viel Geld. Getan wird jedoch seit 2005 in dieser
Hinsicht nichts, aber auch gar nichts. Ich finde, das muss
die Öffentlichkeit einmal wissen. Sie beklagen in Sonntagsreden und Interviews, wie dramatisch die Kinderarmut gestiegen ist. Das ist sie in der Tat. Wir haben ja vor
kurzem den Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt
bekommen. Von Ihnen kommen Modelle und Vorschläge, aber es wird so getan, als würden Sie nicht regieren. Das kann man an dieser Stelle nicht durchgehen
lassen.
({1})
Frau Kollegin Haßelmann, möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Spanier zulassen?
Ja, bitte.
Liebe Frau Haßelmann, da wir uns einig sind, dass es
bei Armutsprävention und Bekämpfung von Armut nicht
nur um materielle Leistungen geht, sondern dass wir das
umfassend angehen müssen und dass dabei chancengerechte Bildung ein ganz entscheidender Schlüssel ist,
({0})
frage ich Sie: Würden Sie sich gemeinsam mit mir daran
erinnern, dass die rot-grüne Koalition ein Ganztagsschulprogramm aufgelegt hat, sodass in Deutschland
6 500 Grundschulen den offenen Ganztagsunterricht mit
zusätzlichen Förderchancen gerade für sozial Benachteiligte haben?
Würden Sie sich ferner gemeinsam mit mir daran
erinnern, dass wir die Leistungen nach dem TAG ausgeweitet haben, dass wir ab 2013 sogar einen Rechtsanspruch haben werden, dass wir den Kommunen finanziell unter die Arme greifen und dass der Ausbau der
frühen Förderung ebenfalls ein ganz wichtiges Instrument zur Armutsbekämpfung ist?
Würden Sie mir zuletzt darin zustimmen, dass die
deutliche Verbesserung des Wohngeldes, die Sie ja in der
damaligen Anhörung auch gefordert haben, und der Kinderzuschlag sehr wohl Maßnahmen sind, mit denen
wirksam Armut bekämpft werden kann?
Herr Spanier, ich kann mir viele Maßnahmen vorstellen, mit denen Armut bekämpft werden kann. Dazu gehört sicherlich auch Ihre zuletzt angesprochene Wohngelderhöhung, die aus meiner und Ihrer persönlichen
Sicht überfällig war. Wir haben beide auf unsere Art seit
Jahren dafür geworben, dass es zu einer Wohngelderhöhung kommt. Mich müssen Sie nicht überzeugen, wie
wichtig beim Thema Kinderarmut Zugangsgerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit, gleiche Chancen auf Bildung
für Kinder und Jugendliche sowie Frühförderung sind
und wie groß die Ungerechtigkeit für Kinder ist.
Ich habe versucht, Sie davon zu überzeugen - nicht
nur ich, sondern meine Fraktion -, genau aus den Gründen, die Sie genannt haben, was die Programme zur
Ganztagsbetreuung in der letzten Legislaturperiode angeht, die Bildungspolitik im Rahmen der Föderalismusreform eben nicht an die Länder zu geben, sodass wir
heute keine Chance mehr haben, einzugreifen und vom
Bund aus steuernd Dinge anzustoßen im Sinne von Teilhabegerechtigkeit und Investitionen in frühe Förderung,
in Bildung und Infrastruktur. Da hatten wir vor anderthalb Jahren eine harte Auseinandersetzung. Ich bedauere
sehr, dass Sie den Argumenten nicht gefolgt sind, nicht
nur denen aus unserer Fraktion nicht, sondern auch denen von vielen externen Bildungsexperten sowie Experten der Kinder- und Jugendhilfe nicht, die gesagt haben:
Lasst die Bildungspolitik beim Bund; wir brauchen die
Steuerungselemente.
({0})
- Sie wissen ganz genau, was ich meine, Frau Humme.
({1})
Wir könnten heute kein einziges Programm mehr auflegen, das wir unter Rot-Grün aufgelegt haben, weil der
Bund keine direkte Beziehung mehr zu den Kommunen
aufnehmen kann. Das haben Sie mitverbockt. Sie wussten, welche verheerenden Folgen das hat.
({2})
- Ich sehe, wie Sie sich aufregen. Sie haben nachher
noch Redezeit, gehen Sie doch darauf ein, und erklären
Sie uns, warum es gut ist, dass die Länder das jetzt alleine machen und wir in puncto Teilhabe und Infrastruktur fast nichts mehr machen können.
Meine Damen und Herren, ich appelliere an Sie. Auf
der Tribüne sitzen viele Leute, die sich fragen, was Sie
gegen Kinderarmut tun. Auch sie stellen fest, dass Sie in
der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung oder in
anderen Zeitungen sagen, Kinderarmut sei etwas ganz
Schreckliches und da müsse etwas passieren, auf der anderen Seite aber nichts geschieht. Dann stellt sich Frau
Fischbach hier hin und sagt, es tue ihr leid, dafür sei leider kein Geld vorhanden, man müsse die Haushaltslage
in Rechnung stellen.
({3})
Natürlich hat ein nachhaltiger Haushalt etwas mit
Kindern und Generationengerechtigkeit zu tun. Sie haben gerade einmal vor zwei Monaten, ohne mit der
Wimper zu zucken, 2 Milliarden Euro für eine Aufstockung auf eine 1,1-prozentige Rentenerhöhung ausgegeben, was Sie bis zum Jahr 2011 10 Milliarden Euro kostet. Wie wollen Sie das eigentlich erklären? Wie wollen
Sie diese Prioritätensetzung erklären? Sie stellen sich
hier hin und sagen, für den Kinderzuschlag habe es nicht
gereicht, sie könnten leider nicht mehr Familien einbeziehen und auch den Kinderzuschlag nicht erhöhen, obwohl die Ministerin beides angekündigt hat. In der Rede
der Ministerin hieß es, dass 500 000 Kinder in den neuen
Kinderzuschlag einbezogen werden und dass der Kinderzuschlag erhöht wird. Von beidem ist nicht mehr die
Rede. Es bleibt ungefähr der gleiche Berechtigtenkreis.
Sie haben bestimmte Dinge verändert, die wir gemeinsam in der Anhörung besprochen haben. Ich hätte mir
andere Sachen gewünscht, auf die ich gleich noch eingehen werde.
Vielleicht nach den Zwischenfragen?
Ja. - Aber Sie können sich doch nicht hinstellen und
sagen, Sie hätten leider nicht mehr Geld und gern ein
bisschen mehr gewollt, aber gleichzeitig geben Sie an
anderer Stelle, ohne über Argumente nachzudenken, in
einem ganz kurzen Verfahren viel mehr Geld aus, nur im
Bereich der Kinder nicht.
({0})
Das finde ich nicht in Ordnung, und das müssen Sie den
Leuten draußen erklären.
({1})
Jetzt gibt es zwei Wünsche nach Zwischenfragen.
Sie haben doch alle noch Redezeit. Ich will nicht unhöflich sein. Stellen Sie mir ruhig Fragen, aber Sie sind
doch alle auf der Rednerliste.
Das vergrößert Ihre Argumentationsmöglichkeit. Bitte schön, Herr Kollege Singhammer.
Frau Kollegin, Sie haben auf die Kinderarmut hingewiesen. Stimmen Sie mir zu, dass eine der entscheidenden Ursachen der Armut der Kinder die Elternarmut
ist? Können Sie meiner Argumentation folgen, dass
1 600 000 neue Arbeitsplätze in den vergangenen zwei
Jahren, davon der größte Teil sozialversicherungspflichtig, ein entscheidendes Instrument zur Verringerung der
Elternarmut und damit auch zur Verringerung der Kinderarmut sind?
({0})
Herr Singhammer, Sie wissen genauso gut wie ich,
dass Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern, die Kinder haben, ein ganz entscheidendes Instrument dafür ist,
damit Kinder nicht in Armut leben. Was die Frauenerwerbstätigkeit angeht, muss ich Sie noch überzeugen;
denn Sie sind derjenige, der meint, es solle ein Betreuungsgeld gezahlt werden, damit die Frauen zu Hause
bleiben und die Welt so bleibt, wie sie vor 25 Jahren war.
Ich sage Ihnen - Sie müssen die Grünen nicht überzeugen -: Wir waren diejenigen, die gemeinsam mit der
SPD an dem Instrument Kinderzuschlag gearbeitet und
dieses vorgeschlagen haben, weil wir wollten, dass Menschen, die keine Mittel nach SGB II beziehen und die
keine ausreichenden Einnahmen aus Erwerbstätigkeit
haben, in den Genuss eines Kinderzuschlages kommen
können. Wir haben damals auch um Ihre Zustimmung
geworben. Die haben wir allerdings nicht erhalten.
Heute sind Sie dafür; das finde ich in Ordnung.
Die Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern ist
ganz wichtig, wenn es darum geht, Armut wirksam zu
bekämpfen. Das ist aber nicht die einzige Frage, die wir
zu beantworten haben. Deshalb habe ich vorhin gesagt,
dass Sie sich vor einer Antwort auf die Frage drücken,
wie wir mit 2,6 Millionen Kindern, die in Armut leben,
umgehen. Das darf nicht erst 2009 geschehen, wenn wieder Wahlkampf ist, sondern das muss heute, hier und
jetzt, geschehen. Das betrifft die Regelsatzerhöhung, die
Infrastruktur und den Kinderzuschlag. Ich könnte Ihnen
noch fünf weitere Maßnahmen nennen, von denen Sie
seit zwei Jahren sagen, dass Sie sie prüfen, erörtern, Expertengespräche dazu durchführen und zu denen angeblich noch Anhörungen nötig sind. Letztlich passiert aber
nichts.
({0})
Die letzte Anhörung fand zu den Kinderregelsätzen,
insbesondere zu der Tatsache statt, dass der Eckregelsatz
von Kindern nicht mehr von dem eines Erwachsenen abgeleitet werden darf. Auch aus dieser Anhörung haben
Sie noch keine Schlussfolgerungen gezogen, obwohl alle
Gutachterinnen und Gutachter unisono sagen, dass diesbezüglich ganz dringend etwas getan werden muss. Ich
glaube, ich bin nicht die Einzige, die das registriert und
sich noch darüber aufregen kann, und zwar obwohl ich
schon seit einigen Jahren Politik mache.
({1})
Da Herr Singhammer Platz genommen hat und seine
Frage damit offensichtlich als beantwortet ansieht, frage
ich Sie jetzt, ob Sie eine Zwischenfrage von Frau
Fischbach zulassen.
Frau Fischbach, bitte.
Ich habe in meiner Einführung gesagt, dass der Kinderzuschlag unter Ihrer Regierungsverantwortung eingeführt wurde. Sie haben gerade kritisch angemerkt, seine
Höhe sei zu niedrig und die Zahl der damit erreichten
Familien zu gering. Welche Beweggründe haben Sie damals veranlasst, dieses Gesetz auf den Weg zu bringen,
wohl wissend, dass sowohl die Höhe des Kinderzuschlags zu niedrig als auch die Zahl der damit erreichbaren Familien zu gering ist?
({0})
Frau Fischbach, es gibt zwei Gründe. Zum einen
wollte Rot-Grün den Kinderzuschlag einführen, um
Menschen zu erreichen, die knapp oberhalb des damaligen Sozialhilfeniveaus - des heutigen SGB - II-Niveaus leben. Zum anderen können Sie sich, glaube ich, noch
sehr gut an die Rolle der CDU im Vermittlungsausschuss
erinnern. Wie viele Dinge damals aufgrund von Interventionen CDU-regierter Länder im Bundesrat in der einen oder anderen Art im Vermittlungsausschuss entschieden worden sind, wissen Sie. Deshalb tragen auch
Sie Ihren Teil der Verantwortung.
Ich finde es gut, dass Sie mir diese Frage gestellt haben. Wenn man ein Instrument einführt, dann muss man
es auch überprüfen. Ich finde es richtig, dass man überprüft, ob es möglicherweise zu kompliziert war und ob
es genügend Leute erreicht. Wenn man nicht genug
Leute erreicht, muss man das Instrument ändern.
({0})
Genau das ist das Argument, das ich anführe, um zu
sagen, dass die von Ihnen vorgeschlagenen Änderungen
jetzt aber nicht ausreichend sind.
({1})
Es ist bei der Anhörung festgestellt worden, dass verdeckte Armut im Hinblick auf die Unterschreitung von
Mindesteinkommensgrenzen, Höchsteinkommensgrenzen, Beantragungsprobleme und das Fehlen eines Wahlrechts zwischen Arbeitslosengeld II und Kinderzuschlag ein großes Problem ist. Meine Fraktion ist doch
die letzte, die sich damit herausredet, dass wir vor drei
Jahren einmal etwas dazu beschlossen haben. Das ist
doch völlig absurd. Es geht darum, dass ein neu eingeführtes Instrument überprüft werden muss. Das ist jetzt
geschehen. Mein Vorwurf an Sie ist, dass Sie es zwar
überprüfen, aber alles so - insbesondere so kompliziert lassen, wie es ist, und nichts gegen verdeckte Armut tun.
({2})
- Nein, Sie belassen es bei der alten Mindesteinkommensgrenze und bei der alten Höchsteinkommensgrenze
und führen keine Wahlfreiheit ein. Das sind doch Dinge,
die ganz klar als Probleme benannt wurden.
({3})
- Regen Sie sich doch nicht so auf. Ich versuche doch
gerade, es zu erklären.
({4})
- Sie können sich ja noch einmal zu Wort melden.
Die Äußerungen von Frau Fischbach haben die Qualität eines Zwischenrufs, und die Redezeit läuft weiter.
Dass Menschen sich hier aufregen, gehört dazu.
({0})
Dann mache ich jetzt einfach weiter. - Frau
Fischbach, der Kinderzuschlag ist von Rot-Grün eingeführt worden, weil wir ihn als Instrument zur gezielten
Armutsbekämpfung in einem bestimmten Bereich betrachtet haben. Nach ein paar Jahren ist festgestellt worden, dass dieses Instrument zu kompliziert ist und nicht
genügend Leute erreicht. Daran muss man etwas verändern, und man muss entsprechende Schlussfolgerungen
ziehen,
({0})
die Sie mit dem Hinweis auf die Finanzlage nicht gezogen haben.
Sie haben nicht gesagt, die von den Expertinnen und
Experten gelieferten Argumente seien falsch. Sie haben
vielmehr gesagt, dass Sie gerne ein bisschen mehr hätten, dies aber aufgrund der Haushaltslage nicht umsetzen
könnten. Dann muss ich Sie aber fragen, was aus Ihrem
entschiedenen Engagement gegen Kinderarmut geworden ist.
Sie können an dieser Stelle doch nicht sagen: Tut mir
leid. Wir würden gern 500 000 Kinder erreichen, so wie
es die Ministerin wollte. Wir hätten gern den Kinderzuschlag erhöht. Aber jetzt haben wir festgestellt, dass wir
nicht mehr in der Kasse haben. Also machen wir eine
kleine bescheidene Reform. - Das war mein Vorwurf an
Sie.
Die Debatte heute zeigt: Der Kinderzuschlag ist das
eine, aber wir brauchen dringender denn je eine Diskussion darüber, wie wir durch Infrastruktur und Teilhabegerechtigkeit auch in der Bildung, bei der frühen Förderung, von Anfang an, sowie durch eine materiell bessere
Absicherung von Kindern einen wirklich nachhaltigen
Beitrag zur Bekämpfung von Kinderarmut leisten können ({1})
und das nicht erst 2010, wenn die nächsten Wahlen gewesen sein werden.
({2})
Jetzt würde ich gern das Wort dem Kollegen Parlamentarischen Staatssekretär Hermann Kues geben.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Haßelmann, Sie haben versucht, zur Familien- und Kinderpolitik einen ganz großen Bogen zu
schlagen.
({0})
Sie haben dabei - wenn ich das einmal so sagen darf einiges durcheinandergebracht.
({1})
Ich kann jetzt nicht alles richtigstellen, sondern will nur
ein Beispiel nennen.
({2})
Sie sagen, die Ministerin habe eine Erhöhung des Kinderzuschlags angekündigt. Tatsächlich hat sie eine Erhöhung des Budgets angekündigt, und die ist längst geschehen.
Kritik zu üben, ist Ihr gutes Recht als Opposition. Ich
muss Ihnen aber sagen: Bildungspolitik war nie Aufgabe
des Bundes, sondern ist Aufgabe der Länder.
In einem sind sich alle in Deutschland - auch die, die
uns jetzt zuhören - einig, nämlich darin, dass wir in dieser Legislaturperiode in der Familienpolitik einen gewaltigen Schritt nach vorn gemacht haben.
({3})
Das muss einmal festgehalten werden: Wir haben einen
gewaltigen Schritt nach vorn gemacht. Wenn Sie sich auf
Landesebene, auf kommunaler Ebene, bei privaten Trägern oder auch bei Wohlfahrtsverbänden umhören, werden Sie feststellen, dass das in keiner Weise bestritten
wird.
Wir haben also einen gewaltigen Schritt nach vorn gemacht, und zwar mit einem in sich stimmigen Konzept.
Wir sollten in Deutschland endlich dazu kommen, dass
wir hinsichtlich der Rahmenbedingungen für Familien
und für das Leben mit Kindern eine gemeinsame Linie
verfolgen, damit Eltern wissen, auf was sie sich wirklich
verlassen können. Eine solche gemeinsame Linie haben
wir häufig gefunden, auch im Ausschuss. Es ist ein in
sich stimmiges Konzept, das wir Schritt für Schritt umsetzen.
({4})
Ein wichtiger Schritt ist jetzt die Veränderung des
Kinderzuschlags. Das ist heute Nachmittag ein großer
Augenblick für die Familienpolitik.
({5})
Ich sage auch etwas zu Ihnen, Frau Lenke, weil Sie
immer wieder erwähnen, auch im Ausschuss, dass wir
keine echte Wirkungsanalyse vorgestellt haben. Gleichzeitig sagen Sie, wir hätten Ihnen Massen an Papier zur
Verfügung gestellt. Alles, was es an Analysen gibt, etwa
zur Wirkung der Zahlung von Kindergeld, zum Beispiel
bei Mehrkinderfamilien, liegt Ihnen vor. Die Konsequenzen daraus muss das Parlament ziehen. Es ist nicht
Aufgabe der Regierung, sondern es ist letztlich Aufgabe
des Parlaments, zu entscheiden, welche Konsequenzen
aus diesen Zahlen gezogen werden.
Darüber, wie Kindergeld wirkt, werden wir im Herbst
zu reden haben, wenn der Existenzminimumbericht vorliegt. Wenn wir feststellen, dass das Existenzminimum
gestiegen ist - davon gehen, glaube ich, wir alle miteinander aus -, wird man sich zu überlegen haben, was
beim Kindergeld zu tun ist. Die Ministerin hat bereits
angedeutet, dass wir für Mehrkinderfamilien mehr tun
müssen, weil solche Familien in Deutschland fast verschwunden sind und weil Kinderarmut gerade dort zu
Hause ist, wo mehrere Kinder sind oder wo Vater und
Mutter keine Möglichkeit haben, den Lebensunterhalt
für ihre Kinder zu verdienen.
Herr Staatssekretär, ich hätte Ihnen eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke anzubieten.
({0})
Ja.
Bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie haben ausgeführt, dass Ihr
Ministerium alle 153 Leistungen evaluiert habe, wir uns
nur die Gutachten durchlesen müssten und sich für uns
daraus die Wirkungsanalyse ergeben würde. Es ist einfach zu wenig, wenn das Ministerium nur Gutachten
sammelt. Das ist keine ausreichende Leistung. Meine
Frage lautet nun: Bekommen wir in dieser Legislaturperiode eine Wirkungsanalyse auf Basis der Evaluierung
der 153 familienbezogenen Leistungen?
Frau Kollegin Lenke, sicherlich haben auch Sie schon
einen Teil des riesigen Stapels, den wir auch Ihnen persönlich zur Verfügung gestellt haben, durchgelesen. Ich
gebe zu, man kann das nicht alles auf einmal schaffen,
aber man kann sich immer wieder ein Päckchen vornehmen. Lesen Sie zum Beispiel einmal, wie Kindergeld
wirkt, welche Bedeutung es etwa bei Alleinerziehenden
hat - da hat es eine große Bedeutung; das haben wir mit
Zahlen belegt - und welche Bedeutung es etwa bei
Mehrkindfamilien hat. Wenn Sie das getan haben, dann
müssen Sie politisch überlegen, welche Schlussfolgerungen Sie daraus ziehen wollen. Das ist der Punkt.
Viele der Schlussfolgerungen, die wir auf diese Weise
nach und nach ziehen - das haben wir uns natürlich für
diese Legislaturperiode insgesamt vorgenommen, und
das macht nach meiner festen Überzeugung letztlich den
Erfolg der Familienpolitik aus -, werden in dieser Wirkungsanalyse grundgelegt. Wir werden weiter daran arbeiten müssen. Familienpolitik - das gilt auch für andere
Politikfelder - ist nie zu Ende. Eben sagte Herr Spanier
zum Thema Kinderarmut, es gibt nicht die Möglichkeit,
irgendwo einen Knopf zu drücken und damit dieses Problem zu erledigen. Vielmehr wird man immer wieder
neu ansetzen und überlegen müssen, ob die Maßnahmen
wirklich zielgerichtet sind.
Deshalb sage ich noch einmal: Der Kinderzuschlag ist
in der Form, wie wir ihn heute beschließen werden, absolut zielgerichtet, weil er sich an die Eltern richtet, die
ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen können, aber
die es nicht schaffen, auch den Lebensunterhalt für ihre
Kinder zu verdienen. Das ist der entscheidende Punkt.
Da setzt der Kinderzuschlag an.
({0})
Herr Staatssekretär, es gibt auch noch eine Zwischenfrage des Kollegen Roland Claus. Möchten Sie die zulassen?
Ja, natürlich.
Bitte schön.
Herr Staatssekretär, hat denn nun die Bundesfamilienministerin am 13. September des vergangenen Jahres vor
dem Deutschen Bundestag davon gesprochen, dass
500 000 Kinder von diesem Gesetz profitieren, oder hat
sie es nicht? Jetzt profitieren davon ja nur noch die
Hälfte. Hat denn die Bundeskanzlerin am 28. November
vor diesem Bundestag von einer Erhöhung des Kinderzuschlages, also von „140 plus“, gesprochen, oder hat
sie das nicht getan? Sind Sie nicht vor diesem Hintergrund bereit, einzuräumen, dass beide Versprechen gebrochen wurden?
({0})
Ich bin dazu natürlich nicht bereit, weil das, was Sie
sagen, falsch ist. Ich sage noch einmal ausdrücklich - ich
habe das eingangs schon gesagt -: Die Kanzlerin hat davon gesprochen, dass das Budget für den Haushaltsposten Kinderzuschlag erhöht wird. Das ist gesagt worden.
Das haben wir auch umgesetzt.
({0})
Was die Gesamtzahl angeht, bestreite ich überhaupt
gar nicht - das gilt für fast alle Felder der Familienpolitik -, dass wir, wenn wir beliebig viel Geld zur Verfügung hätten, auch beim Kinderzuschlag noch eine ganze
Menge tun könnten. So läuft ja das, was von Ihnen und
Ihren Kolleginnen und Kollegen kommt, in der Regel
fast immer darauf hinaus, die Ansätze zu erhöhen. Sie
sagen aber an keiner Stelle, wie Sie sich die Finanzierung vorstellen. Wenn man regiert, hat man ein kleines
Problem: Die guten Ideen und Konzepte, die man entwickelt hat, muss man zu den finanziellen Möglichkeiten
in Beziehung setzen. Das geht immer nur über Kompromisse. Deswegen sage ich: Das, was wir jetzt machen,
ist eine ganz wichtige Maßnahme gegen Kinderarmut.
({1})
Ich möchte ausdrücklich noch einmal das betonen,
was eben Herr Singhammer in seiner Zwischenfrage angemerkt hat: Wir machen nicht nur eine ausgesprochen
erfolgreiche Familienpolitik, sondern auch unsere Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik ist außerordentlich erfolgreich. Es ist in der Tat so: 1,6 Millionen neue Arbeitsplätze bringen es mit sich, dass viele Väter und
Mütter jetzt in der Lage sind, den Lebensunterhalt für
sich und ihre Kinder selbst zu verdienen. Das ist eine
ganz tolle Entwicklung.
({2})
Wir setzen zum Beispiel dabei an, dass wir Menschen
zur Selbstständigkeit ermuntern und ermutigen und ihnen zugleich auch Möglichkeiten aufzeigen, was sie machen können. Wir setzen nicht in erster Linie darauf,
dass man beliebig hohe Summen aus dem Staatshaushalt
entsprechend einsetzt. Sie wissen aus den Bereichen, wo
Sie politische Verantwortung tragen, ja auch, dass das
nicht so ohne Weiteres geht.
Der Kinderzuschlag bringt nicht nur finanzielle Entlastungen für Familien im Niedrigeinkommensbereich,
sondern von ihm gehen auch zwei ganz wichtige gesellschaftspolitische Signale aus.
Das erste Signal: Arbeit lohnt sich. Wer in unserem
Land arbeitet, wer hier erwerbstätig wird, der hat einen
Vorteil.
Das zweite Signal: Die Entscheidung für Kinder ist
- das will ich ausdrücklich sagen - kein Grund für Armut. Mit diesem Ansatz leisten wir einen Beitrag dazu,
dass man wegen Kindern nicht in Armut versinkt. Wenn
wir in unserem Land sagen müssten: „Wer sich zu Kindern bekennt, wer sich für Kinder entscheidet, wer sich
womöglich für mehr Kinder entscheidet, der endet in Armut“, dann wäre das eine fürchterliche Feststellung. Armut durch Kinder, dagegen wollen wir politisch vorgehen, und das leistet dieser Kinderzuschlag.
({3})
Ich habe ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dies
nur ein Element ist, und dass es viele andere Punkte gibt,
die in unserem Gesamtkonzept angesprochen worden
sind. Dazu gehört das Elterngeld. Das ist eine Erfolgsgeschichte. Wir haben auch das entsprechend weiterentwickelt. Dazu gehört auch der Ausbau der Kinderbetreuung. Sie können heute in jeder Gemeinde feststellen,
dass sich dort in den letzten zwei, drei Jahren ungeheuer
viel bewegt hat. Wir brauchen das nicht zu propagieren.
Das kann jeder feststellen, der es möchte.
Wir werden uns jetzt ganz gezielt einer weiteren Sache zuwenden, nämlich dem Kindergeld. Es ist wichtig,
dass wir den Blick nicht nur auf diejenigen Kinder richten, die sich, leider, im SGB-II-Bezug - früher haben wir
von Sozialhilfe gesprochen - befinden, und auf diejenigen, die von einem Freibetrag profitieren, weil deren Eltern gut verdienen, sondern auch auf diejenigen, die weder von dem einen noch von dem anderen profitieren.
Genau dort setzt das Kindergeld an. Insofern ist das eine
ganz wichtige sozialpolitische Entscheidung, gerade für
Mehrkinderfamilien.
Herzlichen Dank.
({4})
Für die Fraktion der FDP hat jetzt Miriam Gruß das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Schon in der letzten Sitzungswoche haben wir
auf Antrag der FDP über das Thema Kinderarmut gesprochen. Ich freue mich, dass wir dieses Thema in dieser Sitzungswoche wieder - zu relativ prominenter Zeit auf der Tagesordnung haben. Die Große Koalition hat
mittlerweile also tatsächlich erkannt: Da gibt es ein
Thema, das bearbeitet werden muss. Allerdings gibt es
auch hier die schlechte Nachricht: Es geht leider wieder
in die falsche Richtung.
Es mag dahingestellt sein, wie viele vom verbesserten
Kinderzuschlag tatsächlich profitieren werden. Sie sprechen von 250 000 Kindern. Hier regieren drei Parteien.
An dieser Stelle will ich ansprechen, dass die CSU auf
Bundesebene mitregiert, Herr Singhammer. Es gibt in
Bayern leider keinen Armutsbericht. Die Ministerin ist
ihn uns seit vielen Jahren schuldig. Trotzdem gibt es
Zahlen von Verbänden. Wenn die Bundesregierung hier
behauptet, 250 000 Kinder profitierten vom verbesserten
Kinderzuschlag, verweise ich darauf, dass allein in Bayern 150 000 Kinder unter 15 Jahren auf Sozialhilfeniveau leben. Deswegen muss man sich noch sehr viel
grundsätzlichere Gedanken über die Kinderarmut machen. Das Instrument, das Sie uns heute hier vorgestellt
haben, reicht bei weitem nicht aus.
({0})
Herr Spanier hat gesagt: Keiner erwartet jetzt, dass
wir mit diesem Instrument die Kinderarmut wirklich beseitigen. Da stellt sich natürlich die Frage: Warum hat
man es überhaupt entwickelt?
({1})
Sie sprechen hier das Kinderfördergesetz an und sagen, damit seien die Probleme gelöst. Ich erinnere mich
immer noch an den von Ihnen letztendlich mitgetragenen
Zusatzparagrafen, durch den die Einführung des Betreuungsgeldes geregelt wird. Das wird wieder dazu führen,
dass gerade die Kinder, die es brauchten, keine Teilhabechancen haben.
({2})
Ganz grundsätzlich: Sie sprechen hier von Verteilen;
wir sprechen von Lassen. Warum lassen wir den Familien nicht einfach das Geld, das sie verdienen? Die Familien wissen schon selber, wofür sie es ausgeben würden.
({3})
An dieser Stelle möchte ich sagen: Das ist wieder ein
Linke-Tasche-rechte-Tasche-Spiel. Auf der einen Seite
wollen Sie den Familien etwas geben, auf der anderen
Seite ziehen Sie ihnen mit allen möglichen Maßnahmen
das Geld wieder aus der Tasche. 1 600 Euro hat eine
durchschnittliche vierköpfige Familie im letzten Jahr
aufgrund von Maßnahmen, die Sie, CDU/CSU und SPD,
hier beschlossen haben, mehr ausgeben müssen.
Zwischen dem 15. Dezember 2005 und dem
8. November 2007 sind 19 Maßnahmen beschlossen
worden, die zu Steuererhöhungen geführt haben. GravieMiriam Gruß
rend war natürlich die Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Hinzukommen viele andere von Ihnen hier beschlossene
Maßnahmen. Dieses Linke-Tasche-rechte-Tasche-Spiel
wird nicht aufgehen. Die Familien haben davon jedenfalls nichts.
({4})
Und weil mein lieber Herr Kollege, der Haushaltsausschussvorsitzende, hier sitzt, möchte ich an dieser Stelle
noch einmal darauf hinweisen: Auch das ist wieder eine
Maßnahme, deren Wirkung zu wünschen übrig lässt
bzw. möglicherweise fraglich ist. Wir haben keine Wirkungsanalyse über die Maßnahmen, aber auf diesen
Schuldenbergen, die wir bereits haben und auf die wir
die neuen Schulden, die wir jetzt aufbauen, draufsatteln,
können unsere Kinder nicht spielen und erst recht nicht
lernen.
({5})
Jetzt spricht Christel Humme für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen!
Liebe Frau Haßelmann, leider hat Ihre erregte Rede
letztlich nicht aufgezeigt, dass wir in der rot-grünen Regierungszeit mit dem Kinderzuschlag ein sehr gutes Instrument auf den Weg gebracht haben.
({0})
Jetzt geht es darum, dieses Instrument weiterzuentwickeln, und wir werden heute beschließen, dass mehr Familien diesen Kinderzuschlag erhalten - zusätzlich zum
Kindergeld. Das sind 300 Euro monatlich pro Kind. Das
sollte man nicht so runterspielen, sondern als gutes Instrument feiern.
({1})
Frau Haßelmann, wir haben uns bereits damals große
Sorgen über Kinderarmut gemacht; das ist gar keine
Frage. Wir wissen ganz genau, dass materielle Armut
letztlich zu gesellschaftlicher Ausgrenzung führt. Auch
das wollten wir durch den Kinderzuschlag verhindern.
Wir wollten einem Grundproblem, dem wir heute leider
immer noch gegenüberstehen, begegnen. Es ist das
Grundproblem, dass es Frauen und Männer gibt, die
zwar - auch in Vollzeit - beschäftigt sind, aber trotzdem
ein Armutsrisiko tragen. Ich denke, das ist die eigentliche Debatte, die wir langfristig führen müssen. Wir können uns zwar über den Kinderzuschlag streiten, aber es
geht im Wesentlichen um eine gute Beschäftigung und
eine gute Entlohnung. Denn vor allen Dingen davon
würden auch Alleinerziehende profitieren.
Frau Humme, Frau Lenke möchte Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Ich habe schon darauf gewartet, Frau Lenke.
Es ist also ausgemacht, also ein abgekartetes Spiel.
Wir spielen uns die Bälle nur so zu.
({0})
Frau Präsidentin, das ist sicherlich kein Spiel. Denn
es geht hier um Steuergelder.
Frau Kollegin Humme, Sie haben gesagt, dass es ein
erfolgreiches Gesetz ist. Allerdings haben nur 12 Prozent der Antragsteller seit 2004, als SPD und Grüne dieses Gesetz eingeführt haben, davon profitiert. Alle Experten haben dieses Gesetz unisono nicht gelobt, und sie
kritisieren auch diese gesetzliche Änderung. Ich habe Ihnen die Zitate dazu gezeigt, und ich glaube, dass Sie
auch bei der Anhörung anwesend waren. Ich kann den
Ausführungen aller Expertinnen und Experten - auch
denen der Experten von der SPD - nicht entnehmen,
dass das eine Erfolgsstory ist. Sagen Sie mir doch einmal, wo wir beide unterschiedlich denken. Schwarz auf
weiß sind Ihre Aussagen nicht belegt. Welchen Grund
haben Sie, es als Erfolg zu werten?
Also, Frau Lenke, Sie verwechseln da etwas. Das Instrument des Kinderzuschlags ist hervorragend, aber wir
alle wussten ganz genau, dass wir dieses Instrument
auch weiterentwickeln müssen. Genau das tun wir, und
das werden wir heute für viele Familien, die davon profitieren werden, beschließen. Darum geht es.
({0})
Wir wissen natürlich auch, liebe Kollegen und Kolleginnen, dass dieser Kinderzuschlag das gesellschaftliche
Problem der mangelnden Beschäftigung lediglich korrigiert, und daher kann dieser Kinderzuschlag - das hat
auch Herr Spanier zutreffend gesagt - nur ein kleiner
Baustein sein.
({1})
Herr Wunderlich und Frau Gruß, es ist natürlich richtig, dass wir nicht nur Bausteine brauchen. Wir brauchen
zur Bekämpfung der Kinderarmut und der Familienarmut eigentlich ein Haus bzw. ganz viele Bausteine,
und dazu gehören - wie schon gesagt - Beschäftigung
und existenzsichernde Löhne. Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang gleicher Lohn für die gleiche Arbeit von Männern und Frauen ein wichtiges Thema, und
ich denke, auch das Thema gesetzlicher Mindestlohn gehört hier hin. Das wollen wir unbedingt.
({2})
Dazu gehören allerdings auch - das wurde schon gesagt mehr Betreuungsplätze, damit Frauen und Männer und
vor allen Dingen Alleinerziehende die Chance haben,
eine Beschäftigung aufzunehmen. Schließlich sagt uns
der Armuts- und Reichtumsbericht ganz deutlich: Das
Armutsrisiko sinkt von 48 auf 4 Prozent, wenn beide Elternteile tatsächlich beschäftigt sind. Darum ist es für
uns ganz besonders wichtig, die Frauenerwerbsquote zu
erhöhen. Wir wollen gute Arbeit, gut bezahlte Arbeit
und mehr Betreuungsplätze; denn das sind die soliden
Fundamente für ein Haus, das vor Armut - vor allen
Dingen vor Kinderarmut - schützen soll.
In diesem Jahr gab es zwei parallele Debatten. Die
eine Debatte, die uns auch sehr stark beschäftigt und die
wir heute führen, setzt sich mit der Frage auseinander,
wie wir mit dem Thema Kinderarmut umgehen. Die andere Debatte befasst sich mit Steuersenkungen.
({3})
- Die Steuersenkungsspirale ist in der öffentlichen Debatte sehr häufig angesprochen worden. - Beide Debatten passen nicht zueinander; es sei denn, dass diejenigen,
die über Steuersenkungen diskutieren, wollen, dass die
Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinandergeht. Das wollen wir eindeutig nicht.
Uns ist es ernst mit der Armutsbekämpfung und mit
der Armutsprävention. Dazu brauchen wir einen finanziell gut ausgestatteten Sozialstaat. Alles andere funktioniert nicht.
({4})
Kinderzuschlag jetzt und Wohngelderhöhung ab dem
1. Januar 2009 kosten 650 Millionen Euro. Diesen Bausteinen zur Bekämpfung von Armut wollen wir noch andere Bausteine hinzufügen: zielgenaue Hilfen zu den
Schulmitteln, Anpassung der Kinderregelsätze und auch
die Erhöhung des Kindergeldes. Eine Steuersenkungsdebatte können wir an dieser Stelle überhaupt nicht gebrauchen.
Darüber hinaus gilt: Der finanzielle Ausgleich über
Transferleistungen allein reicht nicht. Wir sind im europäischen Vergleich nach wie vor im Zugzwang, mehr in
Bildung und Betreuung zu investieren. In keinem anderen europäischen Land - Frau Lenke, da gebe ich Ihnen
recht - gibt es einen so starken Effekt wie in Deutschland. Bei uns gilt seit 30 Jahren, dass Armut vererbbar
ist; denn immer noch werden Kinder aufgrund ihrer finanziellen Lage und aufgrund ihrer Herkunft in unserem
Bildungssystem abgehängt. Das hat uns der aktuelle Nationale Bildungsbericht bedauerlicherweise wieder vor
Augen geführt. Wir wollen diesen Kreislauf unbedingt
durchbrechen. Auch dafür brauchen wir einen starken
und finanziell gut ausgestatteten Sozialstaat.
({5})
Mit dem Ganztagsschulprogramm haben wir den Prozess eingeleitet; mit dem Rechtsanspruch auf frühkindliche Bildung setzen wir diese Politik fort. Allein der
Rechtsanspruch auf frühkindliche Bildung wird uns
12 Milliarden Euro kosten. Steuersenkungen helfen an
dieser Stelle überhaupt nicht weiter. Allein der quantitative und qualitative Ausbau der Bildung und Betreuung
ist ein massives Beschäftigungsprogramm. Wir brauchen
80 000 Erzieherinnen und Erzieher mehr in diesem Bereich. Wir müssen diejenigen, die jetzt schon als Erzieherinnen und Erzieher arbeiten, besser qualifizieren,
weiterbilden und in Zukunft besser bezahlen. Dafür
brauchen wir mehr Geld: im Bund, in den Ländern und
in den Kommunen. Gerade hier sind Steuersenkungen
das falsche Signal.
Wir wollen ein stabiles Haus bauen, das Familien und
ihren Kindern langfristig das Armutsrisiko nimmt und
sie vor Armut schützt. Wir haben das Baumaterial vom
Fundament bis zum Dach. Ein wirksames Gesamtkonzept ist wichtig. Neben dem Kinderzuschlag - er ist nur
ein Baustein von vielen - sind zielgenaue finanzielle
Hilfen, bildungs- und beschäftigungspolitische Programme wichtige Bausteine.
Zu einem langlebigen Haus gehört auch eine solide
Finanzierung; da gebe ich Ihnen, Frau Lenke, vollkommen recht. Auch ich würde natürlich gerne auf die
184 Milliarden Euro schauen, die wir an Familienleistungen zur Verfügung stellen, und überprüfen, ob es
nicht Möglichkeiten gibt, mehr umzuschichten. Denn eines ist auch richtig: Immer draufzusatteln und sich immer höher zu verschulden, hilft auch der nachfolgenden
Generation nicht und schützt sie nicht vor Armut.
Danke schön.
({6})
Der Kollege Paul Lehrieder hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Werte Zuschauer! Frau Lenke, Sie haben in Ihrer Rede mehrfach die zu kleinen Bausteine moniert. Ich möchte Ihnen ein anderes Beispiel nennen. Es
gibt einen guten Spruch, der lautet: Jeder Weg beginnt
mit dem ersten Schritt. Den ersten Schritt in puncto Kinderzuschlag hat zugegebenermaßen die rot-grüne Bundesregierung vor unserer Zeit gemacht. Wir machen jetzt
den zweiten Schritt in diese richtige Richtung. Liebe
Frau Lenke, mit vielen kleinen Schritten kommen wir
auch zum Ziel. Wenn man natürlich überhitzt oder überstürzt vorprescht, kann man auch ins Stolpern geraten.
({0})
- Trippelschritte, Herr Fricke, sind es nicht. Wie gesagt,
wir müssen ein bisschen auf den Haushalt aufpassen.
Frau Haßelmann, Sie haben moniert, es sei zu wenig
in der Kasse, um noch mehr zu erreichen. Ihr Programm
ist offensichtlich dem Erbe ähnlich, das Rot-Grün hinterlassen hat: 37 Milliarden Euro neue Schulden.
({1})
Frau Kollegin Humme hat zu Recht darauf hingewiesen:
Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen.
Wir können doch der nächsten Generation um Himmels
willen nicht einen noch größeren Berg an Schulden hinterlassen.
({2})
Die Gegenfinanzierungsvorschläge des Kollegen
Wunderlich, zum Beispiel jenen zu den drei Fregatten,
erspare ich mir zu kommentieren. Wir können nicht die
äußere Sicherheit mit sozialen Leistungen aufrechnen,
Herr Kollege Wunderlich. Das wäre schlichtweg zu einfach.
Ich kann mir auch ein kritisches Wort zu unserem Koalitionspartner nicht ganz verkneifen, lieber Kollege
Spanier, liebe Kollegin Humme. Auf der Regierungsbank sitzt der Herr Staatssekretär Brandner. Er kann Ihnen gern erklären, was es mit dem Mindestlohn auf sich
hat. Wir reden heute über Mehrkinderfamilien, die durch
den Kinderzuschlag vor Hartz IV bewahrt werden sollen. Wenn Sie über die Einführung eines Mindestlohns
von 7,50 oder 8,50 Euro diskutieren wollen, dann lassen
Sie sich doch bitte schön einmal vom Kollegen Brandner
erklären, dass ein Mindestlohn von 8 Euro einer vierköpfigen Familie gar nichts bringt, weil diese schon nach
den Regelsätzen einer Bedarfsgemeinschaft bei circa
12 bzw. 12,50 Euro liegen würde. Streuen wir also unseren Zuhörern keinen Sand in die Augen
({3})
und tun wir nicht so, als würde ein Mindestlohn genau
die Schicht erreichen, die wir mit dem Kinderzuschlag
erreichen wollen.
Herr Kollege, Herr Spanier würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Selbstverständlich. Wenn ich ihn angreife, muss er
doch antworten dürfen.
({0})
Wenn Sie möchten, dass wir uns jetzt im Plenum miteinander unterhalten, mache ich das natürlich gerne.
Sie wollen doch eine Frage stellen.
Ich will nur eines klarstellen: Ich habe vorhin in meinem kurzen Redebeitrag ganz vergessen, den gesetzlichen Mindestlohn anzusprechen.
({0})
Herr Lehrieder, ich habe vielmehr die Union daran erinnert, dass wir beschlossen haben, im Rahmen des Entsendegesetzes zwischen Tarifparteien vereinbarte Mindestlöhne für allgemeinverbindlich zu erklären. Man
entschuldige die etwas bürokratische Sprache; aber der
Klarheit wegen muss ich dies so sagen. Ich habe mir gewünscht, dass wir in dieser Frage so zusammenarbeiten,
wie wir das auch beim Kinderzuschlag getan haben.
({1})
Dabei bleibe ich. Sie auch? Ich muss ja eine Frage stellen.
Lieber Kollege Spanier, ich muss gestehen: Die Zusammenarbeit zwischen den Koalitionsfraktionen ist
nicht in allen Bereichen gleich intensiv und gleich gut.
Das ist nicht völlig neu; das wissen Sie so gut wie ich.
Im Protokoll werden Sie nachlesen können, was Sie zum
Mindestlohn gesagt haben. Wir arbeiten daran; ich bin
Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Aber da
haben wir noch einen langen Weg vor uns. Auch da müssen wir einen Schritt nach dem anderen machen und dürfen nichts überstürzen.
({0})
- Wir machen schon Schritte.
Bei der Diskussion über den Bereich der Kinderarmut
fällt natürlich auf, dass gerade Familien im niedrigen
Einkommensbereich - darauf wurde bereits hingewiesen wie auch alleinerziehende Mütter und Väter derzeit
überdurchschnittlich oft im ergänzenden ALG-II-Bezug
vertreten sind. Besonders Eltern mit mehreren Kindern
können zum Teil trotz Vollzeiterwerbs nur mit großen
Anstrengungen ein Einkommen erzielen, das oberhalb
des existenzsichernden ALG-II-Bedarfs der gesamten
Familie liegt.
Mit dem heute vorliegenden Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes wollen wir
erreichen, dass durch eine Verbesserung und Weiterentwicklung des Kinderzuschlags weniger Kinder und ihre
Familien auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen
sein werden.
({1})
Entsprechend den Koalitionsvereinbarungen vom
11. November 2005 soll unter anderem der Kreis der Berechtigten ausgeweitet werden, um die Zielsetzung des
Kinderzuschlags besser als bisher zu realisieren. Zwar
gibt es den Kinderzuschlag bereits seit Beginn des Jahres
2005; ich habe darauf hingewiesen. Allerdings haben
Probleme in der Umsetzung gezeigt, dass eine Weiterentwicklung vonnöten ist.
Das Antragsverfahren soll künftig vereinfacht werden.
({2})
- Bitte eine Frage. - Bisher musste die Mindesteinkommensgrenze mit hohem bürokratischem Aufwand individuell bestimmt werden. Die von uns gesetzte klare und
zugleich deutlich gesenkte Einkommensgrenze von einheitlich 600 Euro für Alleinerziehende und 900 Euro für
Paarhaushalte lässt Eltern nun leichter, schneller und
einfacher erkennen, ob sie für den Kinderzuschlag infrage kommen oder nicht. Der Kreis der Berechtigten
wird erheblich ausgeweitet; vielleicht nicht so sehr, wie
man ursprünglich gedacht hat, aber zumindest wird er
ausgeweitet. In Kombination mit der Wohngeldreform
kann so dazu beigetragen werden, dass Familien mit
Kindern unabhängig von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende werden.
Zusätzlich zur fixen Mindesteinkommensgrenze von
600 bzw. 900 Euro wird - auch das ist wichtig - die Abschmelzrate für Einkommen aus Erwerbstätigkeit von
derzeit 70 Prozent auf nunmehr nur noch 50 Prozent abgesenkt.
({3})
Das bedeutet, dass der Kinderzuschlag bei steigendem
Einkommen maßvoller abnimmt. Eltern haben von ihrem selbst erwirtschafteten Einkommen künftig mehr für
sich. Durch die gesenkte Abschmelzrate wird ein durchgehender Erwerbsanreiz gesetzt. Zugleich wird der Anreiz zum Ausstieg aus der Arbeitslosigkeit deutlich erhöht. Beschäftigung muss für alle Erwerbsfähigen in
diesem Land attraktiv bleiben, insbesondere für Eltern.
Arbeiten für die eigene Familie soll sich auszahlen.
Mit der Weiterentwicklung des Kinderzuschlags und
der unbefristeten Bezugsdauer können Familien, vor allem Mehrkinderfamilien, spürbar entlastet werden. Über
den Kinderzuschlag werden die Leistungen weiterhin
auf Familien im Niedriglohnbereich konzentriert. Diese
wichtige Unterstützung von Eltern und Kindern war
trotz schwieriger Haushaltslage möglich. Von dieser
Weiterentwicklung und der Ausweitung des Kreises der
Berechtigten profitieren künftig 120 000 Kinder und
50 000 Familien mehr als bisher.
({4})
Die Armutsgefährdungsquote von Kindern wird durch
den erweiterten Kinderzuschlag deutlich verringert.
({5})
Kinder dürfen kein Grund für Familienarmut sein.
Genauso wenig darf die finanzielle Lage der Menschen
in unserem Land ein Grund sein, sich gegen die Gründung einer Familie zu entscheiden. Mit unserem Maßnahmenpaket, der Einführung des Elterngeldes, dem
Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen für unter
Dreijährige - zugegebenermaßen in harmonischer Zusammenarbeit mit unserem Koalitionspartner, Herr
Spanier - und der Weiterentwicklung des Kinderzuschlags, haben wir in den letzten Jahren viel erreicht.
Wir sind mit den genannten zielgenauen und wirkungsvollen Instrumenten auf dem richtigen Weg, um materieller Armut gerade bei den jüngsten Mitgliedern der
Gesellschaft und deren Familien entgegenzuwirken.
({6})
Wir werden diesen Weg weitergehen. Es ehrt die Oppositionsparteien, dass sie uns regelmäßig mit pawlowschem Reflex kritisieren
({7})
und sagen: Ihr macht es zwar richtig, aber zu langsam,
und das ist zu wenig. Wir bitten Sie, uns weiterhin kritisch zu begleiten, aber auch anzuerkennen, was gut ist
und was richtig läuft.
({8})
Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin
Caren Marks.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Sehr geehrte Herren und Damen! Zuerst möchte
ich ein paar Sätze an die Kolleginnen und Kollegen der
FDP richten: Von Ihrem Steuersenkungsprogramm profitieren von Armut betroffene Familien nicht wirklich.
Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass es die
rot-grüne Bundesregierung war, die den Grundfreibetrag
verdoppelt hat und den Eingangssteuersatz von 25 auf
15 Prozent gesenkt hat. Das hat Familien mit geringem
Einkommen wirklich entlastet.
({0})
Frau Kollegin, Frau Lenke würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ach nein, das ist immer die gleiche. Ich habe sonst
nichts gegen Zwischenfragen, aber die Fragen von Frau
Lenke tragen selten zur Klärung bei.
({0})
Armut - das haben wir heute schon mehrfach gehört ist ein Mangel an Teilhabe, an Bildung, an materiellen
Gütern, an sozialen Kontakten und an einer guten gesundheitlichen Entwicklung. Die Ausprägung von Armut - das muss uns bewusst sein - ist vielschichtig. Der
Kinderzuschlag ist ein Baustein zur Bekämpfung von
Armut, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben ihn zusammen mit den Grünen erfolgreich eingeführt. Da
Stillstand Rückschritt wäre, entwickeln wir den Kinderzuschlag in der Großen Koalition weiter.
({1})
160 000 Kinder in 75 000 Familien werden mit dem
weiterentwickelten Kinderzuschlag zusätzlich erreicht.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
Abg. Paul Lehrieder ({2})
Diese Kinder und Familien werden ab dem nächsten Jahr
von der bereits beschlossenen Wohngelderhöhung und
der geplanten Kindergelderhöhung profitieren. Der
Dritte Armuts- und Reichtumsbericht zeigt einmal mehr:
Die Kombination aus Kinderzuschlag, Wohngeld und
Kindergeld ist ein Beitrag zur Bekämpfung von Armut.
Hauptprofiteure vom Kinderzuschlag sind die Mehrkinderfamilien. Durch den Kinderzuschlag wird deren
Einkommen um durchschnittlich 250 Euro im Monat
aufgestockt. Das sind bis zu 15 Prozent mehr monatliches Haushaltsnettoeinkommen.
Weniger zufrieden sind wir dagegen mit der Wirkung
des Kinderzuschlags für Alleinerziehende. Sie haben das
höchste Armutsrisiko, profitieren bisher aber kaum vom
Kinderzuschlag. Um das zu ändern, führen wir jetzt das
bereits erwähnte kleine Wahlrecht ein. Insgesamt erhöhen wir den Anteil der Alleinerziehenden, die Anspruch
auf Kinderzuschlag haben, von 7 auf 14 Prozent. Das ist
ein Schritt in die richtige Richtung.
Alleinerziehende brauchen allerdings mehr als finanzielle Hilfen. Sie brauchen vor allem fair bezahlte Arbeit; denn sie müssen das Familieneinkommen allein erwirtschaften.
({3})
Deshalb machen wir uns für Mindestlöhne stark. Das
Nein der Familienministerin und der Union ist für mich
nicht nachvollziehbar.
({4})
Alleinerziehende brauchen gute Betreuungs- und Bildungsangebote für Kinder. Deshalb lautet unser familienpolitischer Schwerpunkt nicht erst seit dieser Legislaturperiode: mehr und bessere Kita-Angebote und
Ganztagsschulen.
({5})
Mit dem gegenseitigen Abschieben von Verantwortlichkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen
muss endlich Schluss sein.
({6})
Dafür haben die Familien in diesem Land zu Recht kein
Verständnis.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben einen Aktionsplan für gleiche Lebenschancen vorgestellt, in dem wir die Verantwortlichkeiten deutlich benennen. Die Kommunen sind vor allem für das gesunde
Aufwachsen von Kindern und den Ausbau der Kitas zu
Eltern-Kind-Zentren verantwortlich. Die Sicherstellung
von gleichen Bildungschancen für alle und die Qualität
der Bildungseinrichtungen sind Sache der Länder. Wir
als Bund müssen für eine gerechte Besteuerung, für eine
gezielte finanzielle Förderung von Familien und für angemessene Regelsätze in der Grundsicherung sorgen.
Auf der Ebene der Zuständigkeiten gilt Paragraf
eins: Jeder macht seins. Es kann nicht sein, dass wir im
Bund zusätzliche Leistungen für Familien beschließen
und die Länder und Kommunen dies über höhere KitaBeiträge, Abschaffung von Lernmittelfreiheit und Essensgebühren sozusagen wieder einkassieren.
({7})
Wir brauchen ein gemeinsames Vorgehen zur Schaffung gleicher Lebenschancen aller Kinder. Wir brauchen
eine Gesamtstrategie, die alle politischen Bereiche in die
Verantwortung nimmt. Wir brauchen eine nationale Kinderkonferenz. Ich werbe um breite Unterstützung dafür.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Ina Lenke.
Sehr geehrte Frau Kollegin Marks, ich muss mich gegen Ihre Angriffe verwahren. Sie haben sich über die
FDP sehr diskriminierend geäußert. Stichwort Steuererhöhungen: Ich habe die Tatsache genannt, dass SPD und
CDU/CSU die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent erhöht haben. Das belastet gerade Familien mit wenig
Geld. Das sind zusätzliche Kosten.
Außerdem stelle ich fest, Frau Kollegin Marks, dass
Sie unseren Antrag, den wir hier heute vorgelegt haben,
nicht gelesen haben. Sonst hätten Sie dem Parlament und
den Besuchern nicht so viel Falsches erzählt.
({0})
Frau Kollegin Marks.
Ich glaube, mit dieser Kurzintervention haben Sie
sich selbst ins Abseits gestellt.
({0})
Darum will ich dazu gar nicht mehr viel anmerken. Die
FDP - es ist schon lange her - war ja einmal in Regierungsverantwortung. Sie sprechen davon, dass Sie Steuersenkungsprogramme für Familien mit kleinen Einkommen aufgelegt haben. Dazu finde ich nichts.
Vielleicht suchen Sie einmal; aber ich glaube, auch Sie
werden nichts finden.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes. Der Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9792, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
auf Drucksache 16/8867 in Kenntnis der Unterrichtung
durch die Bundesregierung auf Drucksache 16/4670 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen der
Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9812. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist bei Gegenstimmen der FDP mit den Stimmen des
restlichen Hauses abgelehnt.
Wir setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 16/9792 fort.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9615 zur
Änderung des Bundeskindergeldgesetzes für erledigt zu
erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8883
mit dem Titel „Kinderzuschlag weiterentwickeln - Fürsorgebedürftigkeit und verdeckte Armut von Erwerbstätigen mit Kindern verhindern und bekämpfen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der
FDP bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen
und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9746 mit dem Titel „Armut trotz Arbeit vermeiden - Benachteiligung Alleinerziehender beim Kinderzuschlag beenden“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des restlichen Hauses
abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Joachim Stünker, Michael Kauch, Dr. Lukrezia
Jochimsen und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Betreuungsrechts
- Drucksache 16/8442 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Joachim Stünker, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf Ihnen
heute Nachmittag - ich möchte sagen: endlich - den Gesetzentwurf einer Gruppe von 209 Kolleginnen und Kollegen aus vier Fraktionen dieses Hauses vorstellen, mit
dem wir den Umgang mit Patientenverfügungen im Betreuungsrecht verbindlich regeln wollen.
Man kann die getroffene Regelung in einem Satz wie
folgt zusammenfassen: Falls ein Patient entscheidungsunfähig ist, hat der behandelnde Arzt eine vorgelegte Patientenverfügung zu respektieren, sofern diese aktuell
und auf die gegebene Situation anwendbar ist. Ich wiederhole: sofern sie aktuell und auf die gegebene Situation anwendbar ist.
Viele sagen: Es ist doch alles klar, wir brauchen diese
Regelung nicht. Der Präsident der Bundesärztekammer
hat erst vor wenigen Tagen in einem Zeitungsinterview
gesagt:
Wir haben Klarheit - und diese wird durch ein Gesetz nicht noch klarer werden.
Ich denke, in dieser Frage ist gar nichts klar. Gerade das
teilweise babylonische Stimmengewirr, das wir im Vorfeld der heutigen Debatte in den Medien erlebt haben,
macht mit Nachdruck deutlich: Vieles ist nicht klar.
Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Immer wieder heißt es, wir wollen die aktive Sterbehilfe nicht befördern. Dazu kann ich nur sagen: Unser Gesetzentwurf
hat mit aktiver Sterbehilfe überhaupt nichts zu tun.
({0})
Tötung auf Verlangen bleibt nach § 216 des Strafgesetzbuches strafbar, und kein Mensch will diese Grenze
überschreiten. Wenn ein Mensch eine bestimmte medizinische Behandlung für sich ausschließt, nicht möchte,
dass sie an ihm vorgenommen wird, und sie seinem WilJoachim Stünker
len entsprechend unterlassen wird, ist das keine aktive
Sterbehilfe.
({1})
Es wird immer gesagt - so war es auch heute Morgen
im Fernsehen zu verfolgen -, die Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofes verlange für die Rechtsverbindlichkeit einer Patientenverfügung, dass eine sogenannte infauste Prognose vorliegt, das heißt, dass der Sterbeprozess bereits begonnen hat. Viele Ärzte und viele andere
Menschen, die das heute Morgen gehört haben, werden
da erschrocken gewesen sein. Denn die Praxis ist eine
ganz andere, und die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes - das ist in der Rechtswissenschaft einhellige
Meinung - besagt das eben nicht.
Es wird behauptet, wir wollten mit diesem Gesetzentwurf das Sterben regeln. Meine Damen und Herren, wir
wollen nicht das Sterben regeln, wir wollen lediglich
Rechtssicherheit schaffen, wie mit Patientenverfügungen
umzugehen ist.
({2})
Denn rechtstatsächlich betrachtet haben wir Unklarheit.
Unklarheit bedeutet Rechtsunsicherheit. Ich meine, die
Menschen verlangen in einem Rechtsstaat, dass der Gesetzgeber Rechtssicherheit schafft - übrigens nicht nur
für die Patientinnen und Patienten, sondern auch für die
Ärzte, die ja Tag für Tag mit Patientenverfügungen umgehen müssen.
9 bis 10 Millionen Menschen in unserem Land haben
bereits eine Patientenverfügung verfasst. Diese Menschen wollen, dass ihr Wille im Hinblick auf ihr Lebensende bindend beachtet wird.
({3})
Die Menschen haben ein verfassungsrechtlich verbrieftes Recht darauf, dass ihr Wille beachtet wird:
Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.
So steht es in Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes. Diese
Garantie der Selbstbestimmung vermag auch die wie
auch immer geartete Lebensschutzpflicht des Staates
nicht zu relativieren, geschweige denn zu negieren.
({4})
Über seine leiblich-seelische Integrität bestimmen zu
können, gehört zum ureigenen Bereich der Personalität
des Menschen. In diesem Bereich ist man aus der Sicht
des Grundgesetzes frei, seine Maßstäbe zu wählen, nach
ihnen zu leben, nach ihnen zu entscheiden. Der Einzelne
hat ein Recht auf Leben, aber nicht die Pflicht zu leben.
Die Menschen, die ihren Willen in einer Patientenverfügung niedergelegt haben, haben sich ganz individuell in
diesem verfassungsrechtlichen Rahmen bewegt. Diese
Entscheidung hat der Staat zu respektieren.
({5})
Wie kann das Grundrecht auf Selbstbestimmung gewährleistet werden, wenn sich der Bürger infolge einer
schweren Krankheit nicht mehr äußern kann? Da eine
Patientenverfügung vor Zeiten niedergelegt worden ist,
stellt sich die - entscheidende - Frage: Will der Patient
noch, dass gemacht wird, was er einmal aufgeschrieben
hat? Im Grunde ist das - entschuldigen Sie den Ausdruck - ein Sonderfall von Kommunikation. Wodurch
lässt sich das direkte Gespräch zwischen Arzt und Patient, das ja nicht mehr stattfinden kann, ersetzen?
Für die Umsetzung und die Überprüfung der schriftlichen Verfügung haben wir in dem Ihnen vorliegenden
Gesetzentwurf klare Regeln definiert. Lassen Sie mich
diese Regeln kurz erläutern. Für eine Patientenverfügung soll die Schriftform erforderlich sein. Die Patientenverfügung ist vom Arzt und vom Betreuer oder
Bevollmächtigten gemeinsam auszulegen. Jede Patientenverfügung ist zu interpretieren; es gibt keinen Automatismus, dass das, was in der Patientenverfügung steht,
eins zu eins umgesetzt wird. Der in der Patientenverfügung niedergelegte Wille ist nur dann umzusetzen, wenn
er auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutrifft - was zu prüfen ist. Arzt und Betreuer oder Bevollmächtigter müssen dies einvernehmlich feststellen.
Wenn sie es nicht einvernehmlich feststellen können,
wenn Uneinigkeit bleibt, muss letzten Endes das Vormundschaftsgericht entscheiden. Aktuelle Lebensäußerungen des Patienten sind zu beachten; sie müssen Vorrang haben vor dem, was in der Patientenverfügung
niedergelegt ist. Eine Patientenverfügung soll jederzeit
formlos widerrufbar sein. Gibt es keine Patientenverfügung oder trifft der niedergelegte Wille nicht die aktuelle
Lebens- oder Behandlungssituation, müssen Arzt und
Bevollmächtigter den mutmaßlichen Patientenwillen ermitteln. Das ist das, was in der Praxis täglich geschieht.
Anhand dieser Fragen, die zu regeln sind, eine Grundsatzdebatte über Leben oder Tod zu beginnen, ist in meinen Augen unangemessen. Das sollte der Gesetzgeber
im Ergebnis nicht mitmachen.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir werden diesen Gesetzentwurf in der parlamentarischen Beratung
mit Sachverständigenanhörungen nach der Sommerpause sicherlich sehr gründlich beraten können. Es ist
uns ja teilweise vorgeworfen worden, wir würden nun
voreilig und zu schnell handeln.
({6})
Ich darf Ihnen nur sagen: Diesen Gesetzentwurf gibt es
bereits seit einem Jahr. Im Koalitionsvertrag aus dem
Jahre 2005 steht, dass wir in dieser Legislaturperiode
entsprechend vorangehen wollen. Ich glaube, wenn wir
in dieser Legislaturperiode noch eine Entscheidung
herbeiführen wollen, dann müssen wir uns in der Tat beeilen.
Schönen Dank.
({7})
Ich gebe dem Kollegen Michael Kauch, FDP-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
Sterben ist Teil des Lebens. Wir sprechen heute über die
Selbstbestimmung von Patientinnen und Patienten und
müssen erkennen, dass das ein Baustein für ein menschenwürdiges Leben bis zuletzt ist, aber eben nur ein
Baustein. Deshalb haben wir in der vergangenen Woche
beispielsweise auch sehr intensiv über die palliativmedizinische Versorgung von Patientinnen und Patienten gesprochen. Wir brauchen mehr Qualität in der Pflege, wir
brauchen ein Gesundheitssystem, mit dem wir nicht sehenden Auges rationieren, wir brauchen mehr Zuwendung für Sterbende, und wir brauchen gerade auch für
die Menschen, die zu Hause sterben wollen, eine professionelle und leidmindernde Palliativmedizin, und zwar
nicht nur in den Großstädten, sondern auch in der Fläche.
({0})
All diese Maßnahmen sind aber keine Gegensätze zu
einer Politik für mehr Patientenautonomie. Beides gehört zusammen: das Angebot der Gesellschaft für eine
optimale Versorgung und die Freiheit des Einzelnen, bestimmte Behandlungen auch ablehnen zu können. Fürsorge in Fremdbestimmung ist so schlecht wie Selbstbestimmung ohne Fürsorge; denn durch die moderne
Medizin wurden viele Möglichkeiten geschaffen, die
man sich vor 50 Jahren nicht vorstellen konnte. Für viele
Menschen ist das ein großes Geschenk, für manche ist
das aber eben auch eine Qual. Ob es eine Qual oder ein
Geschenk ist, kann niemand anderer als der Einzelne
selbst entscheiden.
({1})
Niemand muss Patientenverfügungen abfassen. Es ist
völlig in Ordnung, wenn man sagt: Ich habe einen Bevollmächtigten, der das im Falle des Falles für mich entscheiden soll. Wer aber klar weiß, was er will und was er
nicht will, dessen Patientenverfügung muss geachtet
werden. Das darf vom Staat nicht in Abrede gestellt werden.
({2})
Einen Gegensatz zwischen der Vorsorgevollmacht
und der Debatte über Patientenverfügungen aufzumachen, wie das die Kollegin Künast gestern leider getan
hat, grenzt schon an Verdummung der Leute; denn auch
der Bevollmächtigte kann heute nicht jede Behandlungsbeschränkung verfügen. Er ist an die gleiche Reichweitenbeschränkung gebunden, die es auch bei der Patientenverfügung gibt.
Meine Damen und Herren, bereits 2004 und 2006 haben die Liberalen als einzige Fraktion einen Antrag zur
Stärkung von Patientenverfügungen in den Deutschen
Bundestag eingebracht. Bereits in der vergangen Wahlperiode hat die Enquete-Kommission „Ethik und Recht
der modernen Medizin“ die Pros und Kontras genau abgewogen und eine Empfehlung abgegeben. Bereits vor
einem Jahr haben wir in diesem Parlament eine Orientierungsdebatte geführt. Deshalb ist es völlig abwegig,
wenn nun von der Fraktionsführung der CDU/CSU in
Person von Herrn Röttgen gesagt wird, alles gehe zu
schnell. Nein, die Menschen im Land warten seit vier
Jahren darauf, dass dieses Parlament endlich eine Entscheidung trifft.
({3})
Leitbild der Liberalen ist das Bild eines Menschen,
der auch in existenziellen Fragen so frei wie möglich
über sein Leben entscheiden kann. Wir geben der Selbstbestimmung im Zweifel Vorrang vor anderen Überlegungen, seien sie auch noch so fürsorglich motiviert.
Das ist die eigentliche Trennlinie in der Debatte über Patientenverfügungen: Die eine Seite nimmt fürsorglichen
Paternalismus auch mit Zwangsbehandlungen in Kauf,
die andere Seite vertraut auf die Kraft und die Urteilsfähigkeit des Menschen.
Um es klar zu sagen: Wir haben keine naive Vorstellung von Selbstbestimmung. Beim Verfassen einer Patientenverfügung besteht eine gewisse Unsicherheit.
Man weiß nicht genau, was in Zukunft sein wird. Der
voraus verfügte Wille ist immer schwächer als der aktuell verfügte. Was aber ist die Alternative? Die Alternative zum voraus verfügten Willen der eigenen Person ist
die Entscheidung eines Dritten. Die Alternative ist im
Zweifel eine Fremdbestimmung auch unter Inkaufnahme
einer Zwangsbehandlung. Das ist aus meiner Sicht nicht
akzeptabel; auch für die große Mehrheit meiner Fraktion
ist das keine Lösung.
Eine Begrenzung der Reichweite auf irreversibel zum
Tode führende Erkrankungen liefert den Patienten einer
möglicherweise fehlerhaften ärztlichen Prognose aus.
Ob beim Wachkoma, in der Notfallmedizin oder bei religiösen Behandlungsbeschränkungen: In all diesen Fällen
führt eine Reichweitenbegrenzung dazu, dass Menschen
entgegen ihrem explizit geäußerten Willen zwangsbehandelt werden. Eine Reichweitenbegrenzung bedeutet
- um sich das in der Praxis vorzustellen -, dass gegen
den Willen des Patienten Magensonden gelegt, Sehnen
zerschnitten und Antibiotika verabreicht werden. Das
hat mit Selbstbestimmung nichts zu tun.
({4})
Was haben wir Liberalen in den Gesetzentwurf eingebracht? Erstens haben wir durchgesetzt, dass eine Patientenverfügung nur dann Gültigkeit hat, wenn der gesetzliche Vertreter des Patienten genau geprüft hat, ob
sie noch dem aktuellen Willen des Patienten entspricht.
Zweitens haben wir durchgesetzt, dass auch nonverbale
Äußerungen, etwa von Demenzkranken, berücksichtigt
werden und im Zweifel pro vita entschieden wird. Drittens haben wir durchgesetzt, dass Angehörige und Pflegekräfte in den Prozess einbezogen werden, damit sie
gegebenenfalls das Vormundschaftsgericht anrufen können.
Die Sicherungen, die dieser Gesetzentwurf bringt,
sind sehr stark.
Herr Kollege Kauch.
Deshalb bitte ich Sie, diesem Gesetzentwurf, gegebenenfalls in geänderter Fassung, zuzustimmen.
Vielen Dank.
({0})
Ich gebe dem Kollegen Markus Grübel, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben letzte Woche an dieser Stelle über bessere
Rahmenbedingungen für Schwerstkranke und Sterbende
gesprochen.
({0})
Wir waren uns einig, dass aktive Sterbehilfe oder Ähnliches keine Antwort einer menschlichen Gesellschaft auf
die Frage von Leiden und Krankheit sein kann. Die Antwort darauf liegt vielmehr in der Palliativmedizin und
Hospizarbeit, wobei eine gute Versorgung in der Fläche,
sowohl ambulant als auch stationär, notwendig ist.
({1})
Palliativmedizin und Hospizarbeit sind noch junge Teile
des Gesundheitswesens. In diesen Bereichen hat sich in
Deutschland in den letzten Jahren sehr viel getan. Insofern war es richtig, die Diskussion über das Thema Patientenverfügung nicht zu früh zu führen. Wir hatten vereinbart, das Thema erst nach der Sommerpause zu diskutieren. Ihr Gesetzentwurf, Herr Stünker, wurde nach der
ersten Debatte, die der Orientierung diente, nicht in der
ursprünglichen Fassung eingebracht. Sie hatten Zeit erbeten, um Ihren Gesetzentwurf zu überarbeiten.
({2})
Auch meine Gruppe hatte sich noch Zeit erbeten. Die
Absprache wurde leider nicht eingehalten. Viel Zeit gewinnen wir aber nicht, weil die Sommerpause bevorsteht.
({3})
Bei der Bewertung einer Patientenverfügung geht es
im Wesentlichen darum, ob der voraus verfügte Wille eines Patienten und der aktuelle Wille gleich sind. Im Normalfall kommt dem Gespräch zwischen Arzt und Patient
eine große Bedeutung zu. Der Arzt oder die Ärztin stellt
die Diagnose und erläutert dem Kranken die Krankheit.
Der Patient hat die Möglichkeit, Rückfragen an den Arzt
zu richten. Der Arzt merkt schnell, ob der Patient verstanden hat, welches Krankheitsbild er aufweist und wie
die Krankheit möglicherweise verläuft.
Wenn sich der Patient über seinen Gesundheitszustand
im Klaren ist, dann zeigt ihm der Arzt Behandlungsmöglichkeiten, verbunden mit möglichen Konsequenzen,
Chancen und Risiken, auf. Danach - möglicherweise
nach einer Bedenkzeit, in der der Patient Rücksprache
mit Angehörigen oder einem weiteren Arzt halten kann entscheidet sich der Patient für oder gegen die Behandlung. Dann kann der Arzt noch einmal nachfragen, wenn
er den Eindruck hat, dass dem Patienten möglicherweise
moderne oder zeitgemäße Behandlungsmethoden, zum
Beispiel eine gute Schmerztherapie, nicht bekannt waren. Die Entscheidung des Patienten, sein aktueller Wille
ist selbstverständlich bindend.
Bei der Patientenverfügung sieht das anders aus: Dem
Arzt liegt ein Schriftstück mit einer Unterschrift vor. Er
kann nicht nachfragen. Der Patient kann seine Ausführungen auch nicht mehr erläutern und interpretieren. Es
gibt in Deutschland rund 200 gängige Musterformulare
für Patientenverfügungen. Kein Arzt kann wirklich wissen, ob der Patient das richtige Formular beispielsweise
aus dem Internet heruntergeladen hat oder eher zufällig
unter www.patientenverfuegung.de eine Patientenverfügung erhalten und unterschrieben hat.
({4})
Meine kurze Darstellung zeigt - das ist unstreitig -,
dass der aktuelle und der voraus verfügte Wille eben
nicht gleich sein müssen. Das, was ich vor einem Jahr,
vor fünf Jahren, vor zehn Jahren oder vor fünfzehn Jahren festgelegt habe, ist möglicherweise etwas anderes als
das, was ich aktuell will.
({5})
Herr Stünker, in dem von Ihnen unterstützten Gesetzentwurf wird von einem sehr elitären Ansatz, von sehr gut
informierten Menschen ausgegangen. Aber nur wenige
Menschen verfügen über hervorragende medizinische
und rechtliche Kenntnisse und können so eine mögli18264
cherweise eintretende Sterbesituation umfassend vorbereiten.
({6})
- Sie sind nicht zu dumm. Aber viele Menschen trauen
sich nicht zu, eine Entscheidung zu treffen.
({7})
Ich sehe ein weiteres Problem in Ihrem Gesetzentwurf. Der Lebensschutz ist nicht ausreichend berücksichtigt. In der Verfassung gibt es das Gebot, für einen
schonenden Ausgleich zwischen den Werten Selbstbestimmung und Lebensschutz zu sorgen. Das ist Aufgabe
des Gesetzgebers.
({8})
Wir bekommen einen solchen Ausgleich entweder über
eine Reichweitenbegrenzung - ich verweise auf die Enquete-Kommission und den Bosbach-Entwurf - oder
über starke Sicherungsmittel hin, dass Menschen nicht
irrtümlich oder deshalb, weil sie nicht einwilligungsfähig waren, eine Patientenverfügung unterschreiben, die
ihnen schadet.
({9})
Herr Stünker, ich sehe bei Ihrem Entwurf die Gefahr,
dass ein Mensch irrtümlich eine Patientenverfügung unterschreibt und dass dann die Behandlung einer heilbaren Krankheit eingestellt wird. Ein falsches Kreuz bei einer Multiple-Choice-Patientenverfügung, und schon ist
es geschehen. Ein falscher Baustein aus einer Gruppe
von Bausteinen, und schon ist es geschehen. Das falsche
Formular am Schriftenstand mitgenommen und unterschrieben, und schon ist es geschehen. Ich selber habe
als Notar viele Beratungen, in denen es um Patientenverfügungen ging, durchgeführt und war jedes Mal erstaunt,
wie unterschiedlich der gleiche Satz von verschiedenen
Menschen interpretiert wird. Daher sind Patientenverfügungen ohne Reichweitenbegrenzung eine ganz scharfe
Waffe, die der Mensch gegen sich selber richtet. Weiß
der Arzt, der Betreuer oder der Bevollmächtigte wirklich, ob der Wille geändert ist, ob der Betreffende einwilligungsfähig war oder ob er die Sätze richtig verstanden
hat? Wer nicht mehr einwilligungsfähig ist, mit dem
kann man keine Gespräche mehr führen und dem kann
man auch keine Rückfragen stellen. Das ist die Kritik an
Ihrem Entwurf.
Ich kann mir vorstellen, dass wir möglicherweise einen Kompromiss finden müssen, weil weder Ihr Gesetzentwurf noch andere Gesetzentwürfe eine Mehrheit haben, weder hier im Haus noch in der Gesellschaft. Ich
kann mir folgenden Kompromiss vorstellen: Es gibt eine
einfache Patientenverfügung mit einer Reichweitenbeschränkung, die ethisch weitgehend unproblematisch ist.
Hier müssen wir keine hohen Hürden aufbauen, was Beratung, Aktualisierung sowie Überprüfung der Urheberschaft und der Einwilligungsfähigkeit betrifft. Das ist
quasi eine Volkspatientenverfügung. Des Weiteren gibt
es eine qualifizierte Patientenverfügung für diejenigen,
die sich sehr intensiv mit der Sache befasst haben, die
sich medizinisch und rechtlich haben beraten lassen, deren Urheberschaft und Einwilligungsfähigkeit festgestellt wurde und deren Patientenverfügung nachweisbar
regelmäßig aktualisiert wurde, sodass man weiß, dass sie
weitgehend dem aktuellen Willen entspricht. Diese qualifizierte Patientenverfügung wird für einen kleineren
Teil der Menschen sein, für diejenigen, die sich mit der
Sache intensiv befassen und die Hürden überwinden
wollen.
In dem vorliegenden Gesetzentwurf und in den
anderen Gesetzentwürfen, die wir alle kennen, manifestieren sich Grundüberzeugungen. Ich selber trage den
Bosbach-Entwurf mit, weil eine Reichweitenbegrenzung
meiner Grundüberzeugung entspricht. Aber genauso wie
in vielen anderen ethischen Fragen müssen wir manchmal Kompromisse eingehen und die eigenen Grundüberzeugungen mit denen der anderen in einen Ausgleich
bringen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass das beschriebene zweistufige Verfahren eine Mehrheit sowohl
in der Gesellschaft als auch hier im Hause findet, weil
es beide Interessen abbildet und das Risiko minimiert,
dass Menschen versehentlich aufgrund einer radikalen
Patientenverfügung, die sie gar nicht wollten, nicht behandelt werden und sterben, weil sie die Konsequenzen
nicht abgesehen haben.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es geht in unserem Gesetzentwurf nicht um eine radikale
Patientenverfügung. Die große Mehrheit der Bevölkerung - alle Umfragen, die wir kennen, deuten darauf
hin - wünscht sich ein Rechtsinstitut der Patientenverfügung, wie wir es jetzt diskutieren, schon seit langer Zeit.
({0})
Über ein Jahr ist es her, dass wir hier zum ersten Mal
über die Patientenverfügung debattiert haben. Damals
habe ich gesagt: Es geht um eine Kernfrage der durch
das Grundgesetz geschützten Würde und Freiheit des Individuums und um das Recht auf Selbstbestimmung über
den eigenen Körper. Deswegen ist es eine Aufgabe für
uns alle, in unserem Land endlich die rechtliche Möglichkeit dafür zu schaffen, selbstbestimmt sterben zu
können. Ich habe versprochen, dass sich die Linksfraktion aktiv an dieser zu leistenden gesetzgeberischen Anstrengung beteiligen wird.
Heute spreche ich hier für 24 Abgeordnete meiner
Fraktion, die den Gruppenantrag nach ausführlicher Diskussion des Für und Widers namentlich mit eingebracht
haben. 24 Abgeordnete entsprechen fast der Hälfte unserer Fraktion. Das macht deutlich, dass es auch in unseren
Reihen andere Positionen gibt, auch noch die der Unentschlossenheit. Es ist heute ja auch die erste Lesung zu
diesem Gesetz.
Wir 24 aber sind uns einig, dass es höchste Zeit wird,
das Rechtsinstitut Patientenverfügung rechtlich zu verankern und zum Schutz der Betroffenen verfahrensrechtliche Regelungen zu treffen. Patientenverfügungen sind
nichts Neues. Seit Jahren gibt es sie als grundsätzlich
verbindliche Dokumente, in denen schriftlich festgelegt
ist, welche Therapie sich der Verfügende wünscht und
welche er ausschließt.
Es wird geschätzt, dass mehr als 8 Millionen Bürger
und Bürgerinnen - das wurde schon gesagt - diese Willenserklärung bereits verfasst haben. Wie viele davon
tatsächlich geachtet und wie viele missachtet werden,
wissen wir nicht. Ein Blick in Zeitungen oder Fernsehdokumentationen lässt Schreckliches vermuten, und
zwar weit über Einzelfälle hinaus.
So wies die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
am 15. Juni dieses Jahres unter der Überschrift „Sterben
verboten“ in einem Dossier auf den massenhaften Einsatz von Magensonden hierzulande hin. Ich zitiere:
Die Zwangsernährung Sterbender wird in Deutschland schleichend zum medizinischen Standard …
Etwa 140 000 Ernährungssonden werden jedes Jahr
in Deutschland gelegt, zwei Drittel davon bei Bewohnern von Pflegeheimen.
Es geht also um fast 100 000 Fälle künstlicher Ernährung in Pflegeheimen jedes Jahr.
({1})
Wenn das so ist - niemand hat diese Angaben bisher dementiert oder auch nur berichtigt -, dann wäre es allein
schon wegen dieses Zustandes aus meiner Sicht wichtig,
dass sich Menschen per Patientenverfügung wehren können und der Gesetzgeber sie endlich schützt.
({2})
Von welchem Grundsatz lassen wir uns bei diesem
Gesetzentwurf leiten? Vom Grundsatz, dass der Mensch
während seines gesamten Lebens Anspruch auf Achtung
seines Selbstbestimmungsrechts hat und dass dieses
Selbstbestimmungsrecht nicht mit dem Verlust der Einwilligungsfähigkeit endet, dass also Entscheidungen, die
im Zustand der Einwilligungsfähigkeit getroffen werden,
auch später für diejenigen bindend sind, die dann die
Entscheidungen treffen müssen: Ärzte, Betreuer, Angehörige. Das ist eine schwere Aufgabe und eine schwierige Gratwanderung. Aber schwerste Krankheit, Sterben
und Tod stellen uns vor schwere Aufgaben und nötigen
uns schwierige Gratwanderungen ab. Darüber können
wir uns hier nicht einfach hinwegsetzen.
({3})
Leichte Lösungen lassen sich in dieser Situation nicht
finden. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und der Vorsitzende des Rates der Evangelischen
Kirche haben uns in einem Brief auf Folgendes hingewiesen:
In der Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes
ist der Mensch darauf angewiesen, dass andere
Menschen sich seiner annehmen; das gilt gerade in
Zeiten der Krankheit und Hinfälligkeit.
Genau dies stellen wir in den Mittelpunkt unserer
Überlegungen, wenn wir unter Punkt 2 der Begründung
erklären:
Da sich der nicht mehr einwilligungsfähige Patient
in der Regel nicht mehr äußern kann, ist ein Dialog
({4})
- hören Sie doch einmal zu ({5})
zwischen den an der Behandlung Beteiligten erforderlich, in dem über die Vornahme ärztlicher Maßnahmen entschieden wird. Dieser Prozess hat so
weit wie möglich die Durchsetzung des zu einem
früheren Zeitpunkt geäußerten Patientenwillens zu
sichern. Gleichzeitig muss er die sich aus Artikel 2
Abs. 2 des Grundgesetzes ergebende Pflicht des
Staates umsetzen, das Leben und die körperliche
Unversehrtheit des Menschen zu schützen. Dies bedeutet keinen Widerspruch. Die staatlichen Verpflichtungen richten sich nicht gegen den Menschen und seine selbstbestimmte Entscheidung,
auch wenn diese sich gegen lebensverlängernde
oder gesundheitserhaltende Maßnahmen richtet.
Vielmehr gewährleisten der Dialog zwischen den
an der Behandlung Beteiligten und im Konfliktfall
das vormundschaftsgerichtliche Verfahren, dass der
Patientenwille sorgfältig ermittelt wird.
Dieser abwägende Dialog, an dem der Patient durch
seine Verfügung mitbeteiligt ist, soll durch das neue
Recht ermöglicht werden. Das ist im ureigensten Interesse der Kranken, aber auch der Ärzte, Betreuer und
Angehörigen. Viel wird ihnen in den Situationen zwischen Leben und Tod abverlangt. Da haben sie ihrerseits
das Recht, sicher zu wissen, was ihre Patienten, ihre Angehörigen wollen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Eichhorn?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, Sie haben gerade den Brief der Bischöfe zitiert. Ich habe den Brief als Kritik an Ihrem Gesetzentwurf verstanden.
({0})
Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie den Brief als
Unterstützung Ihrer Position verstehen?
Überhaupt nicht! Ich habe zitiert,
({0})
dass die Bischöfe uns gesagt haben: Menschen sind auf
die Fürsorge anderer angewiesen. Anschließend habe ich
unsere Begründung zitiert, die genau dieses bis in den
Kern beschreibt. Es geht um einen Dialog.
({1})
Es geht um andere. Genau dieses habe ich beschrieben
und aufgenommen.
({2})
Über eine Tatsache wollen wir nicht hinwegtäuschen:
Mit der rechtlichen Anerkennung von Patientenverfügungen allein schaffen wir nicht humanere Bedingungen
für Sterben und Tod. Wir haben hierüber in der vergangenen Wochen diskutiert; darauf ist mehrfach hingewiesen worden. Dafür ist eine neue Medizin und vor allem
ein anderes gesellschaftliches Bewusstsein notwendig,
das Verantwortung und Fürsorge für Kranke und Sterbende nicht ausblendet. Aber: Abbau von Ängsten und
Unsicherheit - das kann dieses neue Recht schaffen, und
das ist nicht wenig.
Kürzlich hat der Vorstand der Deutsche-Hospiz-Stiftung Eugen Brysch das so formuliert:
Wir erleben in der Praxis täglich, dass die Menschen, die bei uns Rat einholen, künstliche Ernährung kategorisch ablehnen. Dahinter steht die Angst
vor einem jahrelangen Dahinvegetieren, vor einem
Leben ohne Lebensqualität, das nur durch die Magensonde aufrechterhalten wird. Dieser Angst gilt
es zu begegnen.
Wohl wahr! Darum votieren wir 24 Abgeordnete der
Linksfraktion für diese Gesetzesänderung.
({3})
Ich gebe das Wort der Kollegin Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Grübel, bei Ihren Ausführungen habe ich mich
gefragt, ob Sie Ihre Idee, man müsse den Menschen immer vor sich selber schützen, zu Ende gedacht haben. Ich
frage Sie ganz ohne polemische Absicht, was Sie denn
wohl tun würden, wenn Sie feststellen, dass eine schwer
herzkranke Frau ihre Medikamente nicht nimmt. Sie
würden doch nicht ernsthaft an eine Zwangsbehandlung
denken.
({0})
In einer modernen Gesellschaft muss man es tolerieren, dass sich Menschen in einer Weise verhalten, die
ganz viele von uns als absolut unverantwortlich erachten. Aber das ist so. Alles andere ist entweder eine sehr
traditionelle Gesellschaft mit sehr festgefügten Normen,
die gnadenlos durchgesetzt werden, oder letztendlich ein
Polizeistaat.
({1})
Meine Damen und Herren, ein Arzt hat einmal zu mir
gesagt: Wo früher das Wohl des Patienten galt, gilt heute
nur noch der Wille. Er sagte das, lieber Josef Winkler,
mit dem Ausdruck resignativer Traurigkeit, weil er die
Orientierung am Patientenwillen als Absage an die Verantwortung des Arztes und an die Möglichkeiten der modernen Medizin begriff.
Tatsächlich hat sich die Kultur der medizinischen Behandlung in unserer Gesellschaft in den letzten Jahren
und Jahrzehnten verändert. Hatten unsere Eltern vielleicht noch zum Arzt gesagt: „Ja, wenn Sie meinen, Herr
Doktor“, so sagt der Mensch heutzutage: „Ich will wissen, welche Alternativen es gibt, Herr bzw. Frau Doktor,
und ich will mich für die Alternative entscheiden, die für
mich richtig ist.“ Das ist mitnichten eine Absage an die
Kompetenzen des Mediziners; im Gegenteil: Es macht
die Rolle des Arztes anspruchsvoller. Denn er oder sie
sollte Alternativen beschreiben können, und er oder sie
sollte gesprächsfähig sein. In einer Situation, in der sich
der Betroffene nicht mehr äußern kann, spielen diese
Anforderungen an die ärztliche Kunst eine wichtige
Rolle; denn auch dann muss der Arzt Alternativen beschreiben können, zum Beispiel ob Akutmedizin oder
eine palliative Behandlung die Wahl ist, wie wichtig Lebensverlängerung sein könnte, was Lebensqualität heißt
und wo ein möglicher Zielkonflikt zwischen den beiden
liegt. So schwierige Fragen können und sollen zwei lebendige Menschen erörtern.
Das kann der Arzt und die Ärztin und zum Beispiel
die mit einer Vorsorgevollmacht ausgestattete Ehefrau
sein. Die Entscheidung, die der Patient nicht mehr treffen kann, liegt dann bei ihr. Es ist eine eigene Entscheidung von ihr, es ist nicht die des Betroffenen. Ich glaube,
diese Möglichkeit will hier niemand abschaffen. Aber
die andere Möglichkeit ist die eines Gesprächs zwischen
Arzt und Betreuerin, die gemeinsam versuchen, eine Patientenverfügung auf die gegebene Situation anzuwenden. Ich muss sagen: Ich verstehe die Kolleginnen und
Kollegen nicht, die eine solche Vorabfestlegung und das
Gespräch darüber als etwas Obszönes zu brandmarken
versuchen.
({2})
Das Argument, man könne nicht wissen, ob man in einer
existenziellen Krise oder in der Situation des Sterbens
noch so denke wie zuvor, mag zutreffen. Ich habe zwar
einiges für die These übrig, dass der Mensch so stirbt,
wie er gelebt hat, das heißt, dass Grundhaltungen, die
das Leben bestimmt haben, auch dann noch gelten,
({3})
aber ich gestehe ihnen zu: Es ist ein Risiko. Wir haben
aber Verfahrensweisen in dieser Gesellschaft, wie wir
Menschen beistehen, denen wir eine eigene Entscheidung nicht zutrauen. Ich meine etwa Entscheidungen im
Namen des Kindeswohls. Wenn Eltern überfordert sind,
dann tritt das Gericht ein. Einem unmündigen Kind muten wir keine existenzielle Entscheidung zu. Aber ein erwachsener sterbender Mensch ist kein Kind, und Patientenwohl kann nicht heißen, dass andere sagen, was für
diesen Menschen gut ist.
({4})
Vielmehr kann immer nur der eigene Wille maßgebend
sein, soweit er zuvor geäußert wurde. Alles andere
würde bedeuten, dass die Begegnung auf Augenhöhe,
die sich in der modernen Medizin herausgebildet hat,
wieder durch die überlegene Autorität des Halbgottes in
Weiß oder eventuell in Schwarz, wenn es um die Richterrobe geht, ersetzt wird.
Frau Kollegin Bender, ich muss Sie an Ihre Zeit erinnern.
Ein abschließender Satz, Frau Präsidentin. - Wer eine
Patientenverfügung aufsetzt, geht auch ein Risiko ein.
Aber wir sollten der Anmaßung widerstehen, den Menschen vor solchen Risiken bewahren zu wollen. Ich
finde, diese Entscheidnungsmöglichkeit gehört zu einer
freiheitlichen Gesellschaft.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Carola
Reimann, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich freue mich, dass wir heute über die Patientenverfügung diskutieren. Das Thema bewegt viele
Menschen. In Gesprächen und in den durchweg gut besuchten Veranstaltungen zu diesem Thema ist das sehr
deutlich zu spüren. So groß das Interesse ist, so groß ist
aber auch die Verunsicherung vieler. Viele Menschen
fragen sich, ob ihre Ärzte ihre Patientenverfügung im
Krankheitsfall wirklich befolgen werden. Auf der anderen Seite haben viele Ärzte Angst vor rechtlichen Konsequenzen, wenn sie auf bestimmte lebenserhaltende Maßnahmen verzichten. Hier muss endlich Rechtssicherheit
geschaffen werden.
Die Debatte um Patientenverfügungen ist nicht einfach irgendeine politische Debatte. Es ist ein hoch emotionales Thema, das grundlegende Fragen nach dem
Umgang mit Krankheit und Sterben aufwirft. Das sind
Fragen, die jeder hier im Hause auch für sich selbst nach
seinem eigenen Gewissen entscheiden muss. Ich finde,
dass Parteipolitik bei diesem Thema nichts verloren hat.
Deshalb wird der vorgelegte Entwurf auch von Parlamentariern aus verschiedenen politischen Lagern getragen. Die Ernsthaftigkeit der Stammzelldebatte hat gezeigt, dass es der Sache durchaus dienlich ist, wenn
Parteipolitik in diesem Hause für kurze Zeit einmal
keine Rolle spielt.
({0})
Ich unterstütze den Stünker-Entwurf, weil er das
Selbstbestimmungsrecht des Menschen ins Zentrum
stellt. Kann ein Patient sich nicht mehr äußern, muss der
in der Patientenverfügung festgelegte Wille gelten, und
zwar unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung.
Wenn ich mich bei vollem Bewusstsein gegen eine Behandlung entschließe - sei es medizinisch auch noch so
unsinnig; die Kollegin Bender hat ein entsprechendes
Beispiel gebracht -, darf mich auch heute niemand gegen meinen Willen behandeln. Dieses Recht auf Selbstbestimmung darf meiner Überzeugung nach nicht mit
dem Verlust der Äußerungsfähigkeit enden.
({1})
Patientenverfügungen sind Vorausverfügungen; das
ist bereits angeklungen. Natürlich ist eine Vorausverfügung nicht mit einer aktuellen, bei vollem Bewusstsein
in der Arztpraxis oder im Krankenhaus getroffenen Entscheidung gleichzusetzen. Dieser Problematik trägt der
vorliegende Entwurf jedoch ausreichend Rechnung.
Denn entgegen vielfachen Behauptungen soll nicht
einfach das, was in der Patientenverfügung steht, ohne
Prüfung übernommen werden. In der konkreten Erkrankungssituation des Patienten müssen Arzt und Betreuer
bzw. Bevollmächtigter feststellen, ob die Patientenverfügung, erstens, auf die aktuelle Lebenssituation und Behandlungssituation zutrifft, ob sie, zweitens, für diese
Situation eine Entscheidung über die anstehende ärztliche Maßnahme enthält und ob sie, drittens, noch dem aktuellen Willen des Patienten entspricht.
Diese Hürden sind für mich entscheidend, denn sie
verlangen von den Verfassern von Patientenverfügungen, dass sie sich präzise schriftlich äußern und ihre Verfügung regelmäßig aktualisieren, wenn sie sicherstellen
wollen, dass ihre Verfügung von Arzt und Betreuer oder
Bevollmächtigtem als auf die aktuelle Situation zutreffend gewertet werden kann.
Dies setzt meiner Meinung nach auch voraus, dass der
Verfasser sich vorab umfassend informiert. Denn nur
dann ist er in der Lage, eine solche Verfügung überhaupt
entsprechend zu verfassen. Mir ist wichtig, dass diese
Vorausverfügung eine informierte und reflektierte Entscheidung ist. Es ist eine sehr persönliche Entscheidung,
die mit Multiple Choice nichts zu tun hat.
({2})
Bei einer Vorausverfügung stellt sich natürlich immer
die Frage, inwiefern man jetzt über eine Extremsituation
in der Zukunft entscheiden kann, die man noch nie erlebt
hat. Wer kann garantieren, dass man in dieser Situation
nicht doch eine andere Einstellung zu lebenserhaltenden
Maßnahmen hat? - Das kann natürlich keiner. Aber soll
man daraus schlussfolgern, dass es besser ist, andere
über das eigene Schicksal entscheiden zu lassen? Nein!
({3})
Natürlich kann ich mich vorab nur schwer in mögliche Extremsituationen hineinversetzen. Man löst dieses
Dilemma aber nicht auf, indem man diese Entscheidung
einer zweiten Person, zum Beispiel dem Arzt, allein
überlässt. Auch mein Arzt kennt die Situation nicht,
denn auch er oder sie hat sie nicht erlebt oder durchlebt.
Aber im Gegensatz zu meinem Arzt kenne ich beim Verfassen der Verfügung, die freiwillig ist, mich und meine
Einstellung zu Krankheitsbehandlung, Lebensverlängerung und Lebenserhaltung sehr genau, und zwar besser
als jeder andere.
({4})
Aus diesem Grund ist es richtig, dass Patientenverfügungen als Ausdruck des freien Willens ohne Reichweitenbeschränkungen, aber mit genauer individueller Prüfung
verbindlich sein sollen.
Wir diskutieren bereits seit Jahren über eine gesetzliche Regelung für Patientenverfügungen. Ich halte dies
angesichts des sensiblen Themas auch für gerechtfertigt.
Allerdings sollten wir nun, nach erneuter monatelanger
Verschiebung, langsam zum Ziel kommen.
({5})
Es gab genügend Zeit zur Positionierung. Neben dem
Stünker-Entwurf stehen noch einige andere Vorschläge
im Raum. Ich hoffe sehr, dass die heutige Debatte Startpunkt für eine zügige und abschließende Diskussion ist,
die dann möglichst bald zu der dringend erforderlichen
gesetzlichen Regelung führen soll.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Professor Borasio, Inhaber eines Stiftungslehrstuhls für Palliativmedizin am Klinikum Großhadern in
München, gehört zu den Ärzten, die sich ausdrücklich
für eine Regelung zur Verbindlichkeit einer Patientenverfügung aussprechen. Im Kreise seiner Kolleginnen
und Kollegen, sowohl in der Ärzteschaft als auch unter
den Pflegekräften, wirbt er dafür, weil er in seiner Arbeit
auf der Palliativstation am Klinikum Großhadern täglich
erlebt, dass es ganz schwierige Situationen eines vielleicht würdelosen Siechtums geben kann, wenn zu einem Zeitpunkt, zu dem man sich noch damit befassen
kann, für die Situation der Entscheidungsunfähigkeit
nicht Vorkehrungen getroffen worden sind und die eigene Vorstellung zu diesem schwierigen Prozess eines
zeitlich nicht vorhersehbaren Siechtums nicht näher bestimmt worden ist.
Professor Borasio sagt zu Recht: Im Moment, ohne
ein Gesetz, ist die Rechtsunsicherheit riesengroß, vor allem bei den Menschen, die durch öffentliche Berichterstattung, etwa in Form von Zeitungsberichten, aber auch
im eigenen Umfeld immer stärker erleben, mit welch
großen Schwierigkeiten es verbunden sein kann, den
Willen eines Menschen, der sich nicht mehr äußern
kann, in dieser schwierigen Phase durchzusetzen.
Professor Borasio weiß, dass auch Ärzte in einer
schwierigen und unsicheren Lage sind. Sie können nicht
die gesamte BGH-Rechtsprechung in ihren Verästelungen kennen, was die Frage angeht, wie sich Ärzte zu entscheiden haben.
Von daher ist es in meinen Augen notwendig, dass wir
nach guter Orientierungsdebatte vor einiger Zeit jetzt in
Gesetzesberatungen eintreten. Dazu liegt ein Entwurf
vor, der ganz konkrete Formulierungen zum Betreuungsrecht im Bürgerlichen Gesetzbuch enthält.
({0})
Alle, die sagen, wir machten es uns zu einfach, sollten
zur Kenntnis nehmen: Unser Gesetzentwurf baut auf der
höchstrichterlichen Rechtsprechung der letzten Jahre
auf. Das war unser Maßstab.
({1})
Wir alle haben aber nicht jeden Tag das Grundgesetz
oder diese Rechtsprechung unter dem Arm. Wir können
auch nicht erwarten, dass alle anderen diese Vorschriften
kennen. Deshalb müssen wir Regelungen schaffen.
In § 1901 a BGB - das steht in Art. 1 des Gesetzentwurfs - regeln wir in sorgfältiger Form, dass die Patientenverfügung eine sicherere Grundlage - im Hinblick
auf Verbindlichkeit und Durchsetzbarkeit bekommt.
Wir haben es uns nicht leicht gemacht und nicht mal
eben so eine einfache Regelung hingeschrieben, sondern
wir machen ganz deutlich, welche Aufgabe der Betreuer
oder der Bevollmächtigte - wir nennen beide - hat.
Denn wir wissen: Eine Patientenverfügung kann noch so
sorgfältig überlegt sein - es können Situationen eintreten, die davon nicht erfasst sind; es ist auch möglich,
dass man keine klare Meinung herauslesen kann. Genau
da liegt die Aufgabe des Betreuers. Er sieht, wo die Verfügung nicht greift. Wir legen hiermit fest: Wenn die Voraussetzungen, die wir benennen, nicht vorliegen, muss
der Wille durch den Betreuer oder durch andere ermittelt
werden.
Das ist ein ganz großer, ein ganz wichtiger Schritt. Er
wird erwartet. Große Teile der Bevölkerung hoffen darauf, dass wir uns dieser Erwartungshaltung mutig stellen. Deshalb unterstützen wir, die große Mehrheit der
FDP-Fraktion, den Entwurf und freuen uns auf konstruktive Beratungen nach der Sommerpause.
Vielen Dank.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Julia Klöckner,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was ist der Grund der heutigen Auseinandersetzung?
Dass wir alle sterben müssen? Wohl kaum; denn keiner
von uns wird so vermessen sein, zu meinen, das verhindern zu können. Es geht aber darum, wie wir sterben
werden.
Vorab: Eines ist ganz klar, nämlich dass wir nicht alle
möglichen Eventualitäten des Lebens und Sterbens in
ein Gesetz fassen können. Machen wir uns auch nichts
vor: Den Tod können wir überhaupt nicht regeln. Das
den Bürgerinnen und Bürgern zu versprechen, wäre sicherlich nicht lauter.
({0})
Klar ist: Leiden will keiner am Lebensende und auch
nicht Opfer einer nicht enden wollenden Apparatemedizin sein. Es ist auch verständlich, warum zum Beispiel
eine Frau in ihre Patientenverfügung schrieb - ich zitiere -:
„Ich möchte nie an Schläuchen liegen und nie eine PEGSonde bekommen.“ Ich hielt diese Patientenverfügung
einer 70-jährigen Frau in meiner Sprechstunde in den
Händen. Sie sagte noch einmal zu mir: „Ich will nicht
auf einer Intensivstation an diesen piependen Apparaten
mit diesen ganzen Schläuchen liegen. Ich möchte auch
nicht künstlich durch eine PEG-Sonde ernährt werden
müssen, sondern sterben können.“ Man kann mitfühlen,
wovor sich diese Dame fürchtete, welche Angst und
welche Sorgen sie hatte.
Sie betonte in diesem Gespräch auch noch einmal:
„Frau Klöckner, ich lege Wert darauf, dass mein Wille
umgesetzt wird, der dort drinsteht.“ Das war, liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor sie erfuhr, dass man auch
bei einer einfachen Blinddarmoperation an Schläuchen
liegt. Das war, bevor sie erfuhr, dass eine PEG-Sonde
auch vorübergehend gelegt werden kann, um notwendige Arzneien besser verabreichen zu können.
Die Dame hat diese Patientenverfügung zerrissen,
weil, wie sie selber sagte, sie fürchtete, dass ihr eigenes
schriftliches Wort lebensbedrohlich sein könnte.
({1})
Sollte der Stünker-Entwurf Gesetz werden, sollte der
schriftliche Wille des Patienten grundsätzlich unter allen
Umständen gelten, sollte dieser niedergeschriebene
Wille unabhängig von Art, Umfang und Stadium der Erkrankung Wirkung erhalten, dann wäre diese Dame,
hätte sie an Schläuchen liegen müssen, hätte sie eine
PEG-Sonde erhalten müssen
({2})
und wäre sie nicht mehr ansprechbar gewesen, vielleicht
schon tot.
({3})
Solche Irrtümer möchten wir verhindern.
({4})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Jochimsen?
Nein, sie war ja eben dran, und ich möchte gerne weitermachen.
({0})
- Ich gehe aber gerne auf den Zwischenruf ein: Sie hat
sie deshalb zerrissen, weil wir darüber gesprochen hatten
und sie auch mit ihrem Hausarzt darüber gesprochen
hatte.
({1})
Hätte diese Dame aber nicht den Weg in die Sprechstunde gefunden und nicht daraufhin mit einem Arzt gesprochen, sondern diese Patientenverfügung als solche
bei sich gehabt, dann wäre ihr genau dieser gerade beschriebene Irrtum unterlaufen. Das ist kein Irrtum, den
man einfach vom Tisch wischen kann, sondern ein solcher Irrtum kann tödlich sein.
({2})
Bedenke das Ende und auch, was ein Gesetz im
schlimmsten Falle anrichten kann. Allein was im Gesetz
steht, ist nämlich entscheidend, und nicht, was darüber
Schönes gesagt worden ist.
Zurück zu meiner eben erwähnten Dame: Wenn sie
bei Bewusstsein ist, kann sie mit dem Arzt reden und
sich beraten und auch aufklären lassen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Schieder?
Nein, ich würde jetzt gerne meine Rede zu Ende bringen.
({0})
Deshalb halte ich es für ziemlich haarig, unberaten einen vermeintlichen Willen zum Lebensabbruch durchzusetzen - den Willen eines Patienten, der gar nicht
wusste, was in einer bestimmten Krankheitssituation
wirklich Sache ist.
Herr Stünker sagte einmal - ich habe das dem Pressespiegel entnommen -, wenn das so ist, dann habe der Patient eben Pech gehabt.
({1})
Pech zu haben - ({2})
- Ich zitiere ja nur das, was im Internet gestanden hat.
Wenn er es nicht so gesagt hat - ({3})
- Ich habe es aus dem Internet herausgeholt. Wenn Sie
nach den Begriffen „Stünker“ und „Pech“ googeln, dann
finden Sie das.
({4})
Frau Kollegin Klöckner, jetzt würde der Herr Kollege
Stünker gerne eine Zwischenfrage stellen.
Lieber Herr Stünker, Sie dürfen.
Liebe Frau Kollegin Klöckner, ich glaube, wir sollten
dieses Thema weiter sachlich behandeln.
({0})
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich eine
solche Äußerung, wo immer sie gestanden haben mag
und wer das auch geschrieben haben mag, nie gemacht
habe? Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!
Wenn Sie das so sagen, dann wird das wohl stimmen.
Allein der Wortgebrauch, Frau Kollegin, wäre nicht
mein Niveau.
Danke schön.
({0})
Lieber Herr Stünker, eine Vertreterin Ihres Gesetzentwurfs hat eben gesagt: Es ist ein Lebensrisiko, es kann
passieren, und dann soll man das auch hinnehmen. Das
geht etwa in die gleiche Richtung.
({0})
Wenn Sie behaupten, Sie hätten das nicht gesagt, dann
nehme ich das zurück. Ich verweise nur darauf, dass es
im Internet so steht. Wir können uns nachher gern noch
einmal darüber unterhalten.
Herr Stünker, ein zentraler Konstruktionsfehler und
meiner Meinung nach der ethische Schwachpunkt in diesem Gesetzentwurf ist, dass eine Patientenverfügung, die
auf Behandlungsabbruch zielt, unabhängig von Art und
Stadium der Erkrankung verbindlich sein soll. Damit
wird der Bereich erlaubter Sterbehilfe überschritten.
Wenn es auf die Art und das Stadium einer Erkrankung
gar nicht mehr ankommt, dann ist das meiner Meinung
nach der Grund, warum wir einen anderen Gesetzentwurf und einen neuen Kompromiss brauchen.
Wir möchten die Sterbehilfe auf Sterbende beschränken. Die meisten von uns denken bei Sterbehilfe eigentlich an unheilbar Krebskranke, an hochbetagte Menschen, denen unnötige Operationen erspart werden
sollen. Wenn die Patientenverfügung über Sterbehilfesituationen hinaus dazu dienen soll, jederzeit den eigenen Tod anordnen zu können,
({1})
dann kommt das der verbotenen aktiven Sterbehilfe und
auch dem Töten auf Verlangen bedenklich nahe.
Vertreter dieses Gesetzentwurfes haben gesagt, dass
natürlich kein dummes Zeug, das in einer solchen PaJulia Klöckner
tientenverfügung steht, umgesetzt werden soll. Aber wer
bestimmt denn, was dummes Zeug ist und was nicht?
Wir schulden meiner Meinung nach den Betroffenen,
den Betreuern, den Angehörigen und den Ärzten - auch
Sie sagen dies - Rechtsklarheit über die Wirkung einer
gültigen Patientenverfügung. Eine gesetzliche Regelung
sollte sicherstellen, dass das Selbstbestimmungsrecht der
Patienten gestärkt wird, aber ohne dass bei der Umsetzung einer Verfügung das Wohl der Patienten völlig belanglos wird. Insofern halten wir es auch für unverständlich oder nicht nachvollziehbar, dass zum Beispiel im
Stünker-Entwurf die Angehörigen keine Rolle spielen,
dass sie nicht automatisch gehört werden sollen.
({2})
Das Problem beim Stünker-Entwurf ist: Im Begründungsteil ist vieles sehr sensibel formuliert; aber letztlich
gilt das, was im Gesetz steht. Das Gesetz ist das Entscheidende und nicht das, was in der Begründung steht
oder was Sie über Ihr Gesetz sagen.
({3})
Frau Kollegin Klöckner, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern. Ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.
Wir sind der Meinung, dass wir beides im Blick haben sollten: Selbstbestimmung, aber auch die Schutzfunktion des Staates. Das sind Mindeststandards einer
humanen Gesellschaft. Leben braucht Liebe, und auch
Sterben braucht Liebe und deshalb eine menschenwürdige Begleitung. Dazu kann es keine Alternative geben.
Besten Dank.
({0})
Ich gebe das Wort der Kollegin Katrin GöringEckardt, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Verurteilt zum Leben“ und „Sterben verboten“ sind die
Überschriften dieser Tage. Wahrscheinlich sind es nicht
umsonst zwei juristische Begriffe. Man hat in Deutschland heute keine Angst vor dem Tod. Man hat Angst vor
dem Sterben - es ist darüber gesprochen worden -; man
hat Angst vor würdelosem Sterben, vor Schläuchen,
Neonlicht, Beatmungsmaschinen und ganz besonders
vor künstlicher Ernährung. Es ist die Angst, ohne eine
Hand zu sein, ohne den Blick, der den Menschen wirklich meint, der fragt: Was will er oder sie tatsächlich?
Die zusammengekniffenen Lippen sind wahrscheinlich
das allerbeste Zeichen für das, was jemand möchte,
wenn er nicht künstlich ernährt werden will. Dafür
braucht es in erster Linie den Blick, das Hinsehen, in
zweiter Linie vielleicht eine Patientenverfügung.
Können wir wirklich sagen, dass all das, wovor diese
Menschen Angst haben, mit dem Gesetzentwurf über die
Patientenverfügung, der heute hier vorliegt, anders wird?
({0})
Helfen Paragrafen, einige Blätter Papier, das zu definieren, was hier Selbstbestimmung genannt wird? Nach unserer letzten Debatte hier im Plenum haben viele Kolleginnen und Kollegen sehr zweifelnd gefragt: Was
können wir an dieser Stelle eigentlich überhaupt regeln?
Auch mich hat diese Frage sehr umgetrieben. Sterben ist
eben kein Wenn-dann-Schema. Irgendetwas ankreuzen,
was dann Sicherheit, ja Rechtssicherheit versprechen
soll, Planbarkeit suggeriert, die niemals zu erlangen ist wird das dem Sterben gerecht?
Nein, es geht nicht darum, Menschen vor sich selbst
zu schützen. Das würde meinem Begriff, meiner Vorstellung von Freiheit völlig widersprechen.
({1})
Es geht darum, zu Selbstbestimmung zu verhelfen, auch
wenn man dieser Selbstbestimmung in diesem Augenblick selbst keinen Ausdruck geben kann.
({2})
Selbstbestimmung bedeutet immer auch Selbstverfügbarkeit. Ehrlich gesagt: Die Vorstellung, ich müsste
mich im Leben immer an das halten, was ich einmal für
mich beschlossen habe, erschreckt mich schon morgens
beim Aufstehen.
({3})
Etwas Neues, etwas anderes zu denken, ein ungekanntes Gefühl plötzlich und ganz ohne Erwartung - all
das sind doch Dinge, die wir im Alltag normal, sogar
spannend und wünschenswert finden. Und trotzdem: Es
bleibt die sehr verständliche Angst, ausgeliefert zu sein.
Wie entsteht die Sicherheit, dass mit mir nicht geschieht, was ich ganz bestimmt nicht wollte und auch
nicht wollen würde? Ich bin überzeugt, diese Sicherheit
entsteht auch mit Patientenverfügungen, aber vor allem
mit dem Gespräch, mit dem Eingebettetsein in die Menschen und in die Vorgänge, die im Leben eine Rolle gespielt haben. Dieses sollten wir nicht ausschließen, liebe
Kolleginnen und Kollegen,
({4})
sondern fördern, indem wir die Vertrauensperson stärken. Dieser Vertrag, um den es hier geht, ist kein Vertrag,
der widerrufbar ist.
({5})
Genau deswegen geht es eben nicht um Paternalismus.
Dieser Vertrag ist einer, bei dem das Kleingedruckte erst
danach entsteht.
({6})
Die Frage danach, ob man jemandem zur Last fällt,
wird viele Menschen, die Patientenverfügungen schreiben, umtreiben und treibt sie schon heute um. Nein, es
muss niemand eine Patientenverfügung unterschreiben;
({7})
aber auch wenn dies niemand muss, fühlen sich heute
viele dazu getrieben, gezwungen oder zumindest implizit aufgefordert.
({8})
Ich finde, das sollten wir berücksichtigen.
Frau Kollegin, auch Sie muss ich an die Zeit erinnern.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Ich will
an dieser Stelle sagen: Nein, es geht nicht darum, jemanden vor sich selbst zu bewahren. Es geht nicht darum,
liebe Birgitt Bender, die Freiheit einzuschränken, sondern es geht darum, die Freiheit auch in dem Augenblick
zu bewahren, in dem ich ihr nicht mehr selber mit den eigenen und normalen Mitteln zum Ausdruck verhelfen
kann. Um diese Freiheit und um diese Art von Empathie
in unserer Gesellschaft geht es.
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Christoph Strässer,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, wir sind nach drei, vier, fünf Jahren sehr intensiver Diskussion zu diesem Thema in einem Stadium
der Gesetzesberatung, das viele Beiträge, die ich heute
hier gehört habe, nicht angemessen erscheinen lässt. Das
möchte ich vorab sagen.
({0})
Frau Göring-Eckardt, ich meine, Sie haben eine sehr
zutreffende Definition des Begriffes „Selbstbestimmung“ vorgenommen. Allerdings glaube ich, dass Sie
diese mit Ihrer letzten Bemerkung gleich wieder zerstört
haben. Denn es geht hier nicht darum, dass irgendjemand gezwungen werden soll, irgendetwas anzukreuzen,
dass irgendjemand getrieben wird, irgendetwas zu machen.
({1})
Das ist absolut nicht der Fall.
Ich definiere allerdings Selbstbestimmung so - ich
glaube, das ist die zutreffende Definition -: Für denjenigen, der, ohne von irgendjemandem dazu gezwungen
worden zu sein, beschreiben will, wie er sich sein Leben
am Lebensende vorstellt, muss ich gesicherte Rahmenbedingungen schaffen, damit er dies kann, und ich muss
gewährleisten, dass dieser Wille auch eingehalten wird.
({2})
Das ist Selbstbestimmung, und dafür treten wir in dieser
Auseinandersetzung ein.
({3})
- Lesen Sie einmal alle Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 2 nach! Lesen Sie einmal alle
Urteile des XII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs in
diesem Zusammenhang nach! Dann bekommen Sie vielleicht einen anderen Eindruck.
Ich will auch zur Frage der Notwendigkeit einer Regelung etwas sagen. Nach meiner Wahrnehmung gibt es
keinen anderen Bereich oder nur sehr wenige Bereiche,
in denen aus der Mitte der Gesellschaft Ansprüche an
den Gesetzgeber so gestellt worden sind wie zur Regelung dieses Sachverhalts. Wir tun gut daran, dies zur
Kenntnis zu nehmen und hier eine Regelung zu schaffen,
die transparent und nachvollziehbar ist und die letztendlich die Rechtssicherheit schafft, die wir in diesen Fragen brauchen.
({4})
Ich wehre mich ganz massiv dagegen, dass hier so getan wird, als bestehe ein Gegensatz zwischen der gesetzlichen Regelung einer Verfügung eines einzelnen Menschen einerseits und der Betreuung sowie der
Verbesserung der Palliativmedizin andererseits. Das ist
genau nicht der Fall.
({5})
Wir wollen Klarheit schaffen. Deutschland - das war in
den letzten Jahren immer wieder ein Thema - liegt an
letzter Stelle, was den Bereich Palliativmedizin angeht.
Wir haben Nachholbedarf bei den Hospizbewegungen.
Für die Ärzte, für die Pflegerinnen und Pfleger und für
all die Menschen, die tagtäglich mit dem Sterben zu tun
haben und die Angst haben, zu handeln, weil sie nach ihrer Meinung mit einem Bein im Gefängnis stehen, wollen wir Rechtssicherheit schaffen. Sie sollen keine Sorge
um ihre persönliche Integrität haben und nicht Handlungen durchführen müssen, die ihnen zum Nachteil gereichen. Genau das wollen wir.
({6})
Die zentrale Frage, um die es geht, ist: Was darf und
muss in einer Patientenverfügung verbindlich für den
Fall geregelt werden, dass ein Patient entscheidungsunfähig wird? Wir haben hier schon Beispiele gehört, die
aus meiner Sicht sehr klar sind. Wenn jemand, der entscheidungsfähig ist, formuliert, dass er keine lebenserhaltenden Maßnahmen will, dann ist jeder Eingriff, den
der Arzt vornimmt, eine Körperverletzung. Ich kann
nicht akzeptieren - damit komme ich auf mein Verständnis des Begriffes „Selbstbestimmung“ zurück; ich
glaube, das ist das vorherrschende Verständnis -, dass
diesem Patienten gesagt wird, dass der in einer bestimmten Situation von ihm geäußerte und schriftlich niedergelegte Wille in dem Augenblick endet, in dem er nicht
mehr entscheidungsfähig ist. Das ist nach meiner Meinung das Ende der Selbstbestimmung eines Patienten,
was die Regelung eines ganz konkreten Sachverhaltes
angeht.
({7})
Ich will noch auf einen Punkt eingehen, den man
rechtlich vielleicht schärfer formulieren müsste. Es ist
der mutmaßliche Wille angesprochen worden, der zu ermitteln ist. Es ist zum Teil gesagt worden - das halte ich
auch rechtlich für falsch -, wir können es deshalb nicht
schärfer formulieren, weil der Wille des Betreuers im
Zentrum steht. Nein, es geht darum - das gilt schon seit
mehr als 120 Jahren; überall wird es praktiziert -, den
Willen des Betreuten zu ermitteln.
({8})
Es geht nicht um den Willen des Betreuers oder des Bevollmächtigten, sondern um den Willen desjenigen, der
sich nicht mehr äußern kann.
Das Betreuungsrecht ist das maßgebliche Recht,
wenn es um die Regelung geht, was ein Betreuer oder
ein Bevollmächtigter in einer solchen Situation tun darf
bzw. tun muss. Damit komme ich noch einmal auf das
Selbstbestimmungsrecht zurück.
({9})
- Nein, ich lasse jetzt keine Zwischenfrage zu. - Was
von den beiden großen Kirchen formuliert worden ist, ist
aus meiner Sicht eine Fehlinterpretation. Wir sagen
nicht, dass es nur um das Selbstbestimmungsrecht geht.
Wir sind allerdings der Meinung, dass das Selbstbestimmungsrecht die zentrale Auslegungsrichtlinie für die Erforschung des Willens eines Patienten ist. Es ist nicht das
einzige, aber das wesentliche Instrument, mit dem der
Wille des Patienten erforscht werden kann, damit der
Arzt oder der Betreuer zu einer entsprechenden Entscheidung kommen kann. Ich glaube, das ist eine zumutbare Entscheidung - auch unter ethischen Aspekten.
Ich hoffe - ich wäre sehr froh darüber -, dass wir in
dieser Diskussion in Zusammenarbeit mit Sachverständigen zu einer verantwortbaren Entscheidung kommen,
die letztendlich das Leben des Menschen in den Mittelpunkt stellt. Denn in Deutschland ist Folgendes noch unterentwickelt: Der Tod und das Sterben sind Bestandteile
des Lebens. Jeder Mensch hat letztendlich darüber zu
entscheiden, wie er dies gestalten will. Dafür sollten wir
eine vernünftige Regelung finden, und das ist im Moment der Stünker-Entwurf.
Herzlichen Dank.
({10})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Hans Georg Faust, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Diskussion über eine Patientenverfügung macht
deutlich, dass wir uns an der Grenze dessen befinden,
was gesetzlich normierbar ist. Deshalb muss man in einer gesetzlichen Regelung behutsam vorgehen. Sie muss
der Vielfalt der Situationen am Ende des Lebens Rechnung tragen, und man muss sich in ihr klar zu dem
Grundsatz bekennen, dass jedes Leben seinen Wert hat.
Die Förderung der Hospizbewegungen und der Palliativmedizin ist Ausdruck dieser Erkenntnis.
Im Ringen um eine gesetzliche Regelung müssen wir
den Patientenwillen, Fürsorge und Schutz sorgsam austarieren. Für die Vielfalt der Lebens- und Sterbensformen - das ist ungleich schwieriger - müssen wir dann
ein verantwortungsvolles Vorgehen zulassen. Sterben ist
eben, wie der Präsident der Bundesärztekammer, Professor Hoppe, sagt, nicht normierbar.
Ich bin dem Kollegen Stünker und den anderen Autoren des vorgelegten Gesetzentwurfes dankbar - dankbar
dafür, dass sie Stellung bezogen haben. Ich begegne dieser Position mit Respekt und begrüße ausdrücklich, dass
sie, wie dies auch in allen anderen Entwürfen aus diesem
Hause, die ich kenne, der Fall ist, die aktive Sterbehilfe
ablehnen.
Dennoch scheint mir der Ansatz dieses Gesetzentwurfs nicht tragfähig zu sein; denn er berücksichtigt
nicht die Vielfalt der individuellen Situationen am Lebensende. Jedes Leben ist einzigartig - vom Anfang bis
zum Ende. Das bedeutet, dass auch jeder Krankheitsverlauf individuell ist ebenso wie die persönliche Einstellung und das persönliche Empfinden.
Gerade für den nichteinwilligungsfähigen Patienten
muss eine Lösung geschaffen werden, die das Arzt-Patienten-Verhältnis in seinem Wert belässt, eine Lösung,
die die Vertrauensperson des Patienten und, wenn es
nicht anders geht, auch das Vormundschaftsgericht mit
einbezieht.
({0})
Dieser Individualität wird der heute debattierte Entwurf
nicht gerecht. Die einseitige Konzentration auf das vorab
Verfügte lässt keinen ausreichenden Raum für alle Beteiligten, individuell, sorgfältig und fürsorglich den aktuellen Willen des einwilligungsunfähigen Patienten zu ermitteln und entsprechend zu handeln.
Ich betone: Wichtig ist in diesem Zusammenhang,
dass durch eine Patientenverfügung kein Automatismus
in Gang gesetzt wird.
({1})
Jeder Einzelfall muss individuell und gründlich bewertet
und auch der Stand des medizinisch-technischen Fortschritts muss berücksichtigt werden. Ärzte, Betreuer
oder Bevollmächtigte müssen sich mit jeder einzelnen
Patientenverfügung intensiv auseinandersetzen. Sie alle
haben die Pflicht, beim Entscheidungsunfähigen sorgfältig zu ermitteln, ob der in der Patientenverfügung geäußerte Wille mit der aktuellen Gesamtsituation übereinstimmt.
Nehmen wir einen Patienten auf der Intensivstation,
der nach einem Unfall bewusstlos ist und aufgrund eines
Schockzustandes sowohl ein Lungen- wie auch ein Nierenversagen hat. Er wird beatmet und mit der künstlichen Niere behandelt. Dies ist eine lebensbedrohliche,
aber nicht unumkehrbar zum Tode führende Situation.
Jede weitere hinzutretende Komplikation, wie zum Beispiel ein Versagen des Gerinnungssystems, mindert die
Überlebenschancen dieses Patienten.
Wie konkret muss die Situation beschrieben sein, damit der Wille des Patienten zum Abbruch der Intensivbehandlung umgesetzt wird? Die kurze Formulierung „Ich
möchte nie an Schläuchen hängen“ wird hier sicher nicht
genügen können.
({2})
Dennoch scheint der Wille des Patienten, bei zunehmend
geringeren Überlebenschancen diese Behandlung nicht
mehr erfahren zu müssen, so verständlich zu sein, dass
man auch als Arzt an eine Umsetzung denken muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden diese
Fragen lösen müssen. Wir werden auch tagtäglich auftretende Fragen, wie zum Beispiel die Entscheidung, ob
eine PEG-Sonde bei einem nichteinwilligungsfähigen,
dementen Patienten gelegt wird oder nicht, regeln müssen; denn mit dem Legen einer PEG-Sonde nimmt die
Krankheit eines Menschen schlagartig einen ganz anderen, verlängerten und manchmal sehr unwürdigen Verlauf.
Ich gehe davon aus, dass wir im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens zu einer von der Gesellschaft akzeptierten Lösung kommen werden. Eine Frage, die in jedem Fall geklärt werden muss, ist die nach der Rolle des
Vormundschaftsgerichtes und den Voraussetzungen, unter denen es angerufen werden kann. Ich bin der Auffassung, dass das Vormundschaftsgericht nur dann, wenn
Arzt und Betreuer oder Bevollmächtigter unterschiedlicher Auffassung sind, den Inhalt der Patientenverfügung
klären und festlegen sollte, ob eine Behandlung durchzuführen oder abzubrechen ist.
