Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/10/2006

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie alle sehr herzlich. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b so- wie den Zusatzpunkt 8 auf: 15 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes vor Fluglärm in der Umgebung von Flugplätzen - Drucksache 16/508 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Kauch, Horst Friedrich ({1}), Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Das Fluglärmgesetz unverzüglich und sachgerecht modernisieren - Drucksache 16/263 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Peter Hettlich, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Den Schutz der Anwohner vor Fluglärm wirksam verbessern - Drucksache 16/551 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Bundesregierung Bundesminister Gabriel.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Guten Morgen, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung bringt heute ihre Gesetzesnovelle zur Verbesserung des Schutzes vor Fluglärm ein. Die Bürgerinnen und Bürger und die Wirtschaft haben ein gemeinsames großes Interesse daran, dass wir diese Novelle zügig beraten und für Rechtssicherheit sorgen. Wenn ich die Anträge und die Positionierungen zu diesem Vorhaben richtig verstanden habe, dann sind wir uns fraktionsübergreifend einig, dass der Gesetzgeber handeln muss. Diese Meinung kommt jedenfalls auch in den Anträgen der Oppositionsfraktionen FDP und Grüne sehr dezidiert zum Ausdruck. ({0}) Denn Millionen Menschen, die in der Nähe von Flughäfen leben, werden durch Fluglärm nicht nur gestört, sondern auch einem erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Wir wissen alle, dass wissenschaftliche Studien seit langer Zeit Lärm als eine der großen Ursachen für Herz-Kreislauf-Erkrankungen belegen. Wir wissen gleichzeitig, dass wir hier gleichsam zwei Seelen in einer Brust haben. Es gibt diejenigen, die, sofern sie sich das leisten können, zu jeder Zeit mit Flugzeugen möglichst weit wegfliegen wollen, diejenigen, die vom Lärm betroffen sind und die Flughafennutzung zum Zwecke der Lärmminderung einschränken wollen. Diese beiden Seelen spiegeln sich natürlich auch in dem Gesetzentwurf wider. Wir alle - jedenfalls die, die sich länger als ich mit diesem Thema befasst haben - wissen, Redetext dass in den letzten sechs Jahren immer wieder der Versuch unternommen wurde, beides zu einem ausgewogenen und vertretbaren Kompromiss zu führen. Lassen Sie mich deshalb eine Bemerkung vorab machen. Ich habe bei der Vorbereitung des Gesetzentwurfes bemerkt, dass wir - wie alle das gelegentlich tun - immer noch quasi reflexartig das wiederholen, was wir in der Vergangenheit, als wir entweder in der Regierung oder in der Opposition waren, zu bestimmten Themen gesagt haben. Ich schlage vor, dass wir, weil es sich hier um eine sehr schwierige Suche gehandelt hat - sonst hätte es nicht sechs Jahre gedauert, bis man zu einem Gesetzentwurf gekommen ist -, versuchen, in den Ausschussberatungen sehr dezidiert darauf einzugehen, welche denkbaren Kritikpunkte es gibt und was zu den vorliegenden Kompromissen geführt hat. Es ist ja ein Gesetzentwurf, der eins zu eins den Kompromiss der alten Bundesregierung wiedergibt. Ich kann gut verstehen, dass sich diejenigen, die damals in der Opposition waren - zum Teil sind sie es ja auch heute noch -, an das erinnern, was sie zu jener Zeit gesagt haben. Das würde uns nicht anders gehen. Aber vielleicht können wir es schaffen, noch einmal genau zu überprüfen, ob das, was gegen den Gesetzentwurf eingewandt wird - einerseits von den Vertreterinnen und Vertretern derjenigen Bürgerinitiativen, die die Belastung noch weiter verringern wollen, andererseits von den Vertretern der Fluggesellschaften oder Flughäfen -, ob also diese Maximalpositionen wirklich durchgesetzt werden sollten oder ob wir nicht mit diesem Gesetzentwurf einen Stand erreicht haben, der gewährleistet, dass wir das inzwischen frei entwickelte Richterrecht als Parlament wieder einfangen und eine wirklich verlässliche gesetzliche Grundlage schaffen. Wir sollten ehrlich zugeben, dass unser Gesetzentwurf, der den Versuch unternimmt, beide Seiten zu respektieren, noch nicht all das beinhaltet, was die Rechtsprechung in Deutschland abdeckt. Es gibt Hinweise darauf, dass auch Rechtsprechung stattfindet, die weit über das hinausgeht, was selbst der Kompromissentwurf von Rot-Grün aus der letzten Legislaturperiode enthält. Auf der anderen Seite gibt es Flughafenbetreiber, die insbesondere ihre Neubauten, aber auch ihre Erweiterungsbauten bereits heute schon gemäß den Richtlinien dieses Gesetzentwurfs errichtet haben. Derzeit läuft ein Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht um den Flughafen Berlin-Brandenburg International. Ich will in diesem Zusammenhang auf einen Punkt hinweisen, der für diejenigen, die dieses Projekt wollen, wichtig ist: Die Seite, die diesen Flughafen bauen will, bezieht sich vor Gericht auf diesen Gesetzentwurf mit seinen Lärmgrenzwerten und nimmt sie als Argument für die Bewilligung der Planungen. Diesen Punkt muss man wissen, wenn man den Gesetzentwurf wesentlich verändern will. Die Bayern liegen, was den Bereich Lärmschutz angeht, wieder einmal weit vorne. Der Flughafen München ist heute einer der wirtschaftlichsten Flughäfen, die wir in Deutschland haben. Dort gibt es aber überhaupt keine Probleme, die im Gesetz vorgeschriebenen Grenzwerte einzuhalten. ({1}) Man sollte aber auch offen ansprechen, dass es bei einem Flughafen Schwierigkeiten gibt, nämlich beim Flughafen Frankfurt/Main. Dort entstanden die Probleme, weil über einen langen Zeitraum zu wenig unternommen worden ist. Man hat sich darauf verlassen, dass die gesetzlichen Regelungen entweder nicht kommen oder nicht so scharf ausfallen werden. Deshalb ist der Investitionsbedarf in Hessen höher als an jedem anderen Standort. Übrigens hat Leipzig überhaupt keine Probleme mit der Einhaltung dieser Grenzwerte. ({2}) - Darüber freuen sich die Leipziger. Wir haben also an einem Flughafen Probleme, über die wir offen reden müssen. Aber wir sollten nicht so tun, als ginge es einfach von der Hand, alle Probleme durch eine wesentliche Änderung des Gesetzentwurfes zu lösen. Meine Bitte wäre also, sehr intensiv in die Beratungen einzusteigen. Ich will dem Ausschuss dafür gerne zur Verfügung stehen. Das gilt natürlich auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines Hauses. Wir wollen diesen Gesetzentwurf nicht durchpeitschen, sondern wir wollen dafür sorgen, dass wir sachgerecht über die Probleme reden, die sich bei der Suche nach Kompromissen natürlich immer ergeben. Dass es diese Probleme gibt, sollte weder die eine noch die andere Seite verschweigen. Das geltende Gesetz stammt aus dem Jahre 1971. Wir alle können uns vorstellen, dass es längst nicht mehr up to date ist. Damals gab es in Deutschland 2 500 Starts und Landungen pro Tag; heute sind es 6 000. 1971 wurden 32 Millionen Passagiere befördert. 2005 waren es 165 Millionen. Das 35 Jahre alte Gesetz entspricht nicht mehr den Erkenntnissen der Lärmwirkungsforschung. Die Lärmschutzzonen reichen kaum über die Flughafengelände hinaus. Das noch geltende Fluglärmgesetz erlaubt sogar, ein Krankenhaus oder einen Kindergarten unmittelbar am Zaun der großen deutschen Flughäfen zu errichten. Das wird niemand von Ihnen für sinnvoll halten. Aus diesem Grund müssen wir das inzwischen durch Richterrecht in der beschriebenen Art und Weise sehr unterschiedlich geregelte Problem beim Lärmschutz neu lösen. Einige Stimmen sagen, dass dies bitte schön nicht in einem neuen Fluglärmgesetz geregelt werden sollte, sondern im Luftverkehrsgesetz. Ich will niemandem unterstellen, dass er damit gezielt versucht, in eine Bundesratsdebatte einzusteigen. Man muss aber Folgendes wissen: Wenn wir Entbürokratisierung wollen, dann macht es nicht viel Sinn, ein Gesetz zweimal zu beraten, nämlich das Fluglärmgesetz für den Bereich des Bestandes und das Luftverkehrsgesetz bei wesentlichen Ausund Erweiterungsbauten. Denn es sind die gleichen Regelungen. Der Verweis im vorliegenden Gesetzentwurf auf § 8 des Luftverkehrsgesetzes ist nach meiner Auffassung wirklich eine exzellente Möglichkeit zur Minimierung unnötiger Bürokratie. Auf anderen Wegen würden wir dies nicht erreichen. Mehr Rechtssicherheit gibt es durch eine andere Vorgehensweise nicht. Das ist alles durch die Verfassungsrechtler geprüft worden. Daher glaube ich, dass wir hier eine sinnvolle Lösung gefunden haben. ({3}) Ich will auf die Einzelheiten des Gesetzentwurfs nicht intensiver eingehen; das werden wir in den Ausschussberatungen tun. Im Gesetz sind erweiterte Schutzzonen vorgesehen. Im Antrag der FDP-Fraktion, aber auch im Antrag der Grünen wird darauf hingewiesen, dass man bei Hauptund Nebenflugbetriebsrichtungen gleiche Regelungen in Bezug auf den Lärmschutz haben sollte. Unser Vorschlag, erweiterte Schutzzonen einzurichten, stellt einen guten Kompromiss dar. Man muss nur wissen, dass diese erweiterten Schutzzonen ganze Gemeindeteile betreffen. Ich war lange genug in der Kommunalpolitik tätig, um zu wissen, was ein absolutes Bauverbot in einer Gemeinde für den Bürgermeister bedeutet. Auch da sind uns als Parteien die kommunalpolitischen Probleme unserer Bürgermeister und Landräte nicht