({3})
Erst die moderne Medizin hat uns die Möglichkeit gegeben, auch im hohen Alter oder bei schweren Erkrankungen Leben zu erhalten. Diese Fähigkeit kann dazu
führen, dass das Sterben nicht mehr als ein natürlicher
Prozess, sondern als eine Kette von Entscheidungen über
die Beendigung von lebensverlängernden medizinischen
Maßnahmen bis hin zum Verzicht auf solche Maßnahmen empfunden wird. Es ist uns aber gegeben, durch einen klugen gesetzlichen Rahmen und individuelle, von
mitmenschlicher Verantwortung geprägter Sorge einem
vorab verfügten Willen am Lebensende die Geltung und
Umsetzung zu verschaffen, die sich der Verfasser gewünscht hat.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/8442 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, Christian
Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Flexibler Eintritt in die Rente bei Wegfall der
Zuverdienstgrenzen
- Drucksache 16/8542 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Irmingard Schewe-Gerigk, Markus Kurth,
Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kurs halten bei der Erwerbsintegration von
älteren Beschäftigten - Teilrenten erleichtern
- Drucksache 16/9748 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Spätestens seit der Erhöhung der starren Regelaltersgrenze für den Renteneintritt auf 67 Jahre gibt es eine
Diskussion darüber, wie der Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand flexibler gestaltet werden kann,
um den Interessen der Menschen besser gerecht zu werden. Die einen setzen auf mehr Altersteilzeit - darüber
werden wir später unter einem anderen Tagesordnungspunkt diskutieren -, die anderen - das gilt für die FDP
von Beginn an - setzen auf die Möglichkeit eines flexiblen Renteneintritts ab dem 60. Lebensjahr.
Mit dem heute in erster Lesung zu beratenden Antrag
auf Drucksache 16/8542, den die FDP inhaltlich weitgehend deckungsgleich bereits am 7. März 2007 - damals
unter der Drucksache 16/4618 - eingebracht hatte, wiederholen wir unser Angebot an die Fraktionen des Deutschen Bundestages, mit breiter Zustimmung eine Lösung
für das Problem der angemessenen Beschäftigungsteilhabe im Alter zu finden.
Grundgedanke des FDP-Konzepts ist ein Paradigmenwechsel, also ein grundlegend neuer Ansatz bei der
Gestaltung der politisch gesetzten Rahmenbedingungen
hinsichtlich des Übergangs von der Arbeit zur Rente.
Nicht mehr ein möglichst frühes Ausscheiden aus dem
Arbeitsprozess, sondern eine möglichst lange Teilhabe
am Erwerbsleben muss zum neuen Leitbild werden. Wer
aber lange Teilhabe will, muss auch Flexibilität bieten.
Das Anheben des Rentenzugangsalters auf 67 Jahre entspricht zwar der steigenden Lebenserwartung; es entspricht aber nicht der Realität, dass viele Menschen im
Alter nur noch eingeschränkt arbeiten können oder wollen, aus Gesundheitsgründen, aufgrund der Arbeitsmarktlage oder einfach aufgrund eigener Präferenzen.
Wir kommen den Wünschen der Menschen entgegen.
Nach den Ergebnissen einer Bertelsmann-Studie wünschen sich zwei Drittel der Befragten, den Übergang
vom Erwerbsleben in die Rente flexibel gestalten zu
können. Letztlich geht es darum, das Rentenrecht von
dem bevormundenden Denken zu befreien und den
Wünschen der Menschen Vorrang vor willkürlichen
Festlegungen, wann und wie sie ihre eigenen Rentenanwartschaften abrufen können, zu geben.
Hier unser Vorschlag im Einzelnen:
Erstens. Nach unserem Konzept soll für alle Versicherten der Rentenzugang ab 60 Jahren möglich sein,
wobei die Versicherten wählen können, ob sie eine Vollrente oder eine Teilrente aus den bis zu diesem Zeitpunkt
erworbenen Entgeltpunkten beziehen wollen.
({0})
- Aus den Entgeltpunkten ergibt sich die Höhe.
Voraussetzung für diesen flexiblen Rentenzugang ist
allein die Grundsicherungsfreiheit, also der Umstand, dass
die Summe der gesetzlichen, betrieblichen und privaten
Altersversorgungsansprüche des Versicherten - unter Berücksichtigung von Abschlägen für einen vorzeitigen Versorgungsbezug - ab dem Zeitpunkt des Renteneintritts
über dem Niveau der Grundsicherung liegt.
({1})
Die Prüfung erfolgt für die Bedarfsgemeinschaft, Herr
Kollege Schneider, sodass beispielsweise ebenfalls für
Frauen regelmäßig der flexible Rentenzugang möglich
wird. Wir gehen davon aus, dass 90 Prozent der Versicherten diese Möglichkeit werden nutzen können. Wir
gehen auch davon aus, dass die Entscheidung für eine
Teilrente der Normalfall sein wird. Aber es gibt keinen
Grund, nicht auch die Möglichkeit zur Entscheidung für
eine Vollrente zu eröffnen.
Zweitens. Die Grenzen für den Zuverdienst neben
dem Rentenbezug werden aufgehoben. Es gibt für solche
Grenzen keine stichhaltige Begründung mehr. Die Versicherten können selbst entscheiden, ob und in welchem
Umfang sie neben einem Rentenbezug noch erwerbstätig
sein wollen. Dadurch wird es möglich, den Lebensstandard auch bei einem vorzeitigen Rentenbezug zu halten.
Wichtig ist: Für den Zuverdienst sind Sozialversicherungsbeiträge - mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung - zu zahlen. Die durch die Rentenversicherungsbeiträge aus dem Zuverdienst neu erworbenen
Entgeltpunkte können vom versicherten Arbeitnehmer
zu einem von ihm wählbaren späteren Zeitpunkt zur Erhöhung der eigenen Rente und damit auch zur teilweisen
Schließung von aus Abschlägen entstehenden Versorgungslücken eingesetzt werden.
Drittens. Mit einem individuellen Zugangsfaktor wird
der Zeitpunkt des Rentenzugangs ab dem 60. Lebensjahr
berücksichtigt. Wichtig ist: Je länger der Versicherte arbeitet, desto höher ist der Zugangsfaktor. So werden
- von Jahr zu Jahr - Menschen ermutigt, erwerbstätig zu
bleiben. Im aktuellen Rentenwert wird zudem für jede
Alterskohorte die zu erwartende durchschnittliche Rentenbezugsdauer berücksichtigt. Dadurch wird eine gerechte Verteilung der Lasten der Alterung auf die einzelnen Jahrgänge erreicht.
Es erscheint mir als ganz wichtig, Herr Schaaf, zu betonen, dass dieser Ansatz der FDP sehr gut kombiniert
werden kann mit Branchentarifvereinbarungen für eine
ergänzende Altersvorsorge, die durch Abschläge entstehende Lücken schließen helfen. Gerade in Branchen, in
denen es eine hohe Wahrscheinlichkeit für den Wunsch
nach einem frühen Renteneintritt gibt, zum Beispiel bei
körperlich stark belastender Tätigkeit, sind die Tarifpartner aufgerufen, flankierende Regelungen zu treffen.
({2})
Unser Modell lässt sich auch mit der Nutzung von Guthaben auf Lebensarbeitszeitkonten sehr gut kombinieren. Branchentarifvereinbarungen und die Nutzung von
Lebensarbeitszeitkonten stellen sicher, dass der flexible
Übergang für breite Teile der Versicherten attraktiv ist
und bleibt.
Soweit der FDP-Vorschlag. Ich freue mich, dass ich
ihn heute einmal ausführlich vorstellen konnte und dass
ich feststellen kann, dass über den FDP-Vorschlag, der
bei der ersten Vorlage am 9. März 2007
({3})
von Ihnen noch ablehnend kommentiert wurde, mittlerweile ein Stück weit Konsens hier im Hause besteht.
({4})
Nur die Linke und Teile der CDU/CSU sind noch kritisch. Die SPD, Herr Schaaf, zeigte sich nach erster
scharfer Kritik frühzeitig offen. Sie haben den Kern unseres Vorschlages in Ihrem Bundesvorstandsbeschluss
„Chancen auf gute Arbeit verbessern - Leistungsgerechtigkeit sichern“ übernommen. Das können Sie nicht bestreiten.
({5})
Dort heißt es unter Punkt 3, dass nach Auslaufen der Altersteilzeitförderung - ich zitiere das hier gern - „ein flexibler Übergang ab dem 60. Lebensjahr in die Rente ermöglicht werden kann.“ Unter Punkt 5 heißt es, dass die
Sozialpartner und Tarifparteien zusätzliche Leistungen
vereinbaren können, die helfen sollen, Abschläge auszugleichen oder zu vermindern. Herr Schaaf, auf dieser Basis müsste bei den kommenden Beratungen doch eigentlich eine Einigung möglich sein.
Herr Kollege Kolb.
Frau Präsidentin, ich hätte gern noch mehr gesagt,
zum Beispiel zu dem Verhalten der Grünen, der Linken
oder der CDU/CSU.
Nein, Herr Kollege Kolb, Sie müssen zum Ende kommen.
Die Zeit lässt es nicht mehr zu. Ich freue mich darüber, dass mittlerweile Offenheit gegenüber unserem
Vorschlag besteht, und auf die Beratungen im Ausschuss.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Ralf Brauksiepe,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Große Koalition hat in dieser Legislaturperiode eine
gute Rentenpolitik gemacht.
({0})
Gute Rentenpolitik ist nicht immer populär. Deswegen
sind alle Oppositionsfraktionen in die Populismusfalle
getappt und haben die Rente mit 67 abgelehnt. Die Anträge, über die wir hier heute diskutieren, sind Ausdruck
des schlechten Gewissens, das die Opposition hat. Das
ist der untaugliche Versuch, dem Populismus mit diesen
Anträgen einen seriösen Anstrich zu geben. Diese Taktik
geht nicht auf.
({1})
Lassen Sie mich bei der FDP anfangen. Herr Kollege
Kolb, Sie haben von den Wünschen der Menschen und
von Flexibilität gesprochen.
({2})
Sie hätten eigentlich nur noch behaupten müssen, dass
sich jeder, wenn es nach Ihnen ginge, die Höhe seiner
Rente selbst aussuchen dürfte. Das, was Sie betreiben,
ist Scharlatanerie.
({3})
Das, was Sie vorschlagen, liefe, sofern es überhaupt von
Relevanz wäre, auf einen Teilrückzug der BesserverdieDr. Ralf Brauksiepe
nenden aus der Solidargemeinschaft hinaus, auf nichts
anderes.
({4})
Sie sagen: Jeder, dessen Rente über dem Grundsicherungsniveau liegt, soll mit 60 in Rente gehen können.
({5})
Auf wen trifft das denn heute zu, und auf wen wird das
in Zukunft zutreffen? Sind das die Kollegen von der
Fahrbereitschaft des Bundestages? Ist das der Friseur, zu
dem Sie gehen?
({6})
Sind das die Briefträger, die Ihnen Ihre Post bringen?
Sind das diejenigen, die schon mit 60 so hohe Rentenansprüche haben?
({7})
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn sich das
überhaupt rechnet, dann für die Besserverdienenden.
({8})
Sie wollen, dass sich die Besserverdienenden von der
Zahlung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags verabschieden. Die Begründung, die Sie hierfür liefern, lautet,
dass auch auf Hinzuverdienste dann keine Arbeitslosenversicherungsbeiträge mehr gezahlt werden müssten.
Das ist wirklich interessant. In Ihrem Antrag heißt es:
Der Wegfall des Arbeitslosenversicherungsbeitrages bedeutet aus Sicht der Unternehmen einen
Kostenvorteil. … Aus Sicht der Arbeitnehmer erhöht sich das verfügbare Einkommen.
Wunderbar! Ich frage mich nur: Wieso sollen die Leute
dann noch gesetzlich krankenversichert sein? Mit dieser
Begründung könnten Sie nämlich genauso gut argumentieren, dass es für die Unternehmen billiger ist und das
aktuelle Einkommen erhöht, wenn jemand nicht gesetzlich krankenversichert ist. Das ist aber der falsche Weg.
Wir wollen nicht, dass Menschen mit 60 Jahren zum alten Eisen gezählt werden. Wir wollen nicht, dass 60-Jährige Vollzeitbeschäftigte ihre Arbeit ohne den Schutz der
Arbeitslosenversicherung verrichten müssen.
({9})
Das ist mit uns nicht zu machen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({10})
Der entscheidende Punkt ist: Sie drücken sich nach
wie vor vor der Antwort auf die Frage, wo Ihrer Meinung nach das gesetzliche Renteneintrittsalter liegen soll
und welcher Maßstab zur Berechnung der Höhe der Abschläge und der Entgeltpunkte herangezogen werden
soll.
Wir hingegen sind da ehrlich. Jeder weiß: Wer heute
mit 63 Jahren in Rente geht, muss Abschläge von
7,2 Prozent hinnehmen. Wer im Jahr 2029 mit 63 Jahren
in Rente geht, wird Abschläge von 14,4 Prozent zu verzeichnen haben. Wir haben klipp und klar gesagt: Wer
sieben Jahre früher, also mit 60 Jahren, in Rente gehen
will, muss Abschläge von 25,2 Prozent hinnehmen. Das
kann sich kein normaler Arbeitnehmer leisten.
({11})
Deswegen reden wir gar nicht mehr davon.
Sie reden von der durchschnittlichen Lebenserwartung und vom Renteneintrittsalter, drücken sich aber um
die Antwort auf die Frage, was für Sie der Maßstab ist.
({12})
Wollen Sie die Rente mit 67? Akzeptieren Sie, dass die
Menschen angesichts der steigenden Lebenserwartung
auch länger arbeiten müssen? Sie drücken sich vor den
Antworten auf diese Fragen. Das lassen wir Ihnen nicht
durchgehen.
({13})
Im Übrigen haben Sie manchmal offenbar den gleichen Textschreiber wie der Deutsche Gewerkschaftsbund.
({14})
Der DGB hat nämlich ebenfalls ein Papier zur Rentenpolitik vorgelegt, in dem es heißt, dass immer mehr Menschen von längeren Phasen der Arbeitslosigkeit betroffen sind. Auch Sie haben in der Begründung Ihres
Antrags geschrieben:
Aktuell sind überhaupt nur noch 45 Prozent der
über 55-Jährigen … erwerbstätig.
Die Realität sieht aber anders aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum spielen Sie
eigentlich mit falschen Zahlen? Ausweislich amtlicher
Statistiken waren im zweiten Quartal des letzten Jahres
52 Prozent der über 55-Jährigen in Beschäftigung.
({15})
Ich wiederhole: 52 Prozent, Tendenz steigend. Sie behaupten, es seien 45 Prozent, Tendenz sinkend.
({16})
Wer mit falschen Zahlen operiert, kann nur zu falschen
Lösungen kommen. Diese Trickserei lassen wir Ihnen
nicht durchgehen. So einfach ist das.
({17})
Jetzt komme ich zu dem Antrag, den das Bündnis 90/
Die Grünen vorgelegt hat. Er fängt eigentlich ganz gut
an,
({18})
nämlich mit der Überschrift „Kurs halten bei der Erwerbsintegration von älteren Beschäftigten - Teilrenten
erleichtern“. Sie haben schließlich allen Grund, Ihr
schlechtes Gewissen zu erleichtern. Denn Sie haben den
Gesetzentwurf zur Rente mit 67 wegen einer Erleichterung für langjährige Beitragszahler abgelehnt.
({19})
Sie haben damals gesagt, es sei nicht in Ordnung, wenn
Menschen, die 45 Versicherungsjahre vorzuweisen haben, mit 65 weiterhin abschlagsfrei in Rente gehen können. Sie haben behauptet, das sei verfassungswidrig.
({20})
Als Sie an diesem Pult standen, haben Sie prognostiziert, der Herr Bundespräsident werde dieses Gesetz
nicht unterzeichnen, weil es verfassungswidrig sei.
({21})
Dabei ist aber nichts herausgekommen. Wir haben ein
gutes, richtiges und selbstverständlich verfassungskonformes Gesetz auf den Weg gebracht.
({22})
Insofern haben Sie durchaus Nachholbedarf, wenn es darum geht, einen vernünftigen Antrag vorzulegen.
Ihr Antrag fängt aber gut an, und zwar mit einem Hinweis - ich zitiere -:
Die Altersteilzeit dient dabei als Vorruhestandsmodell und steht dem Ziel der besseren Erwerbsbeteiligung Älterer und der Verlängerung der Lebensarbeitszeit entgegen.
({23})
Sehr richtig.
Im weiteren Verlauf nimmt das Leistungsniveau Ihres
Antrags jedoch katastrophal ab. So heißt es an anderer
Stelle in Ihrem Antrag:
Wer seine Arbeitszeit reduzieren will, kann ab dem
60. Lebensjahr eine Teilrente beantragen.
({24})
Wir haben all die Anstrengungen im Hinblick auf Weiterbildung und Qualifizierung Älterer doch nicht unternommen, um sie dann mit 60 in Rente oder Teilrente zu
entlassen.
({25})
Die gleiche Frage stellt sich bei dem FDP-Antrag
„Flexibler Eintritt in die Rente …“, und zwar mit 60.
Warum gerade mit 60? Warum nicht schon mit 50?
({26})
Wenn man argumentiert, dass der 60-Jährige, der eine
Rente über Grundsicherungsniveau bekäme, die Möglichkeit erhalten soll, in Rente gehen zu können, warum
nicht auch der 50-Jährige?
({27})
Man kann das System der solidarisch finanzierten gesetzlichen Rentenversicherung immer weiter zurückfahren: bis keiner mehr einzahlt und keiner mehr Ansprüche
erwirbt.
({28})
Das ist auch gendermäßig korrekt: Kein Mann zahlt ein,
keine Frau zahlt ein, kein Mann bekommt etwas raus,
keine Frau bekommt etwas raus. Nur, das hat mit einer
solidarischen Rentenversicherung nichts zu tun und ist
mit uns nicht zu machen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({29})
Wir sind sehr wohl dafür, dass die Möglichkeiten der
Teilrente, die der Gesetzgeber eingeräumt hat, verstärkt
genutzt werden. Die CDU/CSU bedauert es, dass die
Möglichkeiten, vorzeitig in Rente zu gehen, fast nur in
Form des Blockmodells genutzt werden und damit zur
Frühverrentung führen.
({30})
Wir würden es uns wünschen, dass die Menschen, wie
Norbert Blüm sich das seinerzeit vorgestellt hat, gleitend
in den Ruhestand übergehen: erst zwei Drittel arbeiten,
dann die Hälfte, dann ein Drittel. Leider ist diese grundsätzlich vernünftige Überlegung an den Wünschen der
Menschen gescheitert. Die Menschen wählen nämlich
ganz überwiegend das Blockmodell.
Ich will deutlich sagen: Wir haben bei unserem Gesetz zur Rente mit 67 auch die Teilrente gestärkt, und
zwar indem wir das Alter, ab dem jemand in Vollrente
oder in Teilrente gehen kann, bei 63 gelassen haben,
auch wenn das gesetzliche Renteneintrittsalter steigen
muss. Wir haben einen flexiblen Korridor von vier Jahren vorgesehen. Auch haben wir die Möglichkeit geschaffen, dass besonders langjährig Versicherte weiter
ohne Abschläge mit 65 in Rente gehen können.
Bei den Gesprächen, die die Koalition geführt hat, haben Überlegungen, eine eigenständige Teilrente einzuführen - eine Teilrente, mit der keine Vollrente korrespondiert -, nie eine Rolle gespielt. Wir haben uns im
Koalitionsvertrag darauf verständigt, Frühverrentungsanreize abzubauen und die Erwerbsbeteiligung Älterer
zu erhöhen. Ich sage deswegen ganz deutlich: Es gibt
keine Vereinbarungen und es gibt auch keine Gespräche
oder Verhandlungen mit uns über eine weitere Fortsetzung der Förderung der Altersteilzeit durch die BA auf
Kosten der Beitragszahler. Es gibt mit uns auch keine
Gespräche oder Verhandlungen darüber, Menschen, die
mit 60 noch fit sind, die arbeiten können und die arbeiten
wollen, zum alten Eisen zu zählen. Das machen wir nicht
mit. Da halten wir Kurs.
({31})
Jeder Koalitionspartner muss wissen, wie er die Erfolge, die gemeinsam erzielt worden sind, herausstellt.
Wir sind stolz auf das, was wir im Hinblick auf eine höhere Erwerbsbeteiligung Älterer gemeinsam erreicht haben. Wir wollen diesen Weg weitergehen. Die Älteren
werden zunehmend gebraucht.
({32})
Wir wollen sie in Beschäftigung bringen. Wir wollen sie
qualifizieren. Wir wollen nicht, dass sie mit 60 in die
Teilrente abgeschoben werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es weiter
möglich sein soll, dass diejenigen, die nicht mehr arbeiten können, von der Solidargemeinschaft aufgefangen
werden - und das wollen wir -, dann müssen diejenigen,
die arbeiten können, entsprechend länger arbeiten, um
dies mitzufinanzieren.
({33})
Dafür stehen wir, nicht für das Herausdrängen der Älteren.
Herzlichen Dank.
({34})
Nächster Redner ist der Kollege Volker Schneider,
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Im Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wird der Bundestag
aufgefordert, festzustellen, dass „im Jahr 2005 … nur
rund 36 Prozent der Frauen und 19 Prozent der Männer
aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung
in die Regelaltersrente“ gingen.
({0})
Anders gesagt: Zwei Drittel der Frauen und vier von fünf
Männern gingen 2005 schon vor dem 65. Lebensjahr in
Rente. Ich sage von meiner Seite aus: und das in aller
Regel nicht freiwillig, sondern notgedrungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, das
braucht der Bundestag aber nicht festzustellen; denn das
sind die Fakten. Es wäre schön, wenn der Bundestag diesen unerfreulichen Sachverhalt endlich zur Kenntnis
nehmen würde.
Sie meinen auch, die Wurzel des Übels entdeckt zu
haben, und sagen: Fast jeder fünfte versicherungspflichtig Beschäftigte nimmt die Altersteilzeit in Anspruch.
({1})
Nun können Sie nicht einfach eine Teilmenge, nämlich
die der Rentenzugänge in einem Jahr, in einen inhaltlichen Zusammenhang mit einer Gesamtmenge stellen,
nämlich mit der Gesamtzahl aller Rentner in Altersteilzeit.
({2})
- Frau Schewe-Gerigk, lassen wir das einfach einmal außen vor und addieren wir die Zahlen der Einfachheit halber, auch wenn es fachlich nicht ganz korrekt ist. Dann
stellen wir nämlich fest: Fast 50 Prozent der Frauen und
mehr als 60 Prozent der Männer gehen in Rente, ohne
die Altersgrenze erreicht zu haben und ohne durch eine
Altersteilzeit abgefedert zu werden.
Das heißt: Jede zweite Frau und mehr als jeder zweite
Mann geht mit Abschlägen von bis zu 7,2 Prozent oder,
in 20 Jahren, mit Abschlägen von bis zu 14,4 Prozent in
Rente - und das bei einem deutlich sinkenden Rentenniveau. Bei einem Wegfall der Altersteilzeit würde sich
diese Zahl weiter erhöhen. Das ist leider nicht mehr und
nicht weniger als vorprogrammierte Altersarmut. Darauf
gibt es vordringlich nur eine Antwort, die in beiden Anträgen fehlt, nämlich: Weg mit dem Unsinnsprojekt
Rente mit 67.
({3})
Was wir wirklich bräuchten, sind flexible Übergänge
in den Ruhestand. Dem wollen ja auch beide Fraktionen
Volker Schneider ({4})
mit ihren Anträgen Rechnung tragen, allerdings auf eine
sehr einseitige und kritisierbare Weise.
Nehmen Sie als Beispiel einen 60 Jahre alten Arbeitnehmer aus dem Bauhauptgewerbe. Das wäre schon ungewöhnlich, denn sie verlassen das Arbeitsleben im
Schnitt mit 58 Jahren. Herr Kollege Kolb, welche Jobs
sollen sie bei Ihrem Modell einer Teilrente denn noch
bekommen? Sie sind körperlich am Ende und eher sehr
einseitig qualifiziert. Wie sollen sie Ihr Ziel, nämlich das
Grundsicherungsniveau, bei einer geringen Teilrente mit
zweifelhaften Verdienstmöglichkeiten überhaupt erreichen? Ich komme hier beim besten Willen nicht auf die
90 Prozent, die Sie eben genannt haben. Das sieht aus
meiner Sicht sehr viel schlechter aus.
({5})
- Stellen Sie eine Zwischenfrage. Dann gehe ich gerne
darauf ein.
({6})
Damit ist dieser Bauarbeiter nicht allein. Geringverdienende und prekär beschäftigte Arbeitnehmer in körperlich und/oder seelisch hoch belastenden Berufen,
Frauen mit ihren klassisch niedrigen Rentenansprüchen sie alle werden sowohl von dem Modell der FDP als
auch dem der Grünen nicht oder kaum profitieren können. Nur damit wir einmal wissen, um welche Mengen
es sich dabei handelt: 360 000 erwerbstätige Ältere zwischen 50 und 65 Jahren üben einen geringfügigen Nebenjob aus. Gut 1,1 Millionen Menschen in diesem Alter
haben ausschließlich eine geringfügige Beschäftigung.
Hinzu kommen 700 000 Personen im Rentenalter ab
65 Jahren mit Minijobs. Ich kann nur sagen: Zielgruppe
verfehlt.
Als Vergleich dazu nehme ich einen 60 Jahre alten
Bankkaufmann. Er bezieht eine deutlich höhere Teilrente und hat bessere Chancen auf einen Nebenjob, etwa
eine Beratertätigkeit. Der Mann kann sich freuen. Nach
dem FDP-Modell darf er in der Summe sogar mehr haben, als er vorher verdient hat. Das wenigstens schließen
die Grünen in ihrem Modell aus. Letztlich wäre das ein
Privileg für Besserverdienende. Dazu sagen wir als
Linke deutlich Nein.
Auch und gerade für uns Linke gilt - das sage ich insbesondere in Richtung von Herrn Brauksiepe -: Arbeit
ist mehr als die Erzielung von Arbeitseinkommen. Sie
sichert auch die soziale Teilhabe und gesellschaftliche
Anerkennung. Deshalb muss die Politik die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Menschen, solange sie
dies wollen und können, im Arbeitsleben verbleiben
können. Das sagen nicht nur wir.
Herr Kollege Schneider, Ihre Redezeit ist zu Ende.
({0})
Ich komme zum Schluss.
Dennoch brauchen wir Möglichkeiten des gleitenden
Übergangs in die Rente. Dafür bietet Ihr Modell vielleicht einen Teilaspekt. Es ist aber nicht - wie Sie es von
der FDP unterstellen - das allein selig machende Allheilmittel.
Besten Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Anton Schaaf, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich mit einem Punkt beginnen, der zwar später
noch eine Rolle spielen wird, aber schon in dieser Debatte als herausragendes Argument vorgebracht wurde.
Die Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in diesem Land ist deutlich gestiegen, und
zwar von 37 Prozent auf 52 Prozent. Das ist uns trotz der
gesetzlich geförderten Altersteilzeit gelungen.
({0})
Das Argument, dass die Beschäftigungsquote Älterer
durch die Altersteilzeit nicht steigt oder gar sinkt, ist völlig falsch. Das ist anhand der Zahlen nicht belegbar.
Das ist übrigens auch die Begründung dafür, warum
die Sozialdemokraten den in Teilen richtigen Antrag der
Grünen nicht unterstützen werden. Denn die Teilrentenfrage ist vernünftig beantwortet, aber den Ausschluss der
Altersteilzeit als Möglichkeit des flexiblen Übergangs
halten wir überwiegend für falsch.
Ich sage ausdrücklich: Die SPD-Bundestagsfraktion
steht an der Seite der IG Metall, die gerade für einen vernünftigen Tarifabschluss im Zusammenhang mit der Altersteilzeit kämpft.
({1})
Sehr geehrter Herr Kolb, es ist schon mehrfach gesagt
worden, und auch Sie haben sich eben entsprechend geäußert, dass Ihr Modell gerade für diejenigen, die in ihrem Arbeitsleben schwer belastet sind, ein vernünftiger
Ansatz wäre.
({2})
Man muss dabei aber berücksichtigen, welche Ansprüche ein Durchschnittsverdiener mit Erreichen des
60. Lebensjahres hat und welche Risiken damit einhergehen, wenn er vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheidet. Ihre Antwort darauf lautet, dass die Einkommen in
der Zeit danach über dem Grundsicherungsniveau liegen
müssen,
({3})
und Sie führen in diesem Zusammenhang den Begriff
der Bedarfsgemeinschaft an.
({4})
- Nein, Herr Kolb, jetzt nicht.
Abgesehen von dem damit verbundenen Bürokratieaufwand stellt sich die Frage, wie sich die Lage darstellt,
wenn in einer solchen Lebenssituation die Bedarfsgemeinschaft auseinanderfällt, aus welchen Gründen auch
immer. Muss dann der Betroffene Frührente beantragen,
oder erhält er vielleicht Arbeitslosengeld I oder II? Das
ist nicht geregelt. Es wird auch nirgendwo geregelt, wie
in einer solchen Situation zu verfahren ist. Es ist aber
keineswegs lebensfremd, dass eine Bedarfsgemeinschaft
auseinanderfällt, aus welchen Gründen auch immer.
Besonders spannend fand ich an Ihrem Konzept, dass
es sich auf Regelungen im Rentenrecht beruft, aus denen
hervorgeht, wie sich was aufeinander bezieht. Dabei
geht es zum Beispiel um die Frage, wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - also Beitragszahlerinnen
und Beitragszahler - wir im Verhältnis zu Rentnerinnen
und Rentner haben. Danach berechnet sich der Rentenwert. Das ist völlig richtig.
In Ihrem Modell gehen Sie aber von etwas völlig anderem aus. Das ist sehr spannend; dabei wird die Verteilungswirkung deutlich. Sie gehen von Alterskohorten
aus und berechnen, wie alt sie im Durchschnitt werden.
({5})
Dann ermitteln Sie, wann eine Alterskohorte im Durchschnitt in Rente geht und setzen das ins Verhältnis zueinander.
Jetzt eröffnen Sie aber den Menschen die Möglichkeit, frei zu wählen, ob sie mit 60, 63 oder 65 Jahren in
Rente gehen wollen. Es gibt gegenwärtig Korridore.
Gesetzlich vorgesehen ist der Rentenzugang mit 63
bzw. - wie angestrebt - mit 67 Jahren. Die Rentenversicherung und alle anderen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, können modellhaft ausrechnen, wie sich das
auf die Beiträge und das Leistungsniveau - also auf den
Rentenwert - auswirkt.
({6})
Das ist relativ einfach. Man nimmt einen niedrigeren
Wert - die Menschen gehen früher in Rente -, einen
mittleren und einen späteren Wert an.
Bei Ihrem Modell kann man nicht mehr absehen, wer
wann in Rente geht. Das ist nicht mehr in Durchschnittswerten zu berechnen. Man wird dessen erst gewahr,
wenn es so weit ist. Dann kommt es zu folgender Situation: Diejenigen, die gut verdient haben und es sich leisten können, gehen massenhaft sehr früh in Rente.
({7})
Das führt dazu, dass der Rentenwert einer Alterskohorte
sinkt.
Diejenigen, die es sich nicht leisten können, früher
aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, haben dadurch
eine niedrigere Rente. Das ist unsolidarisch und trifft genau die Menschen, um die es uns geht, nämlich diejenigen, die ihr Leben lang schwer gearbeitet haben.
({8})
Herr Kollege Schaaf, der Kollege Kolb möchte gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Der Kollege Kolb hat berechtigterweise darauf hingewiesen, dass wir das noch ausführlich in den Ausschüssen diskutieren müssen. Deswegen sollten wir das nicht
hier fortsetzen, sondern dort.
({0})
Die Kohortenregelung ist besonders spannend. Sie
macht die Rentenversicherung für all diejenigen, die sich
mit der zukünftigen Planung auseinandersetzen, schlicht
unplanbar. Wenn es um den Sozialstaat oder die solidarischen Sicherungssysteme geht, verfolgen Sie immer
denselben Ansatz: Sie wollen die Risiken der Menschen
individualisieren und in diesem Punkt sogar noch ein
Stück weit privatisieren.
Das gilt nicht nur für die Altersvorsorge, sondern
auch für alles andere. Ich nenne Ihnen ein Beispiel, weil
Sie in den letzten Wochen vor dem Hintergrund steigender Preise, die die Menschen sicherlich sehr belasten - das ist keine Frage -, in eine Steuersenkungshysterie verfallen sind. Wenn man die Steuern senkt, muss
man sehen, wer steuerpflichtig ist und die meisten Steuern zahlt. Eine Familie mit zwei Kindern und einem Einkommen in Höhe von bis zu 38 000 Euro zum Beispiel
ist es nicht; denn diese zahlt keine Steuern, zumindest
keine Einkommensteuer. Wenn man weiß, dass Niedrigverdiener wenig oder gar keine Steuern zahlen, ist einem
klar, dass Steuersenkungen im Wesentlichen denjenigen
nutzen, die hohe Steuern zahlen. Gleichzeitig hat der
Staat dann weniger Einnahmen. Ich sage Ihnen: Nur
Reiche können sich einen armen Staat leisten, Arme
können das nicht.
({1})
Deswegen haben wir unsere solidarischen Sicherungssysteme. Dafür gibt es Solidarität und Parität in den Systemen.
Sie wollen ganz andere Systeme haben. Ihr Antrag,
meine Damen und Herren von der FDP, macht das deutlich. Es handelt sich um eine Umverteilung im Alter von
unten nach oben, um nichts anderes.
({2})
Mehr Freiheit für diejenigen, die es sich leisten können,
und weniger Freiheit für diejenigen, die es sich eben
nicht leisten können! Auf die Frage, was wir mit
denjenigen machen sollen, die tatsächlich nicht mehr können, geben Sie in Ihrem Konzept keine Antwort. Es gibt
aber Mechanismen des flexiblen Übergangs, die Erwerbsminderungsrente, die tatsächlich absichert, die Möglichkeit, eine Teilrente in Anspruch zu nehmen - diese Regelung muss sicherlich verbessert werden, ermöglicht
aber bereits einen flexiblen Übergang -, die Altersteilzeitregelung - nur die Regelung zur geförderten Altersteilzeit läuft 2009 aus - und die Möglichkeit, zwischen
63 und 67 Jahren in Rente zu gehen, mit dem Vorteil,
dass der Einzelne selber entscheiden kann, ob er Abschläge hinnehmen will, und dass die Abschläge nicht
auf die Allgemeinheit oder auf diejenigen verlagert werden, die es sich nicht leisten können. Die vorhandenen
Regelungen unterscheiden sich in Planbarkeit, Sicherheit, Solidarität und Parität ausdrücklich von dem, was
Sie vorschlagen. Deswegen werden wir Ihren Weg auf
keinen Fall mitgehen.
({3})
Herr Schneider, ich will noch ganz kurz auf die Rente
mit 67 eingehen. Man kann sicherlich über einzelne Instrumente, die als Antwort auf den demografischen Wandel gedacht sind, streiten. Wenn man aber kein alternatives Modell vorschlägt, aus dem hervorgeht, wie mit dem
demografischen Wandel umgegangen werden soll, sollte
man sich nicht beschweren und die Menschen verrückt
machen. Man muss klipp und klar sagen, was man alternativ will, wie man Wohlstand in einer alternden Gesellschaft - es ist absehbar, dass es immer weniger Menschen in diesem Land geben wird - erhalten will. Sie
wollen permanent Wohlstand verteilen. Aber Wohlstand
muss zuerst erwirtschaftet werden, und zwar von Menschen, die Arbeit haben. Erste Priorität muss sein: Die
Menschen müssen gute Arbeit haben und so lange wie
möglich arbeiten können. Das ist die erste Grundvoraussetzung. Wenn Menschen alt werden, brauchen sie Solidarität und Unterstützung, also einen starken Staat und
solidarische Sicherungssysteme. Daran werden zumindest wir festhalten.
({4})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist Irmingard
Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist jede vierte Person im erwerbsfähigen Alter
über 50 Jahre alt. Bis zum Jahre 2020 wird der Anteil
dieser Gruppe auf ein Drittel anwachsen. Herr
Schneider, deshalb müssen wir uns fragen: Wollen wir
mit dieser Herausforderung offensiv umgehen, oder stecken wir den Kopf in den Sand und kehren zu den alten
Strategien zurück - dabei schaue ich in Richtung SPDFraktion -, die sich als falsch erwiesen haben? Meine
Damen und Herren von der SPD, Sie machen mit ihrem
Konzept zur Verlängerung der Gültigkeitsdauer der Regelung betreffend die geförderte Altersteilzeit eine Rolle
rückwärts. Sie wollen die Fortschreibung der Stilllegungsprämie für ältere, gutverdienende Beschäftigte.
({0})
Die Altersteilzeitregelung wird nämlich nicht in erster
Linie von den Personen in Anspruch genommen, die belastende Berufe ausüben, sondern sehr stark von gutverdienenden Menschen aus dem öffentlichen Dienst.
({1})
Die Analyse der Deutschen Rentenversicherung
macht eindeutig klar: Andere Optionen wie die Teilrente
und die normale Teilzeitarbeit werden kaum genutzt, solange es vermeintlich attraktivere Wege gibt.
Die Vorschläge der SPD und der Linken folgen dem
bekannten Muster der Besitzstandswahrung. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von der Linken,
Sie müssen sich aber schon die Frage stellen lassen, welche Antwort Sie der Kellnerin, der Pflegehelferin oder
dem Arbeiter am Band geben, wenn sie fragen, warum
sie mit ihren Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung den
Vorruhestand von gutsituierten Beschäftigten mitfinanzieren sollen.
({2})
Die am Arbeitsmarkt benachteiligten Gruppen haben
diese Möglichkeit nämlich nicht, müssen sie aber mitfinanzieren. Das nenne ich unsozial.
({3})
Die Fortsetzung der Vorruhestandspolitik ist ein Irrweg. Wir müssen stattdessen alles dafür tun, dass ältere
Beschäftigte möglichst lange, möglichst bis zum Rentenalter, erwerbstätig bleiben können. Betriebe und Gewerkschaften müssen branchenspezifische Lösungen
entwickeln.
Wir können es uns aber auch nicht so leicht machen
wie die Union, die glaubt, die Hände in den Schoß legen
zu können.
({4})
Es wird auch zukünftig Beschäftigte geben, denen es
schwerfällt, bis zum Rentenalter durchzustehen. Herr
Brauksiepe, was sagen Sie denen denn? Empfehlen Sie,
einen Arzt zu suchen, der ein Attest schreibt, damit Erwerbsminderungsrente gezahlt wird, die dann aber viel
zu früh eingestellt wird? Wir brauchen Zwischenlösungen für Beschäftigte, die nicht bis zum Rentenalter arbeiten können, aber noch nicht in die Erwerbsminderungsrente aufgenommen werden können.
({5})
Wer sich für eine Vollzeitstelle nicht mehr fit genug
fühlt, muss ab 60 kürzer treten können und die Möglichkeit erhalten, eine Teilzeittätigkeit mit einer Teilrente zu
kombinieren.
({6})
Jetzt zur FDP. Sie betreibt Klientelpolitik - das wissen wir ja schon -, wenn sie einen flexiblen Rentenzugang ab dem 60. Lebensjahr fordert.
({7})
Sie wissen genau, dass dies nur für Gutverdienende eine
Option ist; nur sie können das nutzen.
({8})
- Gut, jetzt habe ich recht. - Wir Grüne sehen Handlungsbedarf vor allem bei Menschen, deren Tätigkeit
körperlich oder auch mental belastend ist, die aber aufgrund ihres Erwerbsverlaufs bis zum Rentenalter arbeiten müssen oder auch wollen. Sie sollen die Möglichkeit
haben, ihre Arbeitszeit zu reduzieren und ab dem
60. Lebensjahr ergänzend dazu eine Teilrente zu beziehen.
({9})
Die Möglichkeit zum unbegrenzten Zuverdienst - Sie
fordern das - halten wir für falsch.
({10})
Wenn die Kombination aus Teilrente und Verdienst über
dem Einkommen aus einer Vollzeittätigkeit liegt, wird es
doch attraktiv, vorzeitig in Rente zu gehen.
({11})
Das nehmen diejenigen in Anspruch, die gut verdienen;
die machen dann zusätzlich Kasse.
Wir wollen, dass die Menschen so lange wie möglich
in der Erwerbsarbeit bleiben, aber die Chance haben, zusätzlich eine Teilrente zu bekommen.
({12})
Es ist verräterisch, dass Sie fordern, für den Zuverdienst
keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu erheben.
Herr Kolb, Ihr Konzept enthält keine Absicherung des
Risikos, erwerbslos zu werden. Sie gehen davon aus,
wenn das jemand mache, dann mache er das auf ewige
Zeit.
({13})
Die Fortsetzung der geförderten Altersteilzeit ist der
falsche Weg. Wir brauchen aber gangbare Lösungen für
Menschen, die nicht bis zum Rentenalter voll durchhalten können. Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
({14})
Vielen Dank.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/8542 und 16/9748 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung ({0})
- Drucksache 16/9154 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1})
- Drucksache 16/9788 Berichterstattung:
Abgeordneter Gerald Weiß ({2})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die gesetzliche Unfallversicherung fit für die
Dienstleistungsgesellschaft machen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz-Peter
Haustein, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens
Ackermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Mehr Wettbewerb und Kapitaldeckung in
der Unfallversicherung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker
Schneider ({4}), Klaus Ernst,
Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Keine Leistungskürzungen bei der gesetzlichen Unfallversicherung
- Drucksachen 16/9312, 16/6645, 16/5616,
16/9788 Berichterstattung:
Abgeordneter Gerald Weiß ({5})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär
Klaus Brandner für die Bundesregierung.
({6})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Im Reigen der altehrwürdigen Sozialversicherung
ist die gesetzliche Unfallversicherung die stille Versicherung. Über Jahrzehnte hinweg hat sie geräuschlos, zuverlässig, wirkungsvoll funktioniert und sich als Garant
bei der Absicherung gesundheitlicher Risiken des Arbeitslebens bestens bewährt.
Wir wollen dieser Erfolgsgeschichte ein neues Kapitel hinzufügen. Dafür müssen wir die organisatorischen
Strukturen der gesetzlichen Unfallversicherung dem
wirtschaftlichen Strukturwandel anpassen, Bewährtes
also modernisieren. Genau das verfolgen wir mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf. Für seine Erarbeitung galt,
dass die Politik die Inhalte nicht diktiert, sondern gemeinsam mit der Selbstverwaltung nach dem Prinzip
„Vorfahrt für die Selbstverwaltung“ erarbeitet. In dem
Zusammenhang ist sehr deutlich geworden, dass wir der
Selbstverwaltung gerade in der Sozialversicherung eine
ganz hohe Verantwortung übertragen. Hierdurch wird
die Eigenverantwortung der Beteiligten gestärkt. Die
Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme wird durch
die Politik anerkannt. Es wird deutlich, dass die Praktiker in die Erarbeitung einer Gesetzesvorlage rechtzeitig
einbezogen werden. Ich habe dabei ganz besonders den
Berichterstattern der Koalitionsfraktionen, Wolfgang
Grotthaus und Gerald Weiß, zu danken, die in vorbildlicher Art und Weise in Zusammenarbeit mit dem Ministerium an der Erstellung dieses Gesetzentwurfs mitgearbeitet haben. Das war ein mustergültiger Prozess. Dies
sollte an dieser Stelle erwähnt werden.
({0})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich die Kernpunkte dieser Reform zusammenfassen:
Wir werden die Zahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften von 23 auf neun reduzieren. Das ist ein wesentlicher Schritt zu mehr Effizienz und Wirtschaftlichkeit im System.
Flankierend zu den Fusionen werden wir den Lastenausgleich zwischen den gewerblichen Berufsgenossenschaften neu regeln. Mehr Solidarität als bisher - das ist
unser Ziel. Die alten Rentenlasten müssen auf breitere
Schultern verteilt werden.
Auch an der Spitze ändert sich einiges. Der Zusammenschluss der beiden bestehenden Spitzenverbände
wurde bereits vollzogen. Der neugegründete Spitzenverband wird durch Beleihung auf eine feste rechtliche
Grundlage gestellt und seine Koordinierungsfunktion
gegenüber den einzelnen Unfallversicherungsträgern
deutlich gestärkt. Das schafft, wie ich meine, mehr Verbindlichkeit und reduziert den Abstimmungsaufwand
der Beteiligten. Damit ist ein weiterer Schritt getan, um
mit Entbürokratisierung und einer besseren Organisation
die Effizienz dieses Versicherungssystems zu stärken.
Drei weitere wichtige Punkte sind hinzuzufügen:
Mit den Regelungen zum Betriebsprüfdienst erreichen wir einheitliche und effizientere Prüfungen und
entlasten damit die Arbeitgeber. Das war immer Anstoß
der Kritik in den letzten Jahren.
Durch die Neugestaltung des Vermögensrechts schaffen wir mehr Transparenz bei den Betriebsmitteln, Rücklagen und beim Verwaltungsvermögen.
Die Verpflichtung zur Bildung von Altersrückstellungen bei den Unfallversicherungsträgern ist ein Beitrag
zur Generationengerechtigkeit. Die Debatte zuvor hat ja
im Kern Ähnliches deutlich gemacht, worauf wir in Zukunft stärker hinarbeiten müssen.
({1})
Last, not least - diesen Punkt setze ich zur Betonung
bewusst ans Ende dieser kursorischen Zusammenfassung -: Es ist ganz wichtig, dass wir zu einer gemeinsamen Arbeitsschutzstrategie kommen. Bund, Länder und
Unfallversicherungsträger verpflichten sich auf eine intensive Zusammenarbeit auf Basis gemeinsam festgelegter Arbeitsschutzziele. Weitere Elemente sind eine verbesserte Kooperation der Aufsichtsdienste bei der
Beratung und Überwachung der Betriebe sowie die Optimierung des Vorschriften- und Regelwerks.
Auch dieser Gesetzgebungsprozess macht deutlich,
wie wichtig wir den Präventionsgedanken nehmen. Der
Präventionsgedanke wird am ehesten mit einer gemeinsamen effektiven Strategie zur Minimierung der zukünftigen Lasten in diesem Sicherungssystem verfolgt.
Meine Damen und Herren, bei der Anhörung der
Sachverständigen sind diese Reformmaßnahmen ganz
überwiegend auf Zustimmung gestoßen. Das zeigt: Wir
sind auf dem richtigen Weg. Dort, wo Änderungsbedarf
erkennbar wurde, haben wir nachgesteuert. Ich will auch
hier einige Punkte kurz ansprechen:
Die Aufsicht über den Spitzenverband, die Deutsche
Gesetzliche Unfallversicherung e. V., wird auf die
Rechtsaufsicht beschränkt. Das war der eindringliche
Wunsch der Selbstverwaltung. Es liegt nun in der Hand
- das will ich ganz klar sagen - der Selbstverwaltung, eigenverantwortlich die notwendigen Effizienzgewinne zu
erzielen. Es war einhelliger Wunsch der beiden Koalitionsfraktionen, diesen Weg zu beschreiten. Das möchte
ich an dieser Stelle deutlich anmerken. In Sachen
„Prüfrecht durch den Bundesrechnungshof“ haben wir
zugesagt, dass wir die gerichtliche Klärung abwarten.
Der nächste Punkt, den ich ansprechen möchte, ist,
dass die beratende Mitwirkung der Sozialpartner an der
Nationalen Arbeitsschutzkonferenz, dem BeschlussgreParl. Staatssekretär Klaus Brandner
mium der gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie, auf das Aufgabenfeld des Vorschriften- und Regelwerks erweitert wird. Auch in diesem Bereich wird also
die Teilhabe der Selbstverwaltung erweitert.
Weiterhin wird im Zuge der Regelungen zum Prüfdienst der Lohnnachweis zur Unfallversicherung abgeschafft und in das Meldeverfahren zur Sozialversicherung integriert. Hierdurch werden Doppelmeldungen
vermieden. Über die Konsequenzen, die daraus im Melderecht zu ziehen sind, wurde intensiv und kritisch, auch
gestern in der Ausschusssitzung, diskutiert. Was machen
wir wirklich? Wir führen keine neuen Meldungen ein,
sondern wir führen bestehende Meldungen zusammen.
Wir führen also keine Stechuhr für Manager ein, wie es
in einigen Zeitungen heute Morgen zu lesen war.
({2})
Ein Meldeweg, nämlich der von den Arbeitgebern zur
Unfallversicherung, wird abgeschafft. Die Arbeitgeber
werden hierdurch von Kosten in zweistelliger Millionenhöhe entlastet und nicht - das sage ich ganz deutlich -,
wie in sicherlich interessengeleiteten Meldungen unterstellt worden ist, belastet. Ich will das ganz ausdrücklich
sagen, weil ein Ziel dieses Gesetzes natürlich auch die
Entbürokratisierung ist, ohne dass die Leistungsfähigkeit
der Unfallversicherung in irgendeiner Weise infrage gestellt wird.
Lassen Sie mich schließlich noch vier weitere Änderungen gegenüber dem ursprünglichen Gesetzentwurf
kurz ansprechen:
Erstens. Der Übergangszeitraum beim Lastenausgleich wird von drei auf sechs Jahre verlängert. Damit
wird unter anderem auch erreicht, dass die Steinkohlebranche zusätzlich entlastet wird.
Zweitens. Die Frist für den Aufbau von Altersrückstellungen bei den Unfallversicherungsträgern wird um
zehn Jahre verlängert.
Drittens. Das Moratorium zur Abgrenzung zwischen
öffentlicher und gewerblicher Unfallversicherung wird
nicht Dauerlösung, sondern um zwei Jahre verlängert. In
diesem Zeitraum muss abschließend geprüft werden, ob
die Regelung sachgerecht ist.
Viertens. Der Spitzenverband wirkt auf Einsparungen
bei den Verwaltungs- und Verfahrenskosten im gewerblichen Bereich hin und hat jährlich darüber zu berichten.
Insofern ist das ein Stück Transparenz in unserer Arbeit.
All diese Punkte machen eines deutlich: Konstruktive
Kritik ist uns willkommen. Wir greifen sie auf und setzen Verbesserungen im Gesetzgebungsverfahren um.
Die Anträge der Opposition, die in dem Zusammenhang zu behandeln waren, vermögen dagegen aus unserer Sicht nicht zu überzeugen. Die Linke wendet sich gegen Leistungskürzungen, die hier überhaupt nicht zur
Diskussion stehen. Sie fordert etwas, was in diesem Gesetzentwurf überhaupt nicht thematisiert ist. Ich will an
diesem Punkt sagen, dass es in dem Verfahren durchaus
Auseinandersetzungen über Dinge gab, über die diskutiert und polemisiert worden ist, die aber in diesem Gesetzesverfahren überhaupt keine Rolle spielten. Ich habe
das sehr bedauert, weil das eine sachbezogene Diskussion stark behindert hat.
Die FDP forderte die Privatisierung der Unfallversicherung,
({3})
was wir aus bekannten Gründen ablehnen.
Den Forderungen des Bündnisses 90/Die Grünen zum
Arbeitsschutz trägt der Gesetzentwurf überwiegend
Rechnung, insbesondere durch die gemeinsame Arbeitsschutzstrategie.
({4})
Insofern ist der Antrag aus unserer Sicht in weiten Teilen
erledigt. Ich will aber auch ganz klar sagen, dass wir zu
dem Prinzip stehen, dass die Effizienz der Leistungserbringung verbessert werden muss und dass Effizienz für
uns nicht heißt, dass wir die Leistungen kürzen müssen.
Wir wollen vielmehr leistungsfähige Strukturen, wir
wollen Entbürokratisierung, und wir wollen der Prävention eine ganz besondere Bedeutung beimessen, weil
durch Prävention Berufskrankheiten erst gar nicht entstehen und Leid und Krankheiten verhindert werden
können. Das muss im Fokus einer leistungsfähigen Unfallversicherung in unserem Land stehen.
Den Wandel erkennen und aktiv gestalten - das ist es,
was verantwortungsvolle Politik auszeichnet. Mit dem
Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz leisten wir
dazu einen entscheidenden Beitrag. Ich bitte um breite
Zustimmung.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz-Peter Haustein
von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Sicher haben auch Sie gestern das
Fußballspiel gesehen und sich genauso wie ich gefreut,
dass wir gewonnen haben.
({0})
Es tut übrigens auch gut, diese vielen schwarz-rot-goldenen Fahnen zu sehen. Auch das nur nebenbei.
Aber jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie würden eine
Karte für ein Fußballspiel erwerben, das erst ein Dreivierteljahr später angepfiffen wird. Dann kommen Sie zu
diesem Spiel, und es ist kein Ball da. Was würden Sie
dazu sagen?
({1})
Daran habe ich gedacht, als ich mir Ihr Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung angeschaut habe.
({2})
In wesentlichen Teilen hat dieses Gesetz den Namen
„Reform“ nicht verdient. Dabei fing alles so hoffnungsvoll an. Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag, dessen Titel das Wort „Mut“ beinhaltet, Folgendes geschrieben:
Wir werden den Auftrag des Deutschen Bundestags
aus der letzten Legislaturperiode aufgreifen und in
einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe ein Konzept für
eine Reform der Unfallversicherung entwickeln,
um das System auf Dauer zukunftssicher zu machen. Wesentliche Ziele sind eine Straffung der
Organisation, die Schaffung leistungsfähiger Unfallversicherungsträger und ein zielgenaueres Leistungsrecht.
Genau da liegt der Hund begraben. Denn das Leistungsrecht ist in diesem Gesetzentwurf überhaupt nicht
berücksichtigt worden, obwohl es 90 Prozent der Kosten
ausmacht.
({3})
Außerdem haben Sie bei den Verwaltungskosten, welche
die übrigen 10 Prozent ausmachen, das von Ihnen festgelegte Einsparziel von 20 Prozent nicht erreicht. Das Entscheidende ist aber, dass Sie das Leistungsrecht ausklammern. Deshalb ist es kein gutes Gesetz.
({4})
Erschwerend kommt hinzu, dass Sie den Unternehmen zusätzliche Bürokratie aufbürden. Es sind die Unternehmer, die diese Versicherungssäule allein bezahlen.
({5})
Herr Brandner hat recht. In der Öffentlichkeit ist das
zwar nicht so bekannt, aber die Unternehmer geben immerhin 9,6 Milliarden Euro für die gesetzliche Unfallversicherung aus.
({6})
Das ist eine stattliche Summe. Wenn Sie aber die Bürokratiekosten erhöhen, werden die Unternehmer einen
noch dickeren Hals bekommen als bisher. Laut einer
Umfrage unter Unternehmern wollen 88 Prozent der Unternehmer die Berufsgenossenschaften privatisieren oder
abschaffen. Wir haben gesagt, dass das so leicht nicht
geht. Aber man wird doch wohl fordern können, dass der
Grundsatz, dass Wettbewerb besser ist als ein Monopol,
auch einmal auf die Berufsgenossenschaften angewendet
wird. Das ist eine Forderung, die auch in unserem Antrag enthalten ist.
Wir könnten die Versicherung von Arbeitsunfällen
ohne große Probleme dem Wettbewerb zugänglich machen; wir haben entsprechende Gespräche mit dem GDV
und der Münchner Rück geführt. Das wäre ein Punkt, an
dem man Kosten sparen könnte. Wenn es nur eine Autoversicherung gäbe, würden Sie auch auf die Barrikaden
gehen. Bei der Autoversicherung wählen Sie auch den
besten Anbieter aus.
Trotzdem möchte ich sagen, dass Dr. Joachim Breuer
und sein Team gute Arbeit leisten. Aber auch gute Arbeit
kann man noch verbessern. Das wäre möglich, indem
man in diesem Bereich Wettbewerb zulässt.
Außerdem haben wir uns in unserem Antrag erlaubt
- einige Ausschussmitglieder waren da ganz beleidigt -,
eine Forderung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe aufzugreifen und einmal die Wegeunfälle zu beleuchten.
({7})
Die Kosten für Wegeunfälle machen bereits einen Anteil
von 15 Prozent an den besagten 9,6 Milliarden Euro aus.
Wir wollen, dass die Wegeunfälle weiter versichert bleiben, aber nicht in diesem, sondern in einem paritätisch
finanzierten System, eventuell im Rahmen der Krankenversicherung. Das wäre fair. Denn der Weg zur Arbeit
({8})
gehört zum allgemeinen Lebensrisiko, auf das der Arbeitgeber kaum Einfluss hat.
({9})
Auch dies sprechen wir in unserem Antrag an.
Schließlich fordern wir in unserem Antrag, dass die
Altersrente Vorrang vor der Unfallrente haben sollte und
dass das Leistungsrecht zielgenauer sein muss. Das Geld
darf nicht nach dem Gießkannenprinzip gleichmäßig
über alle verteilt werden, sondern wir brauchen es für die
schweren Unfälle.
Wir stellen hier einen Antrag vor, der die Unternehmer entlastet. Das ist gut für uns alle. Denn wenn es den
Unternehmen gutgeht, geht es auch den Arbeitnehmern
gut. Wir sitzen doch zusammen in einem Boot.
({10})
Das wird immer verkannt. Insbesondere auf der linken
Seite des Hauses wird immer wieder die alte Klassenkampfkeule herausgeholt. Begreifen Sie doch endlich,
dass der Arbeitgeber an hochmotivierten guten Arbeitnehmern und nicht am Ausquetschen von Arbeitskraft
interessiert ist, was immer behauptet wird.
({11})
Das Sozialste, was es gibt, ist, Arbeitsplätze zu schaffen, Leute auszubilden und ordentlich zu bezahlen. Dafür stehen wir als FDP. Dafür wäre es gut gewesen, wenn
man bei dieser Reform ein Gesetz verabschiedet hätte,
das die Unternehmen entlastet und nicht, wie es jetzt geschieht, weiter - das ist das Schlimme - mit Bürokratie
belastet.
({12})
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
({13})
ein herzliches Glückauf aus dem Erzgebirge!
({14})
Das Wort hat jetzt der Kollege Gerald Weiß von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Struck’sche Gesetz kommt heute sozusagen
verschärft zur Anwendung:
({0})
Die Reform der gesetzlichen Unfallversicherung hat im
parlamentarischen Prozess, gemessen am Entwurf der
Bundesregierung, in wesentlichen Punkten Verbesserungen erfahren. Der Kollege Kurth von den Grünen hat
gestern im Ausschuss gesagt: Sie haben schon schlechtere Gesetze gemacht. - Das ist das größtmögliche Lob
aus Oppositionsmund.
({1})
Ich war lange genug, viel zu lange Oppositionsabgeordneter. Ich weiß, wo das Limit ist. Übersetzt heißt das: Ihr
habt es gut gemacht.
({2})
Es ist gut gemacht, und daran haben viele Anteil; ich
komme noch darauf zu sprechen.
Der Grundsatz, den Staatssekretär Brandner noch einmal hervorgehoben hat, war zentrale Zielvorgabe: Vorfahrt für die Selbstverwaltung. Ob dieses Prinzip im Gesetz durchgehalten würde, war für die Union der
entscheidende Maßstab. Wir können heute mit großer
Zufriedenheit sagen: Das Gesetz in seiner endgültigen
Form ist vor allem ein Sieg der Selbstverwaltungsidee.
In diesem Zusammenhang ist eine weichenstellende Entscheidung der Großen Koalition die, dass die im Regierungsentwurf vorgesehene Fachaufsicht über die gesetzliche Unfallversicherung entfällt. Wir begnügen uns mit
der Rechtsaufsicht. Wir wollen Freiraum und Selbstverantwortung in der gesetzlichen Unfallversicherung. Wir
wollen keine staatliche Gängelei.
Am Anfang hatte man vorgesehen, die neue Deutsche
Gesetzliche Unfallversicherung als öffentlich-rechtliche
Körperschaft, gespannt als gemeinsames Dach über die
gewerblichen Berufsgenossenschaften und die Unfallkassen, der Fachaufsicht des Bundesarbeitsministeriums
zu unterstellen. Das war der Union zu staatsnah - und
nicht nur ihr. Selbstverwaltung braucht Freiraum. Fachaufsichtliche Weisungen passen da nicht. Aus ihrer
betrieblichen Erfahrung heraus können Arbeitnehmer,
Arbeitgeber und Versichertenvertreter in der Selbstverwaltung am besten beurteilen, wo im Arbeitsschutz der
Schuh drückt. Es genügt, wenn im Rahmen der Rechtsaufsicht überprüft wird, ob alles nach Recht und Gesetz
verläuft. Fachaufsichtliche Weisungen sind nicht notwendig.
Nach gründlicher Prüfung haben wir die von der
Selbstverwaltung erarbeiteten Bausteine in den heute
vorliegenden Entwurf übernommen. Die Vorgaben kamen von der Politik. Das hatte heilsamen Druck ausgelöst und die Bemühungen in der Selbstverwaltung - sagen wir es einmal so - beflügelt.
Baustein eins ist die neue Organisationsstruktur. Die
Anzahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften wird
von heute 23 auf 9 zurückgeführt. Durch Fusionen sollen
tragfähige und zukunftsfähige Einheiten entstehen.
Synergien sollen genutzt werden. Effizienz und Effektivität sollen gesteigert werden. Die Organisation der
Unfallversicherung - das gilt für die Berufsgenossenschaften wie für die Unfallkassen - soll die Wirtschaftsstruktur von heute und von morgen abbilden. Hier hat
die Selbstverwaltung ein respektables Ergebnis vorgelegt. Jetzt geht es an die Umsetzung. Das wird nicht
leichter, aber wir haben das getan, was man gemäß dem
Prinzip „Vorfahrt für die Selbstverwaltung“ tun muss.
Wir haben dieses Konzept der neuen zukunftsfähigen
Berufsgenossenschaften unverändert in das Gesetz hineingenommen.
Baustein zwei: Wir haben die Selbstverwaltungslösung in Form des Vereins, den die Träger der Unfallversicherung gebildet haben, in das Gesetz übernommen.
Baustein drei: Der neue solidarische Lastenausgleich
ist ein Konzept, das ebenfalls von der Selbstverwaltung
entwickelt wurde. Wir helfen den von Strukturkrisen gebeutelten Branchen, zum Beispiel der Bauwirtschaft,
nachhaltiger als jemals zuvor. Wir versetzen sie in die
Lage, die aus Strukturkrisen herrührenden Lasten zu tragen.
Einen gordischen Knoten musste die Politik durchschlagen: Hier ging es um den Verteilungsschlüssel. Angesichts extrem widerstreitender Interessen wäre die
Selbstverwaltung überfordert gewesen, selbst zu entscheiden, nach welchem Schlüssel die Faktoren Entgelte
und Neurenten zu gewichten gewesen wären. Wir sind
nach reiflicher Überlegung dabei geblieben, den Verteilungsschlüssel bei 70 zu 30 - 70 Prozent nach Entgelten
und 30 Prozent nach Neurenten - zu belassen.
Wir haben allerdings - der Staatssekretär hat es bereits gesagt - eine wesentliche Änderung im Ausschuss
beschlossen, die sicherlich nachher auch hier eine Mehrheit finden wird. Der stufenweise Umstieg in den neuen
Lastenausgleich wird nicht schon bis 2010, sondern erst
bis 2013 erfolgen. Mit dieser längeren Umstiegsfrist, das
heißt kleinere Stufen bei längerer Zeitspanne, helfen wir
den Branchen, die im solidarischen Lastenausgleichssystem die Gebenden sind, deren Solidarität im solidarischen Lastenausgleich gefordert ist. Wir wollen sie fordern, aber nicht überfordern. Zwischen Solidarität und
Gerald Weiß ({3})
Selbstverantwortung muss eine vernünftige Balance
herrschen.
Der Staatssekretär hat auch schon über die Altersrückstellungen gesprochen. Auch hier haben wir die
Frist verlängert, um nicht unnötigen Druck auf die Beiträge zu erzeugen.
Er hat auch vom Moratorium gesprochen: Dass früher
rein öffentliche Unternehmen, die heute börsennotiert
sind und am Wettbewerb teilnehmen, ad calendas graecas den Unfallkassen zugeordnet bleiben sollen und damit nicht am solidarischen Lastenausgleichsverfahren
teilnehmen, ist für uns nicht ohne Weiteres einzusehen
gewesen. Die Entfristung, die noch im Entwurf stand,
wollen wir jetzt durch eine neue Frist ersetzen, bis zu der
eine scharfe Evaluierung über die Frage stattgefunden
haben muss, wie eine richtige Zuordnung in Zukunft
auszusehen hätte.
Wir wollen auch nicht, dass der Bundesrechnungshof
den Dachverband der Unfallversicherung prüft. Es geht
um Geld der Arbeitgeber. Es ist klar, Herr Kollege
Haustein, warum das Geld alleine von den Arbeitgebern
kommt. Es handelt sich hier um ein abgeleitetes, individuelles Haftungsrecht. Das ist die Begründung für dieses
System.
({4})
In dem Moment, wo es das nicht gäbe, müsste der Arbeitgeber die Versicherungsprämien privat tragen oder,
wenn er es überhaupt könnte, unmittelbar privat für Unfälle haften. Das jetzige Vorgehen ist schon systemgerecht.
({5})
Da es sich nun aber nicht um Steuergelder, sondern um
Beitragsgelder der Arbeitgeber, und zwar nur um solche
handelt, hat auch der Bundesrechnungshof nicht zu prüfen. Insoweit haben wir auch hier eine Änderung vorgeschlagen.
Ich will ganz kurz auf einen Aspekt eingehen, der zu
im Grunde nicht zu akzeptierender Polemik in den letzten Stunden und Tagen geführt hat. Künftig wird die
Lohn- und Arbeitszeitmeldung an die Unfallversicherung wegfallen. Das spart den Unternehmen 50 Millionen Euro. Ich möchte das hervorheben und daran erinnern.
Herr Kollege Weiß, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Heinrich Kolb?
Ja, bitte.
Bitte schön, Herr Kolb.
({0})
Ja, Herr Kollege Müller, wir sitzen schon lange hier
herum, wir werden auch noch länger hier sitzen; aber
diese Frage muss wirklich gestellt werden, weil mich
heute noch einmal ein Alarmruf von einem großen Wirtschaftsverband erreicht hat. Wir haben gestern im Ausschuss eine Falschinformation erhalten. Das möchte ich
hier sehr deutlich sagen.
Zum einen hat der Kollege Brauksiepe mit dem gedruckten Gesetzeswerk in der Hand gesagt, die Meldepflichten würden bei der Überführung von § 165
SGB VII in § 28 a SGB IV nicht erweitert werden. Er
hat, wie gesagt, aus der geltenden Fassung zitiert. Das ist
aber sehr wohl der Fall. Es kommt die Pflicht zur Meldung folgender Daten hinzu: das in der Unfallversicherung beitragspflichtige Arbeitsentgelt - das ist etwas
anderes als das in der Rentenversicherung beitragspflichtige Arbeitsentgelt -, der Zeitraum, in dem das angegebene Arbeitsentgelt erzielt werden muss, und die
anzuwendende Gefahrtarifstelle. Das ist eine erhebliche
materielle Veränderung des geltenden Rechts.
({0})
- Nein, das wird bisher nicht gemeldet. Ich habe extra
nachgeschaut. Der Verband, der mich heute angerufen
hat, hat mich in dieser Auffassung ausdrücklich bestätigt: Das ist eine erhebliche Ausweitung.
Zum anderen war die Information falsch, dass diese
Neuregelung, die Erweiterung der Meldepflichten, erst
am 1. Januar 2012 in Kraft tritt. Sie ist vielmehr schon
ab 1. Januar 2009 gültig.
({1})
Können Sie mir bestätigen, dass meine Auffassung,
die ich hier vorgetragen habe, richtig ist, und welche
Konsequenzen ziehen die Unionsfraktion und die Regierung insgesamt aus der Tatsache, dass mit dieser Änderung, mit der Überführung vom SGB VII in das SGB IV,
ganz offensichtlich erheblich mehr Bürokratie verbunden ist?
Dieser Meinung kann ich mich nicht anschließen.
({0})
Zukünftig erfolgt nicht mehr die Meldung der Arbeitszeit an die Unfallversicherung. Im Grunde genommen
machen wir aus zwei Vorgängen einen Vorgang.
Ich stelle es einmal ganz plastisch dar - wie schön,
dass ich darauf dank Ihrer Frage aufmerksam machen
kann -: Ein Unternehmer hat drei Mitarbeiter: Max
Müller, 1 750 Stunden, Hugo Meier, 1 600 Stunden,
Maximilian Huber, 1 500 Stunden. Was ist bisher passiert? Der Unternehmer hat die Arbeitsstunden seiner
Mitarbeiter zusammengezählt und seiner Berufsgenossenschaft gemeldet. Künftig wird der gleiche Unternehmer der Rentenversicherung - das ist das Neue; wie ich
vorhin gesagt habe, wird dadurch eine Ersparnis erzielt:
Aus zwei Vorgängen wird einer gemacht - die ihm vorGerald Weiß ({1})
liegenden Daten melden. Deshalb ist auch das frühe Inkrafttreten dieser Regelung gar kein Problem.
Bei dieser Gelegenheit will ich sagen: Kein Mensch
fordert oder erwartet die flächendeckende Einführung
von Stechuhren. Schon gar nicht interessiert eine minutengenaue Auflistung der täglichen Arbeitszeiten der Arbeitnehmer. Wer diese Dinge bisher korrekt gemacht hat,
wird keinen materiellen Mehraufwand haben.
({2})
Man hat unter der Überschrift „Stechuhren für alle“ einen Popanz geschaffen. Wie manche Funktionäre und
Journalisten hier arbeiten, das ist ihrer Verantwortung
überlassen. Es ist auf jeden Fall übel; das muss man
schon sagen.
Herr Kollege Weiß, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Ja.
Bitte.
Herr Kollege Weiß, ich bedanke mich für die Gelegenheit zur Nachfrage. Ich bitte die Kollegen um Verständnis. Das ist wirklich ein essenzieller Punkt, der mir
heute von einem großen Wirtschaftsverband in sehr
ernster Form vorgetragen wurde. Nachdem ich das selbst
geprüft habe, teile ich diese Auffassung.
§ 165 SGB VII sieht bisher pauschale Meldungen vor.
Außerdem sieht er die Möglichkeit vor, dass der Umfang
der Meldepflicht durch die Satzung der Berufsgenossenschaft modifiziert wird. Das wird künftig im Rahmen der
individualisierten Meldung nach § 28 a SGB IV vollkommen anders sein. Man muss dann genau ermitteln,
was man für den einzelnen Arbeitnehmer meldet. Bisher
gibt es Mitarbeiter mit Vertrauensarbeitszeiten, das heißt
Mitarbeiter, deren Arbeitszeiten nicht erfasst werden.
Ich frage Sie: Wie sollen deren Arbeitszeiten denn künftig erfasst und gemeldet werden?
({0})
Man ist bisher nicht verpflichtet, für Arbeitnehmer, die
weniger als acht Stunden am Tag arbeiten, Aufzeichnungen zu machen; das Arbeitszeitgesetz verpflichtet zu solchen Aufzeichnungen erst bei Arbeitszeiten ab acht
Stunden. Wie soll man mit solchen Fällen künftig umgehen?
Die entscheidende Frage ist: Was meldet man, wenn
man eine individuelle Gefahrklasse melden muss? Seit
einem Jahr ist die Situation so, dass zum Beispiel von einem metallverarbeitenden Unternehmen eine einheitliche Tarifziffer über alle Entgelte gemeldet wird. In dem
künftig geltenden individualisierten Verfahren müsste
man wohl für jede Tätigkeit - für die der Sekretärin, des
Manns an der Presse oder des Staplerfahrers - unterschiedliche Gefahrklassen melden. Das schreit doch
wirklich nach Mehraufwand. Das können Sie doch nicht
übersehen.
({1})
Um aggregierte Zahlen melden zu können, müssen
die Unternehmen doch Daten zusammenzählen, die individualisiert vorhanden sind. Wenn sie also die Arbeitsverträge von Max Müller, Hugo Meier und Maximilian
Huber, die 38 oder 40 Stunden pro Woche arbeiten, nebeneinanderlegen, können sie die Jahresstunden berechnen. Sie haben diese Daten doch in ihrem Betrieb erfasst.
Zukünftig gibt es nur noch einen Vorgang: Sie brauchen
sie nicht mehr zusammenzuzählen. Sie geben sie nur an
die Rentenversicherung.
Nun zu Ihrer Frage zu den Gefahrklassen. Die Selbstverwaltung hat hier viele Steuerungsmöglichkeiten und
Gestaltungsraum.
({0})
- Auch in Zukunft; daran ändern sich gar nichts. Vielleicht kann mein lieber Freund Grotthaus nachher noch
darauf eingehen.
Eines muss ich dazu aber noch sagen: Wir haben in
der Unfallversicherung nicht nur ein branchengegliedertes System, sondern auch ein nach Risiken gegliedertes
System,
({1})
und zwar aus guten Gründen. Derjenige, der im Betrieb
mit Stahlträgern hantiert, unterliegt anderen Risiken als
derjenige, der in der Cafeteria mit Kaffeetassen hantiert.
Das abzubilden, lohnt sich schon. Wenn sich ein Unternehmen in der Prävention anstrengt und den die Stahlträger schleppenden Mitarbeiter besser schützt, dann lohnt
sich das im Beitrag. Diese Steuerungswirkung wollen
wir auch weiterhin haben. Dafür werden aber die Daten
gebraucht. Sie müssen doch wissen, was der Mitarbeiter
macht. Diese Grundlagen wie bisher unbürokratisch bereitzustellen, sollte doch möglich sein. Es ist eine Mär,
von der flächendeckenden Einführung von Stechuhren
zu sprechen.
({2})
Wenn das das Niveau der Diskussion in Deutschland ist,
dann sage ich nur: Gute Nacht! Das ist Polemik, sonst
nichts.
({3})
- Ja, gerne. - Gewisse Daten braucht man - übertreiben
darf man es nicht -; das erfordert gerade die Steuerung
nach Risiken.
Gerald Weiß ({4})
Ich möchte noch kurz das Leistungsrecht ansprechen.
Wenn mir persönlich der Kollege Haustein nicht so sympathisch wäre - der Kollege Kolb sowieso -,
({5})
würde ich nicht darauf eingehen. - Wir haben die Reform doch mit gutem Recht gesplittet. Die Arbeitgeber
wenden ein, dass sie 500 Millionen Euro mehr im langen
Zeitstrahl bezahlen. Die Einwendungen der Arbeitnehmer sind, dass sie weniger Leistungsabsicherungen haben. Hier gibt es mindestens ein Kommunikationsproblem, wahrscheinlich auch ein paar Probleme in der
Sache. Ich persönlich meine, die verwaltungskonzeptionellen Überlegungen waren noch nicht ausgereift. Wenn
es aber so ist, dann lässt man es eben, bevor man etwas
Schlechtes macht. Mit der Organisationsstrukturreform
machen wir etwas Notwendiges, Gutes und Ausgereiftes.
({6})
Im Leistungsrecht hätten wir etwas Unausgereiftes. Es
wäre zwar im Modell schön; aber auf der Straße wäre es
nicht gefahren. Das sollten wir nicht machen. - Hinsichtlich der Wegeunfälle ist bei der Union nichts drin. Das
will ich der guten Ordnung halber noch einmal sagen.
({7})
Sie haben auch gesagt: Die 20 Prozent an Kosteneinsparungen als Zielvorgabe habt ihr nicht geschafft. - Da
kann ich mich wirklich nur wundern, Heinz-Peter. Wenn
wir Freiraum und Selbstverantwortung möchten, dann
kontrollieren die Selbstverwalter, Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die Arbeitgeber gucken ganz scharf hin,
weil es ihr Geld ist; sie kontrollieren die Finanzflüsse
und die Kosten. Wenn wir allerdings 20 Prozent als Ziel
festschreiben, dann verlassen wir diesen Weg, Freiraum
zu geben. Dann können wir auch gleich wieder Fachaufsichten vorsehen. Diesen Weg wollten wir nicht gehen.
Wir haben allerdings ein allgemeines Kosteneinsparungsziel und eine Berichtspflicht verankert. Das ist ein
Hinweis des Gesetzgebers nach dem Motto: Strengt euch
an, damit aus den Synergien, die wir hier erreichen wollen, in Zukunft auch wirklich etwas wird.
Insgesamt sind wir mit diesem Gesetzentwurf auf einem sehr guten Weg. Es ist ein großes Gemeinschaftswerk. Ich wollte eigentlich noch einigen Damen und
Herren ein Dankeschön sagen, aber die Redezeit ist um.
Bei einem will ich mich trotzdem bedanken, nämlich bei
meinem Ko-Berichterstatter Wolfgang Grotthaus. Es
wird immer über eine Krise der Großen Koalition geschrieben. Aber an dieser Stelle hat sie sehr gut funktioniert. Es war eine freundschaftliche und kollegiale Zusammenarbeit. Herzlichen Dank, Wolfgang, für diese
gemeinsame Arbeit.
Ich bedanke mich.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Schneider von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatssekretär Brandner hat es schon angesprochen:
Wir beraten heute auch einen Antrag meiner Fraktion. Er
hat es angekündigt - wir wissen es schon aus dem Ausschuss -: Sie werden diesen Antrag ablehnen. Nichtsdestotrotz lassen wir uns an diesem Tag die gute Laune
nicht versauen.
Was haben wir in unserem Antrag gefordert? Wir haben erstens gefordert, die Reform des Leistungsrechts
von der Organisationsreform abzukoppeln. Das haben
Sie gemacht. Danke schön.
({0})
Wir haben zweitens perspektivisch gefordert, dass im
Rahmen der Reform des Leistungsrechts, die es nun in
der nächsten Legislaturperiode geben soll, nicht reflexartig Leistungen gekürzt werden, sondern dass sie optimiert werden. Wir sollten vor allen Dingen im Blick haben, dass wir eine verbesserte Anerkennungspraxis von
Berufskrankheiten brauchen. Das werden wir als Merkposten in die nächste Legislaturperiode mitnehmen.
Wir haben drittens gefordert, die Selbstverwaltung in
der gesetzlichen Unfallversicherung zu stärken und insbesondere dem Dachverband der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, DGUV, weitgehende Autonomie einzuräumen. Sie haben, wie von uns gefordert, von
der Körperschaftslösung Abstand genommen. Sie haben
den Versuch, doch noch über die Fachaufsicht zu viel
Einfluss zu nehmen, letzten Endes aufgegeben. Auch
hier haben Sie unsere Forderungen erfüllt. Danke schön.
({1})
Wir haben allerdings auch gefordert, auf eine Festschreibung einer bestimmten Anzahl von gewerblichen
Berufsgenossenschaften zu verzichten, nicht zuletzt deswegen, weil sich die öffentlichen Berufsgenossenschaften von dem, was die gewerblichen bis heute schon freiwillig erbracht haben, eine dicke Scheibe abschneiden
könnten. Diese Forderung haben Sie nun nicht erfüllt.
Aber die Mehrheit der Berufsgenossenschaften kann offensichtlich mit den neuen Berufsgenossenschaften leben, sodass wir das nicht als großen Mangel betrachten.
Fazit: Sie lehnen unseren Antrag ab, aber Sie setzen
ihn in wesentlichen Teilen um. Diese Schizophrenie zu
verstehen, überlassen wir Ihnen. Für die Übernahme unserer Vorschläge bedanken wir uns herzlich.
Herr Kollege Schneider, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?
Aber sicher.
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede den
Eindruck erweckt, als hätten wir im Gesetzgebungsverfahren all das, was Sie gefordert haben, umgesetzt. Saugen Sie so viel Glück aus der Gesetzgebung, wie Sie
können. Aber könnte es nicht vielleicht daran liegen,
dass Sie möglicherweise in diesem einen Antrag endlich
einmal etwas aufgenommen haben, was der Realität
nahe kommt? Das wäre vielleicht auch eine Erklärung.
({0})
Lieber Kollege Meckelburg, wir haben mit Sicherheit
unterschiedliche Auffassungen darüber, was realistisch
ist.
({0})
Ich denke, das sollten wir an dieser Stelle nicht vertiefen.
Ich freue mich allerdings, dass Sie einräumen, dass wir
tatsächlich einen äußerst realistischen Antrag gestellt haben, aus dem Sie einige Punkte übernehmen konnten. Da
herrscht große Freude auf beiden Seiten. Sie lehnen zwar
unseren Antrag ab. Aber das ist uns völlig egal. Die
Hauptsache ist, dass sich die Erfüllung unserer Forderungen im Gesetz letztendlich wiederfindet. Das ist der
zentrale Punkt. Diese Botschaft wollte ich herüberbringen.
({1})
Es bleibt aber auch ein Rest von Kritik.
({2})
Die Frage des Betriebsprüfungs- und Melderechts ist
schon angesprochen worden. Es ist für mich immer noch
nicht klar, ob es eine Entlastung gibt oder nicht.
({3})
Auch die heutige Debatte hat nicht zur Erhellung beigetragen.
Übrigens, Herr Brandner, es sind nicht immer nur die
interessierten Kreise, die etwas Falsches sagen. Vor gerade einmal zwei Wochen hat Ihr Staatssekretärskollege
Lersch-Mense noch gesagt, die Umstellung werde etwas
mehr als 3 Millionen Euro kosten und es sei mit höheren
laufenden Kosten von 100 000 Euro zu rechnen. Das
wäre aus meiner Sicht vernachlässigbar. Aber es ist eine
eindeutig andere Aussage als die, von Einsparungen in
Höhe von 54 Millionen Euro zu sprechen. Das irritiert
mich schon. Ich frage mich, warum man diesen Punkt
trotz aller Unklarheiten so vehement durchsetzen muss.
Es fällt uns schon auf, dass Daten statt betriebsbezogen künftig individualisiert bezogen auf die einzelnen
Arbeitnehmer erhoben werden. Das könnte die Voraussetzung dafür sein, dass künftig die Unfallversicherung
oder Teile der Unfallversicherung paritätisch finanziert
werden. Bis heute haben Sie noch nie, wenn ich diese
Mutmaßung angestellt habe, energisch dazwischengerufen. Sie tun es auch jetzt wieder nicht. Das bestätigt
mich darin.
({4})
Weiter begrüßen wir die gesetzliche Fixierung der gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie und die
Einrichtung des Steuerungsgremiums „Nationale Arbeitsschutzkonferenz“ sehr nachhaltig. Aber wir hätten
uns an dieser Stelle auch eine stärkere Einbeziehung der
Sozialpartner gewünscht, insbesondere ein Stimmrecht
für diese beiden Gruppierungen. Nun sind auch diese
beiden Gruppierungen damit einverstanden; wir haben
nachgefragt. Dann wollen wir jetzt nicht päpstlicher sein
als der Papst; das ist dann verzeihbar.
Ein anderer Punkt ist das Prüfungsrecht des Bundesrechungshofs bezüglich der Finanzen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Dazu muss ich sagen:
Wir haben eine etwas andere Auffassung dazu, was ein
Parlament leisten sollte. Wieder einmal ziehen Sie sich
auf folgende Position zurück: Wir warten ab, was ein
Gericht entscheidet. - Hier ist das Parlament; hier werden die Gesetze gemacht und nicht bei Gerichten. Das
zumindest ist die Auffassung der Linken zu diesem Problem.
({5})
Nichtsdestotrotz: Wir werden diesem Gesetzentwurf
zustimmen, auch deshalb, weil die Kollegen der Großen
Koalition sich nun tatsächlich - dies ist insbesondere
von Herrn Weiß angesprochen worden - auf einen ernsthaften Dialog mit allen Beteiligten eingelassen und aufgrund der Hinweise, der Kritik und der Anregungen
noch wirklich substanzielle Änderungen an dem ursprünglichen Entwurf vorgenommen haben. Wir verbinden mit dieser Zustimmung die Hoffnung, dass Sie
ebenso im Bereich der Reform des Leistungsrechts einen
solchen Dialog führen werden. Sie haben es angekündigt
und gesagt - darin stimme ich Ihnen nachdrücklich zu -,
dass diese Reform nur im Dialog erfolgreich sein kann.
Aber ein Dialog ist nicht das, was ich bisweilen auf
Staatssekretärsseite erlebt habe, wenn dann etwas oberlehrerhaft gesagt wird: Wir müssen die Leute besser
überzeugen. - Das ist kein Dialog. So werden Sie keinen
Erfolg haben.
Nun hätte ich mir gewünscht, dass Kollege HansPeter Bartels von der SPD heute anwesend ist, der dem
Wissenschaftlichen Dienst Erstaunliches entlockt hat,
nämlich die Tatsache, dass die Ablehnungsquote meiner
Fraktion niedriger als 50 Prozent ist, was Vorlagen der
Bundesregierung bzw. der Großen Koalition anbelangt.
({6})
Er sieht sich damit in seinem Ergebnis bestärkt, dass die
zivilisatorische Kraft der parlamentarischen Praxis heilsam sei. Er spricht davon, dass der Parlamentarismus erzieht. Ich muss Ihnen sagen: An dieser Stelle möchte ich
dem Kollegen Bartels aus zwei Gründen nachhaltig widersprechen.
Volker Schneider ({7})
Erstens. Meine Fraktion benötigt an dieser Stelle
keine Erziehung;
({8})
denn für uns ist der höchste Souverän der Wähler. Nur
an den Interessen der Wähler orientiert werden wir entscheiden, ob wir einem Gesetzentwurf zustimmen oder
nicht.
({9})
Dann ist es uns völlig egal, ob dieser letztlich von der
Großen Koalition oder von den Kolleginnen und Kollegen von den Grünen oder auch von der FDP kommt.
Auch der FDP haben wir schon des Öfteren zugestimmt.
Zweitens. Großer Optimismus ist leider für zwei Drittel dieses Hauses überhaupt nicht angebracht. Wir haben
einmal die Gegenfrage gestellt, wie oft Sie Vorlagen von
uns zugestimmt haben.
({10})
Der Wissenschaftliche Dienst wird auf Ergebnisse kommen, die sich - wenn überhaupt - allenfalls im Promillebereich bewegen werden; denn Sie lehnen ja grundsätzlich alles ab, nur weil es im Zweifelsfalle von uns
kommt.
({11})
Vor diesem Hintergrund werden Sie weiter damit leben müssen, dass wir dann, wenn wir es für richtig und
für die Wähler für wichtig halten, Ihren Vorlagen zustimmen werden. Herr Weiß wird es verkraften, dass
sein Wunschkoalitionspartner das diesmal nicht tut - er
hat dies im Ausschuss schon sehr bedauert - und dass
wir in diesem Fall einmal einspringen werden.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat der Kollege Markus Kurth vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Demokratie lebt vom Streit. Das ist ein wichtiger Nährboden. Aber manchmal ist es auch gut, dass bei wichtigen
Grundfragen der sozialen Sicherung fraktionsübergreifend, was die Grundprinzipien anbelangt, ein relativer
Konsens herrscht. Den stelle ich, was die gesetzliche
Unfallversicherung anbelangt, fest, jedenfalls für fast
das gesamte Haus bis auf die FDP-Fraktion, die - ich erlaube mir, den Kollegen Weiß zu zitieren - als Marktsektierer im Bereich der Unfallversicherung allein dasteht.
({0})
Warum das so ist, hat Herr Weiß versucht, Ihnen, Herr
Kolb, zu erklären. Ich glaube aber, auch dem Herrn
Schneider muss man das noch einmal erklären. Es gibt
nämlich einen Grund, warum man keine paritätische Finanzierung der Kosten bei Wegeunfällen vorsehen kann.
Die gesetzliche Unfallversicherung bewirkt die Haftungsablösung für die Unternehmer.
({1})
Darum zahlen sie sie alleine, Herr Schneider. Deshalb
macht es überhaupt keinen Sinn, die paritätische Finanzierung hier ins Spiel zu bringen.
({2})
Warum machen Sie das? Wollen Sie irgendwen auf
dumme Gedanken bringen? Wollen Sie eine gesellschaftliche Debatte anzetteln, an der wir alle - vielleicht
mit Ausnahme von Herrn Haustein - kein Interesse haben können? Das ist kurios.
({3})
So viel vorweg.
Grundsätzlich ist dieser Gesetzentwurf sinnvoll: erstens weil die Verteilung der 1,3 Milliarden Euro Überaltlast zwingend notwendig ist. Zweitens besteht die
Hoffnung, dass die Verringerung der Zahl der Berufsgenossenschaften zumindest mittelfristig Einsparungen im
Verwaltungsbereich erbringt. Drittens ist es zu begrüßen,
dass mit der gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie und mit der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz
eine Plattform für die Weiterentwicklung im Bereich der
Prävention geschaffen wurde.
Wir werden dem Gesetzentwurf allerdings trotzdem
nicht zustimmen, sondern uns enthalten; denn wir sind
der Auffassung, dass insbesondere im Bereich der Prävention wesentlich mehr hätte getan werden können und
auch mehr hätte getan werden müssen.
({4})
Wenn die Regierungsfraktionen es schon nicht geschafft
haben, das Leistungsrecht zu reformieren, hätten sie wenigstens das in Angriff nehmen müssen; denn in einem
sind wir uns doch wohl einig: Die wirksamsten Möglichkeiten zur Kostenverringerung im Bereich der Unfallversicherung sind ein Arbeitsunfall, zu dem es gar nicht erst
kommt, und eine Berufserkrankung, die gar nicht erst
auftritt.
In diesem Zusammenhang hätten Sie die Erkenntnisse
der Expertenkommission „Die Zukunft einer zeitgemäßen betrieblichen Gesundheitspolitik“ zu Rate ziehen
können, ja müssen. Diese Kommission hat nämlich bereits im Jahr 2004 festgestellt, dass zunehmend nicht die
Mensch-Maschine-Schnittstelle, sondern die MenschMensch-Schnittstelle Ausgangspunkt für arbeitsbedingte
Erkrankungen ist. Das heißt konkret: Burn-out-Syndrom, Stresserkrankungen, psychische Erkrankungen
und seelische Erkrankungen gewinnen gegenüber klassischen Berufskrankheiten wie Muskel- und SkelettMarkus Kurth
erkrankungen an Bedeutung. Das spiegelt die schrumpfende Bedeutung von Branchen wie der Bauindustrie
oder des verarbeitenden Gewerbes und die zunehmende
Bedeutung des Dienstleistungssektors wider.
Wenn zum Beispiel die Mitarbeiter eines Callcenters
ihre Line immer mit zehn eingehenden Anrufen voll haben und unter wahnsinnigem Stress stehen und der Inhaber dieser Bude die Beschäftigten unter Druck setzt, gibt
es natürlich stressbedingte Erkrankungen. Dieser besonderen Entwicklung schenken wir zurzeit viel zu wenig
Aufmerksamkeit.
({5})
Ich will an die Zahlen erinnern, die ich bereits in der ersten Lesung angeführt habe: Laut Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen ist der Anteil
psychischer Erkrankungen, gemessen an allen berufsbedingten Erkrankungen, im Jahr 2005 auf 10,5 Prozent
gestiegen. Die wohl auch als objektiv zu bezeichnende
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin beziffert den Ausfall an Bruttowertschöpfung durch psychisch bedingte Erkrankungen mit 7,0 Milliarden Euro;
das entspricht immerhin 0,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das heißt, wenn wir in diesem Bereich in Präventionsstrategien investieren, dann ist das von volkswirtschaftlichem Nutzen, vom Nutzen für die Personen
mal ganz abgesehen.
Wenn wir diese Zahlen ernst nehmen würden, hätten
wir psychische Erkrankungen in die gemeinsame deutsche Arbeitsschutzstrategie aufnehmen müssen. Das
hätte nichts gekostet; das hätte man machen können. Außerdem hätte man im Rahmen der Arbeitsschutzstrategie
Strukturziele vorgeben müssen. Man hätte das Leitbild
„Gesundheitsfördernde Arbeitssituation“ zum Ziel erheben können. Heutzutage haben berufsbedingte Krankheiten nämlich meistens nicht nur eine, sondern mehrere
Ursachen.
Was geschieht stattdessen? Es gibt keine Reaktion auf
diesen Trend. Das ist wirklich bedauerlich. Die Ziele der
gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie sind nicht
innovativ; das hat uns ein Sachverständiger bestätigt. Es
gibt keine Beteiligung der gesetzlichen Krankenkassen
im Rahmen der gesetzlichen Arbeitsschutzstrategie;
das haben Sie weit zurückgewiesen. Ich meine, dass die
Kooperation zwischen den Sozialversicherungsträgern
intensiviert werden müsste; denn die Krankenkassen
haben Erfahrungen im Bereich der betrieblichen Gesundheitsvorsorge. Außerdem sind die Sozialpartner in
der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz nicht stimmberechtigt - darauf hat Herr Schneider schon hingewiesen -,
obwohl das für Fortschritte im Bereich der Prävention
wichtig gewesen wäre. Das heißt, dass das Ziel der Prävention, auch wenn Herr Brandner es in seiner Rede angesprochen hat, bei Ihnen seinen Platz vorwiegend in
Sonntagsreden hat, was bei der Gesundheitspolitik ähnlich ist. Das ist bedauerlich.
({6})
Ich meine, dass wir bei der Anerkennung von Berufskrankheiten in einem weiteren Schritt psychische Erkrankungen berücksichtigen müssen. Wir müssen versuchen, dies in den Gefahrklassen abzubilden; denn wenn
sich in den Beiträgen für die Unfallversicherung niederschlägt, welcher Stress am Arbeitsplatz herrscht, wird es
Fortschritte in Richtung „guter Arbeit“ geben. Dann
wird es nicht mehr so schlechte Arbeitsbedingungen geben, wie ich dies am Beispiel Callcenter deutlich gemacht habe, wo man unter extremem Druck steht. Vielmehr wird es dann Arbeitsumgebungen geben, die die
Leistungsfähigkeit erhalten. Das ist übrigens im Interesse der Arbeitgeber. Die Arbeitgeber unterschätzen
diesen Bereich extrem. Das Risiko bei psychischen Erkrankungen ist sogar weitaus größer, weil der Arbeitsausfall - anders als zum Beispiel bei Erkrankungen des
Bewegungsapparats - nicht sofort eintritt. Die Krankheit
tritt schleichend auf; auch die Produktivität sinkt schleichend. Schon vor dem Arbeitsausfall ist die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz gemindert.
Lassen Sie uns also nach Verabschiedung der Organisationsreform in einem weiteren Schritt das Thema „Arbeitssicherheit und Arbeitsschutz“ angehen. Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist Prävention nicht nur
ein Wort in Sonntagsreden; wir machen durch unsere
Konzepte und unseren Antrag Ernst damit.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Grotthaus von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte gleich am Anfang festhalten, dass dieser
Tag ein guter ist, nicht nur weil wir die gesetzliche Unfallversicherung im Organisationsteil reformieren, sondern auch weil ich hier große Einstimmigkeit festgestellt
habe. Das ist in den Jahren, in denen ich im Bundestag
bin, sehr selten vorgekommen. Es deutet aber darauf hin,
dass die Zielproblematik erkannt worden ist und dass
versucht wurde, auf einen Nenner zu kommen. Dies war
nur möglich, weil sich die Regierungskoalition beim Referentenentwurf und bei den Überlegungen der BundLänder-Kommission zum Teil quergestellt und immer
genau definiert hat, was sie überhaupt will. Kollege
Weiß hat mich gerade gelobt. Ich kann nur sagen: Herzlichen Dank! Aber das Kompliment muss ich zurückgeben, Gerald.
({0})
Wir gehen einmal zusammen ein Bier trinken, wenn das
Gesetz verabschiedet ist.
Wir tragen mit dieser Organisationsreform einer geänderten Wirtschaftsstruktur, dem Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, Rechnung. Wir
vollziehen eine Modernisierung der Verwaltungsstrukturen, und wir regeln - das ist ganz wichtig - die Altlastenproblematik.
Lassen Sie mich zur Altlastenproblematik eines sagen
- das ist schon deutlich geworden -: Wir haben hier
keine Lösung gefunden, die alle zufriedenstellt. Es gibt
Geber, die sich darüber beschweren, dass die Beträge zu
hoch seien. Es gibt Nehmer, Berufsgenossenschaften,
die sich darüber beschweren, dass die Beträge zu niedrig
seien. Ich sage es einmal in meinem Ruhrgebietsdeutsch:
Das Hinterteil ist immer hinten, und es wird sich immer
einer finden, der da reintritt. - Wir müssen mit dieser
Entscheidung leben. Ich glaube aber, dass diese Entscheidung richtig ist. Wir haben damit den größtmöglichen Nenner, also die größtmögliche Übereinstimmung,
gefunden; das wird uns von den Betroffenen signalisiert.
Auch die Streckung des Übergangszeitraumes ist auf
großes Verständnis und große Zustimmung gestoßen.
Ich möchte mich bedanken, als Erstes beim Dachverband der Berufsgenossenschaften und öffentlichen Unfallkassen. Ich will sehr offen sagen: Hier wurde ganz
tolle Vorarbeit geleistet. Diese Vorarbeit war nur möglich, weil wir, die Regierungskoalition, von Anfang an
gesagt haben: Selbstverwaltung über alles! Wir werden
Kurs halten und dies durchziehen, aber ihr müsst bitte
schön mitarbeiten. Macht Vorschläge und nehmt eure
Mitglieder mit, so wie es bei der Selbstverwaltung üblich ist. - Deswegen konnten wir auf vieles zurückgreifen, was die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung
im Vorfeld dieser Gesetzgebung erarbeitet hat.
Mein Dank gilt auch dem Ministerium. Wir waren
nicht immer einer Meinung; aber das war auch gut so.
Denn wenn man von unterschiedlichen Standpunkten
ausgeht und strittig diskutiert, führt das letztlich dazu,
dass man sich auf einen Kompromiss einigt, der für alle
tragbar ist. Auch wir haben uns von unterschiedlichen
Standpunkten aus angenähert und eine Kompromisslösung - ich sage bewusst: eine Kompromisslösung - gefunden, mit der wir leben können und mit der das Ministerium leben kann.
Das Struck’sche Gesetz ist schon angesprochen worden; Gerald, herzlichen Dank dafür! Das deutet darauf
hin, dass dieses Plenum gegenüber der Ministerialbürokratie nicht so machtlos ist, wie es von der Presse oft in
die Öffentlichkeit transportiert wird.
Ich will einen Punkt ansprechen, der noch ein wenig
kritisch ist
({1})
- ich weiß, dass jetzt der eine oder die andere außerhalb
des Plenarsaals sehr genau zuhören wird -: die Zahl der
Berufsgenossenschaften. Im ersten Entwurf wurden
sechs Berufsgenossenschaften genannt. Dann wurde an
uns die Bitte herangetragen, diese Zahl zu erhöhen. Daraufhin haben wir die Berufsgenossenschaften aufgefordert, sich zu einigen, allerdings auf jeden Fall auf eine
einstellige Zahl.
Wie wir wissen, ist die höchste einstellige Zahl neun.
Man hat sich bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung einstimmig - ich betone: einstimmig - auf
neun Berufsgenossenschaften geeinigt. Dann sagte eine
kleine Berufsgenossenschaft: Wir wollen nicht. - Meine
Damen und Herren, so geht es nicht. Erst fasste das Gremium einen einstimmigen Beschluss, und dann wurde
versucht, in die Politik hineinzuwirken, und es wurde gesagt: Ihr müsst uns folgen. - Dazu sagen wir in aller
Deutlichkeit: Nein, es bleibt bei neun Berufsgenossenschaften. Wenn sich die Berufsgenossenschaften nicht
einigen können, dann wird zu gegebener Zeit der Gesetzgeber tätig werden müssen. Diese Position haben wir
auch im Hinblick auf den Ausschussbericht als Formulierungshilfe weitergetragen.
Nun will ich auf die Beiträge der Kolleginnen und
Kollegen der Opposition eingehen. Herr Kollege
Haustein, am besten hat mir Ihr „Glück auf!“ gefallen.
Wie Sie hören können, komme ich aus dem Ruhrgebiet.
Da Sie sehr oft „Glück auf!“ sagen, fordere ich Sie auf:
Setzen Sie sich weiterhin für den Erhalt der Steinkohle
ein! Das wäre mir am sympathischsten.
({2})
Sie haben ferner das Stichwort „Fußball“ aufgegriffen. Wir sind im Finale, ob mit Ball oder ohne Ball.
({3})
Ich glaube, wir wären in das Finale auch ohne Ball gekommen, wie Sie formuliert haben. Jetzt sind wir bei der
Endabstimmung über die gesetzliche Unfallversicherung
ebenfalls im Finale.
({4})
Gestern war das Fußballspiel gut, und heute sind die
zweite und dritte Lesung dieses Gesetzentwurfes gut. Ich
wäre sehr angetan, wenn Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen würden.
({5})
Zum Leistungsrecht. Lassen Sie mich deutlich machen: Wir haben das Leistungsrecht bewusst ausgeklammert; denn es war nicht umsetzbar. Der Kollege Weiß
hat bereits zwei Zahlen genannt, die sich widersprechen.
Da Sie die Bürokratiekosten kritisiert haben, möchte
ich Sie auf Folgendes hinweisen: Stellen Sie sich vor,
das jetzige Leistungsrecht bestünde noch 50 Jahre. Ein
18-Jähriger oder eine 18-Jährige, der bzw. die heute verunfallt, würde aufgrund des jetzigen Leistungsrechts bis
zum Lebensende alimentiert. Jemand, der in zwei Jahren
den gleichen Unfall hat, würde auf der Grundlage eines
anderen Leistungsrechts alimentiert. Ich frage Sie: Welche Bürokratiekosten fallen dann an, und wie kann gewährleistet werden, dass dann keine Mehrausgaben entstehen?
Erhöhen sich die Bürokratiekosten aufgrund der
neuen Meldepflicht? Nein. Der Normenkontrollrat hat
gesagt - ich gehe davon aus, dass Sie diese Zahlen verinnerlicht haben; denn sie sind in der Ausschusssitzung genannt worden -, dass durch das neue Meldeverfahren
52 Millionen Euro eingespart werden, und die Bertelsmann-Stiftung geht von 30 bis 40 Millionen Euro aus.
Wenn zwei unabhängige Institutionen sagen, dass es
für Unternehmer günstiger wird, aber ein Unternehmer
sagt, dass es für ihn nicht günstiger wird, dann kommt
man normalerweise zu dem Schluss, dass ein anderes Interesse verfolgt wird als das, Kosten einzusparen. Dann
wird vermutlich versucht, den Besitzstand zu wahren,
die eine oder andere Funktion zu behalten oder Funktionäre zu schützen; das sage ich hier so deutlich. Das kann
nicht die Zielsetzung der Reform eines Gesetzes sein.
({6})
Sie sagen, der Weg zur Arbeit müsse privat versichert
werden. Ich frage Sie, wie das bei wechselnden Baustellen sein soll. Ich sage auch für unseren Koalitionspartner
ganz deutlich: Der Weg zur Arbeit gehört zum Beruf,
und das ist deshalb der Berufsunfallversicherung angegliedert. Davon werden wir nicht abgehen.
({7})
Die Zahlen von Herrn Lersch-Mense stimmen, Kollege Schneider: Einmalige Umstellungskosten von
3 Millionen Euro, dann zunächst Mehrkosten von
130 000 Euro im Monat. Ich habe Ihnen aber gerade die
Zahlen von der Bertelsmann-Stiftung und vom Normenkontrollrat genannt. Von daher gehen wir davon aus,
dass diese Mehrkosten von 130 000 Euro im Monat zwar
anfallen werden, dass aber, wenn die Umstellung beendet sein wird, Einsparungen möglich werden, die die
Mehrkosten mehr als kompensieren werden.
Kollege Schneider, Sie sagen, wir sollten Ihrem Antrag zustimmen. Schon vor zwei Jahren haben der Kollege Weiß und ich auf einer Veranstaltung von Verdi
deutlich gesagt, was wir wollen. Dies findet sich in dem
Gesetzentwurf, über den wir heute beraten, wieder. Ihr
Antrag ist ein Jahr alt. Es ist für uns nicht wichtig, uns
darüber zu streiten, wer das Erstgeburtsrecht hat. Wichtiger sind die Inhalte.
({8})
Deswegen ist es mir eigentlich - ich würde einen drastischeren Ausdruck wählen; aber der passt nicht in dieses
Hohe Haus - egal, wer das Erstgeburtsrecht hat. Wir
wissen, wie wir um das, was jetzt auf dem Tisch liegt,
kämpfen mussten.
Wenn Sie sagen, wir könnten Ihrem Antrag zustimmen, muss ich Ihnen sagen: Nein, unser Gesetz geht weiter. Es beinhaltet viel mehr Facetten als das, was Sie in
den vier, fünf Punkten Ihres Antrags aufgezeigt haben.
Von daher werden wir den Antrag der Linken ablehnen,
genauso wie wir den Antrag der FDP und den Antrag der
Grünen ablehnen werden.
Zur Möglichkeit einer paritätischen Finanzierung.
({9})
Natürlich ist eine paritätische Finanzierung möglich genauso wie es möglich ist, dass Sie, Herr Schneider, in
zwei Jahren in die CDU eintreten.
({10})
- Nun wehrt euch nicht dagegen! Es ist möglich.
({11})
Man sollte keine Möglichkeit ausschließen! Aber wir sagen in aller Eindeutigkeit: Das System der gesetzlichen
Unfallversicherung ist - das ist deutlich geworden - ein
anderes System als die anderen Sozialversicherungssysteme. Von daher sagen wir: Mit uns ist so etwas nicht zu
machen.
({12})
Ich freue mich, dass wir heute die breitmöglichste Zustimmung des Hauses bekommen werden. Wir sind auf
einem guten Weg. Wir werden auch, wenn wir uns dann
mit den Leistungen beschäftigen, trefflich über den richtigen Weg streiten. Wenn wir dabei genauso weit kommen, werden wir sagen können: Wir haben toll gearbeitet.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Max Straubinger von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind in der Diskussion über das Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz auf der Zielgeraden: Wir
werden es heute in zweiter und dritter Lesung verabschieden. Ich möchte ausdrücklich betonen: Dieses Gesetz ist entgegen den Behauptungen der Kolleginnen und
Kollegen der FDP ein gutes, ja ein wegweisendes Gesetz.
({0})
Wir straffen mit diesem Gesetz die Organisation der
Unfallversicherung: statt 23 gewerblichen Berufsgenossenschaften werden es zukünftig nur noch 9 sein. Noch
nicht angesprochen worden ist, dass die Zielstellung formuliert worden ist, dass auch die Zahl der Unfallversicherungsträger in unserem Lande zukünftig reduziert
wird, und zwar auf höchstens 16. Auch das ist ein entscheidender Beitrag dieses Gesetzes.
Ein Zweites ist, dass wir die Altlastenproblematik lösen, und zwar indem wir mehr Solidarität einfordern.
Mehr Solidarität - da gebe ich dem Kollegen Grotthaus
recht - bedeutet, dass manche Berufsgenossenschaft, die
bisher durch einen sehr niedrigen Beitrag glänzen
konnte, ihren Beitrag etwas wird anheben müssen, damit
die Berufsgenossenschaften, die unter dem Strukturwandel zu leiden haben - etwa die Berufsgenossenschaften
von Bergbau und Bauwirtschaft -, entlastet werden. Ich
glaube, das ist gelebte Solidarität und Ausdruck unseres
Sozialstaatsprinzips.
Wir wollen den Überaltlastenausgleich so reformieren, dass er wirkt - gerade auch für die Bauberufsgenossenschaften. Meines Erachtens ist der Schlüssel dafür
richtig gewählt. Er wurde im Übrigen vom Gesamtverband der Unfallversicherungsträger errechnet. In diesem
Sinne ist das auch eine Lösung der Selbstverwaltung,
über die aber die Politik mit zu entscheiden hat. Ich
glaube, sie hat richtig entschieden - auch im Sinne der
vielen kleinen Unternehmer in unserem Land, weil Unternehmer mit bis zu fünf Beschäftigten von diesem
Überaltlastenausgleich ja kaum betroffen sind. Dementsprechend konnte dies meines Erachtens sehr zielführend gelöst werden.
Ich glaube, es ist auch wichtig, zu erwähnen, dass damit Maßnahmen der Entbürokratisierung verbunden
sind. Das wurde heute ja schon vielfältig dargelegt, und
es wurden Befürchtungen geäußert, dass das mehr Bürokratie bedeutet.
Hinsichtlich der Meldepflichten möchte ich ausdrücklich verdeutlichen, dass die Neuregelung kaum eine Änderung gegenüber der bisherigen gesetzlichen Regelung
bedeutet. Herr Kollege Kolb, in § 165 SGB VII wird
nämlich formuliert - wohlgemerkt: das ist bisheriges
Recht -:
({1})
Die Unternehmer haben zur Berechnung der Umlage innerhalb von sechs Wochen nach Ablauf eines
Kalenderjahres die Arbeitsentgelte der Versicherten
und die geleisteten Arbeitsstunden in der vom Unfallversicherungsträger geforderten Aufteilung zu
melden …
Jetzt ist in § 28 a SGB IV formuliert:
Der Arbeitgeber oder ein anderer Meldepflichtiger
hat der Einzugsstelle für jeden in der Kranken-,
Pflege-, Rentenversicherung oder nach dem Recht
der Arbeitsförderung kraft Gesetzes Versicherten
… eine Meldung durch gesicherte und verschlüsselte Datenübertragung aus systemgeprüften Programmen oder mittels maschinell erstellter Ausfüllhilfen zu erstatten.
Weiter heißt es, dass
bei der Abmeldung und bei der Jahresmeldung …
das in der Rentenversicherung oder nach dem Recht
der Arbeitsförderung beitragspflichtige Arbeitsentgelt in Euro
und die geleisteten Arbeitsstunden zu melden sind. Dies ist vergangenes und jetzt neues Recht. Hier gibt es
kaum einen Unterschied.
({2})
Herr Kollege Kolb, deshalb kommt der Nationale
Normenkontrollrat ja auch zu seiner Einschätzung. Ich
zitiere aus seiner Stellungnahme:
… auch zu Entlastungseffekten bei den Unternehmen. Die arbeitnehmerbezogene Meldepflicht erhöht die Transparenz und wird künftig den Aufwand für Unternehmen, die von „Vor-OrtPrüfungen“ betroffen sind, reduzieren.
Das ist hier letztendlich auch die Botschaft,
({3})
nämlich die Botschaft, dass damit Bürokratie abgebaut
wird. Herr Kollege Kolb, das sollten auch Sie zur Kenntnis nehmen.
Diese Bundesregierung hat sich ja verpflichtet, für
Entbürokratisierung zu sorgen. Erste Erfolge wurden bereits erzielt. Mit diesem Gesetz wird ein weiterer Schritt
dazu unternommen.
Ich glaube, dass es auch entscheidend ist, darzustellen, dass das Moratorium - sprich: die Nichteinbeziehung von bisher noch öffentlichen Unfallversicherungsträgern, zum Beispiel der Telekom, die jetzt am Markt
teilnehmen - nicht unbegrenzt gilt. Ich glaube, das Entscheidende ist, dass bis zum Jahr 2011 eine Evaluation
zu erfolgen hat. Im Jahr 2011 wird dann entschieden, ob
sie weiterhin selbstständig bleiben oder in die gewerblichen Berufsgenossenschaften eingegliedert werden bzw.
zumindest am Überaltlastenausgleich teilzunehmen haben. Wer als Unternehmen am Markt teilnimmt, sollte
letztendlich auch zur Solidarität in diesem Bereich verpflichtet werden.
Werte Damen und Herren, es wurde heute auch bereits vielfältig dargestellt, dass die FDP eine Privatisierung des Unfallversicherungswesens anstrebt. Ich bin für
Wettbewerb und weiß durchaus, was Private leisten können. Ich glaube, dass dort, wo es angezeigt ist, Private
auch Vorrang haben sollen. Aber in einem Sozialversicherungsbereich, in dem die Unternehmerhaftung abgegolten wird und zu jedem Zeitpunkt Renten gezahlt werden - unabhängig davon, wann ein Unfall eintritt -,
wodurch eine unbegrenzte Haftung besteht und somit
eine unbegrenzte Zahlungsfähigkeit gewährleistet sein
muss, wird sich eine private Versicherung nicht engagieren können, weil sie das auch nach versicherungsmathematischen Grundsätzen nicht leisten kann. Darin liegen
die Grenzen der privaten Versicherung.
Fraglich ist auch, wer dann noch in ausreichendem
Umfang Prävention betreiben würde. Bislang wird diese
Aufgabe von der Berufsgenossenschaft im eigenen Interesse wahrgenommen. Im Falle von Wettbewerb wäre
das sicherlich nicht mehr im selben Maße der Fall.
In Ihrem Antrag ist vorgesehen, dass Berufskrankheiten weiterhin von der gesetzlichen Unfallversicherung
abgesichert werden sollen. Daneben soll ein privates
System bestehen. Das würde einen zusätzlichen bürokratischen Aufwand erfordern. Dies geht nicht an.
({4})
Ein letzter Punkt. Es wurde bereits angesprochen,
dass das Leistungsrecht leider nicht reformiert worden
ist und also noch nicht reformiert wird. Wir werden auf
diese Reform drängen. Aber die Wegeunfälle - das sage
ich deutlich - sind Bestandteil der gesetzlichen Unfallversicherung.
Wenn wir in der Öffentlichkeit und auch jüngst in den
Auseinandersetzungen um das Steuerrecht immer darauf
hinweisen, dass der Weg zur Arbeit nicht mit dem Weg
zum Golfplatz gleichzusetzen ist und steuerlich berücksichtigt werden sollte - wir plädieren schließlich dafür,
dass die Entfernungspauschale wieder ab dem ersten Kilometer gelten soll -,
({5})
dann muss das auch für das gesetzliche Unfallversicherungsrecht gelten. Ich glaube, damit ist eine weitere zusätzliche Komponente eingebracht worden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Moderni-
sierung der gesetzlichen Unfallversicherung. Zunächst
möchte ich bekanntgeben, dass eine Erklärung nach § 31
Geschäftsordnung der Kollegin Andrea Voßhoff vor-
liegt, die wir zu Protokoll nehmen.1)
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt un-
ter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/9788, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/9154 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und Ent-
haltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? -
1) Anlage 2
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmverhältnis angenommen.
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 16/9788 fort. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9312 mit dem Titel
„Die gesetzliche Unfallversicherung fit für die Dienstleistungsgesellschaft machen“. Wer diesem Wunsch auf
Ablehnung zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/6645 mit dem Titel
„Mehr Wettbewerb und Kapitaldeckung in der Unfallversicherung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen aller Fraktionen
bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und
Soziales unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/5616 mit dem Titel „Keine Leistungskürzungen bei der gesetzlichen Unfallversicherung“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Klaus Ernst, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Lothar
Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit fortführen
- Drucksachen 16/9067, 16/9730 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Grotthaus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Gregor Amann von der
SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Arbeit ist nicht nur Mühsal und Ausbeutung,
sondern hat auch zentrale Bedeutung für Wohlbefinden,
das Selbstwertgefühl und den Erhalt unserer geistigen
und sozialen Fähigkeiten. Sie bedeutet im positiven Fall
also soziale Teilhabe und Integration. Das ist auch ein
Grund, warum wir Menschen länger im Erwerbsleben
halten wollen, anstatt die Lebensarbeitszeit immer weiter zu verkürzen. Mit dem vorliegenden Antrag wird
aber das alleinige Ziel verfolgt, möglichst viele Menschen möglichst früh aus dem Arbeitsleben auszugliedern.
({0})
Ja, 40 Jahre körperliche Arbeit zu verrichten, giftige
Dämpfe einzuatmen, eintönige Fließbandarbeit auszuführen oder großen psychischen Belastungen ausgesetzt
zu sein, wie es zum Beispiel Menschen in Pflege- und
Sozialberufen oft sind, ist zweifellos ungesund und verschleißt Menschen. Wenn aber heutige Arbeitsbedingungen und Arbeitsbelastungen Menschen kaputtmachen,
dann kann die Antwort doch nicht sein, Menschen einfach früher aus dem Arbeitsleben hinauszudrängen, als
wären die Arbeitsbedingungen sozusagen gottgegeben
und unveränderbar. Vielmehr müssen wir uns darum bemühen, diese Arbeitsbedingungen zu verändern oder zu
beseitigen. Dort, wo wir nicht verhindern können, dass
Menschen ganz oder teilweise arbeitsunfähig werden,
müssen wir uns selbstverständlich um diese Menschen
kümmern.
Altersteilzeit eignet sich sehr gut dazu, einen flexiblen Übergang in die Rente zu organisieren und zu einer
schrittweisen Arbeitsentlastung zu gelangen. Im Jahr
2006 haben über 400 000 Beschäftigte davon Gebrauch
gemacht. Übrigens wurde nur ein Viertel direkt durch
Zuschüsse der Bundesagentur für Arbeit gefördert. Mit
dem Auslaufen der BA-Förderung wird also keineswegs
die Altersteilzeit an sich abgeschafft.
Momentan verhandeln die Tarifparteien in der Elektro- und Metallindustrie über tarifvertragliche Regelungen zur Altersteilzeit. Ich begrüße dies ausdrücklich und
wünsche den Verhandlungen viel Erfolg.
({1})
Denn die Unternehmen, die ihren wirtschaftlichen Erfolg in erster Linie der Arbeitskraft und der Leistung der
Arbeitnehmer verdanken, sind in der Pflicht, nicht nur
für gute Arbeit guten Lohn zu zahlen, sondern auch ihren Arbeitnehmern ein Ausscheiden aus dem Arbeitsleben in Würde und Gesundheit zu ermöglichen, nicht
zuletzt durch entsprechende Altersteilzeitmodelle. Mit
„ermöglichen“ meine ich vor allem auch das finanzielle
Ermöglichen der Inanspruchnahme von Altersteilzeit.
Deshalb ist die tarifvertragliche Absicherung der Altersteilzeit der richtige Weg.
Es ist in Ordnung, wenn der Staat solche zwischen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern vereinbarten Altersteilzeitmodelle fördert, indem er die Aufstockungsbeiträge steuer- und abgabenfrei macht. Diese staatliche
Förderung der Altersteilzeit läuft 2009 ebenfalls nicht
aus.
Und jetzt möchte ich noch etwas zum Beschluss des
SPD-Präsidiums sagen - Frau Pothmer, Sie haben ihn
schon angesprochen -:
({2})
Ja, wir Sozialdemokraten treten für eine Verlängerung
der direkten Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit über 2009 hinaus ein, aber eben
nicht - wie im vorliegenden Antrag der Linken gefordert unverändert. Um jungen Menschen nach der Ausbildung
den Weg ins Berufsleben zu erleichtern, wollen wir Altersteilzeit dann und nur dann von der Bundesagentur
fördern lassen, wenn für einen ausscheidenden älteren
Arbeitnehmer ein junger Mensch nach der Ausbildung in
ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen wird
({3})
bzw. wenn in kleineren Betrieben ein Auszubildender
eingestellt wird. Das ist nicht einfach eine Fortführung
der alten Regelung. Wir werden den sehr fantasielosen
Antrag der Linken deshalb nicht unterstützen.
({4})
Ich gehe davon aus, dass unser Modell zielgerichteter
als die bisherige Förderung ist und damit weniger Kosten als bisher verursacht. Ich appelliere ausdrücklich an
unseren Koalitionspartner, hier gemeinsam mit uns etwas Sinnvolles auf den Weg zu bringen, das älteren und
jüngeren Arbeitnehmern zugleich hilft.
({5})
Altersteilzeit ist wichtig, richtig und notwendig.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Amann, Sie haben einen rhetorischen
Eiertanz vorgeführt:
({0})
ein bisschen Nein und ein bisschen Ja zur Altersteilzeit.
Ich möchte für meine Fraktion gleich am Anfang sehr
deutlich sagen: Die Altersteilzeit ist ein sozialpolitischer
Irrweg; sie hat sich jedenfalls als solcher erwiesen.
({1})
Es ist ein Irrweg, der nicht weiter beschritten werden
darf. Deswegen ist es folgerichtig, dass die FDP dem
Antrag der Linken nicht zustimmen wird, weil er dazu
führen würde, dass ältere und erfahrene Arbeitnehmer
im Wege der Altersteilzeit aus dem Berufsleben herausgedrängt würden.
({2})
Das ist in der Praxis vielfach passiert.
Herr Amann, es ist doch nicht in Ordnung, wenn sich
ältere Arbeitnehmer fast schon dafür entschuldigen müssen, wenn sie mit 60 Jahren noch einer Vollbeschäftigung nachgehen. Wir können es uns auch nicht leisten,
auf die Erfahrungen der älteren Mitarbeiter zu verzichten; im Gegenteil - da stimme ich Ihnen zu -: Wir müssen die Arbeitsbedingungen, auch die sozialpolitischen
Rahmenbedingungen, so gestalten - ich habe vorhin
schon unser Modell einer flexiblen Rente vorgestellt -,
dass die längere Lebensarbeitszeit sinnvoll und attraktiv
wird.
Wir sollten das nicht nur aus finanziellen Erwägungen, sondern auch vor dem Hintergrund aktueller Studien der Altersforschung tun, die belegen, dass ein zu
frühes Ausscheiden aus dem Berufsleben der Gesundheit
der Betroffenen sogar schaden kann. Arbeit ist nämlich
nicht nur eine Last, die der Einkommenserzielung dient,
sondern sie schafft auch soziale Kontakte, gesellschaftliche Anerkennung, einen festen Tagesrhythmus, körperliche und geistige Herausforderungen. Das sind positive
Begleitumstände. Der Altersökonom Axel BörschSupan hält die Fortführung der Altersteilzeit, wie sie
Linke und die SPD fordern, für „supergefährlich“. Im
Spiegel von dieser Woche wird die Leiterin des Zentrums für lebenslanges Lernen an der Jacobs Universität
Bremen, Ursula Staudinger, folgendermaßen zitiert:
Wer gesunde Menschen, die 90 Jahre alt werden
können, dazu verlockt, mit 60 in den Ruhestand zu
gehen, schickt sie auf einen gefährlichen Weg.
({3})
- Herr Kollege Schaaf, ich erkläre Ihnen das gern. Stellen Sie eine Zwischenfrage! - Sie plädiert stattdessen dafür, ältere Arbeitnehmer weiterzubilden und so für vernünftige Alternativen zu sorgen.
Ursprünglich sollten mit der Altersteilzeit und dem
Vorruhestand ältere Arbeitnehmer dazu bewogen werden, ihren Arbeitsplatz zugunsten jüngerer Arbeitnehmer zu räumen; Herr Kollege Amann, da wollen Sie
wieder hin. Zu dem angedachten Koppelgeschäft ist es
jedoch nur in den allerwenigsten Fällen gekommen.
Viele Beschäftigte haben die Frühverrentung bzw. die
Altersteilzeit dennoch gerne genutzt, um den sicheren
Hafen des Ruhestandes anzusteuern, insbesondere in
Zeiten schwieriger Arbeitsmarktverhältnisse, allerdings
ohne Aussicht auf eine Rückkehr, auch nicht in Zeiten
besserer Konjunktur.
Angesichts des in manchen Regionen schon heute
herrschenden massiven Fachkräfte- und Nachwuchsmangels ist eine Fortführung dieser Politik anachronistisch und schädlich. Wir können uns schlichtweg nicht
leisten, auf das Know-how der älteren und erfahrenen
Arbeitnehmer zu verzichten. Das würde mittelfristig zu
einer Schwächung des Wirtschaftsstandorts Deutschland
führen, und zwar spätestens ab dem Jahr 2012, wenn die
geburtenstarken Jahrgänge aus dem Erwerbsleben ausscheiden und vergleichsweise schwache Jahrgänge nachrücken. Dann hätten wir ein massives Problem. Nicht
mehr die möglichst frühe Verrentung, sondern eine möglichst lange Teilhabe am Erwerbsleben muss also das
neue Leitbild unserer alternden Gesellschaft sein.
({4})
Zudem ist richtig, was Professor Sinn in einer Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales im letzten
Jahr sagte - ich zitiere -:
({5})
Ältere Arbeitnehmer verdrängen keine Jüngeren,
sondern treten mindestens additiv zu den Jobs für
die Jüngeren hinzu, wenn sie nicht sogar Komplemente sind.
({6})
Ältere Arbeitnehmer sind in der Lage, Jüngere anzuleiten, ihnen zu zeigen, wie man arbeitet, die Arbeit zu organisieren. Wenn wir diesen Bereich des
Arbeitsmarktes stärken, entstehen zugleich auch zusätzliche Jobs bei den Jüngeren.
({7})
Dem stimme ich zu.
Ich möchte noch in Erinnerung rufen, dass besonders
die skandinavischen Länder Schweden und Dänemark
hier eine Vorbildfunktion haben.
({8})
In Schweden waren im zweiten Quartal 2007, Frau Kollegin Nahles, 69,9 Prozent der 55- bis 64-Jährigen erwerbstätig, in Dänemark immerhin 58,7 Prozent. Es gibt
keinen vernünftigen Grund, warum das, was in diesen
Ländern möglich ist, nicht auch bei uns möglich sein
sollte.
({9})
Ich habe unsere Lösung für einen flexiblen Übergang,
die Anreize bietet, lang dabeizubleiben, dargelegt, obwohl man vordergründig, Herr Kollege Schaaf - das war
Ihr Zwischenruf -, ein Angebot auf Frühverrentung erhält. Gerade der Wegfall des Zwangs, die Chance, jederzeit ein solches Angebot zu nutzen, wird dazu führen,
dass von Jahr zu Jahr der Anreiz ständig erhalten bleibt,
so lange es geht in dem möglichen Umfang dabeizubleiben.
Wir erwarten nicht, dass die Linken statt ihrer eigenen
Ideologie unseren vernünftigen Argumenten folgen.
Aber ich appelliere an die Große Koalition, sich den demografischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Anforderungen nicht zu verschließen und der Versuchung zu widerstehen, einen weiteren Stein aus der
Agenda 2010 herauszubrechen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jahrhundertelang suchten die Alchimisten nach dem Stein der
Weisen, nach einer Substanz, die Metall in Gold verwandelt, nach einer Medizin, die den Menschen nicht nur
heilt, sondern auch verjüngt. Die Suche war vergeblich bis zum Einzug der Linken in den Deutschen Bundestag.
({0})
Sie, meine Damen und Herren von der Linken, haben
den Stein der Weisen gefunden, jedenfalls gaukeln Sie es
den Bürgern in diesem Land immer wieder vor. Ihr Allheilmittel heißt Umverteilung.
({1})
Auch in diesem Fall. Sie wollen, dass die Altersteilzeit
nach 2009 von der Bundesagentur für Arbeit weiter gefördert wird. Das ist Umverteilung, aber von unten nach
oben.
({2})
28 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sollen weiterhin mit ihren Beiträgen 100 000 Altersteilzeitnehmer finanzieren,
({3})
und zwar mit enormen Summen - 1,4 Milliarden Euro
pro Jahr allein aus der Arbeitslosenkasse, Tendenz steigend. Viele subventionieren die Frührenten weniger.