fremd. Es geht vielmehr darum, mit entsprechenden technischen Maßnahmen zu versuchen - in diesem Fall zugegebenermaßen gestreckt über zehn Jahre -, weiterhin vorhandene Baumöglichkeiten zu nutzen. Auf die Kosten will ich allerdings noch eingehen. Im Vorfeld sind gigantische Kosten veranschlagt worden: am Anfang um die 5 Milliarden Euro. Dann gab es in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten eine Untersuchung darüber, welche Kosten in den kommenden zehn Jahren ausgelöst werden. Ich glaube, dass wir diesen Kostenschätzungen deshalb trauen können, weil alle Beteiligten an dieser Untersuchung teilgenommen haben. Bei Verkehrsflugplätzen entstehen Kosten von 600 Millionen bis 740 Millionen Euro, bei Militärflugplätzen Kosten von 75 Millionen bis 95 Millionen Euro. Umgelegt auf den Zeitraum von zehn Jahren bedeutet dies eine Verteuerung um 1 Euro pro Ticket. Bei einer Verteuerung um 1 Euro pro Ticket kann ich, ehrlich gesagt, keine Gefährdung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit erkennen, jedenfalls dann nicht, wenn Freunde von mir für einen Flug nach Barcelona weniger bezahlen als für ein S-Bahn-Ticket in Berlin. ({4}) Das sollte man also realistisch sehen. Ich gebe zu: Es gibt ein Problem; das ist der Flughafen Frankfurt. Dort gibt es einen sehr großen Nachholbedarf. Deshalb sind die Kosten dort relativ hoch. Ich bin gern bereit, auch darüber noch zu reden. Aber an sich haben wir einen guten Kompromiss gefunden. Eine abschließende Bemerkung zum Thema „Ungleichbehandlung des militärischen Flugverkehrs und des zivilen Flugverkehrs“. Wir haben uns in unserem Kompromiss dazu entschieden, den Vorschlag, beide Verkehre gleich zu behandeln, nicht zu übernehmen. Es gibt ja insbesondere aus der FDP-Fraktion Forderungen nach einer Gleichbehandlung. Sie wissen so gut wie ich, dass der Grund dafür, dass wir für eine differenzierte Behandlung waren, der ist, dass die Tagesrandbelastung bei Militärflughäfen bzw. Militärflugzeugen am Morgen, am Abend, in der Nacht und vor allen Dingen am Wochenende, also gerade dann, wenn sich Menschen in ihrer Erholungsphase befinden, weit geringer ist als bei zivilen Flughäfen. Wir sind der Überzeugung, dass für die zivile Luftfahrt schärfere Grenzwerte gelten müssen, als es bei Militärflugplätzen nötig ist. Das ist der Grund dafür, dass wir uns im Kompromisswege für eine Differenzierung der Werte entschieden haben. Ich glaube, nach sechs Jahren Debatte - es ist ein schwieriges Feld; mit Sicherheit sind nicht alle Probleme gelöst - haben wir einen vertretbaren Kompromiss geschlossen, bei dem wir eine wirklich überalterte Rechtssituation sowohl zugunsten der Luftverkehrswirtschaft - sie hat jetzt Planungssicherheit - als auch zugunsten der Anwohnerinnen und Anwohner haben erneuern können. Ich freue mich auf die Ausschussberatungen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Michael Kauch, FDPFraktion.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Geschichte der Novellierung des Fluglärmgesetzes ist lang und leidig. Bereits die Vorgängerregierung hat in ihrer Koalitionsvereinbarung von 1998 den Menschen in den Einflugschneisen versprochen, es werde sich jetzt etwas ändern. Eingehalten wurden diese Versprechungen bis zum Schluss jedoch nicht. Jetzt legt die neue Regierung endlich einen Gesetzentwurf vor. Das begrüßen wir ausdrücklich. Viel zu lange haben nicht nur die Anwohner darauf gewartet, dass der Lärmschutz an die aktuellen Erkenntnisse der Lärmwirkungsforschung angeglichen wird. Viel zu lange haben auch die Flughafenbetreiber darauf gewartet, dass es endlich Rechtssicherheit, Planungssicherheit und vor allen Dingen Wettbewerbsgleichheit unter den Flughäfen gibt. Denn die Vielzahl der unterschiedlichen Urteile hat dazu geführt, dass die Wettbewerbssituation der einzelnen Flughafenstandorte nicht mehr fair geregelt ist. ({0}) Tatsächlich wird heute an den meisten Flughäfen entweder freiwillig oder durch Auflagen der Betriebsgenehmigung mehr für den Schallschutz getan, als es das Gesetz von ihnen verlangt. Wenn es nach der heutigen Rechtslage, nach dem heutigen Fluglärmgesetz, ginge, dann wäre beispielsweise an meinem Heimatflughafen in Dortmund die Schutzzone 1 an der Startbahn und die Schutzzone 2 am Terminal zu Ende. Das ist der Stand des Fluglärmgesetzes von 1971. Deshalb haben wir erheblichen Handlungsbedarf. Ich möchte an dieser Stelle aber auch den Sorgen begegnen, die Bürger im Blick darauf haben, was denn passiert, wenn wir jetzt ein Gesetz verabschieden, es aber eine Betriebsgenehmigung gibt, die einen stärkeren Lärmschutz vorsieht. Ich denke, alle - auch die Schutzgemeinschaften gegen Fluglärm - sollten dazu beitragen, dass in der Diskussion Sachlichkeit einkehrt. Wenn wir hier ein Gesetz verändern, das Mindeststandards setzt, dann hebt das natürlich nicht die bestehenden Betriebsgenehmigungen auf. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Wir begrüßen aber ausdrücklich nicht, dass sie diesen Gesetzentwurf vorgelegt hat; denn sie macht damit nichts anderes, als die Fehler der Vorgängerregierung eins zu eins zu übernehmen. ({1}) Herr Gabriel, Sie sind mit Ihrem Entwurf eines Fluglärmgesetzes weiter gekommen als der Kollege Trittin, der heute ebenfalls unter uns weilt. Inhaltlich ist es aber kein Fortschritt gegenüber der Einigung vom Mai, die das Kabinett nie erreicht hat. Dieses Fluglärmgesetz ist weit davon entfernt, einen angemessenen Interessenausgleich zwischen den betroffenen Anwohnern, den Nutzern und den Flughafenbetreibern zu leisten. Vor allem müssen wir feststellen: Auch Sie begehen mit Ihrem Gesetzentwurf den trittinschen Fehler, beim Lärmschutz Bürger erster, zweiter und dritter Klasse zu schaffen. ({2}) Anwohner von Militärflughäfen sollen lediglich bei Grenzwerten geschützt werden, bei denen nach einhelliger Einschätzung der Lärmwirkungsforschung eine Gesundheitsgefährdung besteht. Sie argumentieren, das sei durch die besondere Situation in den Tagesrandlagen begründet. Natürlich ist das Lärmbild an einem Militärflughafen ein anderes als an einem Verkehrsflughafen. Die Grenzwerte, über die wir reden, sind aber bereits Mittelwerte. Das heißt: Wenn man in den Tagesrandlagen eine niedrigere Belastung als an den Verkehrsflughäfen hat, dann ist sie während des Tages umso größer. Es gibt in diesem Land auch Menschen, die nachts im Spätdienst oder frühmorgens arbeiten und während des Tages ihre Ruhephasen brauchen. Deshalb müssen alle Anwohner, wenn es um Mittelwerte über den Tag geht, gleich behandelt werden. ({3}) An den neuen und auszubauenden Flughäfen wollen Sie Schallschutzmaßnahmen schon deutlich früher bezahlen lassen als an Bestandsflughäfen. Es ist ein durchaus diskussionswürdiges Argument, zu sagen: Wenn jemand einen neuen Flughafen baut, dann muss es einen Interessenausgleich zwischen ihm und den Anwohnern geben. Die Frage aber ist: Was ist das Schutzziel des Fluglärmgesetzes? Das Fluglärmgesetz hat das Ziel, Gesundheitsschutz sicherzustellen; das Luftverkehrsrecht hat das Ziel, den Interessenausgleich herzustellen. Deshalb sind wir der Meinung, dass die Frage der Ausbauflughäfen angemessen im Luftverkehrsrecht zu klären ist, weil es andere Schutzziele als das Fluglärmgesetz hat. ({4}) Das, was ich gerade aufgeworfen habe - Anwohner erster, zweiter und dritter Klasse -, umschreibt die zentralen Kritikpunkte unsererseits an diesem Gesetzentwurf. Da es um den Gesundheitsschutz der Menschen geht, müssen die Grenzwerte für alle gelten. Deshalb werden wir, die FDP-Fraktion, uns dafür einsetzen, dass im Ausschuss eine Anhörung mit Fachleuten aus der Lärmwirkungsforschung stattfindet, um insbesondere die Argumente bezüglich der Militärflughäfen auszuräumen. Es stellt sich folgende Frage: Besteht nicht das wirkliche Argument der Bundesregierung dafür, die Anwohner an Militärflughäfen schlechter zu stellen - Herr Gabriel, es ist vielleicht nicht Ihr Argument, sondern das Ihrer Kabinettskollegen -, darin, dass die Militärflughäfen die einzigen Flughäfen sind, wo der Bund die Maßnahmen selber bezahlen muss, während ansonsten mit dem Fluglärmgesetz ein Gesetz geschaffen wird, für dessen Umsetzung andere zahlen müssen, nämlich die Kommunen, die Länder oder die privaten Eigentümer der Verkehrsflughäfen? Wenn es den Bund selber Geld kostet, ist er nicht bereit, diese Kosten zu tragen. Das dürfte der tiefere Sinn dessen sein, was hier im Hinblick auf die Militärflughäfen beschlossen wird. ({5}) Wir, die FDP-Fraktion, wollen anspruchsvolle Grenzwerte, die dem aktuellen Stand der Lärmwirkungsforschung entsprechen. Wir wollen, was die Schallschutzmaßnahmen angeht, eine Gleichbehandlung des zivilen und des militärischen Fluglärms. Wir wollen die Einführung strenger Nachtschutzzonen. Dabei sollten wir in den Ausschussberatungen noch einmal darüber nachdenken, ob es möglicherweise sinnvoll ist, im Gesetz die Frage der Einzelschallereignisse gegenüber dem Dauerschallpegel stärker zu gewichten; denn gerade die Aufwachreaktionen in der Nacht, die gesundheitsgefährdend sind, kommen nicht so sehr durch den Dauerschallpegel, sondern durch laute Einzelereignisse zustande. Da sollten wir uns das Gesetz noch einmal genauer anschauen. ({6}) Die Grünen haben die so genannte 100/100-Regelung in ihrem Antrag wieder aufgewärmt, obwohl Herr Trittin sie bereits aus dem Gesetzentwurf