Meine Damen und Herren von der Linken, diese Umverteilung ist nicht unsere Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit.
({4})
Wir, die Union, wollen flexible Übergänge in den Ruhestand. Wir wollen diese für Arbeitnehmer in anstrengenden Berufen, auch mit kleinen Gehältern. Aber genau
diese Ziele werden mit der Altersteilzeit nicht erreicht.
Erstens. Ein gleitender Übergang findet nicht statt;
denn die Altersteilzeit wird heute nicht mehr als echte
Teilzeit gelebt. Heute wählen 94 Prozent der Altersteilzeitnehmer das sogenannte Blockmodell. Bis zu einem
Stichtag wird voll gearbeitet, danach folgt abrupt die
Freizeitphase. Wer flexible Übergänge will, müsste das
Blockmodell abschaffen. Davon ist aber im Antrag der
Linken nicht die Rede, leider auch nicht bei unserem geschätzten Koalitionspartner, Herr Kollege Amann. Der
Beschluss des SPD-Präsidiums schweigt sich insoweit
aus. Im Umkehrschluss bedeutet das leider: Weiter so
mit der subventionierten Frühverrentung.
Zweitens. Von dieser Praxis profitieren laut Deutscher
Rentenversicherung vor allem Besserverdienende, die
kaum arbeitslos gewesen sind. Sie kommen aus der öffentlichen Verwaltung und aus dem Kreditgewerbe, aber
aus dem Baugewerbe nur 2 Prozent. Gerade diejenigen
also, die körperlich hart gearbeitet haben, aber häufig
weniger verdienen - der Bauarbeiter, die Friseurin -,
können sich dieses Modell nicht leisten, finanzieren es
aber mit ihren Beitrags- und Steuermitteln. Die Kleinen
zahlen für die Großen. Jeder Euro für Altersteilzeit verringert den Spielraum für Beitragssenkungen. Das ist unsozial.
({5})
Drittens. Die Altersteilzeit hat nicht zu mehr Ausbildung geführt. Ich habe mich in der letzten Woche bei der
Bundesagentur für Arbeit erkundigt, wie viele Ausbildungsplätze durch geförderte Altersteilzeit geschaffen
werden. Die Antwort lautete: 4 800. Es sind 4 800 pro
Jahr in ganz Deutschland, und das bei einer Förderung
von 1,4 Milliarden Euro. Jüngere haben also davon nicht
profitiert, ältere Arbeitslose übrigens auch nicht. Denn
nur ein Bruchteil der freigewordenen Arbeitsplätze ist
wiederbesetzt worden. Eine Förderung der BA setzt eine
solche Wiederbesetzung voraus. Es befinden sich - das
hat der Kollege Amann vollkommen zutreffend zitiert aber drei- bis fünfmal mehr Arbeitnehmer in der Altersteilzeit als im Bestand der geförderten Fälle der BA. Das
heißt, auf sieben freigewordene Plätze kommt ein einziger wiederbesetzter Platz.
Viertens. Diese Praxis wird insbesondere von Konzernen genutzt. Laut IAB nutzten 2006 nur 2 Prozent der
kleinen Betriebe mit weniger als 20 Arbeitnehmern das
Altersteilzeitmodell. In Betrieben dieser Größe arbeitet
aber ein Drittel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. In den Kleinbetrieben fast Abstinenz, gehört die Altersteilzeit in Großbetrieben zum
Standard. Konzerne nutzen die Altersteilzeit, um sich
bequem und auf Kosten der Steuerzahler von älteren Arbeitnehmern zu verabschieden.
Fünftens. Das ist das vollkommen falsche Signal: Ältere raus aus den Betrieben, subventioniert von der Allgemeinheit, und das bei einem schon jetzt bestehenden
Fachkräftemangel.
({6})
Auch angesichts der heutigen Situation am Ausbildungsmarkt muss die Politik Unternehmen nicht mehr für das
belohnen, was für diese überlebensnotwendig ist, nämlich die Rekrutierung von qualifiziertem Nachwuchs.
Wir brauchen die Älteren ebenso wie die Jüngeren. Es
darf keine Konkurrenz erzeugt werden. Es gibt also kein
einziges Argument, die Altersteilzeit auch nach 2009
noch mit Mitteln der Arbeitslosenversicherung zu fördern. Wir werden deshalb den Antrag der Linken ablehnen; denn die Altersteilzeit ist unsozial, der Nutzen
zweifelhaft, und Mitnahmeeffekte sind vorprogrammiert.
Allerdings ficht das die Linke nicht an. Mit Ihrer Forderung versuchen Sie, sich einzuschmeicheln. Meine
Damen und Herren von der Linken, das ist ein durchsichtiges Manöver. Zu Ihrer politischen Glaubwürdigkeit
trägt das in absolut keiner Weise bei, sofern Sie diese
überhaupt noch haben.
({7})
Die öffentliche Meinung ist übrigens eindeutig ablehnend. Ich zitiere nur einige Überschriften aus der Presse
der letzten Tage: „Wirklichkeitsfern“, „Von gestern“,
„Sackgasse“, „Falsches Signal“, „Vergiftetes Freibier“
oder „Mediziner kritisieren Altersteilzeit“.
Eine Überschrift lautete übrigens: „Hin und weg von
der Frühverrentung“. Darum geht es eigentlich: Wie
lange muss im Leben gearbeitet werden?
({8})
Die simple Wahrheit lautet: Glücklicherweise werden
die Menschen in diesem Land immer älter. Wenn dies
bei bester Gesundheit geschieht, können wir länger arbeiten. Wir müssen dies zur Sicherung der Sozialsysteme tun; denn - ich zitiere erneut -:
Der demografische Wandel wird unser Land verändern ... Deutschland darf es sich nicht leisten, Ältere frühzeitig aus dem Erwerbsleben zu drängen.
Dieses Zitat stammt aus einem Papier des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales anlässlich der Vorstellung der Initiative „50 plus“. Es heißt dort weiter, es sei
wichtig, Anreize zur Frühverrentung abzubauen. Diese
Feststellung aus dem August 2006 ist auch heute noch
gültig.
({9})
Deshalb ist es wichtig, dass Union und SPD diesen
Weg gemeinsam weitergehen. Unser Ziel war es damals,
die Beschäftigungsfähigkeit und die Beschäftigungschancen älterer Menschen in Deutschland zu erhöhen,
und zwar durch finanzielle Leistungen, durch Förderung
der beruflichen Weiterbildung und durch Modernisierung sowie altersgerechte Gestaltung von Arbeitsbedingungen.
Die heutigen Erfolge sprechen für sich. Die Erwerbsbeteiligung Älterer ist signifikant gestiegen. Wir dürfen
diesen Erfolgsweg nicht verlassen. Genau das würden
wir aber mit einem „Weiter so“ bei der Altersteilzeit tun.
Deshalb werden wir den vorliegenden Antrag ablehnen.
Gegen ein „Weiter so“ sprechen im Übrigen nicht nur
volkswirtschaftliche Gründe, sondern auch die bereits
vom Kollegen Dr. Kolb erwähnten persönlichen und gesundheitlichen Gründe.
({10})
Allerdings müssen Sie, Herr Dr. Kolb, auch zur Kenntnis
nehmen, dass es Menschen gibt, die nicht mehr fit sind.
({11})
Auch ihnen müssen wir Angebote machen. Sie müssen
kürzer treten können. Allerdings kann das nicht nur für
den Besserverdiener, sondern muss auch für den viel zitierten Bauarbeiter und die Friseurin gelten. Wenn die
Menschen nicht mehr fit sind, brauchen wir Angebote
wie Weiterbildung, Gesundheitsvorsorge, die Bereitstellung von weniger belastenden Arbeitsplätzen und Langzeitarbeitskonten.
Dies zu organisieren und zu subventionieren ist aber
nicht Aufgabe des Staates,
({12})
sondern eine klassische Aufgabe von Gewerkschaften
und Arbeitgebern. Die Tarifpartner müssen passgenaue
Lösungen in den Betrieben finden.
({13})
Seit Inkrafttreten des ersten Altersteilzeitgesetzes haben sich die Zeiten geändert. Trotzdem ist auch heute
niemand gezwungen, bis 67 zu arbeiten. Wer früher aufhören möchte, obwohl er noch arbeiten könnte, muss
sich diesen Wunsch aber selbst finanzieren. Jeder nach
2009 für Altersteilzeit ausgegebene Euro aus der Arbeitslosenkasse wäre unsozial. Es ist Subvention genug,
wenn der Aufstockungsbetrag steuer- und sozialversicherungsfrei bleibt.
Meine Damen und Herren von der Linken, Ihr Stein
der Weisen existiert nicht. Dies erkannten übrigens irgendwann auch die Alchimisten. Metall lässt sich nicht
in Gold verwandeln, und es gibt keine Universalmedizin.
Jeden, der, wie Sie, etwas anderes behauptet, verweise
ich auf Ringelnatz:
Der Stein der Weisen sieht dem Stein der Narren
zum Verwechseln ähnlich.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Connemann, wirklich beeindruckt hat mich
an Ihrer Rede, dass Sie sich jetzt plötzlich für Friseurinnen interessieren, und zwar nicht nur persönlich, sondern
auch im Hinblick darauf, was sie verdienen.
({0})
Bei den von Ihnen genannten Menschen gibt es das
Altersteilzeitproblem überhaupt nur deshalb, weil sie so
wenig verdienen, dass sie sich Altersteilzeit nicht leisten
können. Wenn Sie mit uns für den Mindestlohn eintreten
würden, würde sich das vielleicht ein wenig ändern.
Aber das lehnen Sie ja ab.
({1})
Wir reden über die Altersteilzeit und stellen fest, dass
die Koalitionsfraktionen darüber streiten wie die Kesselflicker, so wie sie es auch bei anderen Themen tun.
({2})
Es geht um einen flexiblen Ausstieg aus dem Arbeitsleben. Einen flexiblen Ausstieg ermöglicht aber nicht nur
eine Teilzeitbeschäftigung, Herr Weiß, sondern auch ein
Blockmodell.
Warum ist die Altersteilzeit notwendig? Sie ist notwendig, weil schon jetzt ein großer Teil der Arbeitnehmer nicht bis zum 65. Lebensjahr durchhält. Bis zum
67. Lebensjahr, das Sie als Renteneintrittsalter eingeführt haben, halten noch weniger durch; das wissen Sie
auch. Weil Sie von der SPD das wissen, eiern Sie hier so
herum. Auf der einen Seite wollen Sie, dass die Menschen länger arbeiten. Auf der anderen Seite haben Sie
im SPD-Präsidium beschlossen, dass die Altersteilzeit in
bei weitem schlechterer Form als bisher erhalten bleiben
soll. Das versteht doch kein Mensch mehr.
({3})
Das ist politische Geisterfahrerei, bei der Sie irgendwann von der Polizei angehalten werden.
({4})
Es gibt zurzeit eine ganze Reihe von Leuten, die sich
für den Erhalt der Altersteilzeit einsetzen. 350 000 IGMetall-Leute haben dafür gestreikt. Sie wollen aber die
alte Altersteilzeit, nicht die neue von der SPD.
Sie sagen, aus welchen Gründen auch immer: Die
Menschen sollen länger arbeiten. Wissen Sie, was das
Problem ist? Die Arbeitswelt muss so verändert werden,
dass das auch möglich ist. Aber Sie machen keine Gesetze dazu, dass sich die Arbeitswelt verändert. Dann ist
zumindest die Reihenfolge falsch. Sie machen im Prinzip ein Gesetz, nach dem die Menschen vom 10-MeterTurm ins Becken springen sollen, aber machen kein Gesetz, das sicherstellt, dass auch Wasser drin ist. Das ist
Ihr Problem bei dieser ganzen Debatte.
({5})
Sie bekommen nun kalte Füße. Eigentlich wollen Sie
die Rente mit 67 zurücknehmen. Dann machen Sie es
doch! Dann haben Sie auch die Unterstützung der Menschen; denn eine große Mehrheit will das so.
Nach Ihrem Präsidiumsbeschluss wollen Sie ein Altersteilzeitgesetz schaffen, das bei weitem schlechter ist
als das alte. Sie haben aber dem zugestimmt, dass die
Altersteilzeit ausläuft. Sie wollen jetzt also ein Problem
lösen, das Sie selbst verursacht haben.
({6})
Das ist ungefähr so, als wenn jemand ein Haus anzündet
und dann dafür gelobt werden will, dass er die Feuerwehr holt. Ein solches Lob wird es für Sie nicht geben.
Die Menschen begreifen das.
({7})
Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir wollen, dass die
Altersteilzeit fortgesetzt wird. Es entzieht sich jeder Logik, dass eine Regelung nicht mehr gefördert werden
soll, mit deren Hilfe Arbeitslose eingestellt werden. Das
ist doch eine sinnvolle arbeitsmarktpolitische Maßnahme. Es ist sinnvoll, dass Betriebe, die Auszubildende
einstellen, gefördert werden. Das streichen Sie. Warum
denn? Das hat doch keine Logik.
Sie wollen die Altersteilzeit zwei Jahre später beginnen lassen. Ich sage Ihnen, warum: weil Sie mit diesem
Gesetz zur Altersteilzeit eigentlich den Einstieg in die
Rente um zwei Jahre vorziehen wollen. - Das merken
die Menschen.
Im Prinzip sind Sie auf dem richtigen Weg - im Gegensatz zu Ihrem Koalitionspartner -, nur müssen Sie in
dieser Frage auch konsequent sein. Wenn Sie draußen
schon vermitteln, dass Sie für eine Altersteilzeit sind,
dann machen Sie es doch einfach und ganz logisch:
Stimmen Sie einer Verlängerung zu! Sie haben mit unserem Antrag heute die Möglichkeit dazu.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte hat gezeigt: Im Streit um die Altersteilzeit geht es
um eines mit Sicherheit nicht: Es geht nicht um die Älteren.
Den Linken geht es darum, die SPD vorzuführen und
am Nasenring durch die Manege zu ziehen.
({0})
Das haben Sie, Herr Ernst, gerade ganz eindrücklich unter Beweis gestellt. Dramatisch und tragisch daran finde
ich, Anton Schaaf, dass das auf euch wirkt, dass diese
Form des Vorführens zur Folge hat, dass ihr euren arbeitsmarktpolitischen Kompass über Bord werft.
({1})
Alle Erkenntnisse über den demografischen Wandel, alle
Erkenntnisse über den Fachkräftemangel sind der Vergessenheit anheimgefallen.
Auch wenn ihr immer das Gegenteil behauptet: Die
Altersteilzeit - das ist inzwischen bewiesen - ist ein
Frühverrentungsmodell in Form einer Stilllegungsprämie.
({2})
Sie wird - das müsst ihr euch zu Gemüte führen - von
großen Unternehmen und vom öffentlichen Dienst genutzt. Sie wird von denen genutzt, die gut verdienen.
Männliche gut verdienende Arbeitnehmer sind diejenigen, die davon profitieren. 85 Prozent der Betriebe mit
über 500 Beschäftigten bieten ein Altersteilzeitmodell
an. Bei den Betrieben mit weniger als 50 Beschäftigten
sind es nur 4 Prozent. Wollen Sie mir jetzt erzählen, dass
in diesen Betrieben die Arbeitsbedingungen so großartig
sind, dass es nicht zu Verschleißerscheinungen kommt
und deswegen niemand Altersteilzeit in Anspruch nehmen will? Nein, meine lieben Leute, das hat andere
Gründe. Hier profitieren die großen Betriebe, und bezahlen müssen es die kleinen; bezahlen müssen es auch die
Geringverdiener. An dieser Stelle hat Frau Connemann
wirklich recht.
({3})
Wenn das eure Vorstellung von Gerechtigkeit ist, kann
ich nur sagen: Gute Nacht, Marie!
Ihr von der SPD-Fraktion wisst das alles ganz genau.
Die Zahlen sind mehrfach vorgetragen worden. In Plenar- und Ausschussprotokollen kann man nachlesen,
dass ihr, was den Erkenntnisgewinn angeht, schon ein
Stück weiter gewesen seid. Das alles ist leider vergessen.
Trotz all dieser Erkenntnisse habt ihr den Präsidiumsbeschluss gefasst, die BA-geförderte Teilzeit bis 2015 weiterzuführen.
({4})
Herr Amann, wenn Sie mir jetzt erklären wollen, dass
der qualitative Fortschritt darin besteht, dass das Ausscheiden von über 60-Jährigen subventioniert werden
muss, damit künftig junge, gut ausgebildete Leute eingestellt werden können, kann ich Ihnen darauf nur entgegnen: Die Arbeitsmarktsituation ist in vielen Regionen
schon jetzt so, dass junge, gut ausgebildete Kräfte rar
sind. In ein paar Jahren - das kann ich Ihnen versichern werden diese jungen und gut ausgebildeten Leute auf
Händen in die Betriebe getragen werden. Hier ist keine
Subventionierung vonnöten.
Wer allerdings nicht profitiert, sind diejenigen, die
keine Ausbildung haben.
({5})
Für diese müssen wir wirklich etwas tun. Für diese müssen wir die 1,38 Milliarden Euro, die im letzten Jahr
sinnlos für Altersteilzeitregelungen herausgepulvert
wurden, einsetzen.
({6})
- Das glaubt ihr doch selber nicht, dass durch die Einführung eines Ausbildungsbonus dieses Problem gelöst
werden kann.
({7})
Ich glaube im Übrigen auch nicht, dass ihr den älteren
Menschen mit einem Frühverrentungsmodell einen Gefallen tut. Altersforscher kommen zunehmend zu der Erkenntnis, dass das für die älteren Menschen überhaupt
keinen Gewinn darstellt. Sie warnen vielmehr auch aus
gesundheitlichen Gründen davor. Arbeit ist nämlich
ganz zentral für das Wohlbefinden der Menschen. Das ist
eine Erkenntnis, die von vielen Seiten gewonnen wird,
aber man hat den Eindruck, als würde das für ältere
Menschen nicht gelten.
Frau Pothmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst?
Ja.
Bitte schön, Herr Ernst.
Frau Pothmer, Sie haben gerade dargestellt, dass die
Älteren zwar sehr qualifiziert seien - das stimmt ja auch -,
aber aus den Betrieben gedrängt würden. Ist Ihnen bekannt, dass das nur dann geht, wenn der einzelne Arbeitgeber mit dem Beschäftigten einen entsprechenden Vertrag abschließt? Könnte es vielleicht sein, dass Sie dem
Arbeitgeber nicht zutrauen, richtig einzuschätzen, ob der
Mensch tatsächlich qualifiziert ist? Wenn das so ist,
würde er ja mit ihm gar keinen Vertrag abschließen.
Dass das sozusagen formal auf freiwilliger Ebene geschieht, ist mir schon bekannt. Es gibt aber viele andere
Beispiele. So kommt es etwa vor, dass die Betriebsleitung zu einem Beschäftigten sagt: Ich mache dir jetzt ein
gutes Angebot. Überleg es dir ganz genau, ob du das
jetzt nicht annimmst. Es gilt nur für eine bestimmte Zeit.
({0})
Insofern ist es in der Sache falsch, das so weiterlaufen zu
lassen.
({1})
Anton Schaaf und Wolfgang Grotthaus, beide ehemalige Gewerkschafter, haben im Ausschuss für Arbeit und
Soziales einmal sehr eindrücklich vorgetragen, dass sie
selber als ehemalige Gewerkschafter auf schlechte und
verschleißende Arbeitsbedingungen mit der Forderung
nach mehr Geld und Frühverrentung reagiert haben und
dass sie das inzwischen als einen grundlegenden Fehler
ihrer Arbeit ansehen.
({2})
Die Aufgabe müsse nämlich vielmehr genau darin bestehen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. - Herr
Schaaf, Herr Grotthaus, wo sind diese klugen Erkenntnisse geblieben?
({3})
Frau Kollegin Pothmer, Sie müssen zum Schluss
kommen.
({0})
Ich komme sofort zum Schluss. - Lassen Sie mich
zum Abschluss nur sagen: Ich glaube, es gibt Arbeitsplätze, die einen so fordern, dass man sie nicht bis zum
67. Lebensjahr Vollzeit ausfüllen kann. Hier brauchen
wir Regelungen. Die Gewerkschaften sind auch dabei,
hier gute Regelungen durchzusetzen. Da, wo es keine
gewerkschaftlichen Strukturen gibt, müssen wir gesetzlich tätig werden. Das jetzige Modell hat aber bewiesen,
dass es ungeeignet ist. Ich sage, besser wäre das Modell
der Teilrente.
Vielen Dank.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Wolfgang Grotthaus von der SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Diese Diskussion ist von einer gewissen
Kuriosität: Die Linken legen einen Antrag vor, aber der
Kollege Ernst redet während drei Minuten seiner vierminütigen Redezeit auf uns ein, doch bitte schön seinem
Antrag zu folgen; denn wir hätten ja Ähnliches vor. Frau
Pothmer versucht, uns deutlich zu machen, dass wir immer falsche Entscheidungen getroffen hätten, während
ihre Fraktion der Verlängerung der Altersteilzeitregelung
zugestimmt hatte.
({0})
Beim vorletzten Tagesordnungspunkt warb dann sogar
der Kollege Kolb
({1})
für die Rente mit 60, sagt aber nun, Altersteilzeit wolle
er überhaupt nicht haben. Herr Kolb, diese Diskussion
war für jeden Menschen, der das verfolgt hat, entlarvend.
({2})
Für die Menschen, die es sich finanziell erlauben können, in Rente zu gehen, haben Sie etwas übrig. Aber für
die Menschen, die sich kaputt malocht haben, haben Sie
überhaupt nichts übrig.
({3})
Damit haben Sie nichts zu tun. Gar nichts!
Altersteilzeit ist kein Irrweg. Altersteilzeit ist nur dann
ein Irrweg, wenn sie nicht richtig ausgefüllt wird. In Ihrem Antrag schlagen Sie ein „Weiter so“ vor. Dazu sagen
wir: Nein, nicht weiter so! Der Antrag, den wir demnächst
einbringen werden - wir befinden uns noch in Abstimmungsprozessen -, beinhaltet die Teilrente, lebenslanges
Lernen, altersgerechte Arbeitsplätze, Schichtpläne, die
vernünftig gestaltet werden, und die Zustimmung der
Parteien in den Betrieben. Das alles ist zurzeit nicht der
Fall. Wie sieht es denn heute aus? Heute entscheidet im
Wesentlichen der Arbeitgeber.
({4})
Frau Pothmer, hören Sie genau zu! Ich habe das als
Betriebsratsvorsitzender mitgemacht. Der Arbeitgeber
wollte sich personell entlasten, hat ältere Kolleginnen
und Kollegen aus dem Berufsleben gedrängt und gesagt:
Für jeden Zweiten, den wir entlassen, kommt ein Neuer
hinein.
({5})
Das haben alle Gewerkschaften mitgemacht. Von daher
müssen sich die Linken nicht hier hinstellen und so tun,
als sei das die ideale Lösung.
({6})
Man hat gedacht, man könne mit jungen Leuten
Olympiamannschaften in den Betrieben rekrutieren. Das
war aber nicht der Fall. Deswegen ist das, was von Ihnen
gefordert wird, für uns nicht akzeptabel. Daher werden
wir Ihren Antrag ablehnen.
({7})
Außerdem gibt es Menschen, die kaputt sind. Was
machen wir im Hinblick auf die Altersteilzeit für eine
45-jährige Krankenschwester? Beschäftigen wir sie weiter in ihrem Job? Oder sagen wir: Wir wollen schon vorher versuchen, präventiv tätig zu werden, weil wir wissen, dass diese Berufe gesundheitlich stark belastend
sind?
({8})
Wir wollen schon vorher versuchen, ihr durch Weiterbildungsmaßnahmen - auch in dem Bereich der Gesundheitsfürsorge und -vorsorge - zu helfen und ihr einen
anderen Arbeitsplatz anzubieten. Das ist der richtige
Weg.
Herr Kollege Grotthaus, der Herr Kollege Ernst
würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie sie
zu?
Ach, doch!
({0})
Herr Ernst, bitte schön.
Recht schönen Dank, Herr Kollege Grotthaus. - Ich
wollte bezüglich Ihres Vorschlags der Teilrente einmal
konkretisiert haben, wie Ihr Vorschlag lautet. Wenn ich
es richtig verstanden habe, bedeutet er, dass nur diejenigen die Teilrente bekommen, die im Alter nicht in der
Grundsicherung landen.
({0})
Es gibt bereits Untersuchungen, die zeigen, dass im
Jahre 2022 die Hälfte aller Menschen, die Rente bezieht,
im Alter in der Grundsicherung landet, weil die Rentenzahlungen dann sehr gering sein werden. Wie viele Menschen werden diese Teilrente denn nach Ihrer Schätzung
dann noch in Anspruch nehmen können?
Herr Kollege Ernst, das ist eine ähnliche Vermutung
wie die des Kollegen Schneider vorhin während der Debatte zur gesetzlichen Unfallversicherung, ganz nach
dem Motto: Was würde passieren, wenn?
Sie sind die einzige Fraktion in diesem Hause, die genau absehen kann, was im Jahre 2020 passiert, und die
sich auf irgendwelche Zahlen beruft, die ich empirisch
nicht nachvollziehen kann. Ich muss Ihnen diese Antwort schuldig bleiben, weil ich Ihre Zahlen nicht nachvollziehen und mich nicht auf dubiose Quellen, die mir
nicht vorliegen, verlassen kann.
({0})
Ich möchte klarmachen, dass im Zusammenhang mit
der Altersteilzeit nicht die Frage zu stellen ist, wie man
die Menschen aus dem Berufsleben herausbekommt.
Vorrangig sind folgende Fragen zu stellen: Wie können
wir die Menschen möglichst lange im Berufsleben halten? Wie können wir dafür Sorge tragen, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen eines Berufes, der körperlich oder geistig sehr anstrengend ist, so sind, dass die
Arbeitnehmer tatsächlich bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter im Beruf bleiben? Das ist aus unserer Sicht
der Ansatzpunkt.
Trotzdem ist es Fakt - das wird so bleiben -, dass es
auch in Zukunft Menschen geben wird, die aus gesundheitlichen Gründen aus dem Beruf ausscheiden müssen.
Diesen Menschen müssen wir eine Chance geben. Jetzt
richte ich mich an unseren Koalitionspartner. Ich muss
betonen: Hier stimmen unsere Auffassungen nicht überein.
Ich habe vorhin gesagt, dass wir bei der gesetzlichen
Unfallversicherung Kompromisse gefunden haben, die
für die Betroffenen sehr positiv sind. Insofern fordere
ich Sie auf: Lassen Sie uns darüber streiten. Lehnen Sie
es nicht von vornherein aus welchen Gründen auch immer ab, nur weil ein Flügel in Ihrer Fraktion meint, das
sei dem Wirtschaftsleben nicht dienlich. Lassen Sie uns
darüber streiten, wie wir uns um die Menschen kümmern, die gesundheitsbedingt nicht mehr im Job tätig
sein können,
({1})
damit wir ihnen die Möglichkeit geben, das dritte Drittel
ihres Lebens vernünftig erleben zu können und nicht so
kaputt zu sein, dass sie diesen Lebensabschnitt nicht genießen können.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für
Arbeit fortführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9730, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9067 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Sicherung von Werkunternehmeransprüchen
und zur verbesserten Durchsetzung von Forderungen ({0})
- Drucksache 16/511 18306
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 16/9787 Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Peter Danckert
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dirk Manzewski von der SPD-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
zahlreich anwesenden Freunde der Rechtspolitik! Wir
debattieren hier heute in abschließender Lesung das Forderungssicherungsgesetz des Bundesrats. Der Bundesrat
möchte mit diesem Gesetzentwurf helfen, Forderungsausfälle zu minimieren und eine Verbesserung der mangelnden Zahlungsmoral in unserem Land zu erreichen.
Wie die Rechtspolitiker unter Ihnen wissen, habe ich
erhebliche Probleme mit der Thematik Zahlungsmoral.
Das hat nichts damit zu tun, dass ich das Problem nicht
sehe oder dass ich den Betroffenen nicht helfen will.
Mangelnde Zahlungsmoral schadet unserer Wirtschaft
und insbesondere unseren Mittelständlern, und vor allem
die kleinen und mittleren Handwerksbetriebe haben hierunter erheblich zu leiden.
({0})
Als Richter und aus vielen Besuchen solcher Betriebe
in meinem Wahlkreis kenne ich die zum Teil fürchterlichen Konsequenzen, die eine schlechte Zahlungsmoral
für diese Betriebe haben kann. Ich meine allerdings, dass
wir vorsichtig damit sein sollten, eine Erwartungshaltung zu wecken, der wir mit gesetzgeberischen Maßnahmen überhaupt nicht gerecht werden können.
Denn das Problem der mangelnden Zahlungsmoral ist
zunächst einmal ein gesellschaftliches Problem, und das
Ergebnis hieraus hat in der Regel nichts mit gesetzgeberischen Defiziten zu tun, sondern damit, dass schon bestehende rechtliche Möglichkeiten nicht bekannt sind
oder - das kommt leider noch viel häufiger vor - dass
diese Möglichkeiten aus den unterschiedlichsten Gründen nicht angewendet werden.
All diejenigen, die sich mit der Thematik beschäftigen, wissen es ganz genau: Wie oft kommt es zum Beispiel vor, dass Abschlagszahlungen nicht geltend gemacht oder Sicherheitsleistungen nicht eingefordert
werden, weil befürchtet wird, dann den vermeintlichen
Folgeauftrag nicht zu erhalten? Mit gesetzgeberischen
Mitteln werden wir dies nicht lösen können.
Obwohl ich deshalb sehr vorsichtig damit bin, glauben zu machen, mit diesem Gesetz dem Problem der
mangelnden Zahlungsmoral abhelfen zu können, hindert
es uns natürlich nicht, die in diesem Zusammenhang bestehenden Vorschriften immer wieder einmal genau zu
überprüfen und - wenn denn tatsächlich Bedarf besteht zumindest partiell auch zu verbessern, um dem Betroffenen so weiterzuhelfen.
Genau das erfolgt hier. So sollen durch das Gesetz
insbesondere die Möglichkeit von Abschlagszahlungen
ausgeweitet, die Regelung zur Durchgriffsfälligkeit verbessert, die Bauhandwerkersicherheit effektiver ausgestaltet und die Darlegung des Vergütungsanspruchs des
Unternehmers bei Kündigung des Bestellers vereinfacht
werden. § 632 a BGB hätte ich persönlich anders geregelt - aber nun gut.
Nur vernünftig ist es jedenfalls gewesen, die angedachten Veränderungen bei der ZPO zunächst einmal
entfallen zu lassen. Dies gilt insbesondere für die sogenannte vorläufige Zahlungsanordnung. Aufgrund einer
fundierten Prognose sollte danach das Gericht schon vor
Eintritt der Entscheidungsreife einen Zahlungsanspruch
titulieren. Angedacht war dies vor allem für die Fälle, in
denen zum Beispiel durch eine noch notwendige Beweisaufnahme ein Ende des Verfahrens nicht abzusehen
ist.
Im Gesetzgebungsverfahren hat sich dann aber ganz
schnell herausgestellt, dass es solche Fälle - also Fälle,
in denen noch keine Entscheidungsreife, wohl aber eine
hohe Erfolgsaussicht vorliegen soll - kaum geben wird
und dass vor allem bei einer noch ausstehenden Beweisaufnahme kaum ein Richter eine solche hohe Erfolgsaussicht bejahen dürfte. Gerade weil sich der Richter doch
unsicher fühlt, wird externer Sachverstand eines Gutachters eingeholt.
Insbesondere in Bausachen sind Mängel und ihre Ursachen durch Richter ohne fachlichen Beistand in der
Regel nur sehr schwer einzuschätzen. Feuchtigkeit an
der Decke kann ihre Ursache in schlechter Belüftung,
aber auch in einer fehlerhaften Dachkonstruktion haben.
In einem der letzten Fälle, mit denen ich mich befasst
habe, bevor ich in den Bundestag kam, ging es um ein
mangelhaftes Parkett. Ich habe mir gedacht, dass das
Parkett vielleicht laienhaft verlegt oder der Estrich nicht
fachmännisch gelegt sein könnte. Mein Nachfolger im
Dezernat hat dann herausgefunden, dass das Fundament
nicht winterfest und daher gebrochen war. Dementsprechend war das Haus eine Bauruine.
Die Ursache der Mängel richtig einzuschätzen ist ein
riesiges Problem. Die Richter werden nicht das Risiko
einer Fehlentscheidung eingehen. Nicht ohne Grund hat
deshalb einer der Sachverständigen aus dem Richterbereich darauf hingewiesen: Wenn etwas entscheidungsreif
ist, wird entschieden. Wenn nicht entschieden wird, dann
hat das mit Sicherheit einen triftigen Grund.
Man könnte nun argumentieren, dass die Vorschrift
zumindest nicht schade und es vielleicht doch in einem
von 100 000 Fällen vorkommen könnte, dass sie weiterhilft. Aber die Sachverständigen in den Anhörungen haben deutlich gemacht, dass dies nicht so ganz unproblematisch sei, da die Rechtsanwälte entweder aufgrund des
Drucks ihrer Mandantschaft oder aufgrund der Tatsache,
dass sie Angst haben, später gegebenenfalls in Regress
genommen zu werden, die Anträge auf vorläufige Zahlungsanordnung stellen werden. Das wäre vielleicht
nicht schlimm, aber die Sachverständigen haben auch
darauf hingewiesen, dass dies in Massen, in einem Verfahren wiederholt und - dies ist für mich entscheidend unabhängig davon erfolgen wird, ob die engen Voraussetzungen für einen solchen Antrag überhaupt vorliegen.
Wir haben von den Fachleuten plastisch dargelegt bekommen, wie sich hierdurch die Verfahren, statt beschleunigt zu werden, verzögern würden. Die Regelung
wäre also kontraproduktiv im Hinblick auf das Interesse
der Gläubiger, so schnell wie möglich an ihr Geld zu gelangen. Um es deutlich zu sagen: Das haben nicht etwa
zwei oder drei Sachverständige gesagt, sondern die absolut überwiegende Mehrzahl.
Wir diskutieren diesen Entwurf nicht erst in dieser
Legislaturperiode, sondern haben uns schon in der letzten damit befasst und verschiedene Fachgespräche geführt. In zwei der stattgefundenen Anhörungen hat sich
nicht ein einziger Sachverständiger positiv zu diesem
Gesetzentwurf, soweit es die vorläufige Zahlungsanordnung betrifft, geäußert.
Wenn gesagt wird, man könne es doch einmal versuchen und die Regelung unter eine Evaluierung stellen,
dann will ich nur den Tenor aus den Anhörungen wiedergeben, der da lautete: Die ZPO ist kein Experimentierfeld. Mehr kann man, so glaube ich, als Rechtspolitiker
dazu nicht sagen. Soweit es das Teilurteil und auch das
Vorbehaltsurteil betrifft, werden wir uns im Herbst noch
einmal darüber unterhalten, inwieweit hier noch Änderungen Sinn machen können.
Lassen Sie mich abschließend noch zwei Dinge sagen.
Erstens. Wir sollten uns langsam wirklich ernsthaft
Gedanken darüber machen, ob nicht doch endlich ein eigenständiges Bauvertragsrecht Sinn machen würde,
({1})
schon allein deshalb, weil das Werkvertragsrecht immer
mehr mit Regeln verwässert wird, die eigentlich nur
Bausachen betreffen.
Zweitens. Ich möchte mich bei allen Berichterstattern
bedanken, die dazu beigetragen haben, dass wir heute
doch zu einem alles in allem vernünftigen Ergebnis
kommen werden.
Ich danke Ihnen.
({2})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Mechthild
Dyckmans das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Dem Forderungssicherungsgesetz haftet das Etikett einer Never Ending Story an; denn der Bundestag
hat sich schon in zwei zurückliegenden Legislaturperioden mit diesem Gesetz befasst. Nach einer ausführlichen
Sachverständigenanhörung steht heute endlich die abschließende Lesung dieses Gesetzentwurfes, allerdings
in einer stark gekürzten Fassung, an. Mit diesem Gesetz
sollen vor allem Handwerksbetriebe in die Lage versetzt
werden, ihre Werklohnforderungen effektiver zu sichern.
Dass es in diesem Bereich Handlungsbedarf gibt, darin
sind wir uns, glaube ich, alle einig.
({0})
Allein im Jahr 2007 kam es im Bundesgebiet nach
Auskunft des Statistischen Bundesamtes im Baugewerbe
zu 3 780 Insolvenzeröffnungsverfahren. Diese hohe Zahl
an Insolvenzen vor allem kleiner und mittelständischer
Bauhandwerker ist zum wesentlichen Teil auf die
schlechte Zahlungsmoral der Auftraggeber zurückzuführen. Man muss sagen: Dies sind im Wesentlichen öffentliche Auftraggeber; gerade bei ihnen ist eine sehr
schlechte Zahlungsmoral vorzufinden.
({1})
Aber an der Moral der Menschen lässt sich - das hat
Kollege Manzewski zu Recht gesagt - mit einem Gesetz
nicht allzu viel ändern. Bei der Sicherung der Werkunternehmeransprüche können allerdings durchaus Verbesserungen durch ein Gesetz erzielt werden. Das wollen
wir heute tun.
Die Sachverständigenanhörung hat deutlich gemacht
- auch das hat Kollege Manzewski schon gesagt -, dass
vor allem die Einführung einer vorläufigen Zahlungsanordnung auf massive Bedenken gestoßen ist. Deshalb ist
es richtig, dass wir diesen Bereich vollständig herausgenommen haben. Es ist aber genauso richtig, dass wir uns
nach der Sommerpause noch einmal zusammensetzen
und versuchen sollten, im Bereich Teilurteil und Vorbehaltsurteil doch noch die eine oder andere Lösung zu finden, um den Handwerksbetrieben helfen zu können.
({2})
Neben den heute zu beschließenden Änderungen in
Bezug auf die Bauhandwerkersicherung und Abschlagszahlungen möchte ich den einen oder anderen Punkt herausstellen, der für die Bauhandwerker sicher zu einer
Verbesserung führen kann. Da ist zum einen der sogenannte Druckzuschlag, das heißt das Leistungsverweigerungsrecht des Bestellers. Wenn der Unternehmer seine
Mängelerfüllung noch nicht erbracht hat, so konnte der
Besteller bisher mindestens den dreifachen Wert der zu
erbringenden Leistungen zurückbehalten. Wir werden
das jetzt reduzieren. Wir wollen zu einer flexiblen Lösung kommen und sagen: Er kann in der Regel den doppelten Wert einbehalten. Ich glaube, das ist eine sinnvolle Lösung. Die Reduzierung dieses Druckzuschlags
kann die Liquidität der Bauhandwerker verbessern.
({3})
Es ist nur ein erster Schritt, den wir heute gehen. Kollege Manzewski hat schon darauf hingewiesen: Wir
brauchen ein eigenständiges Bauvertragsrecht. Wir sollten versuchen - dies werden wir in dieser Legislaturperiode nicht mehr schaffen -, daran zu arbeiten; das
müssen wir angehen.
({4})
Neben den vorgesehenen gesetzlichen Lösungen
sollte aber auch, wie ich meine, über neue Streitschlichtungswege im Baurecht nachgedacht werden. Die bisherigen Möglichkeiten der Streitbeilegung, nämlich die
Gerichtsverfahren, sind zeitaufwendig und kostenintensiv. Man könnte in einer besonderen Form der außergerichtlichen Streitbeilegung für die Bauindustrie, wie dies
im angloamerikanischen Raum durchaus schon durchgeführt wird,
({5})
mögliche Regelungen finden, sodass man schneller und
kostengünstiger zu Lösungen kommt.
Änderungsbedarf besteht aber noch in einem anderen
Bereich. Die Bundesländer sind aufgerufen, die Personalsituation an den Gerichten zu verbessern, damit Bauprozesse schneller entschieden werden können. Es muss
auch darüber nachgedacht werden, dass man spezielle
Baukammern und spezielle Bausenate einrichtet. Auf all
dies hat bereits der Baugerichtstag mehrfach hingewiesen und Forderungen gestellt.
Ich glaube, wir können den Bauhandwerkern sinnvolle Regelungen anbieten, mit denen sie ihre Forderungen besser eintreiben können.
Ich danke Ihnen.
({6})
Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin
Andrea Voßhoff.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Die Große Koalition schließt in dieser Woche umfassende und richtungsweisende Gesetzesvorhaben im
Bereich der Rechtspolitik ab. Heute Morgen haben wir
beispielsweise eine große Reform des GmbH-Rechts auf
den Weg gebracht, und morgen werden wir eine ebenso
große Reform der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf den
Weg bringen. Eine so fundamentale Bedeutung hat das
Forderungssicherungsgesetz, das wir heute beschließen,
ganz sicher nicht.
({0})
- Völlig d’accord. - In aller Bescheidenheit sage ich
aber: Für das ständig von Forderungsausfällen bedrohte
Bauhandwerk ist der heutige Tag kein ganz so schlechter
Tag.
Dass alle Fraktionen zustimmen, ist eine Besonderheit und erfreulich. Ich weiß zwar, dass das der Tatsache
geschuldet ist, dass wir den prozessualen Teil ausgeklammert haben, aber wenn der verbliebene, nicht unwichtige Rest nicht gut wäre, würden Sie sicher nicht zustimmen, sondern Ihre Kritik anbringen.
Frau Kollegin Dyckmans, Sie sagten, dass das Problem der Forderungssicherung im Handwerk ein „Dauerbrenner“ ist. Es ist schon fast ein historischer Dauerbrenner. Mit diesem Thema befasse ich mich
- vermutlich ebenso wie der Kollege Manzewski -, seit
ich im Bundestag bin, immer wieder und in regelmäßigen Abständen. Bei meinen Recherchen zu diesem Gesetz habe ich Folgendes herausgefunden:
In der Gesetzeskommentierung von Stammkötter zum
Gesetz zur Sicherung von Bauforderungen ist zu lesen,
dass der Reichstag am 22. Januar 1896 - nachzulesen
auf Seite 495 des damaligen Stenografischen Berichts „fast einstimmig beschlossen hat, die verbündeten Regierungen zu ersuchen, einen Gesetzentwurf vorzulegen,
durch welchen die Bauhandwerker und Bauarbeiter für
ihre aus Arbeiten und Lieferungen an Neu- und Umbauten erwachsenen Forderungen gesichert würden.“
Aber auch außerhalb des Parlaments sind die Juristen
in dieser Frage nicht untätig gewesen. Auch dort ist das
Problem nahezu historisch. So nahm zum Beispiel der
Juristentag in Posen 1898 den folgenden Antrag an:
Es empfiehlt sich, zum Schutze der Baugläubiger in
Neubaubezirken die Bauerlaubnis von der Eintragung eines Bauvermerks in das Grundbuch abhängig zu machen, an den die Sicherung von Bauforderungen zu knüpfen ist.
Die Parlamente - Frau Kollegin Dyckmans, es waren
mehr als die von Ihnen genannten - und die Rechtsprechung sind seit dieser Zeit nicht untätig gewesen: So ist
mit dem Werkvertragsrecht, das mit dem im Jahr 1900 in
Kraft getretenen BGB eingeführt wurde, ein Anfang gemacht worden. Das Gesetz zur Sicherung von Bauforderungen, das wir heute sinnvollerweise aktualisieren und
modernisieren, stammt vom 1. Juni 1909. Mit dem Bauhandwerkersicherungsgesetz vom 1. Mai 1993 wurde
der § 648 a ins BGB eingeführt. Das Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen aus dem Jahr 2000 korrigieren wir mit dem Forderungssicherungsgesetz heute
teilweise.
Warum steht das Thema immer wieder auf der parlamentarischen Tagesordnung? Lassen Sie mich auf ein
Grundproblem eingehen. Der Kollege Manzewski und
die Kollegin von der FDP, Frau Dyckmans, haben es
dankenswerterweise schon angesprochen und in der
Konsequenz für ein eigenständiges Bauvertragsrecht geworben.
({1})
- So ist es. - Wenn ich an meine ersten Reden zu diesem
Thema in den Jahren 1998 und 1999 denke, erinnere ich
mich daran, dass ich damals mit dieser Forderung allein
auf weiter Flur war. In den vergangenen zehn Jahren haben sich viele überzeugen lassen, was nicht schlecht ist.
In der Vielfalt der bestehenden Vertragsarten des
Werkvertragsrechts nimmt der Bauvertrag - das wissen
wir alle, und das ist, wie ich glaube, ein Spezifikum dieses Problems - eine Sonderstellung ein. Da die Erfüllung
des Vertrages von der Herstellung des Baus abhängt und
ein Bau naturgemäß ein sehr zeitaufwendiges Projekt ist
- je nach Umfang -, haben wir es immer mit einem Vertrag zu tun, der eine langwierige Abwicklung bedingt.
Wir wissen außerdem, dass der fertige Bau meistens anders aussieht als geplant, weil im Zuge der Herstellung
des Werks vielfache Änderungen vorgenommen werden.
Insofern nimmt der Bauvertrag eine Sonderstellung im
Bereich des Werkvertrages ein. Im Rahmen der Bauherstellungszeit trägt der Werkunternehmer eine enorm
große Vorleistungspflicht. Das ist das nächste Problem.
Die Schutzbedürftigkeit der Vertragspartner, die wir
als Gesetzgeber im Auge behalten müssen, ist unterschiedlich, sogar gegenläufig. Ist der Vertragspartner des
Werkunternehmers ein Verbraucher, ein Häuslebauer,
wie es so schön heißt, muss dessen Schutzbedürftigkeit
gegenüber dem Bauhandwerker immer besondere Beachtung des Gesetzgebers finden. Ist aber Vertragspartner des Werkunternehmers der Generalunternehmer, der
zudem seinerseits von einem Dritten als Besteller des
Bauwerks den Werklohn erhält und diesen an den Bauhandwerker weiterzuleiten hat, dieser also als Subunternehmer am Ende der Kette eines Zahlungsflusses steht,
muss das Augenmerk des Gesetzgebers in besonderer
Weise der Schutzbedürftigkeit des Bauhandwerkers gelten.
Denn - damit spreche ich ein weiteres besonders Problem in diesem Zusammenhang an - zu den rechtspolitischen Überlegungen, die wir immer wieder zu bestimmten Themenfeldern anzustellen haben - das haben wir
heute Morgen bei der Debatte zum GmbH-Recht schon
festgestellt - kommt manches Mal die reale Welt des
Marktes hinzu, die einer der Referenten auf dem kürzlich stattgefundenen 2. Baugerichtstag in Hamm wie
folgt formulierte - Kollege Gehb mag es mir nachsehen;
ich kann es nicht auf Latein sagen -: Cash flow is the
lifeblood of the construction industry. So wird auf Englisch beschrieben, dass Bauunternehmen auf fristgerechte Zahlung existenziell angewiesen sind. Fließen
Gelder nicht zügig, können Bauunternehmen Löhne,
Material und Subunternehmen nicht bezahlen. Das
Risiko der Insolvenz ist groß und oft auch bedauerliche
Realität. Damit werden wir seit Jahren in Gesprächen
mit Verbänden und dem Handwerk selbst konfrontiert.
Die Gründe und Ursachen für das zu späte und
manchmal ausbleibende Fließen des Geldes sind uns allen hinreichend bekannt. Deshalb muss es Handlungsauftrag des Gesetzgebers sein - da schließt sich der
Kreis zu den Forderungen, die Sie aufgestellt haben -,
bei Verzögerungen, zum Beispiel durch behauptete Mängel oder sonstige Gründe, dafür zu sorgen, dass das Problem schnell geklärt wird, damit die Zahlung schnell
fließen kann. Eine solche schnelle Klärung ist bei materiellen Fragen mit den Instrumenten des Werkvertragsrechts nur begrenzt zu erreichen.
Bei circa 80 000 neuen Baustreitigkeiten in jedem
Jahr und einer erstinstanzlichen Verfahrensdauer von
deutlich über einem Jahr können Gerichte diesem Anspruch ebenfalls nicht gerecht werden. Nicht umsonst
hat sich - Kollegin Dyckmans hat es, glaube ich, angesprochen - der 2. Baugerichtstag in diesem Jahr in
Hamm ebenfalls mit den Themen außergerichtliche
Streitschlichtung und Adjudikation beschäftigt. Ob das
der richtige Weg ist, will ich offenlassen. Das Forderungssicherungsgesetz, das wir heute beschließen, will
diesem Beschleunigungsversuch auf jeden Fall hinsichtlich des materiellen Teils gerecht werden. Es leistet einen, wie ich finde, sinnvollen Beitrag dazu.
Ich muss auf die einzelnen Felder, die wir dort geregelt haben, nicht eingehen. Das haben meine Vorredner
bereits getan. Ich denke, auch wenn oder gerade weil wir
lange und intensiv beraten haben, wollen wir keine zu
hohe Erwartungshaltung bei den Handwerkern schüren.
Das wissen sie auch. Viele von ihnen hatten ausreichend
Gelegenheit, sich mit den Inhalten zu beschäftigen. Wir
bekommen eine überwiegend positive Resonanz darauf
- ich denke, das ist festzuhalten -, dass wir mit vielen
kleinen Stellschrauben das Gesetz aus dem Jahr 2000 in
sinnvoller Weise korrigieren, damit das Geld schneller
fließen kann. Demzufolge denke ich, dass dies ein kleiner, bescheidener Erfolg ist und damit ein guter Tag für
das Bauhandwerk.
({2})
Ich freue mich, dass wir alle einvernehmlich - so hat es
sich jedenfalls im Rechtsausschuss angekündigt - diesem Gesetzentwurf heute zustimmen werden.
Einleitend sagte ich, wie lange das Thema schon auf
der Tagesordnung ist. Wir, meine Damen und Herren
Kollegen, die Sie Mitstreiter bei der Forderung nach einem individuellen, speziellen Bauvertrag sind, wollen
hoffen, dass eine Weiterentwicklung nicht wieder hundert Jahre dauert, sondern vielleicht etwas zügiger geht.
Das Handwerk hätte es verdient.
Ich darf am Schluss allen Beteiligten, den Berichterstattern und insbesondere dem BMJ, ganz herzlich dafür
danken, dass sie uns sehr intensiv bei den Beratungen
unterstützt haben. Das war sicherlich nicht immer einfach.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Frank Spieth für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass nach
mehr als zwei Jahren heute endlich der Gesetzentwurf
des Bundesrates mit der Empfehlung des Rechtsausschusses zur Beratung und Abstimmung gebracht wird.
Folgende Anmerkung kann ich Ihnen hier nicht ersparen: Hätte die Linke nicht auf Fortsetzung der Beratungen im Ausschuss gedrängt,
({0})
hätte es die Anhörung mit größter Wahrscheinlichkeit
nicht so schnell gegeben
({1})
und würde das Anliegen der kleinen Handwerksbetriebe
weiter auf Eis liegen.
({2})
Schauen Sie sich einmal die Obleuterunde an. In der Obleuterunde ist das klar gesagt worden.
({3})
Vertreter des Handwerks und der Kammern aus meinem Wahlkreis haben mir gesagt, dass 90 Prozent der Insolvenzen im Handwerk auf Forderungsausfälle infolge
schlechter Zahlungsmoral zurückzuführen sind.
Kollege Spieth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Manzewski?
Ja.
Bitte.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es an allen möglichen Ursachen gelegen hat,
mit Sicherheit aber nicht an einer Intervention der Linken, dass dieses Gesetz zum Abschluss gebracht worden
ist, und sind Sie des Weiteren bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass die Vertreter Ihrer Fraktion bis auf letzte
Woche nicht an einem einzigen Gespräch teilgenommen
haben?
({0})
Ich kann Ihnen bestätigen, dass der Obmann meiner
Fraktion dieses Thema in der Obleuterunde zur Sprache
gebracht und darum gebeten hat, dass dieses Gesetz endlich behandelt und zum Abschluss gebracht wird.
({0})
- Das hat mir mein Kollege Nešković ganz eindeutig gesagt.
({1})
Zweitens kann ich Ihnen bestätigen, dass viele von
denen, die jetzt hier im Plenarsaal sitzen und diesem Arbeitskreis angehören, bei der Anhörung am 26. Mai dieses Jahres nicht dabei waren. Ich hingegen war anwesend. So viel zu Ihrer Frage.
({2})
Tatsache ist - darauf will ich hinweisen -, dass Handwerker riesige Probleme mit der schlechten Zahlungsmoral haben. Dies hat gerade in Ostdeutschland zur Vernichtung Tausender Arbeitsplätze geführt und die
betroffenen Familienbetriebe in den finanziellen Ruin
getrieben.
Ein Elektromeister aus meinem Wahlkreis hat einen
Auftrag ausgeführt, und er hatte Restforderungen in
Höhe von damals 70 000 DM. Der Kunde zahlte nicht,
und der Handwerksmeister klagte. Eineinhalb Jahre nach
Einreichung der Klage wurde auf Anraten des Richters
ein Vergleich über 50 000 DM abgeschlossen. Doch die
Zahlung erfolgte nicht. Daraufhin wurde ein Zahlungsbefehl erlassen. Dann gab der Schuldner eine eidesstattliche Erklärung zu seiner Zahlungsunfähigkeit ab und
stellte einen Insolvenzantrag. So ist das abgelaufen.
({3})
Der Handwerker hat jetzt nicht nur einen Forderungsausfall von 70 000 DM zu beklagen, sondern er muss neben den Kosten für seinen eigenen Rechtsanwalt die gesamten Gerichtskosten, auch die der Gegenseite, tragen
und für diesen Auftrag noch zusätzlich die Mehrwertsteuer entrichten. Den 30 Jahre gültigen Titel kann er
auch zukünftig mithilfe der Vollstreckung realisieren.
Dies hat er auch versucht. Das hat ihm aber zusätzliche
Kosten verursacht. Mittlerweile beträgt sein Gesamtschaden 90 000 DM.
Die miese Zahlungsmoral - dies hat auch die Anhörung gezeigt - ist kein Problem der kleinen Häuslebauer,
sondern eines der Generalunternehmen und - auch das
ist hier schon gesagt worden - der öffentlichen Hand.
Die vorliegende Empfehlung des Ausschusses ist deshalb ein Schritt in die richtige Richtung und wird auch
von uns unterstützt. Dieses Gesetz - auch das ist bereits
gesagt worden - weckt bei den Betrieben Hoffnungen,
die mit Sicherheit nicht erfüllt werden können. Außerdem kommen den Linken die Verbraucherinnen und Verbraucher in diesem Gesetz zu kurz. Denn der kleine
Häuslebauer ist relativ unerfahren, und bei Pfusch am
Bau - auch das ist ein Problem - ist er den Baufachleuten häufig unterlegen.
Der Schutz der Verbraucher wird mit diesem Gesetz
nicht verbessert. Er bleibt im weiteren parlamentarischen Verfahren im wahrsten Sinne des Wortes eine offene Baustelle. Wir brauchen ein umfassendes Bauvertragsrecht, durch das Unternehmen und Verbraucher
gleichermaßen abgesichert werden; auch darauf wurde
bereits hingewiesen. Ich verweise auf die Ausführungen
von Professor Kniffka vom Bundesgerichtshof, der dies
in der Anhörung, wie ich meine, hervorragend dargestellt hat.
Er hat aber auch die Länder in die Pflicht genommen
und darauf hingewiesen, dass Richter Allroundkönner
sein müssen. Er sagte, man müsse um 9.00 Uhr Mietsachen, um 9.05 Uhr Bausachen und um 9.30 Uhr Arzthaftungsrecht verhandeln.
({4})
Es sei deshalb zwingend, Spezialkammern für das Baurecht zu schaffen.
({5})
Dann hätte man Spezialisten zur Verfügung, und die Verfahren würden beschleunigt.
Er forderte die Länder außerdem auf, die Fortbildungspflicht auf Landesebene zu regeln, da das Vorhaben, sie im Deutschen Richtergesetz festzuschreiben, gescheitert ist. Dieser Forderung schließen wir uns an. Wir
unterstützen auch seine Aussage, dass die Sicherung von
Zahlungen unter anderem über Bürgschaftsbanken, wie
es in Frankreich gehandhabt wird, eine für beide Seiten
vorteilhafte Regelung wäre. Deshalb wird sich die Linke
weiterhin für das französische Modell einsetzen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({6})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Jerzy Montag das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Kollege Spieth, wir lassen es Ihnen
nicht durchgehen, dass Sie den Leuten draußen vorspiegeln, Sie würden hier in Rechtsangelegenheiten konstruktiv mitarbeiten. Das ist ein schlechter Witz.
({0})
Tatsächlich ist es so, dass in den allermeisten Fällen, in
denen Sachverstand vonnöten wäre, Sie durch Abwesenheit glänzen - oder durch Tiraden. Das sind die Beiträge
Ihrer Fraktion in Debatten über rechtspolitische Themen.
({1})
Frau Kollegin Voßhoff, ich bin 2002 in den Bundestag gewählt worden. Damals lief gerade die Debatte darüber, wie man die Zahlungsmoral heben kann. Auch
2004 und 2006 haben wir über dieses Thema gesprochen. Mir war immer klar: Das wird nichts. Man kann
die Moral der Leute nicht mit den Mitteln des Werkvertragsrechts heben und schon gar nicht mit den Mitteln
der ZPO. Vielleicht kann man die Zahlungsmoral der
Leute heben; aber das geht nicht mit den gesetzlichen
Normen, über die wir hier diskutieren. Deswegen hatten
wir weder 2002 noch 2004 noch 2006 Erfolg.
Zum Glück klappt es jetzt, und zwar weil der unselige
§ 302 a ZPO jetzt nicht mehr im Gesetzentwurf ist. Kollege Danckert von der SPD, der bei dieser Debatte leider
nicht dabei ist, hat diesen Paragrafen noch bei der letzten
Diskussion, am 6. April 2006, heiß verteidigt - ich zitiere -:
({2})
Ob wir dies letztlich durch das Gesetz beseitigen
können, kann man bezweifeln. Aber ich finde, jeder
Versuch ist lohnenswert.
Wir haben uns intensiv mit dieser Thematik beschäftigt
und sind zu dem Ergebnis gekommen: So sollten wir
Rechtspolitik nicht machen. Wir haben § 302 a ZPO aus
dem Gesetzentwurf gestrichen.
Wir werden nur das unterstützen, was vernünftig und
richtig ist. Es gibt durchaus Verbesserungen, zum Beispiel für die Bauhandwerker. So wird die Stellung des
Subunternehmers - das ist ein wichtiger Punkt - durch
die Durchgriffsfälligkeit verbessert. Forderungen nach
Abschlagszahlungen werden erleichtert. Der Mängeleinbehalt wird abgesenkt und flexibilisiert. Die Feststellungsbescheinigung wird gestrichen; sie hat sich nicht
bewährt. Die Sicherung der Bauhandwerker wird dadurch, dass Sicherheitsleistungen einklagbar werden,
verbessert.
Für die Gegenseite, für die Häuslebauer, verbessern
wir auch etwas: Es wird die Möglichkeit einer Bestellersicherheit zur Sicherung rechtzeitiger Erfüllung geben.
Wir haben ferner dafür gesorgt, dass die Verbraucher
nicht mehr durch die VOB/B benachteiligt werden können. Das alles ist gut. Deswegen tragen wir Grünen das
mit.
Ich habe die herzliche Bitte an Sie, dass wir, wenn wir
im Herbst über Änderungen der ZPO nachdenken - Vorbehaltsurteil, Grundurteil, was auch immer -, nicht
schon wieder zu § 302 a ZPO greifen, Herr Kollege
Dr. Gehb. Das wäre wieder ein Griff daneben. Ich
schließe mich den Kolleginnen und Kollegen mit Nachdruck an: Wir brauchen ein Bauvertragsgesetzbuch.
({3})
Wir fordern das seit vielen Jahren. Frau Kollegin
Dyckmans, nicht nur wir sollten uns an die Arbeit machen, auch das Bundesjustizministerium sollte endlich
einen Gesetzesvorschlag unterbreiten. Das wäre nicht
schlecht.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung
von Werkunternehmeransprüchen und zur verbesserten
Durchsetzung von Forderungen. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9787, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf
Drucksache 16/511 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich enthalten? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich enthalten? Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung ebenfalls einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Britta Haßelmann, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Statt Kooperative Jobcenter - Grundsicherung für Arbeitssuchende aus einer Hand mit
gestärkten kommunalen Kompetenzen organisieren
- Drucksache 16/9441 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Brigitte Pothmer
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wahrscheinlich wissen Sie alle noch genau, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 20. Dezember
2007 festgestellt hat, dass die Arbeitsgemeinschaften in
der jetzigen Form nicht mit dem Grundgesetz in Einklang stehen. In der Sache hat es die Zusammenlegung
der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe und das Prinzip
„Hilfe aus einer Hand“ allerdings ausdrücklich positiv
bewertet.
Trotzdem müssen wir nun bis Ende 2010 eine Neuregelung finden. Ich finde, bei der Überlegung darüber,
welche Neuregelung und Trägerstruktur wir künftig wollen, sollte eines im Vordergrund stehen, nämlich die
Frage, welche Lösung die beste Grundlage für eine erfolgreiche Unterstützung der Arbeitssuchenden bietet.
Dabei geht es bei den Langzeitarbeitslosen - das will ich
an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betonen eben nicht nur um Arbeitsvermittlung und Qualifizierung, sondern es geht auch um eine umfassende und individuelle Hilfe aus einer Hand.
({0})
Wir sollten alles, aber auch wirklich alles dafür tun, dass
es keinen Rückfall in eine alte bürokratische Doppelstruktur geben wird.
({1})
Mit den von Minister Scholz vorgeschlagenen sogenannten kooperativen Jobcentern werden diese von mir
gerade formulierten Anforderungen allerdings in keiner
Weise erfüllt; denn das kooperative Jobcenter ist wirklich im wahrsten Sinne des Wortes rückwärtsgewandt.
Es basiert nämlich auf dem Modell der getrennten Trägerschaft, einem Modell, das es gab, bevor wir die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammengelegt
haben, um gerade diese Hilfe aus einer Hand zu gewährleisten.
({2})
Das kooperative Jobcenter ist Ausdruck eines zentralistischen Modells. Es war mühsam, sich die regionalen
Spielräume vor Ort zu erkämpfen. Wenn sich dieses Modell durchsetzt, dann werden die Kommunen an den Katzentisch verbannt. Das ist so klar wie Kloßbrühe.
({3})
Außerdem müssen wir uns darüber im Klaren sein,
dass dieses Modell auch keine Rechtssicherheit bieten
wird, weil es eben als untergesetzliche Regelung durchgepaukt werden soll.
({4})
Das heißt, weitere rechtliche Auseinandersetzungen mit
denjenigen, die das nicht akzeptieren - das sind viele -,
sind vorprogrammiert.
Ich prognostiziere Ihnen heute und gehe mit Ihnen
jede Wette ein, dass es das kooperative Jobcenter nicht
geben wird,
({5})
weil es die Genossen in den eigenen Ländern und in den
eigenen Kommunen nicht wollen, weil es der KoaliBrigitte Pothmer
tionspartner nicht will, weil es die Arbeits- und Sozialministerkonferenz nicht will und weil es die unterschiedlichsten Verbände und die Fachleute in diesem Bereich
mit sehr großer Mehrheit ablehnen. Ich fände es gut,
wenn der Minister auf diese wirklich massive Kritik und
auf diesen massiven Widerstand reagieren und das Modell zurückziehen würde, um so den Weg für eine sinnvolle Regelung frei zu machen.
({6})
Inzwischen finden sich in den Bundesländern parteiübergreifende Koalitionen, um das Modell zu stoppen.
In Niedersachsen haben sich CDU, FDP, Grüne und Ihre
SPD zusammengetan
({7})
und fordern neue Rechtsgrundlagen, die sowohl den Argen als auch den Optionskommunen eine Bestandsgarantie geben. Dafür stehen auch wir Grünen im Bundestag.
({8})
Dabei ist allen klar, dass das nur auf dem Weg einer Verfassungsänderung möglich ist. Ich betone aber, dass wir
damit nicht in die tiefen Werte der Verfassung eingreifen. Es handelt sich dabei eher um eine technische Korrektur.
Die Große Koalition ist seinerzeit mit dem Hinweis
darauf angetreten, für große Lösungen zu stehen. Sie haben in diesem Hause eine verfassungsändernde Mehrheit. Auch in den Ländern gibt es große Sympathien für
eine Verfassungsänderung in dieser Form. Ich finde, dem
Minister sollte es weniger um sich und darum gehen,
sein Gesicht zu wahren; er sollte vielmehr den Widerstand aufgeben und den Weg für Vielfalt und Flexibilität
im Sinne der Arbeitssuchenden frei machen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Karl
Schiewerling.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Meine
Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat
am 20. Dezember letzten Jahres ein unerwartetes Urteil
gesprochen. Man mag dieses Urteil je nach Sichtweise
bedauern. Ich halte es für eine gute Gelegenheit, nicht
nur über die Organisation und Zuständigkeiten, sondern
auch über die Aufgaben und Ziele des SGB II nachzudenken.
Das BMAS hat sich weitsichtig auf mögliche Urteile
eingestellt und konnte so relativ schnell den Vorschlag
eines kooperativen Jobcenters unterbreiten. Die Einschätzung des Ministeriums, dass dies ohne Gesetzesänderung möglich ist, war offensichtlich falsch. Wir haben diese Einschätzung nicht geteilt. Sie wird auch von
den Bundesländern nicht geteilt. Ich denke, das wird
auch im Ministerium mittlerweile so gesehen.
Gleichwohl ist das Konzept des kooperativen Jobcenters eine gute Diskussionsgrundlage, indem der Versuch
unternommen wird, die Vorgaben des Verfassungsgerichtsurteils umzusetzen. Bis vor kurzem war das der
einzige Diskussionsvorschlag. Derzeit ist die Bund-Länder-Arbeitsgruppe dabei, Alternativen auszuarbeiten.
Es wird deutlich - das ist auch die Position unserer
Fraktion -, dass das kooperative Jobcenter nicht in der
vorgesehenen Form umgesetzt werden kann, weil es zu
mehr Bürokratie führt und die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtsurteils - nämlich Hilfen aus einer Hand
zu gewähren - nicht ohne Weiteres umsetzbar sind. Das
Bundesverfassungsgerichtsurteil stellt den Gesetzgeber
und uns alle vor die große Herausforderung, mit allen
Beteiligten zu sachgerechten Lösungen zu kommen.
Es ist gut, dass die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Aufträge erteilt hat, um über die unterschiedlichen Modelle
zu diskutieren. Zu diesen Modellen gehört die Bundesauftragsverwaltung, wie sie von Bayern, BadenWürttemberg und Sachsen diskutiert wird. Dazu gehört
auch die Frage, ob es nicht doch eine Verfassungsänderung geben könnte, um die bisherige Form der Argen
umzusetzen. Zur Diskussion gehört auch der Auftrag, zu
prüfen, wie das kooperative Jobcenter weiterentwickelt
werden kann, um das eigentliche Ziel zu erreichen, Hilfen aus einer Hand zu organisieren.
Weil wir uns in diesem Diskussionsprozess befinden
und dabei sind, gemeinsam nach Lösungen zu suchen,
lehnen wir zum jetzigen Zeitpunkt Ihren Antrag ab.
({0})
Es führt nämlich letztlich nicht weiter, sich schon für ein
Modell zu entscheiden, während es in der Politik noch
eine breite Palette von Vorschlägen gibt.
In der gesamten Diskussion geht es aber nicht nur um
die Organisation, sondern auch um andere Fragen. Es
geht unter anderem um die Frage, was wir unternehmen
müssen, welche Strukturen wir schaffen müssen, um
denjenigen, die schon lange ohne Arbeit sind, eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt und die Möglichkeit zu eröffnen, wieder in Arbeit zu kommen.
({1})
Wenn es stimmt, dass wir das Prinzip des Forderns
und Förderns im SGB II deswegen eingeführt haben,
weil wir es hier mit einer Zielgruppe zu tun haben, die
der besonderen, liebevollen und nachhaltigen Hilfe bedarf, um wieder in Erwerbsarbeit zu kommen, dann
brauchen wir dazu auch entsprechende Rahmenbedingungen. Das verlangt nach dezentralen Lösungen und
der sachgerechten Nutzung der Kenntnisse der Kommunen, die Erfahrungen mit der Sozialhilfe und im Umgang
mit den Zielgruppen gesammelt haben. Deswegen hat
das Bundesverfassungsgericht recht, wenn es sagt: Wir
brauchen Hilfe aus einer Hand und nicht nur unter einem
Dach. Aber es will, dass die Verantwortung der Handelnden, also von Bund und Kommunen, erkennbar bleibt.
Das Neue an der Grundsicherung ist, dass Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengeführt wurden, um
Langzeitarbeitlose zu aktivieren, sie aus der Grundsicherung herauszuholen. Dank der guten Konjunktur und
dank der Tatsache, dass wir viel mehr neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse haben,
kommen wir nun an den verhärteten Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit heran. Deswegen stehen wir vor der
Frage, was wir nun tun müssen, um hier möglichst individuelle und passgenaue Hilfen organisieren und anbieten zu können.
({2})
Es geht um die Frage, wie wir das organisieren. Das
setzt Personalkapazitäten und entsprechende Integrationsinstrumente voraus. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es bei der Lösungssuche nach einer verfassungsgemäßen Organisation im Rahmen des SGB II im
Kern um die Beantwortung der Frage geht, wer für die
Arbeitsmarktpolitik verantwortlich ist: der Bund, die
Länder oder die Kommunen.
({3})
Ich sage Ihnen: Es kann nur der Bund sein. Die entscheidende Frage ist, wie er seine Aufgabe wahrnimmt, ob
wir zentralistisch oder möglichst dezentral arbeiten, ob
wir die Menschen so mitnehmen, dass sie Mut bekommen, vor Ort ihre Aufgaben anzupacken und zu lösen,
oder ob wir alles im Detail vorschreiben. Ich sage Ihnen
sehr deutlich: Es kann nur der Weg sein, Freiheiten zu
gewähren und dies durch entsprechende Steuerungsinstrumente zu organisieren.
({4})
Natürlich muss die Zuständigkeit klar sein. Aber es
geht um das Erreichen des Ziels, Menschen, die arbeitsfähig sind und lange nicht mehr in Erwerbsarbeit gestanden sind, wieder in Erwerbsarbeit zu vermitteln. Damit
haben wir mittlerweile viele Erfahrungen gesammelt, sowohl in den Argen als auch in den Optionskommunen.
Meine Fraktion ist entschieden dafür, das Optionsmodell
zu entfristen, zumindest die vorhandenen Optionen zu
erhalten und Ausweitungsmöglichkeiten zu eröffnen.
({5})
Unabhängig davon, wie wir dies organisieren, brauchen wir für die Bekämpfung der verhärteten Langzeitarbeitslosigkeit ein eigenständiges Instrumentarium. Ich
sehe darin übrigens den entscheidenden Punkt. Es kann
nicht sein, dass wir ausschließlich das Instrumentarium
des SGB III, das gerade einmal für 30 Prozent der Arbeitslosen gilt, für die restlichen 70 Prozent übernehmen, die sich im Rechtskreis des SGB II befinden. Wir
müssen sehen, dass wir Elemente aus dem SGB III erhalten, aber im Rahmen des SGB II eine eigenständige
Organisationsmöglichkeit und eigenständige Hilfsstrukturen schaffen.
({6})
Die Antworten auf die Fragen, ob es uns gelingt, das
partnerschaftlich zu organisieren, und ob wir bereit sind,
darüber so zu diskutieren, dass es nicht nur um Machtund Zuständigkeitsfragen geht, und die Lebenssituation
der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, werden darüber entscheiden, ob es uns gelingt, ein geeignetes Organisationsmodell zu finden. Es geht nicht nur um die
Ermittlung der Kosten der Unterkunft und der Sätze der
passiven Leistungen. Es geht um die entscheidende
Frage, wie wir die aktiven Leistungen organisieren. Wir
werden die organisatorischen Fragen in der Koalition zügig angehen. Wir haben ein Interesse daran, schnell zu
Lösungen zu kommen, damit den Betroffenen geholfen
werden kann, aber auch daran - vergessen wir das nicht -,
dass diejenigen, die zurzeit in diesem Bereich beruflich
tätig sind, Klarheit über die gesetzlichen, rechtlichen
Rahmenbedingungen erhalten, unter denen sie tätig sind.
Die Richtung ist damit klar.
({7})
Die Weisheit eines alten deutschen Sprichworts mit der
Taube und dem Spatz lautet: lieber die direkte Hilfe aus
einer Hand als das Kompetenzgerangel unter einem
Dach.
({8})
Das Wort hat der Kollege Jörg Rohde für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der heute von den Grünen vorgelegte Antrag zum Thema „Grundsicherung für Arbeitssuchende“
geht teilweise in die richtige Richtung. Die FDP-Bundestagsfraktion teilt die Kritik der Grünen an den kooperativen Jobcentern, welche vom Bundesarbeitsminister
ins Gespräch gebracht wurden. Der Arbeitsminister will
anscheinend bei der Auflösung der als verfassungswidrig eingestuften Arbeitsgemeinschaften die parlamentarische Gesetzgebung umgehen.
({0})
Herr Schiewerling, ich hoffe, Sie haben mit Ihren Äußerungen recht.
Die kooperativen Jobcenter würden die Chancen für
Arbeitsuchende sicher nicht verbessern. Die FDP-Bundestagsfraktion fordert seit Jahren für alle Arbeitsuchenden die Betreuung aus einer Hand in kommunaler Trägerschaft.
({1})
Das erlaubt individuelle, flexible und unbürokratische
Lösungen für die Betroffenen. Stattdessen sollen jetzt
mit Kommunen und Arbeitsagenturen wieder zwei getrennte Träger tätig werden. Das führt zu doppelter Verwaltung und zu entsprechenden Kosten. Weder wird das
Chaos bei der Betreuung der Arbeitsuchenden beseitigt
noch ist eine höhere Effektivität zu erwarten. Arbeitsminister Olaf Scholz hat noch immer die Chance, doppelte Verwaltungsstrukturen abzuschaffen. Nutzen Sie
diese, Herr Minister!
Mit seinem bisherigen Vorschlag läutet der Minister
allerdings das Ende des Optionsmodells ein, ohne das
zum Jahresende erwartete Ergebnis der schon mehr als
zwei Jahre andauernden Evaluation abzuwarten. Die
Vorschläge werden von einem neuen Bericht der Bundesagentur für Arbeit flankiert, die sich selbst hervorragende Arbeit bestätigt. Fachlich und methodisch ist
dieser Bericht höchst fragwürdig. Dies gilt für den Untersuchungszeitraum, die herangezogenen Merkmale
und die zugrunde gelegten Hypothesen. Die angeblichen
Erkenntnisse sind als ungesichert und tendenziös anzusehen.
Wir schließen uns der Kritik von Landrat Hans Jörg
Duppré, dem Präsidenten des Deutschen Landkreistages,
an:
({2})
Der Bericht verfolgt einzig und allein den Zweck,
in der jetzigen Diskussion um die Neuorganisation
der Verwaltung für die Langzeitarbeitslosen die
Position der Bundesagentur zu stärken, indem sie
eigene Erfolge bei der Arbeitsvermittlung verkündet und die Arbeit der Optionskommunen herabwürdigt.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
({3})
Auch einer neuen Behörde unter der Kontrolle der
zentralistisch organisierten Arbeitsagenturen wird es
nicht gelingen, die Chancen für Arbeitsuchende zu verbessern. Alternativen zu den als verfassungswidrig eingestuften Arbeitsgemeinschaften dürfen nicht zur Schaffung eines Bundessozialamts führen. Nach dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts besteht jetzt die historische Chance, die Bundesagentur für Arbeit aufzulösen
und die Aufgaben neu zu ordnen.
Wir fordern, dass die Betreuung und Beratung von
Arbeitsuchenden unter eigener Verantwortung in kommunalen Jobcentern erfolgt.
({4})
Die finanziellen Grundlagen sind im Grundgesetz festzuschreiben. Die Gewährung aller Leistungen aus einer
Hand macht langwierige Abstimmungsprozesse mit den
Arbeitsagenturen überflüssig. Sie erlaubt individuelle,
flexible und unbürokratische Lösungen für die Betroffenen. Gleichzeitig können die Prinzipien der Arbeitslosenversicherung durch die Einführung von Pflicht- und
Wahltarifen gestärkt werden.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat am 28. Mai 2008,
also eine Woche vor den Grünen, auf Drucksache 16/9339
einen eigenen Antrag zu dem Thema in die parlamentarischen Beratungen eingebracht. Wir hätten über das
Thema lieber zu einem späteren Zeitpunkt diskutiert;
schließlich soll in wenigen Monaten die offizielle Evaluation, das heißt die wissenschaftliche Untersuchung
der unterschiedlichen Modelle der Wahrnehmung der
Aufgaben nach SGB II folgen.
({5})
Unsere vier Kernforderungen sind: Erstens. Die Arbeit der Optionskommunen und die Verantwortung der
Kommunen für die Betreuung Langzeitarbeitsloser müssen nachdrücklich unterstützt werden. Das fordern wir
analog zu den Grünen.
Zweitens. Die Befristung der Optionsregelung auf
den 31. Dezember 2010 muss unverzüglich aufgegeben
werden; die Regelung sollte unbefristet - nicht nur bis
2013 - gelten.
Drittens. Grundsätzlich sind die Kommunen mit der
Aufgabenwahrnehmung nach dem SGB II zu betrauen
und die Finanzbeziehungen grundgesetzlich abzusichern.
Viertens. Denjenigen Kommunen, die die alleinige
Trägerschaft für die Grundsicherung für Arbeitsuchende
übernehmen wollen, ist dies zu ermöglichen.
Leider gehen die Grünen in ihrem Antrag nicht ganz
so weit wie wir, aber in der Zielrichtung haben wir große
Übereinstimmung. Mittlerweile steigt auch der Druck
aus den Ländern, bei dieser Frage den Kommunen eine
Wahlfreiheit einzuräumen. Die FDP-Bundestagsfraktion
begrüßt daher ausdrücklich die fraktionsübergreifende
Initiative im Niedersächsischen Landtag, die von CDU,
SPD, Grünen und FDP verabredet wurde und voraussichtlich nächste Woche im Landtag verabschiedet werden soll.
({6})
Frau Pothmer hat eben schon auf diese Initiative hingewiesen. Die vier Fraktionen stellen übereinstimmend
fest, dass die Erfahrungen der Optionskommunen in
Niedersachsen gezeigt haben, dass eine dezentrale Arbeitsmarktförderung für Langzeitarbeitslose besser auf
deren Belange eingehen kann als eine zentrale Struktur.
Gemeinsam fordert man in Hannover unter anderem die
entsprechende Wahlfreiheit für die Kommunen. Die Vorstellungen der FDP-Bundestagsfraktion gehen zwar
noch weiter, aber auch hier geht die Initiative eindeutig
in die richtige Richtung.
Der Deutsche Landkreistag erhebt diese Forderung
ebenfalls, und die Sozialminister der Länder haben immerhin eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die sich mit diesem Thema befasst. Daher gehe ich davon aus, dass die
niedersächsische Initiative auch aus anderen Bundes18316
ländern Unterstützung erhält. Sicher zählen kann man
hier auf Hessen; aber auch Bayern sollte sich in dieser
Frage klar auf der Seite der Kommunen positionieren.
({7})
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Die zuständige Ministerin in der Bayerischen Staatsregierung
hat zwar vor einigen Monaten schon einmal ihre Sympathie für eine Ausweitung der Anzahl der Optionskommunen ausgedrückt, aber hier in Berlin wurde im Bundesrat noch keine bayerische Initiative gestartet.
({8})
Jetzt wäre ein günstiger Zeitpunkt, wenigstens auf den
fahrenden Zug aufzuspringen, werte Kollegen der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion und werte Frau Stewens.
({9})
Falls die Unterstützung aus Bayern vorläufig ausbleibt, können die Wählerinnen und Wähler im Herbst ja
noch entscheiden, ob diese zögerliche Staatsregierung
nicht doch endlich abgewählt wird.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Klaus Brandner.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir reden über einen Teilabschnitt der größten arbeitsmarktpolitischen Reform, die wir in den letzten Jahren durchgeführt haben. Rot-Grün hatte sich seinerzeit
zusammengefunden, um Vorschläge zu erarbeiten, wie
das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit - die größte
Herausforderung auf dem Arbeitsmarkt - gelöst werden
könnte. Bevor wir über diese Themen sprechen, möchte
ich zunächst sagen, was sich in diesem Land seit dieser
Zeit - wir haben das mit der Großen Koalition fortgesetzt - getan hat. Wir haben in gut drei Jahren mehr als
2 Millionen Arbeitslose weniger, fast 1,3 Millionen
mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und
deutlich weniger Langzeitarbeitslose.
({0})
Das, was wir in den Reden vorher gehört haben, ist
überwiegend das, was wir damals in Lagerauseinandersetzungen erlebt haben: Wer kann es besser? Wo soll es
hin? Die einen sagen, die BA muss abgeschafft werden.
Die Grünen haben gesagt: Um Gottes Willen, keine Optionen. Wir waren uns darüber einig, ein ganz anderes
Modell zu fahren. Jetzt loben viele plötzlich die Option
über alles.
({1})
Die CDU/CSU war damals überwiegend für die Option.
Wir haben eine Situation, wo ich nur warnen kann.
Ich möchte deutlich sagen, dass man dieses so bedeutende Thema angesichts der Leistung der Beschäftigten
vor Ort in den Arbeitsagenturen und Arbeitsgemeinschaften, die letztlich den Rückgang der Arbeitslosigkeit
durch ihre persönliche Arbeit entscheidend vorangebracht haben, nicht in Misskredit ziehen sollte.
({2})
Das ist eine wichtige Angelegenheit, weil die Menschen unter größten Schwierigkeiten genau diesen Erfolg herbeigeführt haben. Alle Erfahrungen in anderen
Ländern, in denen solch eine große Reform angegangen
worden ist, haben gezeigt: Man hat mindestens fünf
Jahre gebraucht, bis dieses komplizierte Geflecht einigermaßen so erfolgreich und effizient lief,
({3})
dass das Ziel, nämlich nicht nur Arbeitsmarktvermittlung und Qualifizierung der Langzeitarbeitslosen, sondern auch das Aufgreifen individueller Problemlagen
des Einzelnen und die Unterstützung durch individuelle
Hilfen, erreicht werden konnte.
({4})
- Wo denn sonst, wenn nicht vor Ort? Etwa in Berlin?
Die Menschen werden doch nicht aus den Wahlkreisen
nach Berlin bestellt, lieber Kollege Rohde, um ihnen hier
die Hilfen zukommen zu lassen.
({5})
Lassen Sie uns zu dem Antrag der Grünen kommen;
auf die Linke komme ich gleich zurück. Ich glaube, dass
uns allen die Organisation dieses Arbeitsfeldes am Herzen liegt. Nun hat das Bundesverfassungsgericht, wie
von mehreren Rednern angesprochen wurde, die Arbeitsgemeinschaften für unvereinbar mit der Verfassung
erklärt. Es hat aber auch ausdrücklich gesagt, dass die
Entscheidung, die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe
zusammenzuführen und die Leistungen aus einer Hand
anbieten zu können, richtig war und positiv zu bewerten
ist.
Verfassungsgemäß ist insbesondere - das will ich betonen - die Verantwortung des Bundes für die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen. Das heißt im Kern: Für
die Zusammenarbeit der Agenturen für Arbeit und der
Kommunen bei der Gewährung der Grundsicherung für
Arbeitsuchende müssen wir eine neue Form finden. Alle,
die jetzt auspacken und sagen: „Hier ist diese Form!“,
sollten sich einmal fragen, ob sie nicht voreilig debattieren; denn es sind eine Menge Aktivitäten in diesem Land
notwendig, um diese Form umzusetzen.
Bundesminister Scholz, Staatssekretär Scheele und
auch ich selbst haben dazu in den letzten Monaten unzählige Gespräche mit den Beteiligten im Bund, in den
Ländern und in den Kommunen sowie mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Arbeitsgemeinschaften geführt, um genau über dieser Fragestellung zu brüten und
Vorschläge zu erarbeiten. Die Antworten auf die anstehenden Fragen, die die Grünen zuletzt vorgetragen haben, sind - das muss ich mit Bedauern sagen - falsch.
Im Übrigen sind in dem Redebeitrag von Frau
Pothmer - ich bitte Sie, sich diesen in Erinnerung zu rufen - zig Widersprüche. Sie sagt, die Kommune sitze am
Katzentisch. Genau das Gegenteil ist der Fall. Wir wollen, dass die Kommune auf Augenhöhe an diesem Prozess beteiligt ist. Von Katzentisch kann überhaupt keine
Rede sein. Wenn man ein solches Vorurteil hat und dieses verbreitet, dann sorgt man dafür, dass ein Teil gar
nicht mit ins Boot steigt.
Dann war von einem Rückfall in eine bürokratische
Doppelstruktur und von „rückwärtsgewandt“ die Rede.
Erstens will das keiner, und zweitens: Wie viel getrennte
Aufgabenwahrnehmung gibt es gerade in Niedersachsen,
({6})
wobei äußerst erfolgreiche Arbeit geleistet wird? Das
heißt doch nicht, dass die Arbeit nicht gemeinsam unter
einem Dach geleistet werden kann, liebe Frau Pothmer.
Ich bitte Sie: Vermeiden Sie die voreiligen Urteile über
das, was geht, und das, was nicht geht. Damit tragen Sie
zur Verunsicherung in diesem Land bei.
({7})
Ich will einen weiteren Widerspruch in Ihrer Aussage
deutlich machen. Auf der einen Seite sagen Sie, da solle
etwas durchgepaukt werden, auf der anderen Seite prophezeien Sie, dass das sowieso nicht komme. Was ist
denn jetzt richtig? Soll etwas durchgepaukt werden?
Oder kommt es sowieso nicht?
({8})
Gehen Sie sachlich an die Dinge heran, und überlegen
Sie einmal, was Sie in Ihrem Antrag geschrieben haben.
Ich sage Ihnen, dass das Bundesverfassungsgericht
festgestellt hat, dass die Arbeitsgemeinschaften unvereinbar mit dem Grundgesetz sind. Deshalb müssen wir
eine alternative Lösung finden. Wie Sie wissen, haben
wir dazu etwas vorgeschlagen, nämlich die Form des kooperativen Jobcenters. Der große Irrtum in Ihrem Antrag
besteht allein schon darin, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit den Optionskommunen überhaupt nicht
beschäftigt. Das war zwar überhaupt kein Thema, aber
Ihr Antrag behandelt dieses.
({9})
- Entschuldigung, das ist eine ganz andere Ebene, über
die wir reden.
({10})
Sie wissen, dass die Optionskommunen auf der Basis einer Experimentierklausel bestehen. Für diese Experimentierklausel haben wir eine klare gesetzliche Grundlage, die überhaupt nicht strittig ist und die bis 2010 gilt.
({11})
Der Bundesminister hat gesagt, dass er fest davon ausgeht - das hat er den Optionskreisen mitgeteilt -, dass
sie bis 2013 weiterbestehen werden. Dann muss die politische Entscheidung getroffen werden, nicht früher. Deshalb ist das ein Punkt, der diese Verabredung im Koalitionsvertrag überhaupt nicht infrage stellt.
Ich lese in Ihrem Antrag weiter, die Anzahl der Optionskommunen müsse erhöht werden. Ich habe Zweifel
- das will ich hier ganz deutlich sagen -, ob dieses Vorhaben mit der Verfassung in Einklang zu bringen ist.
({12})
- Dann muss man nicht nur die Gesetze, sondern dann
muss man die Verfassung ändern, lieber Herr Rohde.
Aber eine Verfassung ändert man nicht so einfach.
({13})
- Dazu haben Sie keinen Antrag gestellt. Ich kenne weder von den Grünen noch von irgendjemand anderem einen Antrag zur Änderung der Verfassung. Das möchte
ich ganz deutlich sagen.
Wichtig ist zuallererst, dass man sich bewusst ist, was
das bedeutet.
({14})
- Wir reden hier im Bundestag, Frau Pothmer. Hören Sie
zu, und wenn Sie ein Anliegen haben, dann stellen Sie
eine Zwischenfrage. Ich gehe gerne darauf ein. - Das,
was klipp und klar im Grundgesetz steht, ist der Boden,
auf dem wir unsere Arbeit hier zu leisten haben, nicht
mehr und nicht weniger. Eine solche Änderung stünde in
krassem Widerspruch zu dem, was wir vor kurzem in
diesem Hause entschieden haben, nämlich die Entflechtung der Verwaltungsebenen von Bund und Ländern und
die Schaffung klarer Verantwortlichkeiten gegenüber
den Bürgerinnen und Bürgern. In der Föderalismuskommission haben wir beschlossen, dass eine direkte Aufgabenübertragung vom Bund auf die Kommunen nicht
möglich ist. Deshalb sage ich Ihnen klipp und klar: Was
Sie hier vorschlagen, ist schlichtweg verfassungswidrig
und deshalb so nicht machbar.
Wie ist der Sachstand bei den politischen Überlegungen, die wir aufgegriffen haben? Die drei denkbaren
Modelle, die von Bund und Ländern erarbeitet worden
sind, werden geprüft und bewertet. Das erste Modell ist
das kooperative Jobcenter. Es ist zu fragen, was zu tun
ist, um eine solche Einrichtung funktionsfähig auszugestalten - nicht nur untergesetzlich, sondern auch im Rahmen gesetzlicher Regelungen. Das zweite Modell beinhaltet die Übertragung der passiven Leistungen auf die
Kommunen in einer Form der Bundesauftragsverwaltung. Bei dem dritten Modell geht es um die Entwicklung eines Arge-Modells, wofür es allerdings einer Verfassungsänderung bedürfte.
Kollege Schiewerling hat bereits gesagt, dass es unter
den Ländern derzeit keine ausreichende Mehrheit für
eine Verfassungsänderung gibt. Einige Länder beziehen
diese Möglichkeit in ihre Erwägungen ein. Aus unserer
Sicht gibt es dafür aber, wie gesagt, keine ausreichende
Mehrheit. Das, was bisher diskutiert wurde, muss daher
kritisch hinterfragt werden.
Jedenfalls aus unserer Sicht müssen Finanz- und
Durchführungsverantwortung in einer Hand bleiben.
Man kann sich kaum vorstellen, dass der Bund zwar bezahlt, dass aber allein auf lokaler Ebene entschieden
wird. Das ist ein Problem, über das wir nachdenken müssen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die solidarische Bundesfinanzierung bedingt, dass Mittel aus strukturschwachen und Mittel aus strukturstarken Regionen
zusammenfließen.
Herr Kollege, achten Sie bitte auf Ihre Zeit.
Dieses System kann nur so lange funktionieren, wie
gewährleistet ist, dass in den strukturschwachen Regionen keine besseren Standards gelten als in den strukturstarken Regionen. Ich sage deshalb ganz deutlich: Ein
solidarisches Modell, in dem der Bund die Verantwortung für die Finanzierung der Langzeitarbeitslosen behält, setzt voraus, dass Bund und Länder sich darüber
verständigen müssen, wie man dem haushalterischen
Prinzip Rechnung tragen kann, dass der Bund wissen
will, wohin das Geld fließt.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Für die Fraktion Die Linke spricht nun die Kollegin
Katja Kipping.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
Bundesverfassungsgericht hat uns in seinem Urteil eine
Frist bis Ende 2010 eingeräumt. Wir wären schlecht beraten, wenn wir diese Frist vollständig ausschöpften;
denn es häufen sich Berichte, wonach die Unsicherheit
bei den Beschäftigten der Argen zunimmt, einzelne Mitarbeiter abgeworben werden oder sich verstärkt nach
neuen Jobs umsehen. Ein solches Klima ist nicht wirklich gut für die Qualität der Beratung.
({0})
Insofern wären wir wirklich gut beraten, möglichst bald
eine Lösung zu finden. Das wäre sowohl im Sinne der
Beschäftigten der Argen als auch im Sinne der Erwerbslosen.
({1})
Aktuell gibt es eine Art Tauziehen zwischen denjenigen, die Kommunalisierung wollen, und denjenigen, die
die Bundesagentur für Arbeit stärken wollen. Der Antrag
der Grünen versucht, das Tauziehen eher zugunsten der
Kommunalisierung zu entscheiden. Im Namen der Linken kann ich dazu nur sagen, dass Erwerbslosigkeit ein
gesamtgesellschaftliches Problem ist, das man nicht einfach auf die Kommunen abwälzen kann. Diesbezüglich
stehen wir als Bund in der Pflicht.
({2})
- In Ihrem Antrag steht, dass Sie die Anzahl der Optionskommunen erhöhen wollen. Das ist natürlich im
Sinne einer Kommunalisierung.
Wir haben die möglichen Konsequenzen aus dem
Bundesverfassungsgerichtsurteil mit vielen lokalen Akteuren diskutiert. Man hat immer wieder den Eindruck
gewonnen, dass die Entscheidung zwischen der real
existierenden Optionskommune und der real existierenden Bundesagentur für viele wie eine Wahl zwischen
Scylla und Charybdis war. Wenn wir eine Stärkung der
Bundeskompetenz wollen, dann muss sich die Bundesagentur zuallererst wieder darauf besinnen, dass sie vor
allem einen sozialpolitischen Auftrag hat. Diesem sozialpolitischen Auftrag muss sie sich wieder verstärkt
stellen.
({3})
Doch ganz unabhängig davon, wer das Tauziehen gewinnt: Entscheidend ist, dass die Qualität der Beratung
verbessert wird. Der Umgang mit Anspruchsberechtigten ist immer noch viel zu oft von dem Geist oder zumindest der unterschwelligen Einstellung geprägt, man
habe es mit Untertanen zu tun, die zu erziehen und zu
belehren sind.
({4})
Eine moderne Sozialpolitik sollte stattdessen von dem
Bewusstsein geprägt sein, dass auf beiden Seiten des Tisches Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind und dass
es sich auch auf der anderen Seite des Tisches um Menschen mit Rechten handelt.
({5})
Es liegt einiges im Argen, was die Beratungsqualität
sowohl in den Argen als auch in den Optionskommunen
anbelangt.
({6})
Wenn wir als Linke dieses Problem ansprechen, wird uns
immer vorgeworfen, wir seien Miesmacher. Deshalb
möchte ich an dieser Stelle einfach einmal aus dem Bericht des Bundesrechnungshofs zitieren. Darin heißt es:
Bei zwei Dritteln der 1-Euro-Jobs war mindestens eine
Fördervoraussetzung nicht erfüllt. - Kurzum: Es muss
da noch einiges verbessert werden. Wir als Linke haben
hier bereits vor einigen Monaten einen entsprechenden
Antrag eingebracht und ganz konkrete Maßnahmen vorgeschlagen.
({7})
Wir sind aufgefordert, uns schnell darüber zu verständigen, wie die zukünftige Struktur aussehen soll.
Ich möchte aber schon an dieser Stelle einen ganz
konkreten Vorschlag unterbreiten. Liebe Sozialdemokraten, liebe Christdemokraten,
({8})
geben Sie sich bitte einen Ruck
({9})
und ermöglichen Sie, dass Widersprüche aufschiebende
Wirkung haben! Bereits jetzt wird jedem dritten Widerspruch in Gänze stattgegeben. Die Ungewissheit, die
hinsichtlich der Strukturen besteht, wird die Fehlerquote
nicht senken. Im Gegenteil: Sie wird die Fehlerquote
womöglich erhöhen. Auch wenn wir eine Zeit der Umstellung haben, wird es Unsicherheiten geben, die die
Fehlerquote wiederum eher erhöhen werden.
Dieses Problem, das auch durch die Unsicherheit in
den Strukturen verursacht worden ist, dürfen wir nicht
auf dem Rücken der Erwerbslosen oder der Armen austragen;
({10})
schließlich reden wir hier von Menschen - damit komme
ich zum Schluss -, bei denen falsche Bescheide sehr
schnell zu existenziellen Problemen führen. Das Mindeste, was wir jetzt tun können, ist, dafür zu sorgen, dass
Widersprüche eine aufschiebende Wirkung haben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9441 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Bundesministergesetzes
- Drucksache 16/5052 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 16/9759 Berichterstattung:
Abgeordnete Ralf Göbel
Siegmund Ehrmann
Petra Pau
Silke Stokar von Neuforn
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/9781 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Bettina Hagedorn
Otto Fricke
Alexander Bonde
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Ralf
Göbel für die Unionsfraktion, Siegmund Ehrmann für
die SPD-Fraktion, Dr. Max Stadler für die FDP-Fraktion, Volker Schneider ({2}) für die Fraktion
Die Linke und Silke Stokar von Neuforn für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/9759, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/5052 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
1) Anlage 3
Vizepräsidentin Petra Pau
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich enthalten? Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke
bei Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 15:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke
Hoff, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr deutsche und internationale Unterstützung für den Wiederaufbauprozess im Irak
- Drucksache 16/9605 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die FDP-Fraktion hat
nun die Kollegin Elke Hoff das Wort.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wir haben in der vergangenen Sitzungswoche eine sehr intensive und umfassende Debatte zum
Thema „Hilfe für irakische Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland“ geführt. Wir alle gemeinsam sind
im Grunde genommen der Auffassung gewesen, dass es
sehr notwendig ist, den bedrängten Menschen im Irak zu
helfen.
Wir von der FDP-Fraktion sind darüber hinaus der
Auffassung, dass wir noch einen weiteren Schritt gehen
sollten und weitere gemeinsame Anstrengungen der
Bundesregierung und des Parlamentes auf den Weg bringen sollten, um die Menschen im Irak umfassend beim
Wiederaufbau ihres zerstörten Landes zu unterstützen
und ihnen vor allen Dingen auch dabei behilflich zu sein,
demokratische Strukturen im Irak nachhaltig zu verankern.
({0})
Wir können vor dem Hintergrund der Spannungen
zwischen den verschiedenen Ethnien und Religionen,
die im Nachgang zur Intervention der US-amerikanischen Streitkräfte und der Koalitionstruppen erneut zum
Ausbruch gekommen sind, feststellen, dass einer der
wichtigsten Punkte im Irak die nationale Versöhnung ist.
Es handelt sich dabei um einen sehr komplexen Vorgang,
der an den Grenzen des Iraks nicht haltmachen darf. Wir
von der FDP-Fraktion sind zutiefst davon überzeugt,
dass eine Stabilisierung des Iraks auch im nationalen Interesse der Bundesrepublik Deutschland liegt.
({1})
Der Krisenherd Irak liegt unmittelbar vor der Haustür
der NATO; das NATO-Vollmitglied Türkei ist unmittelbarer Nachbar. Der Konfliktherd liegt damit auch vor
unserer Haustür. Wir können uns diesem nicht entziehen.
Wir müssen deshalb einen Weg finden, die positive Entwicklung im Land zu begleiten. Wir wissen, dass es in
der Vergangenheit schlimme Entwicklungen gegeben
hat. Wir haben über die Ursachen schon sehr umfassend
und hinreichend diskutiert. Wir sind der Meinung, dass
es nun an der Zeit ist, den Blick nach vorne zu richten,
statt ihn nach hinten zu wenden. Deswegen schlagen wir
in unserem Antrag eine Reihe von Maßnahmen vor, die
insbesondere auf die Stabilisierung bzw. den Aufbau der
Institutionen und der zivilgesellschaftlichen Strukturen
abzielen.
Wir wollen natürlich nicht, dass sich die Bundesrepublik Deutschland in irgendeiner Form an militärischen
Aktionen beteiligt. Wir wollen auch keine riesigen finanziellen Entwicklungsmaßnahmen auf den Weg bringen,
weil die finanzielle Situation des Iraks im Vergleich zu
der in Afghanistan relativ gut ist. Wir sind hierbei der
Auffassung, dass der jetzige Zeitpunkt richtig ist. Anders
als in Afghanistan, wo sich die internationale Gemeinschaft aufgrund des vollständigen Fehlens von staatlichen Strukturen noch sehr lange wird engagieren müssen, können im Irak noch heute gewisse Grundstrukturen
von Staatlichkeit wahrgenommen werden; diese müssen
wir unterstützen. Jedes Jahr, das vergeht und in dem wir
nicht versuchen, diese Stabilisierung herbeizuführen,
bringt einen immer stärkeren Verlust dieser Strukturen
mit sich.
({2})
Deswegen sind wir trotz der nach wie vor sehr
schwierigen Sicherheitslage der Auffassung, dass jetzt
der Zeitpunkt gekommen ist, Maßnahmen zu ergreifen.
Wir fordern daher die Bundesregierung auf, sich durch
eigene Regierungsvertreter vor Ort ein Bild zu machen
und daraus eine Konzeption zu entwickeln - die sie dem
Deutschen Bundestag vorzulegen hat -, wie ein Aufbau
der Institutionen begleitet werden kann. Es wird dabei
sehr wichtig sein, dass auch die Kontakte zwischen den
Parlamenten mit Leben erfüllt und entwickelt werden,
damit wir unsere irakischen Kolleginnen und Kollegen
bei der schwierigen Arbeit unterstützen können, die
Wahrnehmbarkeit des Parlamentes zu verbessern.
Wir als föderal aufgebautes Land können sicherlich
auch einen Beitrag zur sinnvollen Entwicklung von Regionen leisten. Wir können einerseits dazu beitragen, die
Wahrnehmbarkeit der Strukturen der Zentralregierung zu
verbessern, und andererseits klarmachen, dass Autonomie in bestimmten Bereichen verhindert, dass den Leuten Konflikte, die ihre Ursache in den Schwierigkeiten
bei der Bildung der Zentralregierung haben, aufoktroyiert werden, und darüber hinaus die Möglichkeit bietet,
Inseln der Entwicklung zu schaffen. Hier können wir sicherlich eine Reihe von wertvollen Anregungen geben.
Wir sind allerdings auch der Auffassung, dass andere
Bereiche ebenso wichtig sind. Aufgrund des Ausblutens
von Kapazitäten durch diese große Flüchtlingsbewegung
und des Fehlens von Fachleuten, Ärzten, Ingenieuren,
Lehrern und Wissenschaftlern, sollten wir irakischen
Studentinnen und Studenten die Möglichkeit geben, eine
Ausbildung in Deutschland zu machen. Sie können danach nach Hause zurückkehren und dazu beitragen, ihr
Land wieder aufzubauen.
Wir sind auch der Auffassung - insbesondere nach einem Besuch einer Gruppe irakischer Journalisten, die
ihre wichtige Aufgabe unter größter Lebensgefahr erfüllen -, dass es wichtig ist, unsere Solidarität zu bekunden,
indem wir den Kontakt zu Journalistinnen und Journalisten pflegen, mit ihnen kommunizieren und ihnen behilflich sind, ihre Arbeit in Sicherheit verrichten zu können.
({3})
Wir müssen sie dazu ermutigen, den Prozess der Demokratisierung im eigenen Land weiterhin zu begleiten.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass es
spät ist. Ich weiß auch, dass ein Fußballspiel im Rahmen
der Europameisterschaft vor der Tür steht. Das kann
aber kein Grund dafür sein, dass wir uns als Parlament,
als Vertreter einer funktionierenden Demokratie diesem
Thema nicht mit aller Ernsthaftigkeit und Hingabe zuwenden.
({5})
Ich hoffe sehr, dass Sie unseren Antrag unterstützen.
Ich darf mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit
bedanken.
({6})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Erich
Fritz das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unstrittig ist, dass die Sicherheitslage im Irak nach wie
vor sehr kritisch ist - deshalb ist der Antrag der FDP diskussionswürdig -, dass der Wiederaufbau des Landes
nicht so vorankommt, wie wir alle das gerne hätten, und
dass sich deshalb aller Aufwand lohnt, zur Stabilisierung
des Landes beizutragen.
Durch einen kurzen Blick auf die Lage im Irak wissen
wir, dass wir der Realität in diesem Land nicht gerecht
werden. Vielmehr müssen die innere Struktur, die inneren Machtverhältnisse, die Einflüsse von außen, die Bedeutungen der nach wie vor vorhandenen alliierten Truppen und die unterschiedlichen religiösen und kulturellen
Einflüsse berücksichtigt werden. Das alles sind Faktoren, die zwar geradezu herausfordern, sich diesem Land
zu widmen und Lösungen zu finden, die gleichzeitig
aber auch dazu beitragen, dass die Umstände nach wie
vor problematisch sind.
Ich glaube, dass wir diese Debatte nutzen sollten, um
zu zeigen, dass die Bundesrepublik Deutschland schon
umfangreich Hilfe leistet und dass wir diese Hilfe beibehalten wollen. Es ist aber sehr genau zu überlegen, welche weitere, stärkere Unterstützung wir gewähren.
Unser Schwerpunkt liegt in der Ausbildung irakischer
Sicherheitskräfte. Dieser Aufgabe müssen wir uns weiterhin widmen, weil sie von uns besonders gut erfüllt
werden kann. Die Herstellung der Sicherheit, der Stabilität staatlicher Strukturen und der Verlässlichkeit von
staatlichen Einrichtungen ist eine ganz wesentliche Aufgabe, unabhängig vom Bevölkerungsteil.
({0})
Deutschland leistet nach wie vor Ausbildungs- und
Ausstattungshilfe für die irakischen Streitkräfte im Sanitäts-, Transport- und Baupionierwesen; auch da unterstützen wir an der richtigen Stelle. Es gibt weitere Ausbildungskurse in Führung und Logistik. Anfang 2008
gab es weitere Materiallieferungen und Ausbildungshilfen durch das BMVg. Hinzu kommen Ausbildungs- und
Ausstattungshilfe für die irakische Polizei. Wir haben im
Bereich „Kriminalpolizei, Strafjustiz und -vollzug“ ausgebildet. Die Mission ist gerade bis Juli 2009 verlängert
worden. Durch Mittel des Auswärtigen Amtes wird
ebenfalls Ausbildung im Bereich „irakische Streit- und
Polizeikräfte“ ermöglicht.
Wir wissen, dass die humanitäre Situation im Land
nach wie vor nicht sehr gut ist. Deshalb tritt die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion für eine humanitäre Flüchtlingspolitik ein. Wir unterstützen die Bemühungen der
EU-Minister, die sich erst Anfang Juni für eine europaweite Lösung ausgesprochen haben. Wir stimmen Ihnen
zu, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dass
das Merkmal für eine Aufnahme die Schwere der individuellen Bedrohung sein muss. Wer am schlimmsten bedroht ist, bekommt als Erster Hilfe. Das sind, wie wir
wissen, de facto ganz überwiegend Christen, die im Irak
die mit Abstand größte nichtmuslimische Minderheit
stellen.
Auch alleinstehende Frauen und Kinder sind eine
wichtige Gruppe. 1,2 Millionen Christen machten 2003
eine starke Gruppe aus; jetzt sind es noch 400 000, die
im Land sind. Viele Familien sind nach Jordanien oder
Syrien geflüchtet oder vertrieben worden. Viele Familien dort sind nicht in der Lage, für ihren Erwerb aufzu18322
kommen, sodass häufig die Kinder arbeiten müssen.
Nach UNHCR-Schätzungen besuchen nur 25 Prozent
dieser Flüchtlingskinder Schulen. Ich glaube, das ist ein
Punkt, an dem wir unsere Hilfe verstärken sollten; denn
es geht unmittelbar um Menschen. Um die Interessen
dieser religiösen Minderheiten - es geht auch um die Jesiden, Mandäer, Sabäer - und um die Situation der unterschiedlichen muslimischen Minderheiten müssen wir
uns kümmern.
Von einem zurückhaltenden Engagement Deutschlands beim Wiederaufbau des Irak, von dem im FDPAntrag die Rede ist, kann also keine Rede sein. Seit
2003 hat Deutschland den Wiederaufbau im Irak mit fast
5 Milliarden Euro unterstützt.
({1})
- Ja. - Allein im Jahr 2007 hat die Bundesregierung
4,2 Millionen Euro aus Mitteln des Auswärtigen Amtes
für Hilfsmaßnahmen für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten
Nationen hat 2 Millionen Euro für die Versorgung von
Binnenvertriebenen und von Irak-Flüchtlingen in Syrien
und Jordanien bekommen. 1,5 Millionen Euro gingen an
das Internationale Rote Kreuz, 205 000 Euro an das
Deutsche Rote Kreuz.
10 Millionen US-Dollar stellte die Bundesregierung
dem im August 2006 beigetretenen Internationalen Wiederaufbaufonds für den Irak zur Verfügung; diese Mittel
werden überwiegend für die Berufsausbildung eingesetzt. Dieser Fonds bleibt bestehen, bis sämtliche Projekte beendet sind.
Über GTZ- und InWEnt-Projekte werden die für die
Berufsausbildung zuständigen irakischen Institutionen
und Ministerien unterstützt. In Ägypten und Deutschland haben wir darüber hinaus irakische Fach- und Lehrkräfte aus dem Bereich der beruflichen Bildung qualifiziert, die mit ihren erworbenen Kenntnissen einen
Beitrag zum zivilen Wiederaufbau im Irak leisten können. Wir agieren also in einer Weise, die dadurch gekennzeichnet ist, dass wir uns nicht exponieren, sondern
einen wirkungsvollen Beitrag zur Entwicklung innerer
Strukturen und innerer Stabilität leisten.
({2})
In Ägypten wurden im Rahmen eines GTZ-Projekts
bis Ende April 2008 insgesamt 875 Iraker ausgebildet.
Geplant ist, dieses Projekt bis 2011 fortzusetzen; das ist
durchaus eine langfristige Perspektive. Wir unterstützen
das Land bei der wirtschaftlichen Transformation zu einem marktwirtschaftlichen System, beispielsweise im
Bereich der Investitionsförderung durch Projekte wie
„Wirtschaftspolitisches Management im Irak“. Wir unterstützen das Land darüber hinaus im Bereich der Universitäten und der Infrastruktur. Diese Aufzählung
könnte man fortsetzen.
Ich glaube, dass wir sehr gut daran tun, uns jetzt stärker darauf zu konzentrieren, dort, wo sich die Situation
verbessert, den wirtschaftlichen Austausch zu fördern.
Noch befindet sich der Handel mit dem Irak auf einem
sehr niedrigen Niveau; er bewegt sich so gut wie gar
nicht. Mittlerweile ist klar, dass die Deutsch-Irakische
Wirtschaftskommission - sie unterbrach lange Zeit ihre
Arbeit - wieder tagen wird. Dass davon Impulse ausgehen, kann man nur hoffen.
Die Bundesregierung hat durch die Ausweitung des
Außenwirtschaftsförderungsinstrumentariums - Stichwort „Hermesdeckung“ - bereits einige Schritte unternommen. Ein Doppelbesteuerungsabkommen befindet
sich in der Pipeline. Ich glaube, dass das Öl- und Gasrahmengesetz für deutsche Investoren, die aufgrund ihrer traditionellen Beziehungen in den Startlöchern stehen, eine wichtige Rolle spielen wird. Sobald sich die
Situation verbessert, wird die Zusammenarbeit intensiver werden.
({3})
Wir alle tun gut daran, die Iraker zu ermuntern, das
neue irakische Investitionsgesetz zu verabschieden und
einen transparenten Privatisierungs- und Diversifizierungsweg zu gehen. Das ist die Art von Hilfe, die zum
eigenen Wiederaufbau und zur Entwicklung einer eigenen Wirtschaftsstruktur führt.
Bundeskanzlerin Merkel wird beim Besuch des irakischen Ministerpräsidenten in Berlin im Juli sowie bei allen weiteren Gesprächen auf internationaler Ebene
Deutschlands Unterstützung für den irakischen Demokratisierungsprozess zusagen und gleichzeitig deutlich
machen, wie unerlässlich die Verbesserung der Sicherheitslage und eine nationale Versöhnung für den nachhaltigen Wiederaufbau des Staates sind.
Ich glaube, dass die Bundesrepublik Deutschland ihrer Verantwortung, was die Verbesserung der Situation
im Irak betrifft, mehr als gerecht wird und dass wir auf
dem jetzt eingeschlagenen Weg weitermachen sollten.
Herzlichen Dank.
({4})
Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege
Wolfgang Gehrcke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man kann seriöserweise über die Lage im Irak nicht diskutieren, ohne tatsächlich einen Blick zurückzuwerfen,
und zwar nicht deswegen, weil man sich beim Rückwärtsgewandten aufhalten sollte, sondern weil die Vergangenheit eigentlich die Gegenwart im Irak ist. Um
diese Tatsache kann man nicht drum herumreden. Wenn
man zurückblickt, muss man ganz nüchtern feststellen:
Der Krieg gegen den Irak war wohl die schlimmste Fehlentscheidung des US-Präsidenten Bush.
({0})
Ich will hinzufügen: Es war ein völkerrechtswidriges
Verbrechen.
({1})
Das muss im Bundestag einmal ausgesprochen werden,
und das, Kollegin Hoff, muss man einmal in einen Antrag hineinschreiben.
Die Folgen erlebt die Bevölkerung im Irak heute.
100 000 Menschen sind bislang während des Krieges
oder in der Folgezeit gestorben. Es gibt 4 Millionen
Flüchtlinge. Die Vernichtung von Kultur und Kulturgütern wie Jahrtausende alte Städte und Raub von Kulturgütern sind Folgen des Krieges. Das ist die Bilanz.
Am meisten erschreckt hat mich aber eine Äußerung
von Bush und Condoleezza Rice, sie hätten im Irak das
Gesicht des neuen Nahen Ostens gesehen.
({2})
Wenn man in das Gesicht des heutigen Irak schaut, dann
sieht man Gewalt, Tod, Anarchie und Widersprüche. Wir
müssen auch hier klarmachen: Das darf nicht das Gesicht des neuen Nahen Ostens werden.
({3})
Wir wollen zumindest nicht dazu beitragen.
Man muss sich auch noch einmal in Erinnerung rufen,
wie unverschämt die USA die Weltöffentlichkeit belogen haben. Ich habe die Bilder von Colin Powell vor
dem Weltsicherheitsrat noch vor Augen. Eine Weltmacht, die die Welt in dieser dreisten Art und Weise belügt, hat ihre Rolle als Weltmacht verspielt.
({4})
Auch das muss man einmal klar sagen.
({5})
Wenn man ernsthaft über einen neuen Ansatz diskutiert, dann muss man auch ein paar Worte zur Rolle
Deutschlands sagen. Ich finde, es ist alles in allem eine
beschämende Rolle. Wenn es nach der heutigen Bundeskanzlerin gegangen wäre, dann hätte Deutschland Soldaten in den Irak geschickt.
({6})
Das ist belegbar. Sie müssen sich das einmal klarmachen. Ich fand es auch beschämend, dass die rot-grüne
Bundesregierung den USA Überflugrechte gewährt hat
und ihnen damit die Gelegenheit gegeben hat, diesen
Krieg zu führen.
({7})
Auch das gehört zur Bilanz.
Meine Schlussfolgerung ist: Wenn man wirklich Veränderungen will - Kollegin Hoff, ich denke, dass man
das hier aussprechen muss -, dann muss man feststellen,
dass es ohne einen Abzug der Truppen der USA aus dem
Irak keinen zivilen Wiederaufbau geben wird.
({8})
Das ist der entscheidende Punkt.
Wir können die USA auffordern, ihre Truppen abzuziehen. Nicht nur von außen, sondern im amerikanischen
Präsidentschaftswahlkampf selbst wird dies als eines der
zentralen Themen diskutiert. Lassen Sie uns das verstärken. Der Deutsche Bundestag sollte die USA auffordern,
ihre Truppen möglichst sofort aus dem Irak abzuziehen,
damit ein ziviler Aufbau greifen kann.
({9})
Da wir schon bei Ratschlägen sind, sage ich Folgendes an unsere eigene Adresse: Die Flüchtlingsfrage ist
eben nicht geklärt.
({10})
Kollege Fritz hat hier dafür plädiert, Flüchtlinge religiös
orientiert aufzunehmen. Ich finde, es ist eine Katastrophe,
({11})
wenn man sagt, die muslimischen Flüchtlinge sollen
nach Syrien gehen und wir sollen die Christen aufnehmen. Was machen denn die Atheisten im Irak?
({12})
- Das weiß ich nicht; aber das ist ja auch nicht die
Hauptgruppe.
({13})
Ich bin für die Aufnahme von Flüchtlingen unabhängig
von ihrer religiösen Zugehörigkeit.
({14})
Vieles von dem, was Sie vernünftigerweise in Ihren
Antrag geschrieben haben, kann greifen, wenn von den
USA endlich das Zeichen kommt, dass man dem Irak ein
Stück Selbstbestimmung gewährt. Dann können wirtschaftliche Maßnahmen, humanitäre Hilfe und all das,
was man leisten muss, greifen. Solange die US-Truppen
im Irak sind - fünf oder zehn Jahre oder was weiß ich -,
wird das Morden, das Töten in diesem Land kein Ende
haben. Das ist leider wahr, und das hat die Vergangenheit
belegt.
({15})
Den Beitrag des Kollegen Niels Annen für die SPD-
Fraktion nehmen wir zu Protokoll.1)
1) Anlage 4
Vizepräsidentin Petra Pau
Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich begrüße ausdrücklich, dass Kollegin Elke Hoff für
die FDP dieses Thema auf die Tagesordnung gebracht
hat. In der Tat, die Entwicklung im Irak ist von eminenter Bedeutung für die europäische Sicherheit. Wir müssen uns viel stärker mit der Frage auseinandersetzen,
was wir zur Stabilisierung dieses äußerst schwierigen
Konfliktherdes beitragen können. Genau aus diesem
Grunde waren Claudia Roth und ich vor ungefähr einem
Jahr im Nordirak. Wir sind auf die Spuren des Terrors
des Saddam-Hussein-Regimes gestoßen. Wir sind aber
auch auf eine Insel relativer Stabilität in einem Umfeld
wahnsinniger Gewalt gestoßen; hierzulande werden der
Nordirak und die kurdischen Teile ja oft mit dem gesamten Irak zusammengeworfen.
Im vorliegenden Antrag steht folgende Bemerkung:
Die Zeit der kritischen Betrachtung der militärischen Intervention sollte heute auch angesichts des
unendlichen Leids innerhalb der irakischen Zivilbevölkerung der Vergangenheit angehören.
Es ist ja einerseits richtig, dass man nicht einfach nur
in die Vergangenheit schaut und darüber Gegenwart und
Zukunft vergisst. Aber andererseits hoffe ich, dass ihr es
so nicht meint. Einen Schlussstrich kann es nicht geben,
weil die Lehren aus diesem Beispiel einer ideologischen,
verantwortungslosen und verheerenden Interventionspolitik in der Tat noch längst nicht zureichend gezogen
sind. Deshalb Blick nach vorn, aber ohne Schlussstrich!
({0})
Unumgänglich ist auch - dazu kann ich natürlich in
vier Minuten fast gar nichts sagen; ich deute es nur an eine kritische Auseinandersetzung mit der jetzigen USPolitik. Zu Recht wird im Antrag betont, wie vordringlich die innerirakische Versöhnung ist. Dass die USA gerade langfristige Stationierungsabkommen mit der irakischen Regierung ausgehandelt haben und weitreichende
Verträge mit Ölfirmen abgeschlossen werden, wobei es
innerirakisch noch gar keinen Konsens dazu gibt, steht
im Gegensatz zu der notwendigen innerirakischen Versöhnung.
Nun zu den konstruktiven Ansätzen. Zum einen
kommt es darauf an, die Vereinten Nationen, die nach
dem fürchterlichen Anschlag vom August 2003 praktisch hinausgeflogen sind, wieder stärker darin zu unterstützen, eine größere Rolle zu spielen. Die Europäische
Union kann eine Rolle spielen, und sie wird das wohl
auch tun müssen, spätestens nach der Wahl in den USA.
Was zum anderen die militärische und die polizeiliche
Ausbildungshilfe angeht: Es ist zwar richtig, was da gemacht wird. Aber ich glaube, viel mehr ist aufgrund der
Kapazitäten nicht möglich. Dies ist allerdings wieder ein
Hinweis darauf, dass unsere Kapazitäten für die strategisch wichtige Aufgabe, zur Stabilisierung im Inland
beizutragen, noch viel zu schwach sind.
({1})
Eine zentrale Rolle spielt einerseits natürlich insbesondere die Flüchtlingshilfe. In der Tat, bereits am
5. Juni haben wir hier eine Debatte über einen diesbezüglichen Antrag der Grünen geführt. Da sind unsere
Positionen im Grunde deckungsgleich. Leider ist dieser
Antrag abgelehnt worden. Andererseits sind jetzt auch
Beiträge zur Stabilisierung möglich. Gerade die bessere
Sicherheitslage im Norden bietet mehr Spielräume, den
wirtschaftlichen Aufbau und die Zivilgesellschaft zu fördern. Die genannten Maßnahmen wie Journalistenausbildung, Studierendenaustausch und Parlamentarieraustausch sind ausgesprochen sinnvoll. Wir haben mit
Parlamentariern gesprochen und wissen, dass es ausgezeichnete Gesprächs- und Austauschmöglichkeiten gibt.
Im vorigen Jahr war das deutsche Engagement im Norden des Irak noch ausgesprochen gering. Mittlerweile
hat die Bundesregierung immerhin ein Verbindungsbüro
in Erbil aufgebaut. Dazu, wie sich das Irak-Engagement
der Bundesrepublik in Zukunft gestalten soll, haben wir
von der Bundesregierung aber noch nichts gehört. Deshalb ist es richtig, ein Konzept einzufordern.
Es ist notwendig und absehbar: In Zukunft wird sich
der Deutsche Bundestag verstärkt um die Stabilisierung
des Irak, um Aufbauhilfen kümmern müssen. Und das
wird er auch tun.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9605 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Michaela Noll, Antje
Blumenthal, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordneten Angelika Graf ({1}),
Renate Gradistanac, Kerstin Griese, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wirksame Bekämpfung der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen
- Drucksachen 16/9420, 16/9694 Berichterstattung:
Abgeordnete Michaela Noll
Angelika Graf ({2})
Diana Golze
Vizepräsidentin Petra Pau
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Marieluise Beck ({4}),
Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mädchen und Frauen vor Genitalverstümmelung schützen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Dr. Karl Addicks, Burkhardt
Müller-Sönksen, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Genitalverstümmelung von Mädchen und
Frauen ächten und bekämpfen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Monika Knoche, Sevim Dağdelen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Weibliche Genitalverstümmelung verhindern - Menschenrechte durchsetzen
- Drucksachen 16/3542, 16/3842, 16/4152,
16/8657 Berichterstattung:
Abgeordnete Michaela Noll
Angelika Graf ({5})
Jörn Wunderlich
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michaela
Noll, Antje Blumenthal, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Renate
Gradistanac, Clemens Bollen, Angelika Graf
({7}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Häusliche Gewalt gegen Frauen konsequent
weiter bekämpfen
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Aktionsplan II der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
- Drucksachen 16/6429, 16/6584, 16/9367 Berichterstattung:
Abgeordnete Michaela Noll
Ina Lenke
Irmingard Schewe-Gerigk
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Michaela Noll für die Unionsfraktion.
({8})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der gefährlichste Ort für Frauen in Deutschland ist nach
wie vor ihr Zuhause. Dort werden Frauen bedroht, zum
Teil geschlagen, zum Teil beleidigt und im schlimmsten
Fall sogar getötet. Genau das habe ich schon vor einem
Jahr an dieser Stelle gesagt. Ich muss leider feststellen:
Bis heute hat sich wenig geändert.
Da wir in Berlin sind, habe ich mir die Zahlen vom
Juni 2008 für Berlin angesehen. Für Berlin gilt genau das
Gleiche: Jede vierte Frau in Berlin leidet unter häuslicher
Gewalt und braucht im Durchschnitt sieben Anläufe, um
sich von ihrem schlagenden Ehemann zu trennen.
75 Prozent der Opfer haben Scheu, sich irgendjemandem
anzuvertrauen, sich zu offenbaren. Ich hoffe, dass es uns
gelingt, diesen Frauen ihre Scheu zu nehmen. Sie müssen wissen, dass sie mit ihren Ängsten und Problemen
nicht allein sind. Es darf keine Toleranz für Gewalt in
den eigenen vier Wänden geben.
({0})
Häusliche Gewalt ist keine Privatsache und muss rechtlich verfolgt werden.
Auf das Thema Genitalverstümmelung wird gleich
meine Kollegin Sibylle Pfeiffer eingehen. Unseren Antrag zur häuslichen Gewalt habe ich bereits beim letzten
Mal vorgestellt. Da die sichere Finanzierung von Frauenhäusern eine unserer Baustellen ist, war ich sehr froh
darüber, dass wir uns heute auf Berichterstatterebene zusammengesetzt haben, um eine Lösung für dieses Problem zu finden.
Da ich Mitglied der Kinderkommission bin, möchte
ich heute ein Thema ansprechen, das mir besonders am
Herzen liegt: die alarmierend hohe Zahl minderjähriger
Opfer. Gewalt trifft die Mütter und damit meistens auch
die Kinder. Viele Opfer sagen uns: Die Kinder haben die
Gewaltsituation gesehen und gehört; zum Teil sind sie
auch hineingeraten. Denn nicht wenige Kinder versuchen, sich schützend vor ihre Mütter zu stellen. Jedes
zehnte Kind wird dabei tätlich angegriffen.
Was bedeutet es für ein Kind, wenn es so etwas miterleben muss? Ich glaube, für viele Kinder bricht eine Welt
zusammen. Der Vater, den sie lieben, wird zum schlagenden Vater, zum verletzenden Vater. Deshalb bin ich
dankbar dafür, dass die Bundesregierung den neuen Ansatz der verstärkten Täterarbeit in den Mittelpunkt rückt
und diese Arbeit für wichtig und richtig hält. Welche
Folgen hat diese Erfahrung für die Kinder? Es gibt eine
gute Studie vom Deutschen Jugendinstitut, die besagt,
dass diese Kinder zum Teil verhaltensauffällig, aggressiv
oder ängstlich sind und zum größten Teil Lernschwierig18326
keiten haben. Das sind sichtbare Folgen. Aber die Folgen, die sich im Inneren abspielen, können wir oftmals
gar nicht richtig feststellen. Viele Kinder sind an ihrer
kindlichen Seele verletzt. Sie können zum Teil nicht darüber sprechen, auch weil sie Angst um den Ruf ihrer
Familie haben. Und was noch schlimmer ist: Sie geben
sich zum Teil selbst die Schuld. Sie glauben, dass sie die
Ursache dafür sind, dass ihre Mutter geschlagen wird.