gestrichen hatte. Wir bitten die Bundesregierung daher, bei ihrem Kurs zu bleiben; denn es muss darum gehen, realistische und nicht hypothetische Belastungsszenarien in das Gesetz aufzunehmen. ({7}) Es ist wichtig, zu fragen: Wie wollen wir die Siedlungssteuerung betreiben, um nicht die Zahl derjenigen zu erhöhen, die durch Lärm belastet werden? Deshalb wäre es sinnvoll, die Bauverbote im Fluglärmgesetz zu verschärfen. Die Bundesregierung macht in ihrem Gesetzentwurf das Gegenteil: Die Bauverbote werden gelockert. Auch darüber müssen wir im Ausschuss noch einmal dringend reden; denn es kann nicht sein, dass, um den von Ihnen angesprochenen Bürgermeistern Gutes zu tun, Bauvorhaben genehmigt und Häuser errichtet werden, in denen später Menschen wohnen, die erneut Schallschutzmaßnahmen einfordern, die finanziert werden müssen. Eines ist an diesem Vorgang bemerkenswert: Der Minister hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, dem die CDU/ CSU auch zugestimmt hat. Noch vor der Entscheidung im Kabinett hat die Kollegin Reiche jedoch eine so grundsätzliche Kritik an diesem Gesetzentwurf in einer Pressemitteilung verbreitet, dass man sich fragen muss, ob dieser Gesetzentwurf überhaupt in der Koalition abgestimmt wurde. Darüber hinaus muss man die Kollegin Reiche fragen, ob sie sich jemals mit diesem Thema beschäftigt hat; denn über ihre Argumente zur Kostenschätzung wurde in den letzten Monaten ausführlich diskutiert und die Probleme sind einvernehmlich zwischen den Betreibern und den Fluglärmgegnern geklärt worden. An dieser Stelle möchte ich dazu aufrufen, die sachlichen Fragen des Gesetzentwurfs zu klären. Die liberale Opposition wird sich für einen angemessenen Interessenausgleich einsetzen. Vielen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ulrich Petzold, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ulrich Petzold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001700, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kauch, selbstverständlich können wir manchem Argument folgen. Sie haben die Militärflughäfen angesprochen. Dazu möchte ich Ihnen etwas sagen. Wenn Sie die DLR-Studie und das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster richtig lesen, dann kommen Sie nicht umhin, der Regelung zuzustimmen, die wir gefunden haben. Lärm ist eine Geißel der modernen Zivilisation. ({0}) In einer Zeit, in der Hektik und Stress immer mehr den Lebensrhythmus sehr vieler Menschen bestimmen, steigt das Bedürfnis nach Erholung und Ruhe. Waren Ruhe und Stille in den vergangenen Jahrhunderten noch etwas Selbstverständliches, wurde das Recht auf akustische Ungestörtheit in den letzten Jahren immer mehr zum Luxusgut. Ein wesentlicher Störfaktor für die meisten Bürger ist der Verkehrslärm, vor allem die Geräusche, die durch den zunehmenden Luftverkehr entstehen. Die Zahl der davon betroffenen Menschen steigt ständig und die Menschen fragen die Politik zu Recht nach Antworten für ihr Problem. Es wird immer wieder angeführt, dass das gültige Fluglärmschutzgesetz aus dem Jahr 1971 stammt, die letzte Aktualisierung 1984 vorgenommen wurde und sich seitdem nichts getan hat. Das ist, wie Herr Bundesminister Gabriel bereits ausgeführt hat, nur die halbe Wahrheit. Eine ganze Reihe von Gesetzen, Verordnungen und europäischen Richtlinien haben in Randbereichen immer wieder auf das Problem des Fluglärms Bezug genommen und sich positiv auf die Lärmminderung ausgewirkt. Man darf ebenso nicht vernachlässigen, dass Verkehrsflughäfen und Fluggesellschaften sehr viele technische Vorleistungen zur Lärmminderung erbracht haben. So wurden von ihnen bis zum Jahr 2002 rund 550 Millionen Euro für passive Lärmschutzmaßnahmen der Anwohner aufgewandt, 420 Millionen Euro wurden davon allein auf freiwilliger Basis ausgegeben. Das heute eingesetzte fliegende Material verursacht im Vergleich zu dem in der Zeit, in der das noch gültige Lärmschutzgesetz verabschiedet wurde, einen um 30 Dezibel verminderten Lärm. Auch lärmmindernde An- und Abflugverfahren mit neuen Technologien und optimierten Flugroutenplanungen haben sich sehr positiv ausgewirkt. Nicht umsonst werden die Lärmwerte pro Flugbewegung, die 1971 für Wohngebiete eingefordert wurden, heute schon auf dem Flugplatzgelände erreicht. Doch muss man natürlich auch feststellen: All die lobenswerten lärmmindernden Maßnahmen wurden durch den dramatisch gewachsenen Flugverkehr deutlich kompensiert. Deshalb gab es bereits 1997 eine Anhörung im Deutschen Bundestag, in der ein dringender Handlungsbedarf festgestellt wurde. Dieser mündete im Februar 1998 in einen Bundestagsbeschluss mit dem Auftrag an die Bundesregierung, eine Novellierung des Fluglärmgesetzes zum Schutz der Bevölkerung vorzunehmen. Im Mai 2005 legte der vorherige - seit 1998 im Amt befindliche - Bundesumweltminister den Entwurf eines Fluglärmschutzgesetzes vor, der jedoch der Diskontinuität anheim fiel. Umso höher ist es zu bewerten, dass Bundesminister Gabriel nach der Vereinbarung im Koalitionsvertrag das Problem Fluglärm so kurzfristig und zielstrebig in Angriff genommen hat. Wir werden seine Bemühungen, durch die Novellierung Rechtsfrieden und Rechtssicherheit für die Betroffenen herzustellen, unterstützen. ({1}) Es muss unser Ziel sein, den Gesetzgebungsvorgang in einem überschaubaren Zeitraum abzuschließen. ({2}) Mit wachsender Sorge sehe ich jedoch ein Problem, über das gesprochen werden muss. Die Rechtsabteilung Ihres Hauses, Herr Minister Gabriel, hat die Gesetzgebungskompetenz für den vorliegenden Gesetzentwurf mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 und Art. 73 Nr. 6 des Grundgesetzes begründet. Dagegen steht die Auffassung der Bundesländer. Sowohl das Fluglärmgesetz aus dem Jahr 1971 als auch dessen zwischenzeitliche Änderungen wurden mit Zustimmung des Bundesrates verabschiedet. Mit der Novelle sollen die den Ländern im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung übertragenen Vollzugsaufgaben mit den entsprechenden Kostenfolgen erheblich ausgeweitet bzw. neu begründet werden. Damit würde das Gesetz unmittelbar in die Verwaltungskompetenz der Länder im Sinne von Art. 84 Abs. 1 des Grundgesetzes eingreifen und es bedarf daher nach Auffassung der Länder zwingend der Zustimmung des Bundesrates. Herr Bundesminister, ich habe die Befürchtung, dass sich die Rechtsabteilung Ihres Hauses in der Frage der Zustimmungsbedürftigkeit durch die Länder etwas vergaloppiert hat. Ich unterstelle nicht einmal, dass Ihre Juristen Unrecht haben, das nicht. Aber wir haben in der vorherigen Legislaturperiode auch schon versucht, das Hochwasserschutzgesetz - daran können Sie sich sehr gut erinnern, Herr Trittin - zustimmungsfrei durch den Bundesrat zu bekommen. ({3}) Das Ende vom Lied war, dass der Bundesrat mit einer Zweidrittelmehrheit seine Kompetenz für das Hochwasserschutzgesetz erklärte. Dadurch war es mit der geplanten Zustimmungsfreiheit vorbei. Sie wissen das ganz genau. ({4}) Da halfen dann auch keine Appelle an die Parteidisziplin Ihrer rheinland-pfälzischen Umweltministerin Conrad. Es hatte sich eine Phalanx von Ländern gebildet, die ein Jahr Verhandlungen zur Folge hatte, uns also ein Jahr Stillstand gekostet hat. ({5}) Dies hätte bei rechtzeitigen, vertrauensvollen Gesprächen sicherlich vermieden werden können. Genau das fordern wir ein. ({6}) Wir brauchen diese vertrauensvollen Gespräche auch in unserer Fraktion. Ich denke an die nicht gerade prickelnde Unterrichtung durch einen Ihrer Abteilungsleiter am Dienstag. Ich denke, der Umgang Ihres Hauses - das haben Sie bewiesen - kann ein ganz anderer sein. Ich hoffe auf eine sehr gute Zusammenarbeit in den nächsten Wochen. Ich gehe mit Sicherheit davon aus, dass sich die Positionen nicht so wesentlich unterscheiden und durchaus in Übereinstimmung gebracht werden können. Deswegen muss es uns in den nächsten Wochen darum gehen, folgende Fragen frühzeitig auszuräumen: Inwieweit dürfen in Fluglärmzonen überhaupt noch Wohngebäude oder lärmsensible Einrichtungen errichtet werden? Muss es nicht eine Haftung für Bauherren und -planer geben, die den Lärmschutz vernachlässigt haben? Ist es möglich, weitere positive Anreize für einen verstärkten Einsatz Lärm mindernder Flugzeuge zu setzen? Sind ohne weitere Änderungen im Luftverkehrsgesetz tatsächlich alle Interpretationsspielräume und alle Anlässe für Rechtsstreitigkeiten beseitigt? Welche Erkenntnisse der Lärmwirkungsforschung sind so gesichert, dass sie bei gesetzlichen Regelungen berücksichtigt werden können? Zu einigen dieser Fragen wird sich in ein paar Wochen die Judikative in Leipzig im Rahmen des Mammutprozesses um den Großflughafen Schönefeld äußern. Welchen Zielpunkt sie dabei setzt, sollte uns nicht egal sein: Es geht zum Beispiel darum, ob die Forderung des Leipziger Regierungspräsidiums erfüllt wird, im Rahmen der Planfeststellung für den Leipziger Flughafen auch den Aspekt des Wiedereinschlafens in Nachtschutzzonen zu berücksichtigen, und um die Frage, welche Wirkung die Ergebnisse der DLR-Studie im Rahmen zukünftiger juristischer Verfahren entfalten werden. Wir sollten uns durchaus überlegen, wie wir in den nächsten Wochen mit den Betroffenen umgehen und in welcher Form wir gemeinsam mit ihnen beraten. Danke schön. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Lutz Heilmann, Fraktion Die Linke.