Das ist das eine. Noch viel schlimmer ist aber, dass
Kinder - das halte ich für sehr bedenklich -, die so aufwachsen, ein erhöhtes Risiko tragen, im Erwachsenenalter erneut zum Opfer zu werden. Und was noch viel
trauriger ist: Sie können sich sogar zum Täter entwickeln. Diese Erfahrung während der Kindheit prägt ein
Leben lang.
Deshalb ist es wichtig, dass wir diese Gewaltspirale
relativ früh und rechtzeitig unterbrechen. Wir haben das
Nationale Zentrum Frühe Hilfen geschaffen. Wir haben
den Nationalen Aktionsplan für ein kindergerechtes
Deutschland 2005 - 2010 auf den Weg gebracht. Gerade
diesen Aspekt hat die Bundesregierung jetzt noch einmal
in ihrem Aktionsplan II der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen aufgegriffen. Dort
heißt es: „Rechtzeitig an die Kinder denken - Prävention
so früh wie möglich“. Ich glaube, damit sind grundlegende Strukturen für einen besseren Schutz des Kindeswohls auf den Weg gebracht worden.
Ich war vor kurzem hier in Berlin auf einer Fachkonferenz. Dort ging es um Prävention an den Schulen. Ich
glaube, jeder, der hier sitzt, weiß, dass die Schulen in
dem Punkt eine Schlüsselrolle haben; denn sie erreichen
alle Kinder. Dort habe ich gehört, dass die Lehrerinnen
und Lehrer sagen, sie seien verunsichert. Sie fragen: Wie
sollen wir mit dem Wissen um Gewalt in einer Familie
umgehen? - Die Lehrer brauchen Hilfestellung. Wir
müssen sie stärken. Damit helfen wir auch den Kindern.
({1})
Ich glaube, in einigen Bundesländern sind bereits einige gute Ansätze auf den Weg gebracht worden. Der
Anfang ist gemacht. Wenn es uns wirklich gelingt, die
Maßnahmen komplett zu vernetzen, werden wir diese
Gewaltspirale rechtzeitig unterbrechen können. Die Kinder brauchen unsere Hilfe, damit sie im Erwachsenenalter nicht erneut zum Opfer werden. Wir müssen es vor
allem schaffen, dass sie nicht zum Täter werden. Auch
hier gilt unsere Devise - ich glaube, da besteht Konsens
im ganzen Haus -: Uns darf kein Kind verloren gehen.
Daran sollten wir gemeinsam weiterarbeiten.
Danke schön.
({2})
Nun hat die Kollegin Sibylle Laurischk das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
wenn jetzt vielleicht Fußball angesagt ist und damit eher
ein Männerthema, befassen wir uns zu dieser Stunde mit
einem gravierenden Thema für Frauen, und zwar mit
dem Thema Gewalt gegen Frauen. Wir haben einen Antrag zum Thema Genitalverstümmelung an Frauen vorliegen. Darin wird eine der schwersten Menschenrechtsverletzungen thematisiert, die weltweit an Frauen und
Mädchen begangen werden. Wenn wir heute gemeinsam
darüber diskutieren, bedauere ich es, Frau Noll, dass wir
uns nicht in einem gemeinsamen Antrag zu diesem
Thema zusammenfinden können.
({0})
Wir haben uns in einer sehr eindrucksvollen Anhörung im Ausschuss im vergangenen Dezember mit
dem Thema Genitalverstümmelung befasst. Wir haben
dort ein Opfer angehört. Es war eine der eindrucksvollsten Schilderungen, die ich im Rahmen meiner Arbeit im
Bundestag erlebt habe. Es ist sicherlich sinnvoll, dass
aufgrund dieser Anhörung die Thematik der Verjährung
neu angesetzt wurde und im vorliegenden Antrag der
Regierungsfraktionen aufgegriffen worden ist. Die Verjährungsfrist soll für Mädchen, die von Genitalverstümmelung betroffen sind und die zum Tatzeitpunkt noch
nicht volljährig waren, verlängert werden, damit sie als
Erwachsene die Möglichkeit haben, Strafanzeige zu stellen, sodass sie tatsächlich ihr Trauma bearbeiten und im
Rahmen eines möglichen Strafprozesses ihre Erfahrung
und ihr Leid bewältigen können.
Dazu brauchen sie flankierende Maßnahmen und unsere Hilfe. Deswegen ist es wichtig, dass wir auch außerhalb des Strafrechts an diesem Thema arbeiten. Insbesondere diejenigen, die mit diesen Fragen und
möglicherweise mit betroffenen jungen Mädchen und
Frauen zu tun haben, müssen wir informieren, aufklären
und schulen. Dies sind Erzieher und Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen, Ärzte und Ärztinnen, Mitarbeiter
der Polizei und der Beratungsstellen, Mitarbeiter der Jugendämter und der Ausländerbehörden. Sie alle müssen
über diese Problematik informiert werden, damit sie,
wenn ihnen solche Fälle hierzulande bekannt werden,
frühzeitig eingreifen können.
Eine solche Vernetzung und Schulung ist auch auf internationaler Ebene notwendig. Ich denke, es ist eine
wichtige Aufgabe insbesondere der Entwicklungszusammenarbeit und der Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen, deutlich zu machen, dass die Genitalverstümmelung, die vor allem in afrikanischen
Staaten ein Problem darstellt, auf keinen Fall toleriert
werden darf.
Wir müssen uns vor Augen führen, dass nach einer
Schätzung von UNICEF weltweit circa 140 Millionen
genitalverstümmelte Frauen leben und dass jedes Jahr
circa 3 Millionen hinzukommen. Für uns in Deutschland
ist das unvorstellbar. Aufgrund der Migration gewinnt
dieses Problem aber weltweit an Bedeutung. Deswegen
ist es wichtig, unter dem Stichwort „Verjährung“ tatsächlich einen neuen Weg zu beschreiten.
Darüber hinaus muss sich der Bundestag in den
nächsten Monaten mit allen Formen von Gewalt gegen
Frauen befassen. Ich möchte, dass im Zusammenhang
mit diesem Thema auch die Situation bzw. die Finanzierung der Frauenhäuser behandelt wird. Frau Noll hat gerade eindrücklich dargestellt, dass die Traumatisierung
von Kindern infolge häuslicher Gewalt ein großes Problem ist. Daher ist es wichtig, dass Kinder, die nach Gewalterfahrungen gemeinsam mit ihren Müttern in ein
Frauenhaus gehen, dort Hilfe bekommen und, was ihre
Traumatisierung betrifft, aufgefangen werden. Bei diesem sehr ernsten Thema haben wir noch sehr viel Arbeit
vor uns. Ich hoffe, dass wir in dieser Frage auch in Zukunft konstruktiv und sachgerecht zusammenarbeiten.
({1})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Angelika
Graf das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Kollegin Renate Gradistanac wird den zweiten
Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
vorstellen. Ich möchte mich in meiner Rede einer ganz
besonders brutalen Form der Gewalt widmen, nämlich
der Genitalverstümmelung. Ich denke, das ist eine besonders schwere Menschenrechtsverletzung und, wie gesagt, eine besonders brutale Form von Gewalt gegen
Frauen.
Trotz internationaler Ächtung, zahlreicher Konventionen, langfristigen politischen Engagements, umfangreicher Projekte in den Entwicklungsländern und einer
Fatwa in Kairo aus dem Jahre 2006 ist Genitalverstümmelung immer noch ein gravierendes und hochaktuelles
Problem. Die Zahl genitalverstümmelter Frauen steigt
von Tag zu Tag; Frau Laurischk hat darauf hingewiesen.
Durch Migration und Flucht bedingt wurde die Genitalverstümmelung weltweit zu einem Thema. Schätzungen zufolge sind etwa 30 000 Frauen und Mädchen hier
bei uns von Genitalverstümmelung betroffen oder bedroht. Unsere Strategien im Kampf gegen diese frauenverachtende Praxis dürfen aufgrund der weltweiten Relevanz dieses Themas nicht an unserer Landesgrenze
oder an den Grenzen Europas haltmachen.
Nach langen Verhandlungen innerhalb der Koalition
- sie haben ein bisschen länger gedauert als erwartet ({0})
ist es uns doch noch gelungen, einen Antrag zu formulieren, der Ihnen heute vorliegt. Dabei handelt es sich um
einen umfassenden Maßnahmenkatalog, der, wie ich
denke, all die Maßnahmen beinhaltet, die wir im Augenblick gegen die Praxis der Genitalverstümmelung ergreifen können und ergreifen müssen.
({1})
Es geht um Maßnahmen in den Bereichen Strafrecht,
Forschung, Aufklärung, Beratung, Fortbildung, Prävention und Entwicklungszusammenarbeit.
Ich denke, mit diesem Antrag begegnen wir adäquat
und zielgruppengerecht den komplexen soziokulturellen
innerdeutschen und internationalen Herausforderungen
im Kampf gegen Genitalverstümmelung. Dabei wollen
wir auch die für die Opferbetreuung zuständigen Stellen
in den Bundesländern in die Pflicht nehmen.
Zur Bekämpfung von Genitalverstümmelung brauchen wir einen integrativen Ansatz, bei dem die Eltern
von Anfang an in Aufklärung, Prävention und - selbst
wenn es zu spät ist - in Beratung und Betreuung einbezogen werden. Eltern lassen ihre Töchter - das hat die
Anhörung gezeigt - ja nicht aus Böswilligkeit verstümmeln, sondern - auch wenn nichts diese Praxis in irgendeiner Form rechtfertigen kann - wegen sozialem
Druck. Deshalb muss das Thema bei den Betroffenen
aus der Tabuecke geholt werden. Dies fordern wir mit
unserem Antrag genauso wie die Sensibilisierung der
Berufsgruppen, die von Amts wegen - Polizei, Justiz,
Lehrkräfte, Ärzteschaft, Angestellte von Sozial- und Jugendämtern - mit Opfern von Genitalverstümmelung
oder mit von Genitalverstümmelung bedrohten Mädchen
und Frauen zu tun haben bzw. haben können.
({2})
Besonders wichtig war es uns von der SPD, dass wir
die in der Anhörung von vielen Nichtregierungsorganisationen und wissenschaftlichen Instituten formulierten
offenen Forschungsfragen in unserem Antrag berücksichtigen. Wir benötigen noch mehr Informationen im
Bereich der Prävention von Genitalverstümmelung. Wir
müssen herausfinden, wie wir die in Deutschland lebenden Familien, in denen das potenziell praktiziert wird
oder die bereits davon betroffen sind, mit unseren Angeboten am effektivsten erreichen.
Neben der Arbeit der NGOs ist, wie schon erwähnt,
der ressortübergreifende Ansatz sehr wichtig. Deshalb
haben wir auf die Einrichtung einer interministeriellen
Bund-Länder-NGO-Arbeitsgruppe unter der Federführung und Koordination des BMZ gedrängt. Diese Arbeitsgruppe soll sich an der Struktur und Arbeitsweise
der beiden Bund-Länder-Arbeitsgruppen „Häusliche Gewalt“ und „Frauenhandel“ des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend orientieren. Mit
diesen Arbeitsgruppen haben wir nämlich gute Erfahrungen gemacht.
Einige bedauern, dass wir keinen eigenen Straftatbestand fordern. Die derzeitige Rechtslage ist, denke ich,
Angelika Graf ({3})
dass Genitalverstümmelung als sittenwidrige und
schwere Körperverletzung
({4})
in Deutschland natürlich bereits verboten ist und infolgedessen keine irgendwie geartete Lücke besteht. Ein eigener Straftatbestand wäre meines Erachtens reine Symbolik, über deren Sinn und Zweck man sicherlich streiten
kann. In der Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend haben einige dafür plädiert,
einen eigenen Straftatbestand zu formulieren,
({5})
andere haben ein höheres Strafmaß gefordert. Bis man
mir nicht das Gegenteil beweist, will ich sagen: Mit dem
Strafrecht allein kann man kein Mädchen vor Genitalverstümmelung retten. Da hilft die Verjährung, die Frau
Laurischk angesprochen hat, eher. Sie hilft, den Opfern
den Rücken zu stärken.
({6})
Es muss darum gehen, in der Community die Einsicht
zu fördern, dass es sich bei Genitalverstümmelung um
eine schwere Menschenrechtsverletzung handelt. Deshalb fordern wir in unserem Antrag die Bundesländer
auf, die Betreuungs- und Beratungsmöglichkeiten weiter
zu erhalten. Zwangsuntersuchungen, wie sie von manchen Organisationen gefordert werden, lehnen wir definitiv ab.
Kollegin Graf, achten Sie bitte auf die Zeit.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Wir haben durchgesetzt, dass Länder wie Senegal und Ghana
bei der nächsten Gelegenheit bezüglich ihrer Einstufung
als sichere Herkunftsländer noch einmal überprüft werden.
({0})
Keine junge Frau darf von Deutschland aus in ein Land
abgeschoben werden, in dem Mädchen oder Frauen von
Genitalverstümmelung bedroht sind; das war uns extrem
wichtig.
({1})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Dr. Kirsten Tackmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Dass heute zum Thema weibliche Genitalverstümmelung Anträge von allen Fraktionen vorliegen, zeigt die Bedeutung dieses Themas. Es zeigt aber
auch, dass wir uns leider nicht auf einen gemeinsamen
Antrag einigen konnten.
Die Anträge der anderen Fraktionen haben ein anderes Grundverständnis. Auch wenn wir einzelne Forderungen durchaus unterstützen, werden wir uns bei der
Abstimmung über die anderen Anträge enthalten. Der
Ruf nach dem Strafrecht kann aus Sicht der Linken immer nur ein Teil der Lösung sein. Die Erfahrung lehrt:
Der Glaube an die Wirksamkeit von Abschreckung erweist sich meist als Illusion.
Natürlich ist Genitalverstümmelung ein Verbrechen
und muss bestraft werden; das ist völlig unstrittig.
({0})
Uns sind aber zwei weitere Ansatzpunkte wichtig:
Erstens. Der soziale Status der Frau muss nachhaltig
gestärkt werden, um eine der Ursachen weiblicher Genitalverstümmelungen anzugehen.
Zweitens. Wir müssen einen Zugang zu den Gemeinschaften bekommen. Das gelingt eher mit sensiblen Beratungsangeboten als mit Repression.
Das sind aus unserer Sicht die Voraussetzungen für
ein gesellschaftliches Umfeld, in denen Genitalverstümmelungen nicht nur nicht toleriert, sondern auch verhindert werden. Das ist ja unser gemeinsames Ziel.
Meine Fraktion Die Linke greift in ihrem Antrag in
diesem Zusammenhang noch zwei sehr konkrete Probleme auf: die geschlechtsspezifische Verfolgung als
Asylgrund und den Umgang mit weiblichen Asylbewerberinnen. Wir fordern nachdrücklich: erstens eine unabhängige, geschlechtssensible Beratung durch erfahrene
Beratungsstellen oder Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, und zwar noch vor der Erstanhörung im Asylverfahren,
({1})
zweitens, dass bei Anhörungen von Asylbewerberinnen
aus Ländern, aus denen weibliche Genitalverstümmelungen bekannt sind, diese Problematik besonders berücksichtigt wird, wozu speziell geschulte weibliche Mitarbeiterinnen des Asyl-Bundesamtes inklusive weibliche
Sprachmittlerinnen notwendig sind, und drittens, dass es
nicht als verspätetes und damit gesteigertes Vorbringen
gewertet werden darf, wenn der Fluchtgrund Genitalverstümmelung erst im Verlaufe des Asylverfahrens vorgebracht wird, was oft der Fall ist.
({2})
Hinsichtlich des Themas häusliche Gewalt lobt die
Regierungskoalition das eigene Handeln. Das ist angesichts der realen Situation, zum Beispiel der finanziellen
und personellen Notlage vieler Zufluchtstätten und Beratungsstellen, aber unangebracht. Statt sich auf die eigene
Schulter zu klopfen, sind wirkliche Handlungsstrategien
notwendig. Wie können diese Strukturen erhalten werden, und wie kann vor allem endlich die 30 Jahre alte
Forderung erfüllt werden, allen Frauen Zuflucht zu gewähren, unabhängig von ihrer sozialen Lebenslage?
Im Aktionsplan II bilanziert die Bundesregierung vor
allen Dingen bestehende Projekte, statt neue Handlungsansätze wenigstens zu skizzieren. Einzelne, zumeist regional begrenzte Projekte werden benannt, die sich den
Migrantinnen - vor allem vor dem Hintergrund der
Zwangsheirat - und behinderten Frauen zuwenden. Natürlich ist das wichtig, angesichts der aktuellen Problemlage aber völlig unzureichend.
Folgendes fehlt aus Sicht der Linken im
Aktionsplan II völlig: der Ausbau von Beratungsstellen,
die Entwicklung von sozialen Programmen für Migrantinnen, die weit über die sprachliche Förderung hinausgehen und auf die eigenständige Existenzsicherung abzielen, und eine bundesweit einheitliche Absicherung
des Zugangs zu Frauenhäusern unabhängig vom SGB II.
Davon war heute schon einmal die Rede.
({3})
Solange diese Hausaufgaben nicht gemacht und die
Opfer häuslicher Gewalt noch viel zu oft auf sich allein
gestellt sind, gibt es aus unserer Sicht eigentlich keinen
Grund dafür, dass sich die Koalition selbstgefällig auf
die Schultern klopft.
Ich denke, wir müssen dringend an diesem Thema
dranbleiben. Gerade heute haben wir eine Anhörung
zum Thema Finanzierung von Frauenhäusern vereinbart
und inhaltlich besprochen. Es ist für uns ein ganz wichtiges Thema, dass auch sozial benachteiligte Frauen Zugang zu diesen Zufluchtsstätten erhalten. Ich denke, hier
sind wir sogar einer Meinung.
Vielen Dank.
({4})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Den Stellenwert von politischen Initiativen erkennt man
an der Tageszeit, zu der sie diskutiert werden. Dass die
Frauenpolitik bei der Großen Koalition keinen großen
Stellenwert hat, haben wir schon in der letzten Woche
bei der Behandlung des Themas Lohndiskriminierung
gesehen, und das zeigt sich auch heute Abend beim
Thema Frauenrechte als Menschenrechte.
({0})
In Ihren Vorlagen, über die wir hier diskutieren, haben
Sie zahlreiche Zeilen mit warmen Worten gefüllt. Sie haben ihnen ein hübsches Make-up aufgelegt. Wenn wir
aber die Farbe abnehmen, dann bleibt nur wenig Substanz übrig.
Nach der von den Grünen initiierten Anhörung im
Bundestag zur Genitalverstümmelung haben Sie ein weiteres Jahr gebraucht, um sich auf einen Antrag zu einigen. Vollmundig haben Sie von der CDU/CSU und der
SPD in der Presse angekündigt - ich zitiere -: Wir reden
nicht nur, sondern handeln. - Na, das wäre bei Ihrer
Frauenpolitik ja eine wirkliche Neuheit.
({1})
Es hätte dem Ansehen dieses Hauses nicht geschadet,
gerade zu diesem Thema einen fraktionsübergreifenden
Antrag zu verabschieden.
({2})
Ich sehe einige gute Ansätze. Zum Beispiel sollen Bund
und Länder Fortbildungen und eine Sensibilisierung für
Polizei und Justiz anbieten. Diese Forderung haben Sie
direkt von uns übernommen. Auch die Bund-LänderNGO-Arbeitsgruppe zur zielgruppensensiblen Aufklärung sowie zur fachlichen Unterstützung von Projekten
ist ein guter Ansatzpunkt. An dieser Stelle möchte ich
der Ministerin Wieczorek-Zeul ausdrücklich danken, die
großes Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit
zu diesem Thema bewiesen hat.
({3})
Wie von uns vorgeschlagen, wollen Sie auch sicherstellen, dass Länder, in denen Genitalverstümmelungen
nicht verboten sind und nicht verfolgt werden, nicht als
sichere Herkunftsländer eingestuft werden. Aber den
Status von Ghana und Senegal wollen Sie deshalb noch
einmal prüfen. An dieser Stelle wird das Make-up wirklich bröckelig. Sie müssen das doch nicht prüfen. Sagten
Sie nicht, Sie handeln, statt nur zu reden? Wo bleibt denn
Ihr Antrag, zum Beispiel Ghana von der Liste der sicheren Herkunftsländer zu streichen? Unsere Zustimmung
wäre Ihnen gewiss.
({4})
Die Verlängerung der Verjährungsfrist zu fordern, ist
ein richtiger Schritt. Aber Sie gehen damit den zweiten
vor dem ersten. Denn zunächst muss die weibliche Genitalverstümmelung ausdrücklich ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden. Nur so würde das klare Signal an
Ärztinnen, Eltern und Opfern gesendet, dass eine solche
Menschenrechtsverletzung vom Staat nicht geduldet wird.
Zahlreiche europäische Länder haben das bereits getan,
({5})
zum Beispiel Großbritannien, Schweden, Spanien und
Italien. Die UNO empfiehlt es ihren Mitgliedstaaten.
({6})
Ich weise ausdrücklich darauf hin, Frau Noll, dass das
auch in der Anhörung zu diesem Thema alle Experten
und Expertinnen gefordert haben. Niemand hat gesagt,
die Aufnahme ins Strafgesetzbuch sei keine geeignete
Lösung. Wenn Sie nun plötzlich einwenden, bei einer
Verurteilung käme es zu einer Ausweisung der Eltern
und damit zu einem Auseinanderreißen der Familie,
dann ist das aus dem Munde einer CDU-Abgeordneten
wirklich Zynismus. So viel Empathie für die Familien
bei ausländerrechtlichen Bestimmungen wünschen wir
uns von der Union schon sehr lange.
({7})
Sehen wir der ungeschminkten Wahrheit ins Gesicht:
Das Thema ist Ihnen für eine Änderung im Strafgesetzbuch nicht wichtig genug. Sie akzeptieren lieber, dass
diese grausame Menschenrechtsverletzung, der Verlust
eines wichtigen Körperteils, mit einer Ohrfeige gleichgesetzt wird. So kommen wir nicht zusammen. Die Kollegin Graf hat vorhin festgestellt, die Genitalverstümmelung gelte als schwere Körperverletzung. Das ist
mitnichten der Fall. Wir möchten es ausdrücklich als
schwere Körperverletzung ins Strafgesetzbuch aufnehmen.
Ich resümiere: Weniger Schminke und mehr Substanz
wären die Voraussetzung für eine Zusammenarbeit gewesen. Mit einer Vielzahl an schwammigen Forderungen für den internationalen Bereich können Sie nicht
übertünchen, dass Sie für die Frauen hier kaum etwas
unternehmen werden.
Wegen einiger vernünftiger Ansätze werden wir uns
Ihrem Antrag enthalten. Eine Aufnahme ins Strafgesetzbuch und ein echter Schutz vor der Abschiebung in vermeintlich sichere Herkunftsländer bleiben für uns die
zentralen Forderungen.
Ich danke Ihnen.
({8})
Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin
Sibylle Pfeiffer.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Kollegin Schewe-Gerigk, ich möchte zunächst kurz auf Ihre Rede eingehen. Unsere Sympathie
für das Thema erkennen Sie daran, wie sorgfältig wir damit umgegangen sind. Dass letztendlich kein gemeinsamer Antrag formuliert werden konnte, lag daran, dass
Sie keine Zeit hatten.
({0})
- Ja; denn dabei ist etwas herausgekommen, das Sie
wunderbar verwenden könnten, nämlich die interministerielle Arbeitsgruppe und die Verlängerung der Verjährungsfrist. Das ist wirklich wichtig; denn damit können
wir den Frauen noch im Nachhinein die Möglichkeit geben, wenigstens ein kleines bisschen Genugtuung zu erreichen. Denn die Verletzungen - das muss ich Ihnen
nicht näher erläutern - bleiben für die Ewigkeit. Entwicklungsprojekte zu unterstützen, liebe Frau Kollegin
Schewe-Gerigk, ist Job der Entwicklungspolitiker. Das
machen wir seit Jahren.
Ich berichte Ihnen aus der Praxis für die Praxis. Ich
war vor kurzem in Äthiopien und habe dort ein Projekt
besucht, das vom EED betreut wird. Dort haben sich
5 000 Menschen, darunter auch Männer und Dorfälteste,
zu einer Community zusammengeschlossen und haben
beschlossen, diverse Themen anzugehen, zum Beispiel
Family-Planning und Nourishing, aber auch das Thema
Beschneidung. Ich habe eine Frau, die dort saß und ein
Baby auf dem Arm hatte, gefragt: Ist das ein Mädchen?
Sie hat geantwortet: Jawohl, das ist ein Mädchen. Dann
habe ich sie gefragt: Würden Sie jemals zulassen, dass
dieses Kind beschnitten wird? Sie hat geantwortet: Nein,
nie. Dann habe ich sie gefragt: Woher nehmen Sie Ihren
Mut? Darauf hat sie geantwortet: Die Community steht
hinter mir. - Genau das ist das Thema. Es gibt mittlerweile in ganz vielen Entwicklungsländern Gesetze, die
Genitalverstümmelung verbieten.
({1})
Wir können uns aber kaum vorstellen, was es heißt
und welcher maximale politische Wille sich dahinter
verbergen muss - wir reden hier von Traditionen -, gesellschaftliche Veränderungen vorzunehmen. Dieser
massive politische Wille ist im Übrigen im Bereich des
Good Governance anzusiedeln. Für Regierungen ist das
sehr schwierig, weil langwierig. Traditionen aufzubrechen, ist das Langwierigste, was wir uns vorstellen können. Wenn es uns aber gelingt, in den Entwicklungsländern à la longue etwas zu erreichen wie der EED in
Äthiopien, hat das auch Auswirkungen bei uns. Ich bin
ziemlich froh, dass ich in Deutschland geboren bin und
hier aufwachsen durfte; denn wir Frauen wissen, was es
bedeutet - ich glaube, wir alle spüren das sogar -, mit
dreckigen Glasscherben und stumpfen Rasierklingen genital verstümmelt zu werden, und das alles ohne Betäubung. Wenn es uns gelingt, dies in den Entwicklungsländern mittel- und langfristig auszumerzen, dann müssen
wir darüber hoffentlich nicht mehr reden. Maßnahmen
sind getroffen worden.
Mit unserem fraktionsübergreifenden Antrag decken
wir alles ab, was abzudecken ist. Ich denke, es ist ein guter Antrag. Sie alle können ihm zustimmen.
({2})
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Renate
Gradistanac.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zwangsverheiratung, Zwangsprostitution und
Genitalverstümmelung, jede Form von Gewalt gegen
Frauen, ob sexuell, körperlich oder seelisch, zeigen die
lange Geschichte der Diskriminierung gegen die Selbstbestimmung und Selbstachtung der Frauen auf. Deshalb
setzen sich die Vereinten Nationen, die europäische
Ebene, zum Beispiel der Europarat mit seinem Beschluss „Stoppt häusliche Gewalt gegen Frauen“, und
der Deutsche Bundestag gegen Gewalt gegen Frauen
ein.
Gewalt gegen Frauen drückt sich in allen Sprachen
der Welt aus. Aus Rumänien stammt das Sprichwort:
„Weiber sind wie Wildbret, je mehr Schläge, je besser
sind sie.“ Aus Ungarn kommt: „Einen Knochen für meinen Hund, einen Stock für mein Weib.“ Ein deutsches
Sprichwort lautet: „Eine nicht geschlagene Frau ist wie
ein ungesalzener Kohl.“
Bis 1928 gab es das Züchtigungsrecht des Ehemanns.
Fast 70 Jahre später, im Jahr 1997, wurde endlich die
Vergewaltigung in der Ehe strafbar.
({0})
Im Jahr 2002 machte das Gewaltschutzgesetz klar: Wer
schlägt, muss gehen. Wir sehen hier einen Paradigmenwechsel. Die Geschlagene kann bleiben, der Schläger
geht. Die Frauen haben nun die Wahl: Sie können zu
Hause bleiben oder in ein Frauen- und Kinderhaus gehen.
Gewaltschutz braucht Gesetze. Gewaltschutz braucht
aber auch eine Gesellschaft, die Gewalt gegen Frauen
konsequent ächtet und bekämpft. Das zu erreichen, ist
das Ziel der beiden schwarz-roten Anträge und des zweiten Aktionsprogramms.
({1})
Das umfassende Gesamtkonzept des ersten rot-grünen Aktionsplans aus dem Jahre 1999 wurde erfolgreich
umgesetzt. Der zweite Aktionsplan setzt mit seinen ehrgeizigen Maßnahmen da an, wo noch besonderer Handlungsbedarf besteht.
Präventionsarbeit muss möglichst früh ansetzen; Frau
Noll hat schon berichtet. Die erste repräsentative Studie
zur Gewalt gegen Frauen belegt, dass jedes vierte Kind
in Vorfälle häuslicher Gewalt involviert wurde und jedes
zehnte Kind selbst körperlich angegriffen wurde. Gewalterfahrungen in der Kindheit prägen das Erwachsenenleben. Um diesen Gewaltkreislauf zu durchbrechen, sind
die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Kinderschutzhäuser und Frauenhäuser von zentraler Bedeutung.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten fordern insbesondere die Länder und Kommunen auf, die
Beratungsangebote nicht weiter abzubauen, sondern auszubauen, und die Vernetzung - das geht nicht kostenneutral - zu befördern. Es ist an der Zeit, Gewalt gegen ältere Frauen und Frauen mit Behinderung verstärkt in den
Blick zu nehmen. Diese Frauen können sich vielfach
nicht aus eigener Kraft vor Gewalt schützen.
Frauen mit Migrationshintergrund werden besonders
oft Opfer von Gewalt. Überdurchschnittlich oft sind türkische Frauen betroffen: Fast die Hälfte von ihnen - das
ist wirklich dramatisch - hat bereits körperliche Gewalt
im häuslichen Umfeld erlebt. Wir Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten fordern den Ausbau von niedrigschwelligen und mehrsprachigen Beratungs- und Informationsangeboten.
({2})
Die Bundesregierung hat sich mit dem zweiten Aktionsplan verpflichtet, 133 Maßnahmen in zehn Handlungsfeldern umzusetzen. Wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten werden die Umsetzung aktiv unterstützen
({3})
und fordern an dieser Stelle das CDU-geführte Familienministerium auf, auch im eigenen Haushalt Finanzmittel
zur Verfügung zu stellen.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD mit dem Titel
„Wirksame Bekämpfung der Genitalverstümmelung von
Mädchen und Frauen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9694, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/9420 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion bei
Enthaltung der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 16/8657. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/3542 mit dem Titel „Mädchen und
Frauen vor Genitalverstümmelung schützen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP-Fraktion und
der Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3842 mit
dem Titel „Genitalverstümmelung von Mädchen und
Frauen ächten und bekämpfen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
Vizepräsidentin Petra Pau
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8657 die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4152
mit dem Titel „Weibliche Genitalverstümmelung verhindern - Menschenrechte durchsetzen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Stimmenthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu
dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
mit dem Titel „Häusliche Gewalt gegen Frauen konsequent weiter bekämpfen“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9367, in
Kenntnis des Aktionsplans II der Bundesregierung zur
Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen auf Drucksache 16/6584 den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD auf Drucksache 16/6429 anzunehmen. Wer
stimmt für dieses Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatzpunkt 7 auf:
17 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Hänsel, Monika
Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Anerkennung und Wiedergutmachung der
deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen
Deutsch-Südwestafrika
- Drucksachen 16/4649, 16/8418 Berichterstattung:
Abgeordnete Anke Eymer ({1})
Marina Schuster
Kerstin Müller ({2})
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Müller ({3}), Dr. Uschi Eid, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Angebot an die namibische Nationalversammlung für einen Parlamentarierdialog zur Versöhnungsfrage
- Drucksache 16/9708 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Staatsminister Günter Gloser.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen! Deutschland ist sich seiner historischen
und moralischen Verantwortung für Namibia bewusst.
Der Deutsche Bundestag hat dies in seinen wegweisenden Entschließungen im März 1989 und Juni 2004 bekräftigt.
Wir können das Geschehene nicht ungeschehen machen, aber wir können Namibia auf seinem Weg in die
Zukunft unterstützend begleiten. Dies tun wir eingedenk
der gemeinsamen Vergangenheit mehr als in jedem anderen afrikanischen Land.
Bereits auf dem Weg in die Unabhängigkeit 1990 hat
Deutschland als Mitglied der Fünfergruppe Namibia
ganz wesentlich unterstützt. Wir pflegen besondere Beziehungen, die sich auf vielfältiger Ebene widerspiegeln.
Der bilaterale Dialog ist umfassend und dicht. Dies gilt
nicht nur für die Regierung und die Parlamente, die Bundesländer und die Kommunalebene. Auch auf privater
und zivilgesellschaftlicher Ebene wurde ein engmaschiges Netz geflochten. Die deutschstämmige Minderheit
ist als integraler Bestandteil der namibischen Gesellschaft akzeptiert. Sie ist einer der namibischen Stämme,
so die Wortwahl des namibischen Staatspräsidenten
Pohamba.
({0})
Unsere Entwicklungshilfe für Namibia ist pro Kopf
deutlich höher als für jedes andere afrikanische Land.
Für 2007 bis 2008 haben wir 56 Millionen Euro zugesagt und damit unsere Pro-Kopf-Zahlungen für die
knapp unter 2 Millionen Einwohner verdoppelt. Auch
das sollte unterstrichen werden.
({1})
Auch bei der Entwicklungszusammenarbeit legen wir
im Einklang mit den namibischen Partnern Wert auf eine
zukunftsgerichtete Gestaltung, die der namibischen Bevölkerung als Ganzem zugute kommt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Beschluss des namibischen Parlaments vom Oktober 2006
unterstützt die von der Herero-Partei aufgestellte Forderung nach Entschädigungen. Die namibische Regierung
hat sich bis heute nicht offiziell zu diesem Beschluss geStaatsminister Günter Gloser
äußert. Sie hat lediglich mehr als ein Jahr nach dem Parlamentsbeschluss diesen Text kommentarlos übermittelt.
Der namibische Parlamentspräsident hat Ende 2007 einen Parlamentarierdialog angeboten, in dem auch dieser
Themenkomplex behandelt werden soll. Die Bundesregierung unterstützt selbstverständlich Gespräche zwischen Parlamentariern. Wir wollen aber den Eindruck
vermeiden, dass durch einen institutionalisierten Dialog
mit dem namibischen Parlament eine Anerkennung etwaiger Entschädigungsforderungen verbunden ist.
Wir haben gegenüber der namibischen Seite deutlich
gemacht, dass unsere Zusammenarbeit zukunftsgerichtet
ist. Dabei tragen wir den speziellen Bedürfnissen vor allem solcher Volksgruppen Rechnung, deren Vorfahren
unter deutscher Kolonialherrschaft in besonderem Maße
gelitten haben. So haben die Bundesregierung und die
namibische Regierung im November 2007 diese Absichtserklärung über eine Sonderinitiative in den
Siedlungsgebieten der Herero, Nama und Damara unterzeichnet. Diese Initiative hat einen Umfang von 20 Millionen Euro und soll die Lebensbedingungen in den betroffenen Gebieten verbessern. Ein Schwerpunkt liegt
dabei auf der Kommunalentwicklung. Die Projekte verfolgen einen regionalspezifischen Ansatz und werden allen Bewohnern der Region zugute kommen.
({2})
Der namibischen Regierung liegen das sozialpolitische Gleichgewicht und die nationale Versöhnung im
Vielvölkerstaat Namibia am Herzen. Mit unserem regionalspezifischen Ansatz der Sonderinitiative entsprechen
wir diesem besonderen Anliegen der namibischen Regierung. Die Deutsche Botschaft Windhuk steht in regelmäßigem Kontakt mit den traditionellen Herero-Königshäusern, aber auch mit Repräsentanten und
zivilgesellschaftlichen Vertretern der Herero. Gleiches
gilt für Vertreter anderer Bevölkerungsteile. Hauptgesprächspartner der Bundesregierung ist aber die namibische Regierung.
Im Bewusstsein der gemeinsamen Vergangenheit und
im Kontext der Gegenwart wollen wir zur Zukunft Namibias und all seiner Menschen beitragen. Ansätze, die
die Vergangenheit in den Mittelpunkt unseres Handelns
stellen wollen, verkennen die Erfolge unserer mit der namibischen Regierung eng abgestimmten Politik für die
heute in Namibia lebenden Menschen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun die Kollegin Marina Schuster für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir reden hier und heute über den Umgang mit den
Greueltaten, die in deutschem Namen vor mehr als
100 Jahren verübt wurden. Das ist kein einfaches
Thema; ganz im Gegenteil. Das liegt an dem unendlichen Leid, das deutsche Kolonialtruppen im heutigen
Namibia an den Volksstämmen der Herero und Nama
damals angerichtet haben. Wer die Berichte von damals
liest, ist auch heute noch tief erschüttert und tief betroffen über die Menschenverachtung, mit der die Kolonialtruppen gegen Teile der Bevölkerung, insbesondere gegen Herero und Nama, vorgingen. Es ist nicht das erste
Mal, dass wir hier im Deutschen Bundestag darüber reden. Es ist bereits zu unterschiedlichen Zeitpunkten
- der Herr Staatsminister hat es schon erwähnt - hier debattiert worden. Es ist richtig, dass wir uns wieder an die
blutige Niederschlagung der Aufstände erinnern; denn
die Erinnerung an diese Ereignisse darf nicht verblassen.
({0})
Der Kern der Debatte zum Umgang mit der deutschen
Kolonialvergangenheit konzentriert sich auf folgende
Frage: Wie können wir unserer historischen Verantwortung am besten gerecht werden? Mehr als 100 Jahre
nach den für uns so beschämenden Vorgängen der
deutsch-kaiserlichen Kolonialherrschaft kann man diese
Frage nicht so beantworten, als wäre diese Zeit erst gestern gewesen. Wir müssen für uns heute die Frage beantworten, wie wir am besten das heutige Namibia als Ganzes in seiner Entwicklung unterstützen. Wir wollen die
Gesellschaft in Namibia nicht spalten. Das ist der ganzheitliche Ansatz für die Zukunft, für den sich meine
Fraktion einsetzt, und das ist auch der geeignete Weg.
Denn dass es gelungen ist, eine deutsch-namibische
Freundschaft zu entwickeln, ist eine der großen kulturellen und auch politischen Leistungen unserer beiden Nationen und auch der jeweiligen Regierungen.
({1})
Die FDP hat sich in diesem Sinne immer für Namibia
und ein gutes deutsch-namibisches Verhältnis eingesetzt.
Namibia ist der jüngste Staat Afrikas, 1990 gegründet,
und Deutschland spielte - der Herr Staatsminister hat es
angesprochen - eine entscheidende Rolle bei dem Prozess der Unabhängigkeit, der fast elf Jahre gedauert hat.
Die Resolution 435, die durch die intensive Unterstützung des damaligen Außenministers Hans-Dietrich
Genscher zustande kam und nach langwierigen Verhandlungen von den Vereinten Nationen verabschiedet worden ist, hat die Grundlage hierfür gelegt.
1989 verabschiedete der Bundestag eine Erklärung,
mit der die Bundesregierung aufgefordert wurde, ihrer
besonderen Verantwortung für Namibia dadurch gerecht
zu werden, dass sie es zu einem Modellfall deutscher
Entwicklungszusammenarbeit macht. Wir bekräftigen
heute diese besondere Verantwortung für die Geschichte,
aber auch die besondere Verantwortung für die Gegenwart und die zukünftige Entwicklung Namibias.
In der Tat gibt es sehr viele Probleme zu bewältigen,
mit denen Namibia zu kämpfen hat. Die Ursache hierfür
einzig in der Kolonialvergangenheit zu sehen, wäre aber
sicherlich zu kurz gesprungen. Eine HIV-Infektionsrate
von 20 Prozent und der Rückgang der Lebenserwartung
von 60 auf 38 Jahre sprechen eine deutliche Sprache.
Welche Risiken und welche Bedeutung das für die Entwicklung Namibias hat, ist uns allen klar.
Noch ein Wort zu den vorliegenden Anträgen: Den
Antrag der Linken werden wir ablehnen. Der Antrag der
Grünen wird an den Auswärtigen Ausschuss überwiesen
werden. Aber auch diesen Antrag sieht die FDP-Fraktion
mit sehr großer Skepsis, weil er am Ende in eine ähnliche Richtung geht.
({2})
Deutschland bekennt sich zu seiner besonderen Verantwortung für Namibia. Das muss auch so bleiben. Deshalb müssen wir bei der Bewältigung der heutigen und
der kommenden Aufgaben unsere Unterstützung anbieten. Aber auch unsere historische Verantwortung entbindet uns nicht davon, klug abzuwägen, wie wir dieser im
Sinne eines integrativen Ansatzes am besten gerecht
werden können.
Herzlichen Dank.
({3})
Für die Unionsfraktion hat jetzt die Kollegin Anke
Eymer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der vorliegende Antrag legt wieder einmal den
Fokus auf ein Thema, das wir in diesem Hause schon öfter besprochen haben. Es geht um die Frage der deutschen Verantwortung im heutigen Namibia. Noch konkreter: Es geht um die Geschehnisse in den drei Jahren
von 1904 bis 1907. Wir reden also über das Vorgehen
des Deutschen Kaiserreiches gegen die Herero, die
Nama und die Damara vor 104 Jahren.
Seitdem hat sich doch manches bewegt und verändert.
Die kurze deutsche Kolonialzeit ging mit dem Kaiserreich 1918 zu Ende. Die Folgen der europäischen Kolonialzeit, die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
reichten, sind bis heute für viele aktuelle Probleme zahlreicher afrikanischer Länder mitverantwortlich.
Das alles ist bekannt, und zwar nicht erst seitdem die
vorliegenden Anträge geschrieben wurden. Wir wissen
sehr wohl um unsere koloniale Vergangenheit. Aus diesem Wissen heraus erkennen wir die Verantwortung besonders in der Zusammenarbeit mit Namibia. Denn es
geht darum, eine zukunftsgewandte bilaterale Politik mit
Namibia fortzuentwickeln. Es geht darum, an den guten
und freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia weiterzuarbeiten. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass auch die Regierung in Namibia
das so sieht.
Daher hat die Entschließung des Deutschen Bundestages von 1989 bis heute nichts an Bedeutung und Aktualität verloren. Schon zu diesem Zeitpunkt hat Deutschland die Bereitschaft zu einem besonderen Engagement
deutlich gemacht. Das entsprach und entspricht der historischen Verbindung unserer Länder. Es entspricht außerdem der ausgezeichneten bilateralen und partnerschaftlichen Zusammenarbeit, die wir pflegen.
Erinnern möchte ich an die Debatte, die wir hier im
Deutschen Bundestag anlässlich des 100. Gedenktages
der Schlacht am Waterberg geführt haben. Wenn also der
Eindruck erweckt werden sollte, über die deutschen Verbrechen an den Herero und Nama würde offiziell nicht
gesprochen, so ist das absoluter Humbug.
({0})
Natürlich wurde darüber gesprochen und wird darüber gesprochen. Es wird auch debattiert. Es wird verhandelt. Hier im Bundestag war das, wie schon erwähnt,
mehrfach der Fall. Öffentlicher geht es wohl kaum.
Die zuständige Bundesministerin, Frau WieczorekZeul, hat in Namibia im Jahr 2004 ebenfalls ganz eindeutig dazu Stellung bezogen. Es ist nicht bei einer Aussage geblieben.
Auch wenn Sie von der Linken 1989 noch nicht in
diesem Haus vertreten waren
({1})
- ich beachte die Zwischenrufe: das war schön; das waren noch Zeiten -, so können Sie in den Protokollen des
Bundestages doch nachlesen, was zwischen der Bundesrepublik und Namibia im Besonderen schon ganz offiziell besprochen wurde.
Bis zu dem vorliegenden Antrag der Linken ist wohl
niemand so schnell und unkritisch bereit gewesen, sich
einer Argumentation anzuschließen, ohne den viel größeren eigentlichen Zusammenhang sehen zu wollen. Es
ist auffällig, dass die Verantwortlichen der Herero eine
auf ihre Bevölkerungsgruppe besonders konzentrierte Entwicklungszusammenarbeit ablehnen und nach 104 Jahren
auf Ausgleichszahlungen bestehen.
Die Forderung nach einseitiger Aufarbeitung deutscher Geschichte ist jedoch nur eine Seite der Medaille.
Es geht, so möchte ich vermuten, nicht nur um die Forderungen einzelner Bevölkerungsgruppen nach massiver
finanzieller Wiedergutmachung; es geht vor allem auch
um ein drängendes Problem der namibischen Innenpolitik. Den Hintergrund bildet die gesellschaftliche Krise,
die droht, wenn Namibia seine Landreform nicht zügig
und erfolgreich umsetzen kann. Es ist das Interesse vieler Beteiligter, sich hierbei gut zu positionieren.
Es geht wohl auch um die Frage: Wem gehört das Herero-Land heute, und wem soll es zukünftig gehören?
Wer kann es sich leisten, den Grund und Boden heute zu
Anke Eymer ({2})
kaufen, Herero, Nama, San oder Ovambo oder Weiße
oder andere?
Das ist der Hintergrund, vor dem auch die Entscheidung der Nationalversammlung im Oktober 2006 und
die geänderte Position der Regierung beleuchtet werden
kann. Sich für diesen Prozess der Landreform mit ordentlichen Finanzmitteln auszustatten, ist etwas ganz anderes als die geforderte moralische Aufarbeitung deutscher Geschichte.
Diese aktuellen Hintergründe in Namibia in einem
Antrag und einer Debatte nicht zu nennen, wäre dumm
und kurzsichtig. Die Zusammenarbeit zwischen unseren
Ländern sollte nicht so einseitig und kurzsichtig sein.
Wenn überhaupt, dann geht es um eine Entwicklungszusammenarbeit mit dem Ziel, die Zukunftschancen der
namibischen Bevölkerung insgesamt zu verbessern.
({3})
Partikularinteressen zu bedienen, ist nicht verantwortbar.
Hier einen Versöhnungsdialog voranzubringen, in
dem alle Beteiligten zu Wort kommen, das arbeitet Geschichte sinnvoll auf. Hier Entwicklungszusammenarbeit auszuweiten, Berufschancen und Infrastruktur zu
fördern, gemeinsame Strategien gegen die drohende
Aidspandemie voranzutreiben, das sichert Zukunftschancen. Das ist der große Rahmen, in den die heutige
Debatte eigentlich gehört. Das ist ein Feld, in dem die
Bundesrepublik Gesprächs- und Handlungsangebote gemacht hat und weiterhin macht.
Sich einseitig zu einem Zahlmeister für wenige machen zu lassen und deutsche Geschichte nicht in einem
größeren Zusammenhang europäischer Kolonialgeschichte und deren Aufarbeitung zu sehen, das ist der
falsche Ansatz. Bei den afrikanischen Partnern - nicht
nur in Namibia - gibt es einen wichtigen Konsens. Für
eine gleichberechtigte Zusammenarbeit und für ein erstarkendes afrikanisches Selbstbewusstsein ist das offene Eingestehen von Fehlern wichtig und unverzichtbar. Dazu zählen auch die grausamen Verbrechen
deutscher Truppen in den wenigen Jahren deutscher Kolonialzeit ebenso wie die der anderen europäischen Länder. Dabei wird von afrikanischer Seite diesem offenen
Eingestehen von Fehlern weit mehr Bedeutung beigemessen als partiellen materiellen Forderungen.
Ich bin überzeugt, Deutschland wird sich auch weiterhin seiner Verantwortung gegenüber Namibia bewusst sein. Ich zweifle nicht daran, dass die Frage einer
gemeinsamen Geschichtsaufarbeitung auch vor dem
Hintergrund der Entscheidung der namibischen Nationalversammlung vom 26. Oktober 2006 in einem partnerschaftlichen Dialog zu lösen sein wird.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Hüseyin Aydin ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Australien, in Kanada und gestern in Neuseeland haben sich die
Regierungschefs bei den Ureinwohnern ihres Landes für
erlittenes Unrecht entschuldigt. Das wurde in den deutschen Medien weithin berichtet. Nur eines bekommen
wir nicht zu hören, nämlich dass sich die Bundesregierung zu den Kolonialverbrechen bekennt, die im deutschen Namen verübt worden sind. Keine Regierung von
Adenauer bis Merkel hat bis heute anerkannt, dass an
den Völkern der Herero und Nama in den Jahren 1904
bis 1908 ein Völkermord verübt wurde.
({0})
Völkermord ist ein Verbrechen, das die gemeinsame
Aufarbeitung aller Demokraten erfordert. Deshalb haben
wir im November 2006 allen anderen Fraktionen vorgeschlagen, einen gemeinsamen Antrag zur Aufarbeitung
der Kolonialverbrechen einzubringen. Keine Fraktion
hat darauf reagiert. Das zeigt Ihre Ignoranz gegenüber
der deutschen Geschichte.
({1})
Es ist gut, dass sich nun die Grünen bewegen und einen
Antrag zur Aufnahme eines deutsch-namibischen Parlamentsdialogs eingebracht haben. Das unterstützen wir.
Allerdings ist es schon etwas peinlich, wenn Frau Eid
darin als diejenige hochstilisiert wird, die als Leiterin der
SADC-Parlamentariergruppe bereits 1995 den Völkermord anerkannt habe. Tatsächlich findet sich im Protokoll ihres damaligen Namibia-Besuches kein Wort vom
Genozid. Stattdessen heißt es dort, Wiedergutmachungsforderungen seien - Zitat - „nicht akzeptabel“.
Im April hielt sich Bundestagspräsident Lammert in
Namibia auf. Selbst auf Nachfrage mochte auch er das
Wort „Völkermord“ nicht einmal aussprechen. Warum
verleugnen Bundestagspräsident, Bundesregierung und
Bundestag die historische Wahrheit? Sie haben Angst,
dass daraus rechtliche Wiedergutmachungsforderungen
abgeleitet werden könnten. Das zeigt doch nur eines,
nämlich dass diese Forderungen berechtigt sind. Warum
sollten Sie sich sonst weigern, über etwas zu sprechen,
das längst historisch bewiesen ist?
({2})
Unser Antrag zwingt Sie, sich im Bundestag zu äußern. In der ersten Lesung hatten die Regierungsparteien
nur die üblichen Ausreden wie heute parat. Angeblich
habe sich der Bundestag 1989 und 2004 in einstimmig
angenommenen Anträgen mit dem Thema beschäftigt.
({3})
Das ist falsch. In beiden Anträgen wurde zwar die besondere Verantwortung für Namibia bekräftigt. Nur
dazu, woraus sich diese Verantwortung ableitet, sagten
Sie nichts. Von einem Völkermord ist darin nicht die
Rede. Auch der Vernichtungsbefehl des Generals von
Trotha wurde verschwiegen. Ich sage: Diese Anträge
sind kein Beitrag zur Aufarbeitung der Kolonialverbrechen, sondern eine Beleidigung der Völker der Nama
und Herero.
Schließlich gibt es die Legende, die Herero seien in
dieser Frage selbst zerstritten und Chief Riruako sei isoliert. Auch das ist falsch. Die Deutsche Botschaft in
Windhuk wies die Bundesregierung im letzten Herbst
ausdrücklich darauf hin, dass sich der im Diplomatendeutsch als gemäßigt bezeichnete Chief Maharero offen
hinter die Forderung nach Wiedergutmachung gestellt
hat - ebenso wie die Vertreter der Nama. Seit Dezember
2007 gibt es dazu ein gemeinsames Positionspapier der
Repräsentanten beider Völker.
Kurzum: Die Taktik der Bundesregierung, die Opfer
des deutschen Kolonial- und Vernichtungskrieges gegeneinander auszuspielen, ist am Ende. Nama-Chief
Frederick klagte im vergangenen Monat öffentlich an Zitat -: „Meine Großmutter wurde erschossen, als sie ihr
Baby an sich drückte. Auch das Baby wurde von den
Deutschen ermordet.“ Ich sage Ihnen: Die Nachfahren
der Opfer dieser Verbrechen werden nicht ruhen, bevor
sie aus dem Mund einer Kanzlerin oder eines Kanzlers
oder des Bundestages hören: „Ich bitte im Namen des
deutschen Volkes um Verzeihung.“
({4})
Die Kollegin Kerstin Müller gibt ihre Rede zu Pro-
tokoll1). Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Brunhilde Irber für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mehr als 100 Jahre sind seit der blutigen Niederschlagung der Aufstände im damaligen
Deutsch-Südwestafrika vergangen. Die Ereignisse von
damals bestimmen nach wie vor unsere Beziehungen zur
heutigen Republik Namibia. Dass sich die Beziehungen
zwischen Deutschland und Namibia seit der namibischen Unabhängigkeit im Jahre 1990 trotzdem so
freundschaftlich und umfassend entwickelt haben, liegt
unter anderem daran, dass sich Deutschland stets zu seiner historischen Verantwortung bekannt hat.
({0})
Umso ärgerlicher ist es, dass die Linke heute versucht, aus der Vergangenheit politisches Kapital zu
schlagen. Herr Kollege, ich finde es nicht in Ordnung,
wie Sie das hier vorgetragen haben.
({1})
Ich möchte daher heute Abend die Gelegenheit nutzen,
um das deutsche Engagement für Namibia zu würdigen
und offensichtliche Missverständnisse auszuräumen.
1) Anlage 5
Grundstein für die positive Entwicklung des deutschnamibischen Verhältnisses ist die Namibia-Entschließung des Deutschen Bundestages von 1989. Der Bundestag forderte die Bundesregierung also bereits vor der
nominellen Unabhängigkeit Namibias auf, mit dem
neuen Staat eine Sonderbeziehung zu entwickeln und zu
pflegen. Ergänzt wurde diese Entschließung im Jahre
2004 durch eine Vereinbarung, in der die besondere
Verantwortung Deutschlands gegenüber Namibia ausdrücklich anerkannt wird. Deutschland hat somit seiner
kolonialen Vergangenheit im Einverständnis mit der namibischen Regierung Rechnung getragen.
({2})
Dieses Einverständnis findet seinen Ausdruck in der
Form einer besonders intensiven Entwicklungszusammenarbeit. So hat Namibia seit seiner Unabhängigkeit
im Vergleich zu anderen afrikanischen Partnerländern
sehr hohe finanzielle Zuwendungen erhalten. Die Bundesrepublik ist seit der Unabhängigkeit im Jahre 1990
der größte bilaterale Geber des Landes. Pro Kopf erhält
Namibia die meisten deutschen Entwicklungshilfemittel
von allen Ländern in Afrika.
({3})
Kennzeichnend für das deutsche Engagement ist aber
nicht nur die staatliche Entwicklungshilfe, sondern auch
eine Vielfalt privater Initiativen und Aktivitäten von
Nichtregierungsorganisationen. Das Gesamtvolumen aller deutschen finanziellen Zusagen an Namibia seit der
Unabhängigkeit beträgt mehr als 500 Millionen Euro.
Darüber hinaus leistet Deutschland als maßgeblicher
Finanzier der Gemeinschaftshilfe der EU sowie den multilateralen Entwicklungsorganisationen indirekt weitere
finanzielle Unterstützung.
Deutschland hat es nicht bei der finanziellen Unterstützung belassen. Wohl wissend, dass Geld allein das
während der Kolonialzeit erlittene Unrecht nicht ungeschehen machen kann, hat die Bundesregierung gemeinsam mit dem Deutschen Bundestag bereits vor vier Jahren eine Versöhnungsinitiative auf den Weg gebracht.
Anlässlich der Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag des
Herero-Aufstands im Jahre 2004 bat Bundesministerin
Wieczorek-Zeul im Namen der Bundesregierung die Opfer offiziell um Vergebung:
({4})
Die damaligen Gräueltaten waren das, was heute
als Völkermord bezeichnet würde … Wir Deutschen bekennen uns zu unserer historisch-politischen, moralisch-ethischen Verantwortung und zu
der Schuld, die Deutsche damals auf sich geladen
haben. Ich bitte Sie im Sinne des gemeinsamen
„Vater unser“ um Vergebung unserer Schuld. Ohne
bewusste Erinnerung, ohne tiefe Trauer kann es
keine Versöhnung geben.
So damals die Bundesministerin.
({5})
Dies könnte man mit dem Kniefall Willy Brandts in
Warschau vergleichen. Es war eine Verneigung vor dem
namibischen Volk.
({6})
Die SPD hat diese Initiative zur Versöhnung von Anfang an unterstützt. Bereits im Juni 2004 brachte sie in
der bereits erwähnten Entschließung ihr tiefes Bedauern
und ihre Trauer gegenüber den Nachkommen der Opfer
zum Ausdruck. Deshalb befürworten wir konsequent die
Bereitstellung von 20 Millionen Euro für die deutsche
Versöhnungsinitiative. Diese Mittel werden - wie Herr
Staatsminister Gloser bereits ausgeführt hat - allen
Volksgruppen zugutekommen, vor allem denen, die einst
in besonderem Maße von der deutschen Kolonialherrschaft betroffen waren. Die Fraktion Die Linke blendet
diese positiven Zeichen offensichtlich aus.
So wirft die Linke der Bundesregierung unter anderem vor, dass die von den Herero vorgebrachten Klagen
gegen deutsche Unternehmen, die an der kolonialen
Ausbeutung beteiligt waren, ohne Folgen blieben. Tatsächlich haben im September 2001 200 Herero auf der
Grundlage des Alien Tort Claims Act vor dem Bezirksgericht in Columbia, USA, drei deutsche Unternehmen
verklagt. Allerdings vergisst die Linke, dass alle Klagen
entweder zurückgenommen oder rechtskräftig abgewiesen wurden.
Anstatt auf das uns Trennende zu verweisen, wäre es
mir ein besonderes Anliegen, unsere Verbindungen mit
Namibia zu stärken. Ich wünsche mir daher für die Zukunft einen intensiven Dialog zwischen dem Deutschen
Bundestag und unseren Kollegen im namibischen Parlament.
Ein solcher parlamentarischer Dialog, der auch Vertreter der damals betroffenen Bevölkerungsgruppen einbeziehen muss, wäre ein wichtiger Impuls zu einem umfassenden gesellschaftlichen Dialog zwischen Deutschen
und Namibiern. Wir von der SPD sind hierzu bereit.
Herzlichen Dank! Herr Präsident, auch Ihnen herzlichen Dank!
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Da der Kollege Aydin vorhin ausdrücklich auf meinen
Besuch in Namibia vor wenigen Wochen Bezug genommen hat, erlaube ich mir den Hinweis, dass die gerade zitierten damaligen Äußerungen der Bundesministerin
Wieczorek-Zeul in Namibia auf alle führenden Repräsentanten dieses Staates offenkundig mehr Eindruck hinterlassen haben als auf Sie, Herr Kollege Aydin.
({0})
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Anerkennung und Wiedergutmachung
der deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen
Deutsch-Südwestafrika“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8418,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 16/4649 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Wir kommen zu Zusatzpunkt 7. Hier wird interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9708
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie hiermit einverstanden? - Das ist
offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({1})
- zu dem Antrag des Bundesministeriums der
Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 2006 - Vorlage der Haushalts- und Vermögensrechnung des Bundes
({2}) - zu der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof
Bemerkungen des Bundesrechnungshofes
2007 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes ({3})
- Drucksachen 16/4995, 16/7100, 16/7376 Nr. 3,
16/9640 Berichterstattung:
Abgeordneter Bernhard Brinkmann ({4})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Kolleginnen und Kollegen Steffen Kampeter, Bernhard
Brinkmann, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Gesine Lötzsch
und Alexander Bonde.
Die Beratung zur Entlastung der Bundesregierung für
das Haushaltsjahr 2006, die heute auf der Tagesordnung
steht, erfolgt in einem gut eingespielten Verfahren. Der
Bundesrechnungshof hat wie bisher auch umfangreiche
Prüfungen durchgeführt und zahlreiche Bemerkungen erarbeitet. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. Über die Details der Prüfungsergebnisse haben wir
in den Ausschüssen intensiv beraten. Ingesamt sind wir zu
der Auffassung gelangt, dass keinerlei Bedenken bestehen und daher die Entlastung der Bundesregierung für
2006 erfolgen kann.
Auf zwei wesentliche Aspekte, die der Bundesrechnungshof im Rahmen seiner Prüfungen angesprochen
hat, möchte ich zunächst kurz eingehen. So hat er erneut
die sogenannte Fifo-Methode bei der Inanspruchnahme
der Kreditermächtigung kritisiert, nach der bei der Kreditaufnahme zuerst die noch nicht beanspruchten Ermächtigungen des Vorjahrs in Anspruch genommen werden. Die Koalition hat diesen Bedenken Rechnung
getragen und mit dem Haushalt 2008 eine Neuregelung
im Sinne des Bundesrechnungshofs umgesetzt. Dies mag
auf den ersten Blick als eine rein bürokratische Fragestellung angesehen werden; jedoch zeigt die Neuregelung
eine neue Qualität in der Haushaltspolitik: Die Neuregelung lässt noch nicht in Anspruch genommene Kreditermächtigungen aus früheren Haushaltsjahren schneller
verfallen und stärkt daher das Budgetrecht des Parlaments in besonderer Weise.
Weiterhin hat uns der Bundesrechnungshof auf die unbefriedigende Praxis bei der Anwendung des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit hingewiesen. Die von ihm aufgezeigten Mängel können so nicht hingenommen werden.
In allen Bereichen der Bundesverwaltung muss ein wirtschaftlicher Umgang mit Haushaltsmitteln durch die Anwendung entsprechender Methoden der Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen sichergestellt sein. Daher müssen
Maßnahmen zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit eingeleitet werden. Der Bürger muss sich darauf verlassen
können, dass wir wirtschaftlich mit seinen Steuergeldern
umgehen. Die Bundesregierung ist hier gefordert, die Voraussetzungen für die uneingeschränkte Beachtung des
Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit in allen Bundesbehörden und -einrichtungen zu verschaffen.
2006 war das Jahr, in dem Deutschland - erstmals seit
2001 - mit 1,6 Prozent Anteil des gesamtstaatlichen Defizits am Bruttoinlandprodukt unterhalb der 3-ProzentGrenze des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts lag. Die Schuldenstandsquote hatte sich bei 68 Prozent des Bruttoinlandprodukts stabilisiert. Im Juni 2007
- also erst vor einem Jahr - hat daraufhin die EU das seit
2002 laufende Defizitverfahren gegen Deutschland eingestellt. Gesamtwirtschaftlich hat Deutschland dann für
2007 eine Null als Defizit an die EU melden können. Und
auch für dieses Jahr stehen die Chancen gut, diesen Wert
zu erreichen. In dieser kurzen Zeit ist es der Regierung
gelungen, vom Defizitsünder zum Musterknaben zu werden. Wir setzen hier europaweit „Benchmarks“! Das ist
die Erfolgsstory der unionsgeführten Großen Koalition.
Letztlich haben die Konsolidierungsanstrengungen
der letzten Jahre dazu geführt, dass wir endlich Licht am
Ende des Tunnels sehen: Bis spätestens 2011 wollen wir
einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorlegen, den ersten seit 1969. Dies wurde 2006 noch nicht für möglich gehalten. Damit legen wir auch den Grundstein für eine
tragfähige Lösung und den Erfolg der Föderalismusreform. Wir brauchen dringend eine wirksame Schuldenbremse, um dauerhaft eine nachhaltige Haushalts- und
Finanzpolitik umzusetzen. Dies hat uns das Bundesverfassungsgericht in seinem letztjährigen Urteil zum Bundeshaushalt 2004 bestätigt.
Konsolidierung ist aber kein Selbstzweck. Das hat etwas mit Generationengerechtigkeit zu tun. Schulden
heute bedeuten Belastungen morgen. Statt unsere Kinder
mit Zins- und Tilgungslasten auf einem riesigen Schuldenberg sitzen zu lassen, müssen wir gegensteuern. Nur
so schaffen wir die notwendigen Freiräume, um zukunftsgerichtete Investitionen zu ermöglichen und unsere Bürger bei der Abgaben- und Steuerlast wirksam zu entlasten.
Von den im letzten Jahr geschätzten Steuermehreinnahmen für die Jahre 2007 bis 2011 in Höhe von etwa
100 Milliarden Euro haben wir rund 60 Prozent zur Konsolidierung genutzt. Jedoch gehören zum politischen
Dreiklang der Großen Koalition auch das Investieren und
das Reformieren. Daher haben wir auch einen Teil der
Steuermehreinnahmen investiert, zum Beispiel zur Stabilisierung der Beitragssätze bei der gesetzlichen Krankenversicherung und damit zur Senkung der Lohnnebenkosten. Aber auch andere zukunftsgerichtete Investitionen
haben wir angestoßen, wie in Forschung und Bildung, für
die Betreuung der unter Dreijährigen oder in entwicklungs- und klimapolitische Leistungen. Insgesamt haben
wir so die Investitionen gegenüber dem Jahr 2006 um
rund 10 Prozent steigern können. Auch finanzieren wir
aus den genannten Steuermehreinnahmen die bereits beschlossenen Ausgaben wie BAföG- oder Wehrsolderhöhungen oder die Tarifanhebungen im öffentlichen Dienst.
Die Unternehmensteuerreform 2008 und andere Reformvorhaben der Großen Koalition der jüngsten Zeit
tragen dazu bei, die Grundlage für das insgesamt günstige Wirtschaftswachstum zu legen. Die Konjunktur hat
sich überraschend robust gezeigt und bisher die Turbulenzen um Finanzmarktkrise, Energiepreiserhöhung und
starken Euro erfreulich gut gemeistert. Dank unserer Politik ist die Wirtschaft gut aufgestellt. Insgesamt ist die
Entlastung von Unternehmen und Beschäftigten seit 2006
deutlich vorangeschritten. So wurde auch der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung von ursprünglich
6,5 Prozent auf jetzt 3,3 Prozent nahezu halbiert. Weitere
Senkungen streben wir an.
Dies alles trägt zur Verbesserung der Nachhaltigkeit
unserer Finanzen bei. Das ist auch dringend notwendig,
wollen wir unseren Kindern und Enkeln nicht einen
Trümmerhaufen hinterlassen. Der Nachhaltigkeitsbericht des Bundesfinanzministers, der Anfang Juni veröffentlicht wurde, bestätigt dies. Er zeigt aber auch auf,
dass wir begonnene Reformen nicht einfach zurückschrauben dürfen, wenn wir unseren Erfolg nicht gefährden wollen. Vielmehr bestätigt dies, dass Reformen greifen und wir an dieser Stelle nicht stehen bleiben dürfen.
Obwohl wir uns heute mit dem Jahr - genauer gesagt
dem Haushaltsjahr 2006 - befassen, sind die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes und die Beratungen des
Rechnungsprüfungsausschusses hierzu keineswegs rückwärtsgewandt, geht es doch darum, Maßnahmen einzuleiten, die in der Zukunft ihre positive Wirkung entfalten
sollen.
Nach der entsprechenden Beschlussfassung im Ausschuss wird es in einer Vielzahl von Fällen dazu kommen,
dass Organisationsstrukturen verbessert, Konzepte überprüft, Verfahren gestrafft und überarbeitet, Ansatzpunkte
der Fachaufsicht geschärft, finanzielle Rückforderungen
Zu Protokoll gegebene Reden
Bernhard Brinkmann ({0})
des Bundes eingeleitet oder Arbeitsgruppen zur Lösung
komplexer Sachverhalte eingerichtet werden.
Neben solchen konkreten Einzelfällen, die ein Ressort
oder auch das Handeln einer bestimmten Behörde betreffen, finden sich stets übergreifende Aspekte. In seinen aktuellen Bemerkungen hat der Bundesrechnungshof erneut
die Verpflichtung zu angemessenen Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen für alle finanzwirksamen Maßnahmen
hervorgehoben. Diese Verpflichtung folgt aus dem Gebot
der Wirtschaftlichkeit, das mit seiner Nennung in Art. 114
Abs. 2 des Grundgesetzes Verfassungsrang hat. Hier haben die Prüfungen manchen Mangel ans Licht gebracht.
Die Beratung im Ausschuss hat jedoch nicht nur zu
dem Ergebnis geführt, dass alle Bundesministerien aufgefordert werden, für noch sachgerechtere und nachvollziehbarere Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen bezüglich
jeder finanzwirksamen Maßnahme in ihrem Geschäftsbereich zu sorgen. Vielmehr wurde auch festgestellt, dass
Mängel bei den Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen ihre
Ursachen auch darin haben, dass Regelungen und Anforderungen unklar, zu kompliziert, nicht eingeübt oder
schlicht nicht bekannt sind. Daher ist die Bundesregierung aufgefordert, hier ressortübergreifend Verbesserungsansätze aufzuzeigen. Dies können Eckpunkte im
Verfahren, eine verbesserte Methodik oder auch Überlegungen zu einem IT-gestützten Verfahren sein. Gefordert
sind in diesem Kontext betriebswirtschaftliche Qualifikationen in der Verwaltung und ein gezielter Einsatz gebündelten Wissens über Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen.
Die Beschlüsse, die im Rechnungsprüfungsausschuss
zu diesem Punkt und auch in der weit überwiegenden
Zahl der übrigen Fälle gefasst wurden, erfolgten einvernehmlich. Auch wenn in Einzelfällen - insbesondere
wenn es um gesetzgeberische Maßnahmen ging, die der
Bundesrechnungshof angeregt hatte - politische Grundsatzpositionen der Fraktionen ein solches Einvernehmen
nicht erlaubten, ist doch die vielfach erzielte Einigkeit ein
Beleg dafür, dass hier tatsächlich parlamentarische Kontrolle des Regierungshandelns stattfindet.
Von übergreifender Bedeutung ist stets auch die Analyse der finanzwirtschaftlichen Entwicklung, die die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes liefern. Positiv ist
hier zunächst der weitere Rückgang der Nettokreditaufnahme zu verzeichnen. Im Rahmen der laufenden Finanzplanung soll - und an diesem Ziel gilt es festzuhalten - bis
2011 erstmals wieder ein ausgeglichener Bundeshaushalt
ohne weitere neue Schulden erreicht werden. Auch im
Hinblick auf die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion entwickeln sich die Kennzahlen positiv. Die
Quote für das Verhältnis zwischen dem öffentlichen Defizit und dem Bruttoinlandsprodukt lag mit 1,6 Prozent
erstmals seit 2001 wieder deutlich unter dem Referenzwert von 3 Prozent. Das Verhältnis zwischen dem öffentlichen Schuldenstand und dem Bruttoinlandsprodukt liegt
jedoch - obwohl ebenfalls rückläufig - mit 66 Prozent immer noch über dem Referenzwert von 60 Prozent.
Diese weitgehend positive Entwicklung kann allerdings über die weiterhin bestehenden strukturellen Probleme des Haushalts nicht hinwegtäuschen. Die konsumtiven Ausgaben übertreffen die Investitionen um ein
Mehrfaches. Sozial- und Zinsausgaben sind dabei die
beiden größten Ausgabenblöcke. Daher gibt es insbesondere im Bereich der konsumtiven Ausgaben zum Konsolidierungskurs der großen Koalition keine Alternative.
2006 lag die Nettokreditaufnahme immer noch um
5,2 Milliarden Euro über den Investitionsausgaben von
22,7 Milliarden Euro. Dafür lassen sich gute Gründe benennen, die dies als zur Abwehr einer drohenden Störung
des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts notwendig
erscheinen lassen. Das ist allerdings auch ein weiterer
Beleg dafür, dass die Kreditbegrenzungsregel des Grundgesetzes in der Praxis weitgehend wirkungslos bleibt.
Dieser Umstand führt unmittelbar zur Arbeit der Föderalismuskommission, die einheitliche Schuldengrenzen für
Bund und Länder vorschlagen wird. Nur stringente und
überprüfbare Anforderungen werden eine Ausweitung
der Neuverschuldung in der Zukunft wirksam eindämmen
können. Die von Peter Struck und Ministerpräsident
Günther Oettinger vorgelegten Eckpunkte weisen hier in
die richtige Richtung. Allerdings sind noch zahlreiche
Fragen offen, und die Zeit drängt, um in der laufenden
Wahlperiode zu einem Ergebnis zu gelangen. Die Arbeit
des Bundesrechnungshofes allein kann eine Konsolidierung des Bundeshaushalts nicht herbeiführen. Auch wenn
alle seine Vorschläge für Minderausgaben und Mehreinnahmen realisiert werden könnten, ließen sich Verbesserungen in einer Größenordnung von lediglich 2 bis
3 Milliarden Euro realisieren. Bei den strukturellen Problemen, die weit größer sind, kann der Bundesrechnungshof nur auf die Probleme hinweisen.
Die Beratungen in der Föderalismuskommission und
im Rechnungsprüfungsausschuss berühren einander
auch in einem weiteren zentralen Punkt: Der Bundesrechnungshof stellt bei seinen Prüfungen im Bereich der
Allgemeinen Finanzverwaltung immer wieder Mängel
und Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen
Bund und Ländern bei der Steuererhebung fest. Die Hintergründe sind vielfältig. Kern der Problematik sind jedoch die ausgesprochen verflochtenen Strukturen zwischen Bund und Ländern.
Die Länder vollziehen hier die entsprechenden Bundesgesetze. Sie sind auch für den Behördenaufbau und
das Personal zuständig und müssen die entstehenden
Kosten tragen. Allgemeine Verwaltungsvorschriften kann
der Bund nur mit Zustimmung des Bundesrates erlassen.
Nach der ersten Stufe der Föderalismusreform ist immerhin klargestellt, dass das Bundesministerium der Finanzen allgemeine fachliche Anweisungen, gemeinsame Vollzugsziele, einheitliche Verwaltungsgrundsätze und
Vorgaben zum Einsatz von IT-Programmen erlassen
kann. Dies gilt jedoch nur, wenn nicht die Mehrheit der
Länder widerspricht. Dadurch sind auch weiterhin komplizierte und langwierige Abstimmungsprozesse erforderlich. Die Länder vertreten dabei - berechtigterweise ihre eigenen Interessen.
Der gegenwärtige Länderfinanzausgleich veranlasst
sowohl Geber- als auch Nehmerländer, jeweils die eigene
Steuerkraft zu schonen. Durch den Vollzug der Steuergesetze soll die Wirtschaft des eigenen Landes möglichst gefördert werden. Sparzwänge haben unter anderem in den
Zu Protokoll gegebene Reden
Bernhard Brinkmann ({1})
Finanzämtern dazu geführt, dass der Personalbestand
seit 2000 um fast 13 Prozent reduziert worden ist, obwohl
Aufgaben und Anforderungen nicht gesunken sind.
Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich,
dass in den Eckpunkten zur zweiten Stufe der Föderalismusreform die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern angegangen wird. Wenn es hier
gelingt, Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung klar
auf die einzelnen Ebenen zu verteilen, verbindliche sowie
einheitliche Standards zu etablieren und Doppelarbeit zu
vermeiden, kann bereits eine Menge erreicht werden.
Weitergehende Empfehlungen wie die nach der Einrichtung einer Bundessteuerverwaltung beinhalten zwar die
Aussicht auf weit bedeutendere Verbesserungen und sollten daher für die weitere Diskussion im Auge bleiben.
Eine - auch nur mittelfristige - Umsetzung dieser Pläne
würde jedoch weitreichende Einschnitte und Umgestaltungen der etablierten Strukturen erfordern.
Wir sollten daher so zeitnah wie möglich umsetzen,
was machbar und sachdienlich ist. Denjenigen, die das
als Stückwerk kritisieren, sei gesagt, dass große Konzepte, deren Umsetzung dann auf halbem Wege stecken
bleiben, weniger bewirken, als kleinere aber in naher Zukunft zu erreichende Fortschritte.
Lassen Sie mich abschließend noch festhalten, dass
der Bundesrechnungshof bei seiner Prüfung der Jahresrechnung 2006 keine für die Entlastung wesentlichen Abweichungen festgestellt hat und Einnahmen und Ausgaben fast ohne Ausnahme ordnungsgemäß belegt waren.
Die Bundesregierung hat zudem versichert, sie werde die
gefassten Beschlüsse und die Anregungen des Bundesrechnungshofes mit allen Ressorts gemeinsam umsetzen.
Der Rechnungsprüfungsausschuss wird diesen Prozess
verfolgen und begleiten. Einer Entlastung der Bundesregierung steht daher nichts entgegen.
Ich bitte um Ihre Zustimmung und bedanke mich für
Ihre Aufmerksamkeit.
Der Bundesetat für das Jahr 2006 ist ein Sinnbild der
grundsätzlich verfehlten Haushaltspolitik der Großen
Koalition. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache:
Aufgrund steigender Steuereinnahmen lagen die Einnahmen mit 233 Milliarden Euro fast 10 Milliarden höher
als in der Planung veranschlagt. Trotz dieser positiven
Entwicklung nahm die Regierung immer noch fast
28 Milliarden Euro neue Schulden auf - und verstieß damit erneut gegen das Grundgesetz. Die Summe der Neuverschuldung darf nach der Verfassung nicht höher als
die Ausgaben für Investition liegen. 2006 wurden
22,7 Milliarden Euro investiert - die Neuverschuldung
lag also mehr als 5 Milliarden Euro über dem erlaubten
Wert. 2006 war damit das fünfte Jahr in Folge, in dem
diese Regelkreditgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes
überschritten wurde!
Eigentlich ein Fall für das Bundesverfassungsgericht.
Das Gericht hat schon in seiner Entscheidung zur Klage
von FDP und Union zum Haushalt 2004 festgestellt: „An
der Revisionsbedürftigkeit der geltenden verfassungsrechtlichen Regelungen ist gegenwärtig kaum noch zu
zweifeln“: In der Tat hat sich der Art. 115 des Grundgesetzes als völlig zahnloser Tiger zur Begrenzung der Neuverschuldung erwiesen. Die Folge: Der öffentliche Schuldenberg wächst und wächst. Aktuell sind die öffentlichen
Haushalte mit rund 1,5 Billionen verschuldet. Das bedeutet, dass jeder Bundesbürger, vom Baby bis zum Greis, mit
über 18 000 Euro in der Kreide steht.
Diese Schulden, die wir heute aufbauen, müssen zukünftige Generationen über noch höhere Steuern abbezahlen. Schon jetzt werden im Bundeshaushalt über
40 Milliarden Euro nur für Zinszahlungen ausgegeben.
Das ist nach den Sozialausgaben der zweitgrößte Ausgabenposten. Diese ständig steigenden Lasten aus der Vergangenheit nehmen uns den Spielraum für Investitionen
in die Zukunft, für dringend benötigte Investitionen in Bildung, Infrastruktur oder Klimaschutz.
Angesichts dieser Situation ist ein radikales Umdenken in der Schuldenpolitik nötig. Wir müssen endlich aufhören, unsere Ausgaben über immer neue Schulden zu finanzieren. Die Kreditaufnahme darf nicht länger ein
normales Instrument zur Finanzierung der Staatsausgaben sein. Die FDP fordert ein striktes Verbot der Neuverschuldung - im Grundgesetz festgeschrieben. So schaffen
wir eine klare und unmissverständliche Regel: Der Staat
darf nur das ausgeben, was er einnimmt!
Umso enttäuschender ist das, was die beiden Vorsitzenden der Föderalismuskommission am Montag vorgelegt haben. Schuldenmachen soll bis zu einem bestimmten
Grenzwert der Wirtschaftsleistung erlaubt bleiben. Das
heißt: Bessere Wirtschaftsleistung gleich höhere Schulden. Ein völlig untauglicher Vorschlag. Auch für den
Staat gilt der alte Satz: Spare in der Zeit, so hast du in der
Not.
Übrigens: Der von Finanzminister Steinbrück vorgeschlagene Wert von 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung
würde bedeuten, dass der Bund immer noch über 14 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen dürfte - ein Fortschritt ist das also nicht. Einen endgültigen Vorschlag
soll nun eine Arbeitsgruppe erarbeiten, ganz nach dem
Motto: „Wenn ich nicht mehr weiterweiß, dann gründ’
ich einen Arbeitskreis“. Hier zeigt sich, dass Union und
SPD kaum mehr die Kraft haben, wichtige Entscheidungen für unser Land gemeinsam zu treffen.
Noch aber kann mit Mut und Weitsicht eine Reform für
mehr Generationengerechtigkeit geschaffen werden. Die
Kommission muss jetzt möglichst schnell einen Gesetzentwurf vorbereiten, in den das von der FDP geforderte
Verschuldungsverbot eingearbeitet wird. Nicht nur bei
der Verschuldung brauchen wir dringend einen Mentalitätswechsel, auch in der Frage der sparsamen Verwendung von Steuergeldern gibt es noch viel zu tun.
In seinen Bemerkungen nennt der Bundesrechnungshof eine Reihe von Beispielen von teilweise verantwortungsloser Geldverschwendung zulasten des Steuerzahlers. 85 Prozent der vom Rechnungshof geprüften
Behörden haben keine Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen angestellt, bevor Gelder für Projekte ausgegeben
wurden. Die Folge: Überflüssige Millionenausgaben in
allen Bereichen. Die Regierung muss Verfahren entwickeln, um die Wirtschaftlichkeit ihrer Ausgaben streng zu
Zu Protokoll gegebene Reden
überprüfen. Es handelt sich schließlich um das Geld der
Steuerzahler.
Sparsamkeit bei den Ausgaben und eine grundlegende
Reform der Einnahmen - das sind die Eckpfeiler einer soliden Haushaltspolitik.
Die Bundesregierung ist nicht willens, eine ordnungsgemäße Haushaltsführung zu gewährleisten. Die Bundesregierung organisiert ihre Arbeit nicht effizient und neigt
zur Verschwendung von Steuermitteln.
Dafür einige Beispiele: Im November 2006 hat der
Bundesrechnungshof festgestellt, dass Einkunftsmillionäre in einigen Bundesländern nur alle 30 Jahre geprüft
werden. Warum? Sind die Prüfungen so unergiebig?
Nein, im Gegenteil. Jede Prüfung bringt im Durchschnitt
135 000 Euro in die Steuerkassen. Man sollte meinen, das
wäre für den Bundesfinanzminister und die Länderfinanzminister Anlass, die Prüfungsanstrengungen zu verstärken. Doch weit gefehlt. Der Bundesfinanzminister
fürchtete angeblich mehr Bürokratie und lehnte jede Veränderung der Prüfungspraxis ab. Wenn man sich vorstellt, welche bürokratischen Monster diese Regierung
hervorgebracht hat, dann ist diese Position schon mehr
als anrüchig.
Besonders leichtfertig ist die Bundesregierung gegenüber den Wünschen der Bundeswehr. Da ist fast alles
möglich, was gegen den gesunden Menschenverstand
verstößt. So wurden zum Beispiel Schulungshubschrauber beschafft, die für die Schulung nicht verwendbar sind.
Es wurde ein Verwundetentransportsystem gekauft, das
für Lufttransporte nicht einsatzfähig ist. Verantwortliche
für dieses Desaster konnte und wollte die Bundesregierung nicht ausmachen. Verschwendung blieb wieder folgenlos.
Bei manchen Vorgängen kann man einfach nicht glauben, dass nur Verschwendung dahintersteckt. So wurden
zum Beispiel für die Abfertigung von Lufttransporten
nach Afghanistan von der Bundeswehr in den Jahren
2005 und 2006 insgesamt 2 Millionen Euro an gewerbliche Anbieter gezahlt, obwohl ihre eigene Luftumschlagskapazitäten seit Jahren nicht ausgelastet sind. Der Witz
ist, dass die Bundeswehr gar nicht weiß, welchen Bedarf
sie an Luftumschlagsleistungen hat. Sie hat nicht einmal
ein Konzept, wie die Luftumschlagleistungen mit eigenen
und gewerblichen Kapazitäten gedeckt werden können.
Das ist unglaublich.
Doch nicht nur die Bundeswehr ist verschwenderisch
im Umgang mit Steuermitteln. Der Bund gab 29 Millionen Euro für das Kunst- und Kulturprogramm zur Fußballweltmeisterschaft aus. Dafür wurden viele Vereinbarungen geschlossen. Unverständlich ist, dass für 20 nur
mündlich abgeschlossene Vereinbarungen eine genaue
Dokumentation fehlt. Jeder Vereinskassierer muss für jeden Bleistift, den er kauft, eine Dokumentation anlegen,
doch wenn es um 29 Millionen Euro geht, da kann man
schon mal ungenaue mündliche Absprachen treffen.
Nichts gegen Fußball - alle hatten viel Spaß während der
Fußball-WM - doch nach der Party müssen die Rechnungen trotzdem stimmen.
Das waren nur einige kleine Beispiele, die exemplarisch zeigen, wie gleichgültig und verschwenderisch die
Bundesregierung mit Steuermitteln umgeht. Die Liste solcher Beispiele ist lang und es ist nicht das Bemühen bei
der Bundesregierung zu erkennen, diese Liste abzuarbeiten. Die Linke wird deshalb einer Entlastung der Bundesregierung nicht zustimmen.
Der Haushaltsausschuss und der Rechnungsprüfungs-
ausschuss haben der Bundesregierung für den Bundes-
haushalt 2006 die Entlastung erteilt. Formal betrachtet,
also nach Bewertung der Ordnungsmäßigkeit der Haus-
halts- und Wirtschaftsführung, ist die Entlastung in Ord-
nung.
Die politisch-inhaltliche Bewertung des Zahlenwerks
Haushalt 2006 allerdings muss deutlich kritischer ausfal-
len. Die Große Koalition hat mit dem Bundeshaushalt
2006 eine wichtige Chance vertan. Sie hat die positive
wirtschaftliche Entwicklung und die steigenden Steuer-
einnahmen nicht für eine haushaltspolitische Konsolidie-
rungspolitik genutzt.
Vor einem Jahr kritisierte der Kollege Fuchtel an die-
ser Stelle: „Aus Sicht unserer Enkel dürfte das Haushalts-
ergebnis 2005 später einmal als Beitrag zur Belastung
der künftigen Generationen eingeordnet werden.“ Rück-
blickend gewinnt man den Eindruck, dass dies keine Kri-
tik, sondern eine Ankündigung für den Haushalt 2006
war. Denn das Ergebnis des ersten von der Großen Ko-
alition verantworteten Haushalts schränkt den Gestal-
tungsspielraum zukünftiger Generationen erheblich ein.
Die Große Koalition ist mit großen Ankündigungen in der
Haushaltspolitik angetreten, doch sie hat die haushalts-
politischen Risiken in diesem Bundeshaushalt nicht ent-
schärft. Sie verlagert die Risiken vielmehr in die Zukunft.
Ausgerechnet in einem Jahr mit positiver Wirtschafts-
und Steuerentwicklung lag die Nettokreditaufnahme um
5 Milliarden Euro über den Investitionsausgaben. Der
Bundesrechnungshof bezeichnet dies in seinem Bericht
zum Haushaltsergebnis 2006 als „Beleg für eine weitge-
hende Unwirksamkeit der verfassungsrechtlichen Kredit-
begrenzungsregel“. Dieser Satz sollte uns zu denken ge-
ben.
Eine ehrliche Betrachtung des Haushalts 2006 zeigt:
Die 3 Prozentpunkte Erhöhung des allgemeinen Umsatz-
steuersatzes und des Regelsatzes der Versicherungsteuer
im Haushaltsjahr 2006 sind nahezu komplett in Haus-
haltslöcher geflossen. Die Absenkung des Beitrags zur
Arbeitslosenversicherung wurde durch beschlossene Bei-
tragssatzsteigerungen und erhebliche Beitragssatzrisiken
in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung
wieder aufgezehrt. Diese Politik einer fehlenden Konso-
lidierung im Haushalt 2006, einer massiven Ausweitung
der Nettokreditaufnahme, einer Mehrwertsteuererhö-
hung, die Haushaltslöcher stopft, und eines zu erwarten-
den Nullsummenspiels bei den Sozialversicherungsbei-
trägen ist keineswegs nachhaltig und zukunftsweisend.
Daran ändert auch nichts, dass die Große Koalition ihre
Haushalts- und Finanzpolitik regelmäßig als zukunfts-
weisend zu verkaufen versucht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Durch gezielte Anstrengungen, konkrete Konsolidie-
rung und Haushaltsdisziplin hätten sich durch verschie-
dene Maßnahmen in jedem Ministerium in der Summe
große Etatverbesserungen realisieren lassen. Kurzfristig
umsetzbar im Haushaltjahr 2006 waren Ausgabenkür-
zungen in einer Höhe von rund 2,3 Milliarden Euro.
Durch den Abbau von Steuervergünstigungen und Sub-
ventionen wäre darüber hinaus eine kurzfristige Verbes-
serung des Haushaltes 2006 um weitere 2 Milliarden
Euro möglich gewesen, aufwachsend auf rund 4,5 Mil-
liarden Euro in kommenden Haushaltsjahren. Das durch
die Grüne Bundestagsfraktion vorgelegte Zukunftshaus-
haltsgesetz unterbreitet der Haushaltspolitik klare Vor-
schläge, wie durch konjunkturgerechtes Wirtschaften
über einen Konjunkturzyklus hinweg ein Haushaltsaus-
gleich möglich ist. Die Lektüre dieses Gesetzentwurfs sei
den Politikern der Großen Koalition noch einmal wärms-
tens empfohlen. Politisch bequemer für die Koalition ist
es aber augenscheinlich, sich am Strohfeuer eines durch
unnötig hohe Neuverschuldung positiv erscheinenden
Haushalts 2006 zu wärmen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Haus-
haltsausschusses auf der Drucksache 16/9640.
Unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung schlägt der
Haushaltsausschuss die Erteilung der Entlastung für das
Haushaltsjahr 2006 vor. Sie finden sie auf den
Drucksachen 16/4995 und 16/7100. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Möchte sich hier jemand der Stimme enthalten? - Dann
ist das mit großer Mehrheit des Hauses so beschlossen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Haushaltsausschuss, die Bundesregierung aufzufordern,
a) bei der Aufstellung und Ausführung der Bundeshaus-
haltspläne die Feststellung des Haushaltsausschusses zu
den Bemerkungen des Bundesrechnungshofes zu befol-
gen, b) Maßnahmen zur Steigerung der Wirtschaftlich-
keit unter Berücksichtigung der Entscheidungen des
Ausschusses einzuleiten oder fortzuführen und c) die Berichtspflichten fristgerecht zu erfüllen, damit eine zeitnahe
Verwertung der Ergebnisse bei den Haushaltsberatungen
gewährleistet ist. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Stimmt jemand dagegen? - Möchte sich jemand
der Stimme enthalten? - Dann ist bei Stimmenthaltung
der Faktion Die Linke diese Beschlussempfehlung im
Übrigen mit den Stimmen der anwesenden Kolleginnen
und Kollegen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Priska Hinz
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sorgerechtsregelung für Nichtverheiratete
reformieren
- Drucksache 16/9361 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Dazu
stelle ich Einvernehmen fest. Hier handelt es sich um die
Beiträge der Kolleginnen und Kollegen Ute Granold,
Christine Lambrecht, Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, Jörn Wunderlich, Ekin Deligöz und
Bundesministerin Brigitte Zypries.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9361 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich vermute, Sie sind
damit einverstanden. - Das ist der Fall. Dann haben wir
so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 20 a
und 20 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Hübinger, Ilse Aigner, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Gesine Multhaupt,
Jörg Tauss, Willi Brase, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Qualitätssicherung im Wissenschaftssystem
durch eine differenzierte Gleichstellungspolitik vorantreiben
- Drucksache 16/9756 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Frauen auf dem Sprung in die Wissenschaftselite
- Drucksache 16/9604 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wie die Tagesordnung bereits ausweist, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar die Reden
von Anette Hübinger, Gesine Multhaupt, Cornelia
Pieper, Dr. Petra Sitte und Krista Sager.
Die zum Thema „Frauenförderung im deutschen Wis-
senschaftssystem“ vorliegenden Anträge von allen im
Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen zeigen mir
Folgendes: Erstens, ich nehme erfreut zur Kenntnis, dass
ausnahmslos alle Fraktionen dieses Hauses die Wichtig-
keit des Themas erkannt haben und durch Ihre Anträge
Wege aufzeigen, wie die Förderung von Frauen in der
1) Anlage 6
Wissenschaft zukünftig verbessert werden kann. Zweitens, auf Basis des umfangreichen vorliegenden Datenmaterials ist die Bewertung des Ist-Zustandes in dieser
Frage vonseiten der verschiedenen Fraktionen des Deutschen Bundestages nahezu deckungsgleich. Drittens, die
Rückschlüsse in Bezug auf das bisher Erreichte und die
zukünftig notwendigen Maßnahmen zur Verbesserung der
Repräsentanz von Frauen im deutschen Wissenschaftssystem sind dagegen in den wichtigsten Punkten diametral verschieden.
Grundsätzlich muss anerkannt werden, dass die kontinuierlichen Bemühungen von Bund, Ländern, Hochschulen sowie Wissenschaftsorganisationen zu messbaren
Erfolgen in Bezug auf die Teilhabe von Frauen in verschiedenen akademischen Qualifikationsstufen geführt
haben. Besonders erfreulich ist, dass heute unter den Studierenden Frauen und Männer gleich stark vertreten
sind. Diese Erkenntnis, sehr verehrte Kolleginnen und
Kollegen, vermisse ich in allen vorliegenden Anträgen
der Oppositionsparteien.
Trotz der bisherigen Erfolge ist es aber unstrittig, dass
aus dem vorliegenden statistischen Zahlenmaterial zum
Ist-Zustand der Beteiligung von Frauen in der Wissenschaft eindeutig Defizite erkennbar sind. Zu Recht wird
kritisiert, dass Wissenschaftlerinnen an bestimmten Stellen das Wissenschaftssystem verlassen, leaky pipeline.
Des Weiteren kann es uns nicht zufriedenstellen, dass sich
zu wenige junge Frauen für einen technologisch bzw. naturwissenschaftlich ausgerichteten Studiengang entscheiden. Allein diese beiden Befunde zeigen deutlich:
Die zu bewältigenden Herausforderungen bei der vorliegenden Thematik sind erstens vielfältig und zweitens nur
durch eine differenzierte, breit gefächerte Gleichstellungspolitik zu meistern. Diese Auffassung spiegelt sich
im Antrag der Großen Koalition wider.
Zu kurz greift meines Erachtens in diesem Zusammenhang das immer wieder ins Spiel gebrachte „Allheilmittel“ der Quote. Dem breiten Problemspektrum in Fragen
der Gleichstellung im Wissenschaftssystem werden solche Zwangsregelungen in keinster Weise gerecht!
Nichts anderes als eine Quote ist auch die Forderung
nach der Einführung des sogenannten Kaskadenmodells.
Wenn als Bezugsgröße bei der Besetzung von Stellen jeweils mindestens der Anteil von Frauen auf der direkt
vorhergehenden Qualifikationsstufe dient, dann ist dies
zwar eine flexiblere Quote als es vielleicht noch in den
70er-Jahren diskutiert wurde, aber es bleibt eine Quote
unter dem Deckmantel einer neuen Bezeichnung. Dass
vonseiten der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen
vehement das Kaskadenmodell gefordert wird, überrascht mich nicht; dass allerdings die FDP in die gleichen Denkmuster verfällt, überrascht nicht nur - es enttäuscht.
In ihren Anträgen nehmen alle Fraktionen Bezug auf
das Kaskadenmodell. Es kommt allerdings entscheidend
darauf an - und dies betone ich ausdrücklich - in welcher
Form dies geschieht. Die CDU/CSU-Fraktion hält die
flächendeckende Einführung des Kaskadenmodells für
den falschen Weg. Allerdings kann die Orientierung am
Grundprinzip des Kaskadenmodells, zum Beispiel bei
Selbstverpflichtungen, sinnvoll sein, und dies befürworten wir.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wann immer
Sie an das „Allheilmittel“ Quote oder die flächendeckende Einführung des Kaskadenmodells denken, erinnern Sie sich bitte an die Expertenanhörung, die vom
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages zum Thema
„Frauen in der Wissenschaft und Gender in der Forschung“ im Februar 2008 durchgeführt wurde. Bei den
Stellungnahmen zum Kaskadenmodell plädierte nur eine
Minderheit der eingeladenen Experten für die flächendeckende Einführung. Auch unter den Wissenschaftlerinnen
selbst ist das Modell bzw. sind Quotenregelungen mehr
als umstritten. Sogar der Vorsitzende des Wissenschaftsrates Professor Dr. Peter Strohschneider, ein Befürworter
des Kaskadenmodells, merkte in der Anhörung an: Erst,
wenn zukünftig keine signifikanten Verbesserungen durch
den Einsatz von anreizorientierten Instrumenten erreicht
werden können, sollte auf das Kaskadenmodell zurückgegriffen werden. Es stehen uns noch genügend Alternativen zur Verfügung, welche sich auch in den verschiedenen Anträgen wiederfinden.
Bund, Länder, Hochschulen sowie Wissenschaftseinrichtungen stellen sich heute der Verantwortung, alle
Potenziale zu nutzen, um in Zukunft im internationalen
Wettbewerb zu bestehen. Frauen zählen in diesem Zusammenhang zu den wichtigsten und bisher noch nicht ausgeschöpften Ressourcen unseres Landes. Als potenzielle
Wissenschaftlerinnen bzw. Forscherinnen stellen sie
einen wichtigen Wettbewerbs- und Standortfaktor dar.
Vonseiten des Bundes sind viele erfolgversprechende
Maßnahmen zur Frauenförderung in der jüngsten Vergangenheit auf den Weg gebracht worden, um den Herausforderungen einer globalisierten Welt Rechnung zu tragen.
Der Bund nimmt trotz des neuen Aufgabenzuschnitts im
Bildungsbereich infolge der Föderalismusreform I seine
Verantwortung in Fragen der Frauenförderung im Wissenschaftssystem auch weiterhin verantwortungsvoll wahr
und tritt als wichtiger Impulsgeber auf.
Bestes und jüngstes Beispiel dafür ist der von Bildungsministerin Dr. Annette Schavan ins Leben gerufene
nationale Pakt zur vermehrten Gewinnung von Frauen
für Berufe, welche mit Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, die sogenannten MINT-Berufe,
zu tun haben. In diesen Bereichen, die für die Zukunft unseres Landes von entscheidender Bedeutung sein werden,
fehlen Frauen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen uns nicht von den positiven Schlagzeilen aus der
Presse der vergangenen Woche in Bezug auf die zunehmenden Habilitationen von Frauen täuschen lassen, wonach 2007 fast jede vierte Habilitation von einer Frau
erlangt wurde. Denn gerade im Bereich der Naturwissenschaften gibt es noch viel zu tun. In den gleichen Meldungen war nämlich auch zu vernehmen, dass beispielsweise
in den Naturwissenschaften nur 16 Prozent Frauen habilitiert wurden.
Die in den vergangenen Jahrzehnten implementierten
Gleichstellungsinstrumente im deutschen Wissenschaftssystem, ergänzt durch die Maßnahmen der jetzigen
Zu Protokoll gegebene Reden
Bundesregierung in Form des Professorinnenprogramms
und der Initiative „Power für Gründerinnen“, bieten eine
gute Grundlage für die Weiterentwicklung der Gleichstellungsbemühungen in Wissenschaft und Forschung. Darauf kann aufgebaut werden, und an vielfältigen Ansatzpunkten mangelt es nicht. So fordern wir, zukünftig darauf
hinzuwirken, die Vorbildfunktion von Frauen in Spitzenpositionen weiter zu stärken, Förderprogramme zur Steigerung des Frauenanteils zu entwickeln, Forschungsund Institutionenförderung an verbindliche Zielvereinbarungen zu binden, die Anonymisierung von Beurteilungsverfahren, Double-blind-Verfahren, verstärkt einzusetzen, auf verlässliche wissenschaftliche Karrierewege
hinzuwirken, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu
fördern sowie Coaching- und Mentoringprogramme zu
unterstützen.
Mit den angestoßenen Maßnahmen der Bundesregierung befinden wir uns auf dem richtigen Weg. Es ist
vollkommen richtig, auf anreizorientierte Programme,
unterstützende Maßnahmen - wie auf den Kinderbetreuungszuschlag im Rahmen der BAföG-Novelle -, den
flankierenden Ausbau der Kinderbetreuung und auf
Kooperationen mit den deutschen Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen in Bezug auf konkrete Maßnahmen zur Frauenförderung zu setzen.
Wir müssen uns bewusst sein, dass die Förderung von
Frauen in Wissenschaft und Forschung als fortlaufender
Prozess zu begreifen ist, der differenzierter Antworten bedarf. Die Ursachen der Marginalisierung von Frauen im
Wissenschaftssystem sind zahlreich und komplex. Die
Antworten der Großen Koalition auf diese Fragestellungen sind deswegen breit gefächert und stehen für eine differenzierte Gleichstellungspolitik, welche die Präsenz
von Frauen in unterschiedlichsten Qualifikationsstufen
im deutschen Wissenschaftssystem weiter steigern wird.
Die wohl bekannteste Wissenschaftlerin auf dem Gebiet der Physik und Chemie könnte heute quasi Patin für
viele Frauen in der Wissenschaft stehen - Marie Curie.
Sie trat im Mai vor genau 100 Jahren einen Lehrstuhl für
Physik an der Sorbonne an. Bis heute ist sie die einzige
Frau, der ein Nobelpreis in Physik und Chemie verliehen
wurde. Darüber hinaus hat sie trotz ihrer Forschungsarbeit zwei Kinder großgezogen. Bei dieser Lebensleistung
lohnt es sich ganz besonders zu überlegen, wie wir heute
mehr Frauen in Spitzenpositionen in Wissenschaft und
Forschung bringen können. Frauen haben im deutschen
Wissenschaftssystem nicht die gleichen Chancen wie
Männer. Sie sind deutlich unterrepräsentiert und wir nutzen die Potenziale hochqualifizierter Frauen nicht genügend.
Unser Ziel ist klar, wir brauchen mehr Frauen in der
Wissenschaft und wir wollen, dass ihre Talente optimal
gefördert werden und zum Tragen kommen. Damit erreichen wir Chancengleichheit und stärken die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wissenschaft durch neue
Ideen, neue Methoden und Lösungsansätze. Erfreulicherweise ist das Thema Chancengleichheit für Frauen in der
Wissenschaft mittlerweile im Bewusstsein der meisten
Verantwortlichen in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft
angekommen.
Wir Sozialdemokraten sind stolz darauf, dass wir in
unserer zehnjährigen Regierungsbeteiligung viele Initiativen und Gesetzesänderungen, von denen Frauen in der
Wissenschaft profitieren, auf den Weg gebracht haben. An
einigen Initiativen zeigt sich, dass wir gehandelt haben:
die Exzellenzinitiative, der Pakt für Forschung und Innovation, das Professorinnenprogramm, die verbesserte
Kinderbetreuung, das Elterngeld sowie Änderungen beim
BAföG und bei der Umstellung der Stipendienförderung
bei Studierenden mit Kindern. Hier gibt es gute Ansätze
für mehr Chancengleichheit in der Wissenschaft.
Dennoch sind die Ergebnisse eindeutig nicht zufriedenstellend: Auf der einen Seite sind wir stolz darauf,
dass die Barrieren für den Zugang junger Frauen zu einer
akademischen Ausbildung fast abgebaut sind. Nahezu die
Hälfte der Erstimmatrikulierten und über die Hälfte,
nämlich 52 Prozent, der Erstabsolventen sind Frauen.
Auf der anderen Seite nimmt der Anteil der Frauen im
weiteren Qualifikationsprozess jedoch dramatisch ab. In
der höchsten Besoldungsstufe der Professuren sind
Frauen nur noch mit 11 Prozent vertreten. Je höher die
Qualifikation, desto weniger Frauen sind also vertreten.
Die Zahlen sind eindeutig und Deutschland ist damit eines der Schlusslichter in Fragen der Gleichstellung im
Wissenschaftssystem in Europa.
Unter den Experten - und unter den meisten Politikerinnen und Politikern - ist daher völlig unstrittig, dass wir im
Wissenschaftssystem mehr Chancengleichheit brauchen.
Die Sachverständigen stellten während der Anhörung am
18. Februar eindrucksvoll dar, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichen und noch sehr viel Handlungsbedarf besteht. Um es mit den Worten des Vorsitzenden des
Wissenschaftsrates, Professor Strohschneider, zu sagen:
„Wenn man so weitermacht, dann sind wir nicht 2040 bei
einem 50 : 50-Verhältnis, sondern erst 2090.“ Wir
Sozialdemokraten werden dazu beitragen, dass Professor
Strohschneider in einigen Jahren bereits sagen wird,
Politik und Wissenschaftseinrichtungen haben aufs Gaspedal gedrückt und endlich genügend Frauen auf die
Lehrstühle gesetzt. Damit stellen wir uns den großen Herausforderungen. Wir werden unsere Anstrengungen verstärken, damit der Anteil der Frauen in der Wissenschaft
auf allen Qualitätsstufen und insbesondere in den
Frauen-untypischen Fachbereichen deutlich wachsen
wird.
Die Experten weisen insbesondere darauf hin, dass es
eine ganze Reihe von Hindernissen gibt, die dazu führen,
dass Frauen aus dem Wissenschaftsbetrieb aussteigen.
Diese Leckstellen müssen wir schließen. Ich bin froh,
dass es unserer Fraktion gelungen ist, gemeinsam mit der
Union ein entsprechendes Maßnahmenpaket auf die Füße
zu stellen, um die Karrierehemmnisse für junge Frauen
aus dem Weg zu räumen. Es gilt, die Barrieren umfassender in den Blick zu nehmen. Die - immer noch - unzureichende Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist da nur ein
Problem, welches wir angehen werden. So wollen wir beispielsweise Änderungen bei Beurteilungs- und Rekrutierungsverfahren, die bisher dazu geführt haben, dass
Zu Protokoll gegebene Reden
Männer vor allem ihre Geschlechtsgenossen auf deren
Karriereweg unterstützen. Ich stimme den Gegnern einer
Quotenregelung zu, wenn sie sagen, dass exzellente Wissenschaft auf Leistung und nicht auf Geschlecht beruhe.
Fakt ist aber, dass bei Einstellungs- und Beurteilungsverfahren genau das stattfindet, eine Auslese aufgrund des
Geschlechts meist zugunsten der Männer. Notwendig ist
daher ein gerechteres Verfahren, welches wirklich die
Leistung bewertet.
Ein weiteres Hemmnis sind die noch an vielen Stellen
vorhandenen Altersgrenzen. Heute noch an Altersgrenzen festzuhalten ist nicht mehr zeitgemäß. Wenn wir in anderen Zusammenhängen von „Lebenslangem Lernen“
sprechen, dann müssen wir diese willkürlichen Grenzen
beseitigen. Wissenschaftliche Karrieren müssen auf vielfältigen Wegen zum Ziel führen und nicht in einer starren
Abfolge von Stationen auf dem Weg bis zur Professur. Altersgrenzen werden insbesondere zum Problem, wenn
sich Lebenssituationen verändert haben. Damit sind aber
nicht nur Kinder gemeint, auch Pflege von Angehörigen,
eine andere Ausbildung oder sogar eine Krankheit kann
zu einer Abweichung führen, die berücksichtigt werden
muss.
Frauen steigen auch eher als Männer aus dem Wissenschaftssystem aus, wenn die wissenschaftliche Karriere
nicht verlässlich zu sein scheint. Für den hochqualifizierten wissenschaftlichen Nachwuchs gibt es keine ausreichend gesicherte Perspektive für die Karriereplanung. Es
muss daher in unserem Interesse sein, für junge Wissenschaftlerinnen verlässliche und stabile Beschäftigungsverhältnisse und Karrierewege aufzuzeigen.
Dieses Problem beginnt übrigens schon bei der Studienfinanzierung. Wenn hohe Schulden aufgrund von Studiengebühren anfallen, besteht die Gefahr, dass sich viele
Frauen in Zukunft von den Gebühren abschrecken lassen
und deswegen kein Studium aufnehmen. Für die Sozialdemokraten kann ich an dieser Stelle nochmals sagen: Wir
sprechen uns eindeutig gegen Studiengebühren aus.
Ich freue mich darüber, dass wir gemeinsam mit der
Union verbindliche Zielvereinbarungen sowie das
sogenannte Kaskadenmodell in den Koalitionsantrag
einbringen konnten. Wir werden mit verbindlichen Zielvereinbarungen erreichen, dass in den Wissenschaftseinrichtungen verbindlich formuliert wird, welche Maßnahmen und welche Ziele verfolgt werden, um den Anteil von
Frauen zu erhöhen. Vor allen Dingen werden wir diesen
Prozess mit positiven Anreizen unterstützen. Wir scheuen
uns auch nicht mehr, öffentliche Fördermittel davon abhängig zu machen, ob Zielvereinbarungen verabredet
und natürlich auch eingehalten werden. Wenn Vereinbarungen nicht eingehalten werden, sollten auch negative
Sanktionsmaßnahmen in Betracht gezogen werden.
Des Weiteren wollen wir den Hochschulen mit dem
Kaskadenmodell eine klare Orientierung vorgeben. Das
heißt: Wenn in einer unteren Qualitätsstufe ein bestimmter Anteil an Frauen erreicht wird, muss es Ziel sein, in
der darüberliegenden Stufe ebenfalls diesen Anteil zu erreichen. Gerade in den Fachbereichen, in denen mit jeder
Qualifikationsstufe der Frauenanteil überproportional
abnimmt, kann dieses Instrument sehr wirksam sein. Da
der Bund hier keine Entscheidungsbefugnis hat, bleibt es
den Hochschulen überlassen, inwieweit sie dieses Instrument durchsetzen können.
Fest steht: Wir Sozialdemokraten nehmen zur Kenntnis, dass auf freiwilliger Basis für die Frauen zu wenig erreicht wurde, wie die Stellungnahmen aus der Anhörung,
EU-Vergleiche und viele Studien nachhaltig belegen.
Deswegen werden wir dazu beitragen, dass all jene Maßnahmen von der Politik fokussiert werden, die mehr
Frauen einen Weg in Spitzenpositionen der Wissenschaft
eröffnen.
Zum Schluss möchte ich noch einmal auf Marie Curie
zurückkommen. Sie ist nicht nur Patin für erfolgreiche
Frauen in der Wissenschaft insgesamt. Sie war in Disziplinen erfolgreich, für die sich die meisten Mädchen und
jungen Frauen noch nicht begeistern können. Mit anderen Worten: Wir brauchen deutlich mehr Frauen, die sich
für Mathe, Naturwissenschaften und Technik interessieren. Auch wenn in der letzten Woche die Bildungsministerin den Startschuss für eine entsprechende Initiative gegeben hat, müssen wir in Zukunft intensiver daran
arbeiten. Damit verbessern wir nicht nur die aktuell diskutierten Einkommenschancen, sondern federn auch das
Problem des Fachkräftemangels etwas ab.
Auch wenn wir noch eine Weile brauchen, um Chancengleichheit in der Wissenschaft herzustellen, wir Sozialdemokraten wollen - ganz im Sinne des Hamburger
Grundsatzprogramms - gleiche Chancen für Frauen im
Erwerbsleben, in der Privatwirtschaft und an dieser
Stelle insbesondere in Wissenschaft und Forschung, nicht
nur auf dem Papier, sondern im täglichen Leben.
Sicherlich haben Sie sich beim ersten Betrachten des
Antrages der FDP-Bundestagsfraktion die Frage gestellt: Was bezweckt dieser kurze Titel? Was will die FDP
uns damit sagen? Bei näherer Betrachtung haben Sie sicherlich die Kernaussage verstanden: Ja, wir sind auf
dem langen Weg zu einer wirklichen Gleichstellung von
Frau und Mann in Familie, Gesellschaft und Beruf in den
letzten 100 Jahren und insbesondere seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Jahr 1949 einen großen Schritt
vorangekommen. Vor allem das fast auf den Tag genau
vor 50 Jahren in Kraft getretene Gleichberechtigungsgesetz hat die Stellung der Frau in Gesellschaft, Politik und
Wirtschaft grundlegend verändert. Schritt für Schritt haben Frauen ihren Platz im Bildungs- und Wissenschaftssystem, in der Berufsbildung und im Beruf, in Verwaltung
und Politik eingenommen.
Jeder Schritt musste von den Frauen hart erkämpft
werden. Dr. Dorothea Christiane Erxleben war die erste
und für eineinhalb Jahrhunderte auch die einzige Ärztin,
die in Deutschland promovieren und ihren Beruf offiziell
ausüben durfte. Daran erinnert in diesem Sommer eine
Ausstellung im Universitätsmuseum der Martin-LutherUniversität in meiner Heimatstadt Halle, die sich dem
Zeitgeist der Aufklärung und dem Frauenstudium in
Halle zuwendet.
Zu Protokoll gegebene Reden
An eine andere Frau sei erinnert. Caroline Franziska
Elsbeth, genannt Elisabeth, eine Wegbereiterin der evangelischen und katholischen Frauenbewegung, Sozialwissenschaftlerin, Lehrerin, Publizistin, war die erste
deutsche Frau, die 1895 eine Sondererlaubnis des preußischen Kultusministers zum Studium der Volkswirtschaftslehre und Staatswissenschaften an der Universität
Berlin erhielt. Heute wissen wir: Die gleichberechtigte
Teilhabe von Frauen im deutschen Wissenschaftssystem
ist eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass Deutschland auch in Zukunft seine Exzellenz und seinen Wettbewerbsvorsprung in den konkurrierenden Wissenschaftssystemen der Welt halten bzw. ausbauen kann.
Doch wie gehen wir heute mit dieser Einsicht um? Ich
komme jedenfalls zu der Auffassung, dass Staat und Gesellschaft mit ihrer Verantwortung für den wissenschaftlichen Nachwuchs insgesamt eher fahrlässig umgeht. Wir
wissen doch alle: Unsere Gesellschaft kann sich eine Zurückhaltung bei der Einbeziehung von Frauen im Wissenschaftssystem nicht mehr leisten. Wir haben uns im
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung in einer öffentlichen Anhörung mit dem Thema
„Frauen in der Wissenschaft und Gender in der Forschung“ auseinandergesetzt und die Beteiligung, Aufstiegschancen und Repräsentanz sowie vorhandene Barrieren für Frauen in den einzelnen Qualifikations- und
Karrierestufen betrachtet. Es hat sich gezeigt, dass trotz
aller Anstrengungen es bis heute nicht gelungen ist, die
gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an allen Stufen
des Wissenschaftssystems zu gewährleisten. Auch heute
noch sind Frauen in der wissenschaftlichen Forschung
unterrepräsentiert. Und das nicht nur in der öffentlichen
Forschung und Lehre, nein, auch in den forschenden Unternehmen. Die Wirtschaft trägt rund 70 Prozent der
FuE-Ausgaben in Deutschland. Aber nur 10 Prozent der
Forscher sind Frauen.
Wir sind uns schnell einig darüber, dass der Anteil von
Professorinnen in der deutschen Forschungslandschaft
nach wie vor zu gering ist. Nur, was nutzt uns der Ruf
nach festen Frauenquoten bei Berufungsverfahren? Ihre
Position hierzu haben uns die Präsidenten der großen
Forschungsgesellschaften, der DFG, der Wissenschaftsakademien und der Generalsekretär des Europäischen
Forschungsrates jüngst dargelegt. Ich habe mir die
Frage gestellt, ob eine starre Quotenregelung, die keine
Abweichungen zulässt, wie sie zum Beispiel in den USA
gilt, in Deutschland und Europa überhaupt zulässig ist?
Ist es möglich, in unseren Rechtssystemen Verfahrensquoten ohne Öffnungsklauseln einzuführen, bei denen bei
gleicher Eignung der weibliche Bewerber ohne Einzelfallbetrachtung den Zuschlag erhält? Oder brauchen wir
Verfahrensquoten mit Öffnungsklauseln, durch die eine
bevorzugte Einstellung von weiblichen Bewerbern im
Grundsatz festgeschrieben ist, im Einzelfall aber eine
leistungs- und sozialorientierte Abwägungsentscheidung
zugelassen wird, die auch zu ungunsten des weiblichen
Bewerbers ausgehen kann?
Jetzt kommen wir zurück auf das Grundgesetz und das
Gleichstellungsgesetz. Generell gilt für Berufungsentscheidungen - wie für alle Besetzungsverfahren im öffentlichen Dienst -, dass die Auswahlentscheidung bei der
Stellenbesetzung sich nach Art. 33 Abs. 2 Grundgesetz
ausschließlich an Eignung, Befähigung und fachlicher
Leistung auszurichten hat. Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz verbietet zu dem jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Der Bundesgesetzgeber hat sich entschieden,
eine aktive Förderungs- und Gleichstellungspolitik im
Sinne des Gender-Mainstreaming zuzulassen, § 8 Bundesbeamtengesetz, § 8 Bundesgleichstellungsgesetz. In
den §§ 5 und 24 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes werden Handlungsmöglichkeiten zum Ausgleich
bestehender Nachteile eingeräumt, die zum Ergreifen positiver Maßnahmen berechtigen, wenn diese verhältnismäßig sind.
Eine rechtliche Bewertung der Quotenregelungen aus
deutscher Sicht kann auf keine Leitungsentscheidung des
Bundesverfassungsgerichts verweisen. Der Europäische
Gerichtshof hat Verfahrensquoten ohne Öffnungsklauseln
generell verworfen. Bei Verfahrensquoten mit Öffnungsklauseln ist bei gleicher Qualifikation eine Frau zu bevorzugen, wenn nicht im Einzelfall bei vergleichender Betrachtung dienstliche Unterschiede zugunsten des
männlichen Bewerbers bestehen oder ein sozialer Härtefall vorliegt.
Diese Rechtsprechung wird dem § 5 des Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetzes gerecht, der auf die notwendige Verhältnismäßigkeit der Maßnahme und damit auf
eine Einzelfallprüfung verweist. Damit wird ein absoluter
und unbedingter Vorrang grundsätzlich benachteiligter
Gruppen ausgeschlossen. Insofern ist die Wahl eines Kaskadenmodells in der Zukunft eine mögliche Option für
Politik und Wissenschaft. Die FDP schlägt Ihnen daher
aus gutem Grund ein Kaskadenmodell vor.
Eine Kaskade beginnt an der Spitze. Die Übertragung
von Verantwortung und Leitungsaufgaben an Frauen ist
somit eine Führungsaufgabe ersten Ranges. Es muss sich
also auf jeder Stufe der Kaskade die Einsicht durchsetzen,
dass Frauen in dem Maße beteiligt werden, wie es ihrem
Anteil an der Vorstufe entspricht. In einem Wissenschaftsfreiheitsgesetz muss ein Kaskadensystem verankert werden. Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann gelangen
wir sehr schnell zu der Einsicht, dass bereits im Kindergarten und in der Schule mit einer zielgerichteten Förderung von Mädchen und jungen Frauen begonnen werden
muss. Sehr früh muss ihr Interesse gerade auch auf mathematische, natur- und technikwissenschaftliche Disziplinen, den sogenannten MINT-Disziplinen, gelenkt werden.
Ich unterstütze in diesem Zusammenhang den in der
letzten Woche von Frau Dr. Schavan verkündeten Nationalen Pakt für mehr Frauen in MINT-Berufen. Mir gefällt
die klare Botschaft: Fachkräfte aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik
haben vielfältige Arbeitsmöglichkeiten und hervorragende Berufsaussichten. Leider nutzen junge Frauen das
Potenzial in diesen Zukunftsberufen bislang nur unzureichend. Mit „Komm, mach MINT!“ zeigen die Verantwortlichen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, dass sie
gemeinsam ihr Engagement wesentlich stärker als bisher
bündeln wollen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Hochschulen etwa wollen ihre naturwissenschaftlichen und technischen Studiengänge attraktiver gestalten und die Studienorientierung für Frauen erleichtern.
Unternehmen werden jungen Frauen verstärkt deutlich
machen, dass in den MINT-Berufen attraktive Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Durch Berufsorientierungsmaßnahmen bekommen Frauen gute Chancen, in MINTBerufe vermittelt zu werden, wobei sich mir hier die
Frage nach einer qualifizierten Berufsberatung der Arbeitsagentur stellt.
Ich freue mich besonders, dass die von Dr. Klaus
Kinkel geleitete Deutsche-Telekom-Stiftung, aber auch
die Fraunhofer-Gesellschaft sich mit einem gemeinsamen
Angebot aus Ingenieur-Akademien und Talent Schools an
dem Pakt beteiligen. Der eingeschlagene Weg ist richtig,
denn bei der Wahl des Studienplatzes entscheiden sich
heute junge Frauen immer noch öfter als ihre männlichen
Kommilitonen für die geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Studiengänge. Es liegt es an uns, die letzten
Hürden niederzureißen. Deshalb appelliere ich an Sie:
Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Was lange währt, wird endlich gut, könnte man angesichts der Tatsache, dass ich ziemlich genau vor einem
Jahr bereits eine Rede zum heutigen Thema „Geschlechtergerechtigkeit in Wissenschaft und Forschung“ gehalten habe, denken. Seitdem hat der Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung eine öffentliche Anhörung dazu durchgeführt, die Grünen und wir haben je einen Antrag vorgelegt, und nun legt gerade noch
vor der Sommerpause die Große Koalition ihre Strategie
für Gleichstellung in der Wissenschaft vor. Wird also alles
gut?
Es gibt zunächst einmal einen Erfolg zu verzeichnen:
Die Problematik der geringen Repräsentanz von Frauen
in der Wissenschaft ist breit in der Politik angekommen.
Und - die Koalition hat sich wichtigen Ergebnissen der
Anhörung angeschlossen, die auch wir vorgebracht haben. Doch bei zentralen Aspekten hätten wir Ihnen mehr
Mut gewünscht. Es freut uns, dass die Koalition verbindliche Zielvereinbarungen zur Gleichstellung mit öffentlich geförderten Forschungseinrichtungen und mit
Hochschulen einfordert. Dass die Zielvereinbarungen
finanziell sanktioniert werden sollen, ist ein echtes Novum - darauf drängt Die Linke seit langem.
Doch da Hochschulen Ländersache sind, hätte man
auch die Bund-Länder-Verhandlungen zum Hochschulpakt II zum Anlass nehmen sollen, die Länder auf die
Politik geschlechterorientierter Zielvereinbarungen zu
verpflichten. Dass das vonnöten ist, zeigt das sehr unterschiedliche Verständnis von Frauenförderung in den einzelnen Ländern heute.
Erfreulich ist wiederum die Erkenntnis der Koalition,
dass ohne angemessene Vertretung von Frauen in Berufungs- und Gutachtergremien und ohne Geschlechtersensibilisierung durch Schulungen das Vorrücken von
Frauen auf Spitzenpositionen nicht erfolgversprechend
ist. Transparente Bewerbungsverfahren mit verstärkter
weiblicher Mitbestimmung und verbindliche Quoten für
Leitungspositionen halten wir für ganz wichtig. Warum
dann aber nicht über eine institutionalisierte Nachwuchsförderung insgesamt nachdenken? In der Anhörung haben viele Experten darauf hingewiesen, dass die Ansiedlung von Promotionen und Habilitationen am Lehrstuhl
eine persönliche Abhängigkeit von den Betreuenden bedeutet, die sich für Frauen besonders nachteilig auswirkt.
Deshalb fordern wir in unserem Antrag den Anstoß als
Debatte eine Nachwuchsförderung, die am Fachbereich
geregelt und durch Personalverantwortliche professionell betreut wird. Einen Aufschlag dazu könnte der Wissenschaftsrat machen.
Der letzte und zugleich wichtigste Punkt, der mir am
Herzen liegt, erfordert eine andere Perspektive auf
Frauen. Ich finde, man muss nicht nur die aktive Ausgrenzung von Frauen im Blick haben, sondern sich auch fragen, wo sie sehr rational sind und sich trotz Befähigung
vielleicht bewusst gegen eine wissenschaftliche Karriere
entscheiden. Weil ihre Vorstellungen von einem guten Leben darin nicht unterzubringen sind. Ich spreche hier von
der Vereinbarkeit von Karriereplanung, geregeltem Einkommen, Familie und sozialen Kontakten. Damit ist einerseits die noch vielerorts mangelhafte Infrastruktur für
Kinderbetreuung gemeint. Doch zu gleich großen persönlichen Belastungen führen auch die immer kürzer befristeten Arbeitsverträge, die keine zumindest mittelfristige
Planungssicherheit über Einkommen und den Ort der Beschäftigung geben. Auch die völlige zeitliche Verfügungserwartung ohne Regelungen für Ausgleich macht für viele
Frauen die wissenschaftliche Berufung als Beruf unattraktiv. Hier setzen wir auf wissenschaftsspezifische tarifliche Regelungen für Hochschulen und Forschungseinrichtungen, aber auch zum Beispiel auf Tenure-TrackVerfahren für Nachwuchsprofessuren. Die Koalition
spricht zwar das Problem fehlender Möglichkeiten für
Karriereplanung an, warum aber scheut sie konkrete Lösungsansätze? Das ist nur lediglich gut gemeint.
Vom FDP-Antrag schließlich trennen uns zwar nicht
Welten, aber doch Grundansichten. Wir lehnen in der
Diskussion um Geschlechtergerechtigkeit die Fixierung
auf die Elite der Wissenschaft ab. Man kann von Spitzenkräften sprechen, von hervorragenden Individuen - statt
von Elite als einer besonderen Schicht. Denn aus unserer
Sicht widerspricht diese Redeweise der Anlage unseres
Wissenschaftssystems, in dem diejenigen einen Platz finden, die die besondere Eignung für eine weiterführende
wissenschaftliche Qualifikation nachweisen. Machen wir
uns doch nichts vor: Ein Blick nach ganz oben gaukelt
vor, dass lediglich etwas Nachsteuerung notwendig ist.
Für Politikerinnen und Politiker ist das immer einfacher,
als eine ganze Gruppe - Wissenschaftlerinnen auf unterschiedlichen Positionen - mit eben unterschiedlichen Bedürfnissen in den Blick zu nehmen. Und so macht es sich
aus meiner Sicht auch die FDP recht einfach, wenn sie ein
„Wünsch dir was“-Konzert in ihrem Antrag einberuft.
Für wen hier Politik gemacht werden soll, ist nicht wirklich erkennbar.
Die Hälfte aller Hochschulabsolvierenden hierzulande sind Frauen. Dieser erfreuliche Befund gilt aber
Zu Protokoll gegebene Reden
leider noch lange nicht für die nachfolgenden Qualifizierungs- und Karrierestufen des Wissenschaftssystems: Der
Anteil der Professorinnen zum Beispiel dümpelt auf international niedrigem Niveau, bei mickrigen 15 Prozent.
Umso besorgniserregender ist die schleppende Aufholdynamik der letzten Jahre: Wenn es weiterhin so langsam
wie bisher vorangeht, dann ist ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis bei den Spitzenpositionen der Hochschulen laut Wissenschaftsrat erst 2090 erreicht. Von
geschlechtergerechter Chancengleichheit im Wissenschaftssystem sind wir derzeit also noch Lichtjahre entfernt. Dies führt zu beruflichen Einbußen für hochqualifizierte Frauen. Dies führt aber auch zu Defiziten bei der
Qualität von Forschung und Lehre und zu weniger Effizienz und internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Nun sind
sich die meisten Akteure im Wissenschaftssystem über die
Diagnose der Unterrepräsentanz von Frauen in der Wissenschaft, zumindest auf der rhetorischen Ebene, weitgehend einig. Es gibt mittlerweile kaum eine wissenschaftliche Institution, die Chancengleichheit nicht als Teil
ihres Leitbilds formuliert. An den Verhältnissen ändert
sich gleichwohl nicht viel. Wir haben es also vorwiegend
mit einem Umsetzungs- und nicht mit einem Erkenntnisproblem zu tun. Bündnis 90/Die Grünen haben diesen
Missstand daher in dieser Legislaturperiode aufgegriffen
und neben zwei Anträgen auch eine Fachanhörung des
Forschungs- und Bildungsausschusses initiiert. Die überaus große Publikumsteilnahme an der öffentlichen Anhörung im Februar gab uns darin recht, hier ein dringliches
Problem aufgegriffen zu haben, bei dem trotz aller bestehender Bemühungen hoher Handlungsbedarf besteht.
Dabei wurde einmal mehr deutlich: Was wir brauchen,
um nachhaltige Veränderungen zu erzielen, ist endlich
ein echter qualitativer Sprung, ein turning point. Dies
hinzubekommen, ist gleichwohl anspruchsvoller als allgemeine politische Willensbekundungen oder die Neuauflage des einen oder anderen Einzelförderprogramms.
Das Problem muss von seinen Voraussetzungen her gelöst
werden.
Ein System, in dem hochqualifizierte Frauen unterproportional vertreten sind, kann nicht glaubhaft machen,
dass es sich durch Auswahl der Besten rekrutiert. Und genau das führt ins Zentrum des Problems: Im Wissenschafts- und Forschungsbereich regiert entgegen dem
wissenschaftlichen Selbstverständnis, objektiv Leistung
zu beurteilen, eben gerade keine geschlechtsneutrale
Bestenauslese. Der Vergleich insbesondere mit der
angloamerikanischen Wissenschaftskultur zeigt, dass in
Deutschland häufig personen- statt qualitätsorientierte
Bewertungskriterien wissenschaftliche Bewerbungs- und
Beurteilungsverfahren prägen. Ein fairer Zugang zum
Wissenschaftssystem wird offenkundig verhindert, nicht
nur durch schlechte Arbeitsbedingungen, sondern maßgeblich durch diskriminierende Strukturen, die den vorurteilsfreien Blick auf wissenschaftliche Leistungen verstellt.
Unzureichende Genderkompetenz führt zu verzerrten Urteilen über Wissenschaftsinhalte, bei Bewerbungsverfahren und in der Personalführung. Die Folge: Unsere
geschlossene, männerbündische Wissenschafts- und Förderkultur kann mit den Anforderungen einer modernen,
globalisierten Wissenschaft, in der zunehmend sozial gemischte Forscherteams multiperspektivisch komplexe
Probleme bearbeiten, immer weniger mithalten.
Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels,
der zunehmenden Konkurrenz um gut qualifizierte Arbeitskräfte und der Altersstruktur des Wissenschaftspersonals an den Hochschulen bleibt nur ein schmales Zeitfenster, um den Sprung zu deutlich mehr Frauen in
wissenschaftliche Positionen zu vollziehen. Was wir brauchen, sind endlich faire und vorurteilsfreie Wettbewerbsstrukturen, die allen Talenten einen gleichberechtigten
Zugang zum Wissenschaftssystem ermöglichen. Dazu
sind in Zukunft sicher auch weiterhin Coaching- und
Mentoringprogramme, Karriereberatungen und Trainings, Stipendien und Qualifikationsstellen wichtig. Sie
haben nicht zu dem von einigen befürchteten Stigmatisierungseffekten für die geförderten Frauen geführt, sondern
überhaupt erst zu mehr Sichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen im System beigetragen. Um nachhaltige Veränderungen der Strukturen aber schnell und im notwendigen
Maße zu bewirken, müssen Politik und Leitungen der wissenschaftlichen Einrichtungen darüber hinaus vor allem
den qualitativen Sprung zu mehr Verbindlichkeit schaffen,
das heißt hin zu klaren und laufend überprüfbaren quantitativen Steigerungsanteilen und qualitativen Anforderungen. Diese müssen auf die Bedingungen einer zunehmend wettbewerblich organisierten und am Prinzip der
Autonomie orientierten Wissenschaftslandschaft hin ausgestaltet werden.
Die Schweden machen vor, wie über staatlich vorgegebene Zielquoten und deren fortwährende Kontrolle der
Frauenanteil in der Wissenschaft signifikant und schnell
gesteigert werden kann. Ein solches Steuerungsmodell
mit den Kernelementen „verbindliche Zielvorgaben“ und
„Erfolgskontrolle“ sollte sich auch bei uns endlich durchsetzen. Grundsätzlich geht es darum, Gleichstellungsziele
spürbar an finanzielle Ressourcen zu knüpfen, indem man
positive Anreizmechanismen schafft, die negative Konsequenzen nicht ausschließen für den Fall, dass vereinbarte
Ziele nicht erreicht wurden. Jene Institutionen, die Ziele
verfehlen, müssen über das Controlling dazu angehalten
werden, ihre Misserfolge zu rechtfertigen und ihre Gleichstellungsinstrumente ergebnisorientiert anzupassen.
Hierbei ist der Bund in der Pflicht, überall dort Einfluss zu nehmen, wo er selbst Forschungs- und Institutionenförderung betreibt. Bislang hat er diese Aufgabe nur
äußerst zögerlich ausgeübt. Bei der Weiterentwicklung
der Exzellenzinitiative, einer möglichen Neuauflage des
Hochschulpakts, bei der Steuerung des Pakts für Forschung und Innovation, in der Ressortforschung, beim
Gender-Budgeting im Forschungshaushalt - überall
kann und sollte der Bund entschlossen tätig werden. Nicht
zu vergessen: Überall dort, wo der Bund als Geldgeber
bzw. als Mitglied in Aufsichtsräten oder Kuratorien Einfluss auf wissenschaftliche Einrichtungen und Forschungsvorhaben hat, kann er dafür sorgen, überprüfbare qualitative und quantitative Vorgaben und
Steigerungsquoten zu implementieren, durchzusetzen und
zu kontrollieren. Da nun endlich auch CDU/CSU und
SPD in ihrem Antrag von mehr Verbindlichkeit in diesem
Bereich sprechen, wäre es sehr erfreulich, wenn Sie sich
dazu durchringen könnten, das von uns vorgeschlagene
Zu Protokoll gegebene Reden
Kaskadenmodell nicht nur weiter mit den Ländern zu prüfen, sondern es tatsächlich anzuwenden.
Die internationalen Gutachter zeigten sich im Exzellenzwettbewerb über die miserablen Karrierechancen
von Frauen an deutschen Hochschulen schockiert. Und
auch auf europäischem Parkett werden die Nachteile der
Unterrepräsentanz von Frauen im deutschen Wissenschaftssystem offenkundig: Dort kommen bei den streng
geschlechterparitätisch besetzten wissenschaftlichen
Kommissionen und Entscheidungspanels zunehmend
skandinavische oder niederländische Wissenschaftlerinnen zum Zuge. Andere Länder haben es sehr viel besser
und vor allem sehr viel schneller geschafft, den Anteil von
Frauen in der Wissenschaft zu steigern. Seit Ende der
1990er-Jahre setzt die schwedische Regierung jeder Universität kontinuierlich steigende Zielwerte über die Frauenanteile an den Professuren. Das Ergebnis: Der Frauenanteil an den Professuren stieg in den 11 größten Unis
innerhalb von neun Jahren von 9 auf 17 Prozent. Es ist
überhaupt nicht einzusehen, warum wir keinen vergleichbar dynamischen Aufholprozess hinbekommen sollten. In
diesem Sinne hoffe ich, dass, nachdem die Koalition nun
monatelang über ihre Erkenntnisse aus der Fachanhörung im Februar gebrütet hat, wir nach der Sommerpause endlich zu klaren Beschlüssen kommen und dann
auch endlich Taten sehen.
Auch hier wird interfraktionell die Überweisung der
Vorlagen auf den Drucksachen 16/9756 und 16/9604 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann haben wir
so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 8 und 9 auf:
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian
Toncar, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr ({0}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Menschenrechtslage in Tibet verbessern
- Drucksache 16/9747 ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({1}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Festnahme des chinesischen Dissidenten Hu
Jia
Entschließung des Europäischen Parlaments
vom 17. Januar 2008 zur Inhaftierung des chinesischen Bürgerrechtlers Hu Jia
EuB-EP 1652; P6_TA-PROV ({2}) 0021
- Drucksachen 16/8609 A.9, 16/9822 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Michael Leutert
Volker Beck ({3})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Bevor ich dem Kollegen Florian Toncar für die FDPFraktion das Wort erteile,
({4})
bestätige ich den gerade durch Zwischenruf vermittelten
Spielstand, der auf der einen Seite sicherlich hochgradig
aufschlussreich ist, aber noch keine abschließende Betrachtung über den wahrscheinlichen Endspielgegner der
deutschen Nationalmannschaft erlaubt.
({5})
- Frau Kollegin, ist das als Antrag im Sinne der Geschäftsordnung zu verstehen?
({6})
Dann wäre die Durchführung eines Hammelsprungs angesichts dieses Themas von besonderem sportlichem Interesse.
({7})
Das werden die Geschäftsführer jetzt sicherlich als Anregung aufgreifen.
Nun hat zum aufgerufenen Tagesordnungspunkt der
Kollege Florian Toncar das Wort.
({8})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
Kenntnis der ersten Halbzeit kann ich Ihnen versichern,
dass Sie definitiv richtig entschieden haben, hierher zu
kommen.
({0})
Das Spiel im Stadion ist nicht das beste.
Das hätte für das gestrige Spiel übrigens auch gegolten, Herr Kollege Toncar.
({0})
Das gilt grundsätzlich für diese Art von Veranstaltungen, Herr Präsident.
Die Probleme in Tibet bestehen seit längerem. Doch
seit den Unruhen im März mit schweren Gewalttaten,
die wir allesamt verurteilen - ganz gleich, von wem sie
ausgingen -, aber auch vor dem Hintergrund der Olympischen Spiele in Peking im August ist Tibet wieder ins
öffentliche Bewusstsein gerückt. Zudem besteht
Hoffnung, seit die chinesische Regierung die Gespräche
mit Abgesandten des Dalai-Lama wieder aufgenommen
hat.
Wir Liberale sehen die Entwicklung Chinas mit großem Respekt. Der enorme wirtschaftliche und soziale
Fortschritt, die Überwindung des Hungers, die Modernisierung, auch Fortschritte beim Aufbau des Rechtsstaats
nehmen wir wahr und begrüßen es. Wir Liberale wollen
China einbinden und nicht eindämmen. Bei seiner Modernisierung muss dieses riesige und vielfältige Land
stabil und friedlich bleiben. Das Ein-China-Prinzip war
und bleibt deshalb Grundlage der China-Politik der FDP.
Allerdings bezweifeln wir als freiheitliche politische
Kraft, dass ein Zustand stabil genannt werden kann,
wenn Unmut und Kritik wie in Tibet nur durch die geballte Staatsmacht im Zaum zu halten sind. Diese Stabilität ist trügerisch, weil sie nicht auf Überzeugung durch
reale Verbesserungen setzt, sondern auf schiere Stärke.
({0})
Zum Schutz der tibetischen Kultur ist noch vieles zu
tun. Zwar sieht die chinesische Verfassung Autonomie
und Minderheitenrechte für die Provinz Tibet und die Tibeter vor. Auch die Infrastruktur wurde deutlich verbessert. Trotzdem bangen viele Tibeter um ihre Kultur. Das
liegt daran, dass ihre Bildungs- und Aufstiegschancen
noch nicht gut genug sind, ihre Sprache benachteiligt
wird und dass sie durch eine gesteuerte Zuwanderung
von Han-Chinesen in Teilen der Provinz Tibet bereits
eine Minderheit sind.
Besonders besorgniserregend ist die Einschränkung
der Religionsfreiheit. Das Oberhaupt des tibetischen
Buddhismus, der Dalai-Lama, darf nicht ins Land. Wenn
er verstirbt, ist unklar, ob es einen ordnungsgemäß ausgewählten Nachfolger gibt.
Der vorliegende Antrag zeigt auf, wie die Bundesregierung auf eine Entspannung des Konflikts hinwirken
kann. Er kommt zum richtigen Zeitpunkt, weil die Chinesen und die Tibeter wieder miteinander verhandeln.
Die Lebenserwartung des Dalai-Lama ist der Zeitraum,
der für eine Lösung im Dialog noch verbleibt. Das heißt,
die Zeit drängt.
Der vorliegende Antrag ist sachlich und fair. Er ist
klar, und er ist nicht polemisch.
({1})
Er ist vom ernsthaften Interesse getragen, einen Beitrag
zur Lösung der Probleme in Tibet zu leisten, und soll die
Bundesregierung dabei stärken.
({2})
Der Ihnen vorliegende Text war seit Wochen zwischen
den Fraktionen abgestimmt. Es hätte selbstverständlich
einen gemeinsamen Antrag zu diesem Thema geben
können. Ich hätte das für ein starkes Signal gehalten.
Mittlerweile wollen die Sozialdemokraten nach der
China-Reise des Außenministers von einem gemeinsamen Vorgehen nichts mehr wissen. Mein Eindruck ist,
dass es dabei noch nicht einmal so sehr um die Haltung
in der Sache selbst geht. Da hätten wir uns geeinigt.
Meine Analyse ergibt, dass die Ursache eher ein Kampf
zwischen Kanzlerin und Außenminister um die Lufthoheit in der deutschen Außenpolitik ist
({3})
und dass Herr Steinmeier darin einen Erfolg sieht, in
China einen besseren Ruf zu haben als die Kanzlerin.
Deshalb scheut Herr Steinmeier alles, was diesem Ruf
schaden könnte, vor allem kritische Äußerungen zu bestehenden Problemen in China. Es ist kein Zufall, dass
die Idee eines gemeinsamen Antrags nicht in der SPDFraktion gestoppt wurde, sondern in der Chefetage des
Auswärtigen Amtes. Sie stellen sich damit beim Umgang mit Tibet ins Abseits, liebe Genossinnen und Genossen.
({4})
Ähnliches konnten wir übrigens schon in den vergangenen Wochen beobachten. Wenn eine Ministerin, die
Ihrer Partei angehört - sie ist hier im Raum -, einen Termin mit dem Dalai-Lama vereinbart, um ihn zu sprechen, und Ihrem Parteivorsitzenden nichts anderes einfällt, als dass er diesen - Zitat - „Scheiß“ am liebsten
unterbunden hätte, bleibt einem wahrlich die Spucke
weg.
({5})
Ich wundere mich sehr, dass eine so drastische Sprache
gewählt wird.
({6})
Es ist völlig richtig, wenn der Außenminister anmerkt, dass öffentliche Symbolik allein nicht ausreicht
und dass effektive Menschenrechtspolitik manchmal
auch vertrauliche Dialoge braucht. Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden; da sind wir ganz beim Außenminister. Aber ich finde es wichtig, dass in unserem
Land weiterhin unsere Gepflogenheiten gelten, und das
heißt, dass es öffentliche Diskussionen über außenpolitische Fragen geben kann und geben muss. Was Minister
und Diplomaten vertraulich tun, kann effektiv sein und
kann auch Erfolg haben. Aber es ist der öffentlichen
Kontrolle entzogen und darf deshalb nicht alles sein, was
wir in diesem Themenbereich tun.
Wenn es dann vom Bundesaußenminister heißt, öffentliche Symbolik wie beispielsweise der Empfang des
Dalai-Lama durch die Kanzlerin schade anderen Instrumenten wie dem erfolgreichen Rechtsstaatsdialog mit
China, dann ist das in dieser pauschalen Aussage nicht
richtig. Das Problem an diesem Treffen war doch nicht,
dass das Treffen stattgefunden hat. Es ist völlig selbstverständlich, dass deutsche Politiker sprechen können,
mit wem sie wollen. Das werden wir nicht preisgeben.
({7})
Warum war die Reaktion der chinesischen Seite gerade
im Falle von Frau Merkel so heftig? Warum gab es eigentlich keine Krise, nachdem etwa Alfred Gusenbauer
oder Gordon Brown den Dalai-Lama getroffen hatten?
Weil Frau Merkel kurz vorher in China war und dieses
Treffen dort nicht angekündigt hat, ein Fehler im Übrigen, der dem Auswärtigen Amt in dieser Form nicht passiert wäre, was Anlass sein sollte, zu überprüfen, wie es
möglich ist, die Außenpolitik künftig wieder federführend im Auswärtigen Amt und nicht im Kanzleramt anzusiedeln.
({8})
- Selbstverständlich, Herr Kollege.
({9})
Diesen Vertrauensbruch muss man kritisieren. Aber
wenn es doch eher die Umstände eines solchen Treffens
waren, die die Verstimmung erzeugt haben, dann darf
man nicht allgemein davon ausgehen, dass öffentliche
Gesten als solche die wichtigen Dialoge, die nötig sind
und die wir auch weiterhin wollen, gefährden. Diesen
Antrag heute zu beschließen, wäre keine Beeinträchtigung anderer Instrumente wie etwa des Rechtsstaatsdialogs. Dies wäre kein Nachteil für die Dinge, die uns
selbstverständlich auch sonst in der Zusammenarbeit mit
diesem wichtigen Partner von Bedeutung sind.
Ich wünsche mir, dass wir, der Bundestag, es schaffen, auch zukünftig - bei allen Schwierigkeiten, die sich
durch die Zustände in der Bundesregierung manchmal
ergeben - bei solchen wichtigen Fragen zu gemeinsamen
Textgrundlagen und gemeinsamen Entschließungen zu
kommen; denn ich glaube, dass öffentliche Signale, Herr
Kollege Weisskirchen, in einem völlig einwandfrei,
sachlich, objektiv und fair formulierten Antrag, der hier
vorliegt und an dem es textlich nichts zu beanstanden
gibt, weiterhin möglich sind.
({10})
Erika Steinbach ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe zwar neun Minuten Redezeit; die benötige
ich aber nicht.
Herr Toncar, zunächst einmal: Die deutsche Bundeskanzlerin muss nicht in China um Erlaubnis bitten, ehe
sie sich mit jemandem trifft. Sie muss auch nicht vorher
ankündigen, wenn sie sich mit dem Dalai-Lama trifft.
Das ist ihr originäres Recht.
({0})
Im Übrigen muss ich sagen: Der Antrag der Freien
Demokraten ist Wort für Wort richtig. Ich bedauere aufrichtig, dass es nicht zu einem gemeinsamen Antrag des
Hauses gekommen ist.
({1})
Die CDU/CSU hat einen Koalitionsvertrag mit den Sozialdemokraten geschlossen. Wir sind vertragstreu. Daher werde ich diesen Antrag der Freien Demokraten mit
zusammengebissenen Zähnen ablehnen - lieber Kollege
Strässer, ich bedauere Sie; Sie würden ja auch gerne zustimmen -;
({2})
aber es fällt mir sehr schwer.
({3})
Michael Leutert von der Fraktion Die Linke gibt seine
Rede zu Protokoll1), sodass jetzt der Kollege Christoph
Strässer für die SPD-Fraktion der nächste Redner ist.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Toncar, ich finde die
Einführung in Ihre Rede sehr spannend. Von dem, was
Sie gesagt haben, steht aber nicht ein Satz in Ihrem Antrag.
({0})
- Doch. - Sie haben Ihren Antrag nicht in das eingeordnet, worüber wir heute Morgen, wie ich finde, anderthalb Stunden lang auf allerhöchstem Niveau diskutiert
haben. Aus Ihrer Fraktion stammt doch die Anmerkung:
Wenn man in diesen Tagen über China debattiert, geht es
nicht nur darum, Einzelprobleme herauszugreifen,
({1})
sondern dann geht es schlicht und ergreifend darum, das
Land in seiner Entwicklung zu betrachten und an dieser
Stelle klare Position zu beziehen. Das tun wir in diesem
Hohen Hause seit sehr vielen Monaten, lieber Kollege
Toncar.
({2})
- Ich komme gleich auf Tibet zu sprechen. Da brauchen
Sie keine Sorge zu haben.
1) Anlage 7
Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie mich befördert haben. Es ist ungewöhnlich, dass ein Abgeordneter
der Opposition einen Abgeordneten der Koalition in die
Spitzenetage des Auswärtigen Amtes befördert. Das
finde ich bemerkenswert. Ich wäre froh darüber, wenn es
so gelaufen wäre. Leider ist es aber nicht so.
({3})
Dem Journalisten, dem Sie etwas erzählt haben, habe ich
an anderer Stelle gesagt: Gehen Sie einfach einmal davon aus, dass in dieser Fraktion Leute sitzen, die einen
eigenen Kopf haben, die selbst denken können und die
Positionen vertreten, die sie für richtig halten.
({4})
Gestatten Sie mir an dieser Stelle bitte, noch einmal
auf das zurückzukommen, worüber heute Morgen nicht
zum ersten Mal diskutiert worden ist. Frau Kollegin
Steinbach, ich darf daran erinnern, dass wir in der letzten
Sitzungswoche in diesem Hohen Hause in einer ganz
konkreten Menschenrechtsfrage keine Einigkeit erzielt
haben und das an Ihnen gescheitert ist. Deshalb sage ich
in aller Deutlichkeit: Hier Krokodilstränen zu vergießen,
ist kein angemessener Stil.
({5})
- Das sage ich Ihnen gleich. Warten Sie doch einfach
einmal ab! Wir stehen doch erst am Anfang der Diskussion.
Herr Hoyer, Ihre Rede hat mich stark beeindruckt. Ich
fand, das war eine der besten Reden, die zum Thema
China in diesem Hohen Hause gehalten worden sind.
({6})
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir gestatten würden,
aus dem Protokoll des Deutschen Bundestages vom heutigen Tag eine Passage aus Ihrer Rede zu zitieren:
Ab nächster Woche ist Tibet wieder für Ausländer
geöffnet. Das ist eine gute Nachricht. Ich danke
dem Präsidenten dafür, dass er eine Anmerkung zur
Reise des Menschenrechtsausschusses gemacht hat.
Auch in der Tibet-Frage sind Ehrlichkeit und Realismus angesagt, sowohl was die Historie angeht als
auch was die Gegenwart und die Zukunft angeht.
Unser Rat an die chinesischen Freunde lautet: Ihr
seid gut beraten, den direkten Dialog mit dem Dalai-Lama zu suchen und den Dialog ernsthaft zu
führen.
An dieser Stelle steht:
Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
({7})
Dann geht es weiter:
Wer weiß, was nach ihm kommt.
Wir erwarten, dass unsere chinesischen Partner die
Gesetze zum Schutz der Tibeter tatsächlich umsetzen. Wir müssen allerdings unseren tibetischen Gesprächspartnern gegenüber klarmachen, dass auch
Gewalt von ihrer Seite nicht nur nicht zielführend,
sondern inakzeptabel ist.
({8})
Das heißt, dass wir in den Gesprächen mit dem religiösen Führer der Tibeter - die wir selbstverständlich führen dürfen - sagen müssen, dass wir um
eine präzise Definition von Autonomie nicht herumkommen und dass wir keine Forderung unterstützen - die wird nicht von ihm kommen, aber
möglicherweise von anderen -, die auf eine Destabilisierung Chinas hinauslaufen würde.
({9})
Damit ist die Kernposition, die der Deutsche Bundestag
vertreten sollte, benannt. All das findet sich leider Gottes
in Ihrem Antrag nicht wieder. Nichts davon steht darin.
Deshalb dürften Sie eigentlich nicht verwundert sein,
dass wir diesem Antrag nicht zustimmen.
Ich will Ihnen an dieser Stelle die Punkte Ihres Antrags nennen, die aus meiner Sicht überflüssig sind. Sie
sind ja Jurist. Sie wissen aus früheren Klausuren: Was
überflüssig ist, ist falsch. Sie sollten einmal - ich finde
schade, dass Sie das nicht getan haben - genau nachlesen, was die Bundesregierung, was der Außenminister
auf all die Punkte in der Großen Anfrage der Grünen, die
Sie zitiert haben, geantwortet hat. Alle Ihre Fragen sind
beantwortet; alle Ihre Forderungen sind erfüllt. Ich weiß
überhaupt nicht, warum Sie fordern, was die Bundesregierung schon erklärt hat.
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Toncar
zulassen?
Natürlich.
Bitte schön.
Herr Kollege Strässer, ich habe am Freitag in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung lesen dürfen, dass Sie
sich in der letzten Woche noch nicht darüber im Klaren
waren, ob die SPD-Fraktion dem Antrag zustimmt oder
nicht, dass Sie sich lediglich darüber im Klaren waren,
dass Sie nicht als Antragsteller auftreten. Wenn Sie letzte
Woche noch der Meinung waren, dass eine Zustimmung
zu diesem Antrag nicht ausgeschlossen ist, warum kommen Sie dann heute zu einer so eindeutigen und drastisch
negativen Bewertung des Inhalts des Antrags? Können
Sie mir das erklären?
Sie wissen, wie das mit den Zeitungen ist. Den Satz,
mit dem ich dort zitiert werde, habe ich definitiv nicht
gesagt. Das habe ich dem Journalisten, der mich angerufen hat und dem Sie bestimmte Dinge erzählt haben,
auch so deutlich gesagt.
Ich sage es noch einmal, Herr Kollege Toncar: Sie
machen mit diesem Antrag etwas, was wir übereinstimmend an dieser Stelle nicht praktizieren wollten. Sie
spielen zum Schein Attaché. An diesem Punkt sagen wir
alle - jedenfalls unsere Fraktion; soweit ich weiß, auch
aus Überzeugung -: Das ist der falsche Weg. Ich sage Ihnen auch, warum. Sie ignorieren all das, was heute angesprochen worden ist, zum Beispiel zur Rücksichtnahme
auf die Entwicklung in China. Sie schreiben in Ihrem
Antrag nicht einen einzigen Satz über das, was in den
letzten 30 Jahren in dieser Volksrepublik passiert ist.
Deshalb ist dieser Antrag aus meiner Sicht kontraproduktiv; er wird Ihrem Anliegen nicht gerecht. Im Gegenteil: Ich befürchte, dass er Ihrem Anliegen sogar schadet.
Das ist genau der Punkt, um den es uns heute geht.
({0})
Ich finde es auch sehr schade, dass wir diese Diskussion
nicht heute Morgen vor etwas besser gefülltem Haus
führen konnten; denn dahin hätte es als ein Teilbereich
der China-Politik dieser Bundesregierung gehört.
Ich will zum Schluss noch etwas dazu sagen, wer wen
besuchen und wer mit wem reden darf. Aus meiner Sicht
gibt es da gar keine Frage. Natürlich dürfen und sollen
deutsche Politiker mit dem Dalai-Lama reden. Warum
denn nicht? Aber ich kritisiere - das sollte man, wenn
dies angesprochen wird, auch sehr deutlich sagen -,
wenn diese Politik das Einzige ist und danach keine
menschenrechtlichen Implikationen folgen. Reine Symbolpolitik nutzt den Menschenrechten in der Volksrepublik China nicht.
({1})
- Kollege Fischer, regen Sie sich nicht so auf! Wir haben
das doch gesehen.
({2})
Der Kollege Wellmann und die Kollegin Dyckmans waren bei der Reise dabei. Wir haben gemeinsam mit dem
Außenminister vor Ort gezeigt, was eine offene und ehrliche Menschenrechtspolitik ist. Man darf sich nicht ducken. Wir haben alle diese Themen angesprochen. Ich
weiß gar nicht, wie Sie darauf kommen, dass es einen
Linienstreit in der Koalition gibt.
({3})
Der Außenminister hat vor Studenten der Hochschule
für Außenpolitik von sich aus das Thema Tibet angesprochen. Er hat öffentlich erklärt, wie die deutsche
Bundesregierung zu Tibet steht und was sie von den Chinesen erwartet. Er hat das thematisiert. Das stand zwar
nicht in der Zeitung. Aber er hatte großen Erfolg; denn
die Menschen dort haben ihm zugehört. Dasselbe gilt für
die Gespräche mit Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern.
Ich kann nur sagen: Wir sollten an dieser Stelle abrüsten. Ihr Antrag führt aus unserer Sicht nicht weiter. Wir
haben mindestens fünf Ihrer Forderungen in diesem Antrag erfüllt. Deshalb führt uns das an dieser Stelle in die
Irre. Wir möchten eine vernünftige und richtungweisende Chinapolitik unter Berücksichtigung aller Umstände. Diese werden wir in der Zukunft ganz konsequent verfolgen.
Herzlichen Dank.
({4})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nein, ich
lese jetzt keine Rede von Erika Steinbach vor.
({0})
Zunächst einmal möchte ich sagen: Solange nicht im
Auswärtigen Amt, sondern noch im Kanzleramt Außenpolitik gemacht werden darf, würde ich eigentlich erwarten, dass das Kanzleramt hier bei solchen Debatten vertreten ist. Das ist leider nicht der Fall. Vielleicht hat das
aber ein neues Verhältnis der Ressorts untereinander zur
Folge.
Nun zum eigentlichen Thema.
Im Rahmen der Spiele der Neuzeit verkörpert das
Olympische Feuer die positiven Werte, die der
Mensch diesem Element von jeher zuschreibt. Die
Reinheit des Feuers wird dadurch gewährleistet,
dass es auf ganz besondere Art und Weise - mithilfe der Sonnenstrahlen - entzündet wird. … Auf
seinem Weg kündigt das Feuer die Olympischen
Spiele an und vermittelt eine Botschaft des Friedens
und der Verbundenheit der Völker.
Diese Sätze findet man in einer Broschüre des Olympischen Museums zur olympischen Bewegung und zur
olympischen Idee der Neuzeit. Wenn man sich diese
Volker Beck ({1})
Sätze vergegenwärtigt, muss man sagen: Was war der
Fackellauf in Lhasa am letzten Wochenende für eine Gespensterveranstaltung!
({2})
Eine Regierung spricht der olympischen Idee Hohn,
indem sie jede Beteiligung des Volkes an dieser Veranstaltung verhindert, da sie das Volk fürchten muss, weil
sie es unterdrückt und die kulturellen und religiösen
Rechte dieser Minderheit verhöhnt. An die olympische
Bewegung gerichtet, an das Internationale Olympische
Komitee und den Deutschen Olympischen Sportbund,
der sich mit seinen Stellungnahmen nicht gerade mit
Ruhm bekleckert hat,
({3})
sage ich ganz deutlich: Wer an den olympischen Stätten
Widerstand gegen die Verhöhnung der olympischen Idee
leistet, dagegen sein Wort erhebt und symbolische Aktionen durchführt, der hat unsere Solidarität verdient,
keine Sanktionen.
({4})
Meine Damen und Herren, wir alle sind aufgrund der
Situation in Tibet besorgt. Es kam erneut zu einem Aufstand, der nach Angaben der tibetischen Exilregierung
mindestens 200 Todesopfer gefordert hat. Die Situation
in Tibet ist seit langem problematisch. Wir dürfen die
Menschenrechtssituation in China aber nicht, weil die
westlichen Medien auf Tibet schauen und weil Tibet mit
dem Dalai-Lama einen prominenten Fürsprecher hat, auf
die Tibetfrage reduzieren. Das wäre völlig falsch. Deshalb haben wir vor zwei Wochen über die Große Anfrage
der Grünen zur Menschenrechtslage vor den Olympischen
Spielen diskutiert. Hierbei ging es uns um Tibet, um Xinjiang, aber auch um die Dissidenten und die religiösen
Minderheiten in Zentralchina, die um ihre Rechte kämpfen. Wir müssen aufpassen, dass wir unsere Menschenrechtspolitik nicht primär innenpolitisch induziert betreiben und uns nur danach richten, was populär ist.
({5})
Wir müssen uns an den Fragen orientieren: Was ist nachhaltig, was führt in diesem Land tatsächlich zu Konsequenzen, und welche Probleme sind bereits vergessen?
Vor diesem Hintergrund haben wir diesem Hohen Hause
vor einiger Zeit einen Antrag zur Situation der Uiguren in
Xinjiang vorgelegt. Denn der Dalai-Lama hat uns bei seinem Besuch in diesem Hohen Haus gesagt, dass die Situation der Uigurinnen und Uiguren noch weitaus schlimmer
ist als die der Tibeterinnen und Tibeter. Ich finde, auch das
muss man am heutigen Tag einmal sagen.
Wenn wir darüber diskutieren, was für eine China-Politik wir betreiben sollten, müssen wir uns fragen: Ist
das, was wir demonstrativ machen, zum Beispiel ein
Empfang des Dalai-Lama im Kanzleramt, wirklich von
einer politischen Strategie gedeckt, die dazu führt, dass
sich die Menschenrechtssituation für die Chinesinnen
und Chinesen in Tibet, Xinjiang und Zentralchina verbessert, oder nicht? Frau Steinbach, hierbei geht es auch
um die Frage: Ist es klug, den Chinesen diesen Empfang
bei einem Besuch nicht anzukündigen, oder hätte es
nicht geholfen, es vorher zu sagen, um dadurch den
Sprengstoff aus der Situation zu nehmen und den Menschenrechtsdialog, der ein sehr wichtiges Instrument ist,
um die Menschenrechtssituation in China zu verbessern,
nicht zu gefährden? Das sind die Fragen, die wir uns
stellen müssen. Es geht nicht nur darum, was man darf.
Entscheidend ist, was Politik bewirken kann.
Ich möchte noch einen Satz zu dem zweiten Antrag,
den wir heute verabschieden, sagen, obwohl mich der
Präsident bereits mahnt. Den Antrag der FDP zur Menschenrechtslage in Tibet werden wir unterstützen, weil er
zumindest nicht falsch ist. Ich finde allerdings, man
sollte dieses Thema globaler fassen. Das haben wir in
unserem Antrag zur Menschenrechtssituation in Gesamtchina, den wir dem Ausschuss vorlegen werden, getan.
Heute wird sich der Bundestag einmütig - ich weiß
allerdings nicht, ob sich die Linke aus Solidarität zu Peking wieder enthalten wird - für die Freilassung des Bürgerrechtlers und Umweltaktivisten Hu Jia einsetzen.
({6})
Das ist ein richtiges Zeichen. Ich bin allen Fraktionen
dankbar, dass sie unserem Vorschlag gefolgt sind, sodass
wir diese Entscheidung heute einmütig treffen können.
Das nimmt nämlich ein Stück weit das Blamable aus der
Situation von vor zwei Wochen,
({7})
als der Bundestag mit Hammelsprung einen Antrag unserer Fraktion abgelehnt hat, mit dem wir erreichen
wollten, dass die Bundesregierung die Volksrepublik
China auffordert, die politischen Gefangenen von ganz
China vor der Olympiade freizulassen.
({8})
Herr Kollege!
Ich finde, bei Menschenrechten sollten wir nicht auf
den Antragsteller schauen, sondern darauf, ob die Forderung richtig ist, und entsprechend zustimmen. Das ist
glaubwürdige Menschenrechtspolitik. Gönnen Sie den
Oppositionsparteien, wenn sie das Richtige schreiben
- und sei es unvollständig - , die Zustimmung!
({0})
Denn in der Sache ist das das richtige Signal.
Vielen Dank.
({1})
In Menschenrechtsfragen, Herr Kollege Beck, pflegt
das Präsidium auch bei der Umsetzung angekündigter
letzter Sätze besondere Großzügigkeit walten zu lassen.
({0})
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9747 mit dem
Titel „Menschenrechtslage in Tibet verbessern“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme? - Damit ist der Antrag mehrheitlich abgelehnt.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe auf
Drucksache 16/9822 - das ist der Zusatzpunkt 9 - zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung über eine Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Januar
2008 zur Inhaftierung des chinesischen Bürgerrechtlers
Hu Jia. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Dann ist diese Beschlussempfehlung
bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke mit den übrigen Stimmen des Hauses so angenommen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 22:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Axel E.
Fischer ({1}), Ilse Aigner, Katherina
Reiche ({2}), weiterer Abgeordneter und
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Andrea Wicklein, René Röspel, Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Forschung und Entwicklung für die industrielle stoffliche Nutzung nachwachsender
Rohstoffe in Deutschland bündeln und stärken
- Drucksache 16/9757 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kollegen Axel E. Fischer ({4}),
Andrea Wicklein, Cornelia Pieper, Dr. Petra Sitte und
Sylvia Kotting-Uhl.
Wir alle kennen Vorzüge der stofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe. Von Beschäftigungseffekten in der
Landwirtschaft über die Entlastung der Umwelt, die Entwicklung neuer Forschungs- und Produktionsfelder bis
hin zur Einsparung kostbarer Rohstoffe reicht ein breiter
Fächer von Effekten, die wir nicht erst in neuester Zeit
freudig beobachten können. So können nachwachsende
Rohstoffe langfristig einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung der Rohstoffversorgung, zur Importunabhängigkeit sowie zum Umweltschutz leisten. Die Veredelung
nachwachsender Rohstoffe in Bioraffinerien trägt dazu
bei, dass in den ländlichen Gebieten neue Beschäftigungsalternativen geschaffen werden und der Land- und
Forstwirtschaft Produktions- und Einkommensalternativen geboten werden. Darüber hinaus kann die stoffliche
Nutzung nachwachsender Rohstoffe zum Erhalt der biologischen Vielfalt beitragen und die Kulturlandschaft bereichern. Nicht nur für ein Industrieland wie Deutschland
ist die stoffliche Nutzung von Biomasse mit Vorteilen verbunden, sondern auch für Entwicklungs- und Schwellenländer: Nachhaltig produzierte und angebaute Biomasse
kann zu wünschenswert steigenden Exporterlösen, zur
wirtschaftlichen und zur ländlichen Entwicklung in diesen Ländern beitragen. Hierbei müssen mögliche Zielkonflikte in Bezug auf Umweltschutz, Biodiversität,
Flächennutzungskonkurrenzen zur Nahrungsmittelproduktion und auf die soziale Situation in den Anbaugebieten beachtet werden.
Vor diesem Hintergrund wollen wir versuchen, die
vielfältigen Chancen der stofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe sinnvoll zu nutzen. Es bedarf dazu einer
Strategie, in der wir die vielfältigen erfolgversprechenden Ansätze bündeln und fortentwickeln. Ziel dieser breit
angelegten Strategie muss es vor allem sein, Verfahren
und Methoden zu entwickeln, mit denen nachwachsende
Rohstoffe langfristig wirtschaftlich genutzt werden können. Technische Verfahren sind Voraussetzung für jede
Nutzung von Biomasse. Viele Ideen zum Einsatz nachwachsender Rohstoffe sind von der konkreten Umsetzung
im industriellen Maßstab noch weit entfernt. Welche Verfahren in Zukunft möglich sind, müssen Forschung und
Entwicklung aufzeigen. Hier setzt die Forschungsstrategie an.
Der Einsatz nachwachsender Rohstoffe unterliegt in
allen Wirtschaftsbereichen letztlich den gleichen Kriterien nachhaltigen Wirtschaftens wie Verfahren auf Basis
anderer Rohstoffe auch. Neue Produkte und Verfahren
müssen in akzeptabler Zeit rentabel sein und sich im internationalen Maßstab bewähren. Sie müssen in Bezug
auf Wirtschaftlichkeit und Qualität konkurrenzfähig sein.
Letztendlich müssen die Rohstoffe für die Unternehmen
zu Weltmarktpreisen zur Verfügung stehen. Das ist beim
Einsatz von nachwachsenden Ressourcen heute nicht immer gegeben. Hier müssen unsere Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten ansetzen, hier sind die Grundlagen
für eine erfolgreiche Nutzung zu legen. Im Rahmen dieser
Strategie muss vor allem die Grundlagenforschung zur
stofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe vorangetrieben werden, damit es uns gelingt, zukunftsträchtige
und innovative Konversionsverfahren zu entwickeln.
Mit einer deutlich verbesserten Forschungsförderung,
mit der Vernetzung aller Glieder der Wertschöpfungskette
und mit der Beseitigung von gesetzlichen Hürden sind
wichtige Voraussetzungen für den verstärkten Einsatz
nachwachsender Rohstoffe geschaffen worden. Wir
Axel E. Fischer ({0})
wollen hier einen Schwerpunkt weiter auf Biodiversität,
Bodenfruchtbarkeit, Wirkungsgrad, Kaskadennutzung
und Ökobilanzierung legen. Wir wollen dazu die Förderung von Forschungs-, Entwicklungs- und Demonstrationsvorhaben fortführen, verstärkt über die Anwendungsmöglichkeiten aufklären sowie eventuell bestehende
Hemmnisse für den stofflichen Einsatz nachwachsender
Rohstoffe beseitigen.
Um den Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen zu
erhöhen und ihre Produktion effizient zu gestalten, müssen alle Möglichkeiten, insbesondere auch die der grünen
Gentechnologie, ergebnisoffen geprüft und erforscht
werden. Wir müssen, wenn wir erfolgreich sein wollen,
neue Produktlinien auf Basis nachwachsender Rohstoffe
entwickeln. Dazu bedarf es höchstmöglicher Flexibilität
bei den verwendeten Technologien. Die notwendigen
Rohstoffe müssen ganz bestimmte Eigenschaften aufweisen und hohe Qualitätsstandards erfüllen. Damit sie diese
Voraussetzungen erfüllen, müssen alle Möglichkeiten einer nachhaltigen Pflanzenproduktion zur Verfügung stehen. Ein rein ökologischer Landbau wird den Erfordernissen an Menge, Preis und Qualität der Rohstoffe nicht
Rechnung tragen können. Die Grüne Gentechnik könnte
in Zukunft ganz entscheidend dazu beitragen, Pflanzen
als Lieferanten marktfähiger Rohstoffe zu etablieren. Sie
bietet neue Möglichkeiten der Bereitstellung von nachwachsenden Rohstoffen. Dabei spielt sowohl die erreichbare Mengensteigerung als auch die gezielte Herstellung
von benötigten Rohstoffen eine Rolle.
Es kann nicht sein, dass uns hier in Deutschland weiter
überzogene ideologische Blockaden daran hindern, am
weltumspannenden Fortschritt in diesem Bereich teilzuhaben, und dass damit die Nutzungsmöglichkeiten von
nachwachsenden Rohstoffen stark eingeschränkt werden.
Wenn wir zu den führenden Wirtschaftsnationen gehören
wollen, dann können wir uns nicht systematisch bei einer
Spitzentechnologie nach der anderen aus dem internationalen Forschungskonzert verabschieden. Das gilt im
Energiebereich für die Kerntechnik genauso wie in der
Landwirtschaft für die Grüne Gentechnik.
Auch unter humanitären Gesichtspunkten ist in
Deutschland ein schnelles Umdenken notwendig: Die
Steigerung der energetischen und industriellen Nutzung
nachwachsender Rohstoffe führt zu einem verstärkten
Wettbewerb um Anbauflächen. Bisher wurden diese vorwiegend für die Nahrungsmittelproduktion genutzt. Um
größeren Verwerfungen entgegenzuwirken, um den Hunger in der Welt nachhaltig zu bekämpfen, müssen wir
dringend Methoden entwickeln und anwenden, mit denen
pflanzliche Abfallstoffe besser als bisher genutzt werden.
Hier schafft unter anderem auch die Einführung eines
Bioraffinerie-Forschungsnetzwerks, in dem Kompetenzen und Aktivitäten in Forschung, Entwicklung und Demonstrationsanlagen gebündelt werden, den notwendigen Rahmen für spürbare Fortschritte.
Es reicht allerdings nicht aus, die Schwerpunkte ausschließlich auf die Forschung zu legen, wir müssen andererseits die Forschung eng mit den Hochschulen vernetzen, damit die gewonnenen Erkenntnisse möglichst
schnell und effektiv in die Lehre, in die Ausbildung junger,
motivierter Menschen Eingang finden. Im Idealfall wird
bei Forschung und Lehre an den entsprechenden Lehrstühlen die stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe
in ihrer gesamten Breite berücksichtigt.
Deutschland ist ein rohstoffarmes Land. Wir stehen im
weltweiten Wettbewerb um die Nutzung knapper Rohstoffe. Wichtig ist ein schonender Umgang mit allen Rohstoffen sowie die Entdeckung, Entwicklung und Nutzung
neuer Ressourcen. Mit unserer Forschungsstrategie werden wir die darin liegenden Chancen ergreifen, Innovationen anregen und einen wesentlichen Beitrag für eine
erfolgreiche und nachhaltige Entwicklung unserer Rohstoffbasis leisten können.
Das Deutsche Kunststoff-Museum in Düsseldorf klärt
über eine Revolution auf, die vor 148 Jahren begann: Die
Entwicklung des einmaligen Werkstoffs Celluloid, bestehend aus nitrierter Cellulose und Kampfer. „Anstoß für
die Entwicklung des Celluloids war ein Preisausschreiben, bei dem ein neuer Werkstoff gesucht wurde, der das
teure Elfenbein der Billardkugeln ersetzen sollte“, so das
Düsseldorfer Museum.
Doch schon wenig später haben die erdölbasierten
Kunststoffe ihren Siegszug angetreten und sind heute fester Bestandteil in unserem Alltag. Angefangen von Brennstoffen über Kraftstoffe bis hin zu hochmodernen Werkstoffen. Die erdölbasierte Chemie hat damit seit vielen
Jahrzehnten sehr erfolgreich hochkomplexe und effiziente Nutzungsmöglichkeiten des Erdöls entwickelt. Weltweit wird unser Leben und auch unser Wohlstand davon
bestimmt. Beispielsweise nenne ich: Fensterrahmen und
Fußbodenbeläge aus PVC ({0}), Schaumstoffe in Polstermöbeln und Matratzen aus Polyurethan,
Styropor-Verpackungen aus Polystyrol, Gießkannen, Eimer und Fernsehgehäuse aus Polyethylen ({1}), Armaturen, Folien und Trinkhalme aus Polypropylen ({2}),
Synthetikfasern aus Polyamid oder Wasch- und Reinigungsmittel aus Ethylenoxid.
Aber das Erdöl ist endlich, wird knapper und immer
teurer. Die Zeit ist deshalb reif, auch im Bereich der
Kunststoffe und chemischen Produkte über sinnvolle und
aussichtsreiche Alternativen zu diskutieren und Lösungsansätze zu entwickeln. Unbestritten ist, dass es bei den
chemischen Erzeugnissen zum Erdöl nur eine einzige
echte Alternative geben wird: die nachwachsenden Rohstoffe. Denn sie sind die einzige erneuerbare Rohstoffquelle, die die für die Chemie notwendigen Kohlenstoffverbindungen enthält. Dagegen sind Kraftstoffe, Strom
und Wärme auch durch andere Alternativen, wie Windkraft, Erdwärme oder Sonnenenergie, ersetzbar. Dies ist
ein entscheidender Punkt, der sowohl bei der sinnvollen
Nutzung des Erdöls als auch beim sinnvollen Einsatz von
nachwachsenden Rohstoffen berücksichtigt werden muss.
Wenn wir also die nachwachsenden Rohstoffe nur für die
energetische Nutzung denken, dann greift das zu kurz. Mit
diesem Antrag wollen wir deshalb die unausweichliche
Rohstoffwende im Bereich der Chemie unterstützen. Wir
stehen langfristig vor einer neuen Revolution: der RohZu Protokoll gegebene Reden
stoffwende vom Erdöl hin zu den nachwachsenden Rohstoffen.
Wie ist die Ausgangssituation? Von den rund 113 Millionen Tonnen Erdöl, die Deutschland Jahr für Jahr verbraucht, benötigt die chemische Industrie derzeit rund
20 Millionen Tonnen für die stofflichen Chemieprodukte.
Hinzu kommen etwa 2 Millionen Tonnen Biomasse als
weitere Rohstoffbasis. Deutschland hat sich zu einem der
weltweit führenden Chemiestandorte entwickelt. Fast
450 000 Beschäftigte zählt diese Branche, die zu
80 Prozent exportabhängig ist und pro Jahr einen Umsatz von 153 Milliarden Euro erwirtschaft. Allein
5,3 Milliarden Euro investiert die Branche pro Jahr in
neue Produkte, Technologien und Verfahren. Damit belegt Deutschland in Europa als Chemiestandort den ersten Platz und in der Welt Platz vier.
Bei der Wende hin zu den nachwachsenden Rohstoffen
stehen wir nicht am Anfang. Bereits seit den 80er-Jahren
nimmt das Interesse an Biokunststoffen und Materialien
aus nachwachsenden Rohstoffen wieder zu. Aber mit der
dramatischen Verteuerung des Erdöls seit etwa 2002 von
damals rund 25 auf jetzt etwas über 140 Dollar pro Barrel sind die Bemühungen weltweit rasant gestiegen, das
Erdöl durch nachwachsende Alternativen zu ersetzen.
Kunststoffe aus Stroh oder Gras können sich so zu einer
echten Konkurrenz zum Erdöl entwickeln. Zahlreiche
Hochschulen, Forschungsseinrichtungen und Chemieunternehmen widmen sich verstärkt diesem Zukunftsfeld,
und es entstehen diverse Forschungsnetzwerke.
Auch Bund, Länder und die Europäische Union unterstützen auf vielfältige Weise diesen jungen Bereich; der
Bund beispielsweise durch den Förderschwerpunkt „Biokonversion nachwachsender Rohstoffe“, die Förderung
der Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe e. V. ({3}),
die Etablierung des Deutschen Biomasseforschungszentrums mit Sitz in Leipzig, die Unterstützung des Deutschen Bioraffinerie-Kongresses oder die Clusterinitiative
zur Weißen Biotechnologie; die EU vor allem mit dem
7. Forschungsrahmenprogramm, in dem auch Biowissenschaften, Biotechnologie und Biochemie gefördert werden.
Doch bis zur industriellen stofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe ist es noch ein langer Weg. Enorme
Anstrengungen vor allem in Forschung und Entwicklung,
in Ausbildung und Lehre sowie in Demonstrationsanlagen sind noch notwendig, um die stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe voranzubringen. Dabei wird es
entscheidend sein, die Bioraffinerie-Konzepte als Schlüsseltechnologie für den effizienten, Ressourcen schonenden und auch marktwirtschaftlich sinnvollen Einsatz
nachwachsender Rohstoffe weiterzuentwickeln. Denn
quasi analog zur Erdölraffinerie, in der das Erdöl zu
zahlreichen chemischen Grundstoffen veredelt wird, können in einer Bioraffinerie alle Pflanzenteile zur Herstellung entsprechender Plattformchemikalien, aber auch
anschließend für Kraftstoffe, Strom oder Wärme verwendet werden. Durch das Prinzip „Erst stoffliche, dann
energetische Nutzung“ kann die Wertschöpfung von
nachwachsenden Rohstoffen enorm gesteigert werden.
Doch auf dem Weg dahin ist es notwendig, schon jetzt
die Weichen für strategische Entscheidungen in Forschung, Entwicklung und Demonstration der Bioraffination in Deutschland zu stellen. Deshalb verfolgen wir mit
dem Antrag das Ziel, eine ressortübergreifende Strategie
für die stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe als
Bestandteil einer integrierten Biomasse-Strategie zu erarbeiten und daraus konkrete Zielvorgaben sowie
Schwerpunkte für die weitere Forschungsförderung abzuleiten. Darüber hinaus setzen wir auf die Vernetzung der
entscheidenden Akteure, von der Landwirtschaft über
Wissenschaft und Forschung bis zu den Unternehmen.
Durch ein Bioraffinerie-Forschungsnetzwerk können
Kompetenzen und Aktivitäten in Forschung und Entwicklung gewinnbringend gebündelt werden. Zu diesem
Ergebnis kommt auch der Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag „Industrielle stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe“,
das kürzlich feststellte: „Für die stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe ist ein zunehmender Stellenwert in
der Forschungsförderung zwar erkennbar, dennoch fehlen konkrete, übergeordnete Zielvorgaben. Daher wäre
zum Beispiel eine ‚Roadmap für die stoffliche Nutzung‘
erforderlich, um diese Ziele klarer zu definieren und entsprechende Schwerpunkte, zum Beispiel in Form von
Forschungsstrategien, zu formulieren.“ Mit dem vorliegenden Antrag haben wir diese Hinweise aufgenommen
und wollen sie politisch umsetzen.
Ein weiterer Aspekt ist mir in diesem Zusammenhang
sehr wichtig: Die Rohstoffe vom Acker gehen zwar nicht
zur Neige. Aber auch die nachwachsenden Rohstoffe werden, je mehr sie von der Industrie nachgefragt sind, zu einem knappen Gut. Uns muss es deshalb ebenso darum gehen, mögliche Zielkonflikte in Bezug auf Klimaschutz,
Biodiversität, Flächennutzungskonkurrenzen zur Nahrungsmittelproduktion und auf die soziale Situation in
den Anbaugebieten zu achten. Auch das wird im Antrag
ausdrücklich berücksichtigt.
Für ein technologieintensives Land wie Deutschland
wird es wichtig sein, hier im internationalen Vergleich gut
aufgestellt zu sein. Im Deutschen Bundestag ist eine
breite Unterstützung für eine verstärkte stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe erkennbar. Auch Forschung und Wirtschaft haben die riesigen Potenziale dieser noch relativ jungen Branche entdeckt. Jetzt müssen
dafür die richtigen politischen Weichenstellungen vorgenommen werden, damit Forschung und Entwicklung vorankommen können. Dem dient dieser Antrag, für den ich
um Unterstützung werben möchte.
Ende vergangenen Jahres haben wir im Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung den
Arbeitsbericht Nr. 114 „Industrielle stoffliche Nutzung
nachwachsender Rohstoffe“ des Büros für TechnikfolgenAbschätzung entgegengenommen. Er zeigt uns deutlich,
dass die aktuelle Biomasse-Diskussion und ein industriell
stoffliches und energetisches Gesamtnutzungskonzept
nur vor dem Hintergrund breitangelegter forschungsund technologiepolitischer Prozesse betrachtet werden
können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Rohstoff- und Energieverbrauch steigt weltweit
stark an. Die Verfügbarkeit fossiler Energiereserven ist
jedoch endlich und eng mit dem Problem einer starken
CO2-Belastung der Umwelt verbunden. Bei 11,9 Milliarden Barrel erkundeten Ölreserven und geschätzten
66 Milliarden Barrel potenziellen Reserven könnte die
Verfügbarkeit des Erdöls auf noch 55 Jahre angesetzt
werden. Heute beruhen rund 90 Prozent der chemischen
Rohstoffbasis auf den fossilen Rohstoffen Erdöl und Erdgas. Doch die nachwachsenden Rohstoffe gewinnen gerade für die chemische Industrie immer mehr an Bedeutung. Aktuell beträgt der Anteil der Biomasse in der
chemischen Industrie bereits etwa 10 Prozent.
Eine weitere Belastung der Atmosphäre mit klimaschädlichen Gasen aufzuhalten bzw. zu verhindern, stellt
heute eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen dar. Die Forschung zur industriell stofflichen und
energetischen Nutzung nachwachsender Rohstoffe gewinnt dabei zunehmend an Bedeutung. Sie fühlt sich dem
Ziel verpflichtet, einerseits mittelfristig einen Ersatz für
die Nutzung fossiler Energiequellen zu schaffen und andererseits eine Flächenkonkurrenz und damit eine Nahrungsmittelverknappung zu verhindern.
Es setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass eine
einfache Ausweitung der Biokraftstoffproduktion der ersten Generation auf der Grundlage von Zucker- und Stärkepflanzen sowie Ölpflanzen an natürliche Grenzen stößt
und dass ein Nutzen für Mensch und die Umwelt nicht
mehr auszumachen ist. Auch ein Rückgriff auf Altfette,
wie zum Beispiel das Altspeiseöl, ist nur begrenzt möglich. Auch hier sind die Preise allein im vergangenen Jahr
von 340 auf 530 Euro je Tonne gestiegen. Biosprit der
ersten Generation gilt heute schon als ein Preistreiber für
die Lebensmittelpreise.
Die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel sind in den
vergangenen drei Jahren um 83 Prozent gestiegen. Die
Preise für Weizen, Mais, Soja und Ölsaaten steigen stetig.
Allein der Preis für eine Tonne Weizen ist von 70 Euro im
Jahr 2000 auf heute 230 Euro explodiert. Die Verfügbarkeit von Ackerland in der EU ist eine entscheidende
Restriktion für eine deutliche Ausweitung der Biokraftstoffproduktion. Zusätzliche geeignete Anbauflächen fehlen weltweit und können heute nur noch durch weitere Rodungen, zum Beispiel in Regenwaldregionen dieser Erde,
erweitert werden.
Eine nur zehnprozentige Beimischung von Biosprit bedeutet für Deutschland einen Jahresbedarf von 4 Millionen Tonnen. Hierfür werden 5 Millionen Tonnen Rapssaat und 6 Millionen Tonnen Getreide gebraucht. Die
hierfür benötigte landwirtschaftliche Nutzfläche von
30 000 Quadratkilometern entspricht in etwa der Größe
von Brandenburg. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass aus einem Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche 1 550 Liter Rapsdiesel oder 2 560 Liter Bioethanol, beide erste Generation, oder 4 000 Liter BtL-Diesel,
zweite Generation, hergestellt werden können. Treibstoffe
der zweiten Generation - hergestellt auf der Basis einer
breitangelegten Biomassenutzung - wachsen auf weniger
als einem Viertel der Fläche. Das entspräche etwa
65 Prozent der heute 8 000 Quadratkilometer brachliegenden landwirtschaftlichen Nutzflächen.
9 Prozent des weltweiten Primärenergieverbrauchs ist
heute auf die Nutzung „traditioneller Biomassen“ wie
Brennholz und Holzkohle zurückzuführen. Die Verwendung „moderner Biomassen“ zielt mehr auf den Ersatz
konventioneller fossiler Energieträger ab. Die Rohstoffbasis hierfür bilden Energiepflanzen im landwirtschaftlichen Anbau, forstwirtschaftliche Nebenprodukte,
Reststoffe aus der Holzverarbeitung sowie organische
Nebenprodukte und Abfälle. Das setzt allerdings ihre
Konversion zu flüssigen und gasförmigen Sekundärenergieträgern voraus, was landläufig als „Veredlung von
Biomasse“ bezeichnet wird. Dabei wird das Ziel verfolgt,
die Energiedichte der Biomasse zu erhöhen, ihre Transportfähigkeit zu verbessern und ihre Nutzung mit vorhandenen Technologien der Endenergienutzung zu ermöglichen.
Es gibt eine Reihe von Konversionstechnologien, die
bereits Stand der Technik sind. Die Konversionsverfahren
für Kraftstoffe der ersten Generation, die zucker- und
stärkehaltige Samen und Feldfrüchte, wie Zuckerrüben,
Zuckerrohr, Mais, Roggen oder Weizen, zum Benzinersatz
Bio-Ethanol oder Öl von Pflanzen, wie Raps, Soja oder
Palmen, zu Pflanzenöl und Biodiesel umwandeln, sind
nicht wirtschaftlich und einer befriedigenden Kraftstoffversorgung schon heute nicht zuträglich. Der Energieaufwand für deren Herstellung ist oftmals größer als der
Energiegehalt der Kraftstoffe. Die Belastungen der
Ackerböden und der Luft ist allein durch die eingesetzten
Düngemittel und Pestizide außerordentlich hoch.
Statt auf Feldfrüchte, die eigentlich der Nahrungsmittelproduktion dienen, für die Energiegewinnung zu setzen, muss künftig stärker auf die Verwendung celluloseund ligninhaltiger Pflanzen von schnell wachsendem
Holz, ganzer Kulturpflanzen, Reststoffe aus der Waldund Holzwirtschaft gesetzt werden.
Darauf konzentrieren sich Forschung und Entwicklung für Kraftstoffe der zweiten Generation. Das Potenzial zur CO2-Einsparung ist bei den Kraftstoffen der zweiten Generation nämlich doppelt so hoch. Bei der
Herstellung von Biokraftstoffen der zweiten Generation
werden - im Unterschied zu Biokraftstoffen der ersten
Generation - nicht nur Teile, sondern die ganzen Pflanzen genutzt. Sie haben in puncto CO2-Effizienz im Vergleich zu allen realistischen Alternativen einen riesigen
Vorsprung. Die Produkte der zweiten Generation setzen
auf Konversionstechnologien wie Vergasung und Pyrolyse sowie Biomass-to-Liquid-Prozesse. Sie tragen heute
schon Markennamen, wie „bioliq“({0}), „Erneuerbare
synthetische Kraftstoffe“ ({1}), „Sunfuel“
({2}) oder „Sundiesel“ ({3}).
Vier chemische Verfahren erscheinen aus heutiger
Sicht besonders erfolgversprechend: das Karbon-V-Verfahren der Choren-Industries-GmbH, die Direktverflüssigung von Biomasse mittels Katalysatoren der bayerischen Firma Alphakat und der Hochschule für
angewandte Wissenschaften Hamburg und das BioliqVerfahren des Karlruhe Institut of Technology ({4}),
einem Verfahren der Schnellpyrolyse von Stroh zu PyroZu Protokoll gegebene Reden
lysekoks und Pyrolyseöl zu einem sogenannten „Slurry“.
Im Choren-Verfahren wird Biomasse bei 400 bis
500 Grad Celsius in teerhaltiges Schwelgas und Biokoks
umgesetzt, in Rohgas umgewandelt und in einem FischerTropsch-Reaktor mit Hilfe von Katalysatoren in flüssigen
Kraftstoff umgewandelt. Das Verfahren von Alphakat und
der HfaW Hamburg dient der direkten Verflüssigung biologischen Ausgangsmaterials und setzt auf katalytische
Reaktionsbeschleuniger, die langkettige Kohlenwasserstoffe in minutenschnelle, bei weniger als 400 Grad Celsius und ohne Umweg über den Fischer-Tropsch-Prozess
aufspalten. Mit dieser Direktverflüssigung werden energetische Wirkungsgrade von rund 70 Prozent erreicht. An
der Hochschule in Hamburg werden derweil Holz, Stroh
und Kunststoffrückstände aus der Automobilindustrie zu
Kraftstoffen umgewandelt. Die erste, im industriellen
Maßstab nutzbare Anlage zur Katalytischen Drucklosen
Verölung hat den Betrieb am 12. April 2007 in Barrie,
Kanada, aufgenommen. Die Anlage ist zur Verölung von
Reststoffen aus dem Aufbereitungsprozess von Elektronikschrott - Kunststoffgranulat, Kabelisolierungen ausgelegt. Sie wurde nach den technischen Vorgaben des
Verfahrensgebers Dr. Christian Koch von der Alphakat
Engineering GmbH realisiert und in Betrieb gesetzt.
Auch die Forscher am KIT arbeiten am Biosprit 2.0.
Hier geht man davon aus, dass aus einer Art Rohöl aus
Reststoffen der Landwirtschaft der sogenannte „Slurry“
herstellt wird. Der energiereiche „Slurry“ kann direkt zu
Bioraffinerien gebracht werden und dort zu maßgeschneiderten Kraftstoffen veredelt werden. Das ermöglicht, die Pyrolyse in jedem Landkreis in Deutschland zu
organisieren und von dort aus den energiereichen
„Slurry“ an die Raffinerien im Umkreis von 250 Kilometer zu transportieren.
Nicht zuletzt ist das „Butalco-Verfahren“ eines
schweizerisch-deutschen Unternehmens zu nennen. Hierbei werden mittels Säuren mehrere Zuckerarten aus Holz
herausgelöst. Diese werden dann anschließend mit speziell gentechnisch gezüchteten Hefen in Ethanol oder sogar Butanol umgesetzt. Letzterer kann sowohl Benzin als
auch Diesel beigemischt werden.
Der Exzellenzcluster „Maßgeschneiderte Kraftstoffe
aus Biomasse“ an der RWTH Aachen verfolgt einen interdisziplinären Ansatz zur Erforschung neuer, synthetischer Kraftstoffe auf Basis von Biomasse. Durch die
Formulierung neuer Kraftstoffe mit spezifisch zugeschnittenen Eigenschaften soll das Potenzial effizienter
und sauberer Niedertemperaturbrennverfahren für Verbrennungsmotoren erforscht werden. Mit dem zu erforschenden neuen selektiven Prozess zur Umwandlung des
gesamten Pflanzenmaterials - Lignocellulose - in maßgeschneiderte Kraftstoffkomponenten wird dieser Exzellenzcluster Basis sein für die dritte Generation biogener
Kraftstoffe. Diese Kraftstoffe - ganz im Gegensatz zu
vielen heutigen Biokraftstoffen - werden dabei nicht im
Wettbewerb zur Nahrungsmittelkette stehen!
Das Kompetenzzentrum Kraftstoff-Design ({5}) dokumentiert die enge Zusammenarbeit von
Wissenschaftlern aus der naturwissenschaftlichen Fakultät und der Fakultät für Maschinenwesen der RWTH sowie den beteiligten Partnerinstitutionen: aus dem Aachener Fraunhofer-Institut für Molekulare Biotechnologie
und Angewandte Ökologie sowie dem Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mühlheim an der Ruhr. Das
integrative Forschungsfeld „Molekulare Transformation“ konzentriert sich auf die gezielte Umsetzung biogener Substrate aus den Rohstoffströmen Cellulose, Hemicellulose und Lignin zu molekular definierten
Komponenten eines maßgeschneiderten Kraftstoffs.
Aber auch am KIT wird im Rahmen der Erweiterung
der Schnellpyrolyseanlage gemeinsam mit dem Anlagenbauer Lurgi daran gearbeitet, den „Slurry“ in einer Raffinerie mit Flugstromvergaser in Methanol und anschließend in einen maßgeschneiderten Kraftstoff der dritten
Generation zu verarbeiten. Biomasse und Biokraftstoffe
sind auch künftig wichtige Forschungsfelder. Wissenschaftler und Ingenieure sind in den nächsten Jahren
verstärkt gefragt, damit der Einsatz solcher Kraftstoffe
technisch verträglich und zugleich umweltschonend ermöglicht wird.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
({6}) hat im Rahmen seines Förderkonzepts „Grundlagenforschung Energie 2020+“ die energetische Nutzung von Biomasse zu einem Schwerpunkt gemacht. Dazu
hat das Ministerium die Förderinitiative „BioEnergie
2021 - Forschung für die Nutzung von Biomasse“ ausgeschrieben. Für diese Initiative sind 50 Millionen Euro für
einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren eingeplant. Forscherteams aus Hochschulen, außeruniversitären Einrichtungen und aus der Wirtschaft werden gemeinsam an
neuen Prozessen für die Umwandlung von Biomasse arbeiten, damit aus pflanzlichen und sonstigen biologischen
Abfällen Kraftstoffe der sogenannten zweiten Generation
werden. Ziel ist es, durch ausgewählte Forschung und
Entwicklung bereits vorhandene Technologien zur Biomassenutzung zu optimieren, Verfahren miteinander zu
verknüpfen - Kaskadennutzung - und neue Verfahren zu
entwickeln, um den begrenzt verfügbaren Rohstoff Biomasse so effizient und nachhaltig wie möglich energetisch
zu nutzen.
Ein besonderes Förderangebot richtet sich an Arbeitsgruppen unter Leitung von jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die langfristig angelegte Forschungsvorhaben mit völlig neuen Ansätzen zur Nutzung
von Biomasse verfolgen wollen. Die Arbeiten der BMBFFörderinitiative werden eng verzahnt mit laufenden Aktivitäten in den Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft. Das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung,
UFZ, beschäftigt sich in Forschungsarbeiten auch mit
Aspekten einer agrarökonomischen- und ökologischen
Betrachtung von Biomasseerzeugung. Auch mit der
Gründung des Biomasseforschungszentrums Leipzig sollen künftig die Forschungskapazitäten für die Biomasseforschung koordiniert werden. Forschung und Entwicklung für die umfassende Nutzung der regenerativen
Energien ist unverzichtbar; denn die mit der Biomassenutzung verbundenen Spitzentechnologien eröffnen Zukunftschancen für den Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Deutschland.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Antrag der Koalitionsfraktionen nimmt eine wichtige Entwicklung zur Kenntnis: Das Ende des fossilen
Zeitalters rückt näher. Davon sind nicht nur unsere Systeme der Energieerzeugung, sondern viele Wirtschaftszweige betroffen, deren Produkte sich auf die Verfügbarkeit von Öl, Gas und Kohle stützen. Unsere ganze
Wirtschaftsordnung hat sich auf der Grundlage billiger
fossiler Ressourcen entwickelt: Sie hat über mehr als
150 Jahre ein enormes Wirtschaftswachstum generiert,
Träume von umfassender Mobilität und anhaltender
Wohlfahrtssteigerung zumindest für die industriell entwickelten Länder dieser Erde verwirklicht. Nun ist der
„Fossilismus“, wie Professor Elmar Altvater von der FU
Berlin dieses System bezeichnete, angesichts des Klimawandels, aber auch der Preisexplosion für Rohstoffe an
seine Grenze angelangt.
Ob heute der „Peak Oil“, also der Scheitelpunkt der
Ölförderung, schon überschritten ist oder wir kurz davor
stehen, wird heiß diskutiert. Einig ist sich die Wissenschaft jedoch darin, dass die weltweiten Vorräte den ständig steigenden Rohstoffhunger der sich globalisierenden
Weltwirtschaft auf lange Frist nicht decken können. Alle
Industriezweige, die fossile Rohstoffe benötigen, sehen
sich aufgrund von unsicheren Zukunftsprognosen zur
Versorgungsstabilität nach Alternativen um.
Bisher führten nachwachsende Rohstoffe in der industriellen Produktion eher das Dasein eines Mauerblümchens und deckten Nischen ab: Nennenswerten Umsatz
generieren lediglich die Produkte mit biospezifischen
Eigenschaften - etwa kompostierbare Müllbeutel, natürliche Dämmaterialien oder selbstauflösende Implantate
in der Medizin. Forscher arbeiten derzeit an Technologien, die Biomasse zur weitgehenden Substitution erdölbasierter Basisprodukte und Grundstoffe nutzen. Viele
technische Verfahren dieser Bioraffinerien sind im Stadium der absoluten Grundlagenforschung - es wird Jahrzehnte dauern, um sie wirtschaftlich anwenden zu können. Wir begrüßen daher, dass die Koalition sich dieser
Basistechnologien frühzeitig annimmt und eine integrierte Strategie mit dem Schwerpunkt der Grundlagenforschung erarbeiten will. Ebenso sinnvoll ist das Agieren auf europäischer Ebene im Rahmen des Aktionsplans
für biobasierte Produkte. Hier erscheint besonders die
geplante Normung biotechnisch erzeugter Kunststoffe
und Chemikalien vordringlich.
Die Regierung sollte allerdings nicht ihre Fehler aus
laufenden Initiativen ähnlicher Art wiederholen. Anders
als bei den Biokraftstoffen darf diesmal Nachhaltigkeit
nicht erst nach dem Protest von Experten und Umweltverbänden in den Fokus rücken. Sie muss integraler Bestandteil der Technologieförderung sein.
Die Schwierigkeiten mit der Strategie zum Biosprit
und bei der Erarbeitung der Biomassenachhaltigkeitsverordnung zeigen: Importe von nachwachsenden Rohstoffen in großem Maßstab lösen unser Rohstoffproblem
nicht, auch wenn im Koalitionsantrag gut meinend die
Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards angemahnt
wird. Deutsche oder europäische Normen lassen sich in
Ländern der Dritten Welt kaum sinnvoll kontrollieren.
Zudem konkurrieren viele Rohstoffpflanzen trotz aller Bemühungen um eine Kaskaden- und Mehrfachnutzung mit
dem Anbau von Nahrungsmitteln. Dazu kommen Überschneidungen der stofflichen mit der energetischen Verwertung, zum Beispiel wegen aggressiver Biospritstrategien, und ökologische Restriktionen wegen der Erhaltung
von Fruchtfolge und Biodiversität. Das TAB geht davon
aus, dass bei fortschreitender Umstellung auf erneuerbare Energien bereits 2015 die Nachfrage das Angebot an
Biomasse aus Reststoffen deutlich übersteigen wird und
ein expansiver Anbau an Nutzpflanzen oder Import in
großem Maßstab nötig würde. Nachwachsend heißt eben
nicht unbegrenzt wachsend. Das Gutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen zeigt: Eine schlichte
Substitution des Erdöls durch Biomasse ist auf nachhaltiger Grundlage nicht möglich. Wer heute die Pfade für ein
neues Rohstoffregime einschlagen will, darf nicht wieder
mit Raubbau an Natur und Menschen planen. Die zu entwickelnden Verfahren stofflicher Biomassenutzung müssen einem umfassenden Nachhaltigkeitsansatz genügen,
der Düngemittel- und Energieeinsatz, die CO2- und Humusbilanz genauso berücksichtigt wie Auswirkungen auf
Sozial- und Ökosysteme. Der Koalitionsantrag mahnt
dies zwar an, Konzepte sind von Ihnen jedoch dazu nicht
zu vernehmen.
Denn im Mittelpunkt der Biomassestrategie der Bundesregierung insgesamt steht eben nicht ein umfassender
Nachhaltigkeitsansatz, sondern die Ermöglichung von
Wirtschaftswachstum. Dieser Antrag beweist dies wieder
einmal: Es gelte, so der Wortlaut, den Chemiestandort
Deutschland durch eine Strategie „Weg vom Öl“ zu unterstützen. Wenn dies gelänge, so die Logik, dann könne
man auf die gleiche Weise Wirtschaftswachstum generieren wie bisher. Da liegt jedoch der Denkfehler. Genau
dies wird eben nicht möglich sein, denn die nachwachsenden Ressourcen sind endlich. Die Entwicklung neuer
Konversionstechnologien kann also nur ein Teil einer
nachhaltigen Rohstoffpolitik sein, die auch die „Grenzen
des Wachstums“ im Blick hat. Rohstoffeffizienz, Downsizing, Dezentralisierung und Kreislaufwirtschaft müssten zentrale Forschungsthemen sein. Dazu hat diese Koalition keine konkrete Strategie entwickelt, auch dieser
Antrag zeigt dies wieder. Wegen der Einseitigkeit dieser
Politik wird sich unsere Fraktion enthalten.
Angesichts der bereits spürbaren Erderwärmung und
der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen stetig
steigender Ölpreise müssen wir unsere Abhängigkeit vom
Erdöl schnell und drastisch verringern. Wir Grünen haben immer schon auf die gravierenden wirtschaftlichen,
ökologischen und friedenspolitischen Konsequenzen dieser Abhängigkeit gewarnt. Die aktuelle Preisentwicklung
auf den weltweiten Ölmärkten verleiht unserer alten Forderung „Weg vom Erdöl“ derzeit eine völlig neue Dynamik. Dass die Große Koalition heute einen Antrag zu diesem Thema vorlegt, ist bezeichnend.
Die Alternativen zum Öl sind in Form von erneuerbaren Energien und Biomasse ja längst vorhanden. Wenn
wir aber in allen Wirtschaftsbereichen unabhängig vom
Erdöl werden wollen, dann kommt vor allem der BioZu Protokoll gegebene Reden
masse als einem universellen Energie- und Rohstoffträger eine ganz entscheidende Rolle zu. Denn nicht nur die
Bereiche der Wärmeerzeugung und des Verkehrs sind betroffen, gerade auch die Chemie- und Kunststoffindustrie
ist massiv abhängig vom Rohstoff Öl. Wollen wir unabhängig vom Erdöl werden, müssen wir vor allem bei der
Nutzung der Biomasse den Effizienzgedanken viel stärker
als bisher in den Vordergrund stellen, und zwar in zwei
Richtungen: Erstens, hin zu niedrigerem Verbrauch, und
zweitens, in Richtung einer effizienteren Nutzung der vorhandenen Biomasse.
Nur im Zusammenspiel von Effizienz und Substitution
wird eine umweltverträgliche und nachhaltige Abkehr
vom Erdöl gelingen. In Form von Bioraffinerien erfolgt
eine solche hocheffiziente Nutzung von Biomasse. Denn
Bioraffinerien erzeugen nicht nur Rohstoffe für die chemische und pharmazeutische Industrie, sondern auch
Energie in Form von Bioethanol oder auch Biogas. Sie
sind deshalb vor allen Dingen eine Antwort auf die
Frage, wie nachwachsende - aber nicht unbegrenzt zur
Verfügung stehende - Rohstoffe effizient genutzt werden
können.
Die Bundesregierung jedoch macht für die zukunftsfähige Technologie der Bioraffinerie einfach viel zu wenig.
Auch die von der Bundesregierung aus den Einnahmen
aus dem Verkauf von CO2-Zertifikaten geplante Förderung ist letztlich nicht viel mehr als ein Tropfen auf den
heißen Stein. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen haben deshalb bereits im Mai 2007 einen Antrag in den Bundestag
eingebracht, der die Bundesregierung auffordert, Bioraffinerien viel stärker als bislang zu fördern, in Form
von entsprechenden Forschungsprogrammen und Demonstrationsanlagen für die überfälligen Impulse zu sorgen, darüber hinaus auch für die stoffliche Nutzung von
Biomasse verbindliche und ehrgeizige Ziele zu formulieren und bestehende rechtliche Hemmnisse für Produkte
aus nachwachsenden Rohstoffen abzubauen.
Auch die Große Koalition ist inzwischen offenbar zu
der Ansicht gelangt, dass die Bundesregierung in dieser
Hinsicht zu wenig tut und hat einen eigenen Antrag vorgelegt. Es ist durchaus zu begrüßen, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, in
Ihrem Antrag die Potenziale und Chancen der Bioraffinerietechnologie grundsätzlich richtig benennen und anerkennen. In Ihren Forderungen aber greifen Sie aus unserer Sicht viel zu kurz.
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist vor allem ein forschungsorientierter Antrag. Natürlich ist es
richtig und notwendig, die Forschung zu intensivieren
und zu vernetzen; dies ist ja auch Bestandteil unsers eigenen Antrags. Aber angesichts der drängenden Probleme - die Sie ja in Ihrem Antrag selbst benennen - wird
es nicht ausreichen, nur auf eine verstärkte Forschung zu
setzen oder einen bereits bestehenden - und unverbindlichen - Aktionsplan für biobasierte Produkte der Europäischen Union zu unterstützen. Wir müssen vor allen
Dingen handeln. Wir brauchen auf europäischer und
nationaler Ebene eine Biomassestrategie, die alle({0}) Bereiche der Biomassenutzung - Verstromung, Wärme,
Biokraftstoffe und Nutzung in der Chemie- und Kunststoffindustrie - mit einbezieht und - das ist entscheidend verbindliche Zielvorgaben formuliert und dafür auch die
notwendigen Instrumente benennt. Dies ist überfällig.
Sonst werden wir noch ewig weiterforschen, Produkte auf
der Basis nachwachsender Rohstoffe aber trotzdem nicht
in den Regalen stehen. Die Wirtschaft muss endlich auch
für den überfälligen Rohstoffwechsel „Weg vom Erdöl“
in die Pflicht genommen werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9757 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu stelle ich
Einvernehmen fest.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Knoche, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert,
Frank Spieth und der Fraktion DIE LINKE
Cannabis zur medizinischen Behandlung freigeben
- Drucksache 16/9749 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Reden der Kollegen Maria Eichhorn, Dr. Marlies
Volkmer, Sabine Bätzing, Detlef Parr, Monika Knoche
und Dr. Harald Terpe werden zu Protokoll genommen.
Cannabis ist keine Spaßdroge. Sie ist deutschland- und
europaweit die am weitesten verbreitete illegale Droge.
Der Konsum hat in den vergangenen 10 bis 15 Jahren
stark zugenommen, Während 1993 16 Prozent der 12- bis
25-Jährigen Erfahrungen mit dem Konsum von Cannabis
hatten, waren es 2004 schon 32 Prozent. Mittlerweile sind
in Deutschland etwa 600 000 vorwiegend junge Menschen Cannabiskonsumenten, 220 000 sind stark abhängig. Die Zahl der Behandlungszugänge hat sich von
2 600 im Jahr 1992 auf 14 700 im Jahr 2002 mehr als
verfünffacht.
Im vorliegenden Antrag fordert die Fraktion Die Linke
nun, die medizinische Anwendung von Cannabis zuzulassen. Für die Zulassung eines Arzneimittels gibt es in
Deutschland klare Regelungen. Es liegt in unserem Interesse als Patienten, dass Arzneimittel hierzulande nur auf
der Grundlage des Arzneimittelgesetzes und des Betäubungsmittelgesetzes, BtMG, in Verkehr gebracht werden
dürfen. Danach müssen insbesondere Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Arzneimittels wissenschaftlich nachgewiesen werden. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, können die entsprechenden Wirkstoffe
verschreibungsfähig gemacht und in die Anlage III des
BtMG aufgenommen werden.
Dies ist bislang aufgrund klinischer Prüfungen nur für
die Cannabiswirkstoffe Nabilon und Dronabinol erfolgt.
Dagegen sind diese Voraussetzungen bei natürlichen Gemischen wie zum Beispiel dem Cannabisextrakt bisher
nicht erfüllt: Zum einen ist der Nutzen der Behandlung
nicht erwiesen. Zum anderen sind bei Haschisch, Marihuana und anderen illegalen Hanfzubereitungen derzeit
weder der Wirkstoffgehalt noch Art und Umfang schädlicher Beimengungen bekannt. Dazu kommen die Risiken
der Einnahme: So weisen Studien auf eine Reihe akuter
und langfristiger Beeinträchtigungen durch Cannabiskonsum hin. Diese sind bei chronischem Dauerkonsum
mit großen gesundheitlichen Risiken bis hin zur psychischen Abhängigkeit verbunden. Dies gilt auch für die Anwendung zu medizinischen Zwecken.
So fand im Jahr 2005 ein Forscherteam des Institut
Universitaire de Medicine Legale in der Schweiz heraus,
dass Cannabis schädlicher ist als bisher vermutet. Den
Probanden wurde eine geringe Dosis des aktiven Bestandteils von Cannabis delta-9-THC verabreicht, bei einem Teil der Testpersonen löste bereits diese geringe Dosis schwerwiegende Angststörungen und in weiterer
Folge Realitätsverlust, Entpersonalisierung, Schwindel
und paranoide Angststörungen aus. Wissenschaftler der
Universität Amsterdam konnten durch eine neue Studie
bestätigen: Jugendliche, die Cannabis rauchen, haben
ein sechsfach höheres Risiko, später härtere Drogen zu
konsumieren, als Jugendliche, die kein Cannabis nehmen. Damit ist erwiesen: Cannabis dient als Einstiegsdroge für den späteren Konsum harter Drogen. Beide Untersuchungen weisen auf die „vielen Unbekannten“, die
vielen offenen Fragen in diesem Zusammenhang hin und
empfehlen weitere wissenschaftliche Untersuchungen im
Hinblick auf den Wirkmechanismus der Inhaltsstoffe von
Cannabis. Auch nach Auffassung des Gesundheitsministeriums und des Bundesinstituts für Arzneimittel ist der
therapeutische Nutzen der Cannabiseinnahme nicht erwiesen.
Seit 2007 besteht durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Möglichkeit, dass Patienten eine Ausnahmegenehmigung zur medizinischen Verwendung von
Cannabis beim Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte beantragen können. Ab 2007 wurden
vereinzelt Genehmigungen auf Verschreibung eines standardisierten Cannabisextraktes für ein Jahr erteilt. Zwei
Personen erhielten bisher eine Ausnahmegenehmigung.
Eine Person brach die Behandlung vorzeitig ab, da die
aus dem Cannabisextrakt hergestellte Tropflösung keine
Wirkung zeigte. Von der anderen Person liegen keine Auskünfte vor. Ein einzelner Bericht eignet sich nach Aussage
des Bundesinstituts für Arzneimittel nicht, um Schlüsse
hinsichtlich des therapeutischen Nutzens von Cannabisextrakten zu ziehen.
Der Cannabiskonsum hat heute eine andere Dimension als noch zu Flower-Power-Zeiten. Tausende junger
Menschen sind abhängig von dieser Droge. Ihr therapeutischer Nutzen ist nicht erwiesen, die Risiken der Einnahme hingegen sind längst bekannt.
Vor dem Hintergrund dieser Fakten lehnen wir den Antrag der Linken zur medizinischen Verwendung von Cannabis ab. Stattdessen muss die Präventionsarbeit vor allem an Schulen und in Vereinen ausgebaut werden. Ziel
ist es, den Einstieg junger Menschen in die Sucht zu verhindern.
Auch bei der heute zur Debatte stehenden Vorlage haben wir es mit einem Fall zu tun, bei dem die Fraktion Die
Linke auf einen bereits fahrenden Zug aufzuspringen versucht. Denn im Gesundheitsausschuss beraten wir bereits
seit über einem Monat über einen ähnlichen Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Es ist sogar bereits beschlossen worden, im Oktober eine Expertenanhörung
zur medizinischen Anwendung von Cannabis durchzuführen. Die Situation von schwerkranken Patienten, bei denen eine Behandlung mit Cannabis eine Linderung ihrer
Leiden bewirken könnte, ist nicht befriedigend. Diese
Menschen setzen ihre Hoffnung auf sachgerechte Lösungen in die Politik. Diese Hoffnung enttäuschen Sie mit Ihren Vorschlägen, denn deren Umsetzung ist - was Ihnen
klar sein muss - unrealistisch.
Der Antrag fordert, dass ein Arzt eine Bescheinigung
über Besitz und Anbau von Cannabis für den medizinischen Eigenbedarf ausstellen können soll. Grundsätzlich
habe ich natürlich Vertrauen, dass ein Arzt eine korrekte
Indikation zu stellen fähig und willens ist. Aber gerade
bei einem Betäubungsmittel mit einem erheblichen Suchtpotenzial ist Skepsis angebracht. Ich frage auch: Wie
wollen Sie kontrollieren, ob der Patient den Hanf nur für
den Eigenbedarf anbaut oder seine Nachbarschaft mitversorgt? Meiner Ansicht nach birgt zudem die Freistellung von der Strafverfolgung einen gefährlichen Anreiz,
preiswert illegale Produkte zu erwerben. Diese aber können unter Umständen erhebliche gesundheitliche Gefahren bergen. Wichtiger als diese Bedenken ist jedoch, dass
trotz wiederholt vorgetragener Behauptungen der therapeutische Nutzen von Cannabis bis heute nicht eindeutig
wissenschaftlich nachgewiesen ist. Es gibt zwar Studien
zu bestimmten definierten und standardisierten Cannabisextrakten. Einen eindeutigen Wirksamkeitsnachweis haben diese Studien jedoch nicht erbracht. Bislang werden
Ausnahmegenehmigungen durch das Bundesinstitut für
Arzneimittel und Medizinprodukte ({0}) erteilt. Neben
den beschriebenen Gefahren ist es natürlich auch dem
fehlenden eindeutigen wissenschaftlichen Beleg der
Wirksamkeit geschuldet, dass die Anforderungen an die
Antragsteller sehr hoch sind.
Vor dem Hintergrund der hohen Hürden, die gerade
für schwer kranke Menschen belastend sein können, kann
ich verstehen, dass es zum Verfahren und den Entscheidungen der Behörde Erläuterungsbedarf gibt. Vor diesem
Hintergrund gehe ich davon aus, dass dieser Aspekt in
der Anhörung eine wichtige Rolle spielen wird.
Ihre zweite Forderung betrifft dronabinolhaltige Rezepturen. Dronabinol ist ein Derivat, das aus THC-armem Nutzhanf teilsynthetisch hergestellt wird. Es kann
zwar als Rezeptursubstanz in jeder Apotheke erworben
werden; die Gesetzlichen Krankenkassen ersetzen allerdings derzeit die Kosten nicht, da entsprechende Präparate über keine Zulassung verfügen. Auch an dieser Stelle
kommen wir zurück zu den wissenschaftlichen Belegen
der Wirksamkeit: Natürlich steht es dem Gemeinsamen
Bundesausschuss frei, über dronabinolhaltige Rezepturen zu beraten. Seine Entscheidung darüber, ob die Rezepturen von den Gesetzlichen Krankenkassen bezahlt
werden, ist aber wiederum vom Vorliegen solider wissenZu Protokoll gegebene Reden
schaftlicher Studien abhängig. Ohne Beleg der Wirksamkeit kann die Solidargemeinschaft die Kosten für keine
Therapie übernehmen. Die beste Lösung wäre es sicherlich, wenn ein pharmazeutischer Hersteller eine Zulassung für Dronabinol erwerben würde. Ein zugelassenes
Arzneimittel könnten die Kassen ohne Probleme erstatten. Ob mit Dronabinol die gleiche Wirkung bei den Patienten erreicht werden kann wie mit Cannabis, ist dabei
eine ganz andere Frage. Auch an dieser Stelle ist die Studienlage eher dürftig. Derzeit sieht die SPD keine Alternative zu den aufwändigen Einzelfallprüfungen durch das
BfArM. Wir sind aber gern bereit, mit den Experten der
Anhörung zu diskutieren, wie die Situation der unter einem erheblichen Leidensdruck stehenden Patientinnen
und Patienten verbessert werden kann.
Niemand von uns hat Zweifel daran, dass für viele
Menschen Cannabis als Medizin hilfreich sein kann. Wir
haben im Gesundheitsausschuss letzten Monat darüber
ausführlich gesprochen und eine Anhörung zu diesem
Thema im Herbst 2008 verabredet. Für mich zeigte diese
aktuelle Debatte ganz klar: Um die Versorgung von Betroffenen mit Cannabis als Medizin zu gewährleisten,
braucht es kein Gesetz, wie es der vorliegende Antrag fordert.
Allerdings: Wer Cannabis als Medizin nehmen
möchte, der muss wissen, dass der für die Wirkung wichtige THC-Gehalt einer Cannabispflanze sehr stark
schwanken kann. Ein Eigenanbau von Cannabis ist deshalb aus medizinischer und pharmazeutischer Sicht nicht
ratsam. Er wäre für die Betroffenen mit gesundheitlichen
Risiken verbunden. Unter Berücksichtigung individueller
Gegebenheiten, besonders zur Vermeidung einer Unteroder Überdosierung, sollten vielmehr Dronabinol oder
standardisierte Cannabisextrakte verwendet werden.
Dies alles spricht also gegen einen legalisierten Eigenanbau für Patienten.
Zu den Forderungen der Fraktion Die Linke im vorliegenden Antrag sind vor allem zwei Sachverhalte von Bedeutung: Zum einen die wissenschaftliche Beurteilung
von Cannabis als Medizin. Gebetsmühlenartig wird immer wieder von „wissenschaftliche Studien“ gesprochen,
die die Wirksamkeit von Cannabis als Medizin für eine
Vielzahl von Krankheiten beweisen würden. Fakt ist aber,
dass der therapeutische Nutzen von Cannabis - abgesehen von Dronabinol bei bestimmten Indikationsbereichen bis heute nicht eindeutig wissenschaftlich nachgewiesen
ist, auch wenn es zahlreiche Einzelfallbeispiele gibt, in
denen Verbesserungen bei bestimmten Krankheitsbildern
berichtet werden. Der Bundesregierung sind zwar Studien zu bestimmten definierten und standardisierten
Cannabisextrakten bekannt, jedoch haben auch diese
Studien bislang keinen endgültigen Wirksamkeitsnachweis erbracht. Deshalb kommt derzeit eine Umstufung
von Cannabisprodukten - über Dronabinol hinaus - nicht
in Betracht. Ich bin allerdings daran interessiert, dass solide und umfassende Studien durchgeführt werden, die einen Nachweis für die Wirkung liefern, der den heute gültigen Kriterien der Evidenzbasierung bei allen
Arzneimitteln entspricht.
Denn - und das ist der andere Sachverhalt - auch für
den Gemeinsamen Bundessausschuss ({0}) sind nur
solide wissenschaftliche Studien relevant, wenn es um
eine Entscheidung über eine Finanzierung von Arzneimitteln durch die Krankenkassen geht. Für mich besteht
auch bei Cannabis als Arzneimittel kein Grund, die bewährten Verfahrensweisen der Selbstverwaltung mit der
exakten Prüfung durch den G-BA hinsichtlich einer Entscheidung über die Finanzierung aus den Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung außer Kraft zu setzen.
Ideal wäre die arzneimittelrechtliche Zulassung dronabinolhaltiger und/oder auf Basis standardisierter Cannabisextrakte hergestellter Fertigarzneimittel. Wegen der
dann nachgewiesenen Wirksamkeit, Unbedenklichkeit
und pharmazeutischen Qualität wäre eine BtM-rechtliche
Umstufung standardisierter Cannabisextrakte auf jeden
Fall zu rechtfertigen und es bestünde zudem bei diesen
Fertigarzneimitteln ein Leistungsanspruch der Versicherten gegenüber der GKV auf Kostenübernahme zumindest in den zugelassenen Indikationsgebieten.
Leider ist diese Situation derzeit nicht gegeben. Würde
Cannabis als Medizin von der Strafverfolgung freigestellt
oder der Eigenanbau erlaubt, dann wäre ein Missbrauch
nur schwer auszuschließen. Unter diesen Umständen
wird es deshalb dabei bleiben müssen, dass das BfArM
auch weiterhin sorgfältig nicht nur alle Voraussetzungen
des Betäubungsmittelgesetzes für die Erteilung einer
Ausnahmeerlaubnis nach § 3 Abs. 2, sondern auch die
Unbedenklichkeit der therapeutischen Anwendung im
konkreten Einzelfall prüft. Dieses Ausnahme-Erlaubnisverfahren wird vom BfArM für alle Beteiligten - Patienten, Ärzte und Behörde - als ungleich aufwendiger eingeschätzt als die für therapeutische Zwecke vorgesehene
ärztliche Verschreibung eines Betäubungsmittels. Den in
der Regel unter schwerwiegenden Krankheiten leidenden
Patienten ist es kaum zuzumuten. Ich bin überzeugt, das
BfArM macht das Beste aus dieser Situation und bearbeitet die Anträge zügig. Seit Mai 2005, als das einschlägige
Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ergangen ist, sind
93 Patientenanträge beim BfArM eingegangen. 10 Patientenerlaubnisse wurden erteilt, 5 Erlaubnisänderungen
vorgenommen, 32 Anträge abgelehnt und 27 Anträge im
Verlauf des Antragsverfahrens zurückgenommen. 19 Anträge befinden sich derzeit noch in Bearbeitung.
Unter Berücksichtigung aller vorgetragenen Aspekte
lehne ich den vorliegenden Antrag der Fraktion Die
Linke derzeit ab.
Hanf auf Rezept, legaler Hanfanbau, Entwicklung einer Cannabispille durch eine Pharmafirma, das alles gibt
es in den Niederlanden schon. 2007 eröffnete in Groningen die erste Apotheke der Welt, die Hanf als Medizin auf
Rezept ausgibt. Eine Firma in der Nähe von Groningen
darf Cannabis zu diesem Zweck legal kultivieren. Und in
fünf Jahren soll es eine sogenannte Cannabispille geben,
die speziell bei Patienten mit Multipler Sklerose Schmerzen lindern soll. Bis wir in Deutschland so weit sind, Cannabis zur medizinischen Behandlung zuzulassen, könnten
Zu Protokoll gegebene Reden
ebenfalls noch Jahre vergehen, wenn man von den bisherigen Entwicklungen ausgeht.
Lassen Sie mich kurz die aktuelle Lage schildern. Seit
Mai 2005 sieht ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
vor, den Gesundheitszustand Einzelner bei einem möglichen Einsatz von Cannabisextrakten als Medikament zu
berücksichtigen. Zuvor wurden Einzelanträge grundsätzlich abgelehnt. Die Hoffnung, dass sich diese Praxis nun
ändert zugunsten der Antragsteller, hat sich bis heute nur
teilweise erfüllt. Die Bundesopiumstelle, die über die Anträge zu entscheiden hat, hat im August 2007 erstmalig
einem Antrag einer an Multipler Sklerose erkrankten
Frau zugestimmt. Mit heutigem Stand wurde bei knapp
100 gestellten Anträgen gerade einmal zwölf Anträgen
stattgegeben; sechzehn befinden sich momentan noch in
Bearbeitung.
Für die Betroffenen bedeutet dies, dass sich de facto
nicht viel verändert hat. Dronabinol, der synthetisch hergestellte Cannabiswirkstoff, ist nach wie vor so teuer,
dass sich viele Betroffene dies schlichtweg nicht leisten
können. Von den Krankenkassen werden diese Kosten
nicht übernommen. Die schwerstkranken Patienten, die
sich diesen Wirkstoff auf eigene Faust besorgen, machen
sich damit strafbar, denn er fällt unter das Betäubungsmittelgesetz; der Besitz ist verboten.
Bereits Anfang 2004 antwortete die damalige Bundesregierung auf eine Initiative der FDP-Bundestagsfraktion zum Einsatz von Cannabiswirkstoffen in Arzneimitteln, dass „entsprechend der Koalitionsvereinbarungen
die Bundesregierung seit geraumer Zeit prüft, ob neben
Dronabinol auch natürlicher Cannabisextrakt verschreibungsfähig gemacht werden kann“. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt deshalb grundsätzlich, dass mit dem
heutigen Antrag die medizinische Verwendung von Cannabis erneut auf die Tagesordnung gesetzt worden ist. Wir
fordern die Bundesregierung auf, endlich lang gemachte
Versprechungen umzusetzen. Notwendig ist eine sichere
Rechtsgrundlage, um schwerstkranke Menschen, die von
Cannabisextrakten profitieren, nicht zu kriminalisieren.
Es gibt verschiedene wissenschaftliche Studien, die belegen, dass Cannabis Leiden tatsächlich lindert. Wenn ein
wissenschaftlicher Nachweis über die Wirksamkeit des
Arzneimittels existiert, muss auch verschrieben werden
dürfen. Profitieren würden davon schwerstkranke Patienten verschiedener Erkrankungen. Bei Aidskranken und
Krebspatienten kann durch die appetitsteigernde Wirkung von Cannabis der fortschreitende Gewichtsverlust
gestoppt werden, bei Patienten mit Multipler Sklerose
können spastische Lähmungen und Krämpfe sowie
Schmerzen gelindert werden. Cannabis hilft auch bei
Asthma bronchiale, Glaukom, Epilepsie, Morbus Crohn
und dem Tourette-Syndrom.
Fragt man die Betroffenen selbst, ist die Antwort eindeutig: Heftige Schmerzen können gelindert werden, und
die chronisch Kranken erhalten wieder ein Stück Lebensqualität zurück. Sie greifen zu Cannabis, weil sie keine
andere Wahl haben; die Schmerzen werden sonst unerträglich. Alle herkömmlichen Medikamente versagen und
bleiben wirkungslos. Wenn auch Cannabis die Schmerzen
nicht nehmen kann: Linderung ist möglich, und der Umgang mit der Krankheit kann dadurch um vieles erträglicher gemacht werden.
Ich möchte festhalten: Es geht hier nicht um die allgemeine Legalisierung des Konsums oder Besitzes der
Droge Cannabis. Das lehnen wir als FDP entschieden
ab. Es geht vielmehr darum, in begründeten Einzelfällen
schwerkranken Menschen zu helfen, ihr Leben wieder lebenswerter zu gestalten.
Auch in der Bevölkerung gibt es breiten Rückhalt, eine
Behandlung von Schwerkranken mit Cannabisprodukten
zu akzeptieren. In einer 2006 durchgeführten Umfrage
des Institutes für Demoskopie in Allensbach sprachen
sich 77 Prozent der Deutschen dafür aus, wie auch für die
Übernahme dieser Kosten durch die Krankenkassen.
Wir müssen den Betroffenen helfen, indem wir rechtliche Klarheit schaffen und die ohnehin durch ihre Krankheit schwer belasteten Menschen nicht noch der Strafverfolgung wegen illegalen Drogenbesitzes aussetzen.
Diesem Weg sollten wir uns nicht verschließen.
Es ist historisch betrachtet ausschließlich einer politischen Entscheidung geschuldet, dass Cannabis in
Deutschland verboten ist. Waren es einstmals agrarpolitische Gründe, warum die Kulturpflanze Hanf verbannt
wurde, ist zwar heute eine Nutzung für naturstoffliche
Produktion möglich. Der Gebrauch der psychotropen
Substanzanteile jedoch ist unter das Dogma des „Krieges
gegen Drogen“ gefallen. Aus diesen Gründen kann in
Deutschland nicht nach rationalen und pharmakologisch
korrekten Kriterien über den Einsatz von Cannabis in der
Medizin entschieden werden. Obgleich die medizinische
Wirkung von Cannabis eindeutig positiv zu bewerten ist,
steht das restriktive Betäubungsmittelgesetz einer Zulassung nach den Regeln des Arzneimittelgesetzes entgegen.
Gleichzeitig ist sogar eine analoge arzneimittelrechtliche
Bewertung, wie sie aus Erfahrungswissen bei anderen
Naturheilmitteln möglich ist, in diesem Fall nicht gegeben.
Aus den USA und den Niederlanden zum Beispiel sind
hinlänglich die positiven Verwendungsbereiche des Medikaments Cannabis bekannt. So kann bei Krebserkrankungen, Multipler Sklerose, HIV/Aids, Asthma und anderen chronischen Krankheitsbildern eine beachtenswerte
Symptomverbesserung und gute Begleitwirkungsverbesserung der Ursprungskrankheit erreicht werden.
Aus diesen Erfahrungen heraus und wegen der fortdauernden Kriminalisierung der Nutzer von Cannabis
hat es in Deutschland diverse höchstrichterliche Entscheidungen gegeben. Sie tragen dem Gesetzgeber auf,
eine Legalregelung zu finden für Menschen, die mit einem
ärztlichen Attest ausgestattet aus therapeutischen Gründen Cannabis besitzen und konsumieren können sollen
und dabei straffrei bleiben müssen. Sogar der Eigenanbau für Eigennutzung bei vorliegender ärztlicher Indikation muss erlaubt werden, will man nicht eine bestimmte
Therapie ausschließen bzw. bestimmte Erkrankte wegen
ihrer Eigenmedikation diskriminieren. Die eindeutig aus
suchtstoffpolitischen Gründen illegalisierten Stoffe blieZu Protokoll gegebene Reden
ben für den gesundheitlichen Nutzen nicht verwendbar,
würden wir als Gesetzgeber und Gesetzgeberinnen hier
nicht endlich die Weichen auf Legalisierung stellen.
In unserem Antrag wird über die Anliegen der anderen
vorliegenden Anträge hinaus bewusst gefordert, bei Vorliegen einer ärztlichen Indikationsbescheinigung den Eigenanbau zum Eigenkonsum ausdrücklich straffrei zu
stellen. Mit dieser Forderung gehen wir auf lebenspraktische Bedingungen ein und wollen vor allem erreichen,
dass alle Wirkstoffe des Naturheilmittels Cannabis eingenommen werden können und somit dem Recht auf Selbstmedikation auch voll umfänglich nachgekommen wird.
Im Weiteren wollen wir, dass in Form der rezeptpflichtigen Verordnung der Weg geöffnet wird, diesen Wirkstoff
als Kassenleistung zu bekommen. Denn es ist nicht weiter
vertretbar, allein den teuren synthetischen Wirkstoff Dronabinol auf der Basis der Selbstzahlung zur Verfügung zu
stellen. In seiner Reinform, in der er nur über Apotheken
erhältlich ist, deckt er zudem nicht alle Behandlungsbedarfe ab, die die chronisch Erkrankten haben. Vielen von
ihnen machen mit der vollen Substanzwirkung von Cannabis die besseren Erfahrungen.
Schlussfolgernd daraus sagen wir Linke, das Arzneimittelgesetz muss geändert werden, damit eine arzneimittelrechtliche Zulassung möglich wird. Ohne diese gesetzliche Regelung hat das BfArM über die Zulassung nur
eingeschränkte Entscheidungsmöglichkeiten. Treten wir
also in eine fachliche und sachliche Beratung der vorliegenden Anträge ein. Wir wollen dies im Gesundheitsausschuss tun, weil es sich ausschließlich um eine gesundheitliche Frage handelt und weil es an der Zeit ist,
Cannabis in der Medizin zu entdämonisieren.
Es ist wichtig, wenn der Gesellschaft von Zeit zu Zeit
ein Spiegel vorgehalten wird. Das Thema Cannabis in der
Medizin ist eine gute Gelegenheit, über den Stellenwert
des Menschen in der Gesundheitspolitik und in der Medizin zu diskutieren.
Es gibt Menschen in unserer Gesellschaft, die Cannabis als Medizin gebrauchen, weil ihnen die herkömmlichen Medikamente nicht helfen können. Sie leiden unter
schweren Schmerzen, epileptischen Anfällen oder Multipler Sklerose. Cannabis verschafft ihnen Linderung. Mit
Dronabinol existiert ein Arzneimittel, das zumindest einem Teil der Patientinnen und Patienten helfen kann. Das
Problem: Eine Monatsdosis kostet zwischen 300 und
600 Euro. Die Kosten dafür werden durch die gesetzlichen Kassen in der Regel nicht übernommen, weil Dronabinol arzneimittelrechtlich nicht zugelassen ist. Daher
ist dieses Medikament für die meisten Betroffenen
unerschwinglich. Seit 2001 blockiert das Bundesgesundheitsministerium mit Ministerin Schmidt und der Parlamentarischen Staatssekretärin Caspers-Merk eine am
Menschen orientierte Lösung. Sie haben die noch unter
Andrea Fischer und der Drogenbeauftragten Christa
Nickels in Auftrag gegebene Rezepturvorschrift für einen
Cannabisextrakt unter den Tisch fallen lassen. Sie sind
dafür verantwortlich, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte seinerzeit alle Ausnahmegenehmigungen zur medizinischen Verwendung von Cannabis pauschal und ungeprüft abgelehnt hatte. Erst ein
Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes im Mai 2005 hat
zumindest diesem Treiben des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte ein Ende gesetzt.
Das Bundesgesundheitsministerium und die drogenpolitischen Ideologen an der Hausspitze haben jedoch
dafür gesorgt, dass der Versuch der Patienten, eine solche Ausnahmegenehmigung zu erlangen, zu einem selten
erfolgreichen bürokratischen Spießrutenlauf wird, bei
dem betäubungsmittelrechtliche Fragen im Vordergrund
stehen und nicht das Wohl der Patientin oder des Patienten. So hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine Zeitlang versucht, die Antragstellerinnen und Antragsteller mit völlig überzogenen Auflagen
für die Aufbewahrung von Cannabis abzuwimmeln.
Patientinnen und Patienten, die Cannabis regelmäßig
aus medizinischen Gründen gebrauchen, wird die Genehmigung mit der zynischen Begründung, sie seien cannabisabhängig, verwehrt.
Die Patientinnen und Patienten, die einen Antrag stellen, müssen im Übrigen umfangreiche Unterlagen beibringen, Nachweise, dass sie alle anderen Medikamente
bereits erfolglos ausprobiert haben, Nutzen-Risiko-Abschätzungen und so weiter. Für mich klingt das alles sehr
nach ideologisch motivierter Willkür. Das politische Ziel
jedenfalls ist offensichtlich: Die medizinische Verwendung von Cannabis soll um jeden Preis verhindert werden. Fragen wir also vor diesem Hintergrund ganz konkret: Welche andere Möglichkeit, als sich Cannabis auf
dem Schwarzmarkt zu besorgen, haben zum Beispiel
Schmerzpatienten, denen Cannabis hilft, nicht aber Dronabinol, das zudem vielleicht für sie nicht erschwinglich
ist? Antwort: Keine. Das Bundesgesundheitsministerium
zwingt diese Menschen faktisch, sich Cannabis auf dem
illegalen Markt zu besorgen, weil sie es auf anderem
Wege nicht bekommen können. Die Folge ist, dass diese
Menschen kriminalisiert und manchmal auch verhaftet
werden und Schwierigkeiten am Arbeitsplatz bekommen.
Die Bundesregierung hat diesen Menschen bislang
nichts anzubieten außer der gebetsmühlenartigen Leier,
dass Cannabis abhängig mache und gefährlich sei und es
noch keine ausreichenden Nachweise der Wirksamkeit
gebe, zuletzt wiederholt von der Parlamentarischen
Staatssekretärin Frau Caspers-Merk. Angesichts von individuellem Leid und umfangreichen Erfahrungen von
Ärzten und Patienten über die Wirksamkeit klingt das
seltsam herzlos. Der derzeitige Umgang mit diesen Patientinnen und Patienten wirft auch grundsätzliche medizinethische Fragen auf: Können wir diesen Menschen ein
Medikament verweigern, nur weil die Gefahr besteht,
dass es sie vielleicht abhängig macht? Bei Morphin oder
anderen etablierten schmerzlindernden Präparaten spielt
dieser Einwand offensichtlich keine Rolle.
Haben wir das Recht, von diesen Patientinnen und Patienten zu verlangen, dass sie zunächst alle anderen infrage kommenden Medikamente ausprobieren, um am
Ende festzustellen, dass nur Cannabis ihnen helfen kann?
Ich halte es medizinethisch jedenfalls nicht für vertretbar,
wenn an diesen Menschen aus ideologischen Gründen
Zu Protokoll gegebene Reden
herumgedoktert wird. Die Position, die medizinische Verwendung von Cannabis zu ermöglichen, ist übrigens beileibe keine Außenseitermeinung spinnerter Grüner oder
Linker. Einer Befragung des Allensbacher Instituts für
Demoskopie zufolge sprechen sich nämlich 77 Prozent
der Deutschen dafür aus, die Behandlung von Schwerkranken mit natürlichen Cannabisprodukten zuzulassen.
Wir haben in unserem eigenen Antrag einen praktikablen Vorschlag für eine am Menschen orientierte Lösung
gemacht. Die Linken haben diesen Vorschlag dankenswerterweise durch ihren Antrag unterstützt. Wir wollen
mit diesem Vorschlag erreichen, dass für die Patientinnen
und Patienten eine legale Möglichkeit geschaffen wird,
Cannabis zu therapeutischen Zwecken zu nutzen. Wer
Cannabis aus medizinischen Gründen benötigt, soll es
ohne Angst vor Strafverfolgung besitzen und anbauen
dürfen. Voraussetzung hierfür ist das Vorliegen einer
ärztlichen Empfehlung anhand einer klaren Indikationsliste. Es gibt eine Vielzahl medizinischer Studien und
Fallstudien, die belegen, dass Cannabis und Dronabinol
zum Beispiel bei Parkinson, starken Schmerzen, TouretteSyndrom, spastischen Anfällen und Alzheimer helfen können. Im Oktober wird sich der Gesundheitsausschuss in
einer Anhörung dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
und dem Antrag der Linken widmen. Ich hoffe sehr, dass
es dann endlich eine praktikable und humane Lösung geben wird, die zeigt, dass der Mensch das Maß der Dinge
in der Gesundheitspolitik ist.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9749 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch hierzu stelle
ich Einvernehmen fest. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Anette Hübinger, Dr. Wolf
Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU und der Abgeordneten Dr. Sascha
Raabe, Gregor Amann, Elvira Drobinski-Weiß,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Ute Koczy, Undine
Kurth ({0}), Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Vorschlag Ecuadors für den globalen Klimaund Biodiversitätsschutz prüfen und weiterentwickeln - Schutz des Yasuní-Nationalparks
durch Kompensationszahlungen für entgangene Einnahmen erreichen
- Drucksache 16/9758 Die Reden der Kollegen Anette Hübinger, Dr. Sascha
Raabe, Angelika Brunkhorst, Monika Knoche und Ute
Koczy werden zu Protokoll genommen.
Vor ein paar Wochen hat in Bonn die 9. Vertragsstaatenkonferenz zur biologischen Vielfalt stattgefunden. Der
Bundesregierung als Gastgeber dieser Konferenz ist es
gelungen, dem Schutz der biologischen Vielfalt, die die
Lebensgrundlage für die gesamte Menschheit ist, den ihm
gebührenden Stellenwert in der Öffentlichkeit zu geben.
Insbesondere begrüße ich die Zusage der Bundeskanzlerin, in den Jahren 2009 bis 2012 einen zusätzlichen Beitrag von 500 Millionen Euro für den globalen Schutz von
Wäldern und bedrohten Ökosystemen bereitzustellen.
Deutschland wird für diese Aufgabe ab 2013 dauerhaft
eine halbe Milliarde Euro jährlich aufwenden. Das ist ein
klares Signal für unser ernst gemeintes Engagement, im
Artenschutz endlich eine Trendwende zu vollziehen. Mit
diesen Mitteln können wir im Rahmen unserer internationalen Entwicklungszusammenarbeit wesentlich zum
Erhalt der Wälder und Schutzgebiete beitragen. Das ist
wichtig und richtig, denn sie sind für den Erhalt unseres
Klimas und des ökologischen Gleichgewichts und als
Quelle für wichtige Forschungsvorhaben von zentraler
Bedeutung.
Ich hoffe natürlich, dass dieser wichtige Vorstoß von
deutscher Seite auch andere dazu bewegt, ihre Finanzzusagen für den internationalen Naturschutz auszuweiten.
Jeder zusätzliche Beitrag wird hierbei hilfreich und eine
Investition in unsere gemeinsame Zukunft sein. Die Menschen werden jedoch auch weiterhin gerade von Deutschland eine besondere Verantwortung und Führungsrolle
bei den internationalen Verhandlungen erwarten, und vor
allem auch darauf achten, wie unsere Zusagen und Verabredungen tatsächlich umgesetzt werden. In Bonn haben
wir uns ein verbindliches Verhandlungsmandat erteilt,
den Arten- und Ökosystemschutz weltweit entscheidend
voranzubringen. Für unser großes Ziel, bis 2010 eine
deutliche Reduzierung des Artenverlustes zu erreichen,
bleiben uns nur noch zwei Jahre. Das heißt, wir müssen
dort, wo es am dringendsten ist, schnellstmöglich eingreifen, damit unwiederbringliche Schätze der Natur nicht
für immer verloren gehen.
Das trifft auch und insbesondere für den Nationalpark
Yasuní in Ecuador zu, der in der nordwestlichen Amazonas-Region liegt. Er gehört aufgrund seiner einzigartigen
Artenvielfalt zum Weltnaturschutzerbe. 1989 wurde er
von der UNESCO ins Biosphärenschutzprogramm aufgenommen. Für Ecuador sind aber die reichen Erdölvorkommen im Amazonas-Gebiet überaus bedeutsam. Deren
Förderung bedroht die reich vorhandene Biodiversität.
Auch auf dem Gebiet des Nationalpark Yasuní befinden
sich große Ölfelder. Der Förderblock mit dem Namen
Ishpingo-Tambococha-Tiputini liegt fast zur Gänze auf
dem Gebiet des Yasuní-Parks. Eine Erschließung dieses
Ölfeldes würde unweigerlich zum Verlust dieses gesamten
Ökosystems führen, den Lebensraum vieler einzigartiger
Tierarten und vor allem aber den Lebensraum ursprünglicher indigener Völker vernichten. Wenn wir also dieses
Gebiet schützen wollen, müssen wir dafür sorgen, dass
die Ölförderung in diesem Gebiet nicht begonnen wird.
Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass Ecuador nach
Wegen sucht und Vorschläge unterbreitet, dieses Gebiet
trotz seiner reichen Erdölvorkommen zugunsten seiner
biologischen Artenvielfalt zu bewahren. Deshalb möchten wir diese Initiative mit unserem gemeinsamen Antrag
unterstützen. Ecuador schlägt vor, dass die Hälfte der zu
erwartenden Einnahmeausfälle aus der Ölförderung
durch internationale Geber als deren Beitrag zum Erhalt
des weltweit einmaligen Ökosystems Yasuní kompensiert
werden sollen. Diesen Vorschlag unterstützen wir zum
Teil.
Gerade für Ecuador spielen Einnahmen aus der Ölförderung für sein Wirtschaftswachstum eine entscheidende
Rolle. Investitionen in wirtschaftliche Strukturen, bildungs- und sozialpolitische Maßnahmen werden zum
großen Teil durch Einnahmen aus dem Ölgeschäft finanziert. So ist es verständlich, dass ein Verzicht auf mögliche Einnahmen, ohne dadurch die Entwicklung zu bremsen, Ecuador vor große Herausforderungen stellt, die es
nicht alleine bewältigen kann. Die vorgeschlagene Kompensation entgangener Einnahmen erscheint für dieses
spezielle Gebiet des Yasuní-Parkes als geeignet. Wir müssen aber klar herausstellen, dass eine solche Lösung immer nur ein Einzelprojekt sein kann. Wenn wir erfolgreich
beim nachhaltigen Schutz von Biodiversität sein wollen,
müssen wir nach weitaus umfassenderen Ansätzen suchen.
Unser Vorschlag ist daher, zunächst noch genauere
Studien über die derzeitige Situation und über mögliche
Finanzierungsalternativen zu erstellen. Dabei ist uns
wichtig, in erster Linie nach Finanzierungsoptionen für
die Erhaltung des Schutzgebietes zu suchen. Dabei muss
der Ausfall der Erdöleinnahmen angemessen berücksichtigt werden, kann aber nicht der Ausgangspunkt unserer
Überlegungen sein. Entscheidend für den Erfolg wird
sein, Regelungen und Mechanismen zu finden, die auch
politischen Veränderungen gegenüber standhalten können. Mit dem gefundenen Konsens wollen wir dann gemeinsam mit unseren anderen Partnern in der EU und
OECD für eine multilaterale Lösung und entsprechende
politische und finanzielle Initiativen werben.
Anhand des gefundenen Finanzierungs- und Verteilungsmechanismus werden wir prüfen, ob die gewonnenen Erkenntnisse auch für den Schutz vergleichbarer sensibler Ökosysteme in anderen Entwicklungsländern
dienen können. Ich betone aber noch einmal: Es kann uns
nur darum gehen, singuläre Fondslösungen höchstens als
Überbrückungslösung zu betrachten. Auf Dauer müssen
wir es schaffen, internationale marktkonforme Regime zu
etablieren.
Dieser Vorschlag Ecuadors und das, was wir daraus
entwickeln, wird eine große Signalwirkung für den Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen haben. Ich begrüße ausdrücklich, dass Ecuador diesen Vorschlag unterbreitet hat, denn es zeigt, dass auch unsere
Partnerländer den Wert der Biodiversität anerkennen
und nach Lösungen suchen, um den Schutz der Biodiversität mit nachhaltigem Bewirtschaften in Einklang zu
bringen.
Diese neue Herangehensweise hat weltweit für viel
Aufsehen gesorgt. Für uns wird es daher wichtig sein,
dass wir als Geber, aber auch als Verbraucher und
Hauptverursacher des Klimawandels und des Verlustes
unser biologischen Ökosysteme unserer Verantwortung
gerecht werden. Wir können und müssen ein deutliches
Zeichen setzen, indem wir uns an den Schutzmaßnahmen
unserer Partner beteiligen. Kernbotschaften unseres Antrages sind daher sowohl unsere Anerkennung gegenüber
Ecuador für die Suche nach neuen, besseren Lösungsansätzen als auch das Wissen um unsere Verantwortung für
den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlage und
Wahrung der Schöpfung.
Ich bin der Ansicht, dass wir uns darin alle einig sind
und freue mich daher, dass es uns gelungen ist, mit den
Grünen zusammen diese Initiative auf den Weg zu bringen.
Über ein Jahr ist es nun her, genauer gesagt am 5. Juni
2007, da wurde der entwicklungspolitisch und ökologisch
revolutionäre Vorschlag des damaligen ecuadorianischen Energieministers, Alberto Acosta, auf die Erdölförderung im Yasuní-Nationalpark zu verzichten, falls die internationale Gemeinschaft die Hälfte der zu erwartenden
Einnahmen kompensiert, durch den Beschluss des ITTProjektes ins Leben gerufen. Dieses eine Jahr hätte die
internationale Weltgemeinschaft fast verschlafen, um gemeinsam nach einer Lösung zur Rettung dieses einmaligen Naturreservats zu streben. Mit unserem heutigen Antrag möchten wir unseren Beitrag leisten, damit das ITTGebiet im Yasuní-Nationalpark durch den Verzicht auf
Erdölförderung geschützt bleibt.
Der Öl-Block ITT, der seine Abkürzung den indianischen Namen Ishpingo und Tambuccocha sowie dem
Fluss Tibutini verdankt, beinhaltet knapp ein Fünftel der
Ölreserven Ecuadors unter der Erde. Oberhalb, und das
ist die eigentliche Besonderheit, beheimatet der Nationalpark ein einmaliges Biosphärenreservat. Über 200 Säugetierarten leben im Yasuní-Park, darunter der vom Aussterben bedrohte rote Flussdelphin und der Tapir. Auf
einem Hektar Land findet sich fast die gleiche Anzahl an
Baumarten wie in gesamt Nordamerika, und auf einem
Baum sind mehr Käferarten beheimatet als in ganz
Europa. Darüber hinaus leben in diesem nordöstlichen
Gebiet des Nationalparks indigene Stämme, sogenannte
„verborgene Völker“, die bisher noch keinen Kontakt zur
Außenwelt hatten. Diese Menschen und die einzigartige
Artenvielfalt gilt es zu schützen.
Im Februar dieses Jahres konnte ich mich mit einer
AWZ-Delegation vor Ort von der Einmaligkeit dieses Naturgebietes überzeugen. Leider jedoch wurde uns auch
vor Augen geführt, wie rücksichtslos und unverantwortlich in den Gebieten des Nationalparks die Ölförderung
betrieben wird. Unzählige brachliegende und ungesicherte Öltümpel befinden sich in dem von Ölkonzernen
ausgebeuteten Teil des Yasuní. Dabei sickert das Öl ungeschützt zurück ins Erdreich, verschmutzt das Trinkwasser von Mensch und Tier und zerstört damit unwiderruflich ein Stück Natur.
Das zentrale Problem der Ölförderung im gesamten
Amazonasgebiet ist jedoch in den dezentralen Ölförderstationen zu sehen. Man muss sich das einmal vorstellen:
Durch den gesamten Urwald schlängeln sich oberirdisch
kilometerweit ungeschützte kleine Zuleitungsrohre, die
irgendwo auf die Hauptpipeline treffen. Für alle diese Zuleitungsrohre werden Wege und Erschließungsstraßen in
den Urwald geschlagen. An diesen Erschließungsstraßen
Zu Protokoll gegebene Reden
siedeln sich dann wiederum Menschen an, die die Rodung
des wertvollen Baumbestandes weiter fortführen. Die lokale indigene Bevölkerung wird zwangsläufig aus ihrem
ursprünglichen Lebensraum verdrängt. Eine technisch
saubere Lösung der Ölförderung ist somit gar nicht möglich. Vergleicht man dazu den Zustand der jetzt schon erschlossenen Gebiete am Amazonas, dann wird jedem
schnell klar, dass durch die infrastrukturelle Erschließung dieses Gebietes die Schäden für den YasuníNationalpark unumkehrbar sind. Viele Leckagen und
mangelndes Umweltbewusstsein, verbunden mit Unzuverlässigkeiten, führen zu einer schleichenden Vergiftung
des Amazonas. Ölförderung am Amazonas ist unwiderruflich mit der Zerstörung der Natur und damit des Lebensraums von Mensch und Tier verbunden.
Dass dieses Naturreservat schützenswert ist und die
ecuadorianische Regierung ernsthaft am Erhalt dieses
Gebietes interessiert ist, hat sie im Januar durch die Einrichtung eines ITT-Sekretariates und der Berufung eines
ITT-Sonderbeauftragten auch institutionell zum Ausdruck gebracht. Man muss der Regierung Ecuadors daher ein großes Kompliment machen. Der ITT-Block, der
fast vollständig auf dem Gebiet des Nationalparks liegt,
fasst nachweislich mindestens 412 Millionen Barrel Öl.
Dass Ecuador auf die Hälfte der Erlöse aus den Erdölvorräten verzichten will, das sind Schätzungen zufolge
immerhin rund 4,5 Milliarden US-Dollar, ist daher keine
Selbstverständlichkeit. Nicht unerwähnt lassen möchte
ich in diesem Zusammenhang, dass die Bundesregierung,
allen voran Bundesentwicklungsministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul, auch die Chance, die dieses Projekt in
sich trägt, erkannt hat. Schon seit längerem stellt daher
das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zur Erarbeitung von Lösungsmöglichkeiten für noch offene Fragen Hilfe und Mittel für den
Einsatz von Experten bereit.
Einen Punkt möchte ich in dieser Diskussion nicht unerwähnt lassen: Entwicklungsländer haben, wie es andere Staaten auch schon immer eingefordert haben, ein
Recht auf die Nutzung eigener Bodenschätze. Gleichzeitig sind sie aber auch der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber verpflichtet, diese Schätze so schonend
wie möglich zu nutzen, damit sie als globales, öffentliches
Gut nicht vernichtet werden. Dieses Bewusstsein war früher nicht vorhanden. Nun hat die neue Regierung unter
dem für Umweltschutz stark engagierten Präsidenten
Correa entschieden, neue Wege zu beschreiten. Eine einmalige Chance für die Natur, aber auch für uns als Weltgemeinschaft, zu zeigen, dass wir nicht die Augen verschließen, sondern uns gemeinsam um den Erhalt und
damit um die Zukunft unseres Planeten sorgen. Wenn wir
nicht jetzt anfangen, den Yasuní-Nationalpark zu schützen, wird es schon bald zu spät sein. Das sollten all jene
bedenken, die immer noch eher die Bedenken als die
Chancen des Projekts sehen. Den Kritikern und Skeptikern sei auch gesagt, dass in diesem Zusammenhang die
Forderungen Saudi-Arabiens als völlig abwegig zu sehen
sind, ebenfalls Kompensationszahlungen erhalten zu wollen, sollten sie ihr Öl nicht fördern. Das ist Quatsch. Das
ITT-Projekt steht für den Erhalt einer einmaligen Artenvielfalt und ist mit dem Gebiet einer Sandwüste nicht zu
vergleichen. Hingegen gibt es durchaus Parallelen zur Situation in Indonesien, wo der verbleibende Regenwald
auch durch Kompensationszahlungen für die Nichtumwandlung in Ölpalmplantagen geschützt werden sollte.