Lutz Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003766, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Was lange währt, wird leider nicht immer gut. Seit Jahrzehnten wird über die Novellierung des Fluglärmgesetzes gesprochen. Rot-Grün hat sieben Jahre lang angekündigt, einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen. Jetzt dürfen wir im Bundestag über diesen Gesetzentwurf debattieren. Eine lange Lagerung führt zwar meist zu einem guten Wein, nicht aber zu einem guten Gesetzentwurf. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein reiner „Schallschutzfenster-Fördergesetzentwurf“. Kein einziger Flughafen wird dadurch leiser und kein Anwohner wird wirklich vom Fluglärm entlastet. Dieser Gesetzentwurf ist ein reiner Erstattungsgesetzentwurf, in dem die Zahlungen der Flughäfen an die Anwohner geregelt werden. ({0}) Wenn wir über Fluglärm reden, dürfen wir aber nicht nur über Schallschutzfenster oder technischen Fortschritt sprechen. In der Tat würde zwar das einzelne Flugzeug - wenn auch zu langsam, so aber doch kontinuierlich leiser. Gleichzeitig würde sich jedoch die Anzahl der Flüge verdoppeln, in Deutschland in etwa alle 20 Jahre. Die Folge wäre, dass der Fluglärm insgesamt deutlich zunehmen würde. Noch dramatischer sind die Klimafolgen des Flugverkehrs: Er ist auf dem besten Weg, zum Klimakiller Nummer eins zu werden. So überstiegen die Klimafolgen des Luftverkehrs bereits im Jahre 2000 die der weltweiten PKW-Flotte. Der Anteil des Flugverkehrs am globalen Treibhauseffekt beträgt bereits 9 Prozent; die Tendenz ist steigend. Aufgrund massiver Subventionen sind im Luftverkehr sehr hohe Wachstumsraten zu verzeichnen. Gleichzeitig allerdings schädigt er die Umwelt am meisten. Daher fordern wir den Abbau aller Subventionen für den Flugverkehr. ({1}) Denn der Abbau der Subventionen würde selbst nach der niedrigsten Berechnung jedes Jahr mehr Geld einbringen als das Fluglärmgesetz in den nächsten zehn Jahren an Kosten verursacht. Noch immer gibt es keine Kerosinsteuer, noch immer zahlt der internationale Luftverkehr keine Mehrwertsteuer und noch immer werden die Billigflieger von Flughäfen massiv subventioniert. All dies ist nicht länger hinnehmbar. Denn im Gegensatz dazu sind in den Ticketpreisen der wesentlich umweltfreundlicheren Bahn Mineralölsteuer-, Stromsteuer- und Mehrwertsteuerzahlungen enthalten. ({2}) Allein diese Bestandteile kosten die Kunden oft mehr als ein Flugticket. Wir hoffen, dass die EU ihre Planungen hinsichtlich der Einbeziehung des Luftverkehrs in den Emissionshandel nun umsetzt und dass die Bundesregierung dieses Vorhaben aktiv unterstützt. Werte Kolleginnen und Kollegen, das Fluglärmgesetz bringt einige Verbesserungen für die betroffenen Menschen. Es ist aber bei weitem nicht ausreichend. Für wirklichen Lärmschutz müssten echte Grenzwerte eingeführt werden, die nicht überschritten werden dürften. ({3}) Diese würden die Flughafenbetreiber zwingen, aktive Maßnahmen zur Senkung des Fluglärms durchzuführen, zum Beispiel Beschränkungen für laute Flugzeuge und Nachtflugverbote. Leider schafft der vorliegende Gesetzentwurf keine rechtliche Grundlage für Nachtflugverbote. Die gewählten Grenzwerte für die Tagschutzzonen sind nicht ausreichend. Ein wirksamer Gesundheitsschutz der Anwohner ist somit nicht gewährleistet. An einigen Flughäfen - der Minister sprach es an wurden in letzter Zeit Grenzwerte für den Schallschutz festgelegt, die strenger sind als die, die im jetzt vorgelegten Gesetzentwurf enthalten sind. In der Praxis sind niedrigere Grenzwerte also machbar. Die vorgesehenen Grenzwerte führen, wie der Minister richtig sagte, zu Mehrkosten von umgerechnet maximal 1 Euro. Ich bin mir sicher, unsere und auch Ihre Wähler zahlen gerne auch 2 Euro pro Flugticket mehr. Ja, mehr kostet ein anspruchsvoller Gesundheitsschutz im Flugbereich nicht. ({4}) Die vorgesehene Einführung einer Nachtschutzzone sehe ich zwar als eine deutliche Verbesserung an, die hierfür vorgeschlagenen Grenzwerte sind aber noch zu hoch. Statt des Wertes von 50 dB, der überdies erst ab 2011 gelten soll, muss schnellstmöglich ein Grenzwert von 45 dB angesetzt werden. Nur so kann garantiert werden, dass Anwohnern Schlafstörungen erspart bleiben. Eine Übergangsregelung bis 2011 widerspricht doch dem gesunden Menschenverstand. Übergangsfristen von bis zu 13 Jahren für den Anspruch auf Schallschutz verhöhnen die Betroffenen, die teilweise seit Jahrzehnten auf eine Minderung der Lärmbelästigung warten. Ich empfehle allen Schöpfern dieser Regelung, in die Nähe eines Flughafens zu ziehen. ({5}) Dort können Sie einen Praxistest durchführen; ich wünsche Ihnen ein gutes Durchhaltevermögen. Die Festsetzung der Tagschutzzone 2 hat fast keine rechtlichen Konsequenzen. Wir fordern deswegen, dass wie in der Tagschutzzone 1 Erstattungssysteme eingeführt werden. Die Bauverbote in Schutzzonen werden durch viele Ausnahmeregelungen ausgehebelt. Statt die Bebauung einzuschränken, werden die Baumöglichkeiten mit diesem Gesetz sogar ausgeweitet. Damit entfällt ein wesentlicher Vorteil des Fluglärmgesetzes für die Flughafenbetreiber, die zu Recht darauf hinweisen, dass viele der heute von Lärm Betroffenen in die Nähe eines bestehenden Flughafens gezogen sind. Die so genannte 100/100-Regelung zur Messung des Fluglärms ist im Gegensatz zum Referentenentwurf des BMU von 2004 entfallen. Die stattdessen vorgeschlagene Sigma-Regelung wird bei der Lärmmessung zu bis zu 4 dB niedrigeren Nominalwerten führen. Die Folge ist, dass die Schutzzonen um bis zu 30 Prozent kleiner ausfallen. Da sich die FDP-Fraktion in ihrem Antrag explizit gegen die Anwendung der 100/100-Regelung ausspricht, können wir diesem nicht zustimmen. Zum Antrag der Grünen. Auf Dauer werden Sie Ihren Spagat zwischen Regierung und Opposition nicht durchhalten. Die niedrigeren Lärmgrenzwerte für Militärflughäfen sind sachlich nicht zu begründen. Die Differenz von 3 dB hört sich zwar wenig an, entspricht aber einer Verdoppelung des Verkehrs. Anwohner von Militärflughäfen haben außerdem nur einen Anspruch auf Schallschutzfenster, Anwohner von Zivilflughäfen hingegen haben zusätzlich einen Anspruch auf Belüftungsanlagen. Herr Minister, da Sie auf die Kommunalpolitiker hinweisen, würde ich gern erwähnen, dass viele Kommunen vom Tourismus leben, auch in meiner Gegend, um Lübeck, wo regelmäßig Tiefflüge auf der Tagesordnung stehen. Ich bitte, in der Debatte über das Gesetz darauf noch einmal zu sprechen zu kommen. Die Bevorzugung von Militärflughäfen soll einzig den Bundeskriegsminister ({6}) wohl gesonnen stimmen, dem der Schutz der heimischen Bevölkerung anscheinend wenig am Herzen liegt und der das Geld eher für kriegerische Einsätze der Bundeswehr benötigt. Werte Kolleginnen und Kollegen, über diese und andere Regelungen des Gesetzentwurfs werden wir im Ausschuss sicher ausführlich beraten. Ich verspreche Ihnen, dass wir uns dabei massiv für den Schutz der Lärmbetroffenen einsetzen werden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um es vorweg zu sagen: Wir Grünen begrüßen es außerordentlich, dass der jetzige Bundesumweltminister Gabriel den unter Rot-Grün erarbeiteten Gesetzentwurf, den Jürgen Trittin durch das Kabinett und in den Bundesrat gebracht hat, hier einbringt. Das freut uns; das bekennen wir ganz offen. ({0}) Wir waren davon überrascht. Wir werden uns nicht aus der Verantwortung stehlen, wie es andere machen. Damit will ich zum „Spagat“ kommen: Kollege Heilmann, der schlimmste Spagat, den es gibt, ist der, den die PDS im Osten macht nach dem Motto „Wir im Osten haben das gleiche Recht auf Fluglärm wie der Westen“. Ihre Bürgermeister im Osten kämpfen, aber um Fluglärm und um Flughäfen, während Sie hier im Bundestag so tun, als seien Sie die vorderste Front der Lärmschutzinitiativen. Das ist nicht glaubwürdig. ({1}) Wir begrüßen diesen Gesetzentwurf. Ein solches Gesetz wird einen Fortschritt gegenüber dem rechtlichen Zustand der vergangenen 35 Jahre bedeuten; das kann man doch nicht übersehen. Das alte Gesetz ist in jeder Hinsicht unzulänglich. Um es bildlich zu sagen: Es wäre so, als wenn es im Automobilbereich noch heute die Abgasnormen und Grenzwerte der 60er-Jahre gäbe. So ist in etwa die derzeitige Situation im Bereich Fluglärm. Es kann uns Parlamentarier doch nur ärgern, wenn in Deutschland in unserer parlamentarischen Demokratie nicht mehr das Parlament Recht setzt, sondern die Richter das tun. Insofern ist es wichtig, dass wir bei der Erarbeitung eines solchen Gesetzes endlich in die Gänge kommen. ({2}) Ein Wort zur früheren Opposition aus CDU/CSU und FDP und zu ihren Ländervertretern: Sie hätten in den letzten Jahren immer wieder die Möglichkeit gehabt, dieses Projekt nach vorne zu bringen. Es war zuletzt der Bundesrat, der ein solches Gesetz pauschal abgelehnt hat, obwohl es eigentlich gar nicht zustimmungspflichtig ist. Das Problem ist, dass zwar von vielen wohlfeil gesagt wird, für die Anwohner müsse beim Lärmschutz etwas getan werden, dass aber aufgrund der Interessen vor Ort gegen ein Lärmschutzgesetz gekämpft wird. Bevor ich auf die Details dieses Gesetzes zu sprechen komme, möchte ich noch Folgendes feststellen: Es ist eine Illusion - das haben wir immer gesagt -, zu glauben, mit einem Gesetz den Fluglärm insgesamt bekämpfen zu können. Dieses Gesetz konzentriert sich vor allem auf die Bereiche Entschädigung und Lärmschutzzonen. Das ist auch gut so. Darüber hinaus gibt es europäische Richtlinien wie zum Beispiel die zu lärmbedingten Betriebsbeschränkungen. Im Rahmen ihrer Umsetzung in deutsches Recht kann man viel besser aktive Lärmschutzmaßnahmen oder Nachtflugverbote durchsetzen. In diesem Zusammenhang kann viel besser eine gesetzliche Verankerung von aktivem Lärmschutz vorgenommen werden als in dem Fluglärmgesetz. ({3}) Die europäische Umgebungslärmrichtlinie verlangt, dass auch an Flughäfen in Ballungsräumen Lärmschutz- und Lärmminderungspläne erarbeitet werden, dass also beim Schallschutz aktiv eingegriffen wird. Auch das steht noch an. Nun