Ecuador ist bereit, über 13 Jahre auf die jährlichen
Einnahmen durch die Erdölförderung von circa 700 Millionen US-Dollar zu verzichten, wenn wir als Weltgemeinschaft die Hälfte, also rund 350 Millionen US-Dollar, dieses Einnahmeausfalls tragen würden. Wie diese
Gelder Ecuador zur Verfügung gestellt werden, ist noch
unklar. Es liegen verschiedene Vorschläge auf dem Tisch.
Die Kompensationszahlungen könnten demnach durch
Schuldenerlasse, Beiträge von Staaten oder in Rahmen
einer Fonds-Einzahlung geleistet werden. Dabei wird
auch darauf zu achten sein, dass der Fonds gegebenenfalls auch mit Landtiteln so abgesichert wird, dass auch
in Zukunft eine Förderung des Öls in diesem Gebiet durch
eine andere Regierung ausgeschlossen werden kann. Welcher Weg auch gegangen wird: Wir erwarten von der
Bundesregierung, dass sie sich, nach Findung eines soliden und gerechten Finanzierungsmechanismus, gemeinsam mit anderen Gebern an den Zahlungen finanziell beteiligt. Ich ermutige die Bundesregierung daher, auch
weiterhin der Regierung Ecuadors bei der Erarbeitung
konkreter Vorschläge zur Einrichtung eines Kompensationsfonds mit all ihrem Erfahrungsschatz zur Seite zu
stehen und sie bei der Einbindung anderer bi- und multilateraler Geber zu unterstützen.
Sicherlich geht es bei dem Projekt auch um viel Geld.
Um die Kosten auf möglichst viele Schultern zu verteilen,
wäre es daher wichtig und notwendig, dass die Bundesregierung auf das ITT-Projekt innerhalb der EU und OECD
sowie gegenüber vielen Partnerregierungen positiv aufmerksam macht, damit möglichst viele Geber ins Finanzierungsboot mit einsteigen. Deutschland sollte, ähnlich
wie bei dem 1992 vom damaligen Bundeskanzler Helmut
Kohl ins Leben gerufenen PPG7-Projekt zum Schutz des
Amazonasregenwaldes in Brasilien, die politische Führungsrolle des ITT-Projektes übernehmen und insbesondere die EU-Mitgliedstaaten zum Mitmachen bewegen.
Für Ecuador wie auch für die EU-Mitgliedstaaten und
andere Geberstaaten wird wichtig sein, dass es einen Ansprechpartner bzw. einen Sprecher für die Moderation
und Koordination des Projektes gibt. Ich könnte mir
Deutschland gut in dieser Rolle vorstellen.
Natürlich sind die Einnahmeausfälle unter ökonomischen Gesichtspunkten insbesondere ein Verlust für die
dort lebende Bevölkerung. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 3 270 US-Dollar zählt Ecuador zu den ärmeren
Staaten Lateinamerikas. Mit über 20 Prozent ist der Erdölsektor immer noch der dominierende Sektor der ecuadorianischen Wirtschaft. Daher müssen wir den Menschen bei der Suche nach alternativen Einnahmequellen
unsere Hilfe anbieten. Diese kann nur im Verbund mit einer nachhaltigen Sicherung des Yasuní erfolgen und erfordert daher unsere besondere Aufmerksamkeit. Vor allem wollen wir gemeinsam mit der ecuadorianischen
Regierung, dass die Kompensationsmittel insbesondere
der lokalen Bevölkerung in und um das Yasuní-Gebiet
und dem Schutz der dortigen Natur zugutekommen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Um all diese ambitionierten Vorhaben zu realisieren
und damit dieses einzigartige UNESCO-Weltnaturschutzerbe zu erhalten, benötigen wir Zeit. Es ist daher fundamental, dass die Bundesregierung die Regierung
Ecuadors um Aufschub der gesetzten Frist bis zum Ende
des Jahres 2008 bittet. Diese Zeit sollte genutzt werden,
um eine wissenschaftliche Prüfung der vorliegenden Vorschläge als Entscheidungsgrundlage zu haben. Und ich
bin zuversichtlich, dass dies auch gelingen wird. Auf der
Lateinamerikareise konnte ich Frau Merkel vor den Gesprächen mit dem ecuadorianischen Präsidenten Correa
die Vorteile und Wichtigkeit des Projektes erläutern, und
sie hat ihm bereits grundsätzlich wohlwollende Unterstützung zugesagt.
Nur wenn das ITT-Projekt vorangebracht wird, hat
dieses Biosphärenreservat mit seinen dort lebenden indigenen Völkern, Tieren und Pflanzen eine Chance zu überleben. Wir müssen diese Chance mit all unserem Willen,
Ernsthaftigkeit und politischer Verantwortung nutzen.
Wenn wir nicht jetzt handeln, wird es in wenigen Jahren
schon zu spät sein. Dann werden der rote Flussdelphin,
der Tapir und viele Käferarten nur noch Legende sein.
Viele Pflanzen- und Tierarten, die wir noch gar nicht kennen und die für die Heilung vieler Krankheiten in Zukunft
eine große Rolle spielen können, würden unwiderruflich
vernichtet werden. Ich bitte Sie daher: Stimmen Sie diesem Antrag zu, damit wir als Weltgemeinschaft beweisen
können, dass wir der Verantwortung für unseren Planeten
und unsere nachfolgenden Generationen gerecht werden
wollen.
Anfang März 2008 hat der ehemalige Außenminister
Ecuadors, Francisco Carrión Mena, in Berlin gegenüber
Abgeordneten des Deutschen Bundestages ein Angebot
Ecuadors an die internationale Gemeinschaft vorgestellt.
Das Angebot betrifft den Yasuní-Nationalpark, ein
UNESCO-Biosphärenreservat in Ecuador, im IshpingoTambococha-Tiputini-Gebiet, ITT. Unter diesem Gebiet
lagert Öl. Man rechnet mit rund 900 Millionen Barrel.
Das wäre ein Fünftel der ecuadorianischen Ölreserven.
Der Vorschlag klingt bestechend: Wir erhalten den Regenwald und beuten das Ölvorkommen nicht aus. Als Gegenleistung dafür erhalten wir von euch 13 Jahre lang jeweils die Hälfte des theoretischen Nettogewinns, auf den
wir verzichten, weil wir das Ölfeld nicht ausbeuten. Ausgehend von einem Nettogewinn von 700 Millionen USDollar pro Jahr wären das jährlich 350 Millionen USDollar.
Das ITT ist ein Biodiversitäts-Hotspot. Es ist allein
nach derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen Lebensraum für mehr als 630 Vogelarten, über 540 Fischarten und unzählige seltene Pflanzen. Auf einem Hektar
des Yasuní-Nationalparks wurden 664 verschiedene
Baumarten identifiziert. Hier findet man auf einem Hektar so viele verschieden Arten wie in den gesamten Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada zusammen. Im
ITT leben zudem indigene Völker, die keinen Kontakt zur
Außenwelt haben und unter dem Schutz der UNO stehen.
Dies allein ist Grund genug dafür, dieses Gebiet zu schützen.
Indem Ecuador darauf verzichtet, den Regenwald abzuholzen und das Erdöl zu fördern, werden die biologische Vielfalt und die grüne Lunge der Erde geschützt,
aber auch Treibhausgasemissionen vermieden. Von der
Sauerstoffproduktion und der biologischen Vielfalt des
Urwalds profitiert die ganze Welt. Wenn wir lebensfähige
Populationen von wild lebenden Tier- und Pflanzenarten
in ihren natürlichen Biotopen - in situ - erhalten wollen,
dann müssen wir ihre Lebensräume schützen. Dazu ist es
einerseits wichtig, den ökonomischen Nutzen der biologischen Vielfalt gerade für Schwellen- und Entwicklungsländer herauszustellen, um deren Interesse am Schutz der
Biodiversität auch wirtschaftlich zu motivieren. Wir
brauchen zudem Schutzgebiete. Wir können aber nicht erwarten, dass die mit einer reichen Artenvielfalt gesegneten, aber wirtschaftlich vergleichsweise armen Länder
ohne Gegenleistung auf wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten verzichten. Die Einrichtung von speziellen
Fonds zur Sicherung der Gebiete ist eine Möglichkeit.
In diese Richtung geht der Vorschlag Ecuadors. Er
sollte daher wohlwollend geprüft werden. Dabei gilt es
insbesondere sicherzustellen, dass der Wert des ITT-Gebiets und das darunter lagernde Ölvorkommen wissenschaftlich valide berechnet und entsprechend angesetzt
wird. Unnötiger Zeitdruck darf nicht dazu führen, dass
ins Blaue hinein Versprechungen gemacht werden. Finanzmittel dürfen nur konditioniert zur Verfügung gestellt
werden, um sicherzugehen, dass das Öl tatsächlich nicht
gefördert wird und die Natur erhalten bleibt. Das mit dem
Vorschlag dem Grunde nach verbundene „Erpressungspotenzial“ muss bei der Ausgestaltung im Auge behalten
werden; sonst riskieren wir, dass ein Präzedenzfall mit
negativer Ausstrahlung geschaffen wird. Der Vorschlag
kann andererseits gleichwohl ein wichtiges Pilotprojekt
sein.
Klar ist aber auch: Deutschlands Beitrag kann gegebenenfalls nur ein Baustein in einem Gesamtkonzept sein.
Wichtig ist, dass dabei flankierend auf der G-8-Ebene für
den Klimaschutz Waldnutzungsprojekte einbezogen und
CO2-Minderungsziele nicht nur in langfristiger, sondern
auch in mittelfristiger Perspektive vorgesehen werden.
Zwar ist aus der Sache heraus schwer nachvollziehbar,
warum Sie die Unterstützung der Linken für diesen überfraktionellen Antrag ausschlagen, dennoch wird das vertretene Anliegen von uns auch ganz eigenständig unterstützt.
Große, neue politische Prozesse gehen in Lateinamerika vonstatten, die wir Linke sehr begrüßen. Dabei sehen
wir neben den ökologischen Anstrengungen Boliviens die
Verstaatlichungsprozesse in Venezuela, die beide in der
breiten Bevölkerung Unterstützung dafür bekommen,
endlich die desaströsen Folgen des Neoliberalismus zu
überwinden. Bolivien zeichnet sich derzeit durch einen
Verfassungsprozess aus, in dem die Mutter Erde als
Synonym für ökologisch soziale Politik einen Verfassungsrang erhalten soll. Und nun - das kann ich nur mit
Begeisterung aufnehmen - ist die neue Regierung in
Ecuador daran, eine historische Zäsur zu vollziehen, was
den Umgang mit fossilen Ressourcen angeht. Noch nirgendwo ist in solch emanzipatorischer und verantworZu Protokoll gegebene Reden
tungsvoller Weise vonseiten einer Regierung auf den
künftigen Umgang mit Bodenschätzen reagiert worden
wie hier.
Im Jahr 2007 überraschte die Regierung unter Präsident Correa die Weltöffentlichkeit mit einem völlig neuartigen Politikkonzept. Die Erdöllagerstätten, die im Gebiet
vom Nationalpark Yasuní - ihr Name lautet IshpingoTambococha-Tibutini - liegen, sollen nicht ausgebeutet
werden. Das Ziel ist, den Naturschutz, den Ressourcenschutz mit den Fragen des Klimawandels aufgrund von
CO2-Überfrachtung zu verbinden und insbesondere der
indigenen Bevölkerung im Dschungel nachhaltig ihren
Lebensraum und damit ihre Kultur zu garantieren. Hat
man sonst bezüglich des Ressourcenreichtums in Entwicklungsländern auch gerne die Formel vom Ressourcenfluch angewandt, um die katastrophalen Folgen der
Ausbeutung zu beschreiben, so zeigt sich in diesem Vorschlag der Regierung Correas eine hochverantwortungsvolle Umgangsweise mit Erdölvorkommen in sensiblen
ökologischen Räumen. Diese neue Politik ist eine Innovation, die den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts voll
entspricht.
Mit dieser hoch zu schätzenden Politik ist selbstverständlich auch eine Forderung an die Welt und besonders
an die erdölnachfragende westliche Welt verbunden,
nämlich den Verzicht auf die Ausbeute mit einer Kompensation der zu erwartenden Einnahmeausfälle zu verbinden. Dieser Forderung müssen Sie nachkommen. Alles
andere wäre grundfalsch und kontraproduktiv für den
Kampf gegen den Klimawandel. Es ist völlig nachvollziehbar, dass die ecuadorianische Regierung an dieser
Kondition festhalten muss, will sie nicht unter ökonomisch begründeten Druck reaktionärer Kräfte geraten,
die völlig ignorant gegenüber den herausragenden Anforderungen des Klimawandels sind. Ausdrücklich hat
die ecuadorianische Regierung die Frist für die Einrichtung eines Kompensationsfonds auf November 2008 verlängert und ihrerseits ein ITT-Sekretariat eingerichtet.
Es ist nun gerade ein Jahr her, dass Bundeskanzlerin
Frau Merkel auf dem G-8-Gipfel in Heiligendamm große
Klimaschutzziele und Initiativen ankündigte. Bis heute
wartet die Weltgemeinschaft auf die Erfüllung dieser. Bei
den Vereinten Nationen ist kein deutscher Vorschlag eingegangen. Mit dieser Initiative Ecuadors aber besteht die
Möglichkeit, zu einem anspruchsvollen ökologischen Klimaprojekt ganz konkret „Ja“ zu sagen. Es verdient alle
Unterstützung, denn es ist ausgesprochen mutig. Es kann
Modellcharakter bekommen und ausstrahlen auf OSZE
und UN-gestützte neue Wege des Umgangs mit Ressourcen, der den Frieden mit der Natur und keinen Krieg um
Öl beinhaltet.
Lasst das Öl im Boden - so lautete im letzten Jahr eine
an die Staatengemeinschaft gerichtete Aufforderung aus
Ecuador. Wir Grünen haben diese Aufforderung ernst genommen; denn ich konnte mich schon vor Jahren beim
Engagement gegen den Bau einer Pipeline in Ecuador
davon überzeugen, welche katastrophalen Verseuchungen die Ölförderung im Amazonas hinterlassen hat. Nach
der diesjährigen, von uns angeregten Reise nach Ecuador
konnte sich eine Delegation des Ausschusses davon überzeugen, dass es sich lohnt, diese Aufforderung ernsthaft
zu prüfen.
Lasst das Öl im Boden, rettet den Amazonas - mit diesem fast ein Jahr alten Vorschlag, damals noch von
Alberto Acosta vorgetragen und dann vom Präsidenten
Rafael Correa übernommen, soll ein riesiges Ölfeld im
Yasuní-Biosphärenreservat vor der Förderung bewahrt
werden. Der entgangene Gewinn soll durch internationale Kompensationszahlungen teilweise gegenfinanziert
werden. Wäre es irgendein Ölfeld, so wäre der Vorschlag
vermutlich nicht auf die positive Resonanz gestoßen, die
er seitdem bekommen hat. Es ist aber nicht irgendein beliebiges Ölfeld, sondern es liegt mitten in der grünen
Lunge Amerikas, im Amazonas. Das sogenannte ITT-Ölfeld ist ein Teil des etwa 1 Million Hektar großen Nationalparks Yasuní. Der Nationalpark ist ein wahrer Biodiversitäts-Hotspot: Auf einem Hektar gibt es fast so viele
Baumarten wie in Nordamerika zusammen, und auf jedem dieser Bäume tummeln sich mehr Käferarten als in
ganz Europa.
Aber ich möchte an dieser Stelle auch betonen, dass
diese Naturvielfalt eng mit der Lebensweise indigener
Völker verbunden ist, die im Amazonas und speziell im
Yasuní leben und von denen zwei in freiwilliger Isolation
zur Zivilisation leben. Internationales Recht fordert hier
Respekt vor diesen Menschen, die seit Jahrhunderten in
und mit dem Urwald leben. Der Yasuní und das ITT-Gebiet gehören zu den Schatzkammern der Welt, die nicht
kurzfristigen ökonomischen Interessen geopfert werden
dürfen. Doch sie sind in höchster Gefahr.
Was uns allen bewusst sein muss: Der Yasuní leidet bereits. Es gibt Ölfördergebiete im Grenzgebiet des Yasuní,
die in den Nationalpark hineinreichen. Und die Konzessionierung des Ölfeldes im sogenannten Block 31 in direkter Nachbarschaft des ITT-Ölfeldes ist eine echte Bedrohung für das sensible Ökosystem. Dass bereits
Ölförderung im Yasuní stattfindet, ist für manche ein
scheinbar starkes Argument, den ITT-Vorschlag als Heuchelei abzuwerten. Ich meine, das Gegenteil ist der Fall.
Es ist ein starkes Argument, den Vorschlag zu unterstützen und alles zu versuchen, dass er Wirklichkeit werden
kann.
Ecuador ist ein Entwicklungsland und seine Wirtschaft
in hohem Maße abhängig von den Einnahmen aus dem
Ölgeschäft. Schafft es die internationale Gemeinschaft,
das Gebiet rund um das besagte Ölfeld dauerhaft zu
schützen, so setzen wir damit eine Dynamik in Gang, die
es auch schaffen kann, den gesamten Nationalpark dauerhaft unter Schutz zu stellen.
Ecuador ist bereit, auf die Hälfte der erwarteten Einnahmen aus der Ausbeutung des ITT-Ölfelds zu verzichten. Die andere Hälfte soll die internationale Gemeinschaft kompensieren. Zurzeit rechnet Ecuador mit
möglichen Einnahmen von 700 Millionen US-Dollar
jährlich über einen Zeitraum von 13 Jahren. Das heißt,
die internationale Staatengemeinschaft müsste 13 Jahre
lang 350 Millionen US-Dollar pro Jahr zahlen. Das Geld
will Ecuador in Sozialprogramme und den Aufbau erneuerbarer Energien investieren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich bin der Meinung, wenn es die Welt wirklich ernst
meint mit der Bekämpfung des Artensterbens und des Klimawandels sowie mit der Erreichung internationaler
Entwicklungsziele, dann sollte es dieses Vorhaben unterstützen. Wir brauchen einen Wandel in der internationalen Rohstoffpolitik. Dieser Wandel muss unserer Umwelt
- dem Wald und anderen ökologisch sensiblen Gebieten wieder den Wert beimessen, den sie hat; denn sie ist die
Grundlage für unser Dasein auf diesem Planeten. Wir
müssen Schluss machen mit einer Wirtschaftweise, in der
sich Umwelt- und Klimaschäden nicht im Preis des Produktes niederschlagen. Wäre dies der Fall, so würde sich
Erdölförderung im Urwald wahrscheinlich nicht mehr
lohnen.
Die Unterstützung Ecuadors bei der Umsetzung des
Vorschlags wäre ein starkes Symbol der Staatengemeinschaft, dass sie bereit dazu ist, Verantwortung zu übernehmen für ein Weltnaturerbe. Tut sie dies nicht, so vergibt sie die Chance, einen Kontrapunkt zu setzen gegen
die allgemeine Praxis, Naturgüter der Erdölförderung
unterzuordnen.
Noch gibt es viele offene Fragen, die einer wirklichen
Umsetzung des ITT-Vorschlags im Wege stehen. Dazu gehört die seriöse Bestimmung des Ölvolumens und eines
Berechnungsmodus für Kompensationszahlungen. Dazu
gehört aber unter anderem auch die Frage, auf welchem
Wege sichergestellt werden kann, dass das Gebiet dauerhaft geschützt wird. Aber dies sind Fragen, die beantwortet werden können. Die Umsetzung von entsprechenden
Maßnahmen liegt im Bereich des Möglichen. Verschiedene europäische Staaten, unter anderem auch Deutschland, haben Interesse gezeigt, den Vorschlag grundsätzlich zu unterstützen. Diese Bereitschaft muss sich jetzt
konkretisieren und in Taten zeigen.
Dass aus dem Anliegen von Bündnis 90/Die Grünen,
einen Beitrag zum Wald- und Klimaschutz durch Unterstützung des ITT-Vorschlags zu leisten, ein gemeinsamer
Antrag mit den Fraktionen der Regierungskoalition
CDU/CSU und SPD geworden ist, verdanken wir einem
verstärkten Bewusstsein für umwelt- und klimapolitische
Fragen, für das wir Grüne seit langer Zeit gekämpft haben.
Wir stimmen ab über den Antrag der Fraktionen
CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/9758. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Dann ist dieser Antrag einvernehmlich angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 sowie den Zusatzpunkt 10 auf:
25 Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Ute Koczy, Jürgen Trittin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
G8-Gipfel in Japan für Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung nutzen
- Drucksache 16/9751 ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Christel
Happach-Kasan, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Glaubwürdigkeit von G8 nicht verspielen Maßnahmen zur Bekämpfung der Nahrungsmittelkrise auf dem Gipfeltreffen in Hokkaido
beschließen
- Drucksache 16/9750 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Finanzausschuss
Die Reden der Kollegen Erich G. Fritz, Frank
Schwabe, Dr. Karl Addicks, Eva Bulling-Schröter und
Thilo Hoppe werden zu Protokoll genommen.
Der G-8-Gipfel der Staats- und Regierungschefs vom
6. bis 8. Juni 2007 in Heiligendamm unter Vorsitz unserer
Bundeskanzlerin war ein großer Erfolg. Unter dem Motto
„Wachstum und Verantwortung“ hat die deutsche Präsidentschaft den Nerv der internationalen Problemlage getroffen und weitreichende Beschlüsse in den Schwerpunktthemen Weltwirtschaft und Klimaschutz gefasst.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt es sehr,
dass auf dem Gipfel in Japan vom 7. bis 9. Juli 2008 die
Schwerpunkte der deutschen G-8-Präsidentschaft fortgeführt werden sollen. Anlässlich der Pressekonferenz zum
EU-Japan-Gipfel im Juni 2007 war Bundeskanzlerin
Merkel bereits zuversichtlich, dass auf der japanischen
Nordinsel Hokkaido das fortgesetzt werden könnte, was
in der deutschen Präsidentschaft erreicht wurde. Einigkeit besteht vor allem in drei Punkten:
Erstens. Klimawandel ist ein ernstes, weitgehend von
Menschen verursachtes Problem, das der politischen Lösung auf globaler Ebene bedarf. Wir Menschen müssen
darauf reagieren und dürfen die Augen nicht vor den Auswirkungen des Klimawandels verschließen.
Zweitens. Wir stimmen darin überein, dass der weltweite Anstieg der Treibhausgasemissionen gestoppt werden muss. Langfristige Reduktionsziele werden von allen
G-8-Partnern angestrebt. Ein globales Ziel zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen wird von allen G-8Partnern angestrebt. Der Gipfel in Heiligendamm unter
deutscher Führung hat mit der Formulierung, dass die
G 8 mindestens eine Halbierung der weltweiten Emissionen bis zum Jahr 2050 „ernsthaft in Betracht“ ziehen, einen wichtigen Impuls zur Erreichung dieses Ziels gegeben. Japan hat die Diskussion mit „Cool Earth 50“
fortgeführt und sieht sich von der EU und Canada besonders unterstützt. Nach wie vor gibt es aber keine Bereitschaft, sich auf quantitative Ziele festzulegen, und eine
Einigung über gemeinsames Vorgehen im Detail mit den
USA wird auch auf diesem Gipfel nicht zu erreichen sein.
Drittens. Japan und Deutschland sowie die übrigen
G-8-Partner bekennen sich geschlossen zu Klimaverhandlungen unter dem Dach der Vereinten Nationen.
Dass ein solcher Prozess in ein UN-Rahmenwerk
eingebunden sein muss, ist wichtig, weil er nur so bindenden Charakter für die Weltgemeinschaft entwickeln kann.
Deshalb sind wir sehr dafür, dass einzelne Initiativen
weitgehend berücksichtigt werden sowie die großen und
wichtigen Schwellenländer wie Brasilien, China, Indien
und Südafrika in den Dialog miteingebunden werden.
Der Grundstein für die Zusammenarbeit mit den großen Schwellenländern wurde unter deutscher Präsidentschaft im Rahmen des sogenannten Heiligendamm-Prozesses gelegt. Die G 8 traf hier mit Brasilien, China,
Indien und Südafrika die Vereinbarung, gemeinsam mehr
ökonomische und politische Verantwortung für globale
Herausforderungen zu übernehmen. Auf der Plattform
der OECD wurde gemeinsam zwischen G 8 und den benannten Schwellenländern ein Dialog vereinbart zu wichtigen Themen wie Investitionsbedingungen, Förderung
von Innovationen, Schutz geistigen Eigentums, Entwicklungszusammenarbeit, Steigerung der Energieeffizienz
sowie Technologiekooperation in den Bereichen Kraftwerke und Gebäude. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
begrüßt sehr, dass auf Grundlage dieses Dialogs eine gemeinsame Erklärung der G-8-Staaten mit den sogenannten Outreach-Staaten verabschiedet wurde. Beim Thema
Klima wird in der Erklärung auf die gemeinsame Verantwortung verwiesen. Ich schätze diesen Aspekt sehr, weise
aber darauf hin, dass dies nicht genug ist. Die Schwellenländer sollten vielmehr ausdrücklich ihre Bereitschaft erklären, einen ausgewogenen und fairen Anteil zur Stabilisierung der Emissionen beizutragen und an der
Entwicklung eines flexiblen, aber wirksamen internationalen klimapolitischen Regimes mitzuwirken.
Die japanische Präsidentschaft hat sich im Bereich
der Klimapolitik ehrgeizige Zielvorhaben gesetzt. Diese
kamen erneut anlässlich des Besuchs des japanischen
Premierministers Yasuo Fukuda am 1. Juni im Bundeskanzleramt zur Sprache. Fukuda beabsichtigt, über die in
Heiligendamm erklärte Absicht zur Halbierung der
Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050 hinauszugehen. Er verfolgt das Ziel, die CO2-Emissionen bis 2050
um 60 bis 80 Prozent zu reduzieren. Ich schätze dieses
Zielvorhaben, da in der vergangenen Zeit wie von der
„Financial Times“ zitiert Japans „Klimaschutzweste einen hässlichen Fleck“ bekommen hat. Japan hat sich
nicht an die Vereinbarungen im Kioto-Protokoll gehalten
und die Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um
sechs Prozent gesenkt, sondern noch erhöht. Es ist daher
umso erfreulicher, dass Japan seine G-8-Präsidentschaft
nutzt und die Chance ergreift, eine Vorreiterrolle im Klimaschutz zu übernehmen.
Noch ist offen, ob in Hokkaido Verbindlichkeiten zur
Erreichung der klimapolitischen Ziele getroffen werden
können. Insbesondere die USA als weltweit größter Emittent sind bislang nicht bereit, die Ziele mitzutragen. Zuversichtlich stimmen jedoch die gemeinsamen Positionen
zwischen Deutschland und Japan, auf die ich anfangs
eingegangen bin. Sie zeigen, dass Klimaschutzpolitik
nicht das Hobby der Europäer ist. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso sagte vor knapp einem Jahr
im Gespräch mit unserer Kanzlerin und dem damaligen
japanischen Ministerpräsident Shinzo Abe: „Dort, wo
wir eine Führungsrolle aufnehmen und Führungsstärke
an den Tag legen sollten, haben wir eine globale Verantwortung im Bereich des Klimawandels.“ In diesem Sinne
wünschen wir Japan, besonders dem Premierminister
Yasuo Fukuda, viel Erfolg und den Beginn eines dauerhaften Dialogs für eine nachhaltige Klimapolitik in der
Zukunft, die für die Menschen verträglich und für das
friedliche Zusammenleben der Völker förderlich ist. Klimaschutzpolitik ist in Zukunft mehr als nur Umweltpolitik. Sie wird zur zentralen Aufgabe der Gewährleistung
von Sicherheit, Entwicklung und Wohlstand auf der Welt.
Auch bei der Afrika-Politik wird die japanische Präsidentschaft für Kontinuität sorgen. Japan selbst hat ein
Zeichen gesetzt und wird die Mittel zur Unterstützung
Afrikas und zur Erreichung der Millenniumsziele verdoppeln. Der Schwerpunkt, der gewählt wurde - Gesundheit,
Wasser und Bildung - zielt in den Kern der Entwicklungserfordernisse und bildet die Grundvoraussetzung für dauerhafte Erfolge auf allen anderen Feldern der Zusammenarbeit mit Afrika.
Es ist sehr zu begrüßen, dass sich der Gipfel auch mit
den Fragen der Ernährungssicherheit und der Preisentwicklung von Nahrungsmitteln und Rohstoffen beschäftigen wird, ohne allzu viel von dieser Diskussion für aktuelle politische Handlungsmöglichkeiten zu erwarten.
Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt, dass der Gipfel erneut auch weltwirtschaftlichen Problemen ausreichenden
Raum gibt und die Ziele eines nachhaltigen Wachstums,
Fragen von Investitionen, Handel und dem Schutz geistigen Eigentums sowie von Rohstoffproblemen behandeln
wird.
Auch dass der Gipfel das Thema Nichtverbreitung, insbesondere im Hinblick auf Nordkorea und den Iran, sowie
eine Stärkung des Nichtverbreitungsregimes diskutieren
wird, ist angesichts der internationalen Lage von großer
Bedeutung und hängt auch mit den zukünftigen Fragen
der Bekämpfung des Terrorismus zusammen, die ebenfalls erneut aufgegriffen werden.
Die erneute Einbeziehung der O 5 und afrikanischer
Länder trägt zu einer Verstärkung und zum Ausbau der
Kommunikationsfähigkeit der G 8 bei und entwickelt mit
der Fortführung des Heiligendamm-Prozesses eine
Struktur des Dialogs der wichtigsten Verantwortungsträger, der so in keiner anderen Konstellation geleistet werden kann. G 8 ist deshalb ein wichtiger Baustein der
Akzeptanz für die Verantwortung internationaler Problemlösung und etwa in Klimafragen ausdrücklich ein
Befürworter von Lösungen innerhalb und durch die Vereinten Nationen und nicht, wie Kritiker häufig mutmaßen,
ein Versuch der Schwächung des VN-Systems.
Auch bei diesem Gipfel wird es wieder so sein, dass
diejenigen Kritiker, die den G 8 eigentlich jede Legitimation absprechen, internationale Probleme zu behandeln,
hinterher den Eindruck erwecken, es hätte eigentlich konkrete Beschlüsse geben und die Setzung internationaler
Regeln gelingen müssen. G 8 bleibt ein wichtiges internationales Dialogforum zur Angleichung von Standpunkten
für langfristig zu lösende Aufgaben. Seine Bedeutung
wird durch die Verbindung mit den wichtigen Schwellenländern und afrikanischen Partnern nur noch größer.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die CDU/CSU-Fraktion wünscht der Bundeskanzlerin
viel Erfolg auf dem japanischen G-8-Gipfel und erwartet
deutliche Signale für die Weltwirtschaft, für eine weltweite Klimaschutzpolitik und zunehmende Sicherheit.
Ein gutes Jahr ist es jetzt her: der G-8-Gipfel in Heiligendamm. Die Erwartungen damals an die Regierungschefs der G-8-Staaten, vor allem an die Bundeskanzlerin
Angela Merkel waren hoch. Rückblickend kann man sagen, dass die Verhandlungsergebnisse als Erfolg gewertet
werden können. Nach Heiligendamm wurden im Rahmen
der Klimakonferenz der Vereinten Nationen erste wichtige Schritte in Richtung Kioto-Nachfolgeabkommen zurückgelegt. Auf der Biodiversitätskonferenz vor wenigen
Wochen in Bonn wurden wichtige Zusagen zum Schutz
der Urwälder und gleichzeitig zur Unterstützung der Entwicklungsländer gemacht.
Es reicht jedoch nicht aus, wenn wir sagen: Die G-8Staaten können nach wie vor wichtige Entscheidungen
zum Klimaschutz, zum Schutz der Biodiversität und zur
Bekämpfung der weltweiten Armut maßgeblich in der
Weltgemeinschaft vorantreiben. Man muss es deutlicher
formulieren: Nur wenn die G-8-Staaten sich ihrer Verantwortung bewusst sind und wichtige Entscheidungen wie
etwa zum Klimaschutz treffen, dann - und nur dann werden auch Länder wie China, Indien oder Brasilien
Verpflichtungen zur CO2-Reduktion, zum Waldschutz und
zur Nachhaltigkeit eingehen. Und nur wenn die G-8-Staaten diese Aufgaben verantwortungsvoll bewältigen, werden sie in Zukunft weiterhin über die notwendige Legitimität und Macht in der Weltgemeinschaft verfügen.
Deshalb müssen auf dem Gipfel in Japan die Vereinbarungen des G-8-Gipfels vom letzten Jahr in Heiligendamm aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Die
Bundesregierung, allen voran die Kanzlerin Angela
Merkel, muss vor allem ihrer Vorbildfunktion im Bereich
Klimaschutz, Biodiversitätsschutz und Nachhaltigkeit gerecht werden und die anderen Staaten der G8 mit ins Boot
holen.
Erstens. Es gilt, verbindliche Reduktionsverpflichtungen mittelfristig bis 2020 und langfristig bis 2050 einzugehen. Dabei müssen die G-8-Staaten mit ihren Klimaschutzbemühungen deutlich zeigen, dass sie sich ihrer
Verantwortung hinsichtlich der Ursache des Klimawandels bewusst sind. Ich möchte hier betonen, dass man international ganz genau schaut, wie Deutschland sein
Ziel, 40 Prozent Reduktion bis 2020, erreichen wird.
Wenn wir den Eindruck zulassen, dass wir hier in
Deutschland vieles ankündigen, später aber im Gesetzgebungsprozess nachlassen, wird das unsere Position gegenüber China und Indien auf Dauer nicht unbedingt
stärken.
Wenig hilfreich bei der Debatte sind auch die Pläne
der Internationalen Energieagentur, die vorsehen, dass
der CO2-Ausstoß durch den Neubau von Atomkraftwerken gestoppt wird. Energieeffizienz und der Ausbau von
erneuerbaren Energien wird der Schlüssel zu Halbierung
des CO2-Ausstoßes bis 2050 sein. Wir brauchen weltweit
einen neuen intelligenten Umgang mit Rohstoffen und
keine gefährliche unberechenbare Energiegewinnung,
die noch nicht einmal in den modernsten Industrieländern beherrscht wird. Beim Ausbau der erneuerbaren
Energien müssen wir noch stärker als bisher den Technologietransfer in den Entwicklungsländer vorantreiben.
Der Mechanismus CDM ist ein wichtiger Baustein, vielleicht werden wir demnächst jedoch weitere Bausteine
entwickeln müssen.
Auf internationaler Ebene müssen wir auch weiterkommen bei dem Thema der Anpassung an den Klimawandel. Die Bundesregierung hat bisher schon finanzielle Zusagen gemacht. Auch die anderen G-8-Staaten
müssen nachziehen. Und jetzt gilt es auch langfristig Planungen zur Finanzierung der Anpassung zu machen.
Deutschland wird ab 2013 durch die Versteigerung der
Emissionszertifikate mehrere Milliarden Euro einnehmen. Ein Teil muss direkt in den Anpassungsfonds für
Entwicklungsländer fließen. Der Fonds braucht regelmäßige und zuverlässige Mittel, um die Kosten des Klimawandels abzufedern.
Zweitens darf das Signal, was von der Biodiversitätskonferenz vor wenigen Wochen in Bonn ausging, nicht
verpuffen. Wir müssen den Entwicklungsländern einen
Ausgleich dafür bieten, dass sie darauf verzichten, ihre
Wälder auszubeuten. Der Erhalt der Wälder muss zukünftig mehr wert sein als ihre Zerstörung. Auch hier
brauchen wir einen zuverlässigen Finanzierungsmechanismus. Die Bundesregierung ist auf der Biodiversitätskonferenz mit der Zusage der Kanzlerin Angela Merkel
und des Bundesumweltministers Sigmar Gabriel vorweggegangen. Jetzt müssen auch die anderen Staaten nachziehen.
Außerdem müssen Entwicklungsländer weit mehr als
bisher von der biologischen Vielfalt profitieren können.
Biopiraterie ist ebenfalls ein wichtiges Stichwort. Es kann
nicht sein, dass Pharmaunternehmen Profite für neuentwickelte Medikamente einstreichen, und die Menschen
vor Ort von den Gewinnen keinen Cent sehen.
Drittens müssen wir bei vielen anstehenden Entwicklungen noch stärker in Nachhaltigkeit investieren. Das
gilt zum Beispiel für den Anbau von Energiepflanzen und
Futtermittel und für den legalen Holzeinschlag. Es muss
verhindert werden, dass Nahrungsmittelpreise weiter
steigen und das Welthungerproblem sich dadurch verschärft. Globale Finanzmärkte müssen weiter transparent gestaltet und dann eben im Zweifel reguliert werden.
Auch das ist eine Aufgabe, die vor allem die G-8-Staaten in Angriff nehmen müssen: Nach wie vor hungert auf
der Welt eine Milliarde Menschen. Ein unannehmbarer
Zustand. Keine Regierung der Welt wird sich um den Klimaschutz kümmern, wenn ihre Bewohner hungern müssen und keinen gesicherten Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. Nur wenn die globale Gerechtigkeit erhöht
wird, dann können wir nachhaltige Klimaschutzpolitik
betreiben. Gleiches gilt andersherum: Wenn wir die globale Erwärmung nicht begrenzen können, werden mehr
Menschen als bisher keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben und sich nicht ausreichend ernähren können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Klimaschutz, saubere und preiswerte Energieversorgung sowie der Kampf gegen Armut hängen zusammen
und müssen auch in der Politik zusammen gedacht werden. Eine Institution dafür ist die G8. Diese Staaten müssen die Aufgabe übernehmen und Lösungswege vorantreiben. Sie verfügen über die finanziellen Mittel, die
nötige politische Stärke, und - da bin ich mir vollkommen
sicher - auch über den Willen, dies umzusetzen.
In nur wenigen Wochen treffen sich auf Hokkaido die
Staats- und Regierungschefs der acht größten Industriestaaten zu ihrem jährlichen Gipfeltreffen. Noch vor einem
Jahr haben wir an dieser Stelle über die Ziele und Vorstellungen der deutschen G-8-Präsidentschaft gesprochen. Die Bundesregierung hatte besonders den afrikanischen Kontinent ganz oben auf ihre Agenda gesetzt. Dies
ist grundsätzlich zu begrüßen und muss auch weiterhin so
sein; denn die Entwicklungsfortschritte in Afrika sind bei
weitem noch nicht auf dem Niveau, wie wir sie nach fast
50 Jahren Entwicklungszusammenarbeit gern hätten.
Umso erfreuter zeigte ich mich über das Abschlussdokument von Heiligendamm. Was wollten die G-8-Staaten
nicht alles verbessern: die Förderung der Wirtschaft, Investitionen, gute Regierungsführung und die Gesundheitssysteme, insbesondere die Bekämpfung von HIV/
Aids, Malaria, Tuberkulose und anderen Tropenkrankheiten. Hilfszusagen in Milliardenhöhe, insbesondere an den
afrikanischen Kontinent, wurden von den G-8-Staaten
damals gemacht.
Im Hinblick auf das kommende G-8-Treffen auf Hokkaido im Juli dieses Jahres ist eine ehrliche Bilanz des
Heiligendamm-Prozesses ebenso geboten wie ein Ausblick auf die anstehenden Themen unter japanischer G-8Präsidentschaft; denn nichts schadet der Glaubwürdigkeit und dem Ansehen der G 8 mehr als nicht eingehaltene Versprechen.
Rückblickend auf die Versprechungen der G-8-Staaten
und die umgesetzten Verpflichtungen muss klar gesagt
werden, dass den Worten nicht entsprechende Taten
folgten. Der jüngste Africa-Progess-Panel-Bericht hat
uns eindeutig vor Augen geführt, dass die Industrienationen ihren finanziellen Zusagen für Afrika bisher
nicht nachkommen. So sind die finanziellen Versprechungen des G-8-Gipfels von Gleneagles, die Hilfen für
Afrika bis 2010 zu verdoppeln, nach gegenwärtigem
Stand um 40 Milliarden Dollar unterschritten. Die internationalen Herausforderungen und Themen sind seit dem
letzten Gipfeltreffen aber nicht weniger geworden. Im Gegenteil. Das größte und dringendste Problem beschäftigt
uns seit Anfang des Jahres: die Nahrungsmittelkrise.
Während das Thema „Ländliche Entwicklung“ auf dem
G-8-Gipfeltreffen in Heiligendamm lediglich am Rande
erwähnt wurde, wird es angesichts der aktuellen Ernährungskrise, die insbesondere die Entwicklungs- und
Schwellenländer betrifft, ein Schwerpunkt auf dem G-8Gipfeltreffen in Japan sein. Die Bundesregierung hat wie
die gesamte internationale Gemeinschaft die ländliche
Entwicklung sträflich vernachlässigt. Die Signale für ein
frühzeitiges Gegensteuern wurden von allen Seiten
schlichtweg übersehen. Seit den 80er-Jahren hat die internationale Gemeinschaft die Förderung der ländlichen
Entwicklung kontinuierlich verringert. Seit 1998 hat die
Bundesregierung ihre Beiträge zur Ernährungssicherung
und ländlichen Entwicklung um 100 Millionen Euro gekürzt.
Aber auch die Nehmerländer sind ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen. So haben sich die afrikanischen Staaten im Jahr 2003 dazu verpflichtet, 10 Prozent
ihrer nationalen Haushalte für die Landwirtschaft ihres
Landes einzusetzen. Derzeit geben die Mehrheit der afrikanischen Partnerländer lediglich 4 Prozent für den Bereich Landwirtschaft aus. Die ländliche Entwicklung
trägt aber maßgeblich zur Entwicklung eines Landes bei.
Der Weltbankbericht aus dem Jahr 2008 „Agriculture for
Development“ hat dies unterstrichen. Investitionen in
ländliche Entwicklung erzielen einen viermal größeren
Entwicklungseffekt als Investitionen in andere Bereiche.
Auf dem Gipfeltreffen in Hokkaido ist umso dringlicher, dass Maßnahmen zur Förderung von Landwirtschaft und Ernährungssicherheit beschlossen werden;
denn infolge der rasant gestiegenen Lebensmittelpreise in
den letzten Monaten droht ein dramatischer Anstieg der
an Hunger leidenden Menschen und damit ein Zunichtemachen der Erfolge der vergangenen Jahre. Schätzungen
gehen davon aus, dass die Zahl von gegenwärtig 850 Millionen Hungernden allein bis Ende des Jahres auf
900 Millionen ansteigen wird. Das Ziel der Halbierung
der Armut bis 2015 ist in weite Ferne gerückt. Während
die Preise für Grundnahrungsmittel jahrelang relativ stabil gewesen sind, stiegen die Preise für Weizen, Reis,
Mais und Soja in den vergangenen drei Jahren dramatisch an; vor zwei Monaten explodierten sie regelrecht.
Besonders Entwicklungs- und Schwellenländer sind von
diesen Preisexplosionen betroffen. Erste hungerbedingte
Proteste stellen zudem eine zusätzliche Gefahr für Leben,
Frieden und Stabilität in den Entwicklungsländern dar.
Bereits heute ist klar, dass es sich bei den steigenden Lebensmittelpreisen und den damit verbundenen Auswirkungen nicht um ein vorübergehendes Phänomen, sondern um eine grundlegende Entwicklung handelt, die es
gilt, langfristig anzugehen. Erforderlich sind jetzt Sofortmaßnahmen, um hungerbedingte Katastrophen einzudämmen, vor allem aber mittel- und langfristige Maßnahmen, um die landwirtschaftliche Produktion zu steigern.
Die gestiegenen Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel bieten dafür die Gelegenheit, um durch höhere Erzeugerpreise den landwirtschaftlichen Anbau lukrativer zu
machen und von der Subsistenzwirtschaft loszukommen.
Eine leistungsfähige, effiziente und innovative Landwirtschaft in den entwickelten und weniger entwickelten
Ländern ist der entscheidende Schlüssel zur Bekämpfung
des weltweiten Hungers. Nur über effiziente landwirtschaftliche Produktionsverfahren, leistungsfähige Agrarforschung auf nationaler und internationale Ebene und
intakte und wirtschaftsstarke ländliche Räume lassen
sich Hunger und Armut langfristig bekämpfen. Ein erfolgreicher Abschluss der laufenden Welthandelsrunde,
WTO, und der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen sind
vor allem für die Hungernden in den Entwicklungsländern von zentraler Bedeutung und für die europäische
Zu Protokoll gegebene Reden
Landwirtschaft eine unternehmerische Chance. Schließlich muss die Erzeugung von Biokraftstoffen und Biomasse nachhaltig erfolgen, und der Lebensmittelproduktion ist Vorrang vor der energetischen Nutzung von
Biomasse einzuräumen.
Auf dem vom 7. bis 9. Juli 2008 stattfindenden G-8Gipfeltreffen in Hokkaido, welches sich neben den Themen Umwelt und Klimawandel sowie Entwicklung und
Afrika auch mit dem Thema der Nahrungsmittelpreise befassen wird, haben die G-8-Staaten jetzt die Chance, klare
Maßnahmen zu beschließen. Um nachhaltig die globale
Ernährung zu sichern, bedarf es abgestimmter, über den
Agrarsektor und die Armutsbekämpfung hinausgehender
Konzepte auch für die Bereiche der Umwelt-, Klima- und
Wirtschaftspolitik. Aufgabe der Bundesregierung muss es
sein, ihr Gewicht bei den Verhandlungen in Japan für ein
gemeinsames Vorgehen der G-8-Staaten einzusetzen. Alle
jetzt seitens der Bundesregierung beschlossenen Programme und Maßnahmen zur Verbesserung der globalen
Nahrungsmittelversorgung sind nicht nachhaltig, wenn
sie nicht kohärent abgestimmt und verfolgt werden, sowohl auf nationaler Ebene zwischen den deutschen Ministerien als auch auf europäischer und internationaler
Ebene. Angesichts der immer größer werdenden Herausforderungen in der Entwicklungszusammenarbeit ist es
umso wichtiger, dass die G-8-Staaten eine verlässliche
und glaubwürdige Politik machen.
Wie Sie sicher schon im Zusammenhang mit Heiligendamm bemerkt haben, hält die Linke von der alljährlichen exklusiven G-8-Runde nicht allzu viel. Der Club der
mächtigen Staaten dieser Welt trifft sich, um an den Vereinten Nationen vorbei globale Politik zu betreiben. Dabei werden auch gelegentlich Zaungäste eingeladen diesmal Vertreter der sogenannten Outreach-Länder aus
Asien, Lateinamerika und Afrika. Tatsächlich mitentscheiden dürfen diese aber nicht.
Die Meinungen der G-8-Kritikerinnen und -Kritiker
gehen bisweilen auseinander, was die Relevanz der Treffen betrifft. Einige meinen, G 8 sei eine unverbindliche
Quasselrunde, die nichts Verbindliches entscheiden kann,
weil ja im G-8-Prozess im Gegensatz zu vielen UN-Verfahren keine Instrumente zur Umsetzung, Kontrolle und
gegebenenfalls Sanktionierung der Beschlüsse existieren.
Demgegenüber fürchten andere die G 8 als nichtlegitimiertes Machtzentrum der Weltpolitik jenseits der UN.
Ich denke, beide Aspekte sind richtig. Der Großmachtsanspruch der wirtschaftsstarken Industriestaaten,
parallel zu den Vereinten Nationen einen neoliberalen
Thinktank auf Regierungsebene zu unterhalten, also letztlich Grundlinien der Weltpolitik an der UN vorbei festlegen zu wollen, liegt auf der Hand. Entwicklungsländer
und kleinere Industriestaaten bleiben dabei außen vor.
Natürlich auch Nichtregierungsorganisationen und von
der Politik Betroffene. In gewisser Weise ist das Ganze
eine Fortführung neokolonialer Attitüden des vergangenen Jahrhunderts, auch wenn uns immer anderes weisgemacht wird.
Gleichzeitig sind viele Beschlüsse oder Erklärungen,
beispielsweise zum Klimaschutz, kaum das Papier wert,
auf dem sie gedruckt wurden. Die Vertreter der USA, des
wichtigsten globalen Players, drücken sie offensichtlich
umstandslos in die Mülltonne, wenn sie in Washington
aus dem Flugzeug steigen.
Natürlich wäre es naiv, zu glauben, internationale Beziehungen ließen sich allein über die Vereinten Nationen
regeln. Auf dem Weg zu international verbindlichen Abkommen wird es immer eine Vielzahl formeller und informeller Treffen von Regierungsvertreter und Regierungsvertreterinnen geben. Im Übrigen sind auch die UN kein
Hort seligmachender Gerechtigkeit. Gleichwohl unterstützt die Linke die außerparlamentarischen Proteste
gegen die dauerhafte Institutionalisierung eines unkontrollierbaren First-Class-Gremiums, wie es G 8 ist.
Gleichzeitig wollen wir die Vereinten Nationen demokratischer gestalten und stärken, nicht schwächen.
Heute beraten wir nun einen Antrag der Grünen, die
sich als Partei im letzten Jahr von den Protesten gegen
das G-8-Treffen in Heiligendamm distanziert haben. Natürlich folgt der Antrag darum der Logik, vom G-8-Prozess ein Engagement für mehr Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung einzufordern, anstatt G 8 infrage zu
stellen. Rein inhaltlich ist gegen die einzelnen Forderungen gar nichts zu sagen, es fragt sich nur, ob die Adresse,
an die die Forderungen gerichtet sind, die richtige ist.
Ganz wohl ist den Grünen diesbezüglich offensichtlich
auch nicht; denn die Fraktion schreibt in ihrem Antrag,
die G-8-Staaten könnten nicht für sich in Anspruch nehmen, Entscheidungen zu treffen, die zum Teil erhebliche
Folgen für den Rest der Welt hätten.
Auf die anschließenden 27 Forderungen möchte ich im
Einzelnen in diesem Rahmen nicht eingehen. Hervorheben möchte ich aber, dass bekanntermaßen auch die Linke
dafür eintritt, eine Politik zu machen, die weg von Kohle,
Öl und Atom führt, weil den Erneuerbaren die Zukunft gehört. In diesem Zusammenhang ist die absurde Forderung
der Internationalen Energieagentur, IEA, zurückzuweisen, das Klimaproblem mithilfe von 1 344 neuen Atomkraftwerken zu lösen. Das wäre ein energiepolitischer
Amoklauf; nicht nur deshalb, weil das vorhandene Uran
für diese Meiler nur wenige Jahre reichen würde, die Strategie also sündhaft teure Kraftwerksruinen produzieren
würde. Wer auf die Atomwirtschaft setzt, der setzt auch
auf eine unverantwortlich riskante und zentralisierte Form
der Energieerzeugung. Sie würde eine Energiewende zu
nachhaltigen dezentralen Erzeugungsformen aus Sonne,
Wind, Wasser und Biomasse dauerhaft blockieren.
Hier sind wir uns also mit den Grünen einig. Was die
Agrotreibstoffe betrifft, so warten die Grünen allerdings
wieder mit ihrer Idee auf, über die Festlegung von Nachhaltigkeits- und Menschenrechtskriterien ökologische
und soziale Verwerfungen beim Anbau in Indonesien,
Brasilien oder Kolumbien ausschließen zu wollen. Dazu
können wir nur sagen: Träumen Sie weiter. Die Einhaltung dieser Kriterien, sollte es sie denn irgendwann einmal geben, wird nicht zu kontrollieren sein.
Es tut mir leid. Aber solange sich die Grünen nicht
dazu durchringen können, sich der Forderung nach
Zu Protokoll gegebene Reden
einem Importmoratorium für Agrotreibstoffe aus dem Süden anzuschließen - wie sie unzählige Umwelt- und Entwicklungsorganisationen formuliert haben - können wir
an dieser Stelle das Engagement unserer Kollegen nicht
ernst nehmen.
Im letzten Jahr war die G-8-Präsidentschaft ein
Topthema und wurde auch im Parlament umfassend diskutiert. Dieses Jahr ist alles anders. Wir haben keine Diskussionen über die vor und die hinter dem Zaun, wie sie
im letzten Jahr in Heiligendamm auf dem deutschen G-8Gipfel geführt wurden. Die Koalition macht sich nicht
einmal die Mühe, mit einer eigenen parlamentarischen
Initiative auf die Bedeutung des G-8-Gipfels in Japan
hinzuweisen. Generell scheint der Gipfel unter einem
merkwürdigen Stern zu stehen. Der US-amerikanische
Präsident gibt seine Abschiedsvorstellung, große Ambitionen der Bundesregierung lassen sich nicht erkennen
und die selbst die japanische Regierung versucht schon
im Vorfeld des Gipfels, die Erwartungen tief zu hängen.
Dabei hätten alle Beteiligten gute Gründe, mit Entschlossenheit zu versuchen, substanzielle Fortschritte
beim Gipfel anzustreben. Die zentralen Themen, die die
japanische Präsidentschaft platziert hat, reichen von der
Klima- und Energiepolitik, über die Stabilisierung der Finanzmärkte, der Zusammenarbeit zwischen der G 8 und
Afrika bis zur dramatischen Nahrungsmittel- und Hungerkrise.
Über grundsätzliche Fragen, beispielsweise einer
Transformation oder möglichen Erweiterung der G 8,
wird nicht diskutiert. An dieser Stelle verhält sich die japanische Präsidentschaft wie die Bundesregierung im
Jahr zuvor. Aus meiner Sicht gehört diese Diskussion gerade auch wegen der Beteiligung der Schwellenländer,
der sogenannten anderen fünf, China, Indien, Brasilien,
Mexiko und Südafrika, auf die Tagesordnung. Gleiches
gilt für die Reform und Stärkung des UN-Systems; denn
nur ein wirklich globales Forum ist in der Lage, Antworten auf globale Probleme zu finden. Gleichwohl bleiben
die G 8 ein Machtfaktor. Sie können Dinge zum Besseren
oder Schlechteren bewegen.
Lassen Sie mich einige Anmerkungen zu den Themen
des Gipfels machen: Aus grüner Sicht ist es ein Armutszeugnis, das sich bereits abzeichnet, dass erneut keine
verbindlichen CO2-Reduktionsverpflichtungen angestrebt werden. Die japanische Präsidentschaft versäumt
es, für eine klare Botschaft an Schwellen- und Entwicklungsländer zu sorgen, die zeigt: Ja, wir sind entschlossen, mit aller Kraft gegen den Klimawandel zu arbeiten!
Übrigens wird auch versäumt, Signal zu setzen an die USamerikanische Politik und Gesellschaft nach Bush. Ein
Jahr nach Heiligendamm herrscht Stillstand in dieser ungeheuer bedeutenden Frage.
Die „Hausnummer“ für verbindliche CO2-Reduktionsziele der G 8 für die Zeit nach 2012 ist klar zu benennen. Deutschland sollte sich zu Reduktionen von 40 Prozent bis 2020 und 80 Prozent bis 2050 bereit erklären, die
anderen G 8 Staaten sollten sich mindestens zu einer Reduktion um 30 Prozent bis 2020 und von 60 bis 80 Prozent
bis 2050 verpflichten.
Auch bei einem zweiten Thema ist offen, was der Gipfel
bringt: bei der Reaktion auf die gegenwärtige - und anhaltende - globale Nahrungsmittel- und Agrarkrise. Natürlich können die G 8 diese Krise nicht allein bewältigen, doch sie haben Hebel zur Verringerung der Krise
und sollten diese auch nutzen.
Unsere Forderung ist hier ein klarer Beschluss der G 8
zum Abbau aller Subventionen, die negative Auswirkungen auf den Agrarsektor in Entwicklungsländern haben,
vor allem in Afrika. Doch die Wirklichkeit sieht anders
aus. Die Bundesregierung reiht sich in die Phalanx derjenigen ein, die ein doppeltes Spiel spielen. Wer in Brüssel die Finger für die Erhöhung der Exportsubventionen
für Schweinefleisch in afrikanische Länder hebt - mit bekannt negativen Folgen -, braucht in anderen Foren
keine Lippenbekenntnisse über die negativen Wirkungen
von Agrarsubventionen auf Entwicklungsländer loszulassen. Dass Frankreich und die USA dem in nichts nachstehen, macht die Situation nicht besser.
Der Gipfel wird sich auch zum Bericht der Task Force
„Hunger“ der Vereinten Nationen verhalten müssen, der
Forderungen an die G 8 stellt. Diese sollen die grundsätzliche Dimension der Agrarkrise in der Abschlusserklärung zum Ausdruck bringen. Klimawandel, hohe
Energiepreise und steigende Weltbevölkerung werden die
globale Landwirtschaft grundlegend verändern. Wird
nicht gehandelt, wird nach Schätzungen der Weltbank die
Zahl der Hungernden in wenigen Jahren von derzeit
850 Millionen auf eine Milliarde ansteigen. Zehn Prozent
der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit sollten für
die Förderung der ländlichen Entwicklung ausgegeben
werden, marktzerstörende Subventionen abgebaut und
die Nothilfe durch stärkere Unterstützung des Welternährungsprogramms ausgebaut werden. Aus unserer Sicht ist
die Bundesregierung aufgefordert, diese Vorschläge der
UN-Experten zu unterstützen.
Bezogen auf Afrika hat zumindest Japan angekündigt,
die Hilfe bis 2012 schrittweise zu verdoppeln, die Reisproduktion in Afrika zu unterstützen, 100 000 Afrikanerinnen und Afrikaner im Gesundheitsbereich auszubilden
und Privatinvestitionen zu fördern.
Die europäischen G-8-Staaten sollten die eigenen Beschlüsse umsetzen. Diese sehen vor, die öffentliche Entwicklungshilfe der EU im Jahre 2010 auf mehr als
66 Milliarden Euro zu verdoppeln. Mindestens die Hälfte
davon soll Afrika zugute kommen. Der Ausbau der Zusammenarbeit im Wasserbereich, der Anpassung an den
Klimawandel und die Erreichung der MDG erfordern ein
dringend aufgestocktes Engagement.
Afrikaexperten um den ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan stellen im „African Progress Panel Report
2008“ vom Juni dieses Jahres jedoch für die G 8 insgesamt fest, dass die Geber weit hinter ihren bereits gemachten Zusagen zurückliegen.
Um noch kurz auf das Thema Finanzmärkte einzugehen: Dass globale Finanzmärkte globale Regeln brauchen, wurde durch die Immobilienkrise in den USA und
Zu Protokoll gegebene Reden
die Auswirkungen auf das internationale Finanzsystem
deutlich. Da sich zentrale Finanzplätze in den G-8-Staaten befinden, tragen diese Staaten eine besondere Verantwortung bei der Aufgabe, den Finanzmärkten ein effektives, verbindliches Regelwerk zu geben. Vor allem die
USA und Großbritannien betreiben bislang mit ihrer Weigerung, systematisch ein effektives Regelwerk aufzustellen, Klientel- und Standortpolitik zum Schaden der Weltwirtschaft. Das muss ein Ende haben. Die anderen G-8Staaten sollten im eigenen Interesse auf eine Zusammenarbeit drängen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9751.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich der Stimme? - Der Antrag ist abgelehnt.
Interfraktionell wird unter Zusatzpunkt 10 die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9750 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das immerhin ist
einvernehmlich.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 26:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die europäische Integration der Republik
Moldau unterstützen
- Drucksache 16/9755 Hierzu haben die Kollegen Manfred Grund, Markus
Meckel, Michael Link ({0}), Dr. Diether Dehm
und Rainder Steenblock Reden vorbereitet, die allesamt
zu Protokoll genommen werden.
Wie kaum ein anderes Land in Europa hat die Republik
Moldau nach wie vor unter den Folgen der großen historischen Tragödien des 20. Jahrhunderts zu leiden. Nach
Jahrzehnten kommunistischer Diktatur und den Verwerfungen, die dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgten, ist die Republik Moldau zum ärmsten Land des Kontinents geworden. Ihre staatliche Einheit ging infolge des
Konfliktes um die abtrünnige Region Transnistrien verloren, ein Zustand, der bis heute andauert.
Für kaum ein anderes Land westlich von Russland ist
die europäische Perspektive von ähnlicher Bedeutung
und mit ähnlichen Hoffnungen verbunden. Dabei ist es in
erster Linie auf historische Zufälle zurückzuführen, dass
die Republik Moldau im bisherigen Erweiterungsprozess
der EU außen vor blieb. Wie die Länder des Baltikums fiel
das Territorium Moldaus infolge des Zusatzprotokolls
zum Hitler-Stalin-Pakt an die Sowjetunion. Doch anders
als Litauen, Lettland und Estland vermochte Moldau
nach deren Ende schon infolge des andauernden Konflikts um Transnistrien keinen vergleichbar schnellen Anschluss an den Westen zu finden.
Während die Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien letztlich als Katalysator des EU-Integrationsprozesses wirkten, war es im Falle Moldaus das frühe Ende der
bewaffneten Auseinandersetzungen, das keine vergleichbare Öffnung der EU nach sich zog. Aufgrund der fortbestehenden Militärpräsenz Russlands in Transnistrien gaben letztlich auch machtpolitische Rücksichten den
Ausschlag. So wurde Moldau zwar noch in den Stabilitätspakt für Südosteuropa einbezogen, nicht mehr jedoch
in den Erweiterungsprozess, der auf den westlichen Balkan beschränkt blieb.
Mit dem vorliegenden Antrag wird der Deutsche Bundestag die europäische Integration der Republik Moldau
ausdrücklich unterstützen. Zwar sind die Voraussetzungen für eine formelle Beitrittsperspektive derzeit nicht gegeben. Die EU muss zunächst die notwendigen Reformen
durchführen, um ihre Handlungsfähigkeit an ihre neue
und künftige Größe anzupassen. Doch auch nach dem
Nein der Iren zum Lissabonner Vertrag wird dies nicht
das letzte Wort bleiben können. Denn es lässt sich nicht
rechtfertigen, dass diejenigen Länder, die am schwersten
und längsten unter der Teilung Europas zu leiden hatten,
jetzt von den Vorteilen der europäischen Einigung ausgeschlossen bleiben sollen.
Die Republik Moldau wird noch einen langen Weg hin
zur EU zurückzulegen haben. Heute jedoch sollten wir ihr
signalisieren, dass es für sie zumindest eine implizite Beitrittsperspektive geben wird; denn wenn sie künftig die
Kriterien erfüllt, wird ihr der Beitritt nicht verwehrt bleiben.
Wir wollen mit unserem Eintreten für die europäische
Integration der Republik Moldau auch deren eigene Bemühungen um eine Annäherung an die EU würdigen.
Aber wir tun dies nicht, weil wir über die Probleme hinwegsehen wollten, die mit dem Transformationsprozess in
Moldau noch immer verbunden sind, sondern im Gegenteil, weil wir damit einem Impuls für eine nachdrückliche
Stärkung des Reformprozesses gegen wollen.
Wir wollen, dass die Republik Moldau ihre Reformen
entschieden fortsetzt. Deshalb benennen wir auch die Defizite, die hinsichtlich der Demokratisierung des Landes,
der Rechtsstaatlichkeit und der Einhaltung der Menschenrechte noch zu beheben sind. Dass die Zahl der Klagen moldauischer Bürger gegen die eigene Regierung
beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in
den vergangenen Jahren gestiegen ist, ist zwar vor allem
ein Zeichen für die Entwicklung der Zivilgesellschaft, die
sich ihrer Rechte mehr und mehr bewusst wird. Festzuhalten ist aber auch, dass diesen Klagen in den vergangenen Jahren in mehr als 100 Fällen stattgegeben wurde.
So wird die Meinungsfreiheit noch nicht ausreichend
gewährleistet. Die Zustände in Haftanstalten entsprechen
zuweilen nicht europäischen Menschenrechtsstandards.
Die Unabhängigkeit der Justiz, insbesondere auch von
politischen Einflussnahmen, ist nicht hinreichend gesichert. Der Verdacht der politischen Instrumentalisierung
von Strafverfahren ist jedenfalls in bestimmten Fällen
nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Problematisch
sind in dieser Hinsicht auch die Befugnisse der Generalstaatsanwaltschaft.
Wir haben große Erwartungen an unsere Freunde in
der Republik Moldau. Wir erwarten einen entschiedenen
Ausbau der rechtsstaatlichen Garantien, und wir erwarten eine verstärkte, eine wirklich durchgreifende Bekämpfung der Korruption. Wir erkennen ausdrücklich an,
welche Fortschritte dabei bereits in der einschlägigen
Gesetzgebung gemacht wurden. Probleme bestehen jedoch oft noch darin, dass diese Gesetzgebung nicht oder
nicht vollständig umgesetzt wird.
Besondere Aufmerksamkeit muss den für 2009 anstehenden Parlamentswahlen gelten. Zu fairen Wahlen wird
die Gewährleistung eines gleichberechtigten Zugangs aller Parteien zu den Medien gehören müssen. Ich verhehle
nicht, dass die Anhebung der Sperrklausel von 4 auf
6 Prozent und das Verbot von Listenverbindungen bei mir
Bedenken hervorrufen. An sich wären diese Änderungen
grundsätzlich nicht zu beanstanden. Schließlich gibt es
ähnliche Regelungen auch in anderen europäischen Ländern. Dass sie so kurzfristig vor den Wahlen erfolgt sind
und den Oppositionsparteien nur wenig Gelegenheit zur
Anpassung lassen, muss jedoch die Frage aufwerfen, ob
diese Maßnahmen nicht letztlich dem Erhalt bestehender
Mehrheitsverhältnisse dienen. Unverhältnismäßig erscheint mir auch die Tatsache, dass Doppelstaatsbürger
von bestimmten öffentlichen Ämtern ausgeschlossen werden sollen - obwohl ich durchaus verstehe, dass sich für
viele Moldauer damit Sorgen um ihre nationale Identität
verbinden.
Wir treten gleichwohl für eine schnellstmögliche Aufnahme von Verhandlungen über ein Nachfolgeabkommen
des auslaufenden Partnerschafts- und Kooperationsabkommens ein, und zwar für ein Abkommen, das auch den
Erwartungen der Republik Moldau gerecht wird und damit substanziell über den bisherigen Rahmen hinausgeht.
Die bisherigen Reformbemühungen in Moldau rechtfertigen es nicht, dass das Verhältnis zur Republik Moldau
hinter die Verhandlungen mit anderen Partnern zurückfällt. Wir tun dies jedoch in der Hoffnung, dass die Republik Moldau ihrerseits die Wahlgesetzgebung noch einmal überprüft und gegebenenfalls auch Vorschläge der
Venedig-Kommission annimmt.
Reformbedarf so deutlich zu benennen und gleichzeitig
für die europäische Integration der Republik Moldau einzutreten, stellt keinen Widerspruch dar. Im Gegenteil: Nur
wer ein klares Bekenntnis zur europäischen Perspektive
der Republik Moldau abgibt, wer bereit ist, die Zusammenarbeit zu intensivieren und die Integration voranzubringen, der kann erwarten, mit seiner Kritik als Partner
ernst genommen zu werden und eine konstruktive Rolle zu
spielen. Kritik und Commitment müssen Hand in Hand
gehen.
Dieses Bekenntnis zur europäischen Integration der
Republik Moldau schließt unsere Bemühungen um eine
Lösung des Transnistrienkonflikts ein. Dieser Konflikt
darf einer EU-Integration der Republik Moldau auf
Dauer nicht im Wege stehen; denn dies würde das Land
nur dem Druck anderer Konfliktparteien ausliefern und
damit die Chancen für eine vertretbare Konfliktlösung
vermindern.
Der Konflikt in Transnistrien folgt keinen ethnischen
oder religiösen Trennlinien. Seine Lösung hängt nicht von
einem Ausgleich zwischen unterschiedlichen Volksgruppen ab. Die Rechte der russischen Minderheit sind in der
Republik Moldau umfassend gewährleistet, und Chisinau
dürfte auch zur Gewährung eines weitgehenden Autonomiestatus bereit sein. In letzter Konsequenz sind es der
Charakter des Regimes in Tiraspol und indirekt die Haltung Russlands, die für eine Lösung ausschlaggebend
sind.
Denn die Voraussetzung einer Wiedervereinigung
muss sein, dass in Transnistrien ein ebensolcher Transformationsprozess stattfindet, wie er sich in der Republik
Moldau vollzieht. Die Alternative wäre nur ein Rückschlag in der demokratischen und rechtsstaatlichen Entwicklung Moldaus insgesamt. Das ist der Grund, weshalb
die EU das Kozak-Memorandum abgelehnt hat.
Hoffnungen auf eine schnelle Lösung des Konflikts haben sich bislang immer wieder zerschlagen. Die Europäische Union hat ihr Engagement in dem Konflikt in den
letzten Jahren verstärkt. Aber wir sollten uns auch auf
eine langfristigere Strategie einstellen. Und wir sollten
dabei auch auf einen Wettbewerb der Systeme setzen.
Eine Republik Moldau, in der rechtsstaatliche und demokratische Reformen weiter voranschreiten, in der sich
ein wirtschaftlicher Aufbauprozess vollzieht, wird ihre
Anziehungskraft gegenüber Transnistrien stärken. Eine
konsequente Politik der Westintegration wird über kurz
oder lang auch Russlands Wahrnehmung seiner Interessen in der Region beeinflussen und den strategischen
Wert des Regimes in Tiraspol infrage stellen. Dafür aber
braucht Chisinau eine strategische Perspektive, die nur
die EU anbieten kann.
Die Republik Moldau wird darauf nicht unendlich lang
warten können. Der Abwanderungsdruck gerade der jungen, flexiblen und gut ausgebildeten Menschen ist seit
Jahren hoch. Er hat sich durch die jüngste Erweiterung
der EU eher noch verstärkt, indem sie Visaschranken an
Grenzen schuf, wo vorher keine waren. Heute besteht
schätzungsweise ein Drittel des Sozialprodukts in Moldau
aus Rücküberweisungen seiner im Ausland lebenden Bürger.
Sicher hat Moldau auch in wirtschaftlicher Hinsicht
noch wichtige Reformaufgaben vor sich. Nicht zuletzt gilt
es, die Rechts- und Investitionssicherheit vor staatlichen
Eingriffen deutlich auszubauen. Doch bringen wir nicht
zugleich die Perspektiven, die die EU zu bieten hat, nach
Moldau, dann droht das Land seine potenziellen Leistungsträger mehr und mehr an das übrige Europa zu verlieren, dann droht Moldau dauerhaft zum Armen- und Altenheim Europas zu werden.
Unser Interesse, das Interesse der EU an der Republik
Moldau ist abstrakter, aber nicht weniger bedeutsam.
Wenn es richtig ist, dass die Ausrichtung der EU weniger
auf materiellen Egoismen als auf Prinzipien und Wertvorstellungen beruht, dann ist die Republik Moldau ein Testfall für die Tragfähigkeit europäischer Politik.
Die europäische Integration der Republik Moldau zu
unterstützen, ist uns ein parteiübergreifendes Anliegen.
Ich freue mich, dass dieser Antrag breite Unterstützung
auch in die Oppositionsfraktionen hinein gefunden hat.
Zu Protokoll gegebene Reden
In den vergangenen Jahren hat die Republik Moldau
große Fortschritte auf ihrem Wege der Annäherung an die
Europäische Union gemacht. Das Partnerschafts- und
Kooperationsabkommen von 1998 sowie vor allem das
Aktionsprogramm der vergangenen drei Jahre bildeten
dazu einen geeigneten Handlungsrahmen. Die 2007 unter
der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ins Leben gerufene Schwarzmeersynergie hat zusätzlich dafür gesorgt,
dass dieses vergleichsweise kleine Land in unserer unmittelbaren Nachbarschaft nicht übersehen wird.
Dennoch steht die Republik Moldau weiterhin vor einer Reihe von Problemen, zu deren Lösung die EU und
damit auch Deutschland beitragen kann. In vielerlei Hinsicht entspricht der Respekt für Menschenrechte und
Grundfreiheiten in Moldau noch immer nicht unseren
Standards. Auch zur Rechtsstaatlichkeit ist es noch ein
weiter Weg. Dabei sieht sich die Republik Moldau insbesondere bei der Umsetzung der Gesetzgebung strukturell
bedingten Problemen gegenüber. Die jüngsten Anstrengungen des Landes bei der Reform des Justiz- und Polizeiwesens sowie im Bereich der Korruptionsbekämpfung
sollten daher auch künftig konstruktiv begleitet werden.
Ein neues Rahmenabkommen kann dabei den Weg freimachen für neue gemeinsame Vorhaben.
Im Hinblick auf die Parlamentswahlen Moldaus im
kommenden Jahr wird deutlich, dass der Demokratisierungsprozess noch viele Defizite aufweist. Die jüngsten
Änderungen der Wahlgesetzgebung und die gegenwärtige
Lage von Meinungs- und Pressefreiheit geben dabei
durchaus Anlass zur Sorge. Es darf nicht angehen, dass
die moldauische Regierung über das Justizministerium
die Zusammenschlüsse von Parteien verhindert. Denn in
Kombination mit der neuen Sechs-Prozent-Hürde soll damit einzig und allein der Machterhalt der Kommunistischen Partei oder gar ihre absolute Parlamentsmehrheit
gesichert werden.
Neben der Fortsetzung des kritischen Dialogs und der
konstruktiven Zusammenarbeit im Rahmen von OSZE
und Europäischer Nachbarschaftspolitik bedarf es deshalb auch und vor allem des Engagements unserer Parteien und politischen Stiftungen, um die demokratische
und freie Entwicklung der jungen moldauischen Demokratie zu unterstützen. Dies gilt sowohl mit Blick auf die
politischen Parteien als auch auf die Zivilgesellschaft.
Wirtschaftlich sieht sich die Republik Moldau ebenfalls zahlreichen Herausforderungen gegenüber. Deren
Bewältigung ist für uns als Nachbarn von gleichermaßen
außenhandels- und sicherheitspolitischer Relevanz. Insbesondere in den ländlich geprägten Regionen Moldaus
verarmt und überaltert die Gesellschaft zusehends. In
einer am Montag vorgelegten Studie hat die OECD die
dramatischen Auswirkungen skizziert, welche die Doppelbelastung von Transformation und Globalisierung für
die Arbeitsmärkte der Schwarzmeerstaaten verdeutlicht.
Ohne ausreichend zusätzliche Jobs kann das wirtschaftliche Wachstum auch in der Republik Moldau nicht die Abwanderung von Arbeitskräften verhindern - ob ins Ausland oder in die Schattenwirtschaft. Und diese kommt
immerhin in der Republik Moldau für etwa die Hälfte des
Bruttonationaleinkommens auf und stärkt lediglich Korruption und organisierte Kriminalität. Das kann nicht in
unserem Interesse sein.
Der Umfang der Handelsbeziehungen zwischen der
Republik Moldau und der EU wächst stetig. Deutschland
nimmt dabei eine wichtige Rolle ein: Bei den Importen
sind wir nach dem Nachbarland Rumänien bereits der
zweitwichtigste EU-Partner und das viertwichtigste
Hauptlieferland insgesamt. Zudem gilt es, die Entwicklung der moldauischen Wirtschaft auch weiterhin mit
Aufbauhilfen und dem Abbau von Handels- und Visaschranken zu stärken. Nur so können die Bemühungen
der Regierung Moldaus zur Verbesserung des Investitionsklimas wirksam unterstützt werden. Des Weiteren
würde sich dies positiv auf die Lage am Arbeitsmarkt auswirken und dazu beitragen, dass junge, gut ausgebildete
Moldauer nicht ins Ausland abwandern müssen, um das
nötige Geld an Ihre Familien zurücküberweisen zu können.
Besonders lähmend für die Entwicklung der Republik
Moldau und hinderlich für ihren Weg der Annäherung an
die EU ist der weiterhin ungeklärte Transnistrien-Konflikt. Immerhin hat Präsident Voronin im April dieses Jahres die Gespräche mit der Führung der abtrünnigen Region wieder aufgenommen. Zudem hat die moldauische
Regierung kürzlich Entwürfe für neuerliche Verhandlungen im Rahmen des 5+2-Prozesses ausarbeiten lassen.
Sie enthalten unter anderem einen Gesetzesentwurf für
ein Autonomiestatut Transnistriens und Fristen zur Umsetzung dieses Gesetzes. Diese Schritte sind ausdrücklich
zu begrüßen, ebenso die aus Moskau signalisierte Bereitschaft, zur Stärkung des beiderseitigen Vertrauens beizutragen. Auch die russische Staatsduma hat beschlossen,
dass eine Lösung dieses Konfliktes unter Achtung der territorialen Integrität Moldaus erfolgen soll. Es ist wichtig,
dass die EU in Fragen der gemeinsamen Nachbarschaft
eng mit Russland zusammenarbeitet.
Angesichts dieser positiven jüngeren Entwicklungen
ist es unerlässlich, dass die Bundesregierung alle Gelegenheiten wahrnimmt, im Rahmen des 5+2-Prozesses
über OSZE, EU und die guten Beziehungen zu Russland
eine Lösung des Transnistrien-Konfliktes voranzutreiben.
Wichtig ist dabei auch, dass die immer noch in Transnistrien lagernden Waffen kontrolliert abgezogen werden
und somit deren Proliferation in andere Konfliktgebiete
Einhalt geboten werden kann. Gerade im Kontext der instabilen Lage im Nordkaukasus ist dies gewiss auch im
Interesse Russlands.
Viele Menschen in der Republik Moldau hoffen auf
eine europäische Perspektive. Dem hat auch die moldauische Regierung wiederholt Ausdruck verliehen. Der
Weg allerdings ist noch weit und das Land hat noch viele
herausfordernde Aufgaben vor sich. Eine zügige Fortsetzung der konstruktiven Zusammenarbeit würde dabei beiden Seiten viele Möglichkeiten eröffnen. Denn wenn die
Moldauer entschlossen danach streben, ein Teil des in
Frieden und Freiheit vereinten, demokratischen Europas
zu werden, dann müssen wir dies nach Kräften unterstützen und dem jeweiligen Fortschritt entsprechend beantworten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission zur Umsetzung der EU-Nachbarschaftspolitik vom
3. April 2008 hat zu unser aller Freude festgestellt, dass
die Republik Moldau bedeutsame Schritte auf dem Weg
der Annäherung an die EU vollzogen hat. So wurden positive Entwicklungen im Bereich der Menschrechtspolitik
und dem Ausbau der Rechtsstaatlichkeit erreicht. Diese
Erfolge sind für uns besonders wichtig, ist die Republik
Moldau doch durch den Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union ein direktes Nachbarland geworden. Deshalb ist es auch selbstverständlich, dass man sich nicht
auf den Erfolgen ausruht. Es ist noch sehr viel zu tun.
Das gilt für beide Seiten - für Deutschland und die EU
einerseits, aber vor allem für die Republik Moldau selbst.
Denn noch immer muss man das Land am Dnjestr als ein
„Armenhaus Europas“ bezeichnen - das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen ist mit circa 100 Euro im Monat erschreckend niedrig. Noch immer fristet dieses Land
in der öffentlichen Wahrnehmung ein „Schattendasein“.
Wann kann man schon mal etwas in den Medien über
Moldau erfahren? Noch immer müssen deutliche Fortschritte vor allem bei der Stärkung demokratischer Einrichtungen, der Menschenrechte, der Bekämpfung der
Korruption sowie bei der Unabhängigkeit der Justiz erzielt werden. Menschen- und Organhandel sind dabei als
bedrückendste Probleme zu nennen.
Und noch immer ist die Transnistrien-Frage ungelöst.
Russland darf seine Rolle als wichtiger Wirtschaftspartner und Energielieferant dieses Landes nicht ausnutzen,
um es zu erpressen, wie es in der Vergangenheit häufig
der Fall war. Herr Außenminister, auch das ist eine
Frage, in der Russland seiner Rolle im Sinne einer „Modernisierungspartnerschaft“ mit Deutschland und der
EU gerecht werden muss. Russland muss sich von seinem
ständigen „Njet“ und seiner zu sehr an Macht- und Einflusspolitik ausgerichteten Strategie lösen, um an einer
konstruktiven Lösung dieses sogenannten frozen conflict
mitzuarbeiten.
Wir müssen daran arbeiten, dass Transnistrien entmilitarisiert und entkriminalisiert wird. Es gibt kaum eine
Region in Europa mit einem derartig großen Arsenal konventioneller Waffen. Transnistrien gilt auch als Geldwaschanlage, als Drogenumschlagsplatz und als
Schmuggelhölle.
Umso dringender ist hier gemeinschaftliches Handeln
gefordert. Positiv zu erwähnen ist die Arbeit, die die
„EUBAM“, die „Border Assistance Mission“ der Europäischen Union, an der ukrainisch-moldauischen Grenze
mit 122 Experten aus 22 EU-Mitgliedstaaten leistet. Es
bedarf aber eines Mehrs an Anstrengungen.
Ich denke, wir alle sind uns einig: Die Republik Moldau ist ein Teil von Europa. Wenn wir uns darüber einig
sind, dann müssen wir aber auch entsprechend handeln
und die Republik Moldau als solche behandeln. Deshalb
braucht sie weiterhin unsere Unterstützung, um die angesprochenen Probleme bewältigen zu können. Die Republik Moldau ist das einzige Land des „Stabilitätspaktes
für Südosteuropa“ ohne konkrete EU-Betrittsperspektive.
Gleichzeitig ist sie Teilnehmerin der „Europäischen
Nachbarschaftspolitik.“ Insofern sitzen die Moldauer
zwischen den Stühlen. Was ist nun richtig?
Das Beispiel Moldaus zeigt, dass sich Deutschland
und die Europäische Union in dieser Frage ihrer außenpolitischen Verantwortung stellen müssen. Dabei ist es
auch ganz klar, dass wir in diesem Falle nicht nur einem
Land zur Seite stehen. Es ist in unserem ureigenen Interesse, dass Länder, die sich in direkter Nachbarschaft zur
EU befinden, ein möglichst hohes Maß an Stabilität erreichen. Deshalb begrüßt und unterstützt die FDP-Bundestagsfraktion diesen interfraktionellen Antrag, der an den
Antrag aus der letzten Legislaturperiode anknüpft. Die
europäische Integration der Republik Moldau muss unterstützt werden.
Die Republik Moldau hat in den letzten Jahren eine
sehr positive Entwicklung genommen. Dies freut die
Fraktion Die Linke umso mehr, als in der Republik Moldau seit 2001 unsere Schwesterpartei, die PCRM, regiert.
Wir erinnern uns noch sehr gut an die kritischen Kommentare aus den verschiedenen politischen Familien Europas, als die PCRM in demokratischen Wahlen erstmals
mit überwältigender Mehrheit gewählt wurde. Es spricht
ganz offensichtlich für politische Zustimmung und Akzeptanz unter den Wählerinnen und Wählern der Republik
Moldau, dass ihr Regierungsauftrag bei der letzten Wahl
klar bestätigt wurde. Selbst die Unionsfraktion kommt
nicht umhin, die gute Zusammenarbeit mit den moldauischen Kommunistinnen und Kommunisten zu würdigen!
Über eine solche Realitätseinsicht freut sich Die Linke
selbstverständlich, und vielleicht könnte dies, meine sehr
verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Union, auch
ein Anlass sein, dass Sie einmal über Ihren verkrampften
Umgang mit der Linken im Deutschen Bundestag nachdenken. Die Tatsache, dass der heute vorliegende interfraktionelle Antrag zur europäischen Integration Moldaus unter
Ausgrenzung der Linken zustande kam, zeigt wieder, dass
Vertreter mancher Fraktionen ihre aus dem Kalten Krieg
ererbte Wagenburgmentalität offenbar weiter pflegen
möchten. Damit erweisen Sie weder sich selbst, noch der
Republik Moldau einen Dienst.
Denn gerade in der Republik Moldau haben wir durch
unsere guten Kontakte dazu beigetragen, dass sich mit
der Kommunistischen Partei der Republik Moldawien
und ihrem Präsidenten, Vladimir Voronin, ein enger Austausch zwischen der Europäischen Union und der Republik Moldau entwickelt hat. So haben wir bereits vor zwei
Jahren bei unserer internationalen Europakonferenz hier
im Deutschen Bundestag Vertreter der Kommunistischen
Partei als Gäste und Referenten willkommen heißen können.
Wirtschaftspolitisch stellt sich die Entwicklung in der
Republik Moldau noch immer als schwierig dar. Ein wesentlicher Grund hierfür ist nicht zuletzt auch der ungeklärte Konflikt in Transnistrien. Wir bekräftigen in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Forderung des
interfraktionellen Antrags, dass eine Lösung des Transnistrien-Konflikts die volle Souveränität und territoriale
Integrität der Republik Moldau sichern muss.
Zu Protokoll gegebene Reden
Trotz der schwierigen Situation in der Region konnte
in der Republik Moldau ein Wirtschaftswachstum von
4 bis 7 Prozent erreicht werden. Die Armut im Land hat
sich von fast 80 Prozent auf zwischenzeitlich etwa
30 Prozent reduziert. Die offizielle Arbeitslosenquote ist
von 8 auf 2,1 Prozent gefallen. Dabei dürfen wir jedoch
nicht vergessen, dass viele moldawische Bürger ihr Land
verlassen mussten, um in anderen Staaten Arbeit zu finden. Die Industrieproduktion konnte sich bei einem zwischenzeitlich konsolidierten Wachstum von circa 6 Prozent erholen.
Deutschland ist für die Republik Moldau einer der
wichtigsten Handelspartner: 12,2 Prozent aller Exporte
und 8,7 Prozent aller Importe des Landes werden mit
Deutschland abgewickelt. Trotzdem sollten wir nicht verkennen, dass aufgrund der geografischen Nähe und der
traditionellen Handelsbeziehungen nach wie vor Russland der Haupthandelspartner für die Republik Moldau
ist. Über 20 Prozent des gesamten Handelsvolumens der
Republik entfallen auf den moldauisch-russischen Handel. Auch aus diesem Grund ist eine friedliche und einvernehmliche Zusammenarbeit der Republik Moldau mit
Russland von großem Gewicht für die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Alle Versuche der EU, durch ihre
asymmetrische Nachbarschaftspolitik eine geostrategische Veränderung zulasten Russlands durchzusetzen,
werden so die Entwicklung und Befriedung der Region
spürbar erschweren.
Die Fraktion Die Linke begrüßt den vorgelegten interfraktionellen Antrag grundsätzlich, wird sich in der Abstimmung jedoch enthalten, da wir meinen, dass der Antrag einige problematische Aspekte beinhaltet, die zu
vermeiden gewesen wären, wenn es zu einem echten interfraktionellen Antrag - unter Einbeziehung der Fraktion Die Linke - gekommen wäre.
Für problematisch halten wir die positive Bezugnahme
auf die von der EU als Grundlage für Visaerleichterung
vorgeschriebenen Rückführungsabkommen. Die EU nutzt
die Visaerleichterungen für die Menschen in den Partnerländern dazu, ihre eigene, höchst restriktive Flüchtlingspolitik durch Druck auf diese Staaten durchzusetzen und
ihnen auch gleich noch die Rückführungskosten aufzubürden.
Die Fraktion Die Linke tritt dafür ein, dass mit der Republik Moldau schnellstmöglich ein Abkommen zur vollständigen Visabefreiung abgeschlossen wird. Wir sind
davon überzeugt, dass dies auch eine wichtige Voraussetzung zur Stärkung der Souveränitat und territorialen Integrität ist, um panrumänische Begehrlichkeit einzudämmen. Viele Moldauer, die als zweite Staatsbürgerschaft
die rumänische angenommen haben, taten dies vor allem
wegen der diskriminierenden Visapraxis und um Zugang
zum europäischen Arbeitsmarkt zu bekommen.
Die Fraktion Die Linke unterstützt eine partnerschaftliche und gleichberechtigte Zusammenarbeit der EU mit
ihren Nachbarn. Die bisherige Europäische Nachbarschaftspolitik, die in weiten Teilen primär für die einseitige Durchsetzung von EU-Handelsinteressen genutzt
wird, halten wir für falsch. Sie muss dringend korrigiert
werden. Wir treten zwar für eine Öffnung der Märkte der
Nachbarschaftsstaaten für die Waren in der EU ein, sehen
aber die Notwendigkeit, diesen Staaten eigenständige
Entwicklungsperspektiven zu belassen. Hierzu gehört vor
allem die Förderung der binnenwirtschaftlichen Entwicklung mit öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur. Es
kann deshalb nicht angehen, dass die EU die Partnerschaftsländer mit mehr oder minder sanftem Druck dazu
zwingt, ihre vorhandenen oder weiter aufzubauenden Infrastrukturen rigoros zu privatisieren und die öffentliche
Daseinsvorsorge immer weiter abzubauen.
Die Kommunistische Partei der Republik Moldau hat
ihren ersten großen Wahlerfolg vor dem Hintergrund einer extremen Armutssituation errungen und seither wichtige Erfolge bei der Bekämpfung der Armut erreicht. Gerade dieses neugewonnene Fundament zwischen
ökonomischem Wiederaufbau und sozialem Ausgleich
würde durch neoliberalen Privatisierungszwang wieder
gefährdet.
Des Weiteren beurteilen wir die im Antrag erwähnte
Schwarzmeer-Synergie deutlich differenzierter und kritischer als die antragstellenden Fraktionen. In der Mitteilung der Kommission zur Schwarzmeer-Synergie wird
explizit sofort darauf hingewiesen, dass die Schwarzmeer-Region einen eigenen geografischen Raum bilde:
reich an natürlichen Ressourcen und an der strategischen
Schnittstelle zwischen Europa, Nahost und Innerasien
liegend. Die Schwarzmeer-Synergie wird von EU-Seite
primär aufgrund eigener imperialer Ambitionen forciert.
Die Interessen der Anrainerstaaten der Schwarzmeer-Region geraten hierdurch ins Hintertreffen. Ein zentraler
Punkt der Schwarzmeer-Synergie ist nicht zuletzt die
Steuerung der Migration durch eine Verbesserung der
Grenzsicherung. Damit wird - wie auch in der EU-Mittelmeer-Strategie - die vermeintliche Sicherung der EUAußengrenze in die Nachbarregionen der Europäischen
Union vorverlegt. Soziale, wirtschaftliche und infrastrukturelle Hilfe wird an die Erfüllung der Forderungen der
EU geknüpft. Das halten wir für inakzeptabel.
Positiv sind dagegen die gemeinsamen Projekte zur
Verbesserung der Umweltsituation. Hier wünscht sich
Die Linke jedoch noch ein weitaus größeres Engagement
der EU und Deutschlands.
Positiv ist im Antrag außerdem zu bewerten, dass der
politische Dialog mit der Republik Moldau intensiviert
und ein neues konsolidiertes Partnerschafts- und Kooperationsabkommen geschlossen werden soll. Die Linke unterstützt die Forderung, schnellstmöglich Verhandlungen
zu einem Nachfolgeabkommen aufzunehmen. Gleichzeitig erwarten wir ein größeres Entgegenkommen gegenüber den berechtigten Forderungen der Republik Moldau.
Summa summarum unterstützt Die Linke jegliche Bemühung für eine bessere und sozial gerechtere Nachbarschaftspolitik mit der Republik Moldau. Aufgrund der
vorgetragenen Argumente wird sie sich jedoch der
Stimme enthalten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Republik Moldova ist seit dem 1. Januar 2007
unser unmittelbarer Nachbarstaat der EU. Sie liegt mit
nur knapp 4 Millionen Einwohnern an der Schnittstelle
zwischen der EU und der Gemeinschaft Unabhängiger
Staaten. Sie strebt nach der europäischen Integration,
nach einer Annäherung an die EU mit dem Ziel der Mitgliedschaft und der gleichzeitigen Wahrung ihrer bündnispolitischen Neutralität. Das unterstützen wir natürlich. Ein jedes Land muss für sich entscheiden können,
wie es sich entwickeln möchte. Und wenn es nach unseren
Spielregeln spielen möchte, dann ist das für uns nur gut.
Wie durch den Fortschrittsbericht der Europäischen
Kommission vom 3. April 2008 zur Umsetzung der EUNachbarschaftspolitik in Moldova bestätigt, ist Moldova
auf dem richtigen Weg der Annäherung. Zu den Fortschritten zählen beispielsweise die Annahme einer umfangreichen Strategie zur Reform des Justizsystems, die
Ratifizierung der Konvention der Vereinten Nationen gegen Korruption, die gesetzliche Heranführung an VNStandards und Fortschritte bei der Wahrung der Menschenrechte. Autonome Handelspräferenzen und das Visaerleichterungs- und Rückführungsabkommen mit der
EU sind Erfolge, die die Republik schrittweise erzielen
konnte. Jedoch muss zur weiteren Annäherung an EUStandards und internationale Menschenrechtsstandards
noch dringend die Umsetzung der Gesetzgebung bezüglich der Gewährleistung der Meinungs- und Pressefreiheit, der Unabhängigkeit der Justiz und der Bekämpfung
der Korruption vorangetrieben werden. Menschenrechtliche Probleme bestehen dabei vor allem noch immer bei
der Situation in Polizeigewahrsam und in Justizvollzugsanstalten.
Die Stärkung von demokratischen, rechtsstaatlichen
und marktwirtschaftlichen Strukturen ist eine Voraussetzung sowohl für eine weitere Integration in die EU als
auch für die politische, ökonomische und gesellschaftliche Zukunft von Moldova. Entscheidende Voraussetzungen dafür sind die Unterstützung durch die EU, wie sie
inzwischen im Rahmen des Instruments der EU-Nachbarschaftspolitik erfolgt, und eine aktive innenpolitische Reformpolitik der moldauischen Regierung unter Wahrung
außenpolitischer Stabilität.
Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass der Transformationsprozess in der Republik Moldova sich unter besonderen Herausforderungen vollzog und vollzieht. Die
territoriale Integrität und Stabilität wird seit mittlerweile
eineinhalb Jahrzehnten durch die Abspaltung des Landesteils Transnistrien beeinträchtigt. Zu diesem eingefrorenen Konflikt direkt an der Grenze der EU gehört
nach Angaben der OSZE die Lagerung von circa
20 000 Tonnen russischer Restmunitionsbestände auf ungefähr 100 Hektar Land. Auch vor diesem Hintergrund
ist eine konstruktive Rolle Russlands bei der Lösung des
Konflikts mit Umsetzung der 1999 auf dem OSZE-Gipfel
in Istanbul getroffenen Vereinbarungen von entscheidender Bedeutung.
Wir begrüßen das seit 2005 verstärkte Engagement
der EU in der Region. Ein erfolgreiches Beispiel ist
EUBAM: eine Hilfe zur Sicherung der moldauischen Außengrenze zur Ukraine. Nun müssen nach ziemlich genau
zweijähriger Aussetzung aber auch die Verhandlungen im
„Fünf-plus-Zwei-Format“ mit allen beteiligten Konfliktparteien über die informellen Gespräche hinaus unbedingt wieder aufgenommen werden. Die EU muss ihre
Initiativen zur Beilegung des Konflikts fortsetzen und zur
Vertrauensbildung auch innerhalb der ganzen Bevölkerung beitragen. Ziel muss eine Wiedererlangung der Einheit des Landes unter Rahmenbedingungen sein, die die
Souveränität und Sicherheit der Republik Moldova
ebenso wie den Fortgang des demokratischen und rechtsstaatlichen Reformprozesses ermöglichen.
Seit 2007 sind wir in der EU Haupthandelspartner der
Republik Moldova. Die in diesem Jahr erworbenen autonomen Handelspräferenzen sind ein guter Schritt nach
vorne für Moldova; denn sie sollen dazu beitragen, dass
die negative Handelsbilanz ausgeglichen wird. Die Republik Moldova; macht leichte Fortschritte in ihrem Streben
nach Etablierung eines guten Investitionsklimas, sodass
sich die direkten ausländischen Investitionen zwischen
2006 und 2007 bereits nahezu verdoppelt haben.
Dennoch hat die Republik Moldova mit weiteren wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Abhängigkeit
von ausländischer Energieversorgung, insbesondere von
Energielieferungen aus Russland, eine Agrarproduktion,
die durch die Dürre des Jahres 2007 massiv geschädigt
wurde, über ein Jahr anhaltende russische Importverbote
für moldauische Produkte, speziell Wein, haben zu dramatischen ökonomischen Auswirkungen geführt. Laut
Fortschrittsbericht der EU-Kommission lebt jeder Vierte
der Moldauer und Moldauerinnen unter der Armutsgrenze. Die massive Abwanderung hat dazu beigetragen,
dass dem moldauischen Arbeitsmarkt junge qualifizierte
sowie auch einfache Arbeiterinnen und Arbeiter fehlen.
Nach unterschiedlichen Datenerhebungen befinden sich
zwischen 300 000 und 800 000 Moldauerinnen und Moldauer zur oft illegalen Berufsausübung dauerhaft im Ausland. Ein Drittel des moldauischen Bruttoinlandsproduktes speist sich aus dem von Auslandsarbeiterinnen
und -arbeitern nach Hause geschickten Geld.
Diese Entwicklungen im ärmsten Land Europas an den
direkten Grenzen der EU liegen weder im Interesse der
Menschen im Land noch in unserem Interesse in der EU.
Deswegen fordern wir eine Stärkung der Zusammenarbeit sowohl im bilateralen wie auch im europäischen
Rahmen.
Wir müssen daran interessiert sein, im Laufe der Umsetzung der EU-Standards durch die Republik Moldova
auch ihre weitere Heranführung an die EU zu unterstützen. Ich freue mich, dass wir hier interfraktionell an unsere Tradition anknüpfen und unseren gemeinsamen Beschluss von 2004 mit diesem Antrag bekräftigen.
Wer stimmt für den Antrag der Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/9755? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist bei Stimmenthaltung der Linken so angenommen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 sowie Zusatzpunkt 11 auf:
27 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Birgit Homburger, Elke Hoff,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bekämpfung von Piraterie
- Drucksache 16/9609 ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Uschi Eid, Kerstin Müller ({0}), Marieluise
Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ursachen der Piraterie vor der somalischen
Küste bearbeiten - Politische Konfliktlösungsschritte für Somalia vorantreiben
- Drucksache 16/9761 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Vermutlich werden wir diese Zeit
nicht ganz benötigen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kollege Dr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Beim Thema Piraterie gibt es gegenwärtige zwei
schlimme Entwicklungen. Ich weiß noch nicht genau,
welche von beiden wirklich schlimmer ist.
Auf der einen Seite gibt es am Golf von Aden Piraterie in großem Umfang. Über 20 Schiffe sind allein schon
in diesem Jahr der Piraterie zum Opfer gefallen. In den
letzten Tagen war es eine deutsche Jacht bzw. ein deutsches Schiff. Deutsche Bürger werden überfallen, und
ihre Schiffe werden gekapert. Der internationale Seetransport ist erheblich geschädigt. Auf der anderen Seite
- das ist genauso schlimm - gibt es eine unglaubliche
Konfusion und Widersprüchlichkeit der Bundesregierung in diesem Fall. Die Bundesregierung ist hier nicht
handlungsfähig. Auch das ist angesichts der Bedeutung
dieses Themas für unser Land eine schlimme Entwicklung.
Zum Ersten. Der Deutsche Bundestag hat im
Jahr 1994 ein Seerechtsübereinkommen mitratifiziert.
Damit haben wir uns zur Bekämpfung der Piraterie verpflichtet. Das ist auch gemäß Art. 25 des Grundgesetzes
Teil des Bundesrechts, wie mir die Bundesregierung auf
meine Anfrage hin noch einmal bestätigt hat. Das sagt
das Auswärtige Amt, und das sage auch ich. Demnach
kann die deutsche Marine schon heute ohne jede Gesetzesänderung und ohne jede Verfassungsänderung gegen
Piraten vorgehen.
Wir haben heute in einem Antrag das zusammengestellt, was die Bundesregierung auf unsere Fragen hin
geantwortet hat. Wir haben kein Wort hinzugefügt, sondern die Bundesregierung wörtlich zitiert. Deshalb erwarten wir, dass Sie, die Träger der Bundesregierung,
die Koalitionsfraktionen, diesem Antrag willig und fröhlich zustimmen.
({0})
Der Verteidigungsminister tut nichts, weil er eine andere Agenda hat. Er will nämlich eine Grundgesetzänderung veranlassen, und er möchte über eine Grundgesetzänderung die in Deutschland so bewährte Trennung
von innerer und äußerer Sicherung aushebeln.
({1})
Die Krone setzt dem Ganzen dann noch der Parlamentarische Staatssekretär Kossendey auf,
({2})
der wörtlich zum Thema Nothilfe, die er verweigert,
sagt:
Aber sobald der Überfall abgeschlossen ist, die Piraten mit dem Schiff abziehen, die Besatzung gefangen gesetzt haben, ist eine Verfolgung durch
deutsche Marineeinheiten nicht mehr möglich …
Das ist bodenlos, unanständig und falsch. Das muss gegeißelt werden.
({3})
Nothilfe dauert eindeutig solange an, wie die Gefahr für
die Opfer nicht gebannt ist.
Das Verteidigungsministerium behauptet weiter, die
Bekämpfung von Soldaten sei eine Polizeiaufgabe und
von daher von der Bundeswehr nicht durchzuführen.
Das ist wieder falsch, Herr Minister. Die Bundeswehr
nimmt heute im Ausland schon mehrfach Polizeiaufgaben wahr, zum Beispiel im Kosovo beim Thema „Crowd
and Riot Control“. Das heißt, es werden Bundeswehrsoldaten ausdrücklich ausgebildet und ausgerüstet, um Polizeiaufgaben im Ausland wahrzunehmen.
Diese meine Meinung wird auch vom Auswärtigen
Amt gedeckt, wonach die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit durch den Einsatz gegen gewalttätige
Demonstranten grundsätzlich eine Polizeiaufgabe sei.
Ich zitiere wörtlich:
Daran ändert nichts, dass diese Aufgabe im Rahmen eines Auslandseinsatzes auch von der Bundeswehr wahrzunehmen sein kann.
({4})
Das ist eine öffentliche, eine amtliche Ohrfeige des Auswärtigen Amtes für den Herrn Bundesverteidigungsminister.
Das Innenministerium konnte mir hingegen auf meine
Frage vom 5. Juni, ob Polizeiaufgaben für die Bundeswehr im Ausland zulässig sind, bis zum heutigen Tag
- also nach Überschreiten der üblichen Frist für die Beantwortung von Fragen - keine Antwort geben.
Überall herrscht Konfusion. Damit komme ich zum
zweiten Punkt. Die Bundesregierung ist in der Frage
nicht handlungsfähig. Sie ist nicht einig, und sie ist - das
ist das Schlimme - offensichtlich nicht einigungsfähig.
({5})
Dabei ist der Kern des Konflikts offensichtlich. Die
CDU/CSU fordert vehement eine Änderung des
Art. 87 a des Grundgesetzes, obwohl dies überflüssig ist.
Die SPD ist strikt dagegen und vertritt dies auch laut. Insofern ist es für einen Außenstehenden völlig unerträglich, wenn der Verteidigungsminister als Mitglied der
Bundesregierung - die meines Wissens immer noch von
der SPD und der Union gestellt wird - nach wie vor sagt,
dass eine Verfassungsänderung notwendig ist, aber kurz
darauf prominente Mitglieder der SPD-Fraktion im Verteidigungsausschuss das unter allen Umständen ausschließen.
Dass sich die Koalition in keiner Frage mehr einig ist,
ist schon traurig genug.
({6})
Dass aber diese Uneinigkeit auf dem Rücken unserer
Soldaten und unschuldiger Betroffener ausgetragen
wird, halten wir für unanständig. Es gibt Soldaten, die
sich schämen - darüber reden sie, wenn man sie besucht;
wenn Sie dorthin fahren würden, Herr Weisskirchen,
dann würden Sie das wissen - , weil sie die Verfolgung
von offensichtlicher Piraterie anderen Ländern überlassen müssen.
Deshalb fordern wir Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass
die Marine das tut, was sie schon lange darf! Sorgen Sie
dafür, dass Deutschland seinen Verpflichtungen nachkommt! Sorgen Sie dafür, dass die Piraterie endlich bekämpft wird! Es bedarf nur eines Befehls des Bundesverteidigungsministers.
Vielen Dank und gute Nacht.
({7})
Ganz so schnell geht es nicht. Dass Sie, Kollege
Stinner, Ihren heutigen Geburtstag im Bundestag begehen
({0})
und mit einer Rede gegen Ende, wenn auch nicht ganz
zum Ende der Tagesordnung, krönen, haben wir alle mit
großem Respekt zur Kenntnis genommen. Es hat im Übrigen die umwerfende Wirkung, dass alle anderen gemeldeten Redner der anderen Fraktionen in besonderer
Würdigung dieses Ereignisses auf Gegenreden verzichtet haben
({1})
und deswegen ihre sorgfältig vorbereiteten Reden zu
Protokoll geben.1) Auch darin kommen die guten Wünsche des gesamten Hauses in einer, wie ich finde, eindrucksvollen Weise zum Ausdruck.
({2})
1) Anlage 8
Tagesordnungspunkt 27. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/9609 mit dem Titel „Bekämpfung von
Piraterie“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mehrheitlich abgelehnt.
Zusatzpunkt 11. Hierbei geht es um die Abstimmung
über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf der Drucksache 16/9761 mit dem Titel „Ursachen
der Piraterie vor der somalischen Küste bearbeiten Politische Konfliktlösungsschritte für Somalia vorantreiben“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? Wer enthält sich? - Auch dieser Antrag ist mehrheitlich
abgelehnt.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 12. November 2007 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Demokratischen Volksrepublik Algerien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der
Steuervermeidung und Steuerhinterziehung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen
- Drucksache 16/9561 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({3})
- Drucksache 16/9786 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({4})
Die Reden der Kollegen Manfred Kolbe, Lothar
Binding, Carl-Ludwig Thiele, Dr. Barbara Höll und
Dr. Gerhard Schick werden zu Protokoll genommen.
Wir debattieren und beschließen heute das am 12. November 2007 in Algier unterzeichnete und jetzt noch zu
ratifizierende Doppelbesteuerungsabkommen mit der
Demokratischen Volksrepublik Algerien. Der Begriff
Doppelbesteuerungsabkommen ist hierbei allerdings etwas irreführend, denn es geht in diesem Abkommen genau
genommen um das Gegenteil, nämlich die Vermeidung
der Doppelbesteuerung. Die Doppelbesteuerung ergibt
sich aus einer möglichen Steuerpflicht sowohl im Quellenstaat als auch im Ansässigkeitsstaat.
Ziel des Abkommens ist es, die internationale Wirtschaftstätigkeit und die grenzüberschreitenden Investitionen vor Doppelbesteuerungen zu schützen. Gerade für
die Bundesrepublik Deutschland haben sowohl der Export als auch die ausgedehnten Auslandsaktivitäten der
deutschen Unternehmen eine immense Bedeutung. Es
liegt daher insbesondere auch in unserem Interesse, bei
diesen Aktivitäten die wettbewerbsverzerrenden Einflüsse der internationalen Doppelbesteuerung zu vermeiden.
Auch nimmt, bedingt durch den weltweiten Wettbewerb, die Aggressivität der internationalen Steuerplanung zu. Ziele dieser Planungen sind die weitgehende
Gestaltbarkeit der Steuerbelastung und die Minimierung
der weltweiten Steuerlastquote.
Obwohl ein Doppelbesteuerungsabkommen zunächst
primär die Aufgabe der Vermeidung von Doppelbesteuerungen hat, gewinnt es auch immer mehr an Bedeutung
bei der Verhinderung von Missbrauch steuerlicher Regelungen. Zudem hilft es, Besteuerungslücken, die sich aus
den Unterschieden in den nationalen Rechtssystemen ergeben, zu schließen.
Bei den außenwirtschaftlichen Beziehungen unseres
Landes gewinnt neben vielen anderen Ländern der Welt
auch die Demokratische Volksrepublik Algerien mehr und
mehr an Bedeutung. Nach der weitgehenden Überwindung der innenpolitischen Krise Algeriens in den 90erJahren und der anschließend folgenden wirtschaftlichen
Erholung bergen diese Beziehungen nun ein bedeutendes
Potenzial. Algerien steht heute bei der Erdölproduktion
auf Platz elf und beim Erdgas auf Platz vier der wichtigsten Produzenten.
Bereits in den 70er- und 80er-Jahren wurde ein großer
Teil der Industrieanlagen Algeriens mit deutscher Hilfe
errichtet. Der Modernisierungsbedarf bei diesen Industrieanlagen und der Infrastruktur ist in Algerien hoch und
kommt zudem der deutschen Produktionspalette entgegen.
Heute sind bereits über 140 deutsche Unternehmen mit
Niederlassungen, Verbindungsbüros und Handelsvertretungen auf dem algerischen Markt aktiv. Die Ausfuhr von
Deutschland nach Algerien belief sich 2007 auf einen
Wert von rund 944 Millionen Euro, wobei sich diese im
Wesentlichen auf 25,5 Prozent Maschinen, 23,8 Prozent
Kfz und Kfz-Teile sowie 11,8 Prozent auf chemische Erzeugnisse verteilten. Die Einfuhr aus Algerien nach
Deutschland belief sich im gleichen Zeitraum sogar auf
einen Wert von 1 196 Millionen Euro. Hier machte rund
98,6 Prozent das Erdöl aus, und der Rest setzte sich im
Wesentlichen aus Chemikalien und anderen Rohstoffen
zusammen.
Das heute hier zu beschließende Abkommen wurde im
vergangenen Jahr anlässlich eines Besuches des Bundespräsidenten in Algerien unterzeichnet. Es entspricht weitgehend dem im Zeitraum der Verhandlungen gültigen
OECD-Musterabkommen und anderen in dieser Zeit von
Deutschland abgeschlossenen Abkommen. Der in Art. 26
des Abkommens geregelte umfassende Informationsaustausch zwischen den deutschen und algerischen Finanzverwaltungen entspricht sogar dem neuesten OECDStandard.
Durch dieses Abkommen zur Beseitigung der Doppelbesteuerung verzichtet die Bundesrepublik Deutschland
zwar in gewissem Umfang auf Steuern. Andererseits muss
Deutschland aber auch bisher gewährte Anrechnungen
algerischer Steuern nicht mehr oder nicht mehr in bisheriger Höhe gewähren, da Algerien auf Quellensteuern
verzichtet. Es kann derzeit davon ausgegangen werden,
dass sich die Regelungen des Abkommens per Saldo ausgleichen werden. Somit werden für unser Land keine nennenswerten Änderungen des Steueraufkommens von
Bund, Ländern und Gemeinden entstehen. Dagegen wird
die Wirtschaft durch das Abkommen entlastet.
Daher ist dieses Doppelbesteuerungsabkommen zu begrüßen. Es verbessert die Wettbewerbssituation deutscher Unternehmen in Algerien und benachteiligt auch
nicht das deutsche Steueraufkommen. Die CDU/CSU bedankt sich bei den Verhandlungsführern für das erzielte
gute Verhandlungsergebnis und stimmt dem Gesetzentwurf zu.
Heute behandeln wir ein weiteres Doppelbesteuerungsabkommen, und zwar das erste dieser Art mit der
Demokratischen Volksrepublik Algerien. Während wir
früher üblicherweise stets nur von DBA, Doppelbesteuerungsabkommen, gesprochen haben, wird heute explizit
in der Überschrift erwähnt, dass es sich nicht nur um ein
Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung,
sondern auch „zur Verhinderung der Steuervermeidung
und Steuerhinterziehung“ auf dem Gebiet der Steuern
vom Einkommen und Vermögen handelt. Das ist ein
wichtiger Schritt, der anzeigt, dass wir bei unseren zwischenstaatlichen Kontakten auf dem Gebiet des Steuerrechts und in bilateralen Abkommen auch die Vermeidung
von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung zum
Schutz des Steuersubstrats in Deutschland in den Blick
nehmen.
Das Abkommen selbst beruht in seinen wesentlichen
Teilen auf dem gültigen OECD-Musterabkommen, das
wir an dieser Stelle schon öfter besprochen haben. Danach werden Doppelbelastungen dadurch vermieden,
dass dem Quellenstaat beschränkte Besteuerungsrechte
zugewiesen werden, und der Wohnsitzstaat diese Quellensteuerrechte auf seine Steuer anrechnet oder die Einkünfte von seiner Besteuerung freistellt.
Um die Systematik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung an einem Beispiel deutlich zu machen, stellen wir
uns eine Muttergesellschaft in Deutschland vor, die an einer Tochtergesellschaft in Algerien über 10 Prozent der
Anteile hält. In diesem Fall wird der Gewinn der Tochter
zunächst in Algerien der dort üblichen Körperschaftsteuer
unterworfen. Auf die anschließend an die deutsche Mutter
ausgeschüttete Dividende kann Algerien eine 5-prozentige
Kapitalertragsteuer erheben. Deutschland vermeidet eine
Doppelbesteuerung dadurch, dass es diese Dividenden
freistellt.
Nach diesem Grundmuster werden auch zum Beispiel
die grenzüberschreitenden Unternehmensgewinne zwischen Deutschland und Algerien behandelt. Algerien darf
danach Gewinne eines deutschen Unternehmens nur besteuern, wenn das Unternehmen eine Betriebsstätte in Algerien hat und die Gewinne der Betriebstätte zuzurechnen sind.
In diesem Zusammenhang verdient ein weiterer Erfolg
erwähnt zu werden: Die Regierung konnte Schutzvorschriften bei den Unternehmensgewinnen vereinbaren,
Zu Protokoll gegebene Reden
Lothar Binding ({0})
die wir in dem Protokoll zu Art. 7 zum Abkommen entneh-
men. Ich zitiere:
a) Verkauft ein Unternehmen eines Vertragsstaats
durch eine Betriebsstätte im anderen Vertragsstaat
Güter oder Waren oder übt er durch eine Betriebs-
stätte dort eine Geschäftstätigkeit aus, so werden
die Gewinne dieser Betriebsstätte nicht auf der
Grundlage des vom Unternehmen hierfür erzielten
Gesamtbetrags, sondern nur auf der Grundlage des
Betrags ermittelt, der der tatsächlichen Verkaufs-
oder Geschäftstätigkeit der Betriebsstätte zuzurech-
nen ist;
b) Hat ein Unternehmen eine Betriebsstätte im anderen Vertragsstaat, so werden im Fall von Verträgen, insbesondere über Entwürfe, Lieferungen, Einbau oder Bau von gewerblichen, kaufmännischen
oder wissenschaftlichen Ausrüstungen oder Einrichtungen, oder von öffentlichen Aufträgen die Gewinne dieser Betriebsstätte nicht auf der Grundlage
des Gesamtvertragspreises, sondern nur auf der
Grundlage des Teils des Vertrags ermittelt, der tatsächlich von der Betriebsstätte in dem Vertragsstaat durchgeführt wird, in dem die Betriebsstätte
liegt. Gewinne aus der Lieferung von Waren an die
Betriebsstätte oder Gewinne im Zusammenhang mit
dem Teil des Vertrages, der in dem Vertragsstaat
durchgeführt wird, in dem der Sitz des Stammhauses des Unternehmens liegt, können nur in diesem
Staat besteuert werden.
Lassen Sie mich auch auf die Zinsbesteuerung eingehen: Nach dem OECD-Musterabkommen und nach Art. 11
Abs. 2 kann ein Quellenstaat Zinsen mit 10 Prozent Quellensteuer belasten. Allerdings wollten wir mit der Regel
im Art. 11 Abs. 3 Nr. a sicherstellen, dass die Exportmöglichkeiten deutscher Unternehmen verbessert werden. Ich
denke, dass die Bundesregierung mit dieser Vereinbarung
einen sehr guten Verhandlungserfolg errungen hat.
Schauen wir auf folgenden Beispielsfall, der sich auf
Konzerne mit Sitz in Deutschland bezieht: Wir nehmen
an, ein deutscher Elektrokonzern liefert ein Kraftwerk
beispielsweise für 100 Millionen Euro nach Algier in Algerien, die 100 Millionen Euro können aber vom algerischen Kunden nicht sofort bezahlt werden. In diesem Fall
wird der Konzern Ratenzahlungen zugestehen und die Refinanzierungskosten dem Kunden in Rechnung stellen.
Hier konnte vereinbart werden, dass Zinsen, die „im Zusammenhang mit dem Verkauf gewerblicher, kaufmännischer oder wissenschaftlicher Ausrüstung auf Kredit stehen, von der algerischen Steuer befreit sind.
Mit Blick auf die schon erwähnte Zielsetzung, Steuervermeidung und Steuerhinterziehung zu verhindern oder
ihr zu begegnen, möchte ich besonders den im Art. 26 geregelten Informationsaustausch erwähnen. Der dort geregelte Informationsaustausch verläuft nach dem neuesten OECD-Musterabkommen und geht damit weit über
bisherige Regelungen in diesem Zusammenhang hinaus.
Wir ermöglichen den Austausch von Informationen, die
zur Durchführung dieses Abkommens oder zur Verwaltung, auch zur Vollstreckung des innerstaatlichen Rechts
betreffend Steuern jeglicher Art notwendig sind. Ich hebe
die beiden neuen Ansätze 4 und 5 im betreffenden Artikel
über den Informationsaustausch hervor:
({1}) Ersucht ein Vertragsstaat gemäß diesem Artikel
um Informationen, so nutzt der andere Vertragsstaat die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Beschaffung der erbetenen Informationen,
selbst wenn dieser andere Staat diese Informationen für seine eigenen steuerlichen Zwecke nicht benötigt. Die im vorhergehenden Satz enthaltene Verpflichtung unterliegt den Beschränkungen gemäß
Absatz 3, sofern diese Beschränkungen einen Vertragsstaat nicht nur deshalb an der Erteilung von
Informationen hindern, weil er kein innerstaatliches steuerliches Interesse an diesen Informationen
hat.
({2}) Absatz 3 ist in keinem Fall so auszulegen, als
könne ein Vertragsstaat die Erteilung von Informationen nur deshalb ablehnen, weil sich die Informationen bei einer Bank, einem sonstigen Finanzinstitut,
einem Bevollmächtigten, Vertreter oder Treuhänder
befinden …“.
Sie sehen, ein sehr gelungenes Vertragswerk - dafür
hoffen wir auf Ihre konstruktive Mitarbeit und Unterstützung.
Last but not least bedanke ich mich auch im Namen
meiner Fraktion für das gute Verhandlungsergebnis
unserer Regierung, hierbei insbesondere bei Herrn
Dr. Lasars aus dem Bundesfinanzministerium.
Die FDP wird dem Abkommen der Bundesrepublik
Deutschland und der Demokratischen Volksrepublik
Algerien zur Vermeidung von Doppelbesteuerung und zur
Verhinderung der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und
vom Vermögen zustimmen.
Seitens der FDP wissen wir, dass in dem Abkommen
vom 12. November 2007 die Bundesregierung als Verhandlungsführer mit der Volksrepublik Algerien dieses
Doppelbesteuerungsabkommen erreicht hat.
Es ist zwar zutreffend, dass die Bundesrepublik
Deutschland durch das Abkommen in gewissem Umfang
auf Steuern verzichtet, die dem Bund, den Ländern oder
den Gemeinden zufließen. Andererseits muss Deutschland die gewährte Anrechnung algerischer Steuern nicht
mehr und nicht mehr in der bisherigen Höhe gewähren,
weil Algerien ebenfalls auf Quellensteuern verzichtet.
Seitens der FDP haben wir den Eindruck, dass sich die
Regelungen des Abkommens per Saldo ausgleichen und
somit keine nennenswerten Änderungen des Steueraufkommens von Bund, Ländern und Gemeinden entstehen.
Deutschland ist im Jahr 2007 auf der 59. Rangstelle bei
der Ausfuhr algerischer Exporte und auf der 56. Rangstelle bei den Einfuhren. Das bedeutet, dass Deutschland
Ausfuhren in Höhe von 944 Millionen Euro und Einfuhr
in Höhe von 1 196 Millionen Euro tätigte. Im Dienstleistungsbereich bestanden 260 Millionen Euro Einnahmen
und 133 Millionen Euro Ausgaben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Im Jahr 2005 wurden deutsche Direktinvestitionen von
124 Millionen Euro und im Jahr 2006 von 89 Millionen
Euro getätigt. Über 140 deutsche Unternehmen sind mit
Niederlassungen, Verbindungsbüros und Handelsvertretern auf dem Markt aktiv. Im Jahr 2004 wurden Rentenzahlungen an 29 deutsche Versicherte und 589 ausländische Versicherte geleistet.
Zudem gewinnt Algerien als Energielieferant für Europa immer mehr an Bedeutung. Weltweit steht Algerien
bei der Erdölproduktion auf Platz 11, beim Erdgas auf
Platz 4 der wichtigsten Produzenten.
Zudem muss beachtet werden, dass ein erheblicher
Modernisierungsbedarf bei Industrieanlagen und Infrastruktur besteht. Auch hier sind deutsche Firmen sehr interessiert, diese Arbeiten auszuführen.
Insofern begrüßen wir, dass mit diesem Abkommen die
Wirtschaft und die Steuerpflichtigen von Bürokratie und
Rechtunsicherheit entlastet werden, da steuerliche Hindernisse im bilateralen Wirtschaftsverkehr beseitigt werden.
Der Abschluss eines Doppelbesteuerungsabkommens
mit Algerien ist grundsätzlich zu begrüßen. Ein solches
Abkommen schafft Rechtssicherheit und fördert somit
Handel und Investitionen. Algerien hat dringenden Kapitalbedarf; denn das Land leidet nach wie vor an den Folgen des Bürgerkriegs von 1992 bis 2005. Seine Wirtschaftsstruktur ist sehr einseitig ausgeprägt: Der Erlös
aus dem Energieexport macht über 95 Prozent der Deviseneinnahmen, über 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, BIP, und rund 75 Prozent der Staatseinnahmen
aus. Die inoffizielle Arbeitslosenrate betrug 2006
28,4 Prozent. Besonders betroffen von Arbeitslosigkeit
waren Jugendliche. Algerien braucht daher ausländisches Kapital und Know-how, um sukzessive neue Sektoren und Branchen jenseits von Erdölindustrie und Landwirtschaft aufzubauen.
Aus der Perspektive internationaler Steuergerechtigkeit kann am vorliegenden Abkommen positiv hervorgehoben werden, dass Algerien ein Besteuerungsrecht gegenüber deutschen Unternehmen zugestanden wurde.
Demnach kann Algerien den Gewinn besteuern, der in
produktiv tätigen Betriebsstätten deutscher Unternehmen
in Algerien erzielt wurde. Auch wurde Algerien ein Besteuerungsrecht auf im Lande erwirtschaftete Dividenden
und Zinsen eingeräumt, die an in Deutschland ansässige
Personen oder Unternehmen gezahlt werden. Allerdings
wurden hier enge Besteuerungsgrenzen gesetzt: Maximal
15 Prozent Quellensteuer sind zugestanden worden.
Leider hat die Bundesregierung es auch bei diesem
Doppelbesteuerungsabkommen versäumt, konsequent
von der Freistellungsmethode auf die Anrechnungsmethode umzustellen. Die Fraktion Die Linke hatte bereits
im Mai des vergangenen Jahres die Forderung nach der
Umstellung auf das Anrechnungsverfahren im Rahmen
des Antrags „Unternehmen leistungsgerecht besteuern Einnahmen der öffentlichen Hand stärken“, Drucksache
16/5249, erhoben. Wie gehabt, wird auch in diesem Abkommen die Doppelbesteuerung auf deutscher Seite
durch Freistellung der wichtigsten Einkünfte vermieden.
Nur bei Zinsen, Lizenzgebühren, Dividenden aus Streubesitz sowie einigen anderen eher unbedeutenden Einkunftsarten findet die Anrechnung der ausländischen
Steuer auf die deutsche Steuer statt. Damit verzichtet der
hiesige Fiskus zu großen Teilen bei in Algerien erzielten
Einkünften von in Deutschland Ansässigen auf eine
adäquate Erfassung der steuerlichen Bemessungsgrundlage. Der Progressionsvorbehalt, also die Berücksichtigung der ausländischen Einkünfte bei der Bestimmung
des Steuersatzes, kann diese faktischen Steuerbefreiungen
nicht kompensieren: Würden ausländische wie inländische Einkünfte gleich behandelt, ergäbe sich derselbe
durchschnittliche Steuersatz auf ein durch die Auslandseinkünfte erhöhtes zu versteuerndes Einkommen.
Nur die konsequente Anwendung der Anrechnungsmethode könnte garantieren, dass Einkünfte von Inländerinnen und Inländern steuerlich gleich behandelt werden,
unabhängig vom Ort der Entstehung dieser Einkünfte.
Die Umstellung in der Ausgestaltung der Doppelbesteuerungsabkommen auf die Anrechnungsmethode böte eine
Chance auf mehr Steuergerechtigkeit.
Die im vorliegenden Abkommen getroffenen Vereinbarungen zu Informationsaustausch und Amtshilfe gegen
Steuervermeidung und Steuerhinterziehung sind von
neuer Qualität und daher zu begrüßen. Allerdings kann
sich deren Tauglichkeit erst im Praxistest unter Beweis
stellen. Befremdlich mutet es an, dass diese Regelungen
gegen Steuervermeidung und -hinterziehung ausgerechnet bei einem Land zur Anwendung kommen, das nun
wahrlich nicht als Steueroase bekannt ist. Es bleibt abzuwarten, ob mit diesem Abkommen ein neuer Standard
gesetzt wurde oder ob es ein Feigenblatt für die sonst gegenüber Steueroasen laxe Handhabung bleibt. Als Negativbeispiel sei hier auf die Verlängerung des Doppelbesteuerungsabkommens mit den Vereinigten Arabischen
Emiraten, VAE, vom letzten Jahr verwiesen.
Als grundsätzliche Kritik bleibt, dass Deutschland als
Teil der EU Freizügigkeit nur bei Kapital- und Warenverkehr kennt, nicht aber für die Menschen aus Nicht-EUStaaten. So bekommen Jugendliche aus Algerien keine
Ausreisevisa in EU-Länder mehr. Das stößt in den betroffenen Ländern auf Kritik und Unverständnis: Beim
Staatsbesuch von Bundespräsident Köhler im letzten November hatten algerische Intellektuelle eine EU-Politik
der Abschottung kritisiert.