zum Gesetz selber. Jahrelang haben wir um dieses Gesetz gerungen und gekämpft, wir wissen, wer daran mitgewirkt hat und wo wir nachgeben mussten. Deswegen ist uns bewusst, dass dieses Gesetz Schwächen hat und dass es Stellen gibt, an denen nachgebessert werden muss. Weil wir nun in der Opposition sind, werden wir selbstverständlich nicht aufhören, zu denken. Das wäre ja auch absurd. Was sind unsere Kritikpunkte? Zunächst zu den Grenzwerten. Es ist richtig und gut, dass das Gesetz bei Neu- und Ausbau ambitionierte und am Stand der Wissenschaft orientierte Grenzwerte vorsieht. Falsch aber ist es, bei den bestehenden Flughäfen niedrigere Grenzwerte und damit mehr Lärm zuzulassen - und das auf Dauer. Wir wollen, dass die neuen besseren Grenzwerte aus der Lärmwirkungsforschung sukzessive auf die alten Flughäfen angewendet werden. Auch dort brauchen wir ambitioniertere Grenzwerte. ({4}) Wir wollen, dass die Grenzwerte regelmäßig überprüft werden. Das muss dann aber auch zu der Konsequenz führen, dass sie korrigiert werden, wenn die Wirkungsforschung sagt, sie seien nicht mehr richtig, heute wisse man mehr darüber, was Krankheiten verursacht. Zum Themenbereich Hauptflugrichtung und Nebenflugrichtung. Kollege Kauch, wir haben in unserem Antrag nicht die alte 100/100-Regel aufgegriffen, sondern haben nur festgestellt, dass es nicht sein kann, dass man ein Verfahren wählt, das diejenigen, die sich in der Nebenflugrichtung befinden, rechnerisch so benachteiligt, dass sie fast keinen Schutz bekommen. An diesem Verfahren üben wir Kritik. Das wollen wir korrigieren. ({5}) Uns stört auch, dass die zeitliche Streckung für Entschädigungszahlungen viel zu lang ist. Menschen, die schon seit 20 oder 30 Jahren auf Maßnahmen warten, können nicht noch weitere zehn Jahre warten, bis sie endlich Geld für Schallschutzmaßnahmen bekommen. Schließlich ist es - da bin ich mit Ihnen, Herr Kauch, einer Meinung - nicht angemessen, dass Bürgerinnen und Bürger, die von militärischem Fluglärm betroffen sind, schlechtere Entschädigungsregeln haben. Da haben Sie vollkommen Recht. Der Verteidigungsminister möchte natürlich nichts aus seinem Etat hergeben. Das muss das Parlament zurückweisen und sagen: Wir wollen Gleichheit zwischen beiden Lärmbelastungen. ({6}) Ein weiterer Punkt. Das Gesetz rechnet nach einer Methode, die in Europa nicht mehr gängig ist. Die Umgebungslärmrichtlinie definiert die neuen Lärmindizes „Lden“ und „Lnight“. Diese sollten wir heutzutage nicht mehr unterbieten; denn das ist der moderne messtechnische Standard. Wir wissen, dass wir an der alten Methode festgehalten haben, weil man mit dieser Methode etwas verstecken kann. Ich meine, das Parlament, das immer sagt, dass es das europäische Recht eins zu eins umsetzen will, sollte das auch bei den Messmethoden tun. Es muss eins zu eins und nicht eins zu minus eins umgesetzt werden. ({7}) Unser letzter Kritikpunkt betrifft die Bauverbote. Auch die Flughafenbetreiber sagen, in den letzten Jahren sei immer näher an die Flughäfen herangebaut worden. Das treibe die Kosten hoch. Man muss den Mut haben, Bauverbote auszusprechen. Das ist durch das Gesetz zunächst einmal möglich. Zusätzlich enthält es aber zahlreiche Ausnahmen, durch die das Bauverbot so unterlaufen wird, dass es damit praktisch kaputtgeschossen ist. Auch hier muss nachgebessert werden. ({8}) Ich komme zum Schluss. Wir brauchen ein neues Fluglärmgesetz mit besseren und anwohnerbezogenen Grenzwerten. Wir sagen es ganz offen: Bei einer solchen Regelung müssen wir eine Balance zwischen dem Flugverkehr, der Flugwirtschaft und den Anwohnern finden. Sie darf eben nicht dauerhaft zulasten der Anwohner gehen. Man darf nicht immer zuallererst nur an die Interessen der Flughäfen und nicht an die der Anwohner denken. Ein Letztes. Minister Gabriel, Sie haben gesagt, insgesamt koste das Ganze nicht viel. Das ist vollkommen richtig. Die Belastungen für die Flugwirtschaft und die Fliegenden durch dieses Gesetz sind absolut zumutbar. Das ist der Preis, den die Leute für die Belastung anderer zahlen müssen. Dass ausgerechnet der Flughafen Frankfurt besondere Probleme haben soll, kann ich nicht nachvollziehen. Das ist nämlich der Flughafen mit den größten Profitraten und dem stärksten Wachstum in den letzten Jahren. Der Chef von Fraport kann vor Kraft fast nicht laufen. Dies ist in dieser Woche beim Verkehrsforum Deutschland wieder zu beobachten gewesen. Man hat mit dem geworben, was man ist und kann. Angesichts der großen Zahl an Flügen in Frankfurt ist der Einzelflug gar nicht so stark belastet. Nicht einmal hier gibt es also einen berechtigten ökonomischen Einwand. Ich meine, wir sollten den Mut aufbringen, ein ambitioniertes Gesetz zu verabschieden. Vielen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich erteile dem Kollege Marko Mühlstein, SPD-Fraktion, das Wort.

Marko Mühlstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003814, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Am Beginn meiner Rede möchte ich den Kollegen Petzold von dieser Stelle aus doch einmal kritisieren. ({0}) Es gab sehr wohl nicht nur im Bundesumweltministerium, sondern natürlich auch in den zuständigen Häusern Bundesinnenministerium und Bundesjustizministerium eine juristische Prüfung. Wir sprechen heute hier über ein in den vergangenen Jahren gewachsenes Umweltproblem in der Bundesrepublik, die Lärmemissionen. Insbesondere der Fluglärm hat sich durch den stetigen Anstieg des Flugverkehrs zu einem ernsthaften Problem entwickelt. So fühlen sich laut Umweltbundesamt 12 Prozent der Gesamtbevölkerung durch Fluglärm wesentlich belästigt. In einigen Bundesländern sind es sogar 41 bzw. 44 Prozent der Einwohner. Aus der Belastung durch Fluglärmemissionen ist für viele Menschen ein ernstzunehmendes Umweltrisiko geworden. Umso mehr freue ich mich, dass wir heute in der ersten Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes vor Fluglärm in der Umgebung von Flugplätzen das mittlerweile 35 Jahre alte Gesetz zum Schutz gegen Fluglärm den aktuellen Erfordernissen anpassen können. Aus meiner Sicht ist es sehr zu begrüßen, dass durch die Neufassung des Gesetzes zum Schutz gegen Fluglärm wesentlich mehr Bürgerinnen und Bürger in der Umgebung der Flughäfen Ansprüche auf Schallschutz erhalten werden. Außerdem wird für eine weitblickende Siedlungsplanung in lärmbelasteten Bereichen um Flughäfen gesorgt, um zukünftigen Lärmkonflikten besser vorzubeugen. Werte Kolleginnen und Kollegen, in der Novelle sind die Grenzwerte für die Lärmschutzzonen deutlich herabgesetzt worden. Zugleich wird mit der Neuregelung auf eine stärkere Harmonisierung mit den Lärmschutzstandards beim Neu- und Ausbau von Straßen- und Schienenwegen abgezielt. Hierfür gibt es mit der 16. Bundes-Immissionsschutzverordnung ja bereits seit 1990 eine analoge Lärmschutzregelung. Schauen wir zurück auf das Gesetz zum Schutz gegen Fluglärm von 1971, das derzeit noch gilt. Danach besteht ein Anspruch auf baulichen Schallschutz für Wohnungen erst, wenn der Fluglärm 75 Dezibel überschreitet. Bei derart hohen Belastungen müssen die Menschen nicht nur massive Störungen und Beeinträchtigungen ihrer Lebensqualität hinnehmen, in unterschiedlichen wissenschaftlichen Studien wird auch aufgezeigt, dass derartiger Lärm vor allem zu Herz-Kreislauf-Störungen führt. Die vom Bundeskabinett am 1. Februar dieses Jahres verabschiedete Novelle des Fluglärmgesetzes sieht daher vor, den Grenzwert für die Tagschutzzone 1 bei Verkehrsflugplätzen auf 65 Dezibel zu senken. Wird ein Verkehrsflughafen wesentlich ausgebaut, soll der Anspruch auf baulichen Schallschutz für Wohnungen im Flughafenumland bei einem fluglärmbedingten Mittelungspegel von 60 Dezibel einsetzen. Diese notwendigen Verschärfungen der Lärmgrenzwerte für die Tagschutzzonen um 10 bis 15 Dezibel orientieren sich maßgeblich an den Empfehlungen des Sachverständigenrates für Umweltfragen. Diese Pflichten sollen künftig für alle Verkehrsflugplätze gelten und darüber hinaus für die größten Verkehrslandeplätze. Neben den zivilen Verkehrsflugplätzen erfasst der Gesetzentwurf auch die militärischen Flugplätze. Erstmals werden für Flughäfen mit relevantem Nachtflugbetrieb auch nachts Schutzzonen festgelegt. Ziel dieser Neuregelung ist es, die von Nachtfluglärm betroffenen Menschen vor gesundheitsrelevanten Schlafstörungen zu schützen. Das novellierte Fluglärmgesetz wird in den nächsten zehn Jahren Investitionen in den Lärmschutz auslösen. Bundesminister Gabriel sprach vorhin von den zu erwartenden Kosten und erwähnte, dass ein Flugticket dadurch in Zukunft um circa 1 Euro teurer werden wird. Diese Kostenbelastungen können angesichts von Kerosinzuschlägen und Sicherheitsgebühren in beträchtlicher Höhe aus meiner Sicht nicht als Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen Verkehrsträgern oder gegenüber Flughäfen im Ausland bewertet werden. ({1}) Zukünftig werden nicht mehr Gerichtsurteile landauf und landab entscheiden, wie die Flughäfen ausgebaut werden können. Mit den verbindlich geregelten Eckdaten dieser Gesetzesnovelle gewährleisten wir als Gesetzgeber nach 35 langen Jahren eine verlässliche Planungsund Rechtssicherheit, wovon der Standort Deutschland als Flugverkehrsstandort in Mitteleuropa, aber auch die als Anwohner betroffenen Bürgerinnen und Bürger deutlich profitieren werden. Der allseits bekannte Spruch „Viel Lärm um nichts“ kann maximal für die Anträge der Fraktion der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen gelten, ({2}) nicht aber für die vorliegende Novellierung des Fluglärmgesetzes. Schließlich haben wir mit dem Gesetzentwurf einen angemessenen Interessenausgleich erzielt, bei dem das Ziel der Ausgewogenheit mit hoher fachlicher Präzision erreicht wurde. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich erteile das Wort dem Kollegen Norbert Königshofen, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Königshofen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002703, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns einig: Das Fluglärmgesetz aus dem Jahre 1971 muss novelliert werden. Wachstum des Flugverkehrs und gestiegene Sensibilität der Menschen - all das spricht dafür: Es besteht dringend Handlungsbedarf. Die Rechtsprechung der deutschen Gerichte ist weit über die Regelungen des Gesetzes hinweggegangen. Wir brauchen also eine grundlegende Modernisierung der Fluglärmgesetzgebung. Unser Ziel ist, einen fairen Ausgleich zwischen Ökologie und Ökonomie zu schaffen. ({0}) Der Luftverkehr ist für uns alle wichtig. Deswegen - das müssen wir bei aller Koalitionsfreundschaft sagen - ist es natürlich ein Jammer, dass wir sieben Jahre lang nur Versprechungen gehört haben ({1}) und es erst jetzt zu einer Novellierung dieses Gesetzes gekommen ist. Nun wissen wir: Die SPD hat es mit den Grünen nicht immer leicht gehabt. Da hat häufig der Schwanz mit dem Hund gewackelt. ({2}) Aber wir müssen jetzt zu einem Ergebnis kommen. Wir nehmen in Kauf, dass dieser Entwurf aus rot-grüner Regierungszeit heute eingebracht wird. Wenn ich sage, dass wir das in Kauf nehmen, dann heißt das nicht, dass wir diesen Entwurf für das Nonplusultra halten. Nein, wir sind der Auffassung, dass dieser Entwurf an vielen Stellen unausgewogen ist, bei dem es also Verhandlungs- und Diskussionsbedarf gibt, nach unserer Meinung auch Veränderungsbedarf. ({3}) Wir haben in den letzten Jahren immer wieder die Vorstellungen insbesondere der Grünen in einigen Punkten kritisiert. Daran hat sich auch nichts geändert, seit wir in die Regierung gekommen sind. Im Gegenteil: Wir haben dadurch vermehrt die Möglichkeit, unser Gedankengut mit einzubringen. Das Gesetz muss also zeitgemäße Lärmschutzstandards vorsehen. Es muss Rechts- und Planungssicherheit für die Flughäfen garantieren; es muss aber auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Luftverkehrswirtschaft sichern. ({4}) Wir haben stolz zur Kenntnis genommen, dass wir wieder Exportweltmeister sind. Man muss in diesem Zusammenhang berücksichtigen, dass rund 40 Prozent der deutschen Ausfuhren per Luftfracht abgewickelt werden. Der Status als führende Exportnation setzt insofern ein funktionierendes Luftverkehrswesen voraus. ({5}) Darüber hinaus hängen allein 750 000 Arbeitsplätze direkt und indirekt vom Luftverkehr ab. Der Luftverkehr ist also eine Jobmaschine. Auch das müssen wir bei der Neufassung des Gesetzes berücksichtigen. In dem Gesetzentwurf werden Entschädigungsrecht und Fachplanungsrecht vermischt. Darüber müssen wir reden. Einigen der heutigen Beiträge war zu entnehmen, dass auch von anderer Seite Diskussionsbedarf besteht. Des Weiteren müssen die bestehenden Ausnahmeregelungen bei Bauverboten eingeschränkt werden. Es ist doch unsinnig, den Menschen zu ermöglichen, immer näher an die Flughäfen heranzubauen, und dann von den Flughafenbetreibern zu fordern, Lärmschutzmaßnahmen zu finanzieren. Ein solches Vorhaben kann nicht ernsthaft verfolgt werden. In diesem Punkt muss nachgearbeitet werden. ({6}) Mein Kollege Petzold hat auf einige weitere Punkte hingewiesen, die ich nicht wiederholen will. Wir stehen am Anfang der parlamentarischen Beratungen. Die Diskussion wird zeigen, ob eine Anhörung erforderlich ist. Die Union geht mit der Absicht in die Verhandlungen hinein, einen fraktionsübergreifenden Kompromiss zu erzielen. Wir wollen im Luftverkehr nicht nur mit dem Koalitionspartner allein, sondern - wie es unserer Tradition entspricht - mit allen gemeinsam etwas auf den Weg bringen. Wir hoffen auf gute Gespräche und ein gutes Ergebnis für die lärmgeplagten Menschen und für die Wirtschaft, die sich im weltweiten Wettbewerb behaupten muss. Sie muss sich auch in unserem Interesse behaupten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich erteile das Wort dem Kollegen Christian Carstensen, SPD-Fraktion. ({0})

Christian Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003745, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Luftverkehr ist einer der herausragenden Wachstumsmärkte in unserem Land. Das ist bereits festgestellt worden. Allein im vergangenen Jahr wurden über 165 Millionen Passagiere befördert. Das entspricht einem Plus von über 6 Prozent gegenüber 2004. Etwa 270 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind direkt in der Luftverkehrswirtschaft tätig. Dazu kommen durch indirekte Effekte noch eine weitere halbe Million zusätzliche Arbeitsplätze. Das ist gut für die beschäftigten Menschen und die betroffenen Regionen und es ist gut für unser Land insgesamt, ({0}) zumal ein Ende des Wachstums und damit auch des Aufbaus zusätzlicher Beschäftigung in diesem Bereich in naher Zukunft nicht zu erwarten ist. Im Gegenteil: Für die nächsten 15 Jahre wird sogar von einer weiteren Verdoppelung der Luftverkehrsleistungen und einer entsprechend positiven Beschäftigungsentwicklung ausgegangen. Verkehrspolitisch werden wir auch im Rahmen dieser Gesetzgebung darauf achten, den Wachstumsbereich Luftverkehr zu unterstützen. Allerdings hat auch dieser Trend eine Kehrseite. Mehr Flugverkehr schafft nicht nur mehr Arbeitsplätze und zusätzliche Mobilität, sondern bringt leider immer zusätzliche Lärmbelastungen für die betroffenen Anwohnerinnen und Anwohner mit sich. Das ist schon mehrfach angesprochen worden und ich kenne das auch aus meinem eigenen Wahlkreis Hamburg-Nord/Alstertal sehr genau. ({1}) Wenn sich inzwischen mehr als jeder dritte Bürger in Deutschland von Fluglärm gestört fühlt, dann macht dies den bestehenden Handlungsbedarf überdeutlich. Eine Neufassung des Gesetzes ist insofern dringend erforderlich. Sie muss zeitgemäße Lärmschutzstandards eindeutig festlegen und so den Schutz der Bevölkerung vor gesundheitsbeeinträchtigendem Lärm verbessern, Konflikte bei der Siedlungsplanung im Flughafenumfeld vermeiden, Rechts- und Planungssicherheit für die Flughafenbetreiber schaffen und gleichzeitig die Wettbewerbssituation erhalten. ({2}) Darin sind sich grundsätzlich alle Beteiligten einig, von den Flughafenbetreibern bis hin zu den Vertretern von Umwelt- und Anwohnerverbänden und offensichtlich auch alle Fraktionen hier im Haus. Ich finde, das ist eine gute Grundlage für die weitere parlamentarische Arbeit, die mit der heutigen ersten Lesung eingeleitet wird. Dabei sollte es uns um die Sache gehen. Unnötige, fast schon albern-reflexhafte Sticheleien wie von der FDP gegen die rot-grüne Vorgängerregierung sind aus meiner Sicht wenig hilfreich. ({3}) Man kann zwar meinen, dass man in der Opposition so etwas in Anträge schreiben oder hier im Plenum so sagen müsse. Ich bin mir aber ziemlich sicher, das bringt Ihnen in der Bevölkerung keine Sympathien und verstellt eher den Blick auf das Wesentliche, die Diskussion über die unterschiedlichen Argumente. Natürlich gibt es noch Diskussionsbedarf im Detail. Zum Schluss möchte ich noch dem Kabinett und insbesondere unserem Bundesumweltminister für die heutige Vorlage des Gesetzentwurfes herzlich danken. Es war richtig, hinsichtlich der Gesetzesvorlage keine weitere Zeit verstreichen zu lassen, nur um etwa angesichts einer neuen Regierungszusammensetzung in langwierigen regierungsinternen Abstimmungen einen geänderten Gesetzesvorschlag zu entwickeln, der dann wieder von allen Seiten kritisch hinterfragt und beleuchtet worden wäre. Der vorliegende Gesetzestext ist nun lange genug auf Arbeitsebene beraten und abgestimmt worden. Er bietet uns eine gute Grundlage für die weiteren Beratungen. Das Ziel guter Politik muss es in diesem Fall sein, den beschriebenen Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen der Anwohnerinnen und Anwohner, die einer ständigen Lärmbelastung ausgesetzt sind, und den ebenfalls berechtigten Interessen der Wachstumsbranche Luftverkehr zu erreichen. Im weiteren parlamentarischen Verfahren werden wir Sozialdemokraten versuchen, diesen Ausgleich - hoffentlich in Übereinstimmung mit unserem Koalitionspartner und den Oppositionsfraktionen - herzustellen. Vielen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Carstensen, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Ich gratuliere Ihnen dazu sehr herzlich und wünsche Ihnen weiterhin alles Gute. ({0}) Nun hat als letzter Redner in dieser Debatte das Wort der Kollege Josef Göppel, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Josef Göppel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003537, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren! Ich möchte zuerst meinem Landesgruppenvorsitzenden zum Geburtstag gratulieren. Alles Gute! ({0}) Mir ist aufgefallen, dass unser Umweltminister in der großen Koalition voll angekommen ist, und zwar wegen seines empfindsamen Eingehens auf die Hinweise zum Änderungsbedarf, den einige bei dem vorliegenden Gesetzentwurf noch sehen. Ich bin der Meinung, dass der Gesetzentwurf, der vom Bundeskabinett verabschiedet wurde, ein großer Schritt nach vorn ist. Das Gesetz sorgt für eine Synthese aus florierender Luftverkehrswirtschaft und mehr Schutz für die Menschen in einem dicht besiedelten Land. Das brauchen wir dringend. Mich hat übrigens die Rede meines Kollegen Königshofen sehr beeindruckt. Ich denke, wir Umweltpolitiker können von den Verkehrspolitikern noch viel an Selbstbewusstsein lernen. Das brauchen wir hier auch; denn viele Menschen sind von den Auswirkungen, die Flugplätze mit sich bringen, betroffen. Wir können einige positive Entwicklungen durch den Gesetzentwurf vermelden. Erstmals gibt es Nachtschutzzonen und einen Anspruch auf Entschädigung auch im Außenbereich. Zudem werden die zulässigen Grenzwerte gesenkt. Im Detail sehe ich - genauso wie Sie, Herr Kollege Kauch - Diskussionsbedarf bei der Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Flugplätzen. Hierüber sollten wir im Ausschuss noch einmal beraten; denn der Lärm für die Menschen lässt sich nicht teilen. Der zweite große Bereich betrifft die Rechtssicherheit für die Luftverkehrswirtschaft und die Betreiber. Sie wird durch die Festlegung von Grenzwerten auf formalgesetzlicher Grundlage gefördert. Das ist ein wichtiger Schritt angesichts der bisherigen großen Unterschiede in der Rechtsprechung. In Bezug auf die Flugplatzbetreiber möchte ich jetzt schon die Anregung geben, dass wir prüfen müssen, ob wir bei kleinen Flugplätzen schon 25 000 Flugbewegungen als Maßstab nehmen. Auch da sehen wir Änderungsbedarf. Der dritte Bereich ist mir als Kommunalpolitiker, der 32 Jahre selber in einem Stadtrat saß, besonders wichtig. ({1}) - Was, das glauben Sie nicht? - Es geht um die Balance zwischen kommunaler Planungshoheit und der notwendigen Siedlungslenkung. Diese Balance muss im Einzelfall gefunden werden. Die abgestuften Baubeschränkungen und die Ausnahmen davon gehören zu den Punkten, die wir in diesem Gesetz im Detail ernsthaft überprüfen müssen. Das, was wir auf jeden Fall ändern wollen, Herr Minister Gabriel, und ändern müssen, sind die 20 verschiedenen Kriterien für die Definition der Lärmschutzzonen. Es kann weder ein Bürger noch ein Kommunalpolitiker genau feststellen und selber nachvollziehen, was gemeint ist. Die Klarheit fehlt an dieser Stelle. Insgesamt ist das Gesetz ein Schritt nach vorn. Ich denke, dass wir die Abwägungen, die zwischen dem Schutz der Bevölkerung, der Luftverkehrswirtschaft und der Kommunalpolitik zu treffen sind, in den Ausschussberatungen richtig justieren. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord- nungspunkt. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/508, 16/263 und 16/551 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 16/508 und 16/263 sollen zusätzlich an den Ausschuss für Wirt- schaft und Technologie überwiesen werden. Sind Sie da- mit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 2005 - Drucksache 15/5285 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Schummer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Willi Brase, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Neue Dynamik für Ausbildung - Drucksache 16/543 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Frau Bundesministerin Dr. Annette Schavan für die Bundesregierung das Wort. ({2})

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir beraten den Berufsbildungsbericht 2005, der über die Entwicklungen auf dem Ausbildungsstellenmarkt 2004 Auskunft gibt. Wir werden - das füge ich gleich hinzu - schon in wenigen Wochen den Bericht über die Entwicklungen des Jahres 2005 vorliegen haben, über den bereits erste Meldungen veröffentlicht wurden. 2004 ist das erste Jahr der Umsetzung des Paktes für Ausbildung gewesen. Es gab Zuwachsraten im Vergleich zum Jahr 2000. Mit Blick auf die Ausbildungsverträge insgesamt betrug die Zuwachsrate 2,8 Prozent. Die Zuwachsrate von Verträgen im Bereich der betrieblichen Ausbildung betrug insgesamt 4,5 Prozent. Zugleich gab es einen Rückgang der öffentlich finanzierten Ausbildungsplätze um rund 10 Prozent. Wenn wir den nächsten Berufsbildungsbericht vorliegen haben, dann werden wir feststellen, dass dies eine erfreuliche erste Etappe gewesen ist, die aber noch nicht verspricht, dass sich daraus eine generell positive Entwicklung auf dem Ausbildungsmarkt ergeben wird. Das wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen. Wir werden in diesen Jahren mit einer zunehmenden Zahl von Schulabsolventen zu tun haben; sprich: mehr Jugendliche suchen eine Lehrstelle. Deshalb ist unbestritten, dass die Zahl der Unternehmen in Deutschland, die ausbilden, größer werden muss. ({0}) Unbestritten ist, dass wir uns um die Nahtstelle zwischen Schule und Beschäftigung zur Stabilisierung der Ausbildungsreife kümmern müssen. Unbestritten ist auch, dass wir die Modernisierung der Ausbildungsberufe - damit verbunden ist ein besonderes Augenmerk auf Einstiegsqualifikationen, auf eine Modernisierung, die eine Berufsbildungsbiografie nach dem Bausteinprinzip ermöglicht - zügig voranbringen müssen. ({1}) Entsprechend sind die Aussagen im Koalitionsvertrag. Wer diesen Vertrag liest, spürt: Berufsbildungspolitik, die Modernisierung, die Weiterentwicklung der Strukturen der beruflichen Bildung werden in dieser Legislaturperiode vorangebracht. Um es in einem Satz zu sagen: Wir können mit der bisherigen Bilanz nicht zufrieden sein; es reicht nicht im Hinblick auf die Jugendlichen, die eine qualifizierte Ausbildung brauchen. ({2}) Ich mache klare Aussagen: Erstens. Kein Jugendlicher bis zum Alter von 25 Jahren soll länger als drei Monate ohne Ausbildung und Arbeit bleiben. Zweitens. Wir setzen den Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs fort. Wir werden uns aber gleichzeitig um die Weiterentwicklung, um die Veränderung und auch um die Modernisierung der Strukturen der beruflichen Bildung kümmern. Kurz gesagt: Die duale Ausbildung wird sich auch in den nächsten Jahren nicht per Naturgesetz stabil weiterentwickeln. Es braucht neue Impulse, neue Dynamik, damit die duale Ausbildung das Herzstück der beruflichen Bildung bleibt. Wir dürfen keine weitere Verstaatlichung der beruflichen Bildung - übrigens mit erheblichen Kosten für die 16 Länder - zulassen. ({3}) Wir müssen den hohen Stellenwert der beruflichen Bildung für die Integration der Jugendlichen mit Migrationshintergrund sehen. Wer sich Zahlen aus Deutschland anschaut, stellt fest: Bei Jugendlichen im Alter von 15 Jahren ist vieles an Integration noch nicht gelungen. Der Anteil derjenigen in der Bevölkerung mit einem Sekundarstufen-II-Abschluss liegt - quer durch alle Altersgruppen - bei 83 Prozent. Im OECD-Durchschnitt liegt dieser Anteil bei 64 Prozent. Das heißt, Deutschland hat im internationalen Vergleich einen außerordentlich hohen Anteil an hoch qualifizierten Abschlüssen. Dies ist der beruflichen Bildung zu verdanken. Sie ist ein äußerst geeignetes Instrument zur Integration. Sie ist ein äußerst geeignetes Instrument, um Jugendlichen, die in ihrer bisherigen Bildungsbiografie noch nicht erfolgreich waren, Erfolge zu ermöglichen, zum Beispiel zu einem qualifizierten Schulabschluss zu kommen. Deshalb sollten wir auch das Instrument der beruflichen Bildung für eine bessere Integration, für eine bessere Qualifizierung der Jugendlichen mit Migrationshintergrund nutzen. ({4}) Worauf werden sich unsere Maßnahmen konkret beziehen? Im Ausschuss haben wir es in dieser Woche kurz angesprochen: Es geht um eine strukturelle Weiterentwicklung. Es geht um die Stärkung der dualen Ausbildung. Es geht darum, dass wir nicht zulassen dürfen, dass immer mehr Jugendliche im Bereich der beruflichen Bildung 13, 14 oder 15 Schuljahre erleben. „Erleben“ ist eigentlich das falsche Wort; denn sie sind völlig entmutigt. Sie sind nicht mehr motiviert, weil sie den Eindruck haben, in Warteschleifen zu sein, die nicht zu einer wirklichen beruflichen Qualifikation führen. Deshalb werden wir seitens der Bundesregierung jetzt in einem nächsten Schritt prüfen: Wo wird das, was das Berufsbildungsgesetz an Möglichkeiten bietet, genutzt und welche Impulse müssen wir setzen, damit es eine bessere Verzahnung zwischen beruflicher Vollzeitschule und dualer Ausbildung gibt? Alle Partner der beruflichen Bildung müssen sich darauf einigen, zügig eine vernünftige berufliche Bildung zu ermöglichen. Es kann nicht sein, dass Jugendliche, die ein zweijähriges kaufmännisches Berufskolleg absolviert haben, dann, wenn sie eine Lehrstelle bekommen, wieder von vorn beginnen müssen. Wir brauchen einen verantwortungsbewussten Umgang mit der Lebenszeit. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Keskin?

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Bitte schön.

Dr. Hakki Keskin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003785, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Könnten Sie uns vielleicht sagen, wie viele Jugendliche trotz dieses Ausbildungspakts keinen Ausbildungsplatz bekommen haben?

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Sie meinen die aktuellen Zahlen 2005. Die reiche ich Ihnen gern nach. Sie wissen, dass es bis zum Ende des Jahres Nachvermittlungen gegeben hat. Die Zahlen von Ende Dezember werden gerade ausgewertet. Beim Vergleich zwischen 2004 und 2005 können Sie feststellen, dass die Zahl der nicht vermittelten Jugendlichen zugenommen hat. Ich kann es Ihnen auch in einem Satz sagen: Unabhängig davon, wie exakt die Zahl ist - ich habe sie nicht im Kopf -: Es sind zu viele. ({0}) - Herr Rossmann ruft mir gerade zu, dass es 11 000 sind. Es sind 11 000 zu viel. ({1}) Erster Punkt der strukturellen Veränderung: bessere strukturelle Verzahnung. Zweiter Punkt: weitere Modernisierung der Ausbildungsberufe. Drittens. Im Kontext der Modernisierung von Ausbildungsberufen: mehr gestufte Ausbildung. Für gestufte Ausbildungen gelten zwei Kriterien; auch darüber sollten wir im politischen Raum Konsens erreichen. Erstes Kriterium: Die gestufte Ausbildung muss auch Teil einer weiter gehenden Ausbildung werden können. Sie darf nicht Sackgasse sein. ({2}) Zweites Kriterium: Bevor wir eine gestufte Ausbildung zulassen, müssen wir im Interesse der Jugendlichen sicherstellen, dass es danach eine Berufstätigkeit geben kann. Wenn diese beiden Kriterien erfüllt sind, dann - davon bin ich überzeugt - werden wir deutlich mehr gestufte Ausbildungen zulassen können, auch als eine Weise der Einstiegsqualifikation. Wenn diese beiden Kriterien nicht erfüllt sind - auch das sage ich ganz klar -, ist gestufte Ausbildung Schwindel, weil sie nicht zu einer Berufstätigkeit der Jugendlichen führt. Ein weiterer Punkt: europäische Öffnung, nationaler Qualitätsrahmen, Leistungspunkte in der beruflichen Bildung. Dieser Prozess, der bereits läuft, wird uns Gelegenheit geben, auch im internationalen Vergleich die Stärken der beruflichen Bildung festzustellen und von da ausgehend die Modernisierung der beruflichen Bildung voranzubringen. Zwei Drittel aller Jugendlichen durchlaufen einen Weg in der beruflichen Bildung. Deshalb entscheidet sich hier viel über die Zukunftschancen der jungen Generation. Auch deshalb ist dieses Thema ein Schwerpunkt der Bildungs- und Innovationspolitik der Bundesregierung. Danke schön. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Patrick Meinhardt, FDP-Fraktion.