Wir behandeln heute abschließend das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Deutschland und Algerien. Der Abkommenstext folgt in weiten Teilen dem
OECD-Musterabkommen. Insoweit begrüßen wir dieses
Abkommen. Denn wenn sich die Bundesregierung nicht
an diese multilaterale Vereinbarung hält und abweichende Regelungen trifft, führt dies häufig zu einer
geringeren Besteuerung, als sie das Musterabkommen erlauben würde. Ich möchte hier nur an das Doppelbesteuerungsabkommen mit den Vereinigten Arabischen
Emiraten erinnern, nach dem dort erzielte Einkünfte in
beiden Staaten steuerfrei bleiben können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch in dem nun vorliegenden Abkommen verzichtet
Deutschland auf einen Teil seines Besteuerungsrechts,
das das OECD-Musterabkommen vorsehen würde. Laut
Musterabkommen gilt eine 5-prozentige Dividendenbesteuerung nur dann, wenn eine mindestens 25-prozentige
Beteiligung vorliegt. Ist die Beteiligung kleiner als
25 Prozent, können 15 Prozent Dividendenbesteuerung
anfallen. Die Bundesregierung will die Schwelle in ihrem
Gesetzesentwurf auf 10 Prozent senken. Ergebnis: Für
eine in Deutschland ansässige Gesellschaft oder Person
mit Dividendeneinkünften aus Algerien genügt bereits
eine 10-prozentige Beteiligung statt einer mindestens
25-prozentigen, um in den Genuss der niedrigeren Besteuerung zu kommen.
Im Ausschuss hat die Bundesregierung dargestellt,
dass das mittlerweile ein üblicher Wert sei. Aber nur weil
etwas üblich ist, ist es noch nicht richtig. Mir ist nicht
klar, warum die Bundesrepublik auf diese Besteuerungsmöglichkeiten verzichten sollte. Meines Erachtens verschärft Deutschland mit dieser Vorgehensweise nur den
internationalen Steuerwettbewerb.
Doppelbesteuerungsabkommen sind eine Möglichkeit
für Deutschland, sich seine Steuereinnahmen im internationalen Steuerwettbewerb zu sichern. Das kann aber effektiv nur gelingen, wenn in den Abkommen die Anrechnungsmethode angewendet wird. Jeder Steuerpflichtige
mit Wohnsitz im Inland ist dann mit seinem gesamten
Welteinkommen inklusive Schenkungen und Erbschaften
nach deutschen Maßstäben voll steuerpflichtig. Auf diese
Weise würde sich die Verlagerung von Einkommen und
Vermögen ins Ausland allein aus steuerlichen Gründen
deutlich weniger lohnen.
Im vorliegenden Abkommen hat die Bundesregierung
erneut darauf verzichtet, die Anrechnungsmethode von
Vornherein festzuschreiben. Sie hat sich lediglich eine
Umschwenkklausel gesichert, die ohne Abkommensänderung einen Methodenwechsel erlaubt. Zunächst aber hält
die Bundesregierung an der Freistellungsmethode fest.
Das können wir nicht unterstützen.
Eine positive Neuheit in diesem Abkommen sind hingegen die gegenseitigen Informationspflichten. Sie gehen
über den im OECD-Musterabkommen vorgesehenen
Rahmen hinaus und greifen damit jüngere OECD-Vorschläge auf. Sie erfassen auch Steuertatbestände, die es
im anderen Staat nicht gibt. Das begrüßen wir. Hier gibt
es eine sinnvolle Erweiterung des Musterabkommens, die
neue Chancen der internationalen Zusammenarbeit ermöglichen.
In einer Welt, in der Kapital praktisch ungehindert zirkulieren kann, müssen sich die Staaten gegenseitig Besteuerungsmöglichkeiten zusichern. Der Informationsaustausch ist ein wichtiger Schritt in die richtige
Richtung, ebenso die Klausel, dass die Vertragsstaaten
Informationsansuchen nicht ablehnen können, nur weil
diese Informationen bei einer Bank oder einer anderen
Finanzinstitution liegen.
Dieser Vorteil wiegt den Nachteil, auf die im OECDAbkommen vorgesehene Besteuerung von Dividenden zu
verzichten, und die Freistellungsmethode einmal mehr zu
vereinbaren, nicht auf. Meine Fraktion stimmt diesem Abkommenstext deshalb nicht zu, sondern enthält sich.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9786, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/9561 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu
erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich der
Stimme enthalten? - Damit ist der Gesetzentwurf mit
breiter Mehrheit bei einigen Enthaltungen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Wolfgang Nešković, Monika Knoche,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Keine Abschiebungen in das Kosovo
- Drucksache 16/9143 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden der Kollegen Helmut Brandt, Rüdiger Veit,
Hartfrid Wolff, Ulla Jelpke und Josef Philip Winkler
werden zu Protokoll genommen.
Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Entschließungsantrag die Bundesregierung auf, grundsätzlich
keine Flüchtlinge, die aus dem Kosovo stammen und in
Deutschland leben, abzuschieben. Der Antrag ist insgesamt zurückzuweisen. Ich werde die einzelnen Gründe
hierfür noch darlegen. Zunächst jedoch erlauben Sie mir
einige grundsätzliche Bemerkungen.
Die Fraktion Die Linke versucht mit ihrem Antrag unterschwellig, das Kosovo nach der Unabhängigkeitserklärung mit Vorfällen aus der Vergangenheit in Misskredit zu bringen. So ist nicht nachvollziehbar, was der
Vorfall vom März 2004, auf den in der Begründung der
Anträge hingewiesen wird, mit der jetzigen Situation
nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo zu tun
hat.
In der weiteren Begründung sind dann Unterstellungen zu finden, die jeglichen Bezug zur Realität entbehren.
So wird mit dem Antrag der Versuch unternommen, der
Bundesrepublik Deutschland zu unterstellen, dass die
einseitig erklärte Unabhängigkeit von ihr für verstärkte
Abschiebebemühungen genutzt würden. Anhaltspunkte
hierfür bestehen nicht, sodass diese Behauptung ins
Blaue hinein lediglich ein bezeichnendes Bild auf die
Haltung der Fraktion Die Linke zur Unabhängigkeit des
Kosovo wirft.
Nun zu den einzelnen Forderungen: Die Linke möchte,
dass der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordert, sich gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung der Abschiebungen von Flüchtlingen aus dem
Kosovo gemäß § 60 a Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes einzusetzen. Weder aus dem Antrag der Fraktion Die Linke
noch aus den aktuellen Lageberichten ergibt sich aber ein
hinreichender Anlass dafür, einen solchen generellen Abschiebestopp für das Kosovo zu empfehlen oder zu fordern. Der aktuelle Asyl-Lagebericht des Auswärtigen
Amtes vom 29. November 2007 besagt vielmehr, dass sich
im Kosovo unter der UNMIK-Verwaltung demokratische
Strukturen entwickeln und sich die Sicherheitslage nach
den Unruhen im März 2004 weitgehend beruhigt hat. Sicher ist, dass man die Sicherheitslage noch nicht als stabil ansehen kann. Allerdings gibt es nach den vorliegenden Auskünften auch keinerlei Repressionen von
staatlicher Seite, und zwar bereits seit dem Jahr 1999
nicht mehr.
Weiterhin wird berichtet, dass auch Repressionen
Dritter gegenüber ethnischen Minderheiten seit den Vorfällen im Jahr 2004 ständig abgenommen hätten. Fakt ist
im Übrigen, dass UNMIK in jedem Einzelfall prüft, ob
eine Person aus dem Kosovo stammt und überhaupt rückführbar ist. Für die Angehörigen der Gruppe der Roma
wird noch immer ein besonderes Schutzbedürfnis gesehen
und wird auch das UNHCR-Positionspapier vom Juni
2006 bis heute beachtet. Daher sind Personen, mit Ausnahme besonders schwerer Straftäter, faktisch nicht rückführbar, da UNMIK hierzu seine Zustimmung verweigert.
Es besteht daher keinerlei Anlass anzunehmen, dass die
Bundesrepublik Deutschland oder UNMIK ihrer Verpflichtung zur sorgfältigen Prüfung im Einzelfall von Abschiebungen nicht nachkommen würden.
Darüber hinaus erscheint es in jedem Falle sinnvoll,
abzuwarten, wie sich die Situation darstellt, wenn der
Übergang der Kompetenzen von UNMIK auf die kosovarischen Behörden erfolgt ist. Dies ist derzeit aber noch
nicht der Fall. Die Zahlen der tatsächlich zurückgeführten Kosovaren sprechen im Übrigen auch gegen den Antrag der Fraktion Die Linke. Im Jahr 2007 wurden lediglich 781 Kosovaren zurückgeführt, und im Jahr 2008 bis
zum 30. April 2008 waren es 209 Personen.
Schließlich ist zu diesem ersten Antragspunkt der
Fraktion Die Linke noch zu sagen, dass der Präsident des
Kosovo, Herr Sejdiu, in einem Schreiben an den Bundespräsidenten vom 17. Februar 2008 für das Kosovo eine
wirksame Selbstverpflichtung auf die Einhaltung menschenrechtlicher Standards abgegeben hat. Insofern ist
der Antrag zu Ziffer 1 der Fraktion Die Linke abzulehnen.
Mit dem Antrag zu Ziffer 2 fordert die Fraktion Die
Linke die Bundesregierung auf, den Bundesminister des
Inneren zu beauftragen, sein Einverständnis gegenüber
den Bundesländern für eine Aufenthaltsgewährung aus
humanitären Gründen nach § 23 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes für Mitglieder nationaler Minderheiten und andere schutzbedürftigen Personen aus dem Kosovo zu erklären und sich für eine entsprechende Regelung
einzusetzen. Hierzu besteht keinerlei Veranlassung. Es
sind überhaupt keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, die
für eine Besserstellung der kosovarischen Flüchtlinge gegenüber anderen in Deutschland sich aufhaltenden
Flüchtlingen sprechen. Auch insoweit ist der Antrag mangels jeglicher Begründung zurückzuweisen.
Kommen wir schließlich zum dritten Antrag, nämlich
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge anzuweisen, gewährte Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennungen von
Flüchtlingen aus dem Kosovo nicht zu widerrufen und
laufende Widerrufsverfahren einzustellen.
Hier wird zunächst eine merkwürdige Einstellung der
Fraktion Die Linke zum rechtsstaatlichen Handeln deutlich. Ob Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennung von Personen kosovarischer Herkunft widerrufen werden, liegt
nicht im Ermessen des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge. Es handelt sich vielmehr um eine sogenannte
gebundene Entscheidung. Nach der einschlägigen Vorschrift des § 73 Asylverfahrensgesetz sind die Anerkennung als Asylberechtigte und die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft dann unverzüglich zu widerrufen,
wenn die Voraussetzungen hierfür nicht mehr vorliegen.
Eine wie von der Fraktion Die Linke geforderte generelle
Weisung an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, solche Widerrufsverfahren nicht mehr durchzuführen, würde die gesetzlich vorgeschriebene Einzelfallprüfung unterminieren. Hierzu besteht kein Anlass.
Zur Klarstellung möchte ich allerdings darauf hinweisen, dass selbst bei einem erfolgten Widerruf dies nicht
bedeutet, dass mit einem solchen Widerruf der Verlust eines bestehenden Aufenthaltstitels für den Betroffenen einhergeht. Diese Entscheidung obliegt vielmehr der zuständigen Ausländerbehörde und nicht dem Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge.
Zusammenfassend möchte ich daher sagen, dass die
derzeitige Lage im Kosovo keinerlei Raum gibt für die
Empfehlung eines Abschiebungsstopps. Eine Rückführung des von der Fraktion Die Linke angesprochenen
Personenkreises findet derzeit wegen mangelnder Zustimmung von UNMIK bis auf besonders schwere Straftäter nicht statt.
Anhaltspunkte dafür, dass die Selbstverpflichtung des
kosovarischen Präsidenten Sejdiu auf die Einhaltung
menschenrechtlicher Standards nicht eingehalten wird,
bestehen nicht. Vielmehr ist abzuwarten, wie sich die Situation entwickelt, wenn die kosovarischen Behörden die
Aufgaben von UNMIK im vollen Umfang übernommen
haben.
Schließlich ist dem Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge das volle Vertrauen auszusprechen, die Einzelfallprüfungen zum Widerruf von Anerkenntnissen
gründlich und gewissenhaft durchzuführen. Irgendwelche
Anhaltspunkte dafür, dass die Prüfungen nicht der Gesetzeslage entsprechend geschehen, bestehen nicht. Sämtliche Forderungen der Fraktion Die Linke sind daher zurückzuweisen.
Der Antrag, den wir heute beraten, verfolgt folgendes
Anliegen: Wir sollen die Bundesregierung auffordern,
sich gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung
der Abschiebungen von Flüchtlingen aus dem Kosovo gemäß § 60 a Abs. 1 AufenthG einzusetzen.
In der Sorge um Minderheiten teile ich das Anliegen
des Antrages. Ich teile indes nicht die Auffassung, dass
Zu Protokoll gegebene Reden
ein genereller Abschiebestopp das richtige Mittel ist, um
auf die gegenwärtige Situation im Kosovo zu reagieren.
Die Lage einzelner Minderheiten ist nach wie vor unsicher. Das gilt vor allem für Roma, Ashkali und Ägypter.
Als das Kosovo im Februar dieses Jahres die Unabhängigkeit ausrief, habe ich mit großer Sorge beobachtet, wie
sich die Situation entwickeln würde. Zu diesem Zeitpunkt
konnte niemand gewalttätige Übergriffe ausschließen.
Und auch nach der Unabhängigkeitserklärung bleibt die
Gesamtsituation unsicher.
Allerdings hatten die Repressionen bereits zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung kontinuierlich abgenommen. Auch hat sich meine Befürchtung, es könne
im Abschluss hieran zu Unruhen kommen, glücklicherweise nicht bewahrheitet. Menschenrechtsorganisationen
haben über keine Zunahme gewalttätiger Übergriffe berichtet. Eine Eskalation der Art, dass ein genereller Abschiebestopp erforderlich scheint, kann ich daher nicht
feststellen. Solange sich die Sicherheitslage aber nicht
verschlechtert, ist die sorgfältige Einzelfallprüfung deshalb ein ausreichendes Mittel, um Schutz für die zu gewähren, denen Gefahr drohen kann.
Das ändert jedoch nichts daran, dass wir die Lage
nach wie vor kritisch beobachten müssen. Ich versichere
Ihnen, dass Bundesregierung und SPD dies tun. Wir haben uns bereits im November mit den Verantwortlichen
des Bundesministeriums des Innern über diese Frage
ausgetauscht und werden dies weiter tun.
Der Antrag ist daher abzulehnen.
Die Linke unternimmt einen neuen Anlauf, das deutsche Ausländerrecht auszuhebeln. Diesmal soll das Kosovo als Notstandsgebiet dargestellt werden, in das
Deutschland niemanden abschieben dürfe. Angesichts
der bisherigen Anträge der Linken zum Thema Ausländerrecht ist ohnehin klar, dass die ganze Welt ein Notstandsgebiet ist, und die Not nur auf deutschem Boden zu
heilen ist: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen auf sozialistisch.
Die Unabhängigkeit des Kosovo ist noch kein halbes
Jahr alt. Die Linke, so können wir auf ihrer Netzseite lesen, hält die Unabhängigkeit des Kosovo für „völkerrechtswidrig“; denn - so heißt es dort - letztendlich ist
die Unabhängigkeit des Kosovo das Ergebnis des Krieges
der NATO gegen das damalige Jugoslawien und basiert
dementsprechend auf einer gewaltsam herbeigeführten
Grenzveränderung. Damit sind die jetzigen Entwicklungen eine direkte - zeitlich verzögerte - Folge des Krieges.
Dass an einem solchen, gegen den strammen Sozialismus eines Milošević und seiner Epigonen gegründeten
Staat kein gutes Haar gelassen werden kann, ist in der
Linken-Logik klar. Deshalb muss natürlich aus Sicht der
Linken sofort ein Abschiebestopp her für Menschen, die
zwar kein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben, aber
vor „diesem“ Kosovo unbedingt zu schützen sind.
Natürlich gibt es Probleme bei der inneren Ordnung
des neugegründeten Staates. Aber die Linke will diese
Probleme nicht lösen. Sie vergießt Krokodilstränen in ihrem Antrag, wenn sie moniert, dass die KFOR-Truppen
gegen Ausschreitungen gegen Minderheiten nicht vorgegangen seien. Gleichzeitig hat sie sich selbst lauthals gegen den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo ausgesprochen. Das ist ein Widerspruch in sich, der nicht auflösbar
ist.
Mir scheint, die Linke will das Kosovo in möglichst
schlechtem Licht erscheinen lassen, sein staatliches Existenzrecht und seine Legitimität in Abrede stellen, keinen
wirksamen Beitrag zur Problemlösung vor Ort leisten,
schon gar nicht militärisch, das so systematisch unterstützte Chaos zur Forderung nutzen, dieses nun möglichst
umfassend noch zu einem innenpolitischen Problem der
Bundesrepublik zu machen. Das ist keine Politik, das ist
Propaganda unter dem Deckmantel der Humanität. Es ist
unerträglich, dass die Linke auch den Holocaust heranzieht, um ihre Chaosförderungspolitik zu begründen.
Ein genereller Abschiebestopp, wie ihn die Linken fordern, ist sachlich nicht angemessen. Gerade vor dem Hintergrund der Verantwortung für andere Fälle muss die
Notwendigkeit eines Abschiebestopps genau geprüft werden. Ein genereller Abschiebestopp ist ein politisches Instrument im Falle einer akuten Entwicklung, die rasches
Handeln erfordert. Dieses Instrument darf nicht inflationär verwendet werden. Eine individuelle Prüfung, ob ein
Asylgrund vorliegt, bleibt ja nach wie vor nicht ausgeschlossen. Eine darüber hinausgehende kollektive Ausnahme von den ausländerrechtlichen Bestimmungen
scheint kaum angemessen.
Die Konflikte im Kosovo haben unzweifelhaft eine
lange Entwicklung. Die Probleme beim Zusammenleben
verschiedener Ethnien und verfeindeter Gruppen können
nicht auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland gelöst werden. Stattdessen müssen wir helfen, dass diese
Konflikte im Kosovo beigelegt werden können. Wir tun
das durch EULEX, der Rechtsstaatsmission der EU. Sie
hilft, rechtsstaatliche Strukturen im Kosovo aufzubauen
und nachhaltig zu entwickeln. Wir tun das, indem wir dem
Bundeswehreinsatz im Kosovo zugestimmt haben, der
hilft, diese Entwicklung militärisch abzusichern.
Es ist gerade die Linke, die das ständig und systematisch zu torpedieren versucht. Ihr Antrag ist durchsichtig:
Ihre Ideologie ist der Linken wichtiger als das langfristige Wohl der Menschen. Der Antrag der Linken ist in seiner mehrfachen Zielsetzung - der Destabilisierung des
unabhängigen Kosovo, der Diffamierung der westlichen
Anerkennung desselben und auch bei der Infragestellung
wesentlicher Merkmale des bestehenden deutschen Ausländerrechts - allzu durchsichtig. Die FDP lehnt ihn ab.
Mit dem vorliegenden Antrag verlangt die Fraktion
Die Linke, keine Abschiebungen in den Kosovo vorzunehmen und keine Widerrufsverfahren gegen anerkannte
Flüchtlinge durchzuführen. Der Versuch, nun massenhaft
Menschen aus dem Kosovo zur Rückkehr zu zwingen, ist
unverantwortlich. Schon mehrfach hat meine Fraktion
hier klargestellt, dass die Sezession des Kosovo ein völkerrechtswidriger Akt ist. Es wird Sie nicht überraschen,
Zu Protokoll gegebene Reden
zu hören, dass das auch die Republik Serbien so sieht.
Daher bestehen im mehrheitlich von Serben bewohnten
Norden des Kosovo Doppelstrukturen bei der Polizei, im
Bildungswesen und in anderen Bereichen fort. Zu welchen Spannungen das in den kommenden Jahren noch
führen wird, ist jetzt noch gar nicht absehbar. In dieses
Pulverfass Menschen abzuschieben, die mittlerweile seit
Jahren hier leben, ist unverantwortlich.
Ich will aber auch begründen, warum gerade Deutschland von diesen Abschiebungen absehen sollte. Entscheidungen in Deutschland über die Abschiebung von
Minderheitenangehörigen in den Kosovo haben Leitbildfunktion auch für andere Staaten. Von den geschätzten
100 000 Menschen aus dem Kosovo, die außerhalb ihres
Landes leben, befinden sich zirka 53 000 in Deutschland.
Davon sind nach Schätzungen des UNHCR vom Januar
2007 24 000 Roma, 8 200 Ashkali und 1 800 KosovoÄgypter. Dazu kommen noch Serben und Kosovo-Albaner, die in ihren Herkunftsorten die Minderheit bilden.
Diese Menschen leben fast alle im Status der Duldung, da
keine Bundesregierung ihnen einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland ermöglichen wollte. Fast ein Drittel
- 896 - aller in den Kosovo Abgeschobenen - 3 125 insgesamt - kamen 2007 aus Deutschland.
Nach einer Abschiebung in den Kosovo droht den Betroffenen nun auch noch, staatenlos zu werden. Der
UNHCR stellt in seinem Arbeitsprogramm für 2008/2009
fest, dass Staatenlosigkeit besonders Roma, Ashkali und
Kosovo-Ägypter droht, weil sie aufgrund ihrer sozialen
Ausgrenzung schon in früheren Jahren Schwierigkeiten
hatten, sich registrieren zu lassen. Nach Schätzungen des
UNHCR von Mitte 2006 sind 20 Prozent der Minderheitenangehörigen nicht registriert, und das über Generationen hinweg. Sie sind bereits heute vom Zugang zu
sozialer Sicherung, Gesundheitsversorgung und Schulbildung ausgeschlossen. Ihnen droht bei Abschiebung die
Obdachlosigkeit und weitere Marginalisierung.
Die soziale Situation im Kosovo ist insgesamt weiterhin schlecht, für die Minderheiten katastrophal. Der UNOmbudsmann für den Kosovo berichtet für 2007, dass
Minderheiten keinen Zugang zum regulären kosovarischen Arbeitsmarkt haben. 70 Prozent der Serben sind
arbeitslos, in den Siedlungen von Rückkehrern liegt die
Arbeitslosigkeit teilweise bei 100 Prozent. Noch mehr
Rückkehrer werden die Situation noch weiter verschärfen.
Doch den Abgeschobenen wie den freiwilligen Rückkehrern droht nicht nur der Ausschluss von wesentlichen
politischen und sozialen Rechten. Dazu kommt noch der
manifeste ethnische Hass der Mehrheitsbevölkerung.
Selbst bei Vorzeigeprojekten von Wiederansiedlung können die Rückkehrer nicht in ihren Dörfern einkaufen - sie
werden in andere Dörfer gefahren. Dabei werden die
Transportbusse regelmäßig mit Steinen beworfen. Weiterhin gibt es vereinzelt auch bewaffnete Angriffe auf Minderheitenangehörige.
Ich will am Schluss noch auf eine mögliche Konsequenz hinweisen, die Abschiebungen in den Kosovo haben können. Der UN-Ombudsmann für das Kosovo
schreibt in seinem siebten Jahresbericht: „In vielen Fällen werden [die Abgeschobenen] mit allen notwendigen
Mitteln versuchen, in ihre ehemaligen Aufnahmestaaten
zurückzukehren.“ Mit anderen Worten: Wer Flüchtlinge
in den Kosovo abschiebt, treibt sie in die Arme von Menschenhändlern und Schleppern und erzeugt damit neues
Elend und neue Unsicherheit.
Die Stabilisierung der kosovarischen Institutionen
muss aus meiner Sicht so kurz nach der Unabhängigkeit
das wichtigste Ziel sein. Die Stabilisierung der kosovarischen Institutionen benötigt Zeit und die notwendige,
aber weiterhin durch Russland und Serbien behinderte
Hilfestellung durch EULEX. Da trägt die Abschiebung
Tausender Angehöriger ethnischer Minderheiten aus
Deutschland nicht zur Entspannung bei und schafft ein
großes Risiko der Destabilisierung.
Es gibt nach wie vor im Kosovo keine Aufnahme- und
Integrationskapazität für Minderheiten, Kranke oder
Rückkehrer, die mittellos sind. Es gibt für Abgeschobene
keinerlei Unterstützung im Kosovo, weder von kosovarischen noch von internationalen Institutionen. Abgeschobene Flüchtlinge sind völlig auf sich selbst gestellt bzw.
auf Unterstützung aus dem Familienverbund angewiesen.
Roma und andere ethnische Minderheiten haben häufig
keine Unterkunftsmöglichkeit und finden keine Arbeit etc.
Es gibt keine nachhaltige Verbesserung der medizinischen Versorgungslage gerade im Bereich der Traumabehandlung, worauf auch zahlreiche Experten und die zuständigen Behörden immer wieder hinweisen. Daher
finde ich das Grundanliegen des vorliegenden Antrags im
Prinzip richtig.
Die Forderungen der Fraktion Die Linke im Einzelnen:
Die Forderung nach einem generellen Abschiebungsstopp für Flüchtlinge aus dem Kosovo, die keinen Aufenthaltstitel haben, also auch für alle ethnischen Albaner, ist
mir zu weitgehend.
Die zweite Forderung nach der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für ethnische Minderheiten teile ich ausdrücklich. Ähnliches hatte die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen schon mehrfach gefordert. Es geht insbesondere
um Roma, Serben und Albaner aus Gebieten im Kosovo,
in denen sie eine Minderheit darstellen, zum Beispiel in
der Stadt Nord-Mitrovica.
Auch die Beendigung bzw. Einstellung von Widerrufsverfahren gegenüber Flüchtlingen aus dem Kosovo teilen
wir prinzipiell. In der Sache sind die Widerrufsverfahren
für Kosovaren allerdings schon weitgehend abgeschlossen.
In der Begründung des Antrags wird meines Erachtens
der Schwerpunkt zu sehr auf die instabile Sicherheitslage
gelegt. Es geht doch im Kosovo zurzeit primär vielmehr
um fehlende wirtschaftliche Möglichkeiten und soziale
Unterstützung und damit um eine mangelhafte Lebensperspektive für Angehörige von Minderheiten. Schließlich: Den Hinweis auf die geschichtliche Verantwortung
Zu Protokoll gegebene Reden
gegenüber Roma und Sinti finde ich in diesem Zusammenhang unpassend.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit daran erinnern,
dass die Bundesregierung den Vorschlag des Sondergesandten des UN-Generalsekretärs für den zukünftigen
Kosovo, Martti Ahtisaari, unterstützt hat. Herr Ahtisaari
hat unmissverständlich deutlich gemacht, dass eine Rückkehr ins Kosovo nur freiwillig erfolgen sollte. Im Annex
zu seinem Bericht an den UN-Sicherheitsrat vom
26. März 2007 wird dies klar. Es ist sehr bedauerlich,
dass sich die Bundesländer der Umsetzung dieser Empfehlung nicht verpflichtet fühlen.
Mein Fazit: Das Grundanliegen des Antrags ist zu unterstützen, die Begründung ist abzulehnen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 16/9143 an die ausgewiesenen Ausschüsse vorgeschlagen. - Hierzu stelle ich Einvernehmen fest.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Britta Haßelmann, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Aktives Wahlalter bei Bundestagswahlen auf
16 Jahre absenken
- Drucksache 16/6647 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Hier werden die Reden von Stephan Mayer, Jürgen
Kucharczyk, Gisela Piltz, Petra Pau und Kai Gehring zu
Protokoll genommen.
Die Diskussion über die „richtige“ Altersgrenze für
das aktive Wahlrecht bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag ist keineswegs neu. Der Deutsche Bundestag hat
sich damit beispielsweise in der 14. Wahlperiode auseinandergesetzt, als die damalige PDS eine Absenkung
auf 16 Jahre gefordert hat. Damals wurde das Petitum
abgelehnt. Heute wärmen die Grünen diese Thematik
wieder auf. Die Argumente, die sie anführen, sind allesamt gut bekannt. Ich halte sie nach wie vor für nicht
durchschlagend.
Die Grünen sagen, es würde ihnen um die Erweiterung
der demokratischen Teilhabe der Jugendlichen gehen.
Dies greift die altbekannte Kritik auf, wonach die 16- und
17-Jährigen im geltenden Bundeswahlrecht von demokratischen Teilhaberechten ausgeschlossen wären. Dies
ist eine sehr vordergründige Argumentation, die nicht
trägt. Richtig ist, dass das aktive und passive Wahlrecht
ganz zentrale und entscheidende Elemente der Demokratie sind. Das ist völlig selbstverständlich und wird von
niemandem bestritten. Aber genauso anerkannt und unbestritten ist auch, dass es bestimmte zwingende Gründe
dafür geben kann, das Wahlrecht für bestimmte Personengruppen auszuschließen. Das ist vom Bundesverfassungsgericht anerkannt. Wohlgemerkt, es müssen zwingende Gründe sein.
Der entscheidende Gesichtspunkt ist in diesem Zusammenhang die Schlüssigkeit und Widerspruchsfreiheit unserer Rechtsordnung. Die Altersgrenze für das aktive und
passive Wahlrecht bei der Wahl zum Deutschen Bundestag ist heute identisch mit der Altersgrenze der Volljährigkeit. Dies ist ein schlüssiges und stimmiges Gesamtkonzept, an dem wir festhalten sollten. Die Volljährigkeit
ist die Altersgrenze, an der die unbeschränkte Geschäftsfähigkeit des bürgerlichen Rechts anknüpft. Das bedeutet,
vor Eintritt der Volljährigkeit werden junge Menschen
vor negativen Folgen ihres eigenen Handelns geschützt,
indem die Rechtsordnung nur die rechtlich vorteilhaften
Konsequenzen dieses Handelns gegen den jungen Menschen gelten lässt. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass
der Jugendliche in seiner persönlichen Reife und Urteilsfähigkeit in aller Regel noch nicht so weit entwickelt ist,
dass er für alle Folgen seines Tuns verantwortlich sein
sollte.
Mit welchem Argument aber wollen Sie jemandem,
dem man im Zivilrecht nicht einmal zumutet, die - nachteiligen - Konsequenzen seiner Handlungen für sich
selbst zu tragen, die Verantwortung für politische Entscheidungen aufbürden, die die Grundlagen unseres Gemeinwesens und damit auch alle anderen Einwohner dieses Landes betreffen? Wer das will, müsste auch bereit
sein, die Altersgrenze der Volljährigkeit auf 16 Jahre abzusenken, eine Forderung, die - so hoffe ich zumindest nicht allzu viele ernsthaft hier erheben würden.
Die Übereinstimmung zwischen Volljährigkeit und aktivem Wahlrecht ist richtig. Wer als Erwachsener persönliche Selbstbestimmung - siehe bürgerliches Recht - ausüben kann, der soll auch aktiv Einfluss auf die
Zusammensetzung der demokratischen Vertretungsorgane ausüben können. Dahinter steht letztlich die Einsicht, dass die Ausübung des Wahlrechts einen rationalen
Akt der Entscheidung voraussetzt. Vorausgesetzt wird,
mit anderen Worten, die Fähigkeit zur selbstständigen
und rational begründeten politischen Willensentschließung und Willensbildung. Ich zitiere hier den Staatsrechtler Michael Kloepfer aus dem Standardwerk „Handbuch
des Staatsrechts in der Bundesrepublik Deutschland“ von
Isensee/Kirchhof. Er sagt, dass es ein Grundanliegen von
Demokratie und Verfassungsstaatlichkeit ist, dass Herrschaft und Staatsgewalt nicht willkürlich, sondern rational ausgeübt werden. Das setzt die Fähigkeit zur rationalen Willensentschließung und Willensbildung bei der
Ausübung des Wahlrechts und somit ein hinreichendes
Maß an persönlicher Reife voraus.
Es greift deshalb zu kurz, wenn die Antragsteller sagen, dass jede Wahlaltersgrenze politisch festzulegen ist.
Das mag auf den ersten Blick zutreffen, es heißt aber
nicht, dass diese Festlegung willkürlich sein darf. Im Gegenteil: Die Wahlaltersgrenze muss sich in die Gesamtheit der Rechtsordnung auf überzeugende Art und Weise
einfügen, da es beim Wahlrecht um ein absolutes Kernelement der Demokratie geht. Deshalb muss das aktive
Stephan Mayer ({0})
Wahlrecht ein Mindestmaß an persönlicher Reife voraussetzen, und hierfür bietet die Altersgrenze von 18 Jahren,
die der Volljährigkeit entspricht, den richtigen Anknüpfungspunkt. So sehen es im Übrigen auch die allermeisten
EU-Mitgliedstaaten oder auch die USA, Kanada oder
Australien.
Ich darf kurz an die anderen wesentlichen Rechtsfolgen erinnern, die mit dem Eintritt der Volljährigkeit verbunden sind. Das Recht der elterlichen Sorge endet mit
der Volljährigkeit, § 1626 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch. Die Ehemündigkeit ist an die Volljährigkeit geknüpft, § 1303 Abs. 1 BGB. Gleiches gilt für die unbeschränkte Testierfähigkeit, § 2229 Abs. 4 Bürgerliches
Gesetzbuch, oder die Prozessfähigkeit, § 52 Zivilprozessordnung. Richtig ist zwar, dass von der Ehemündigkeit
auf Antrag eine Ausnahme erteilt werden kann, dies
dürfte aber in der Praxis nur in wenigen Fällen von Interesse sein. Auch die Wehrpflicht ist im Übrigen an das Erreichen der Volljährigkeit geknüpft.
Diese Regelungen, insbesondere aus dem Zivilrecht,
bestätigen noch einmal, dass unsere Rechtsordnung aus
gutem Grund in praktisch allen wichtigen Lebensbereichen, in denen es um mögliche nachteilige Folgen rechtlicher Handlungen geht, davon ausgeht, dass die notwendige persönliche Reife erst mit Eintritt der Volljährigkeit
gegeben ist. Diese Überlegungen gelten - übertragen auf
das Gemeinwesen - weitestgehend auch für die Ausübung
der Staatsgewalt durch Wahlen in Gestalt des aktiven und
des passiven Wahlrechts.
Im Übrigen würde der Antrag der Grünen auch zu einem Auseinanderfallen zwischen den Altersgrenzen beim
aktiven und passiven Wahlrecht führen. Auch dies ist
nicht schlüssig und nicht einzusehen.
Auch der immer wieder, wenn auch nicht im Antrag der
Grünen, angeführte Vergleich mit der Religionsmündigkeit - also dem Recht des Kindes, über seine Religionszugehörigkeit zu entscheiden -, die mit 14 Jahren eintritt,
hinkt gewaltig. Bei der Religionsmündigkeit geht es um
höchstpersönliche, innere Fragen des Glaubens, der Gedanken- und der Gewissensfreiheit. Beim Wahlrecht geht
es dagegen um ein Recht mit größtmöglicher Auswirkung
auf die Allgemeinheit. Schon deshalb ist ein Vergleich
zwischen den beiden Sachverhalten völlig neben der Sache und bringt keinerlei neue Erkenntnisse.
Das zweite Argument der Grünen ist, dass die Absenkung des Wahlalters als Reaktion auf den demografischen
Wandel notwendig wäre. Junge Menschen würden in unserer Gesellschaft immer mehr zur Minderheit, deshalb
solle durch die Wahlrechtsabsenkung eine bessere politische Berücksichtigung der Interessen der jungen Menschen erreicht werden. Dieser Gedanke unterstellt geradezu, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestags
gewissermaßen Auftragnehmer bestimmter Wähler- oder
Interessengruppen wären. Das Grundgesetz hat aber ein
ganz anderes Modell: Die Abgeordneten des Deutschen
Bundestages sind Vertreter des ganzen Volkes, also nicht
nur etwa einer bestimmten Altersgruppe. Es liegt in der
Verantwortung der Abgeordneten, bei ihren politischen
Entscheidungen die Interessen aller Bürgerinnen und
Bürger im Auge zu haben. Abgeordnete und generell Politiker sind aufgerufen, die Interessen der Allgemeinheit
im Auge zu haben, somit die Interessen der Kinder und
Jugendlichen genauso wie die Interessen anderer Wählergruppen. Ich halte es für wichtig, dass Abgeordnete
und Politiker den Kontakt und das Gespräch mit Jugendlichen suchen und die Anliegen, die von Jugendlichen formuliert werden, ernst nehmen und aufnehmen. Das ist
zielführender als eine Diskussion über die Absenkung von
Altersgrenzen im Wahlrecht.
Das dritte Argument der Grünen lautet, dass die Absenkung der Altersgrenze ein Anstoß für Jugendliche sein
kann, sich für Politik zu interessieren, sich politisch zu engagieren und Mitverantwortung zu übernehmen. Letztlich steckt dahinter die Annahme, dass das aktive Wahlrecht auch das Interesse an der Politik befördert. Dieser
Gedanke scheint wohlfeil zu sein. Dennoch halte ich es
nicht für eine ausgemachte Sache, dass der von den Grünen behauptete Zusammenhang besteht. Ich denke nicht,
dass man Interesse an politischen Zusammenhängen und
Verständnis für Politik gleichsam verordnen kann, indem
man das aktive Wahlrecht verleiht. Wahlrecht alleine
weckt noch kein Interesse an der Politik, sonst gäbe es
vermutlich kaum Nichtwähler. Wesentlich wichtiger ist es
nach meiner Überzeugung, dass Politiker das offene Gespräch mit jungen Menschen suchen, wo und wann immer
es möglich ist. Wichtig ist ferner - und in diesem einzigen
Punkt teile ich die Position des Antrags ausnahmsweise -,
dass die politische Bildung in den Schulen und außerhalb
der Schulen einen wichtigen Platz einnimmt. Dies sind
die Mittel, um jungen Menschen politische Zusammenhänge näherzubringen und sie vielleicht sogar für politisches Engagement zu begeistern.
Das vierte Argument der Grünen lautet, Jugendliche
seien heute in einem wesentlich früheren Lebensalter
selbstständig, ihre soziale und intellektuelle Urteilsfähigkeit entwickele sich in einem jüngeren Lebensalter, als
dies noch bei früheren Generationen der Fall war. Auch
dies halte ich für sehr zweifelhaft. Zum einen führen die
Grünen hierfür keine belastbaren Erkenntnisse an. Die
viel zitierte „frühere Reife“ bleibt letztlich eine unbewiesene Behauptung oder letztlich eine Ansichtssache. Es
gibt meines Erachtens sogar gewisse Gesichtspunkte, die
in die entgegengesetzte Richtung deuten. So ist es eine
Tatsache, dass die Phase der Berufsausbildung heute wesentlich länger dauert als noch vor einigen Jahrzehnten.
Damit hängen auch andere Dinge zusammen: Die Menschen heiraten später, gründen zum Teil deutlich später
eine Familie als noch in früheren Generationen. Die
Menschen werden damit oft später in feste Pflichten- und
Verantwortungszusammenhänge eingebunden, als dies
bei früheren Generationen der Fall war. Das bedeutet
aber: Das Wahlrecht wird heute mit 18 Jahren in einem
Alter gewährt, das für die meisten Wahlberechtigten noch
deutlich vor der Gründung einer eigenen Familie und vor
dem Ende der Berufsausbildung liegt. Das bedeutet, dass
die Menschen bereits wählen können, obwohl sie noch
lange nicht voll eigenverantwortlich ihr eigenes familiäres und berufliches Leben gestalten können. Damit erwerben sie ihr aktives Wahlrecht heute in einer vergleichsweise früheren Lebensphase, als dies bei früheren
Generationen der Fall war. Ich möchte dies hier nicht bis
Zu Protokoll gegebene Reden
Stephan Mayer ({1})
ins letzte Detail diskutieren. Aber es ist unbestreitbar,
dass das von den Grünen heraufbeschworene angebliche
„frühere Heranreifen“ keineswegs so eindeutig festgestellt werden kann, wie dies im Antrag behauptet wird. Es
bleibt letztlich festzustellen: Es fehlen seriöse, fundierte
wissenschaftliche Erkenntnisse zur Frage, mit welchem
Alter die politische Urteilsfähigkeit einsetzt. Die von den
Grünen behauptete zeitliche Verlagerung nach vorne
bleibt eine bloße Behauptung.
Wir werden den Antrag der Grünen selbstverständlich
im Innenausschuss sorgfältig beraten und uns mit dem
Für und Wider auseinandersetzen. Ich kann aber keinerlei Argumente erkennen, die es rechtfertigen würden, die
Altersgrenze für das aktive Wahlrecht auf 16 Jahre herabzusetzen. Ich meine, alle Gesichtspunkte sprechen dafür,
die Altersgrenze bei 18 Jahren zu belassen und damit den
Gleichklang zwischen dem aktiven Wahlrecht und der
Volljährigkeit beizubehalten.
Die demokratische Wahl ist für die Willensbildung im
Staat der entscheidende Akt. Das Wahlrecht beinhaltet
eine Verantwortung, die man Jugendlichen sonst nicht zumutet.
Selbstverständlich habe junge Menschen ein Recht auf
ein ausgewogenes Verhältnis von Rechten und Pflichten.
Es ist auch richtig, dass Jugendliche bereits wichtige, ihr
Leben betreffende, Entscheidungen fällen. 16-Jährige
sind nach dem Gesetz aber nur beschränkt geschäftsfähig, ihre Eltern haften für sie.
Die hinreichende persönliche Reife und Urteilsfähigkeit, eine bewusste und vernunftgeleitete Wahlentscheidung zu treffen, ist sicherlich mit 16 Jahren auf einem guten Weg, aber auch noch in der Bildungsphase.
Das politische Interesse oder die bloße Fähigkeit Einzelner, politisch differenziert zu beobachten, kann für sich
genommen nicht das allgemeinverbindliche Recht begründen, Politik verantwortlich mitzugestalten.
Diese Form der Partizipation löst unsere gesellschaftlichen Probleme nicht. Die Beteiligung der Jugendlichen
am Urnengang über die Kommunalwahlen hinaus wird
die Politikverdrossenheit eines großen Teils der Bevölkerung nicht lindern.
Die Zahlen und Daten aus den Bundesländern sprechen eine deutliche Sprache: Der Anteil 16- bis 18-Jähriger, die von einer Absenkung direkt betroffen wären,
liegt lediglich zwischen 2 und 4 Prozent.
Die politische Partizipation von Jugendlichen können
und müssen wir auf anderem Wege fördern.
Deshalb lehne ich den Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen, das Wahlalter auf 16 Jahre abzusenken, ab.
Ich unterstütze ausdrücklich die bereits bestehenden
Projekte unter der Schirmherrschaft des Familienministeriums, die sich im „Aktionsprogramm für mehr Jugendbeteiligung“ bündeln. Es ist wichtig und richtig, dass bewährte Projekte weiter gefördert und neue initiiert
werden.
Denn es leuchtet ein, den Bereich der Kinder- und Jugendbeteiligung innovativ und flexibel zu gestalten.
Mit dem Programm „Europäischer Pakt für die Jugend“ stellen wir uns den Herausforderungen, die einer
stärkeren Beteiligung der Jugendlichen unter anderem
entgegenstehen:
Aktives Staatsbürgertum und die soziale Entwicklung
junger Menschen in den Mitgliedstaaten unterstützen wir
durch gezielte Projekte - von kommunalen Jugendparlamenten bis zum Europäischen Jugendforum, dem Dachverband europäischer Jugendorganisationen.
Damit investieren wir nicht nur in die individuelle berufliche wie gesellschaftliche Zukunft der Jugend, sondern letztlich in die Zukunft der gesamten europäischen
Gemeinschaft.
Wir alle unterstützen das politische und soziale
Engagement von Kindern und Jugendlichen und wollen,
dass sie die aktive Beteiligung an der Demokratie und am
Gemeinwesen ernst nehmen. Dies geschieht am besten
mit örtlichem Bezug wie beispielsweise in den Jugendstadträten.
Soziale Verantwortung und Solidarität mit Schwächeren entsteht durch Teilhabe und Bildung. Wir müssen garantieren, dass alle Schüler einen Zugang zu der Förderung bekommen, die sie benötigen, um sich selbst aktiv in
die Gesellschaft einzubringen.
Seit den 80er-Jahren sinkt die Wahlbeteiligung kontinuierlich ab. Kritiker bezeichnen das Wahlsystem in
Deutschland als unverständlich, intransparent und partizipationsfeindlich.
Neben vielen anderen Vorschlägen zur Verbesserung
des Wahlsystems wird auch die Herabsetzung des Wahlalters diskutiert. In vielen Kommunen gibt es bereits ein
aktives Kommunalwahlrecht ab 16 Jahren. In diesem Alter besteht bei Schülern ein großes Interesse an Politik.
Die Ausweitung von Partizipationsmöglichkeiten auch
auf Jugendliche ist ein richtiger Schritt. Durch die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre bei Bundestagswahlen wird die Politikverdrossenheit alleine jedoch
nicht beseitigt werden. Dafür ist schon ein ganzes Bündel
an Maßnahmen notwendig, wie zum Beispiel auch die
schon hier im Hause diskutierten plebiszitären Elemente.
Eine Beteiligung von Jugendlichen unter 18 Jahren an
Bundestagswahlen alleine wird die Abkehr von Parteien
und das Desinteresse an der Politik nicht stoppen. „Wer
Wahlen als Aufputschmittel für Jugendliche betrachtet,
verwechselt sie mit Coca Cola“, so hat es Herr Professor
Dr. Gerd Roellecke nicht ganz unzutreffend in seinem Aufsatz - NJW 1996, 2773 - auf den Punkt gebracht.
Die Senkung des Wahlalters ist auch in der Begründung nicht konsequent durchdacht. Sich an Entscheidungen zu beteiligen, heißt auch die Konsequenzen für etwas
zu tragen und für die Folgen einzustehen. Konsequenzen
oder die volle Verantwortung werden in der Regel aber
erst mit der Volljährigkeit getragen. Erst dann kann man
alleine Kaufverträge abschließen oder für Schäden hafZu Protokoll gegebene Reden
ten, ohne auf die Eltern zu verweisen. Zwar wurde auch
1970 das Wahlalter auf 18 Jahre gesenkt, ohne zunächst
das damalige Volljährigkeitsalter von 21 Jahren zu senken. Die spätere Angleichung bzw. Absenkung des Volljährigkeitsalter - fünf Jahre später - zeigt aber: Volljährigkeit und Wahlalter gehen Hand in Hand und gehören
zusammen.
Es ist richtig, dass auch Jugendliche in der Lage sind,
politische Zusammenhänge zu erfassen, zu durchschauen
und sich kritisch mit Themen auseinanderzusetzen.
Ebenso ist es richtig, dass es auch Erwachsene gibt, die
nicht alle politischen Zusammenhänge durchschauen.
Die Volljährigkeit ist aber Dreh- und Angelpunkt von
Rechten und Pflichten. Sie markiert den Zeitpunkt, wo ein
junger Mensch vollständig für sich Verantwortung übernimmt. Zu diesem Zeitpunkt ist man auch zivil- und strafrechtlich verantwortlich. Und auch das Wahlalter zum
Europäischen Parlament beträgt 18 Jahre.
Die Senkung des Wahlalters alleine wäre daher nur
eine halbe Sache. Es gibt auch kein Wählen um des Wählens willen. Wahlen sind Ausdruck unseres demokratischen Rechtsstaates. Wahlen sind auch ein Ausdruck der
politischen Verantwortung nicht für sich selbst, sondern
vor allem für die Allgemeinheit. Und die mögliche Senkung des Wahlalters löst unter den betroffenen Jugendlichen selbst ein höchst unterschiedliches Echo aus. Nicht
alle sind von dieser Absenkung begeistert, weil sie um die
große Verantwortung wissen.
Auch die auf kommunaler Ebene teilweise abgesenkte
Wahlaltersgrenze kann für die Absenkung der Altersgrenze bei Bundestagswahlen als Argument nicht herhalten. Bundestagswahlen sind hinsichtlich der Altersgrenze
auch nur begrenzt mit Kommunalwahlen vergleichbar.
Kommunalwahlen weisen nämlich einen starken Ortsbezug auf.
Um Jugendlichen politische Prozesse näher zu bringen und Politikverdrossenheit abzubauen, müssen andere, attraktivere Angebote gemacht und bestehende Angebote verbessert werden. Alle Parteien verzeichnen
einen Mitgliederschwund. Und trotz der Vielzahl an Jugendlichen, die sich bei Vereinen, in Verbänden oder bei
Initiativen engagieren, wäre eine noch höhere Beteiligung wünschenswert. Wir Liberale halten Jugendparlamente, die von den Schulen oder der Stadt organisiert
werden, für einen guten Weg, demokratische Prozesse
auch vor Erreichen der Volljährigkeitsgrenze zu erlernen.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beantragt, das
aktive Wahlalter bei Bundestagswahlen von bisher
18 Jahren auf künftig 16 Jahre zu senken. Dem werden
wir zustimmen. Denn die Senkung des Wahlalters auch
auf Bundesebene gehört zum Gesamtpaket der Linken für
mehr Demokratie.
Damit könnte ich meine Rede auch schon wieder beenden. Aber es hat in den vergangenen Wochen ein paar
Äußerungen zum Thema Menschenrechte, Demokratie
und Wahlrecht gegeben, die ich für Die Linke nicht unwidersprochen lassen will, auch nicht im Deutschen Bundestag.
So warnte zum Beispiel Altbundespräsident Roman
Herzog vor einer „Rentner-Demokratie“, weil die Zahl
der Alten zu und die Zahl der Jungen abnehme. Und er
sprach von der Gefahr, dass die Alten die Jungen ausplündern könnten. Ich finde: Das grenzte schon an Seniorenrassismus.
Der Anlass für seine Auslassungen war übrigens absurd. CDU/CSU und die SPD, also die Große Koalition,
hatten sich auf eine außerplanmäßige Rentenerhöhung
um 1,1 Prozent geeinigt. Was bei den steigenden Preisen
nichts anderes bedeutet als einen realen Rentenverlust
um 2 Prozent.
Der reale Rentenverlust aber war für Roman Herzog
kein Thema. Übrigens auch nicht, dass dieselben Rentnerinnen und Rentner den Scheingewinn in zwei Jahren mit
Verlusten zurückzahlen müssen. Herzog eröffnete die
Front: Jung gegen Alt. Genau das aber wird die Linke
nicht mitmachen.
Vordem wollte schon der damalige Vorsitzende der
Jungen Union, Herr Mißfelder, die Gesundheitsversorgung für Seniorinnen und Senioren kappen, weil sie sich
finanziell nicht mehr rechne. Und danach ging der Vorsitzende des CDU-nahen Studentenverbandes RCDS, Herr
Ludewig, noch weiter. Er wollte das Wahlrecht für Seniorinnen und Senioren ebenso beschränken wie das Wahlrecht für Arbeitslose. Und da frage ich mich schon: Was
für ein Menschenbild und Demokratieverständnis grassiert da inmitten der Christlich Demokratischen Union?
Vorwärts ins 15. Jahrhundert?
Das alles ist weder mit dem Gebot der Schöpfung noch
mit der unantastbaren Würde aller Menschen vereinbar.
Es widerspricht auch dem Grundgesetz. Und so zeigt sich
erneut: Die Union ist fix dabei, andere als Verfassungsfeinde abzustempeln. Aber sie übersieht den tiefschwarzen Balken im eigenen Auge.
Richtig ist: Durch die demografische Entwicklung erhalten die Stimmen der Älteren zahlenmäßig mehr Gewicht als die Stimmen der Jüngeren. Völlig falsch aber ist,
daraus zu folgern, dass sich die Älteren deshalb zulasten
der Jüngeren bereichern wollen. Das ist schlicht eine
böse Unterstellung.
Ich habe bereits nach dieser Entgleisung von Roman
Herzog gesagt: Nur weil Menschen heute älter werden
als früher, darf man sie nicht ihrer Bürgerrechte berauben. Das darf man überhaupt nicht. Viel klüger und weitreichender wäre es stattdessen, das Wahlalter für Jüngere
zu senken. Dafür ist Die Linke.
Das wäre mehr Demokratie und nicht weniger. Und
vielleicht hilft der SPD bei alledem ihr Langzeitgedächtnis. Denn Willy Brandt wurde mit dem Slogan „mehr Demokratie wagen“ dereinst Kanzler. Sagen sie also Ja zum
Wahlalter mit 16 Jahren und sie hätten endlich wieder ein
Positivthema auf ihrer Seite.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir wollen, dass Jugendliche ab dem 16. Lebensjahr
an Bundestagswahlen teilnehmen und somit künftig früher Wahlentscheidungen treffen können. Es geht uns darum, endlich früher Demokratie zu wagen, wie es vor kurzem unser Nachbar Österreich vorgemacht hat. Mit
unserem Antrag und dieser Debatte wollen wir erneut für
die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre um parlamentarische Mehrheiten werben. Uns Grünen ist es ein
zentrales demokratie- und jugendpolitisches Anliegen,
16- und 17-jährigen Jugendlichen das aktive Wahlrecht
zu eröffnen und sie nicht länger von der Wahlurne fernzuhalten. Dafür sprechen zwei Kernargumente: erstens
die demografische Schrumpfung und Alterung der Gesellschaft und zweitens unser Vertrauen in die Urteilskraft und Reife der Jugendlichen.
Zum Demografieargument: Wer in einer schrumpfenden und alternden Gesellschaft einen fairen Interessenausgleich zwischen den Generationen gewährleisten will,
darf Jugendliche vom Wahlrecht nicht länger ausschließen, sondern muss deren demokratische Beteiligung auch
auf diese Weise sichern. Denn: Jugendliche werden immer mehr zur gesellschaftlichen Minderheit. Bereits in
zwei Jahren werden erstmals weniger Jugendliche unter
20 als ältere Menschen über 65 Jahre in Deutschland leben. 2050 wird die Zahl der Älteren schließlich fast doppelt so hoch sein wie die der Jüngeren. Bereits heute zeigt
sich der ungute Trend, dass die Interessen der jüngeren
Generationen vernachlässigt werden. Dies dürfte sich
angesichts der demografischen Alterung weiter verschärfen. Dabei wirken sich zentrale politische Entscheidungen vom Klimaschutz über Sozial- und Ausbildungssysteme bis hin zur Staatsverschuldung auf die jüngeren und
künftigen Generationen besonders stark aus. Anstatt
nachhaltig und generationengerecht zu handeln, werden
dabei immer wieder Belastungen in die Zukunft verschoben. Das großkoalitionäre, rein wahltaktische Herumdoktern an der Rentenformel ist nur das jüngste Negativbeispiel dafür. Eine Wahlalterabsenkung wäre ein gutes
Mittel dagegen, vor allem aber ein wichtiges Signal des
Bundestages und der gesamten Gesellschaft an die junge
Generation: Wir wollen euch mit euren Sichtweisen ernst
nehmen, wir wollen euch „auf gleicher Augenhöhe“ mitentscheiden lassen und euch ein wirkungsvolles Beteiligungsrecht eröffnen. Damit sind wir beim zweiten
Kernargument. Unsere Auffassung ist, dass 16- und
17-Jährige urteilsfähig und entscheidungskompetent genug sind, um an Bundestagswahlen teilzunehmen. Ich fordere Sie alle auf, Jugendliche nicht länger zu unterschätzen.
Die Jugend- und Entwicklungsforschung zeigt, dass
Jugendliche reifer und kompetenter sind, als Sie ihnen zugestehen. Viele engagieren sich in Verbänden oder leisten
Freiwilligendienste. Jugendliche entscheiden zunehmend
selbstständig über ihre Bildungsbiografie. Sie wollen für
sich und andere Verantwortung übernehmen und ihre eigene Zukunft aktiv mitgestalten. Eine mangelnde politische Reife von 16- und 17-Jährigen ist jedenfalls empirisch nirgendwo belegt. Wovor haben Sie eigentlich
Angst? Dass 16-jährige Jugendliche sehr wohl verantwortungsvoll ihr Wahlrecht nutzen, erleben wir bereits
bei Kommunalwahlen. Wieso sollte das bei Bundestagswahlen anders sein? Ihre teilweise noch ausbaufähige
Wahlbeteiligung ist allerdings kein Argument gegen eine
frühere Wahlmöglichkeit Jugendlicher. Sonst müsste im
Umkehrschluss bestimmten „wahlabstinenten“ Gruppen
das Wahlrecht entzogen werden - das wäre natürlich völlig absurd.
Im Übrigen haben wir in Deutschland ein Wahlrecht
und keine Wahlpflicht. Wenn wir das Wahlalter absenken,
ist das vielmehr eine Chance, Jugendliche früher für Demokratie zu gewinnen und unsere demokratische Kultur
insgesamt zu beleben. Denn eine systematische politische
Bildung müsste und würde sich flankierend in Elternhaus,
Schule und Jugendeinrichtungen fester, früher und selbstverständlicher verankern.
Jede Wahlaltersgrenze ist begründungsbedürftig; das
gilt genauso für die bestehende. Das Wahlalter an die
Volljährigkeit zu binden, ist keinesfalls zwingend, sondern hat sich überholt. Ich frage gerade Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, warum Sie diese
Bindung für unabänderlich halten, obwohl beispielsweise
die Religionsmündigkeit sogar schon mit 14 Jahren einsetzt. Das Recht knüpft hierbei an die Einsichtsfähigkeit
an. Auf das Wahlrecht übertragen bedeutet dies: Jugendliche Wählerinnen und Wähler müssen in der Lage sein,
sich ein Urteil zu bilden und die Tragweite ihres Wahlaktes zu erkennen. Wir gehen davon aus, dass sie dies spätestens im Alter von 16 Jahren können.
Vermutlich werden einzelne Redner gegen unseren Antrag einwenden, es müssten andere Maßnahmen für mehr
Beteiligung ergriffen werden. Ich halte gar nichts davon,
eine Wahlalterabsenkung gegen andere Partizipationsformen auszuspielen. Es geht nicht um ein „Entwederoder“, sondern um ein „Sowohl-als-auch“: Denn gerade
die Senkung des Wahlalters ist ein zentraler Bestandteil
einer umfassenden Beteiligungsstrategie und steht keinesfalls im Widerspruch dazu! Im Übrigen wäre es ein
starkes Stück, wenn die Regierungsfraktionen die Jugendlichen auf etwas vertrösten, was Sie wiederum gar
nicht einlösen. Wir Grüne haben dagegen längst ein Bündel an Vorschlägen für eine breitere und bessere Kinderund Jugendbeteiligung vorgelegt. Durch eine echte Beteiligungsoffensive in Kindertagesstätten, Bildungs- und Jugendeinrichtungen kann Demokratie früh gelernt, erlebt
und gelebt werden.
Ich rufe Sie daher dazu auf, die Wahlrechtsdebatte
ernsthaft zu führen und sich unserem pragmatischen Vorschlag anzuschließen - anstatt mit unsinnigen Vorschlägen die Titelseiten der Boulevardpresse zu füllen! Ein besonders zynisches Musterbeispiel ist der Vorschlag eines
„doppelten Wahlrechts für Leistungsträger“, das jüngst
ein Mitglied des CDU-Bundesvorstandes propagiert hat.
Auch das von Kolleginnen und Kollegen der CDU/
CSU, SPD und FDP geforderte Elternwahlrecht - getarnt
unter dem Slogan „Wahlrecht ab 0“ - ist ein Irrweg.
Denn: Das persönliche Wahlrecht kann und soll nicht delegiert werden! Ein Stellvertreterwahlrecht der Eltern widerspricht nicht nur den Verfassungsgrundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit sowie dem Prinzip der
Höchstpersönlichkeit der Wahl. Es basiert auch auf dem
Zu Protokoll gegebene Reden
Irrtum, dass Elternwille und Kinderwille stets identisch
seien. Es wäre schlicht undemokratisch, wenn Ministerin
von der Leyen stellvertretend für ihre Kinder weitere siebenmal das Kreuz bei der CDU machen dürfte! Ich frage
Sie: Was wäre, wenn Frau und Herr von der Leyen sich
nicht auf eine Stimmabgabe einigen können? Wie soll unter Einhaltung des Wahlgeheimnisses ein Einvernehmen
in der Familie und unter den Ehepartnern erzielt werden?
Und nicht zuletzt: Womit lässt sich die krasse Benachteiligung von Kinderlosen rechtfertigen?
Nein, ein Wahlrecht von Geburt an, verbunden mit einem Elternwahlrecht, ist starker Tobak. Es geht doch gerade darum, junge Menschen selbst als Bürgerinnen und
Bürger mit eigenen demokratischen Rechten ernst zu nehmen. Mir geht es darum, dass Jugendliche früher wählen
können, und nicht Eltern stellvertretend für ihre Kinder.
Das Prinzip „one man - one vote“ darf nicht einfach über
Bord geworfen werden. Wir sollten uns deshalb nicht weiter beim Elternwahlrecht verzetteln, sondern früher Demokratie wagen!
Lassen Sie uns einen mutigen, aber durchführbaren
Weg einschlagen, der Jugendliche in ihrem Recht wirklich stärkt: Lassen Sie uns gemeinsam eine Grundgesetzänderung einleiten, damit 16- und 17-Jährige schon
im nächsten Jahr den Deutschen Bundestag mitwählen
können. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung!
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6647 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Darüber herrscht
Einvernehmen. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel
Bahr ({0}), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad
Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Vertragsärzte und -zahnärzte nicht mit
68 Jahren zwangsweise in den Ruhestand schicken
- Drucksache 16/9445 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Die Reden der Kollegen Dr. Rolf Koschorrek, Peter
Friedrich, Dr. Konrad Schily, Frank Spieth, Dr. Harald
Terpe und der Parlamentarischen Staatssekretärin
Caspers-Merk werden zu Protokoll genommen.
Im Mai 2003 brachte die FDP schon einmal einen Antrag zur Aufhebung der Altersgrenze von 68 Jahren für
Vertragsärzte und -zahnärzte ein. Er fand in der letzten
Legislaturperiode keine Mehrheit. Sie legen jetzt unter
dem neuen Titel „Vertragsärzte und -zahnärzte nicht mit
68 Jahren zwangsweise in den Ruhestand schicken“ wieder einen Antrag zur Aufhebung der Altersgrenze vor, obwohl wir in dieser Legislaturperiode seit 2006 mit der
Mehrheit der Großen Koalition bereits eine Vielzahl von
Maßnahmen zur Flexibilisierung und Liberalisierung der
ärztlichen Berufsausübung beschlossen haben. Daraus
gehen unsere Richtung und das Ziel, das wir verfolgen,
ganz klar hervor: Wir begrenzen und reduzieren die gesetzlichen Vorgaben für die ärztlichen Berufsausübung,
wo immer es möglich und sinnvoll ist. Bestes und eindeutiges Exempel dafür ist das Vertragsärzterechtsänderungsgesetz, das Anfang 2007 in Kraft getreten ist. Es
transformierte nicht nur vielfach bereits bestehende berufsrechtliche Regelungen der freien Ärzte und Zahnärzte
in das geltende Vertragsarztrecht. Die neuen Regelungen
setzen auch zahlreiche Erleichterungen der vertragsärztlichen Leistungserbringung um und kommen den Wünschen und Erwartungen der Ärzte in weiten Bereichen
zweifellos sehr entgegen.
Mit dem Ziel, dem Ärztemangel in ländlichen Regionen, wie es ihn zum Beispiel in Ostdeutschland, aber nicht
nur dort gibt, zu begegnen und um die ambulante Versorgung flexibler zu gestalten, haben wir maßgebliche Änderungen vorgenommen. Hinsichtlich der Altersgrenzen für
den Beginn und das Ende der vertragsärztlichen Tätigkeit
sind dies die folgenden Änderungen: Erstens. Die Altersgrenze von 55 Jahren für die Erstzulassung als Vertragsarzt bzw. -zahnarzt wurde aufgehoben. Zweitens. Für
Planungsbereiche, in denen eine Unterversorgung besteht oder droht, ist die Altersgrenze von 68 Jahren für die
vertragsärztliche und -zahnärztliche Berufsausübung
aufgehoben.
Was die Zahnärzte anbelangt, so ist der hier eingebrachte Antrag der FDP-Fraktion schon heute vollständig überflüssig und gegenstandslos: Wie Sie in Ihrem Antrag ausdrücklich anführen, haben wir im jüngsten
Gesundheitsreformgesetz, dem GKV/WSG, schon die im
Bereich der Zahnmediziner überflüssig gewordene Bedarfszulassung aufgehoben. Für die Zahnärzte sind die
bedarfsorientierten Zulassungsbeschränkungen seit
April 2007 komplett abgeschafft. Darüber hinaus sind
wir dabei, die Altersgrenze von 68 Jahren für Vertragszahnärzte aufzuheben, was voraussichtlich noch in diesem Jahr realisiert werden kann. Die Kollegen der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion haben sich auf meine Initiative
hin für die entsprechende Änderung im Bundessozialgesetzbuch eingesetzt. Es wurde daraufhin in der Koalition
verabredet, dass wir die Regelung zur Aufhebung der Altersgrenze von 68 Jahren zur Behandlung von Kassenpatienten für die Zahnärzte in ein laufendes Gesetzgebungsverfahren einbeziehen.
Diese erfolgreiche Initiative zur Aufhebung der Altersgrenze für Vertragszahnärzte, die große Zustimmung in
unserer Fraktion gefunden hat, macht deutlich, dass wir
einer Aufhebung der Altersgrenze für alle Vertragsärzte
keineswegs grundsätzlich ablehnend gegenüber stehen.
Insbesondere die Annahme, jede patientenbezogene Berufsausübung durch ältere ({0})Ärzte gefährde die Patienten, weisen wir ausdrücklich zurück und lehnen sie
als Begründung für die 68er-Regelung ab. Diese „Schutzbehauptung“ ist allein schon durch die uneingeschränkte
privatärztliche Tätigkeit auch über das 68. Lebensjahr
hinaus widerlegt. Allerdings gibt es derzeit leider noch
nicht zu ignorierende Gründe, die uns von einer generel18398
len Aufhebung der 68er-Regelung für alle Vertragsärzte
zum jetzigen Zeitpunkt abhalten müssen.
Im Unterschied zu der vertragszahnärztlichen Versorgung haben wir im Bereich der Haus- und Fachärzte leider noch nicht überall die Situation, dass wir auf die Steuerungswirkung der 68er-Regelung verzichten können, um
eine ausgewogene und flächendeckende ärztliche Versorgung zu gewährleisten. Wir können zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht auf die Bedarfsplanung mit Zulassungsbeschränkungen verzichten. Solange diese besteht, ist
eine generelle Aufhebung der Altersgrenze nicht sinnvoll.
Unser Ziel ist und bleibt es gleichwohl, sobald wie
möglich die Bedarfsplanung überflüssig zu machen. Um
dies zu erreichen, ist ein Maßnahmebündel notwendig,
das die Attraktivität des Arztberufs und einer Niederlassung für junge Mediziner auch in den Regionen verbessert, in denen eine Unterversorgung besteht oder droht.
Dabei muss es sowohl um finanzielle Anreize als auch um
die Verbesserung der Arbeitsbedingungen gehen. Ein
Beispiel für eine geeignete Maßnahme sind zum Beispiel
die beschlossenen Honorarzuschläge für Ärzte, die in unterversorgten Regionen arbeiten.
Die FDP-Fraktion begehrt in ihrem Antrag etwas, was
ohnehin kommt und vonseiten der Koalitionsfraktionen
auch bereits öffentlich angekündigt worden ist. Es hätte
dieses Antrags folglich nicht bedurft, aber wir freuen uns
immer, wenn die Opposition unsere Politik mit unterstützt. Vielleicht sollten Sie, meine Damen und Herren
von der FDP-Fraktion, aber im Sinne des propagierten
Bürokratieabbaus überdenken, ob Sie nicht sich und uns
solche Anträge in Zukunft ersparen wollen.
Wie die Parlamentarische Staatssekretärin Marion
Caspers-Merk in ihrer Rede beschreibt, zeigen die Erfahrungen mit den unterschiedlichen bereits jetzt geltenden
Ausnahmeregeln, dass eine Aufhebung der Altersgrenze
nicht zu einer Qualitätsverschlechterung in der Versorgung geführt hat. Von einer generellen Aufhebung der Altersgrenze versprechen wir uns zudem eine Reihe von
Vorteilen: In vielen Fällen wird der Weiterverkaufswert
einer Praxis steigen, weil der Inhaber oder die Inhaberin
in Zukunft in einem längeren Prozess und ohne Zeitdruck
geeignete Nachfolgerinnen und Nachfolger suchen kann.
Dies ist wichtig, weil für viele Ärztinnen und Ärzte ihre
Praxis einen wesentlichen Teil ihrer Alterssicherung
darstellt. Darüber hinaus ermöglichen die Aufhebung
der Altersgrenze gemeinsam mit den flexiblen Anstellungsmöglichkeiten, die wir durch das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz geschaffen haben, eine kooperative Praxisführung von Vorgängerinnen und Vorgängern
mit ihren Nachfolgerinnen und Nachfolgern. Die Erfahrung zeigt, dass eine gemeinsame Übergangszeit nicht
nur den Patientinnen und Patienten eine längere Umstellungszeit ermöglicht, sondern auch vieles an praxisspezifischem Wissen und beruflicher Erfahrung weitergegeben
und somit erhalten bleiben kann.
Allerdings wird der Wunsch, über das 68. Lebensjahr
hinaus als Ärztin oder Arzt zu praktizieren, bereits heute
sehr unterschiedlich laut. Schon jetzt nutzt keineswegs jeder Arzt die heutige Altersgrenze voll aus. Im Gegenteil:
Viele Ärztinnen und Ärzte finden schon vor dem 65. Lebensjahr einen Übergang in den Ruhestand oder sind
nach wie vor im medizinischen Umfeld tätig, praktizieren
aber nicht mehr.
Wenn wir die Altersgrenze aufheben, kommen auf die
Ärztekammern und Zahnärztekammern sowie die Kassenärztlichen und die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen neue Herausforderungen zu, um die hochwertige medizinische Versorgung dauerhaft sicherzustellen. So
müssen die kontinuierlichen Weiterbildungsmaßnahmen
gewährleisten, dass bis ins hohe Alter hinein die ärztliche
Behandlung auf dem aktuellen fachlichen Stand gesichert
ist. Dazu gehört auch, dass die Ärztekammern und Zahnärztekammern die Anforderungen an die ärztliche Leistungsfähigkeit offen kommunizieren und der eigenen, individuellen persönlichen Einschätzung ihrer Mitglieder
gegenüberstellen.
Zudem muss im Falle von Fehlbehandlungen schnell
und transparent gehandelt werden: Sollte sich ein Arzt
oder eine Ärztin - unabhängig von seinem oder ihrem Alter - selbst überschätzen, sodass ein möglicher Schaden
für die Patienten droht oder gar eintritt, muss dies von
den berufsständischen Organisationen schnell und transparent aufgegriffen und angemessen sanktioniert werden.
Dazu gehört, dass sich eine positive Fehlerkultur noch
stärker als bislang entwickelt, die einen angemessenen
Umgang mit Behandlungsfehlern sicherstellt. Es ist weder einem Arzt oder einer Ärztin noch ihren Patientinnen
und Patienten gedient, wenn Missstände in der ärztlichen
Behandlung infolge einer falsch verstandenen Solidarität
unter den Teppich gekehrt werden sollen.
Abschließend möchte ich auf den vermeintlichen Ärztemangel eingehen, der in der Öffentlichkeit immer wieder beklagt wird. Auch die FDP-Fraktion konnte bei der
Erarbeitung ihres Antrages nicht der Versuchung widerstehen, in diesen populistischen Chor miteinzustimmen.
Nach wie vor ist der Arztberuf jedoch sehr attraktiv - und
zwar trotz aller gegenteiliger Darstellungen in der Öffentlichkeit, mit denen unsere politischen Reformprozesse im Gesundheitswesen immer wieder angegangen
werden. Die Ärztestatistik 2007, die unlängst von der
Bundesärztekammer veröffentlicht worden ist, belegt,
dass die Zahl der Ärztinnen und Ärzte in den vergangenen Jahren sowohl im ambulanten wie auch im stationären Bereich weiter zugenommen und somit zu einer erheblichen Verbesserung der Ärztedichte beigetragen hat.
Auch ist - ebenfalls entgegen aller öffentlich vorgetragenen Krisenszenarien - die Abwanderung von Ärzten und
Ärztinnen, die in Deutschland tätig waren, alles andere
als ein Massenphänomen und zudem in ihrem Ausmaß
deutlich niedriger als die Zahl der nach Deutschland zugewanderten Ärztinnen und Ärzte. Deshalb möchte ich
hervorheben, dass wir die Altersgrenze nicht zur Behebung eines Mangels an Nachwuchsärztinnen und Nachwuchsärzten aufheben, denn diesen Mangel gibt es nicht.
Die derzeit noch geltende rechtliche Regelung ist - um
es dem Thema entsprechend zu formulieren - veraltet. Sie
Zu Protokoll gegebene Reden
war schon bei der Inkraftsetzung 1999 als äußerst problematisch zu bewerten. Heute sprechen drei gewichtige
Gründe für ihre Aufhebung. Zum Ersten werden Ärzte
ebenso wie die Gesamtbevölkerung immer älter und bleiben doch länger jung; das heißt, Alter kann nicht alleine
numerisch definiert werden, sondern hat eine kulturelle
und soziale Komponente. Zum Zweiten wird schon jetzt
durch die Aufhebung der Altersgrenze wirksam der Unterversorgung in manchen ländlichen Regionen Deutschlands entgegengewirkt. Wenn Ärzte in ländlichen Gegenden dazu in der Lage sind, qualitativ hochwertig nach der
Überschreitung der Altersgrenze weiter zu arbeiten, sind
sie es in allen anderen Regionen unseres Landes auch.
Zum Dritten glaube ich, dass die Frage der Altersgrenze
nicht per Bundesgesetz geregelt werden muss, sondern
der Verantwortung der örtlichen ärztlichen und zahnärztlichen Körperschaften obliegen kann. Vor Ort wissen die
Verantwortungsträger am besten, was für ihre Region das
Richtige ist.
Berücksichtigt man diese drei Argumente, so wird klar,
dass der FDP-Antrag der Lebenswirklichkeit in Deutschland sehr gut gerecht wird und zudem adäquat auf die
Versorgungsschwierigkeiten in Teilen unseres Landes reagiert. Ich bitte daher um Zustimmung für die Drucksache 16/9445.
Als ich vor kurzem die Praxis meiner Hausärztin aufsuchte, war diese im Urlaub. Ihre Urlaubsvertretung war
einer der Ärzte, über die in diesem Antrag geredet wird.
Ich schätze, er wird um die siebzig Jahre alt gewesen sein
und machte auf mich zeitweilig einen abwesenden Eindruck. Und ich will Ihnen sagen, ich fühlte mich von diesem Arzt überhaupt nicht kompetent behandelt. Es ist ja
nur zu verständlich, dass mit zunehmendem Alter auch
eine nachlassende geistige und körperliche Verfassung
vonstatten gehen kann. Deshalb lehnen wir eine generelle
Freigabe der Altersgrenze ab, wir wollen aber nicht den
Stab über alle älteren Ärzte brechen. Wir wollen erst recht
keine Altersdiskriminierung. Wenn ein Arzt oder eine Ärztin nach dem 68. Lebensjahr weiter praktizieren möchte,
sollte das unter gewissen Bedingungen gestattet werden:
Wir plädieren dafür, dass für die Fortsetzung der ärztlichen Tätigkeit der Nachweis über die individuelle Eignung sowie die kontinuierliche Fortbildung erbracht
werden muss.
Mit den Neuregelungen aus dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz 2007 wurde die Möglichkeit geschaffen, in
unterversorgten Regionen die Altersgrenze aufzuheben.
Das findet unsere volle Unterstützung, wenn dafür ein
Einzelnachweis erbracht wird. Diese Unterversorgung
besteht hauptsächlich in den neuen Bundesländern. Aber
nicht nur dort sind Arztpraxen verwaist.
Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007 gibt
es außerdem die Möglichkeit, eine lokale Unterversorgung festzustellen, obwohl die Versorgungsregion gut
oder überversorgt ist. Die Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen müssen dann alle Maßnahmen ergreifen, um diese Unterversorgung zu beenden.
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass Anfang
2009 eine erste Überprüfung der Umsetzung dieser Gesetzesregelung vorgenommen wird!
Trotz dieser Regelungen will die FDP die Abschaffung
der Altersgrenze für Ärzte. Doch die Begründung, die zu
der Altersgrenze für Vertragsärzte geführt hatte, ist auch
heute noch aktuell. Denn wie die FDP in ihrem Antrag
richtig zitiert, wurde in der Begründung des Gesundheitssystemstrukturgesetzes von 2003 festgestellt: „Die
Entwicklung der Vertragsarztzahl stellt eine wesentliche
Ursache für überhöhte Ausgabenzuwächse in der gesetzlichen Krankenversicherung dar. Angesichts einer ständig wachsenden Zahl von Vertragsärzten besteht die Notwendigkeit, die Anzahl der Vertragsärzte zu begrenzen.
Die Überversorgung kann nicht durch Zulassungsbeschränkungen und damit zulasten der jungen Ärztegeneration eingedämmt werden. Hierzu ist auch die Einführung einer obligatorischen Altersgrenze für Vertragsärzte
erforderlich.“
Wenn die FDP jetzt behauptet, dass sich diese Situation grundlegend verändert hat, möchte ich angesichts
der Entwicklung der Arztzahlen erhebliche Zweifel anmelden. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Altersgrenze im Jahr 1998 waren 124 621 Ärztinnen und Ärzte
ambulant tätig. Ende 2006 betrug ihre Zahl 136 105, also
eine Steigerung von knapp 12 000 Ärztinnen und Ärzten.
Von einem flächendeckenden Ärztemangel kann also
überhaupt nicht geredet werden. Richtig ist, dass es einerseits Über- und andererseits lokale Unterversorgung
gibt.
Um hier den Patientinnen und Patienten zu helfen,
braucht es wesentlich mehr Anstrengungen als die Aufhebung der Altersgrenze. Deshalb ist dieses Argument der
Liberalen nicht stichhaltig. Wir werden in den weiteren
Beratungen sehen, ob der dünnen Basis dieses Antrags
noch etwas mehr Substanz gegeben werden kann. Die
Linke wird dazu konstruktive Vorschläge machen.
Der Antrag der FDP greift mit der drohenden Unterversorgung in manchen vertragsärztlichen Planungsregionen ein wichtiges Thema auf. Es lohnt sich deswegen, vertieft über den richtigen Weg zur Vermeidung von
Unterversorgung zu diskutieren. Die drohende ärztliche
Unterversorgung in manchen ländlichen Regionen Ostdeutschlands ist mittlerweile fast sprichwörtlich. Wer
sich genauer umhört und umsieht, der weiß aber, dass es
diesbezügliche Meldungen inzwischen beispielsweise
auch aus sozial benachteiligten Stadtteilen großer Städte
im Westen gibt, wo die Nachfolge für Hausarzt- und
Facharztsitze fraglich ist.
Mit dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz wurden
bereits wichtige Änderungen vorgenommen, die helfen
können, Unterversorgung künftig zu vermeiden. Dazu
zähle ich vor allem die nunmehr von den Kassen finanzierten Sicherstellungszuschläge. Auch die Regelung,
dass niedergelassene Vertragsärzte in unterversorgten
Regionen über das 68. Lebensjahr hinaus tätig sein dürfen, ist als Übergangslösung sicher hilfreich. Ich bin mir
aber ziemlich sicher, dass diese Maßnahmen nicht ausreichen werden. Wir brauchen vor allem gemeinsame
Zu Protokoll gegebene Reden
Anstrengungen des Bundes, der Länder und der Selbstverwaltung, um Unterversorgung zu verhindern. Ich begrüße daher die Bemühungen von Bundesländern wie
Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, junge Ärztinnen
und Ärzte schon während des Medizinstudiums für die
Niederlassung in unterversorgten Gebieten zu gewinnen.
Sinnvoll ist es sicher auch, den Wiedereinstieg in das Berufsleben etwa nach einer Erziehungspause zu fördern
und so den Mangel an qualifizierten Ärztinnen und Ärzten
zumindest teilweise zu beheben. Vorschläge, wie die derzeit unzulängliche Bedarfsplanung etwa durch feinere
Planungskriterien verbessert werden kann, liegen ebenfalls auf dem Tisch.
Diese Dinge sind sicher wichtig und richtig. Sie berücksichtigen aber nicht die Frage, woran es eigentlich
liegt, dass die Niederlassung als Vertragsarzt in einigen
Regionen nicht attraktiv ist. Schauen wir uns die Bedingungen zum Beispiel in Ostdeutschland an: In Ostdeutschland treten bestimmte chronische Erkrankungen
deutlich häufiger als im Westen auf. Die Behandlung dieser chronischen Erkrankungen verursacht etwa 80 Prozent der Kosten im Gesundheitswesen. Dies hat
verbunden mit der höheren Fallzahl eine höhere Arbeitsbelastung und Betreuungsintensität für die Ärztinnen und
Ärzte zur Folge. Auch die finanziellen Rahmenbedingungen der niedergelassenen Ärzte im Osten sind ungünstiger: So sind die Einkünfte aus der Behandlung privat versicherter Patienten, die häufig zur Quersubventionierung
der Praxis verwandt werden, deutlich geringer. Im Westen liegt der Anteil der PKV-Patienten bei circa 10 Prozent, im Osten hingegen nur bei 3,6 Prozent. Auch die
Vergütungssituation stellt sich für die niedergelassenen
Ärzte in Ostdeutschland schlechter dar: Nach Berechnungen des Bundesgesundheitsministeriums stehen für
die ambulante Behandlung je Versichertem im Vergleich
zum Westen Deutschlands lediglich circa 85 Prozent der
Vergütung zur Verfügung. Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung betragen die Fallwerte, also
die durchschnittlichen Einnahmen je Fall, nur rund
80 Prozent des Westniveaus. Nur durch die aus der größeren Fallzahl resultierende Mehrarbeit der Ärztinnen
und Ärzte erreichen die Praxisüberschüsse in den meisten
ostdeutschen Bundesländern etwa 95 bis 100 Prozent des
Westniveaus.
Wenn wir das Problem der Unterversorgung lösen
wollen, müssen wir zuerst die Frage beantworten, wie wir
beispielsweise mittels der Vergütung die Niederlassung in
unterversorgten Gebieten attraktiver gestalten. Genauer
gefragt: Ist es nicht sinnvoll, das Engagement niedergelassener Ärzte in strukturschwachen Regionen höher zu
vergüten als die Tätigkeit in wirtschaftlich starken Regionen? Sodann müssen wir uns damit beschäftigen, wie
die häufig hinderliche sektorale Trennung zum Zwecke
der Verhinderung von Unterversorgung überwunden
werden kann. Ziel muss es sein, die Kooperation und Arbeitsteilung zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor zu vertiefen, wie dies in einigen regionalen Gesundheitsnetzwerken bereits praktiziert wird.
Der Antrag der FDP sagt dazu nichts. Ich denke im
Übrigen nicht, dass es zur Vermeidung von Unterversorgung nötig ist, gleich die komplette Ruhestandsregelung
insbesondere für niedergelassene Vertragsärzte abzuschaffen. Damit verhindert man aus meiner Sicht den Berufseinstieg junger Vertragsärztinnen und Vertragsärzte,
die sich niederlassen wollen. Dies kann das Problem des
Ärztemangels sogar noch verschärfen. Natürlich gibt es
auch Gründe für die Aufhebung der Altersgrenze, beispielsweise für Vertragszahnärzte, weil dort ohnehin
keine Bedarfszulassung mehr existiert. Auch der Grundsatz der freien Berufsausübung und die Verhinderung von
Altersdiskriminierung mögen solche Gründe sein. Die geforderte Liberalisierung der Ruhestandsregelung würde
allerdings die Bereitschaft der Ärzte erfordern, gegebenenfalls im Alter den Fortbestand der Fähigkeit zur verantwortlichen Berufsausübung nachzuweisen. Dass der
FDP-Antrag einer differenzierten Betrachtung genügt,
darf bezweifelt werden.
Passen strikte Altersgrenzen, ab wann man nicht mehr
beruflich tätig sein darf, eigentlich noch in eine Gesellschaft des längeren Lebens? Wir meinen: Nein. Denn wir
brauchen aktive Ältere und ihren gesellschaftlichen Beitrag. Deshalb ist es auch folgerichtig, über die 68er-Regelung für Ärzte und Zahnärzte neu nachzudenken. Wir
werden Ihnen deshalb gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen vorschlagen, diese Zwangsverrentungsgrenze aufzuheben. Es ist bereits zwischen den Koalitionspartnern
verabredet, dass ein Änderungsantrag zum Gesetz zur
Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der
GKV eingebracht werden soll, der die Aufhebung der Altersgrenze sowohl für Vertragszahnärzte als auch für Vertragsärzte vorsieht. Der Antrag der FDP fordert deshalb
etwas, was bereits öffentlich zugesagt war. Aber immerhin gibt der Antrag die Möglichkeit, nochmals die wichtigsten Argumente auszutauschen.
Die Aufhebung der Altersgrenze für Vertragsärzte bedeutet für die Ärzte mehr Planungssicherheit und mehr
Freiheit bei der Organisation ihrer Nachfolge. Damit
wird einem wesentlichen Anliegen der Ärzte entsprochen,
selbstbestimmt über den Zeitpunkt ihrer Nachfolge zu entscheiden. Zugleich kann die Aufhebung der Altersgrenze
ein Beitrag zu mehr Versorgungssicherheit sein, wenn
Ärzte über die Altersgrenze von 68 Jahren hinaus tätig
bleiben, weil sie keinen Nachfolger finden. Zudem ist es
gut, wenn leistungsfähige Ärzte ihre Berufs- und Lebenserfahrung der Gesellschaft zugutekommen lassen, auch
über die Altersgrenze von 68 hinaus.
Von der starren Altersgrenze sind in vergangenen Gesetzgebungsvorhaben bereits Ausnahmen geregelt worden. Durch das im Januar des letzten Jahres in Kraft getretene Vertragsarztrechtrechtsänderungsgesetz wurde
eine Aufhebung der Altersgrenze für die Fälle geregelt, in
denen der jeweilige Landesausschuss eine eingetretene
oder drohende Unterversorgung festgestellt hat. Zuvor
galt bereits die Regelung, dass sich die Zulassung von
Ärzten und Zahnärzten, die zum Zeitpunkt der Vollendung
des 68. Lebensjahres weniger als 20 Jahre als Vertragsarzt
bzw. als Vertragszahnarzt tätig und vor dem 1. Januar
1993 zugelassen waren, bis zum Ablauf der 20-JahresFrist verlängert. Ehemaligen Vertragsärzten ist es zudem,
Zu Protokoll gegebene Reden
auch wenn sie über 68 Jahre alt sind, möglich, Vertretungen eines Vertragsarztes zu übernehmen. Schließlich ist es
Ärzten und Zahnärzten auch erlaubt, über das Alter von
68 Jahren hinaus Privatpatienten zu behandeln.
Hinzu kommt bei den Vertragszahnärzten die besondere Situation, dass diese seit Inkrafttreten des GKVWettbewerbsstärkungsgesetzes im April vergangenen
Jahres keinen Zulassungsbeschränkungen mehr unterliegen. Eines besonderen Schutzes jüngerer Ärzte - wie vom
Bundesverfassungsgericht und Bundessozialgericht unter anderem zur Rechtfertigung der Altersgrenzenregelung angenommen, bedarf es für sie daher nicht mehr.
Wir haben gute Erfahrungen mit den Ausnahmen gemacht, machen wir sie doch zur Regel.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9445 an den Ausschuss für Gesundheit
vorgeschlagen. - Darüber herrscht Einvernehmen. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Karin Binder, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Effektiven Diskriminierungsschutz verwirklichen
- Drucksache 16/9637 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Die Reden der Kolleginnen und der Kollegen Daniela
Raab, Christine Lambrecht, Mechthild Dyckmans,
Sevim Dağdelen, Volker Beck und Gert Winkelmeier
werden zu Protokoll genommen.
Vor zwei Monaten haben wir uns schon zum wiederholten Male mit diesem Thema beschäftigt; damals war es
ein Antrag von den Grünen, heute von den Linken.
Auch dieses Mal kann und will ich dazu eigentlich nur
eines sagen: Das AGG, so wie es zurzeit besteht, ist schon
zuviel des Guten. Der Schutz vor Diskriminierung ist ausreichend vorhanden, und es bedarf keiner weiteren Anpassung oder Erweiterung. Die Annahme, dass es den europäischen Vorgaben „offensichtlich“ widerspricht, teile
ich ganz und gar nicht. Ich halte Ihre Aussagen für ein
rein populistisches Machwerk, das mal wieder die Tatsachen verdreht und uns unnötig Zeit und Mühen kostet,
weil wir darauf auch noch eingehen müssen.
Ich spreche damit gezielt nicht nur den besserwisserischen Zeigefinger der EU-Kommission an, die Deutschland und anderen Ländern vorschreiben will, wie Diskriminierungsschutz zu funktionieren hat. Um es mit den
Worten unseres CSU-Landesgruppenvorsitzenden zu sagen: Es handelt sich dabei um einen „ungezügelten Kompetenzanmaßungswahn“, den wir nicht unterstützen wollen.
Das Gleiche gilt für das Gejammer einiger Fraktionen
dieses Hauses, das den Eindruck vermittelt, in Deutschland und Europa würden nur diskriminierte Menschen
herumlaufen. Dabei handelt es sich dann um „ungezügeltes Gutmenschentun“, das mit der funktionierenden Realität unserer Gesellschaft nichts mehr zu tun hat. Es ist bedauerlich, das die Arbeit des Hohen Hauses davon
aufgehalten wird, indem wir uns immer wieder mit den
gleichen überflüssigen Anträgen und Forderungen auseinandersetzen müssen, die schon lange ausdiskutiert
sind. Wir wollen uns nicht mit weiteren Initiativen von
Kommissar Spidla beschäftigen müssen, die er schon für
den 2. Juli angekündigt hat, weil diese immer wieder in
die falsche Richtung gehen. Es gibt über das AGG hinaus
keinen weiteren Handlungsbedarf in Deutschland.
Unser Rechtssystem besaß schon vor dem unseligen
Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz einen umfassenden Diskriminierungsschutz, weshalb Deutschland als
ein Vorreiter diesbezüglich gelten muss. Eine Amerikanisierung unseres Rechts sollten wir daher auf jeden Fall
verhindern, und wir lehnen somit sowohl die Forderung
nach einer Beweislastumkehr als auch ein mögliches Verbandsklagerecht kategorisch ab. Wir brauchen keine Erweiterung oder Änderung. Ihre Vorschläge sind zu absurd, um auch noch im Einzelnen darauf einzugehen. Es
existiert ein umfassender Schutz vor Diskriminierung wegen der Rasse, der ethnischen Herkunft, des Geschlechts
oder der Religion. Darüber hinaus wird es mit der Union
keine Erweiterung oder Modifikation geben.
Die Fraktion Die Linke hat den Antrag „Effektiven Diskriminierungsschutz verwirklichen“ vorgelegt, mit dem
eine deutliche Ausweitung des schon bestehenden Schutzes
vor Diskriminierung gefordert wird. Ich sage es vorab: Wir
lehnen diesen Antrag ab. Ich sage Ihnen auch warum: Die
Linke fordert, das Merkmal „aus Gründen der Rasse“ im
AGG zu ersetzen und durch die Formulierung „aus rassistischen Gründen“ zu ersetzen. Hier sind wir an die Vorgabe der EU gebunden, die genau diese Formulierung gewählt hat, auch wenn Ihnen das nicht gefällt. Eine
Veränderung können wir daher nicht mittragen.
Weiter fordern Sie die Erweiterung des Anwendungsbereichs des AGG um Diskriminierungsmerkmale wie
„soziale Herkunft“ oder „soziale Lebensumstände“.
Eine solche Erweiterung des Anwendungsbereichs ist
schon alleine aufgrund der mangelnden Bestimmtheit
nicht möglich. Was ist unter dem Begriff „soziale Lebensumstände“ zu verstehen? Eine solch unkonkrekte Begrifflichkeit hilft sicherlich niemanden im Kampf gegen
Diskriminierung, wird aber den Gerichten Auslegungsschwierigkeiten bereiten. Wem soll damit geholfen sein?
Eine weitere Forderung aus Ihrem Antrag erscheint
ebenfalls nicht sinnvoll. Da soll das Verbandsklagerecht
auf Organisationen ausgeweitet werden, die gerade nicht
das Merkmal eines Verbandes haben. Die Erweiterung
des Verbandsklagerechts auf alle Gruppierungen, die entsprechend ihrer Satzung die besonderen Interessen von
benachteiligten Personengruppen im Sinne des AGG
wahrnehmen wollen, würde zu einer inakzeptablen Aufweichung des Verbandsklagerechtes führen. Das vorgeschlagene Sanktionsrecht ohne Begrenzung der Schadensersatzhöhe würde bei Schadensersatzprozessen
letztlich zu Verhältnissen wie in den USA führen. Das ist
somit keine akzeptable Ausweitung.
Deutschland hat die vier Antidiskriminierungsrichtlinien der EU durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz umgesetzt und nimmt im gesamteuropäischen Vergleich eine Vorbildstellung ein. Das AGG hat keineswegs
zu der Prozessflut geführt, die von einigen Kritikern befürchtet worden ist. Wir haben vielmehr mit Augenmaß
den Schutz vor Diskriminierung vorangebracht. Die Hinweise der Kommission der Europäischen Gemeinschaften
zu der Umsetzung in Deutschland haben wir aufgenommen, und sie werden einer Prüfung unterzogen. In diesem
Zusammenhang erlaube ich mir, darauf hinzuweisen,
dass in vielen Mitgliedstaaten wegen angeblich unzureichender Umsetzung derzeit die Klärung wichtiger Fragen zur Auslegung der Richtlinie erfolgt. Die Forderung
im Antrag der Linke führen hierbei nicht in die richtige
Richtung.
Zum wiederholten Male berät der Deutsche Bundestag
über das Antidiskriminierungsrecht. Die uns hierzu vorliegenden Initiativen zeugen von einem gegenseitigen
Überbietungswettbewerb. Minderheiten werden bewertet
und für wichtig oder weniger wichtig erachtet, ein Wust
von Sanktionsmöglichkeiten wird präsentiert und die
Forderungen an Brüssel, Europa endlich diskriminierungsfrei auszugestalten, nehmen an Schärfe zu. Diese
Forderungen mögen bei bestimmten Gruppen oder Initiativen Eindruck hinterlassen; den Menschen helfen sie jedoch in keiner Weise. Es wird nicht gelingen, Diskriminierung abzubauen, indem man Bürgerinnen und Bürger
bevormundet und ihre Handlungsfreiheit mit immer mehr
Regeln und Vorschriften einschränkt.
Es ist ein Irrglaube, Antidiskriminierung lasse sich von
oben per Gesetz verordnen. Es ist von jeher der Grundgedanke der Privatautonomie, dass der Bürger seinen Willen als Privatrechtssubjekt frei und fern vom Staat gestalten kann. Es gehört zu den Grundvoraussetzungen
unseres liberalen Rechtsstaates, dass ein Vertragsschluss
frei von staatlicher Zensur erfolgen kann. Der Staat
schützt dabei die Wahlfreiheit der Bürger und schreibt
ihm nicht vor, was korrekt, tugendhaft, anständig und gut
für ihn ist.
Zum Kernbestandteil der verfassungsrechtlich garantierten allgemeinen Handlungsfreiheit gehört es, dass der
Bürger keine Rechenschaft über die Beweggründe seines
Handelns geben muss. Es ist völlig unbestritten, dass jede
Rechtsordnung auch den notwendigen Rahmen für das
Zusammenleben der Bürger untereinander geben muss.
Das Grundgesetz verbietet in Art. 3 Abs. 3 GG dem Staat
jede Form der Ungleichbehandlung wegen der in dieser
Vorschrift aufgeführten absoluten Diskriminierungsverbote. Dieser Verfassungsgrundsatz strahlt auch aus auf
das Privatrecht.
Das Grundgesetz begründet eine Schutzpflicht des
Staates, auch im Privatrechtsverkehr für die Beachtung
dieser Wertungen zu sorgen. Anknüpfungspunkte im Privatrecht sind hier die §§ 134, 138 BGB. Verträge, die rassistische und geschlechtsspezifische Diskriminierungen
enthalten, sind nach § 138 BGB schlechthin unwirksam.
Es stellt eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts gemäß
§ 823 Abs. 1 BGB dar, wer einem anderen einen Schaden
dadurch zufügt, dass er ihn wegen eines in Art. 3 Abs. 3
GG genannten Merkmals diskriminiert.
Unsere Rechtsordnung garantiert schon heute den
Schutz von Minderheiten und stellt sich bewusst gegen
Diskriminierung. Es besteht Einigkeit im Deutschen
Bundestag, dass kein Bürger wegen seiner Rasse, seiner
ethnischen Herkunft, seiner Religion, seiner Weltanschauung, seiner Behinderung, seines Alters, seines Geschlechts oder seiner sexuellen Orientierung benachteiligt und diskriminiert werden darf. Die FDPBundestagsfraktion bekennt sich ausdrücklich zu den
Diskriminierungsverboten, wie sie in der Europäischen
Menschenrechtskonvention und in den europäischen Verträgen festgehalten sind. Die Freiheit, unbeschwert von
Diskriminierung und Verfolgung leben zu können, ist gerade für uns ein zu verteidigendes Menschenrecht. Die
Bekämpfung von Diskriminierung und Intoleranz sind für
den Zusammenhalt einer Gesellschaft schlicht unverzichtbar. Es gehört daher unbestritten zu den Kernaufgaben des Staates, den Bürgerinnen und Bürgern ein freies
und selbstbestimmtes Leben ohne Diskriminierung zu gewährleisten.
Uns trennen jedoch unterschiedliche Auffassungen
über den Weg, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Toleranz
zeigt sich im Handeln. Nur eine vernünftige und sachorientierte Politik hilft den Menschen und ist damit der beste
Schutz vor Diskriminierung. Eine intelligente Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie vermehrte Anstrengungen
zur Integration von Migranten und Behinderten wären
geeignet, Schutz und Teilhabe von sozial Schwachen, Benachteiligten und Minderheiten in unserem Land entscheidend zu verbessern. Mit bloßer Symbolpolitik jedoch
wird den Bürgerinnen und Bürgern Sand in die Augen gestreut. Es werden Versprechungen gemacht, die sich nicht
erfüllen werden.
Die Fraktion Die Linke listet in ihrem Antrag ein Sammelsurium von Forderungen auf, die erneut die blinde
Staatsgläubigkeit und Ideologie dieser Partei betonen.
Der Bürger als mündiges Wesen ist nach Auffassung der
Fraktion Die Linke abgemeldet. Antidiskriminierung
wird nicht als gesellschaftliche Aufgabe verstanden, sondern als verpflichtende Staatsdoktrin, die keinen Widerspruch duldet. Die Absurdität der Vorschläge gipfelt in
der Forderung, den Anwendungsbereich des Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetzes um die Diskriminierungsmerkmale „Staatsangehörigkeit“ und „soziale Herkunft“
Zu Protokoll gegebene Reden
oder „soziale Lebensumstände“ zu erweitern. Danach
reicht möglicherweise schon der Wohnort in einer strukturschwachen Region als Diskriminierungsmerkmal aus.
Weitere Auskunftsrechte, erweiterte Verbandsklagerechte, Beweislastumkehr, verschuldensunabhängiger
und unbegrenzter Schadensersatz, Streichung fast sämtlicher zurzeit im Gesetz vorgesehener Differenzierungen,
ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen, mehrsprachige Öffentlichkeitsarbeit, all dies sind nur einige
der überzogenen Forderungen der Linken. In der Begründung zu dem Antrag wird auf die Verantwortung des Gesetzgebers dafür hingewiesen, dass Regelungen klar und
eindeutig sein müssen. Hier möchte ich darauf hinweisen,
dass der Gesetzgeber auch die Verantwortung für Maß
und Mittel seiner Initiativen trägt. Mit diesem Antrag hat
sich die Fraktion Die Linke aus der Sachdebatte verabschiedet.
Mit dem Antidiskriminierungsrecht werden wir uns,
unabhängig von dem Antrag, künftig wieder zunehmend
zu befassen haben. Die Europäische Kommission wird in
diesen Tagen ihren Richtlinienvorschlag über die Gleichbehandlung außerhalb des Arbeitsplatzes vorstellen. Diesen Entwurf wollte der Bundestag zum Gegenstand eines
erneuten Testlaufs zur Subsidiaritätsprüfung machen.
Diese Subsidiaritätsprüfung muss, aufgrund der vorgegebenen Fristen, in der parlamentarischen Sommerpause
stattfinden. Völlig überraschend hat die Koalition im
Rechtsausschuss gestern angekündigt, dass sie auf die
Teilnahme an dem Testlauf verzichten wolle, da sich in
der Sommerpause ein geordnetes Verfahren nicht sicherstellen lasse. Diese Aussage ist feige und unehrlich. Die
Ausschüsse des Bundestages haben bereits seit Monaten
ein Verfahren für die Sommerpause abgestimmt, das den
Besonderheiten dieser Zeit Rechnung trägt. Die Entscheidung der Koalition liegt nur darin begründet, dass es ihnen
offensichtlich nicht gelingt, eine gemeinsame Stellungnahme zu dem EU-Vorschlag zu formulieren. Während die
SPD gegenüber den europäischen Plänen aufgeschlossen
ist, werden sie von der Union abgelehnt. Wir erinnern uns
noch gut an den Unmut im Deutschen Bundestag vor einigen Jahren, als die ungeliebten EU-Antidiskriminierungsrichtlinien in deutsches Recht umzusetzen waren.
Übereinstimmend haben die Fraktionen festgestellt, dass
der Bundestag seinerzeit bei der Verabschiedung der entsprechenden Richtlinien in Brüssel seine Beteiligungsrechte nur unzureichend wahrgenommen hat. Die Koalition scheint aus diesen Vorgängen nichts gelernt zu
haben. Der Bundestag muss schnellstens eine Position zu
dem Kommissionsvorschlag entwickeln und frühzeitig die
nationalen Interessen einbringen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat bislang die Einlassung der Bundesregierung
begrüßt, wonach zunächst die Erfahrungen mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz abgewartet werden
sollen, bevor neue Richtlinien aus Brüssel verabschiedet
werden. Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion muss
diese Haltung nach wie vor Bestand haben. Wir fordern
die Koalition auf, sich umgehend zu positionieren und
den Bundestag an der Entscheidungsfindung angemessen
und frühzeitig zu beteiligen.
Bereits im Juni 2006 hatte die Fraktion Die Linke zur
zweiten und dritten Beratung des Gesetzentwurfs der
Bundesregierung einen Entschließungsantrag zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des
Grundsatzes der Gleichbehandlung mit der Drucksachennummer 16/2034 eingebracht. Neben Ausgestaltungsmängeln im Einzelnen litt der damalige Gesetzentwurf der Bundesregierung vor allem darunter, dass er
nicht alltagstauglich war. Für die vorrangig von Diskriminierung Betroffenen war er ein schwaches Instrument
zur Durchsetzung ihrer unantastbaren Menschenwürde
und des Diskriminierungsverbots. Die Umsetzungsgesetzgebung zielte ganz eindeutig auf ein möglichst niedriges Schutzniveau gegen Diskriminierung. Wir wollten
europarechtswidrige Vorschriften jedenfalls nicht unterstützen. Unsere damalige Forderung, den durch die Bundesregierung eingebrachten Gesetzesentwurf grundlegend zu novellieren, wurde aber mehrheitlich abgelehnt.
Selbst die Grünen, die ja stetig Anträge einbringen, haben sich auf den faulen Kompromiss damals eingelassen
und dem Gesetzentwurf ihre Zustimmung nicht verweigert.
Ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetzes, AGG, zeigt sich, wie berechtigt unsere damalige Kritik und Forderungen waren.
Auch der Antidiskriminierungsverband Deutschland äußerte seine wesentliche Kritik an dem Gesetz. In seiner
Stellungnahme begründete er diese anhand von konkreten Beispielsfällen. Kritik an der Umsetzung der EURichtlinie kommt aber auch von der EU-Kommission. Sie
hat sogar ein erneutes Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik eingeleitet. Dabei hat sie die
Bundesregierung zur Stellungnahme eben auch zu jenen
Punkten aufgefordert, die wir im damaligen Gesetzgebungsverfahren problematisiert haben.
Durch die Kritik der EU-Kommission bestätigt, haben
wir nun diesen vorliegenden Antrag eingebracht, der unsere damals vorgebrachte Kritik nochmals aufgreift. Das
ist umso notwendiger, da die Bundesregierung nach wie
vor an ihrer europarechtswidrigen Umsetzung der EUAntidiskriminierungsrichtlinie festhalten will. Ja, sie will
sogar verhindern, dass die EU-Kommission einen erweiterten Schutz für alle Diskriminierungsmerkmale auch
für das gesamte Zivilrecht durch Richtlinien festlegt.
Unser Antrag will speziell noch einmal das Ineinandergreifen von Rechten und deren Durchsetzbarkeit anmahnen. Aufgegriffen wird deshalb neben der bereits erwähnten Kritik der EU-Kommission, auf die ich noch
zurückkommen werde, vor allem die Kritik des Antidiskriminierungsverbandes Deutschland. Dessen Stellungnahme zum einjährigen Bestehen des AGG verdeutlicht
einmal mehr an typischen Praxisfällen, welche Probleme
bei dessen Anwendung entstehen. Hinsichtlich niedrigschwelliger Anlaufstellen für Betroffene liest sich die Kritik wie folgt:
Ohne unabhängige, regionale Antidiskriminierungsbüros oder -stellen und ohne wirksame Instrumente zur Rechtsdurchsetzung bleiben Antidiskriminierungsgesetze nur Lippenbekenntnisse.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dass bisher so wenig Fälle zum AGG anhängig seien,
liege nicht daran, dass Diskriminierung wenig verbreitet
sei.
Diese Förderung der regionalen Beratungsstellen ist
keine Bundesangelegenheit. Dennoch ist es wichtig, wenn
der Bundestag hier ein Signal an die Länder sendet. Ein
weiteres Signal ist für den Bereich der Bildung erforderlich, wo die Länder die Verantwortung tragen, die europäischen Richtlinien umzusetzen.
Anders sieht es bei den nachfolgenden Kritikpunkten
aus; hier wird die Regierung gesetzliche Vorschläge vorlegen müssen. So kann sich betreffend des von uns vehement eingeforderten Verbandsklagerechts für die Antidiskriminierungsverbände die Bundesregierung nicht
rausreden. Hier ist es eindeutig, dass die Bundesregierung die Möglichkeit erschweren will, sich gegen Diskriminierung zu wehren. Für viele Betroffenen ist gerade das
Verbandsklagerecht von immenser Bedeutung. Ihnen
fehlt es an Zeit, Energie und Geld, sich selbst gerichtlich
zu wehren. Viele Diskriminierungen setzen sich damit
letztlich schon an dieser Stelle gegen das eigentlich bestehende Recht nach dem AGG faktisch durch. Auch bezogen auf die Beweislasterleichterung ist die Bundesregierung in der Verantwortung. Wir wollen, dass es zu einer
Beweislastumkehr kommt. Darüber hinaus ist der Vorschlag aus der Praxis, ein Auskunftsrecht gegenüber den
Unternehmen einzuführen, zu debattieren, ganz zu
schweigen von den absurden Rechtfertigungsgründen
und Ausnahmen hinsichtlich des Diskriminierungsschutzes, beispielsweise die diesbezügliche Ausnahme vom
Massengeschäft bei der Wohnungsvermietung.
Schutzlücken gibt es unter anderem auch bei der unterschiedlichen Behandlung aufgrund des Geschlechts im
Arbeitsrecht. Darüber hinaus ist die Ausnahmeregelung
für unterschiedliche Behandlung durch Religionsgemeinschaften nicht angemessen geregelt. Aber die Bundesregierung schafft es ja nicht einmal, diskriminierungsfrei
gegenüber ihren eigenen Beamtinnen und Beamten zu
agieren. Im Zusammenhang mit der Anhörung zur Lebenspartnerschaft der Fraktion Die Linke haben wir diesen Skandal bereits thematisiert. So diskriminiert die
Bundesregierung im Bereich der Beamtenversorgung
Personen in eingetragenen Lebenspartnerschaften wegen ihrer „sexuellen Ausrichtung“ hinsichtlich Beihilfe,
Familienzuschlag und Witwen- und Witwergeld. Auch die
anderen, wie beispielsweise die steuerlichen, Unterschiede in der Behandlung von Ehen und eingetragenen
Lebenspartnerschaften müssen sofort abgeschafft werden. Der Staat spielt hier eine Vorreiterrolle der ganz üblen Art.
Aber in noch einer anderen Art! Die neoliberale Logik
und Politik der Bundesregierung - also die zunehmende
Durchdringung aller Lebensbereiche wie Gesundheit,
Bildung, öffentliche Dienste und andere durch das Marktprinzip à la „Standortpolitik bzw. -logik“ - zieht sich
komplett durch ihre ({0})Diskriminierungspolitik. Diskriminierungsschutz ja, aber nur, wenn es nichts kostet
bzw. den Unternehmen und der Wirtschaft nicht schadet.
Trotzdem ist es verwunderlich, dass die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Frau Dr. Köppen, in
einem Artikel in der „FAZ“ vor einer Erweiterung des
Diskriminierungsschutzes gewarnt hat. Nach ihrer Ansicht braucht der Schutz nicht hinsichtlich aller Diskriminierungsmerkmale auch im Zivilrecht auf ein höheres Niveau gestellt werden. Frau Köppen sollte vielleicht lieber
bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände anheuern. Dort steht Demokratie ohnehin immer unter Finanzierungsvorbehalt.
Zu guter Letzt möchte ich auf einen Punkt eingehen,
der mir besonders am Herzen liegt. Die vorhandenen Diskriminierungsmerkmale sind nicht umfassend. Ein entscheidender Ansatzpunkt millionenfacher Erniedrigung
und Benachteiligung taucht beim Diskriminierungsschutz nicht auf: die soziale Herkunft und die sozialen Lebensumstände. Soziokulturelle Herkunft und sozialer Status haben in der kapitalistischen Gesellschaft eine sehr
große Auswirkung auf die Behandlung der Einzelnen und
ziehen eine daran anknüpfende Diskriminierung nach
sich. Das Merkmal bietet in vielfältiger Weise Anknüpfungspunkte für sozial verwerfliche und rechtsstaatlich
unerträgliche Benachteiligungen. Sozial ausgegrenzt
werden nicht nur Millionen Erwerbslose, sondern zum
Beispiel auch Menschen aus bestimmten Stadtteilen und
Regionen, denen Leistungen des „vertragsfreien Markts“
wie Funktelefon etc. nie zuteil werden.
Eine der Auswirkungen der digitalen Erfassung kann
beispielsweise schon dazu führen, dass man keinen Kredit
bekommt, wenn man eine Wohnung im „falschen“ Stadtteil hat. Beschwerden aus den unterschiedlichen Lebensbereichen von Millionen Bürgerinnen und Bürgern stapeln sich schon bei den Verbraucherschützern. Meist geht
es um das sogenannte Verfahren „Scoring“ oder „Redlining“. Diese Verfahren helfen zum Beispiel Unternehmen, aus käuflichen Informationen und Daten über die
Bevölkerung so etwas wie eine Matrix des Makels zu erstellen, bei der Kunden aus bestimmten Regionen schon
aufgrund ihres Wohnortes zu potenziellen Problemfällen
werden. Anwohner von sogenannten Sperrbezirken werden diskriminiert, etwa wenn sie in Callcentern anrufen
und allein wegen der Herkunft ihrer Festnetznummer in
der Warteschlange nach hinten durchgereicht werden.
Die soziale Diskriminierung betrifft somit auch Bereiche, die sich eklatant auf die Betroffenen auswirken nämlich auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Benachteiligungsverbote sind in diesen Bereichen durch Einschränkungen sogleich wieder abgeschwächt worden. So
ist „eine unterschiedliche Behandlung im Hinblick auf
die Schaffung und Erhaltung sozialer stabiler Wohnstrukturen und ausgewogener Siedlungsstrukturen sowie ausgeglichner wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Verhältnisse“ zulässig. Derart offen und allgemein gehaltene
Formulierungen lehnt Die Linke ab, denn sie öffnen Diskriminierung im Wohnbereich Tür und Tor und führen das
Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz im Grunde ad absurdum.
Wir wollen einen effektiven Diskriminierungsschutz
verwirklichen. Das Gesetz soll grundsätzlich auf alle
Rechtsgebiete Anwendung finden, es sei denn, spezialgesetzlicher Schutz ist weitergehend. Damit würde das Gesetz wirksamen Schutz bieten und eine Gleichbehandlung
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
fördern, wie sie auch durch die Art. 1, 3 und 20 des
Grundgesetzes vorgegeben ist. Nur durch eine solche generelle Anwendbarkeit des Gesetzes ist Rechtssicherheit
gewährleistet, so dass allen Bürgerinnen und Bürgern
und allen staatlichen Stellen ersichtlich ist, welches Verhalten rechtswidrig ist. Darüber hinaus ist uns ein zentrales Anliegen, dass die „soziale Herkunft oder die sozialen
Lebensumstände“ als Diskriminierungstatbestand in den
Katalog des AGG aufgenommen wird.
Der Schutz vor Diskriminierung in Deutschland ist unzureichend. Der in dieser Woche veröffentlichte Bericht
der EU-Grundrechteagentur zeigt erneut: Das nationale
Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ({0}) greift bisher kaum. Im Jahr 2007 gab es in Deutschland keine einzige Sanktion wegen rassistischer oder fremdenfeindlicher Diskriminierung - im Gegensatz zu vergleichbaren
europäischen Ländern. Auch in anderen Bereichen gibt
es wenig Urteile, und die Summen der Entschädigungsund Schadensersatzzahlungen sind gering. Das Gerede
über Gefahren für den Wirtschaftsstandort Deutschland
ist ebenso abwegig wie Warnungen vor der Belastung der
Gerichte.
Der Antrag der Linken weist in eine ähnliche Richtung
wie die bereits vorliegenden Anträge von Bündnis 90/Die
Grünen: Entschließungsantrag „Europäisches Jahr der
Chancengleichheit für alle“ ({1}) und Antrag „Das
europäische Antidiskriminierungsrecht weiterentwickeln“ ({2}). Zu diesen Anträgen wird am
15. Oktober eine Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss stattfinden. Dazu steuert Die Linke nun einen
eigenen Antrag bei.
Wir brauchen zweierlei: Erstens: Eine Nachbesserung
des deutschen Antidiskriminierungsrechts. Die bestehenden Richtlinien müssen vollständig und europarechtskonform umgesetzt werden. Schwarz-Rot hat beim AGG Abstriche vom rot-grünen Entwurf vorgenommen. Die Folge
von Abweichungen vom Europarecht sind Vertragverletzungsverfahren.
In ihren Mahnschreiben beanstandet die Europäische
Kommission unter anderem: Diskriminierte haben nur
zwei Monate Zeit, um Schadensersatzansprüche geltend
zu machen. Die Beteiligung von Antidiskriminierungsverbänden an Gerichtsverfahren ist zu stark beschränkt. Im
AGG fehlen Regelungen zum Schutz vor Entlassungen.
Die Sanktionsregelungen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote sind unzureichend. Sie setzen ein Verschulden des Arbeitgebers voraus. Das war in früheren
Gesetzen zum Schutz vor Diskriminierung aufgrund des
Geschlechts oder einer Behinderung nicht der Fall. Im
Beamtenrecht sind Lebenspartnerschaften gegenüber
Ehen benachteiligt hinsichtlich Beihilfe, Familienzuschlag, Witwen- oder Witwergeld. Die Ausnahmeklauseln
für Kirchen und Religionsgemeinschaften sind zu weit gefasst.
Zudem sind vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen Verbesserungsvorschläge von Sachverständigen und Nichtregierungsorganisationen zu berücksichtigen. Dazu gehört auch eine aktivere Arbeit der
Antidiskriminierungsstelle des Bundes.
Zweitens: Das europäische Antidiskriminierungsrecht
muss weiterentwickelt werden. Statt den Fortschritt auf
europäischer Ebene zu blockieren, sollte die Bundesregierung das vom Europäischen Parlament unterstützte
Vorhaben der Kommission, eine neue, umfassende Rahmenrichtlinie vorzulegen, unterstützen. Für die Merkmale Geschlecht, Alter, Behinderung, Religion/Weltanschauung und sexuelle Orientierung ist europaweit
zumindest der hohe Schutzstandard erforderlich, der gegen Diskriminierung aufgrund von „Rasse“ oder ethnischen Herkunft besteht.
Der Grundsatz „gleiches Recht für alle“ ist im AGG
bereits verwirklicht. In diesem Punkt ist das deutsche
Recht dem europäischen ausnahmsweise einmal voraus.
({3}) Es ist in Europa niemandem vermittelbar, wenn sich
ausgerechnet Deutschland dagegen sperrt, dass dieser
richtige Ansatz auch im Europarecht verankert wird.
Es ist schön, dass nun auch die Linke das Thema Antidiskriminierung entdeckt hat und dass sie zumindest bei
diesem Thema ihre Europhobie suspendiert. Das Prinzip
der Nichtdiskriminierung ist einer der Grundpfeiler der
Europäischen Union. Mit dem von der Linken abgelehnten Vertrag von Lissabon würde die Antidiskriminierungspolitik noch weiter ins Zentrum der europäischen
Politik rücken. Fortschritte könnten nicht mehr so einfach durch Njet-Sager wie die deutsche Bundesregierung
blockiert werden. Zudem würde die Europäische Grundrechte-Charta rechtsverbindlich, in der es heißt: „Diskriminierungen …wegen … der sexuellen Ausrichtung sind
verboten.“
Statt Tiraden über die angeblich turbokapitalistische
EU loszulassen, stützt sich die Linke in diesem Antrag
völlig zu Recht auf die Positionen der Europäischen
Kommission, die auch vom Europäischen Parlament mit
breiter Mehrheit geteilt werden und der Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs entsprechen. Dass nun
die Linke dieses Anliegen unterstützt, bedeutet allerdings
nicht umgekehrt, dass es sich beim Antidiskriminierungsrecht um ein sozialistisches Projekt handelte, wie Union
und FDP glauben machen. Vorreiter bei der Antidiskriminierung sind Länder wie Großbritannien und Irland. Von
diesen Ländern wird sich kaum behaupten lassen, dass
dort der Sozialismus ausgebrochen oder die Wirtschaft
zusammengebrochen wäre.
Auch in Deutschland haben moderne Unternehmen in
Deutschland längst erkannt, dass Diskriminierung sie
langfristig viel teurerer zu stehen kommt als Maßnahmen
gegen Diskriminierung. Warum soll es also erlaubt sein,
Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihres Alters, einer Behinderung, ihres Glaubens oder ihrer
sexuellen Identität von gleichen Arbeits- und Aufstiegschancen auszuschließen oder sie beim Zugang zu Gütern
und Dienstleistungen zu benachteiligen? Diskriminierung verzerrt den Wettbewerb. Dieser Verfälschung des
Marktes kann mit Mitteln des Rechts entgegengewirkt
werden. Darum setzen sich europaweit auch Liberale für
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Volker Beck ({4})
eine effektive Antidiskriminierungsgesetzgebung ein. Die
Liberalen stimmten am 20. Mai 2008 einer Entschließung
des Europaparlaments zu, in der Maßnahmen für einen
effektiveren Schutz vor Diskriminierung gefordert werden. Nur eine liberale Partei stimmte dagegen: die deutsche FDP.
Antidiskriminierung ist aber an sich weder ein linkes
noch ein rechtes Projekt. Es geht nicht um Ideologie, sondern um die Gewährleistung von Grundrechten. Es sollte
im Sinne aller Parteien sein, dem Grundsatz der gleichen
Menschenwürde Geltung zu verschaffen.
Es ist bedauerlich, dass ein für das Zusammenleben in
einer Gesellschaft so wichtiges Thema wie das Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsrecht in diesem Hause
unter Ausschluss der Öffentlichkeit mitten in der Nacht
abgehandelt wird. Dabei wären die Entwicklungen der
letzten Monate Grund genug gewesen, wieder vor aller
Augen und Ohren darüber zu debattieren, wer und warum
in Deutschland benachteiligt wird.
Ich erinnere mich mit Grausen an das Feilschen der
Koalitionspartner, als das Gesetz vor zwei Jahren verabschiedet wurde. Herausgekommen ist ein unzulänglicher
Kompromiss, den Anfang dieses Jahres auch die Europäische Kommission beanstandet hat. Bisher aber hat die
Bundesregierung noch keinerlei Anstalten gemacht, auf
die Vorhaltungen durch den zuständigen EU-Kommissar
Spidla zu reagieren. Deshalb ist der Antrag der Fraktion
Die Linke berechtigt und notwendig.
Es ist bekannt, dass die Bundesjustizministerin keinerlei Nachbesserungsbedarf sieht und der CSU-Landesgruppenchef lieber über Herrn Spidla herzieht, als die
Mahnungen ernsthaft zu prüfen. Diese Mahnungen könnten auch als willkommener Anlass genommen werden,
das Gesetz an der einen oder andere anderen Stelle nachzubessern.
Warum wehrt sich die Union so vehement dagegen,
dass ein Partner aus einer eingetragenen Lebenspartnerschaft nach dem Tod des Gefährten Anrecht auf Witwenoder Witwergeld erhält? Dadurch würde mitnichten, wie
die CSU es behauptet, eine solche Partnerschaft der Familie gleichgestellt. So weit sind wir in Deutschland
lange noch nicht.
Warum erhalten die Kirchen in Deutschland Sonderrechte, wenn es um die religiöse Diskriminierung geht?
Das beste, gern verwendete Beispiel ist die Reinigungskraft, die in einer katholischen Schule nicht putzen darf,
weil sie selbst nicht katholisch ist. Das klingt nicht nur
absurd, es ist absurd. Aber es ist vorgekommen.
Gestern ließ die „Financial Times Deutschland“ verlauten, dass Brüssel im Streit um die Diskriminierungsrichtlinie entgegenkommen wolle, weil insbesondere
Unionsparteien und Wirtschaftsverbände Sturm liefen.
Worte wie „Bürokratieungeheuer“ ({0}), „EUÜberregulierung“ ({1}) machten die Runde,
und der Arbeitgeberpräsident Hundt war der Richtlinie
wegen mit „allergrößter Sorge“ erfüllt und befürchtete
Zusatzkosten, mehr Bürokratie und Rechtsunsicherheit
für die Betriebe.
Für meinen Teil kann ich nur hoffen, dass die Meldung
aus der „FTD“ nicht der Realität entspricht. Antidiskriminierung ist halt nicht zum Nulltarif zu haben. Der Gesetzentwurf, den der EU-Kommissionsvorsitzende
Barroso am 2. Juli vorlegen will - das Europaparlament
hatte die Verschärfungen beschlossen -, wird es zeigen.
Fest scheint aber zu stehen, dass in einigen Ländern
- und leider eben auch in Deutschland - die bereits geltenden Richtlinien nur unzureichend umgesetzt werden.
Der am Dienstag veröffentlichte Bericht der zuständigen
EU-Grundrechteagentur ({2}) macht dies mehr als
deutlich. Bis Ende 2007 sind in diesem Land keinerlei
Sanktionen wegen Diskriminierung aus rassistischen
oder ethnischen Gründen verhängt worden. Mir kann niemand erzählen, dass es solche Diskriminierungen nicht
gegeben hätte. In Großbritannien kam es im gleichen
Zeitraum zu 95 Geldstrafen allein wegen Diskriminierung am Arbeitsplatz.
Wir täten also gut daran, uns selbst etwas mehr auf die
Finger zu schauen und Mahnungen, die anscheinend berechtigt vonseiten der EU ausgesprochen werden, ernst
zu nehmen.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9637 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine Einwände.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rahmenbedingungen für eine nachhaltige internationale Investitionspolitik schaffen Multilaterale Regeln für Staatsfonds entwickeln
- Drucksache 16/9612 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Hierzu hätten die Kollegen Alexander Dobrindt,
Dr. Ditmar Staffelt, Rainer Brüderle, Ulla Lötzer sowie
Kerstin Andreae Reden halten können, die sie aber freiwillig zu Protokoll geben.
Die globale Finanzwirtschaft stellt uns vor neue Aufgaben: Alle Wirtschaftszweige werden zum internationalen Investitionsobjekt, und gleichzeitig spielen nationale
Interessen keine Rolle mehr.
Die Politik muss allerdings in der Lage sein, diese
nationalen Interessenlagen gegenüber nicht marktwirtschaftlich begründeten Investitionen zu schützen. DesweAlexander Dobrindt
gen ist es richtig, eine Investitionskontrolle bei begründeter Gefahr für die öffentliche Sicherheit einzuführen.
Unser Ziel ist es, die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft auch im globalen Ordnungsrahmen zu verankern. Gerade im Jahr 2008, nach 60 Jahren sozialer
Marktwirtschaft, wollen wir diesen Prinzipien treu bleiben.
Wir wissen, eine Freiheit ohne Ordnung führt zu Unfreiheit und Ungerechtigkeit. Wir wissen ebenso: Freiheit
und Verantwortung gehören zusammen. Wir wollen einen
weltweiten Wettbewerb, in dem Freiheit und Fairness
gleichermaßen gewährleistet sind. Wir müssen für eine
nationale, strategische Standortpolitik mit dem Ziel stehen, die Zukunftsfähigkeit Deutschlands in Europa und
der Welt zu gewährleisten. Wir wollen den Menschen in
unserem Land auch im Zeitalter der Globalisierung die
Freiheit der Entfaltung garantieren und eine verlässliche
Umwelt schaffen. Dadurch können wir den Menschen
Chancengleichheit bieten.
Dafür müssen wir unsere nationalen Interessen definieren und uns für deren Durchsetzung auf europäischer
bzw. globaler Ebene einsetzen. Das Risiko der Globalisierung darf und kann nicht der einzelne Mensch - das Individuum - abfedern. Hier muss die Politik einspringen
und den Menschen und den Unternehmen in Deutschland
zur Seite stehen. Es ist eben auch unsere Aufgabe, Gefahren zu erkennen und zu bannen.
Ausländische Staatsfonds können attraktive Investoren
sein, müssen sie aber nicht. Genau aus diesem Grund sind
wir für eine staatliche Prüfmöglichkeit von Investitionen,
die die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden
könnten. Daher begrüße ich die Absicht des Bundeswirtschaftsministers Michael Glos, das Außenwirtschaftsgesetz zu ändern und eine Kontrollmöglichkeit bei ausländischen Direktinvestitionen in deutsche Unternehmen
einzubauen. Wir wissen: Deutschland ist weltweit einer
der attraktivsten Investitionsstandorte und profitiert seinerseits von offenen Märkten.
Im „Weltinvestitionsbericht 2007“ der UNCTAD rangiert Deutschland unter den zehn attraktivsten Investitionsstandorten. Ausländische Unternehmen investierten
bei uns mit knapp 43 Milliarden US-Dollar rund 20 Prozent mehr als noch im Jahr 2005. Seit 2005 stiegen die
deutschen Auslandsinvestitionen um 43 Prozent auf
knapp 80 Milliarden US-Dollar. Deutsche Unternehmen
sichern mit ihren Investitionen rund 5 Millionen Arbeitsplätze im Ausland, und umgekehrt sind 2,2 Millionen
Deutsche für ausländische Arbeitgeber im Inland tätig.
Mit anderen Worten: Für Deutschland ist die Investitionsfreiheit ein Stützpfeiler für Wirtschaftswachstum, Wohlstand und Beschäftigung.
Aus gutem Grund haben wir uns dafür eingesetzt, die
Investitionsfreiheit in der G-8-Gipfel-Erklärung von Heiligendamm hervorzuheben. Unser Land soll offen bleiben
und es wird offen bleiben. Aus gutem Grund unterstützt
Deutschland beispielsweise den Internationalen Währungsfonds bei seiner Forderung nach mehr Transparenz
und Verhaltensregeln für Staatsfonds. Denn es ist nicht
auszuschließen, dass einzelne ausländische Erwerber mit
ihren Investitionen auch politische Ziele verfolgen. In
diesen sehr engen Ausnahmefällen muss die Regierung
Kontrollmöglichkeiten haben.
Daher gibt es einen Gesetzentwurf, der vorsieht, Investitionsvorhaben auf ihre Vereinbarkeit mit der öffentlichen Sicherheit überprüfen zu können. Die Prüfung einer
Investition soll an enge Fristen gebunden sein, um Unternehmen und Investoren möglichst viel Rechtssicherheit zu
geben. Konkret soll sich die Prüfungspflicht nur auf Investitionen beschränken, die die öffentliche Sicherheit
oder Ordnung gefährden. Das von der Bundesregierung
vorgelegte Gesetz würde seine beste Wirkung entfalten,
wenn es in der Praxis nie angewandt werden müsste. So
wird es dann seiner beabsichtigten, abschreckenden Wirkung gegenüber unerwünschten Staatsfonds voll gerecht.
Zusammengefasst: Die Zielrichtung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung ist ausschließlich der Schutz
der nationalen Sicherheit. Das grundsätzliche Bekenntnis
zur Investitionsfreiheit wird dabei nicht infrage gestellt.
Aber ein gesetzlicher Schutz sensibler deutscher Firmen
vor Übernahmen fragwürdiger ausländischer Investoren
ist nur ein konsequenter Schritt, die soziale Marktwirtschaft in Deutschland zu stärken.
Uns liegt der Antrag der Grünen „Rahmenbedingungen für eine nachhaltige internationale Investitionspolitik schaffen - Multilaterale Regeln für Staatsfonds entwickeln“ vor, indem sich die Grünen zum Umgang mit den
Staatsfonds und anderen Fonds äußern.
Was fordern die Grünen in ihrem Antrag? Die Grünen
stellen 14 Forderungen zur Investitionskontrolle von
Staatsfonds und anderen Fonds an die Bundesregierung.
Im Wesentlichen wollen die Grünen keine nationalen Einzellösungen, sondern fordern die Bundesregierung auf,
internationale Gemeinschaftslösungen anzuregen. Die
Grünen sprechen dabei durchaus viele Punkte an, die von
uns geteilt werden. Wir unterstützen ausdrücklich, dass
zunehmend mehr vereinbarte globale Standards in den
globalen Institutionen durchgesetzt und angewendet werden. Das gilt unter anderem für soziale und ökologische
Standards in der WTO, wie auch von den Grünen gefordert.
Multilaterale Regeln allgemein zu formulieren wie in
dem vorliegenden Antrag, reicht hier jedoch nicht. Die
Bundesregierung hat bereits eine solche Initiative im
Rahmen des Heiligendamm-Prozesses angestoßen und
damit mehr erreicht, als wir uns vorstellen konnten. Unter dem deutschen Vorsitz haben die G-7-Finanzminister
beispielsweise den von den Grünen in diesem Antrag geforderten Dialog mit den Staatsfondsländern begonnen,
um so die Forderung der Transparenz insbesondere bei
dem Anlageverhalten von Staatsfonds zu unterstützen.
Die Bundesregierung handelte hier deutlich schneller als
die Grünen, die erst mit diesem Antrag diese Forderung
stellen. Initiiert durch die deutsche Bundesregierung baten die G-7-Finanzminister sowohl den IWF, Verhaltensregeln für die Staatsfondsländer, als auch die OECD, Verhaltensregeln für die Empfängerländer zu erarbeiten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Insgesamt behandeln die Grünen einen sehr komplexen Bereich leider nur sehr allgemein. Es wird mit Überschriften gearbeitet, statt konkret tiefer in die Materie
einzusteigen. Das wird beispielsweise deutlich, wenn die
Grünen fordern, dass „monopolistische und oligopolistische Strukturen“ verhindert werden müssen. Hier finden
sich Formulierungen, die in der Sache nicht weiterführen.
Und bitte sagen sie uns: Wer will die Einstufung von
Investoren als marktgefährdend vornehmen und für verbindlich erklären, wie von Ihnen in Punkt 12 gefordert?
Wo und wer will Grenzen ziehen zwischen den Staatsfonds
in Norwegen, in den Emiraten, in Russland, in China und
anderswo? Dies alles wird ein sehr behutsamer Prozess
sein müssen. Nur so wird eine globale Verbindlichkeit erreicht werden können. Ihr Antrag ist leider ein zu allgemeines Sammelsurium von Einzelmaßnahmen und politischen Absichtserklärungen.
Die Grünen verlangen in ihrem Antrag multilaterale
Maßnahmen. Die Bundesregierung möge sich „für ein
multinationales Investitionsabkommen auf globaler
Ebene“ einsetzen. Dieser Ansatz der Grünen, einheitliche
Lösungen in den internationalen Gremien wie EU und
IWF zu finden, ist zwar durchaus begrüßenswert, jedoch
wird sich dieser Wunsch aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in den internationalen Institutionen kurzfristig
kaum durchsetzen lassen. Deshalb werden wir zunächst
national agieren müssen, ohne dabei das Augenmaß für
die Investitionsfreiheit zu verlieren.
Wir teilen die Ansicht der Grünen, dass der Deutsche
Bundestag Instrumente der Investitionskontrolle in
Deutschland dann ablehnen sollte, „wenn sie die Planungs- und Rechtssicherheit für die Investoren und den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der klaren Kalkulierbarkeit missachten und rein als nationale Abwehrstrategie gestaltet sind“. Gleichwohl wird über das Außenwirtschaftsgesetz ein Instrumentarium eingeführt, das
Deutschland vor unzulässigen Eingriffen schützt.
Es wird derzeit ein Gesetzentwurf durch die Bundesregierung erarbeitet, das diesem Ziel im Ausnahmefall dienen soll. Damit wird Deutschland das nachvollziehen,
was in den USA und anderen europäischen Ländern wie
Frankreich, Großbritannien, Schweden und Italien längst
gilt. Dabei geht es nicht darum, einen Generalverdacht
gegenüber Staatsfonds oder anderen Investoren zu begründen, sondern eventuelle Risiken für die nationalen
Sicherheitsinteressen abzufedern. Dazu wird das derzeitige Außenwirtschaftsgesetz um ein Prüfverfahren erweitert werden, das den Erwerb von ausländischen Investitionsbeteiligungen an nationalen Unternehmen in
seltenen und gut begründeten Fällen prüfen soll. In Fällen, in denen die Investition die öffentliche Ordnung und
Sicherheit gefährdet, soll eine Beteiligung untersagt und
so das nationale Sicherheitsinteresse gewahrt werden
können.
Wir sollten bei allen Regelungen immer darauf achten,
dass Deutschland selbstverständlich ein großes Interesse
an ausländischen Investitionen hat. Bereits heute sind
ausländische Investoren für die Erhaltung von zahlreichen Arbeitsplätzen verantwortlich und im Bereich der
Zukunftsindustrien wichtige Partner. Die Bundesregierung muss dafür Sorge tragen, dass der deutsche Wirtschaftsstandort weiterhin für internationale Investitionen
attraktiv bleibt. Nur so können wir unsere Stellung als Exportland dauerhaft erhalten.
Wir erwarten, dass der G-8-Gipfel in Japan im Juli
2008 einen weiteren internationalen Anstoß in Fragen
der Staats- und Hegdefonds, Private-Equity-Unternehmen und damit für die Transparenz und Kontrolle der globalen Finanzmärkte geben wird. Der Bundestag tut gut
daran, sich dieses Themas weiter anzunehmen. Dies
sollte jedoch konkreter erfolgen, als es die Grünen mit ihrem Antrag tun. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab.
Deutschland profitiert vom internationalen Handel
und der Globalisierung wie kaum ein Land sonst. Deutsche Produkte sind fast überall auf der Welt gefragt. Umgekehrt bietet der Welthandel uns Produkte und Dienstleistungen, die wir selbst gar nicht oder nur deutlich
teurer herstellen könnten.
Wir profitieren auch von ausländischem Kapital, das
in deutsche Unternehmen investiert wird. Das schafft Arbeitsplätze bei uns und erhöht unseren Wohlstand. Diese
Freiheit des Kapitalverkehrs müssen wir uns erhalten. Sie
ist nicht zuletzt unverzichtbarer Bestandteil des europäischen Binnenmarkts und Grundlage unserer Wirtschaftsordnung. Protektionistischen Tendenzen, wie sie in der
Diskussion um die Abschottung Deutschlands gegenüber
ausländischen Staatsfonds in den vergangenen Monaten
immer wieder bedient wurden, sollte der Bundestag nicht
nachgeben. Sorgen, ausländische Eigentümer könnten
unser Land lahmlegen wollen, sind unbegründet. Das sehen offensichtlich auch die Bundesregierung und deutsche Staatsunternehmen wie die Deutsche Bahn so, wenn
sie jetzt aktiv um Investitionen der russischen Staatsbahn
werben.
Auf Wettbewerbsmärkten ist es kein Problem, wenn ein
Unternehmen auch ausländische Staaten als Eigentümer
hat. Um in der Konkurrenz bestehen zu können, müssen
sich alle ökonomisch verhalten. Auch China will keine
Milliarden an Staatsvermögen in den Sand setzen. Hier
brauchen wir also überhaupt keine Beschränkungen, weder Meldepflichten noch besonders geschützte einzelne
Betriebe.
Wenn durch Unternehmensübernahmen die Struktur
eines Marktes gefährdet wird, ist es Aufgabe des Kartellamts, dies zu prüfen und gegebenenfalls einzuschreiten.
Das Bundeskartellamt war in den 50 Jahren seines bisherigen Bestehens immer ein Garant dafür, dass der Wettbewerb in Deutschland geschützt wird und sich Monopolisierungstendenzen nicht durchsetzen können. Warum
sollten die Wettbewerbshüter in Zukunft nicht genauso erfolgreich weiterarbeiten? Selbstverständlich ist es nicht
sinnvoll, ein staatliches, halbstaatliches oder privates inländisches Monopol durch ein ausländisch beeinflusstes
Monopol zu ersetzen. Die Antwort kann aber nicht Abschottung lauten; die Antwort muss Wettbewerb lauten.
Wettbewerb ist und bleibt das beste Entmachtungsinstrument.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es gibt natürlich Märkte, auf denen sich Wettbewerb
nicht durchsetzen lässt. In Märkten mit natürlichen Monopolen, auf denen kein Wettbewerb herrschen kann,
muss aber auch nicht zwischen guten und unerwünschten
Investoren unterschieden werden. Hier muss straff reguliert werden, aber nicht mit Eigentumsverboten, sondern
über eine Verhaltensregulierung.
Die FDP hat vorgeschlagen, den Instrumentenkasten
des Kartellamts um ein Entflechtungsinstrument als Ultima Ratio zu erweitern. Wer sich als marktbeherrschendes Unternehmen dauerhaft wettbewerbswidrig verhält,
muss die Konsequenzen zu spüren bekommen. Wenn die
Grünen das in ihrem Antrag jetzt auch aufgreifen, ist das
zu begrüßen.
In der Vergangenheit haben wir uns bemüht, mehr Direktinvestitionen ins Land zu holen, und haben im Ausland dafür geworben. Die Wahrscheinlichkeit, dass ausländische Staatsfonds nun ihre kompletten Reserven in
Deutschland anlegen wollen, ist allerdings gering. Jeder
vernünftige Investor streut seine Anlagen. Wenn die freien
Devisenreserven alle in die G-7-Länder fließen würden,
und zwar proportional zum jeweiligen Bruttoinlandsprodukt der Empfängerländer, wäre das für Deutschland ein
im Vergleich zur Wirtschaftskraft und zu den bestehenden
ausländischen Investitionen eher geringes Volumen. Realistisch dürfte sein, dass sich die ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland künftig um einige Prozent
erhöhen - jedenfalls wenn wir den Investoren keine Knüppel zwischen die Beine werfen.
Mehr ausländische Investitionen in Deutschland sind
alles andere als ein Anlass zur Sorge und schon gar kein
Grund, Industriepolitikern eine Spielwiese für staatliche
Eingriffe in die Wirtschaft zu schaffen - auch nicht für
ökologische und soziale Standards im Kapitalverkehr.
Statt den Freihandel jetzt infrage zu stellen, muss
Deutschland ein ganz anderes Ziel verfolgen: Wir sollten
darauf dringen, dass die Welthandelsorganisation neben
dem Freihandel auch den Wettbewerb schützt. Deutschlands Schicksal hängt von offenen Märkten und mehr
Wettbewerb ab. Wir sollten uns auch auf europäischer
und internationaler Ebene dafür einsetzen, dass die
politische Einflussnahme auf ausländische Direktinvestitionen überall verringert wird. Wir brauchen keinen Protektionismus. Das Außenwirtschaftsgesetz muss internationalen Handel und Investitionen unterstützen und nicht
unterbinden. Deshalb gilt es, international für mehr
Transparenz auf den Kapitalmärkten zu werben und das
Wettbewerbsrecht konsequenter anzuwenden.
Ich begrüße für Die Linke im Bundestag, dass jetzt
auch die Grünen Direktinvestitionen nachhaltig regulieren wollen. Angesichts des gestiegenen Einflusses
grenzüberschreitend tätiger Unternehmen und Finanzinvestoren ist das ein wichtiger Schritt, ihnen gegenüber
Gestaltungsmacht zurückzugewinnen, sie auf Menschenrechte und soziale und ökologische Ziele zu verpflichten. Es ist ein legitimes Interesse der verschiedenen staatlichen Ebenen aus industrie- oder
sozialpolitischen Gründen oder ökologischen Interessen die Kapitalverkehrsfreiheit einzuschränken oder
über öffentliche Unternehmen bzw. öffentliche Beteiligung an privaten Unternehmen, politischen Einfluss auf
das Wirtschaftsgeschehen zurückzugewinnen.
Wir haben deshalb in dieser Legislaturperiode bereits
viele Instrumente dazu vorgelegt. Zum einen Anträge, mit
denen die Interessen von Finanzinvestoren, seien es
Hedgefonds, Private Equity-Fonds oder Staatsfonds, die
mit Übernahmen und Beteiligungen kurzfristig Renditesteigerungen zulasten von Beschäftigung und langfristigen
Interessen des Unternehmes erreichen, eingeschränkt
werden. Ein Mittel dazu ist die gesetzliche Beschränkung
von übermäßig kreditfinanzierten Unternehmenskäufen,
das Verbot von Sonderausschüttungen, sogenannte Goldene Aktien und alle Maßnahmen, die die Haltdauer von
Aktien verlängern.
Da von diesen Entscheidungen vor allem Beschäftigte
betroffen sind, ist für uns der Ausbau der Mitbestimmung
dabei zentral: Beschäftigte müssen rechtzeitig und umfassend informiert werden, wenn ein oder mehrere Investoren für den Kauf von Anteilen in erheblicher Höhe an einem Unternehmen bieten. Nur auf Grundlage frühzeitiger
Information wird es Gewerkschaften und Betriebsräten
möglich, den Verkauf eines Unternehmens oder von Anteilen an einem Unternehmen mit dem Unternehmer zu
beraten und wenn nötig gegen dieses Geschäft initiativ zu
werden.
Betriebsräten und Gewerkschaften ist dazu ein Vetorecht bei wesentlichen Beteiligungen einzuräumen, wenn
diese Arbeitsplätze oder den Bestand des Unternehmens
gefährden und den Gewerkschaften das Recht einzuräumen, die Beteiligung vom Abschluss eines ergänzenden
Tarifvertrags abhängig zu machen. Darüber hinaus fordern wir die Ausweitung der paritätischen Mitbestimmung und der Befugnisse des Aufsichtsrates in diesen
Fragen.
Seit langem diskutiert die Bundesregierung jetzt über
Staatsfonds. Wir werden hoffentlich nach der Sommerpause endlich erfahren, wie sie deren Einfluss auf sensible Unternehmen im Inland begrenzen will. Der beste
Schutz für die Leistungen der Daseinsvorsorge und zentrale Infrastrukturen wie die Deutsche Bahn ist allerdings, sie erst gar nicht zu privatisieren oder wieder in die
öffentliche Hand zu überführen. Solange diese wichtigen
Bereiche aber nicht in öffentlicher Hand sind, treten wir
schlicht und einfach dafür ein, deren Übernahme durch
Finanzinvestoren zu verbieten und damit meinen wir
nicht nur Staatsfonds, sondern auch Hedge-Fonds und
andere.
Die Bundesregierung will sicherheitsrelevante inländische Unternehmen vor dem Einfluss ausländischer Finanzinvestoren schützen. Gleichzeitig betreibt sie auf
internationaler Ebene bei der WTO, im HeiligendammProzess, mit Global Europe und über bilaterale Handelsabkommen die Durchsetzung der Investitionsfreiheit für
die eigenen Exportunternehmen. Das lehnen wir ab.
Wer sich selbst die Regulation von Investitionen zugesteht, muss dies auch anderen Ländern ermöglichen.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, in internaZu Protokoll gegebene Reden
tionalen Verhandlungen das Recht aller Staaten auf Kapitalverkehrskontrollen zu unterstützen, um die Steuerung und soziale sowie ökologische Qualität von Direktinvestitionen in den Geber-, als auch in den Nehmerländern zu garantieren.
Die bisherigen Erfahrungen mit dem von der OECD
vorgelegten multilateralen Investitionsabkommen, MAI,
den WTO-Verhandlungen zum Thema Handel und Investitionen oder den multi- und bilateralen Freihandelsabkommen haben gezeigt, das allein unter dem Dach der
UN ein alternatives multilaterales Investitionsregime entwickelt werden kann, das transnationale Konzerne wirksam auf soziale und ökologische Ziele verpflichtet und die
staatliche Verantwortung für die Leistungen der Daseinsvorsorge absichert.
Seit dem Landtagswahlkampf in Hessen warnt die
Union vor der Macht der Staatsfonds. Im Herbst letzten
Jahres gab es einen Gesetzentwurf, ab 25 Prozent ausländischer Beteiligung an Unternehmen dem Wirtschaftsministerium das letzte Wort zu geben. Erst ging es gegen
Staatsfonds. Dann warnte Wirtschaftsminister Glos vor
dem Einfluss russischer Firmen auf das deutsche Energienetz und verkämpfte sich zeitgleich in Brüssel gegen
eine Regelung, die die Macht im Energiebereich begrenzen und dem Staat mehr Wettbewerbskontrolle ermöglichen soll.
Die Ressortabstimmung hat dieser Entwurf nicht verlassen und machte immer wieder erstaunliche Metamorphosen durch. Da wollte der Arbeitsminister mitreden,
dann sollte das ganze Kabinett entscheiden. Dann verkündete Glos, noch vor der Sommerpause solle es ein Gesetz geben. Jetzt kündigt er es für nach dem Sommer an.
Und - last but not least - jetzt meldet sich auch Roland
Koch wieder zu Wort. Ein Ausweis von Fachkompetenz ist
sein Artikel in der „Financial Times Deutschland“ vom
Montag nicht. Die Beteiligung des chinesischen Staatsfonds an Blackstone zitiert er als Kronzeugen für eine
politisch gesteuerte Einflussnahme. Thema verfehlt: Die
Blackstone-Aktien, die China gekauft hat, sind alle
stimmrechtslos. Was treibt Koch und die Union? Bereiten
sie sich schon auf den nächsten Hessen-Wahlkampf vor?
Richtig: Zunehmend engagieren sich weltweit staatliche Fonds. Viele Menschen befürchten, dass sie die Geschicke der Unternehmen beeinflussen könnten. Deswegen brauchen wir gemeinsame Regeln, die staatlichen
Finanzinvestitionen einen Handlungsrahmen geben. Wir
sollten aber auf Panikmache verzichten. Und wir sollten
kein Gesetz durchwinken, das ausländische Investoren
unter Generalverdacht stellt und dem Investitionsstandort schadet. Eine politische Einflussnahme der Fonds
wird zwar befürchtet, ist aber noch nie erfolgt. Bei
Blackstone hat China selbst bewusst stimmrechtslose Aktien verlangt. Und in der Finanzkrise in der Schweiz hat
der Staatsfonds aus Singapur eine sehr positive Rolle bei
der Absicherung der schwankenden UBS-Bank übernommen.
Wir sollten auch die Größenordnungen klar benennen.
Bei den ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland kommen bisher 0,05 Prozent aus China und 0,2 Prozent aus Russland. Wer da vor einer Verdreifachung des
Engagements warnt, sollte diese Dimensionen klar haben. Er sollte auch wissen, dass wir ausländische Investoren brauchen. Aus Deutschland fließt schließlich doppelt so viel Kapital ins Ausland, wie zurückkommt.
Die internationalen und europäischen Gremien und
Institutionen haben begonnen, multilaterale Lösungswege zu entwickeln. Diese Regelungen müssen auf internationaler oder auf europäischer Ebene weiterentwickelt
und umgesetzt werden. Wir wollen eine verantwortungsbewusste deutsche Beteiligung an der internationalen Regelsetzung und keinen nationalen Alleingang. Protektionismusdrohungen tragen zur Problemlösung nichts bei.
Sie schaden dem Investitionsklima und verunsichern
auch erwünschte langfristig orientierte Anleger.
Unser Antrag zum Thema formuliert einen sinnvollen
deutschen Beitrag zu dieser Debatte. Deutschland sollte
sich einsetzen, für die Beteiligung an multilateralen Investitionsabkommen auf globaler Ebene, für soziale und
ökologische Standards im internationalen Handel sowie
für internationale Regeln, die mehr Transparenz in der
Investitionspolitik der Fonds schaffen.
Statt monatelang Gesetzesänderungen hin- und herzutragen, die in der Sache nichts bringen, soll sich die Bundesregierung für eine gemeinsame europäische Initiative
einsetzen, durch die Investitionsregeln in der EU harmonisiert werden. Machtbegrenzungen in Unternehmen sind
schon lange nötig. Wenn wir sie umsetzen, schützen sie
auch vor unerwünschtem Einfluss von außen.
Das Bundeskartellamt arbeitet seit Jahren mit viel zu
wenig Personal. Wenn die Regierung die Wirtschaftskontrolle verbessern will, muss sie hier mit dem nächsten
Bundeshaushalt für Aufstockung sorgen und kann Handlungsfähigkeit demonstrieren. Der Haushalt geht ja die
nächsten Wochen durchs Kabinett.
Wer Deutschland vor fehlgeleiteten Monopolen schützen will, kann schon heute im Energiebereich anfangen.
Da steuern vier Konzerne fast die ganze Stromerzeugung
und bestimmen über die Netze. Eine deutsche Netzgesellschaft mit staatlicher Mehrheitsbeteiligung wäre ein wesentlicher Beitrag, um dieses Machtkartell zu brechen.
Das deutsche Wettbewerbsrecht ist insgesamt voller Lücken. Wer Wirtschaftsmacht begrenzen will, muss in allen
Bereichen gegen Monopole vorgehen. Die Konzentration
nimmt zu, nicht nur bei Strom, Gas und Lebensmitteln.
Marktgefährdende Investoren sind ein Problem, das insgesamt gelöst werden muss. Wer sicherheitsrelevante Bereiche schützen will, muss auch klar sagen, was damit gemeint ist, und nicht im Ungefähren bleiben wie alle
bisherigen Vorschläge aus dem Hause Glos.
Wir müssen jetzt mit Augenmaß handeln. Richtig ist:
Die Bedeutung der Staatsfonds nimmt zu. Durch sie werden Währungsreserven investiert, Wechselkursschwankungen abgesichert oder Preisschwankungen bei Rohstoffen ausgeglichen. Und das ist immer mehr nötig.
Genau dabei sind die Fonds einer hohen Renditeerwartung unterworfen. Politische Einflussnahme über
Fondsinvestitionen würde dem Renditeziel widerspreZu Protokoll gegebene Reden
chen. Da gibt es Grenzen. Es spricht einiges dafür, jetzt
für Klarheit bei den Regeln zu sorgen, aber auch für eine
Offenheit bei Investitionen. Es darf nicht der Eindruck
entstehen, Deutschland würde sich gegen ausländisches
Kapital wehren. Wir brauchen es und müssen es willkommen heißen.
Ein verantwortungsvoller Vorschlag für gemeinsame
internationale Regeln schafft Vertrauen und ist zielführend. Er muss jetzt engagiert vertreten werden. Dafür
steht unser grüner Antrag. Die Regierung wäre gut beraten, ihn genau zu lesen und umzusetzen, statt weiter populistisch am Thema vorbeizuagieren.
Die Vorlage auf Drucksache 16/9612 soll nach einer
Vereinbarung der Fraktionen an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. - Es gibt
keine Einwände. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Gisela Piltz,
Dr. Max Stadler, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gegen Geheimniskrämerei - Entscheidungen
kommunaler Gesellschaften transparent gestalten
- Drucksachen 16/395, 16/9732 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Die Reden der Kollegen Dr. Günter Krings, Klaus
Uwe Benneter, Max Stadler, Katrin Kunert und Britta
Haßelmann werden nicht wegen vereinbarter Geheimniskrämerei, sondern zur Beschleunigung der Abwicklung der Tagesordnung zu Protokoll gegeben und bleiben auf diesem Weg transparent.
({1})
Die Beratungen haben gezeigt, dass das Anliegen der
FDP kommunalpolitisch zum Teil verständlich ist, aber
gesellschaftsrechtlich kein Handlungsbedarf besteht. Die
Probleme, die die FDP in ihrem Antrag anspricht, betreffen nicht das GmbH-Recht oder das Aktiengesetz, sondern beziehen sich auf das Kommunalrecht.
Daher kann ich auch nachvollziehen, warum die FDP
nicht mit Änderungsanträgen zum MoMiG in dieser Sache aufgewartet hat. Hätte die FDP eine Änderung des
GmbH-Rechts auch rechtspolitisch wirklich für angezeigt
gehalten, dann wäre diese umfassende GmbH-Rechtsnovellierung, die gestern in diesem Hause verabschiedet
wurde, der richtige Ort und die richtige Zeit gewesen.
Aber die Rechtspolitiker der FDP sind dann letztendlich
doch davor zurückgeschreckt, ein Sonderrecht für kommunale Gesellschaften in privater Rechtsform zu schaffen.
Verständlich wird dies bei näherer Betrachtung des
Problems. Denn durch Änderungen im GmbHG und AktG
würden privatrechtlich betriebene kommunale Gesellschaften einem Sonderregime unterstellt, wodurch das
GmbH- und Aktienrecht in unnötiger und unvertretbarer
Weise verkompliziert würde. Warum soll - nur weil eine
GmbH von einer Kommune betrieben wird - anderes
Recht gelten als für eine GmbH ohne kommunale Beteiligung? Ermöglicht man den Kommunen den Betrieb von
Unternehmen unter privatrechtlicher Flagge, darf man
ihnen keine kürzeren Segel geben. Entscheidet sich eine
Kommune für diese Rechtsform, soll sie auch alle Vorund Nachteile dieser Rechtsform akzeptieren, mit denen
auch ein Privater zurechtkommen muss.
Unsere Absicht war, mit dem MoMiG ein in sich geschlossenes, konsistentes und modernes Gesellschaftsrecht zu schaffen. Das ist uns auch gelungen. Eine
„GmbH privatrechtlich“ und eine „GmbH öffentlichrechtlich“ ist keine zeitgemäße Antwort auf die europäischen Herausforderungen des deutschen Gesellschaftsrechts.
Befindet sich eine Gesellschaft zu 100 Prozent in kommunaler Hand, gelten schon heute bestimmte Verschwiegenheitspflichten nicht, mangels eines Schutzbedürfnisses. Im § 394 AktG kommt dies auch klar zum Ausdruck:
Werden Aufsichtsräte durch Gebietskörperschaften entsandt, unterliegen sie hinsichtlich ihrer Berichte an die
Gebietskörperschaft keinerlei Verschwiegenheitspflichten. Für die GmbH wird diese Vorschrift übrigens entsprechend angewandt. Das heißt, schon jetzt besteht gesellschaftsrechtlich die Möglichkeit, Transparenz in den
Entscheidungswegen herzustellen.
Die FDP verkennt in ihrem Antrag zudem, dass keine
Kommune gezwungen ist, eine GmbH oder AG zu gründen, sondern dass den Städten, Gemeinden und Kreisen
bereits heute sinnvolle und langerprobte Alternativen zur
Verfügung stehen, wenn sie meinen, die Regeln des Gesellschaftsrechts entsprächen nicht ihren Bedürfnissen.
Ich möchte hier vor allem die Anstalt öffentlichen Rechts
erwähnen. Diese Rechtsform erfüllt die Ziele, die sie von
der FDP mit einer kommunalen Sonder-GmbH auch beabsichtigen. Sie hat eine größere Flexibilität und sorgt für
eine einfache Kreditbeschaffung an den Finanzmärkten.
Schnellere Entscheidungswege führen zu einer stärkeren
Handlungsfähigkeit. Es ergeben sich steuerliche Vorteile
und außerdem eine günstigere Kostensituation. Dies alles
leistet eine Anstalt öffentlichen Rechts und übertrifft damit teilweise sogar noch die Vorteile einer GmbH.
Allerdings ist hier der Landesgesetzgeber gefragt,
wenn es um Transparenz- und Informationsvorschriften
geht, denn das Anstaltsrecht fällt in die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder. Sie sind weitgehend frei in der
Ausgestaltung der Transparenz und können so schon jetzt
für nachvollziehbare Entscheidungswege in Kommunalunternehmen dieses Typs sorgen.
Es ist Ihnen auch in den Ausschussberatungen nicht
gelungen, irgendwelche Defizite im Bundesrecht aufzuzeigen, die eine Änderung des GmbH-Rechts oder des Aktiengesetzes zwingend erforderlich gemacht hätten. Es
gibt keine Defizite im Gesellschaftsrecht, die die Offenlegung von Unternehmensinformationen unzumutbar und
unangemessen behindern. Und wenn es nicht notwendig
ist, ein Gesetz zu erlassen, dann ist es nach Überzeugung
der Unionsfraktion eben notwendig, kein neues Gesetz zu
erlassen.
Die FDP möchte einen Prüfauftrag an die Bundesregierung beschließen lassen. Geprüft werden sollen Änderungen des GmbH-Rechts und des Aktiengesetzes für
GmbHs und Aktiengesellschaften, bei denen eine Kommune Alleingesellschafterin ist. Im Interesse einer kritischen Öffentlichkeit sollen die Verschwiegenheitspflichten
der von den Kommunen entsandten Aufsichtsratsmitglieder zwar nicht aufgehoben, aber deutlich eingegrenzt werden.
So steht es in dem Antrag, den wir ablehnen werden.
Wir brauchen keinerlei Änderungen im Gesellschaftsrecht. Für die Fälle, die hier in den Blick genommen sind,
gilt das Primat des Kommunalrechts. Das führt zu sachgerechten Lösungen.
Zunächst zum Aktienrecht. Im Aktiengesetz ist genau
diese Konstellation der von einer Kommune entsandten
Aufsichtsratsmitglieder ausdrücklich geregelt. Es gibt
zwar eine grundsätzliche Verschwiegenheitspflicht für Aufsichtsratsmitglieder bei vertraulichen Angelegenheiten.
Aber: § 394 AktG bestimmt für Aufsichtsratsmitglieder, die
gegenüber einer Gebietskörperschaft berichtspflichtig
sind, dass insofern keine Verschwiegenheitspflicht besteht.
Die entsandten Aufsichtsratsmitglieder dürfen also gegenüber ihrer Gebietskörperschaft auch über Vertrauliches berichten.
Um aber die Interessen der Aktiengesellschaft zu wahren, müssen jetzt die Empfänger der Berichte Verschwiegenheit über diese vertraulichen Angelegenheiten wahren, § 395 AktG. Konsequenz daraus ist, dass diese
Berichte der entsandten Aufsichtsratsmitglieder nicht in
öffentlicher Sitzung abgegeben werden dürfen, jedenfalls
nicht, soweit Vertrauliches zur Sprache kommt. Der Bericht darf also nur gegenüber einem Gremium abgegeben
werden, das nach Mitgliederzahl und Zusammensetzung
die Vertraulichkeit rechtlich und tatsächlich gewährleistet. Fazit: Die Kommune erfährt alles, muss aber über
vertrauliche Dinge schweigen. Das ist, soweit es Mitgesellschafter gibt, vollkommen in Ordnung und kann meines
Erachtens nicht besser geregelt sein. Aktiengesellschaften,
die ausschließlich einen öffentlichen Gesellschafter haben,
gibt es meines Wissens nicht.
Praktisch bedeutsam sind also nur die kommunalen
GmbHs, bei denen die Kommune Alleingesellschafter ist.
Bei diesen GmbHs kann die Kommune einen Aufsichtsrat
einrichten und im Gesellschaftsvertrag regeln, wem gegenüber der Aufsichtsrat Bericht erstatten muss. Es gibt
aber in diesem Falle keine gesellschaftsrechtlichen Verschwiegenheitspflichten des Aufsichtsrates gegenüber
der Kommune.
In einer Einmann-GmbH ist der Aufsichtsrat gegenüber dem Einmanngesellschafter voll auskunftspflichtig.
Das ergibt sich auch aus dem im FDP-Antrag zitierten
Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg. Eine Geheimhaltungspflicht des Aufsichtsrats gegenüber dem
Einmanngesellschafter würde doch auch überhaupt keinen Sinn ergeben.
Es gibt umgekehrt auch keine gesellschaftsrechtliche
Geheimhaltungspflicht des Einmanngesellschafters. Er
darf über seine GmbH alles öffentlich machen, was er
möchte, auch Ungünstiges und auch Betriebsgeheimnisse. Eine Kommune als Alleingesellschafterin einer
GmbH ist also gesellschaftsrechtlich zu keinerlei Geheimhaltung genötigt.
Allerdings: Es gibt kommunalrechtliche Geheimhaltungspflichten. Nach dem Kommunalrecht ist ein Ausschluss der Öffentlichkeit und eine Geheimhaltungspflicht der Kommunalvertreter zum Beispiel dann
vorgesehen, wenn es um Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Dritter geht, bei Steuer- und Abgabenangelegenheiten Einzelner usw. Diese Geheimhaltungspflichten bleiben bestehen.
Es gibt also nichts Geheimes, was die Gemeinde als
Alleingesellschafterin nicht erfahren darf. Der Aufsichtsrat ist gegenüber dem Gemeinderat oder gegenüber dem
im Gesellschaftsvertrag bestimmten Gremium voll auskunftspflichtig. Was die Gemeindevertretung oder das
sonst bestimmte berichtsempfangende Gremium geheim
halten muss, bestimmt sich ausschließlich nach dem
Kommunalrecht. Das wird nach meiner Auffassung der
Demokratie und dem Prinzip der demokratischen Öffentlichkeit gerecht.
Wer aber in diesen Fällen noch mehr Öffentlichkeit
und Offenlegung möchte, der muss die Kommunalgesetze
der Länder ändern. Das Aktiengesetz und das GmbH-Gesetz müssen jedenfalls nicht geändert werden.
Die Große Koalition hätte heute die Chance, aufgrund
eines Antrags der FDP-Bundestagsfraktion die Bundesregierung zur Lösung eines Problems aufzufordern, das
in den Kommunen sehr viele Menschen beschäftigt. Es
geht um mehr Öffentlichkeit und Transparenz bei der Entscheidungsfindung in der Kommunalpolitik. Die Lösung
wäre, wie ich noch ausführen werde, einfach. Mir ist völlig unverständlich, warum CDU/CSU und SPD offenbar
dieses Thema nicht anpacken wollen.
Tatsache ist, dass aus unterschiedlichen Gründen
landauf, landab vielfach die Erfüllung kommunaler Aufgaben in neu gegründete Gesellschaften mit beschränkter
Haftung oder sogar Aktiengesellschaften ausgelagert
worden ist. Wir reden nicht über echte Privatisierung,
sondern nur über eine Änderung der Rechtsform; denn
der FDP-Antrag bezieht sich auf solche Gesellschaften,
die vollständig in kommunaler Hand sind. Dabei handelt
es sich beispielsweise um den Betrieb von Schwimmbädern, die Erbringung von Leistungen der DaseinsvorZu Protokoll gegebene Reden
sorge, die Verwaltung kommunaler Grundstücke, die
örtliche Energieversorgung. Diesen Beispielen ist gemeinsam, dass in den Aufsichtsgremien der so gegründeten Gesellschaften kommunalpolitische Entscheidungen
getroffen werden, übrigens regelmäßig von denselben
Kommunalpolitikern, die vorher Mitglieder des entsprechenden Stadtrats- oder Kreistags- oder Gemeinderatsausschusses gewesen sind. Wir haben es aufgrund dieser
Organisationsprivatisierungen also mit kommunalpolitischer Entscheidungsfindung im privatrechtlichen Gewande zu tun.
Dass es diese Entwicklung gegeben hat, hat nachvollziehbare, häufig steuerrechtliche Gründe. Zu Recht wird
aber von interessierten Bürgerinnen und Bürgen als
Manko empfunden, dass damit kommunalpolitische Debatten in nichtöffentlichen Sitzungen stattfinden. Dies ist
ein Verlust an Offenheit und Transparenz, der nicht sein
müsste, wenn man für kommunale Gesellschaften Sonderregeln zulassen würde.
Das GmbH-Gesetz schreibt zwingend die Nichtöffentlichkeit von Aufsichtsratssitzungen vor und unterwirft die
Aufsichtsratsmitglieder einer Verschwiegenheitspflicht.
Diese strengen Regelungen sind verständlich, da sie ursprünglich natürlich für echte private Gesellschaften vorgesehen waren. Auf die Entscheidungsfindung kommunaler GmbHs passen diese Vorschriften nicht. Vielmehr gilt
im Kommunalrecht der Grundsatz der Öffentlichkeit der
Verhandlungen. Kommunalrecht als Landesrecht hat
aber hinter Bundesrecht zurückzutreten. Dies ist unbefriedigend.
Selbstverständlich gibt es auch nach Auffassung der
FDP in kommunalen Gesellschaften einzelne Fragen, die
nichtöffentlich zu verhandeln wären, wie etwa Personalfragen oder Themen, bei denen eine GmbH im Wettbewerb zu anderen GmbHs steht. Die allermeisten Fragen
könnten aber ohne irgendeinen Schaden für die kommunalen GmbHs öffentlich und ohne Verschwiegenheitspflicht verhandelt werden. Dies wird zunehmend auch in
der Rechtsprechung so gesehen. Das Verwaltungsgericht
Regensburg hat in einer Entscheidung vom 2. Februar
2005 den Grundsatz der Öffentlichkeit für vorrangig erklärt. Mit Hinweis auf diese Tendenz in der Rechtsprechung meint die Koalition offenbar, es bestehe keinerlei
Handlungsbedarf.
In den Ausschussberatungen ist von der Koalition vorgetragen worden, die gewünschte Transparenz könne
auch durch örtliches Satzungsrecht hergestellt werden.
Dieser Lösungsvorschlag reicht jedoch nicht aus. Denn
nach wie vor bewegt sich eine untergerichtliche Rechtsprechung, die nur aus allgemeinen Erwägungen heraus
den Öffentlichkeitsgrundsatz für vorrangig erklärt, auf
schwankendem juristischen Boden. Den Bürgerinnen und
Bürgern, aber auch den Mitgliedern der Aufsichtsgremien wäre mehr gedient, wenn im Bundesrecht eine eindeutige Klärung der strittigen Rechtslage erfolgen
würde. Zu denken wäre etwa daran, im GmbH-Gesetz
eine Öffnungsklausel für kommunale GmbHs vorzusehen,
sodass die ansonsten im GmbH-Gesetz angelegte strikte
Nichtöffentlichkeit gelockert werden könnte. Solange der
Bundesgesetzgeber diese seine Aufgabe der Klarstellung
nicht erfüllt, besteht die Gefahr, dass öffentlich gefasste
Beschlüsse rechtswidrig sind und dass Aufsichtsratsmitglieder sich wegen Verletzung von Verschwiegenheitspflichten schadensersatzpflichtig oder sogar strafbar machen könnten.
Es wird auch noch eingewandt, in der Gesellschafterversammlung - also beispielsweise in einem Stadtratsplenum - könnten Themen, die im Aufsichtsrat einer städtischen GmbH nichtöffentlich beraten worden sind,
nachträglich der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Dies
geht an der Realität vorbei. Wieso soll man denn eine
Wiederholung von Beratungen in einem anderen Gremium vorschlagen, wenn es mit einem kleinen Federstrich des Gesetzgebers möglich wäre, sofort die Originalberatung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen?
Daher setzen sich diejenigen, die dem Anliegen der
FDP nicht folgen, dem Verdacht aus, sie wollten in Wahrheit die von vielen Bürgerinnen und Bürgern gewünschte
Transparenz kommunaler Entscheidungsfindung gar
nicht herstellen. Sollte dieser Vorwurf unberechtigt sein,
dann sind wir gespannt, welche Alternativen denn die Koalition vorschlägt. Bisher tragen CDU/CSU und SPD unverständlicherweise nichts zur Lösung des Problems bei.
Gegen Geheimniskrämerei - Entscheidungen in kommunalen Gesellschaften sollen transparent gestaltet werden, und wir debattieren überhaupt nicht, geben zum
zweiten Mal unsere Reden zu Protokoll. Transparenz sieht
anders aus, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP! Wenigstens die Abschlussdebatte hätten wir führen können.
Zum anderen frage ich mich ernsthaft, wenn Ihnen das
Thema so wichtig erscheint, warum haben Sie keinen
konkreten Antrag im Rahmen der GmbH-Novelle eingebracht? Und deshalb habe ich meinem ersten Redebeitrag nichts hinzuzufügen.
Erstens: Kompliment an die FDP, sie hält ein SuperPlädoyer gegen die Privatisierung von Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge. Alle in ihrem Antrag aufgeführten Probleme würden sich heute nicht so drastisch
darstellen, wenn die Aufgaben der Daseinsvorsorge kommunal erbracht würden.
Es steht auch in der Begründung des Regensburger
Urteils, dass mit zunehmender Privatisierung die öffentlich-rechtlichen Bindungen ausgehebelt werden können.
Eine zweite Vorbemerkung: Würde man das Mitspracheund Entscheidungsrecht der Bürgerinnen und Bürger und
der Kommune als Vertretungskörperschaft wirklich stärken wollen, wäre zunächst an eine Rekommunalisierung
von Aufgaben der Daseinsvorsorge zu denken.
Das haben inzwischen auch die Kommunen erkannt. In
seiner Presseerklärung vom März dieses Jahres begrüßt
der Deutsche Städte- und Gemeindebund ausdrücklich
die Überlegungen einiger Städte und Gemeinden, bisher
privat erbrachte Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge wieder zu kommunalisieren.
Die neue Vorsitzende des Ausschusses für Finanzen
und Kommunalwirtschaft des Städte- und GemeindeZu Protokoll gegebene Reden
bundes, Frau Ursula Pepper, wies darauf hin, dass eine
Rekommunalisierung von Aufgaben der öffentlichen
Daseinsvorsorge dazu dienen könne, kommunale Gestaltungsmöglichkeiten zurückzugewinnen. Die Stadt Ahrensburg in Schleswig-Holstein, in der Frau Pepper BM
ist, hat sich entschieden, die Gasversorgung in der Stadt
nicht mehr von einem privaten Unternehmen, sondern
von einer kommunalen Gesellschaft durchführen zu lassen.
Und wenn Sie sich in der FDP-Fraktion Gedanken
über die Transparenz bei kommunalen Unternehmen machen, frage ich, wie Sie mit Transparenz bei echten Privatisierungen umgehen wollen.
Tatsache ist, dass bereits heute immer mehr Aufgaben
der öffentlichen Daseinsvorsorge durch kommunale Unternehmen erbracht werden; zu 75 Prozent sind dies Unternehmen in der Rechtsform der GmbH. Tatsache ist
auch, dass aus den unterschiedlichsten Gründen die
Kommunen immer mehr an Einfluss auf ihre eigenen Unternehmen verlieren.
Eine Ursache dafür ist, dass Öffentlichkeit und die
Wahrung der Interessen der Unternehmen nicht unter einen Hut zu bringen sind. Kommunale Mandatsträger in
den Aufsichtsräten sind zur Verschwiegenheit verpflichtet. Diese Verschwiegenheitspflicht kann dann zu Interessenkonflikten führen, wenn sie sich ihrer Gemeinde gegenüber verpflichtet fühlen, über Angelegenheiten des
Unternehmens von besonderer Bedeutung berichten zu
müssen. Es ist nicht definiert, in welchem Maße eine Verschwiegenheitspflicht der kommunalen Vertreter in den
Aufsichtsräten im Interesse des Gemeinwohls - im Interesse der Kommune und damit der Bürgerinnen und Bürger - eingeschränkt werden kann.
Dies ist in den Gemeindeordnungen der Länder sehr
unterschiedlich geregelt. Es ist nämlich ein Aushandlungsprozess, der von Kommune zu Kommune unterschiedlich ausgehen kann, also nach dem Motto: einmal
mehr und einmal weniger Transparenz. Die Leidtragenden sind in jedem Fall die Bürgerinnen und Bürger. Bestes Beispiel sind Unternehmen im Verkehrs- oder Versorgungsbereich, die nicht bereit sind, ihre Tarif- bzw.
Preiskalkulation offenzulegen. Hier gibt es also tatsächlichen Handlungsbedarf. Das sehen wir nicht anders.
Es müssen bundesweite einheitliche Standards in Bezug auf die Einschränkung der Verschwiegenheitspflicht
im Interesse des Gemeinwohls vorgegeben werden. Dies
kann nicht im Belieben der Länder oder einer Kommune
oder gar des Bürgermeisters liegen. Insofern stimmen wir
dem Grundanliegen Ihres Antrages zu.
Allerdings geht uns der Antrag nicht weit genug. Erstens geht es Ihnen in der FDP um eine deutliche Erhöhung der Transparenz von Entscheidungen nur kommunaler Unternehmen. Und Ihre gewünschte Neuregelung
soll sich ausschließlich auf kommunale GmbHs und AGs
beziehen, die zu 100 Prozent kommunal sind. Das derzeit
geltende GmbH- und AG-Recht bezieht sich aber ausdrücklich auf alle Unternehmen, das heißt mit jedem Gesellschafter, unabhängig von der Höhe der Beteiligung,
wird ein umfassendes Informationsrecht gegenüber dem
Unternehmen eingeräumt. Es stellt sich die Frage, was
Sie mit dieser Einengung wirklich wollen.
Zweitens werden in Ihrem Antrag Unternehmen, an
denen Bund und Länder beteiligt sind, vollkommen ausgeblendet. Wir meinen, auch diese Beteiligungen müssen
in die Diskussion um mehr Transparenz einbezogen werden.
In der ersten Lesung zum Antrag der FDP-Fraktion
erklärten die Rednerinnen und Redner von Union und
SPD, dass sie es eigentlich für eine Zumutung halten, diesen Antrag überhaupt beraten zu müssen. Deshalb
möchte ich eingangs an die Adresse der Regierungsfraktionen gerichtet feststellen: Dass der FDP-Kollege Max
Stadler ein wahlkreisfolkloristisches Interesse daran hat,
die mangelnde Transparenz von Aufsichtsräten kommunaler Gesellschaften hier zu thematisieren, ist wohl unbestritten. Es ist ihm allerdings auch unbenommen. Bezeichnend an Ihrer Haltung ist im Übrigen nicht, wie Sie
mit Oppositionsanträgen umgehen, sondern dass Sie der
Sache selbst überhaupt kein Gewicht beimessen. Denn es
sollte sich auch zu Ihnen herumgesprochen haben, dass
die Überführung kommunaler Aufgaben in privatrechtliche Gesellschaftsformen vor Ort zu sehr problematischen
Entwicklungen geführt hat.
Bezeichnend ist allerdings auch, dass die FDP-Fraktion ihren Antrag über beinahe zwei Jahre im Ausschuss
vergilben lässt. Ich konnte der lokalen Berichterstattung
- namentlich der „Passauer Neuen Presse“ - entnehmen,
dass Herr Stadler sich öffentlichkeitswirksam darüber
beklagt hat, dass die Koalition dem FDP-Antrag nicht
folgt. Herr Kollege Stadler, ich bin der altmodischen Auffassung, dass das Werben um parlamentarische Mehrheiten damit beginnt, dass man einen Antrag auch auf die Tagesordnung des Ausschusses setzt. So eilig scheinen Sie
es also nicht zu haben mit der Transparenz. Man erkennt
das populistische Ansinnen und ist verstimmt.
Doch nun zum Antrag selbst. Die Freien Demokraten
beschreiben hier ein Problem, das auch wir als Bündnisgrüne sehen. So bedenklich, wie sich einige Privatisierungen öffentlicher Leistungen auf die politische Steuerungsfähigkeit der Kommunen ausgewirkt haben, so
bedenklich sind auch die Folgen, wenn die Leistungserbringung zwar vollständig oder mehrheitlich in kommunaler Hand verbleibt, der Kontrolle der Öffentlichkeit jedoch aufgrund privatrechtlicher Vorschriften entzogen
wird. Die Anwendung privaten Gesellschaftsrechts führt
beispielsweise zu einer Situation, in der sich Stadtwerke
in Eigentümerschaft einer Kommune am Bau eines Kohlekraftwerkes im Nachbarkreis beteiligen, ohne dass die
Öffentlichkeit von der bevorstehenden Entscheidung informiert wird. Da zudem kleinere Gemeinderatsfraktionen in den Aufsichtsgremien dieser Gesellschaften oftmals nicht vertreten sind, wird den großen Fraktionen
hier die Möglichkeit geboten, unbehelligt von öffentlichen Diskussionen und Auseinandersetzungen ihre politischen Ziele zu verfolgen. Das ist das Sinnbild dessen,
was wir umgangssprachlich als „kommunalen Klüngel“
bezeichnen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Antrag der Liberalen - so kann man bei der erstmaligen Lektüre denken - sieht das ganz genauso. Aber,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion:
Manchmal reicht ein einzelner Satz in einem Antrag, um
sein Ansinnen in das Gegenteil zu verkehren. Denn in Ihrem Antrag schreiben sie, dass „echte“ Privatisierungen
ordnungspolitisch selbstverständlich vorzugswürdig wären. Das wirft Fragen auf. Sie bemängeln die fehlende
Transparenz der privaten Gesellschaftsform kommunaler
Unternehmen, wollen aber eigentlich viel lieber gleich
alles privatisieren? Reden wir Klartext. Hier drängt sich
doch der begründete Verdacht auf, dass ihr Ziel darin besteht, kommunalen Gesellschaften Sonderbedingungen
aufzuerlegen, um einen Leidensdruck in Richtung Privatisierung zu erzeugen. Da gebe ich Ihnen den wohlmeinenden Ratschlag: Mauern Sie sich mit Ihrer „Privat vor
Staat“-Ideologie in der kommunalen Daseinsvorsorge
nicht ein. Denn eine solche Politik geht am Bedürfnis der
Bürgerinnen und Bürger nach einer verlässlichen, bezahlbaren Daseinsvorsorge vorbei, und sie untergräbt
das Vertrauen in die Gestaltungskraft der kommunalen
Selbstverwaltung. Ihrem „Privat vor Staat“ setzen wir ein
„Sicherheit in Vielfalt“ entgegen. Das heißt: Privatisierung oder Rekommunalisierung - diese Entscheidung
muss sich am Einzelfall orientieren, und daran, wie eine
Leistung am Besten zu erbringen ist -, am besten im Sinne
der Kosteneffizienz, aber vor allem der ökologischen
Nachhaltigkeit, demokratischen Transparenz und langfristigen Verlässlichkeit.
Die Leistungserbringung in Form einer GmbH mit
ausschließlicher oder mehrheitlich kommunaler Trägerschaft kann dabei ein geeigneter Weg sein. Die privatrechtliche Organisationsform ändert aber nichts am Wesen der Leistung. Aufgaben der Daseinsvorsorge sind
dem Gemeinwohl verpflichtet und werden aus öffentlichen Mitteln finanziert. Sie haben sich deshalb auch hohen Anforderungen an die Transparenz unternehmerischer Entscheidungen zu stellen. Hier liegt die
Notwendigkeit begründet, Öffentlichkeit bei Aufsichtsratssitzungen herzustellen, und nicht in einer Strategie,
die Kommunen in die Privatisierung treiben soll.
Ein weiterer Kritikpunkt an Ihrem Antrag ist aus unserer Sicht: Sie spitzen die Lippen, aber pfeifen nicht. Warum sind Sie in Ihren Forderungen so mutlos und wenig
konkret? Wir wissen, dass es unterschiedliche rechtswissenschaftliche Auffassungen dazu gibt, ob Gemeinden die
Öffentlichkeit selbst über das Satzungsrecht herstellen
können oder ob es dazu einer Änderung im GmbH-Recht
und Aktienrecht bedarf. Auch die Rechtsprechung ist hier
uneinheitlich. Alleine dies weist darauf hin, dass es einer
rechtlichen Klarstellung bedarf, und zwar ganz konkret
einer Verpflichtung zur Öffentlichkeit von Aufsichtsratssitzungen kommunaler Gesellschaften durch eine entsprechende Ergänzung in § 52 Abs. 1 GmbH-Gesetz und
§ 109 Abs. 1 Aktiengesetz. Da müssen Sie die Bundesregierung nicht auffordern, zu prüfen; da brauchen Sie nur
uns Grüne nach der Lösung zu fragen.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Der Antrag der
FDP weist auf einen wichtigen legislativen Handlungsbedarf hin. Er ist allerdings ordnungspolitisch inkonsistent,
widersprüchlich und springt zu kurz. Wir werden uns deshalb zu diesem Antrag enthalten. Aber, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition, ob Sie sich damit
nun befassen wollen oder nicht: Wir werden dafür sorgen,
dass dieses Thema, fundierter aufbereitet, erneut auf der
Tagesordnung des Deutschen Bundestages auftaucht.
Und dann ist Herr Stadler gerne eingeladen, mit mir gemeinsam im Ausschuss um parlamentarische Mehrheiten
zu werben.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9732, den Antrag der FDP-Fraktion auf Drucksache 16/395 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 sowie Zusatzpunkt 12 auf:
35 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, Dr. Lothar
Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Für eine qualitätsgesicherte und flächendeckende Arzneimittelversorgung - Versandhandel auf rezeptfreie Arzneimittel begrenzen
- Drucksache 16/9754 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel
Bahr ({1}), Martin Zeil, Heinz Lanfermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Auswüchse des Versandhandels mit Arzneimitteln unterbinden
- Drucksache 16/9752 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Wolf Bauer, Marlies Volkmer, Daniel Bahr, Martina
Bunge, Birgitt Bender und Rolf Schwanitz für die Bundesregierung geben dazu Reden zu Protokoll.
Für eine ausreichende und sichere Arzneimittelversorgung der Bevölkerung zu sorgen, ist eine grundgesetzlich
verankerte Aufgabe des Staates - Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
Die Erfüllung dieser Aufgabe liegt in den Händen der
Präsenzapotheken. Sie haben sich über lange Zeit als verlässlicher Partner bewährt. Aus Sicht der CDU/CSUBundestagsfraktion sind sie der Garant für die ordnungsgemäße und sichere Arzneimittelversorgung unserer Bevölkerung.
Nicht zuletzt im Interesse des Patientenschutzes unterliegt ihr Betrieb vor allem den strengen Anforderungen
des Apothekengesetzes und der Apothekenbetriebsordnung - zum Beispiel Abgabe der Arzneimittel durch pharmazeutisches Personal, Vorhaltung eines Vollsortiments,
Mindestgröße für Betriebsräume, Vorhaltung einer Rezeptur und eines Labors, Räumlichkeiten für Nachtdienstbereitschaft. Apotheken dürfen nur von approbierten
Apothekern betrieben werden, Apotheken in der Hand
von Kapitalgesellschaften sind verboten - Fremdbesitzverbot.
Ursprünglich durfte die Abgabe apothekenpflichtiger
Arzneimittel grundsätzlich nur innerhalb der Apothekenbetriebsräume erfolgen. Eine Abgabe von Arzneimitteln
im Wege des Versandhandels war verboten. Dieses Versandhandelsverbot war im Jahr 2003 Gegenstand eines
Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof.
Im Vorfeld der Entscheidung und als Kompromiss bei
den Verhandlungen zum Gesundheitsmodernisierungsgesetz 2003 wurde unter bestimmten Auflagen der Versandhandel mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln zugelassen. Dabei muss ein Höchstmaß an Verbraucherschutz
und Arzneimittelsicherheit gewährleistet sein. Es müssen
faire Bedingungen für den Wettbewerb von Versandapotheken mit Präsenzapotheken bestehen.
Seitdem können deutsche Präsenzapotheken, die eine
Versandhandelserlaubnis besitzen, und entsprechend
qualifizierte Versandapotheken aus anderen EU-Ländern, apothekenpflichtige Arzneimittel im Wege des Versandhandels abgeben. Wie die nachfolgende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ergab, wäre eine
solche generelle Zulassung des Versandhandels aber gar
nicht nötig gewesen, da ein Verbot des Versandhandels
mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln mit europäischem Recht vereinbar ist.
Ich zitiere wörtlich aus dem EuGH Urteil:
Angesichts der Gefahren, die mit der Verwendung
dieser Arzneimittel verbunden sein können, könnte
das Erfordernis, die Echtheit der ärztlichen Verschreibungen wirksam und verantwortlich nachprüfen zu können und die Aushändigung des Arzneimittels an den Kunden selbst oder an eine von ihm mit
dessen Abholung beauftragte Person zu gewährleisten, ein Verbot des Versandhandels rechtfertigen. Wie die irische Regierung dargelegt hat,
könnte die Zulassung einer Ausgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel erst nach Erhalt der
Verschreibung und ohne weitere Kontrolle das Risiko erhöhen, dass ärztliche Verschreibungen missbräuchlich oder fehlerhaft verwendet werden. Im
Übrigen kann die tatsächlich gegebene Möglichkeit, dass ein Arzneimittel, das ein in einem Mitgliedstaat wohnender Käufer bei einer Apotheke in
einem anderen Mitgliedstaat erwirbt, in einer anderen Sprache etikettiert ist als in der Sprache des
Heimatstaats des Käufers, im Fall von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln gravierendere Folgen haben.
Auch vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber dafür Sorge getragen, dass nur solche Arzneimittel über den
Versandhandel ausgeliefert werden dürfen, die zum einen
für den deutschen Markt zugelassen sind und zum anderen Informationen in deutscher Sprache enthalten. Darüber hinaus gibt es hohe Anforderungen an die ausländischen Versandhandelsapotheken. So müssen auch diese
eine durch einen Apotheker geleitete Präsenzapotheke
vorweisen und in ihrem Heimatland zum Beispiel an der
Nacht- und Notfallversorgung teilnehmen.
Inzwischen hat sich beim Versandhandel neben der
„klassischen“ Form des Direktversands an den Endverbraucher - Face-to-Face - eine zweite Vertriebsform
über Bestell- und Abholstationen - Pick-up-Stationen entwickelt. Diese Stationen können in jeder Art von Gewerbebetrieb - Supermarkt, Getränkemarkt, Drogerieketten, Tankstelle etc. - eingerichtet werden. Im Unterschied zu Präsenzapotheken unterliegen die Pick-upStationen bei der Vor-Ort-Abgabe von Arzneimitteln nicht
den Anforderungen der Apothekenbetriebsordnung. So
wird zum Beispiel auf jegliche Apothekeninfrastruktur
verzichtet. Die Vor-Ort-Abgabe kann durch nicht pharmazeutisches Personal erfolgen. Die in letzter Zeit entstandenen Pick-up-Stationen und die damit verbundenen
Variationen des Versandhandels wurden zum Zeitpunkt
der Gesetzgebung nicht vorhergesehen.
Diese neue Versandform war Gegenstand mehrerer
Gerichtsverfahren. Zuletzt entschied das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 13. März 2008, dass
aufgrund der generellen Zulassung des Versandhandels
mit allen apothekenpflichtigen Arzneimitteln die Abgabe
im Wege des Versandes über Pick-up-Stationen rechtlich
nicht zu beanstanden ist.
Dieses Urteil mag sich vielleicht aus der derzeitigen
Rechtslage ergeben, wirft aber aus meiner Sicht verschiedene Fragen auf:
Während die Apotheker weiterhin an die umfassenden
Anforderungen der Apothekenbetriebsordnung gebunden
sind - zum Beispiel Vorhaltung von Laboren und Räumlichkeiten für den Nachtdienst, Mindestgröße der Betriebsräume -, sollen diese offenbar für Pick-up-Stationen nicht
gelten. Dies hätte aus meiner Sicht eine ungerechtfertigte,
verfassungswidrige Ungleichbehandlung der Präsenzapotheken zur Folge. Außerdem wird die aus Verbraucherschutzgründen wichtige Beratung durch Apotheker
abgeschwächt, und es kommt zur Beliebigkeit bei der Abgabe von Arzneimitteln.
Schließlich dürfen wir auch nicht übersehen, dass
durch die Abgabe apothekenpflichtiger Arzneimittel über
Pick-up-Stationen bei Schlecker, dm etc. die besondere
Ware „Arzneimittel“ aus Sicht des Verbrauchers mit Konsumgütern - zum Beispiel Bonbons, Reinigungsmitteln
oder Hygieneartikeln - gleichgestellt wird. Damit wird
insbesondere der Gebrauch verschreibungspflichtiger
Arzneimittel in den Augen der Verbraucher verharmlost.
Auch die immer stärker stattfindende Werbung mit Niedrigpreisen kann die Verbraucher verleiten, mehr Arzneimittel als nötig zu verwenden. Beides fördert den Arzneimittelmissbrauch.
Zu Protokoll gegebene Reden
Vor diesem Hintergrund müssen wir überlegen, wie
wir diesen Auswüchsen des Versandhandels durch Pickup-Stationen Einhalt gebieten. Erste Vorstöße wurden bereits gemacht. So haben die Bundesländer Bayern und
Sachsen entsprechende Initiativen im Bundesrat ergriffen
bzw. angekündigt, denen sich der jetzt vorgelegte Antrag
der Partei Die Linke inhaltlich annähert. Auch der Antrag der FDP, der einen weniger umfassenden Ansatz liefert, zielt auf eine Beseitigung der Auswüchse ab.
Damit wir uns über die entsprechenden Konsequenzen
ausreichend Klarheit verschaffen können, ist es aus meiner Sicht erforderlich, die in den Initiativen angesprochenen Handlungsoptionen genau zu prüfen und zu bewerten.
Gegenwärtig befinden wir uns innerhalb der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion in einem entsprechenden Bewertungsprozess. Erst wenn wir diesen abgeschlossen
haben, können wir uns auf eine Handlungsoption festlegen.
Es ist sehr zu begrüßen, dass wir noch vor der Sommerpause die Gelegenheit haben, uns mit einem überaus
wichtigen Thema zu befassen, nämlich der Frage, wie die
Arzneimittelversorgung der Zukunft aussehen soll.
Umso bedauerlicher ist die Qualität des zur Debatte
stehenden Antrags. Auch wenn ich persönlich die Zielrichtung der Vorlage unterstütze: Wenn man möchte, dass
ein Anliegen in jedem Fall abgelehnt wird, dann muss
man es so begründen, wie Sie das getan haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke - nämlich gar nicht. Die Gefährdung der Arzneimittelsicherheit
durch den Versandhandel mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln bleibt bei Ihnen leider eine bloße Behauptung.
Dabei stellt uns das im März ergangene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts tatsächlich vor ein gewaltiges
Problem. Zur Erinnerung: Das Gericht hatte geurteilt,
dass der Arzneimittelbestell- und -abholdienst, der von
einigen Drogeriemärkten in Kooperation mit Versandapotheken angeboten wird, zulässig ist.
Ich sehe drei Gefahren: Erstens sehe ich eine Unübersichtlichkeit auf die bestehenden Arzneimittelvertriebswege zukommen, die die Arzneimittelsicherheit unmittelbar gefährdet: Jede Instanz, die zwischen die Abgabe
durch die Apotheke und den Empfang des Patienten geschaltet ist, erhöht das Risiko der Verwechselung, der falschen Lagerung usw.
Zweitens. Was beim Versandhandel für verzichtbar gehalten wird, kann in der Konsequenz auch nicht für die
Versorgung in der öffentlichen Apotheke vorgeschrieben
werden. Das hätte vor allem Konsequenzen für die Beratungsleistungen, aber auch für Notdienste und Laborleistungen - mit negativen Auswirkungen für die Bevölkerung.
Drittens dürfen die Entwicklungen im Apothekenbereich nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Stellen Sie sich vor, dass das Fremdbesitzverbot fiele. Durch
die Niederlassungsfreiheit könnten Kapitalgesellschaften
nach ihrem Markteintritt unbegrenzt eigene Apotheken
eröffnen - oder auch Pick-up-Stellen. Eine Kombination
aus der Aufhebung des Fremdbesitzverbotes und des Abbaus von Mindestanforderungen an die Arzneimittelabgabe würde unserer Arzneimittelversorgung ein neues
Gesicht geben. Arzneimittelsicherheit und Beratungsqualität, die Grundpfeiler unserer heutigen Versorgungslandschaft, würden leiden.
Der Gesetzgeber hat die Sicherstellung der Arzneimittelversorgung nicht ohne Grund den Apotheken übertragen. Ich denke hier vor allem an das hochqualifizierte
Personal, das jederzeit beraten kann, nicht nur auf Nachfrage und nicht nur telefonisch, und an die Verpflichtung
zu Nacht- und Notdiensten. Was kann man also tun, um
ein Ausfransen der Vertriebswege zu verhindern? Gewerbliche Abholstellen lassen sich nicht einfach verbieten, da dies in verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigender Weise in die Berufsfreiheit der potenziellen Betreiber
eingreifen würde. Die einzige rechtliche Handhabe sehe
ich persönlich in der Beschränkung des Versandhandels
auf das europarechtlich gebotene Maß und damit auf
nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel. Der Europäische Gerichtshof hatte den Versandhandel mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt, da von diesen besondere Risiken
ausgehen. Allein deshalb unterliegen sie der Verschreibungspflicht.
Warum hat sich die damalige rot-grüne Koalition mit
Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion nicht schon 2003
gegen den Versandhandel mit diesen besonderen Arzneimitteln entschieden? Tatsächlich haben wir damals derart strenge Regelungen gesetzlich verankert, dass der direkte Versand aus einer deutschen Versandapotheke an
einen Patienten sicher ist. Für den Versand aus einer
Apotheke der Länder, deren Sicherheitsstandards den
deutschen Regelungen entsprechen sollen, dürfte im Wesentlichen Gleiches gelten. Was der Gesetzgeber aber damals nicht vorhergesehen hat, war die Zulassung von
Pick-up-Stellen und damit die Unterbrechung des Vertriebswegs.
In den nun anstehenden parlamentarischen Beratungen werden wir natürlich alle Wege prüfen müssen, die
eine qualitativ hochwertige und sichere Arzneimittelversorgung gewährleisten. So werden wir zu diskutieren haben, ob eine Kennzeichnung legaler Versandapotheken
im Internet eingeführt werden kann. Denn nach wie vor
geht das größte Sicherheitsproblem davon aus, dass die
Patientinnen und Patienten heute nicht erkennen können,
ob sie es mit einem seriösen Versender zu tun haben und
in welchem Land er überhaupt ansässig ist. Ein anderer
Vorschlag ist, dass spezifische Anforderungen an die
Pick-up-Stellen formuliert werden. Auch hierüber werden
wir eingehend zu beraten haben.
Unsere Vorstellung einer Arzneimittelversorgung der
Zukunft sieht im Zentrum ein kompetentes Arzneimittelmanagement, insbesondere bei chronisch Kranken und
pflegebedürftigen Menschen. Hier liegen die Kernkompetenzen des Apothekers, die es zum Wohl der Patienten zu
fördern gilt. Unsere Aufgabe ist es, dafür die gesetzlichen
Rahmenbedingungen zu gewährleisten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz ist Apotheken ab 1. Januar 2004 die Möglichkeit eingeräumt
worden, Versandhandel mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln zu betreiben. Es waren SPD, Grüne und CDU und
CSU, die im Jahre 2003 den Versandhandel in Deutschland gegen die Stimmen der FDP beschlossen haben. Die
FDP hat damals vor den Folgen gewarnt. SPD, Grüne
und CDU und CSU hatten seinerzeit nicht die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes abgewartet, sondern schon zuvor den Versandhandel sowohl für rezeptpflichtige als auch für rezeptfreie Arzneimittel erlaubt.
Das Gericht hat dann in seinem Urteil festgestellt, dass
der Versandhandel mit rezeptfreien Arzneien in EU-Ländern zugelassen werden muss, die Länder aber bei rezeptpflichtigen Arzneien andere Bestimmungen treffen können. Der Versandhandel ist seit über vier Jahren zulässig,
und damit wurden Fakten geschaffen.
Apotheken haben sich auf Versandhandel eingestellt,
und einige haben entsprechend investiert. Patienten haben sich an diesen Service gewöhnt. Jetzt braucht es sehr
gute Gründe, um den Versandhandel wieder abzuschaffen. Laut Apothekervereinigung ABDA lösen 93 Prozent
der Deutschen das zuletzt vom Arzt ausgestellte Rezept in
einer unabhängigen und wohnortnahen Apotheke ein.
Der Versandhandel macht heute noch nur einen kleinen
Teil aus, stellt je nach Annahmen etwa 1 bis 3 Prozent des
Marktes dar. Ob die in dem Antrag der Linken genannte
Zunahme an Arzneifälschungen als Grund für ein Verbot
des Versandhandels für rezeptpflichtige Arzneimittel ausreicht, ist rechtlich betrachtet aufgrund der vorliegenden
Erkenntnisse unwahrscheinlich. Die FDP ist genauso wie
die Linken besorgt, dass die Zahl an Arzneimittelfälschungen zunimmt. Die FDP beobachtet daher die Entwicklungen genau. Die FDP will, dass der Verbraucher
weitestgehend vor Fälschungen geschützt ist und sich auf
eine hohe Arzneimittelsicherheit verlassen kann. Das
Bundeskriminalamt jedenfalls schätzt das Risiko, eine
Arzneimittelfälschung in einer niedergelassenen Apotheke zu erhalten, genauso niedrig ein wie in einer legalen Versandapotheke. Am meisten treten Fälschungen
laut Bundeskriminalamt im Bereich Dopingmittel und
Lifestyle-Präparate wie zum Beispiel Viagra auf. Die beiden Hauptvertriebswege sind Sportstudios und illegaler
Internethandel. Leider ist zu befürchten, dass auch bei einem Verbot des Versandhandels von rezeptpflichtigen
Arzneien weiterhin mit Arzneifälschungen zu rechnen ist.
Deshalb ist dringend erforderlich, dass die Bundesregierung mit Apothekern und Pharmabranche darüber
spricht, wie zum Beispiel durch verbesserte Kennzeichnungen oder andere Maßnahmen die Sicherheit erhöht
werden kann. Falls der Versandhandel wieder verboten
würde, ist auf jeden Fall mit Klagen zu rechnen, deren
Ausgang schwer abzuschätzen ist. Einschränkungen des
grundgesetzlich verbürgten Rechtes der Berufsfreiheit
bedürfen immer einer besonderen Begründung. Ohne
triftige Gründe des Gemeinwohls wäre damit die Wahrscheinlichkeit, dass Klagen von Betroffenen gegen die
Wiedereinführung des Versandhandelsverbots erfolgreich sind, sehr groß. Den Versandhandel komplett wieder zu verbieten, halte ich für nicht mehr gangbar. Wir
sollten deshalb gemeinsam an einem Weg arbeiten, wie
die nicht gewollten Auswüchse verhindert werden können. Etwas anderes ist nämlich die nun durch das Bundesverwaltungsgericht Leipzig eröffnete Möglichkeit einer Abgabe von Arzneimitteln in Abgabestellen, die nicht
die Bedingungen erfüllen, die an eine Apotheke gestellt
werden. Damit ist es nach geltender Rechtslage möglich,
dass anstelle des Apothekers auch zum Beispiel Kioskbetreiber oder Tankwarte unkontrolliert Rezepte einsammeln
und die bestellten Arzneimittel ausgeben. Eine sachgemäße Behandlung und Lagerung ist damit nicht gewährleistet. Eine weitere Problematik entsteht dadurch, dass
die Abgabestellen zum Teil Gutscheine für ihren eigentlichen Geschäftsbetrieb ausstellen, wenn Patienten Arzneimittel über sie beziehen. Damit schwindet das Bewusstsein dafür, dass es sich bei Arzneimitteln um ein ganz
spezielles Gut handelt, das mit Nebenwirkungen verbunden ist und bei dem eine sorglose Ausweitung des Konsums auf jeden Fall verhindert werden muss.
Arzneimittel gehören nicht zwischen Waschmittel und
Schokoriegel. Eine solche Entwicklung kann weder unter
Sicherheitsaspekten noch im Hinblick auf gleiche Wettbewerbsbedingungen gewollt sein. Wettbewerb kann nur
unter fairen Bedingungen funktionieren. Es ist eine Benachteiligung, wenn Wettbewerber Pflichten zu erfüllen
haben, die andere nicht erfüllen müssen. Die Apotheke
vor Ort erfüllt wichtige Gemeinwohlaufgaben wie Nachtund Wochenenddienst, muss Labor und Mindestgrößen
der Ladenfläche und entsprechend fachkundiges Personal gewährleisten. Wir alle haben ein Interesse daran,
dass diese Pflichten erfüllt werden, damit die Arzneimittelversorgung auf einem entsprechend hohen Niveau erreicht wird. Wenn jetzt Drogerien oder andere versuchen,
über die Ausnutzung des Versandweges sich den Anschein
einer Apotheke zu geben, ohne die Pflichten zu erfüllen,
dann sind das unfaire Wettbewerbsbedingungen für die
Apotheken vor Ort. Hinzu kommt, dass Apotheken eine
Vielzahl von Voraussetzungen erfüllen müssen, um den Sicherheitsstandard zu gewährleisten. Es könnte eine Gefahr für die Sicherheit und die Versorgung vor Ort entstehen.
Diese Ausfransung durch Abholstellen war meines Erachtens selbst von der Mehrheit derjenigen nicht gewollt,
die damals der Aufhebung des Versandhandelsverbotes
zugestimmt haben. Das Gesetz ist insofern nicht exakt
genug formuliert. In der Urteilsbegründung des Bundesverwaltungsgerichtes heißt es dazu: „Zwar dürfte der
Gesetzgeber von dem ,klassischen‘ Versandhandelsmodell
mit individueller Zustellung ausgegangen sein; doch hat
er seine Regelung nicht auf dieses Modell beschränkt.“
Wir brauchen daher eine gesetzliche Klarstellung, dass
ein Versand von Arzneimitteln nur aus Apotheken durch
Apotheken selbst oder von diesen beauftragten Transportunternehmen unmittelbar an den Endverbraucher zulässig ist. Die FDP legt einen Antrag vor, der genau dieses Problem anpackt. CDU, CSU und SPD müssen sich
jetzt bewegen. Sie haben den Versandhandel erlaubt und
damit die Möglichkeit für solche Ausfransungen erst geschaffen. Bisher sagt die schwarz-rote Bundesregierung
auf unsere Forderungen, dass sie nichts unternehmen
wolle. Wenn Schwarz-Rot nichts macht, dann fördern Sie
ungleiche Wettbewerbsbedingungen und Verzerrungen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit ihrem Antrag fordert die Fraktion Die Linke im
Bundestag die Bundesregierung auf, einmal vorausschauend zu agieren, nicht alles über den Markt „regeln“
zu lassen und hinterher vor einem Zustand zu stehen, den
man eigentlich so nicht gewollt hatte.
Alle proklamieren, es ginge ihnen um eine qualitätsgesicherte und flächendeckende Arzneimittelversorgung.
Aber unübersehbar ist, dass der Anteil über das Internet
bezogener rezeptpflichtiger Arzneimittel permanent
steigt. Absehbar ist der Zeitpunkt, an dem dieser Umsatzverlust die Apotheken massiv unter Druck bringt, viele
Apotheken in ihrer Existenz bedroht. Die Infragestellung
des flächendeckenden Apothekennetzes wird über kurz
oder lang ein Versorgungs- und Beratungsproblem der
Bevölkerung insbesondere im ländlichen Raum und für
ältere, zumeist mehrfach erkrankte Menschen bringen.
Die Freigabe des Versandhandels auch für rezeptpflichtige Arzneimittel mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz ab 2004 ist für uns nicht zuvörderst ein Sicherheitsproblem hinsichtlich möglicher Gefahren des
Bezugs „gepantschter“ Arzneimittel oder der Abwicklung des Vertriebs auch über Drogeriemärkte; insofern
greift unseres Erachtens auch der ebenfalls zu dieser Debatte eingebrachte FDP-Antrag zu kurz. Für uns steht die
Rettung der bewährten inhabergeführten Präsenzapotheke im Mittelpunkt. Die Apotheke mit einem ausgebildeten Pharmazeuten an der Spitze und vielen kundigen
Angestellten soll auch in Zukunft eine qualitätsgesicherte
und flächendeckende Arzneimittelversorgung für die Bevölkerung in der Bundesrepublik garantieren. Die Bedeutung bzw. Rolle des Apothekers und der Apothekerin als
Heilberufler und Heilberuflerin ist angesichts der älter
werdenden Bevölkerung und der Komplexität medizinischer Neuerungen bzw. permanenter Veränderungen im
Gesundheitssystem eher noch zu stärken als zu schwächen.
Hier ist der Gesetzgeber gefordert, die rechtlichen
Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass sie dieses Erfordernis unterstützen und nicht behindern. Nicht umsonst hat der Europäische Gerichtshof die Ausgestaltung
des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in das Ermessen der Länder gegeben.
Die Freigabe des Versandhandels für alle zugelassenen Arzneimittel ab 2004 war eingebettet in die Kostendämpfungsbemühungen des Gesetzgebers. Sicher haben
wir eine Vielzahl von Apotheken, womit wir allerdings
„nur“ im europäischen Mittelfeld liegen. Aber die Apotheken sind nicht die Preistreiber der permanent steigenden Arzneimittelausgaben. So sind die Ausgaben für
Arzneimittel von 1995 bis 2005 von 8,94 Milliarden Euro
auf 15,44 Milliarden Euro gestiegen. Im gleichen Zeitraum haben sich aber die Rohgewinne der Apotheken und
des Großhandels von 5 Milliarden in 1995 auf
4,94 Milliarden in 2005 sogar geringfügig reduziert.
Kostentreiber sind folglich die Pharmakonzerne. Also
nicht einmal das Argument der Minderung der Arzneimittelausgaben zieht bei der Ermöglichung des Versandhandels mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln. Sicher werden
etliche Menschen auch zum Versandhandel vor allem aus
finanziellen Aspekten „gelockt“, beispielsweise über den
teilweisen oder gänzlichen Wegfall von Zuzahlungen.
Aber hierzu ist zu sagen: Zuzahlungen passen prinzipiell
nicht zur Bereitstellung medizinisch notwendiger Güter
in einem solidarischen Gesundheitssystem. Die Zuzahlungen müssen weg - nicht die Apotheken. Mit einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung für alle
wäre das auch möglich.
Doch heute geht es um die Vorsorge, dass uns das Apothekensystem nicht zerbricht. Daher unser Appell an die
Bundesregierung: Legen Sie sofort einen Gesetzentwurf
vor, der den Versandhandel auf nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel begrenzt!
Versandapotheken müssen Anforderungen an die Pa-
tienteninformation und die Sicherheit ihrer Dienstleis-
tung erfüllen, die denen entsprechen, die auch an eine Of-
fizinapotheke gestellt werden. Dazu kommen besondere
Anforderungen an die Sicherheit des Transports und die
Art und Weise der Auslieferung. Wenn es hier rechtliche
oder praktische Defizite geben sollte, wären diese konkret
zu benennen. Das macht aber niemand von denen, die die
Kampagne gegen den Versandhandel führen. Stattdessen
werden diffuse Ängste geschürt.
Als Hilfsargument wird häufig der Schutz vor Arznei-
mittelfälschungen angeführt. Richtig ist, dass Arzneimit-
telfälschungen nicht mehr ausschließlich ein Problem der
Dritten Welt sind. Im Zuge der Globalisierung und auch
über das Internet gelangen Medikamente, die gar keine
oder nicht die auf der Packung angegebenen Wirkstoffe
enthalten, zunehmend auch zu uns. Zwar bewegt sich
nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation der
Anteil der Fälschungen am Arzneimittelumsatz in den
westlichen Industrieländern noch unter 1 Prozent. Aller-
dings ist dieser vermeintlich kleine Anteil alles andere als
beruhigend, zumal man von einer hohen Dunkelziffer und
einem weiteren Anstieg ausgehen muss.
Dem aber mit einem Verbot des Versandhandels be-
gegnen zu wollen, ist völlig illusorisch. Der Großteil der
Arzneimittelfälschungen stammt aus Ländern der Dritten
Welt. Der Versand von Arzneimitteln von Ländern außer-
halb des Europäischen Wirtschaftsraums direkt an End-
verbraucher in Deutschland ist aber ohnehin verboten.
Zudem ist die weit überwiegende Anzahl gefälschter Arz-
neimittel nicht verschreibungspflichtig. Bei ihnen handelt
es sich um „Lifestyle“-Medikamente, Potenzmittel, Ana-
bolika, Schlafmittel und auch Nahrungsergänzungspro-
dukte, die die Kundinnen und Kunden auf eigene Rech-
nung bestellen. Dieser Versandhandel lässt sich aber
- soweit er aus der Europäischen Union kommt - mit den
Instrumenten des Arzneimittelrechts nicht verhindern,
rechtlich, weil ein Versandhandelsverbot für rezeptfreie
Arzneimittel nicht mit der Rechtsprechung des Europäi-
schen Gerichtshofs zu vereinbaren wäre, aber auch
„technisch“, weil man ein solches Verbot ohne die Ab-
schaffung des Internets nicht umsetzen könnte.
Das Nebeneinander unterschiedlicher Vertriebswege
auf dem Arzneimittelmarkt ist eine Tatsache. Diese Plu-
ralisierung wird nicht zuletzt durch die Rechtsprechung
Zu Protokoll gegebene Reden
des Europäischen Gerichtshofs weitergehen. Der da-
durch entstehende Wettbewerb kann für die Verbraucher-
innen und Verbraucher und das Gesundheitswesen vor-
teilhafte Wirkungen haben. Voraussetzung ist allerdings,
dass die wettbewerbliche Dynamik durch ein Gerüst von
Qualitätsanforderungen und Kontrollmechanismen so
eingehegt wird, dass die Arzneimittelsicherheit nicht in-
frage gestellt wird. Dazu gehört zum Beispiel, dass Apo-
theken auch weiterhin von ausgebildeten Apothekerinnen
und Apothekern geleitet werden müssen. Und dazu gehört
auch, dass die Abgrenzung zwischen frei verkäuflichen
und apothekenpflichtigen Arzneimitteln erhalten bleibt.
In diesem Zusammenhang wird man auch darüber re-
den müssen, ob man - wie die FDP fordert - die Aushän-
digung bestellter Arzneimittel zum Beispiel in Drogerie-
märkten verbietet. Zwar glaube ich nicht, dass durch
einen solchen Abholservice die Arzneimittelsicherheit un-
mittelbar gefährdet wird. Gleichgültig, ob das bestellte
Arzneimittel direkt an den Patienten oder die Abholsta-
tion geschickt wird - für die Arzneimittelsicherheit bleibt
auch weiterhin die Versandapotheke verantwortlich. Al-
lerdings muss vermieden werden, dass ein solcher Abhol-
service zum Türöffner für die Aufhebung der Apotheken-
pflicht für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel
wird. Rezeptfreie Arzneimittel könnten dann überall ver-
kauft werden. Das würde ich mit Blick auf die Risiken des
Arzneimittelkonsums für falsch halten. Die Verbreitung
von Arzneimittelfälschungen werden wir aber nur sehr
begrenzt mit apothekenrechtlichen Instrumenten verhin-
dern können. Hier kommt es vor allem darauf an, dass
sich die Verbraucherinnen und Verbraucher mündig ver-
halten. Dazu muss mehr Transparenz geschaffen werden.
Die mit falschen oder fehlenden Wirkstoffen verbunde-
nen Risiken müssen noch stärker öffentlich thematisiert
werden. Außerdem müssen die Verbraucherinnen und
Verbraucher darüber informiert werden, wie sie unseriöse
von seriösen Versandhändlern unterscheiden können. In
diesem Zusammenhang ist die Zertifizierung von Ver-
sandhandels-Apotheken besonders wichtig. Keinen Bei-
trag zu mehr Arzneimittelsicherheit leisten aber Ruf-
mordkampagnen, in denen seriöse Versandhändler mit
dubiosen Geschäftemachern in einen Topf geworfen wer-
den.
Rolf Schwanitz, Parlamentarischer Staatssekretär
bei der Bundesministerin für Gesundheit:
Zum 1. Januar 2004 ist der Versandhandel mit Arznei-
mitteln in Deutschland legalisiert worden. Wesentlich da-
für war, dass chronisch Kranke, immobile Menschen und
Beschäftigte einen besseren Zugang zu Arzneimitteln er-
halten. Klar war, dass der Versandhandel nur in den Fäl-
len infrage kommt, in denen Arzneimittel nicht akut benö-
tigt werden.
Damals wie heute werden die immer gleichen Szena-
rien gegen den Arzneimittelversand herangezogen. Bis-
her ist noch keines eingetreten.
Heute gibt es über 2 000 Apotheken, die eine Erlaub-
nis zum Versandhandel haben. Gleichzeitig sind diese
Versandapotheken auch Präsenzapotheken. Damit betei-
ligen sie sich an den Gemeinwohlaufgaben wie Nacht-
und Wochenenddienst, und sie beraten ihre Patientinnen
und Patienten.
Wenn wir die Fakten ganz nüchtern ansehen, dann
zeigt sich, dass seit der Einführung des Versandhandels
die flächendeckende und ordnungsgemäße Versorgung
der Menschen mit Arzneimitteln uneingeschränkt besteht
und dass es kein Apothekensterben gibt.
Seit Einführung des Versandhandels ist die Zahl der
Apotheken um fast 200 auf rund 21 500 gestiegen. Es gibt
keinerlei Hinweise auf eine regionale Unterversorgung
mit Arzneimitteln. Der Anteil der Ausgaben der gesetzli-
chen Krankenversicherung für Arzneimittel aus Ver-
sandapotheken beträgt weniger als 1 Prozent der Arznei-
mittelausgaben.
Diese Fakten verdeutlichen, dass von einer Gefähr-
dung der Präsenzapotheke keine Rede sein kann. Viel-
mehr sind die Apotheker aufgefordert, stärker mit ihrem
lokalen Standortvorteil zu werben.
Das Argument der Arzneimittelfälschungen ist ge-
nauso vielschichtig wie der Fälschungsbegriff selbst. Er
reicht von der falschen Kennzeichnung der Arzneimittel-
packung über Patentverstöße bis hin zur Fälschung von
Wirkstoffen. Unbestritten ist, dass jede Fälschung eines
Arzneimittels eine zuviel ist. Wenn wir die Zahlen des
Zollberichts 2007 genauer ansehen, dann entfallen von
den Arzneimittelfälschungen mit einem Warenwert von
8,3 Millionen Euro über 90 Prozent auf einen einzigen
Fall, und dabei geht es um einen Patentstreit. Ohne die-
sen Fall reduziert sich der Warenwert an gefälschten Me-
dikamenten von 2,5 Millionen Euro in 2006 auf 0,6 Mil-
lionen Euro in 2007. Dabei findet die Fälschungsproble-
matik im illegalen und nicht im legalen Arzneimittelver-
sandhandel statt.
Das Bundesverwaltungsgericht hat im Versandhandel
mit Einbeziehung eines Bestell- und Abholservice keine
besonderen Risiken für den Endabnehmer gesehen. Für
die Sicherheit der Lieferkette, also auch für Transport
und Lagerung, ist der versendende Apotheker verant-
wortlich. Dabei darf in den Bestell- und Abholstellen
nicht der Anschein erweckt werden, dass dort Arzneimit-
tel abgegeben würden. Für die Abgabe ist allein ein Apo-
theker verantwortlich.
Den Versandhandel auf verschreibungsfreie Arznei-
mittel gesetzlich zu begrenzen, würde den illegalen Ver-
sandhandel bestärken. Wir wollen jedoch, dass die Men-
schen ihre Arzneimittel legal beziehen. Deshalb sehen wir
keine Gründe, die Regelung des Versandhandels zu än-
dern.
Es wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf Druck-
sachen 16/9754 und 16/9752 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Es gibt keine
Einwände. Dann sind die Überweisungen so beschlos-
sen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a und 36 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg
Rohde, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wettbewerb in der Eingliederungshilfe stär-
ken - Wahlfreiheit und Selbstbestimmung der
Menschen mit Behinderung erhöhen
- Drucksache 16/9451 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard ScheweGerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Persönliche Budgets für berufliche Teilhabe
jetzt ermöglichen
- Drucksache 16/9753 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Hubert Hüppe, Silvia Schmidt, Jörg Rohde, Dr. Ilja
Seifert und Markus Kurth geben dazu Reden zu Protokoll.
In der Koalitionsvereinbarung haben wir uns darauf
geeinigt, mehr für die berufliche Integration von Menschen mit Behinderungen zu tun. Wir haben uns entschieden, mehr behinderten Menschen die Möglichkeit zu
eröffnen, außerhalb von Werkstätten für behinderte Menschen ihren Lebensunterhalt im allgemeinen Arbeitsmarkt erarbeiten zu können. Ein Vorschlag, der behinderten Menschen mehr Möglichkeiten außerhalb von
Werkstätten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eröffnet,
wird zurzeit im Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter dem Titel „Unterstützte Beschäftigung“ erarbeitet.
Durchgreifende Lösungen für verbesserte Teilhabe
von behinderten Menschen am Arbeitsleben sind nur
schwierig zu erreichen. Die Situation ist geprägt durch
unterschiedliche Kostenträger, unterschiedliche Interessen von Bund und Ländern und eingefahrene Strukturen.
Dieser Schwierigkeit sind sich offenbar auch die Antragsteller der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen bewusst. Bündnis 90/Die Grünen legen nicht etwa einen Gesetzentwurf vor, der eine ausdifferenzierte Lösung
präsentiert. Vielmehr bleibt der Antrag bei eher vagen
Forderungen auf ein Persönliches Budget für berufliche
Teilhabe.
In der Tat sehe ich den Zuwachs an belegten Plätzen in
Werkstätten für behinderte Menschen kritisch. Von 1996
bis 2006 stieg die Anzahl der belegten Plätze um über
100 000 von 166 356 auf 268 046. Dies ist ein Zuwachs
von über 60 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Den mit
Abstand höchsten Zuwachs gab es übrigens zu Zeiten der
rot-grünen Bundesregierung mit über 25 000 behinderten
Menschen im Jahre 2002 gegenüber 2001. Dieser Zuwachs war in etwa dreimal so hoch wie im Jahr zuvor und
danach. Die außergewöhnlich starken Zuwächse fielen
genau in die Zeit der rot-grünen Kampagne „50 000 Jobs
für Schwerbehinderte“. Tatsächlich hatte die rot-grüne
Bundesregierung von Oktober 1999 bis Oktober 2002 die
Zahl arbeitsloser Schwerbehinderter um fast 50 000 gesenkt. Es stellte sich nur die Frage, wohin diese fast
50 000 weniger Arbeitslosen entschwunden waren. Ob
hier zwischen der gesunkenen Zahl an arbeitslosen
schwerbehinderten Menschen in Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes und dem außergewöhnlichen Zuwachs in Werkstätten im Jahre 2002 ein Zusammenhang
bestehen könnte, kann jeder für sich selbst beantworten.
Parallel zu der Entwicklung in Werkstätten für behinderte Menschen muss die Entwicklung bei Förderschülern betrachtet werden, die häufig nach Abschluss der
Förderschule ausschließlich Leistungen in Werkstätten
für behinderte Menschen erhalten. Von 1996 bis 2005
stieg die Zahl der Förderschüler alleine in WestfalenLippe, dort, wo ich wohne, bei körperbehinderten Kindern
um 22 Prozent, bei Kindern mit sogenannter geistiger Behinderung um 33 Prozent und auf Förderschulen für Erziehungshilfe um 81 Prozent. Diese Entwicklung dürfen
wir nicht weiter hinnehmen. Es muss in allen Bereichen
mehr gemeinsame Lebensräume von Menschen mit und
ohne Behinderung geben. Insbesondere im Bereich des
Arbeitslebens und der Schule haben wir einiges aufzuholen. Klar ist: Wir brauchen die Werkstätten für die Menschen mit Behinderungen. Ich glaube, unter dem Dach
der Werkstätten ist mehr möglich, beispielsweise bei ausgelagerten Werkstattplätzen. Bisher gibt es hier nicht
genügend Möglichkeiten. Im Jahre 2006 gab es im Berufsbildungsbereich der Werkstätten für behinderte Menschen nur 1 Prozent ausgelagerte Werkstattplätze, im Arbeitsbereich waren dies lediglich 3 Prozent. Übergänge
von Werkstätten für behinderte Menschen in eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt liegen unter 0,5 Prozent. Das muss sich ändern. Ich spreche mich
dafür aus, behinderten Menschen, die in Unternehmen
des allgemeinen Arbeitsmarktes ihre Teilhabemöglichkeiten in Anspruch nehmen wollen, diese Möglichkeit zu
eröffnen, zum Beispiel in Integrationsfirmen. Neue Arbeitsmarktinstrumente, wie der Zuschuss zu den Arbeitsentgelten in § 16 a SGB II sollte genutzt werden, bevor
ein Mensch mit Behinderungen in Werkstätten beschäftigt
wird. Eine Möglichkeit, dem Wunsch- und Wahlrecht im
Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben in besonderer
Weise Rechnung zu tragen, ist das Persönliche Budget.
Lange bestand Unklarheit darüber, wie weit das Persönliche Budget im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben
reicht. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
hat mir seine Position auf meine Nachfrage erläutert. Es
vertritt eine eher enge Auffassung des Persönlichen Budgets. Aus meiner Sicht müssen wir hier weitergehen. Allerdings ist für mich nicht nachvollziehbar, warum in dem
vorliegenden Antrag hauptsächlich jungen Leuten das
Persönliche Budget im Arbeitsleben ermöglicht werden
soll. Sollen behinderte Menschen, die schon länger in
Werkstätten sind, nicht in gleicher Weise die Chance haben, eine Beschäftigung oder Berufsbildung in einem
Betrieb des allgemeinen Arbeitsmarktes mithilfe des Persönlichen Budgets auszuüben? Wenn man das Persönliche Budget für Leistungen am Arbeitsleben stärken will,
so muss es allen behinderten Menschen, die zurzeit ausschließlich Leistungen in Verantwortung von Werkstätten
erhalten können, in gleicher Weise eröffnet sein. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen erfüllt diese Anforderungen nicht.
Die FDP will mehr Wettbewerb zwischen Erbringern
von Leistungen der Eingliederungshilfe. Auch ich kann
mir vorstellen, mehr Wettbewerb im Bereich der Eingliederungshilfe zuzulassen. Hier muss dann aber für die entsprechenden Rahmenbedingungen gesorgt werden. Wenn
die FDP im Bereich der Eingliederungshilfe mehr Wettbewerb fordert, so sind hiervon auch behinderte Menschen betroffen, die bisher ausschließlich vom Leistungserbringer Werkstatt für behinderte Menschen Leistungen
der Eingliederungshilfe erhalten können. Die behinderten Menschen in den Werkstätten haben besondere Nachteilsausgleiche, wie die besondere rentenversicherungsrechtliche Absicherung, die Aufnahmeverpflichtung der
Werkstätten oder den Status des arbeitnehmerähnlichen
Rechtsverhältnisses. Mit keinem Wort erwähnt die FDP
in ihrem Antrag diese besonderen Rahmenbedingungen.
Es sind keine Ausführungen zu finden, ob oder wie diese
Rahmenbedingungen gelten sollen, wenn nicht die Werkstatt für behinderte Menschen der Leistungserbringer ist.
Der Antrag ist vielleicht gut gemeint, sieht aber sehr nach
„aus der Hüfte geschossen“ aus. Er ist unausgegoren.
Wichtig ist, das Recht behinderter Menschen auf Teilhabe am Arbeitsleben umfassend zu gewährleisten. Es ist
auf eine hohe Qualität der Teilhabeleistungen zu achten.
Eine gute soziale Absicherung der behinderten Menschen
muss dabei gesichert sein. Teilhabe am Arbeitsleben ist
im besonderen Maße geeignet, das Selbstwertgefühl behinderter Menschen zu stärken, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Das Wunsch- und Wahlrecht muss bei Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben noch mehr in den
Mittelpunkt rücken. Veränderungen im Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind nur schwierig
zu erreichen. Es lohnt sich aber, weiter für eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen zu kämpfen.
Der vorliegende Antrag der FDP nimmt die Leistungsträgerstruktur in der Eingliederungshilfe auf. Es wird
festgestellt, dass die Eingliederungshilfe des SGB XII im
Gegensatz zur Sozialen Pflegeversicherung des SGB XI
eine andere Trägerstruktur begünstigt.
Herr Rohde kreidet der Eingliederungshilfe an, sie
würde Träger von der Leistungserbringung ausgrenzen
und so den Wettbewerb verhindern. Im Gegensatz zur
FDP sind wir Sozialdemokraten nicht so sehr am Interesse der Träger und dafür umso mehr am Interesse der
Bürgerinnen und Bürger mit Behinderung interessiert.
Sicherlich muss es einen Schub für mehr Wettbewerb geben - aber nicht zum Wohle der Träger, sondern zum
Wohle der Menschen mit Behinderung. Sie verkennen,
dass es in der Pflegeversicherung natürlich einen offenen
Wettbewerb gibt, dieser aber zumeist über den Preis und
über die günstigste Preisgestaltung geführt wird. In der
ambulanten und in der stationären Pflege wird die Minute
zur Abrechnungseinheit für alles, was ein pflegebedürftiger Mensch braucht und was ihm zusteht. Das zum
Beispiel wollen wir ändern. Deshalb haben wir eine
Kommission zur Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs eingesetzt, die diese Grundlagen überarbeiten
wird. Die Grundlagen für menschliche Zuneigung und für
das Kümmern um die Menschen kommen zu kurz. Das haben Sie aus der Kohl-Ära mitzuverantworten.
Weiterhin haben wir zunehmend ein Maß an Vergütung
der Mitarbeiter, auch und gerade bei der wachsenden
Zahl an privaten Pflegeheimen, die zum Teil als sittenwidrig zu bezeichnen ist. Tausende Mitarbeiter rackern Tag
für Tag in der Pflege und bekommen nicht die ihnen zustehende Anerkennung. Das ist ein Wettbewerb, den wir
bei der Eingliederungshilfe nicht wollen.
Die Pflegeversicherung ist geradezu ein abschreckendes Beispiel für offenen Wettbewerb: Hier hat sich bisher
nicht Qualitäts-, sondern Preiswettbewerb durchgesetzt.
Heimstrukturen werden verfestigt. Die Menschen haben
keine Chance zu wählen, welche Dienstleistung sie von
wem kaufen wollen. Langfristig wird nichts daran vorbeiführen, den Wettbewerb über Qualität und Transparenz
zu verstärken. Dazu haben wir mit der Pflegereform 2008
die Grundlagen geschaffen. Es ist daher eine trügerische
Freiheit, die wir in der Eingliederungshilfe nicht wollen.
Hier arbeiten die Leistungserbringer seit vielen Jahren
erfolgreich mit den Kostenträgern zusammen. Die Wahlfreiheit der Menschen wird nicht durch die Anzahl der
konkurrierenden Angebote gewährleistet - das ist ein alter und falscher Glaube der Wirtschaftsliberalen! Im Gegensatz zur Pflegeversicherung herrscht das Individualisierungsprinzip. Die Wahlfreiheit ergibt sich aus dem
Anspruch eines jeden Einzelnen, bedarfsgerechte Leistungen selbst wählen zu können. Sie wird gefördert durch
die Stärkung von persönlichen Budgets - eines der Instrumente des SGB IX. Wir fördern sie auch durch den Aufbau
eines ambulanten Dienstleistungs- und Unterstützungssystems für gemeindenahe Hilfen. Wir fördern sie durch
die Unterstützung für Eltern und Kinder mit Behinderung. All das sind Elemente unserer Politik, die sich ganz
auf die Wahlfreiheit der Menschen und auf selbstbestimmte Teilhabe ausrichten.
Einen Verdrängungswettbewerb um die Leistungserbringung brauchen wir nicht. Wir überlassen es den Trägern der Eingliederungshilfe zu entscheiden, welcher Bedarf an Ergänzungen der Trägerstruktur vor Ort besteht.
Es gehört in die Entscheidungshoheit der Kostenträger,
welche Maßnahme zur bedarfsgerechten Leistungserbringung angemessen ist. Daran soll sich auch die Trägerstruktur orientieren,
Wir verzichten aber nicht darauf, die Kosten- und Leistungsträger weiter zu einer bedarfsgerechten und teilhabeorientierten Vorgehensweise anzuhalten. Wir drängen
darauf, dass die Zumutbarkeit enger ausgelegt wird als
bisher oder sogar eine Änderung erreicht wird. Wir wollen auch über die Deckelung des Persönlichen Budgets
erneut beraten. Ich denke, das sind ausgezeichnete Wege,
die Wahlfreiheit der Menschen zu stärken. Denn wir
Zu Protokoll gegebene Reden
Silvia Schmidt ({0})
wollen die Eingliederungshilfe als bedarfsdeckende individuelle Teilhabeleistung weiterentwickeln und neu ordnen.
Lieber Herr Rohde, liebe Kolleginnen und Kollegen,
lassen Sie uns hier gemeinsam ansetzen. Es braucht eine
Reform der Eingliederungshilfe - dass will ich nicht verhehlen -;aber Sie kennen auch die politischen Rahmenbedingungen.
Zu den Schiedsstellen. Auch eine begrenzte Erweiterung der Schiedsstellenfähigkeit für den Bereich der Eingliederungshilfe dürfte aktuell keine Aussicht auf Erfolg
haben. Die Länder lehnen es ab, die Leistungsvereinbarung in die Entscheidungskompetenz der Schiedsstelle zu
legen. Diese könnte damit im Streitfall auf Antrag einer
Partei auch die Leistungsstandards einschließlich der
personellen Ausstattung einer Einrichtung bestimmen.
Der Vorsitz der Schiedsstelle würde darüber befinden
müssen, welcher Leistungsstandard für eine bedarfsgerechte Hilfe erforderlich ist. Diese Anforderungen an das
fachpolitische und pädagogisch-therapeutische Beurteilungsvermögen dieser einen Person wären nicht zu erfüllen. Eine Leistungssteuerung im Sinne einer systematisch
aufeinander abgestimmten Fach- und Finanzverantwortung bliebe dabei auf der Strecke. Darüber ist mit den
Ländern schon ausgiebig verhandelt worden. Es besteht
hier keine realistische Aussicht, und ich hielte sie auch
fachlich für nicht gerechtfertigt.
Lassen Sie mich meine Rede mit einem Zitat beginnen.
Im Koalitionsvertrag von 2005 haben Union und SPD
Folgendes vereinbart:
…
Gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und den
Verbänden behinderter Menschen werden wir die
Leistungsstrukturen der Eingliederungshilfe so weiterentwickeln, dass auch künftig ein effizientes und
leistungsfähiges System zur Verfügung steht. Dabei
haben der Grundsatz „ambulant vor stationär“, die
Verzahnung ambulanter und stationärer Dienste,
Leistungserbringung „aus einer Hand“ sowie die
Umsetzung der Einführung des Persönlichen Budgets einen zentralen Stellenwert. Wir wollen, dass
die Leistungen zur Teilhabe an Gesellschaft und Arbeitsleben zeitnah und umfassend erbracht werden.
Hierzu bedarf es der effektiven Zusammenarbeit
der Sozialleistungsträger.
Die berufliche Integration von Menschen mit Behinderungen werden wir intensivieren. Wir wollen,
dass mehr von ihnen die Möglichkeit haben, außerhalb von Werkstätten für behinderte Menschen ihren Lebensunterhalt im allgemeinen Arbeitsmarkt
erarbeiten zu können. Dabei werden wir auch prüfen, wie die Eingliederungszuschüsse an Arbeitgeber ausgestaltet werden, um die Planungssicherheit
für die dauerhafte Integration von behinderten Arbeitnehmern in neue Beschäftigung zu verbessern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren der Regierungskoalition: Wenn Sie dieses Versprechen eingelöst
hätten, würden wir heute nicht die vorliegenden Anträge
diskutieren. Denn die traurige Realität von drei Jahren
schwarz-roter Behindertenpolitik ist: Es gibt sie nicht!
Nichts ist passiert in all den Jahren. Weder ist es Ihnen
von SPD, CDU und CSU gelungen, dem Trägerübergreifenden Persönlichen Budget zum Erfolg zu verhelfen,
noch konnten Sie die Arbeitslosigkeit unter Behinderten
nennenswert senken. Ihre Wahlversprechen und die Absichtserklärungen des Koalitionsvertrages haben sich in
Schall und Rauch aufgelöst. Geblieben ist nichts. Einer
grundlegenden Reform der Eingliederungshilfe ist man
im Ministerium für Arbeit und Soziales keinen einzigen
Schritt näher gekommen.
Symptomatisch für die eingefrorene Behindertenpolitik der Großen Koalition ist auch die von der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung betreute Homepage www.sgb-IX-umsetzen.de. Unter der Überschrift
„Neuigkeiten“ wird einem hier ein Eckpunktepapier von
2005, also von vor vier Jahren, offeriert. Allein der Begrüßungstext wurde beim Wechsel von Karl-Hermann
Haack zu Karin Evers-Meyer verändert, ansonsten sieht
die Bundesregierung anscheinend keinen weiteren Umsetzungsbedarf mehr beim SGB IX.
Menschen mit Behinderungen genießen bei der Bundesregierung ganz offensichtlich keine Priorität. Es muss
deshalb nicht verwundern, dass allein die Fraktionen der
Opposition immer wieder mit Vorschlägen zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe und damit auch zur Optimierung der Teilhabechancen von Menschen mit Behinderung in die Bresche springen.
Damit komme ich zu den heute zur Beratung vorliegenden Anträgen. Mehr ambulante Angebote, mehr Leistungsvielfalt, ein funktionierendes Wunsch- und Wahlrecht - all das kann es nur geben, wenn der Vielzahl von
Leistungsempfängern mit ihren individuellen Pflege- und
Betreuungsbedürfnissen ein entsprechend plurales Leistungsangebot gegenübersteht. Daran mangelt es derzeit.
Einer der Hauptgründe für die Existenz von Oligopolen im Sozialmarkt ist der schwierige Markteintritt für
neue Leistungsanbieter. Wer Leistungen für behinderte
Menschen anbieten möchte, muss vom Kostenträger dafür zugelassen werden. Einen Anspruch auf Zulassung
gibt es aber nicht, die Entscheidung über eine Zulassung
liegt im Ermessen des Trägers. Träger, denen die Zulassung verweigert wird, können auch keine Schiedsstellen
anrufen, sondern müssen den Weg über die Gerichte suchen. Die Zahl der Leistungserbringer und damit die Pluralität des Leistungsangebotes kann somit, zum Nachteil
der Menschen mit Behinderung, begrenzt werden.
Bei der Pflegeversicherung geht man bereits andere
Wege: Hier haben Leistungsanbieter, sofern sie bestimmte Qualitätsvorgaben erfüllen, einen Anspruch auf
Zulassung zur Leistungserbringung. Die FDP fordert
deshalb die Bundesregierung auf, die Zulassung zur Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe offener
zu gestalten. Wer gesetzlich zu definierende Qualitätskriterien erfüllt und die Leistungen zu einem marktgerechten
Preis anbietet, muss wenigstens das Recht zugestanden
Zu Protokoll gegebene Reden
bekommen, vor einer Schiedsstelle gegen eine Ablehnung
vom Kostenträger vorzugehen.
Darüber hinaus fordern wir Liberale die Bundesregierung auf, zu überprüfen, ob die Schaffung eines Anspruchs auf Zulassung, wie es ihn bereits jetzt im SGB XI
gibt, auch bei der Eingliederungshilfe zielführend wäre.
Wunsch- und Wahlfreiheit des behinderten Menschen
bedeutet, dass dieser sich nach Möglichkeit seinen Leistungsanbieter selbst aussuchen kann. Die Interessen des
Kostenträgers bleiben auch bei unserem Vorschlag, etwa
durch Fortbestand des Mehrkostenvorbehalts, gewahrt.
Leistungs- und Anbietervielfalt kann es nur mit mehr
Markt im Sozialmarkt geben. Dafür steht die FDP.
Ausdrücklich begrüße ich den Ansatz der Initiative der
Grünen, die Leistungsform des Persönlichen Budgets
auch bei der beruflichen Teilhabe zu stärken. Immer mehr
Menschen mit Behinderung befinden sich in der Klemme,
dass sie in der Werkstatt unterfordert und auf dem regulären Arbeitsmarkt überfordert sind. Das Persönliche
Budget kann hier ein geeignetes Instrument sein, behinderten Menschen berufliche Teilhabe individuell nach ihren Fähigkeiten und Unterstützungsbedarf zu ermöglichen. Ich freue mich darauf, im Ausschuss detailliert den
Antrag der Grünen zu beraten.
Jedes Land dieser Welt muss sich künftig in der Behindertenpolitik an der Umsetzung der am 13. Dezember
2006 in der UN-Vollversammlung verabschiedeten und
seit dem 3. Mai 2008 in Kraft getretenen UN-Konvention
über die Rechte von behinderten Menschen messen lassen. Dies gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland,
welche zwar zu den Erstunterzeichnern der Konvention
gehörte, diese aber noch nicht ratifiziert hat. Es geht um
die umfassende Teilhabe am Leben in der Gesellschaft,
um Barrierefreiheit und Nachteilsausgleich. Notwendig
sind also erstens eine breite Diskussion in der Gesellschaft über die Rechte von behinderten Menschen, bestehende Defizite und Barrieren, zweitens die nationale Gesetzgebung, einschließlich die der Bundesländer, im
Sinne der UN-Konvention zu überprüfen, zu ergänzen
bzw. zu ändern und drittens das dann neu geltende Recht
in die Praxis umzusetzen.
Die vorliegenden Anträge von FDP und Bündnis 90/
Die Grünen geben uns die Möglichkeit, hier im Hohen
Haus abermals darüber zu reden, machen sie doch auf bestehende Probleme bei der beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen aufmerksam. In diesem Zusammenhang wichtige Artikel der UN-Konvention sind das
Recht auf Bildung - Art. 24 - sowie auf Arbeit und Beschäftigung - Art. 27. Wie ist die Situation in Deutschland? Der Anteil an Menschen mit Behinderungen ist mit
circa 10 Prozent ähnlich hoch wie in allen anderen Ländern der Erde. Es gibt körperliche Beeinträchtigungen,
mentale, sogenannte geistige, Beeinträchtigungen der
Sinnesorgane sowie chronische und psychische Erkrankungen. Es gibt Behinderungen von Geburt an, infolge
von Krankheit und Unfällen oder altersbedingte. Die
Mehrzahl der Menschen mit Behinderungen in Deutschland wird zwar irgendwie versorgt und betreut, hat aber
nicht oder nur eingeschränkt die Möglichkeit der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Das beginnt mit dem
Lernen in einer Sonderschule, geht weiter mit der Berufsausbildung in einer speziellen Einrichtung, der Arbeit in
einer Behindertenwerkstatt und endet mit dem Lebensabend in einem Heim. Verwunderlich ist, dass es noch
keine Sonderfriedhöfe gibt.
Nur 14 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen lernen in einer Regelschule, Tendenz abnehmend, EU-Quote circa 60 Prozent. 80 Prozent von ihnen
verlassen die Schule ohne Abschluss, statistisch gesehen,
erreichen 0 Prozent das Abitur. Die Chance, von der Sonderschule den Übergang auf eine Regelschule zu schaffen, existiert so gut wie gar nicht. Inklusiv unterrichtet
wird hauptsächlich in Grundschulen, in der Sekundarstufe nimmt die Integrationsquote deutlich ab. Der Bundesregierung - nimmt man ihren aktuellen Bildungsbericht zur Hand - scheint das egal zu sein. Lediglich die
Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Karin Evers-Meyer, spricht hier klare
Worte:
Der Weg des Aussonderns und Sortierens hat uns in
eine Sackgasse geführt. Es wird Zeit, dass dieser
Erkenntnis endlich Taten folgen. Wir brauchen
Schulen für alle, in der jedes Kind individuell gefördert wird … Wer auf einer Sonderschule war, hat
später kaum noch eine Chance auf berufliche Eingliederung. Im Schnitt gehen mehr als 80 Prozent
dieser Kinder in eine Werkstatt für behinderte Menschen. Die beruflichen Chancen von behinderten
Kindern, die auf einer Regelschule unterrichtet
wurden, liegen dagegen um ein Vielfaches höher.
Das ist nicht nur eine unfassbare gesellschaftliche
Diskriminierung. Das ist volkswirtschaftlicher Unsinn.
Leider scheint Evers-Meyer die einzige in der Bundesregierung mit behindertenpolitischer Kompetenz zu sein.
Da sie aber nur Beauftragte der Bundesregierung ist, hat
sie nichts zu entscheiden. Eine reine Alibifunktion
braucht niemand.
Ein Recht auf inklusive Bildung ist im nationalen
Recht durchaus verankert: Im Grundgesetz - Art. 3
Abs. 3; Art. 7 Abs. 1 -, im Bundesgleichstellungsgesetz
und im Allgemeinen Gleichstellungsgesetz. Langfristig
muss deswegen meines Erachtens das Ziel die Etablierung einer Schule für alle sein. Das heißt mittelfristig Abschaffung der Sonderschulen. Wir müssen sie überflüssig
machen. Das erfordert einen pädagogischen, personalen
und baulichen Umbau der Regelschulen. Auch andere
Zahlen sprechen für sich: Während sich die Zahl der in
den Werkstätten beschäftigten Menschen mit Behinderungen von 1994 bis 2006 von circa 150 000 auf circa
270 000 erhöhte, bleibt die Zahl der bei den Arbeitsämtern und Jobcentern als arbeitsuchend registrierten Menschen mit Behinderungen überdurchschnittlich hoch - sie
haben auch laut dem letzten Arbeitsmarktbericht der
Bundesregierung am wenigsten von der Konjunktur profitiert.
Wir brauchen, und dies sei auch mit Blick auf die vorliegenden Anträge gesagt, andere Grundlagen und RahZu Protokoll gegebene Reden
menbedingungen für mehr Wahlfreiheit und Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen. Wir brauchen
einen wirklichen Nachteilsausgleich der sich am Bedarf
ausrichtet, unabhängig von der Ursache für die Behinderung und unabhängig von Einkommen und Vermögen der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Meine Fraktion Die Linke hat mit ihrem Antrag auf Schaffung eines
Nachteilsausgleichgesetzes, Drucksache 16/3698 vom
30. November 2006, entsprechende Vorschläge unterbreitet, und viele Sachverständige haben in der erst kürzlich stattgefundenen Anhörung im Ausschuss für Arbeit
und Soziales die Notwendigkeit für solch ein Gesetz unterstrichen. Das schließt nicht aus - um auf den FDP-Antrag noch einmal zurückzukommen - dass wir etwas für
eine breitere Angebotsvielfalt bei der Eingliederungshilfe
tun. Aber dies mit dem Ziel, etwas für die Betroffenen zu
tun und nicht, um einen Unterbietungswettbewerb mit immer schlechteren Bedingungen und Löhnen zu forcieren.
Das schließt auch nicht aus, die von den Grünen aufgezeigten Widersprüche und Hemmnisse im Sozialrecht aufzulösen, denn es geht um die Förderung von Teilhabe von
Menschen mit Behinderungen und nicht um deren Verhinderung durch fehlende Kompatibilität der einzelnen Sozialgesetzbücher und anderen gesetzlichen Regelungen.
Auch das vielgepriesene Wundermittel Persönliches Budget wird seine Wirkungen nicht entfalten können, wenn
die Kardinalfehler bleiben: die Kopplung an die Bedürftigkeit und die Begrenzung der Leistungen auf dem Niveau bisheriger Sachleistungen anstatt auf den behinderungsbedingten Bedarf abzustellen.
Auch bei der Eingliederungshilfe zeigt sich, dass die
Betroffenen selbst und ihre Interessenvertretungen aktiv
einzubeziehen sind. Dazu gehören unter anderem die
Hinweise der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe, BAGüS, zur praktischen
Umsetzung der Empfehlungen des deutschen Vereins zur
Weiterentwicklung zentraler Strukturen in der Eingliederungshilfe vom Mai dieses Jahres.
Mein Fazit: Berufliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wäre
eine von vielen Maßnahmen auf dem Weg zur vollen Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die UN-Konvention gibt das Ziel vor. Wir haben noch lange Strecken
zurückzulegen.
Die Eingliederungshilfe hat es bislang nicht vermocht,
den Bedürfnissen nach mehr Selbstständigkeit und
Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen
nachzukommen. Das System der Hilfen in seiner jetzigen
Form wird den Lebenswirklichkeiten längst nicht immer
gerecht und schöpft auch die zur Verfügung stehenden
Möglichkeiten zu Verwirklichung eines eigenständigen
Lebens nicht aus. Eine Unterstützungslandschaft mit einer Vielfalt unabhängiger Leistungsanbieter steckt noch
in den Kinderschuhen.
Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen
hat im Januar dieses Jahres einen umfassenden Antrag
zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe in den
Bundestag eingebracht mit dem Titel: „Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen weiterentwickeln“, Drucksache 16/7748. Dieser Antrag sowie ein
Antrag der Fraktion Die Linke, „Gesetz zum Ausgleich
behinderungsbedingter Nachteile vorlegen“, Drucksache 16/3698, waren am 2. Juni 2008 Gegenstand einer
Anhörung im Ausschuss Arbeit und Soziales. Ohne der
weiteren Diskussion im Ausschuss vorwegzugreifen, muss
man doch feststellen, dass eine überwiegende Mehrheit
der Sachverständigen die überwiegende Mehrheit unserer Forderungen ausdrücklich gut heißt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger,
BAGüS, erklärt in ihrer schriftlichen Stellungnahme, dass
erste Ergebnisse zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe seitens der Länder „noch in diesem Jahr mit
allen Beteiligten diskutiert werden“. Spätestens dann ist
auch die Bundesregierung in der Bringschuld. Es liegen
genügend vernünftige Vorschläge zu Gesetzesänderungen auf dem Tisch. Ein weiteres Ergebnis der Anhörung
am 2. Juni 2008 war, dass natürlich auch der Bereich der
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe in das Zentrum der Bemühungen gerückt werden muss. Dieser Teil würde im
Antrag der Grünen Bundestagsfraktion nur am Rande erwähnt, so der Vorwurf.
Diesen Schuh ziehen wir uns gerne an. Nur in einem
Punkt haben wir auf die Probleme im Zusammenhang mit
den Werkstätten für behinderte Menschen, WfbM, hingewiesen, doch das aus gutem Grund. Schon jetzt ist unser
Antrag zur Eingliederungshilfe mit insgesamt sechzehn
Forderungen und zwölf Seiten äußerst umfangreich und
komplex. Das Thema „Teilhabe am Arbeitsleben“ kann
da nicht in einem Abwasch mitgenommen werden. Hierfür bedarf es ausgewogener und überlegter Initiativen,
die einem abgestimmten Gesamtkonzept folgen müssen.
Geschieht dies nicht, kommt so etwas heraus, was die Arbeit der Bundesregierung bzw. der Bundesagentur für
Arbeit prägt: purer Aktionismus und die Gefahr der sequenziellen Betrachtung. Der jüngst vorgelegte Referentenentwurf zur unterstützten Beschäftigung sowie die Maßnahme „Diagnose-Arbeitsmarktfähigkeit“, DIA AM, sind
die besten Beispiele für solch eine Politik. In dieses Horn
bläst nun auch der Antrag der FDP „Wettbewerb in der
Eingliederungshilfe stärken - …“, Drucksache 16/9451.
Es steht außer Frage, dass die Inanspruchnahme ambulanter Leistungen in der Eingliederungshilfe nach dem
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch oft an der nicht ausreichend vorhandenen Angebotsvielfalt ambulanter Dienste
scheitert. Die fehlenden Angebotsstrukturen wurden auch
ganz klar von den Sachverständigen am 2. Juni kritisiert.
Ebenso sollte außer Frage stehen, dass auch private Träger Leistungen anbieten sollen, sofern die Qualität
stimmt.
Jetzt hier aber mit einem Antrag „aufzukreuzen“, der
diese hochkomplexe Thematik auf die Ausführungen eines einzigen Vorschlages beschränkt, ist politisches Harakiri. Die FDP hat die Debatte um die Eingliederungshilfe verschlafen. Wahrscheinlich hat sie sich sogar nie
richtig dafür interessiert. Anders ist auch nicht zu erklären, welch unterschiedliche Töne von dieser Fraktion
kommen. Erst im Mai des vergangenen Jahres wollte die
FDP in einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung,
Zu Protokoll gegebene Reden
Drucksache 16/5347, wissen, warum die Leistungen der
Eingliederungshilfe nicht vergaberechtlich ausgeschrieben würden. Nur so könne ein Wettbewerb unter den Leistungserbringern um die effizienteste und wirtschaftlichste
Dienstleistung entstehen.
Eine vergaberechtliche Ausschreibung in diesem Fall
schränkt aber gerade die Anzahl der Anbieter ein. Am
Ende wird ein Anbieter vom Sozialhilfeträger ausgewählt,
der womöglich aus Kostengründen einfach der billigste
wäre. Die Qualität bliebe auf der Strecke. Außerdem würde
das, was die FDP in ihrem jetzigen Antrag fordert - die
Wahlfreiheit und Selbstbestimmung der Menschen mit
Behinderung -, auf der Strecke bleiben.
Die Anhörung am 2. Juni zur Eingliederungshilfe hat
hingegen ganz viele Hinweise gegeben, wie man zu einer
größeren Angebotsvielfalt kommen könnte. So gibt es die
Möglichkeit, die objektive Strukturverantwortung der Rehabilitationsträger nach § 19 SGB IX - gemeinsam auf
die Entwicklung der notwendigen vielfältigen Angebotsstrukturen hinzuwirken - auch aufsichtsrechtlich durchzusetzen. Ein weiterer Vorschlag ist, die Transparenz des
Leistungsangebotes zu erhöhen. Bisher sind Leistungsart
und Leistungsintensität schwer zu entschlüsseln. Möglich
wäre, diese einrichtungsübergreifend und überregional
zu beschreiben. So würden differenzierte Leistungsangebote sichtbar und könnten individuell genutzt werden. Ein
Problem ist auch, dass die Grundsätze der Investitionsförderung - das heißt Zweckbindung der Gebäude, Abschreibung sowie Tilgung von Darlehen - die Umsetzung
ambulanter Vorhaben hemmen. Hier sollten die Förderbestimmungen hinsichtlich der Angleichung der Leistungsformen, ambulant/stationär, geändert und frühzeitig
Klarheit zwischen Zuwendungsgeber und -nehmer getroffen werden. Außerdem sollten weitere Rahmenbedingungen geschaffen werden, wie wohnortintegrierte Leistungsangebote, Beratungs- und Begegnungsmöglichkeiten,
barrierefreier Wohnraum, Kultur- und Freizeitangebote
usw., eine ganze Palette an Vorschlägen also, die mit dem
Antrag der FDP nicht leichtfertig übers Knie gebrochen
werden dürfen.
Um das Wunsch- und Wahlrecht sowie die Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen endlich konsequent durchzusetzen, hat die Bundestagsfraktion von
Bündnis 90/Die Grünen schon in dem Antrag zur Eingliederungshilfe entsprechende Forderungen aufgenommen.
Damit dieses Wunsch- und Wahlrecht nun auch für den
Bereich der beruflichen Teilhabe gilt, fordern wir die
Bundesregierung in dem aktuellen Antrag „Persönliche
Budgets für berufliche Teilhabe jetzt ermöglichen!“,
Drucksache 16/9753, auf, die Schwierigkeiten bei der Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets zu beheben.
Denn es steht doch außer Frage: Nimmt man Selbstbestimmung, Wunsch- und Wahlrecht wirklich ernst, so
muss den Menschen mit Behinderungen die Leistung direkt zukommen. Nur so können sie selbst entscheiden,
welche Hilfe sie sich davon einkaufen. Das Persönliche
Budget stellt das zentrale Instrument hierfür dar. Eine
konsequente personenbezogene Sozialpolitik ist zudem
der größte Garant dafür, auch Wettbewerb unter den
Leistungserbringern zu erzeugen. Der oder die Einzelne
achtet stärker auf Kosten und Qualität.
Es wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 16/9451 und 16/9753 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine
Einwände. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Inzwischen ist abzusehen, wer der Gegner der deutschen Mannschaft am kommenden Sonntag in Wien sein
wird.
({0})
- Bisher liegen keine Anträge auf Einberufung einer
Sondersitzung des Bundestages am kommenden Sonntag
vor.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 27. Juni 2008, um
9 Uhr, ein.
Ich wünsche allen noch einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.