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Schavan, dieser Berufsbildungsbericht ist das beste Dokument für das, was in Deutschland falsch läuft: Bürokratie pur, Vorschriften ohne Ende, Regelungswut bis ins letzte Detail. Damit müssen wir in der Bundesrepublik Deutschland endlich Schluss machen. ({0}) Ich darf einmal ein schillerndes Beispiel aus dem Berufsbildungsbericht vorlesen: Die Ermächtigungsnorm zum Erlass von Ausbildungsordnungen in § 4 in Verbindung mit § 5 BBiG fußt im Kern auf der bisherigen Ermächtigungsnorm in § 25 des Berufsbildungsgesetzes von 1969. Wir haben es alle verstanden. ({1}) Wir haben in diesem Land in allererster Linie ein mentales Problem: Solange wir in Normen, Vorschriften und Erlassen denken bzw. - noch viel schlimmer - in der Bildungspolitik auch so handeln, werden wir die Zukunftsperspektiven in diesem Land nicht nachhaltig verbessern. Deswegen die klare Schlussfolgerung für uns: Entrümpeln wir endlich die Bildungsbürokratie! ({2}) Die neue Bundesregierung ergänzt jetzt den rot-grünen Bericht durch einen schwarz-roten Koalitionsantrag. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSUFraktion, wir von der FDP haben volles Verständnis. Wenn Sie nämlich nur diesen Berufsbildungsbericht vertreten müssten, hätten Sie nun wohl arge Argumentationsnöte. Wir sehen Ihnen schon jetzt an, dass Sie sich innerlich verbiegen müssen, weil Sie nicht sagen können, was Sie eigentlich sagen wollen. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland von 1999 bis 2005 1,35 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren. Wir haben im Augenblick 1,4 Millionen junge Erwachsene im Alter von 20 bis 29 Jahren ohne Ausbildung. ({3}) Fast jeder vierte Auszubildende bricht seine Ausbildung vorzeitig ab und bei der beruflichen Weiterbildung sind wir weit abgeschlagen Schlusslicht. Über eine halbe Million Schüler werden nicht ihren Talenten entsprechend optimal gefördert. Meine sehr geehrten Damen und Herren von RotGrün, Sie haben in unserem Land sieben wertvolle Jahre verspielt. ({4}) Sie haben der Generation sieben Jahre Zukunft verbaut. Ihre Wirtschafts- und Bildungspolitik war für Deutschland eine Katastrophe. ({5}) Jetzt ist es Aufgabe dieser schwarz-roten Koalition, keine kleinen Trippelschritte zu machen, ({6}) sondern wirklich eine große Koalition zu werden. Unser Hauptproblem ist, dass wir zu wenige Lehrstellen haben. Zugleich sehen wir, dass die Wirtschaft, insbesondere der Mittelstand, ihre soziale Verantwortung wahrnimmt und selbst dann ausbildet, wenn der Gewinn des Unternehmens es eigentlich nicht zulässt. Allen Unternehmerinnen und Unternehmern, die bereit sind, junge Menschen in ihrem Betrieb auszubilden, hierfür - hoffentlich in Ihrer aller Namen - ein herzliches Dankeschön. ({7}) - Die Gewerkschaften hinken ja wohl mehr hinterher, was die Ausbildung angeht. Die Frage ist: Woran liegt es, dass es zu wenige Lehrstellen gibt? Heinrich von Pierer, der Regierungsberater, analysiert die fünf Ausbildungshemmnisse sehr treffend: mangelnde Vorbildung der Schulabgänger, zu hohe Ausbildungskosten, die tariflichen Übernahmeverpflichtungen, die oft zu lange Ausbildungsdauer, viel zu starre Berufsbilder. Gerade weil Heinrich von Pierer wie der Rufer in der Wüste dieser großen Koalition wirkt, ein klares Signal von der FDP: Recht hat er! ({8}) - Sagen Sie das Ihrem eigenen Regierungsberater. Jetzt das Programm: Deutschland muss flexibler werden. Wissen Sie was? Deutschland ist schon viel flexibler, als Sie alle denken. Schauen wir nach Bayern: Hier feiert das Azubi-Sharing mit massiver Unterstützung der bayerischen Liberalen Erfolge. ({9}) Mehrere Kleinbetriebe, die jeder für sich nicht die nötigen Kapazitäten haben, teilen sich einen Auszubildenden. Schauen wir nach Nordrhein-Westfalen: Kaum ist dort Schwarz-Gelb im Amt, schon gibt es ein Werkstattjahr, das eben nicht die duale Ausbildung aushebelt, sondern sie ergänzt und in der Verbindung von Schule, Praktikum und Beruf Zusatz- und Einstiegsqualifikationen ermöglicht. Schauen wir nach Baden-Württemberg: Regionale Pakte für Ausbildung sind dort erfolgreich. Der Nationale Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs, den wir unterstützen, läuft nur so gut, wie er in der Region aktiv umgesetzt wird. Deswegen haben wir in BadenWürttemberg eine erheblich höhere Zunahme der Bewerberzahlen für eine Lehrstelle. ({10}) Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg zeigen es halt: Schwarz-Gelb kann es besser. ({11}) Schauen wir in die neuen Bundesländer: Sie machen uns vor, wie wir durch ein kleines Stück mehr an Flexibilität ein Mehr an Ausbildungsplätzen hinbekommen. Der Tarifvertrag zwischen dem Verband der Metall- und Elektroindustrie in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen und der Christlichen Gewerkschaft Metall zeigt, wie es anders geht. Im Kern beinhaltet der Tarifvertrag eine niedrigere Grundvergütung. Diese lässt sich durch Zulagen erhöhen, die für gute Leistung in der Berufsschule gezahlt werden. Einen Bonus gibt es noch obendrauf für einen erfolgreichen Abschluss der Ausbildung. Diese Belohnung guter schulischer Leistungen hat sich bisher äußerst positiv auf die Lernergebnisse der Auszubildenden ausgewirkt. Denn der Anreiz, die Höhe des Gehaltes selbst beeinflussen zu können, motiviert und belohnt den Fleiß der Auszubildenden. Das ist ein vorbildlicher Weg. ({12}) Die Idee fußt auf dem Vorschlag, dass sich drei Auszubildende zwei Lehrstellen teilen sollen. Diese Idee wurde jetzt von dem DIHK und seinem Präsidenten Braun in die Diskussion wieder eingeführt, ({13}) sie wurde aber schon viel früher geboren, Herr Tauss, nämlich im Herbst 1995. Auch damals gab es eine große Koalition, allerdings eine Koalition zweier Ministerpräsidenten: Der eine war Kurt Biedenkopf und der andere war Gerhard Schröder. Beide haben damals zumindest erkannt, dass wir mehr Flexibilität im Ausbildungsmarkt brauchen, auch wenn es der eine von beiden später dann vergessen hat. ({14}) Deswegen unser liberaler Tipp an die große Koalition: Statt noch ein weiteres Sonderprogramm, ein weiteres JUMP, JUMP plus oder Start-Up sollten wir den Weg der sächsischen Wirtschaft und der Christlichen Gewerkschaft energisch unterstützen und ihn zum politischen Programm machen: „Aus zwei mach drei!“ ({15}) Wenn wir mehr Freiheit wagen wollen, dann müssen wir in Deutschland flexibler werden. Nur so werden wir zu einer Gesellschaft der wirklichen Chancen werden. „Aus zwei mach drei!“ ist ein schlechtes Motto für die Mehrwertsteuererhöhung, aber das beste Motto für mehr Ausbildung in Deutschland. Vielen Dank. ({16})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat die Kollegin Nicolette Kressl, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Kollege Meinhardt, Ihr Beitrag war ein Beispiel dafür, dass laut nicht unbedingt inhaltsvoll bedeutet. ({0}) - Nein, nicht automatisch, Herr Kollege. - Wenn Sie Ihre Energie ein bisschen mehr darauf verwendet hätten, einmal ernsthaft ({1}) in den Berufsbildungsbericht hineinzuschauen, dann hätten Sie gemerkt, dass gerade im Bereich der Ausbildungsvergütung schon heute eine extrem differenzierte Struktur beispielsweise zwischen Branchen und zwischen Ost und West vorhanden ist. Das liegt unter anderem daran, dass im Berufsbildungsgesetz Möglichkeiten zur Flexibilisierung auch im Bereich der Vergütung bereits verankert sind. ({2}) Sie sollten sich also diese populistischen Überschriften sparen und sich ernsthaft mit der Thematik befassen. ({3}) Gemäß der Tagesordnung reden wir heute über den Berufsbildungsbericht und über einen Antrag zum Ausbildungspakt. Damit verbunden reden wir aber auch über Zukunftschancen junger Menschen. Von diesen Chancen hängt es ab, wie stark sie sich mit dieser Gesellschaft und mit diesem politischen System identifizieren. Denn es wird sie für ihr ganzes Leben prägen, ob wir ihnen Zukunftschancen geben oder verweigern. ({4}) Wir reden auch über die Zukunftsfähigkeit der Wirtschaft; denn es ist völlig klar, dass es sich niemand leisten kann, die Potenziale, die in den Köpfen junger Menschen stecken, zu verschwenden. In diesem Punkt stehen wir, aber auch die Unternehmen ganz stark in der Pflicht. Wir werden die Unternehmen an ihre Verantwortung im Ausbildungsbereich erinnern, wenn sie später über Fachkräftemangel jammern sollten. ({5}) Wir reden natürlich auch über die Zukunftsfähigkeit - Frau Ministerin Schavan hat es angesprochen - des dualen Systems an sich. Ob wir es schaffen, uns hinsichtlich Quantität und Qualität nach vorne zu bewegen, wird die Zukunft des dualen Systems entscheidend beeinflussen. Entscheidend ist, dass wir es schaffen, für eine Bewegung nach vorne zu sorgen, und dass sich nicht immer weniger Unternehmen an diesem System beteiligen und damit zu seiner Aushöhlung beitragen. ({6}) Ich habe gerade schon gesagt, dass wir uns sowohl die Qualität als auch die Quantität in diesem Bereich anschauen müssen. Lassen Sie mich zuerst etwas zur Frage der Quantität sagen. Die unbefriedigende Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt vor ein paar Jahren hat unter der rot-grünen Regierung zu einer intensiven Debatte über die Zukunft von jungen Leuten geführt. Sie alle wissen, dass wir uns dann entschlossen haben, den Weg zu einer gesetzlichen Umlagefinanzierung frei zu machen. ({7}) Das war zugegebenermaßen eine umstrittene Diskussion. Aber diese Diskussion hat dann zu dem geführt, was heute „Ausbildungspakt“ genannt wird. Es darf nicht vergessen werden, wie er zustande gekommen ist. ({8}) Im ersten Jahr des Ausbildungspaktes hatten wir ein zwar noch nicht ausreichendes, aber erfreuliches Ergebnis. Wir konnten nämlich feststellen, dass sich bei den betrieblichen Ausbildungsplätzen ein Zuwachs um 4,8 Prozent einstellte. Die Zahl der außerbetrieblichen Ausbildungsplätze ist zwar zurückgegangen. Aber insgesamt gab es bei den abgeschlossenen Ausbildungsverträgen einen Zuwachs um 2,8 Prozent. Das war die Umkehr des Trends des Abbaus von Ausbildungsplätzen. ({9}) Wir sehen jetzt, dass sich dieser positive Trend abschwächt. Ich kann an all diejenigen, die am Ausbildungspakt beteiligt waren und sind, nur appellieren: Alle sollten bitte dafür sorgen, dass nicht diejenigen Recht bekommen, die befürchtet haben - oder dies interpretieren könnten -, dass nur ein ständiger massiver Druck mit Zwangsmaßnahmen dazu führt, dass etwas passiert. Bitte strafen Sie dies Lügen! ({10}) Sorgen Sie dafür, dass die Freiwilligkeit nicht nur ein Jahr, sondern auch mehrere Jahre danach akzeptiert wird! Es wird eine entscheidende Frage sein, wie wir in Zukunft bei Vereinbarungen, was diesen Bereich angeht, miteinander umgehen können. ({11}) Vonseiten der Koalitionsfraktionen begrüßen wir ausdrücklich die Entscheidung, die Dauer des Paktes zu verlängern. Aber wir begrüßen auch die Entscheidung, den Pakt weiterzuentwickeln. ({12}) Man muss wissen: Dieser Pakt ist in sehr kurzer Zeit entwickelt und entworfen worden. Da macht es natürlich Sinn, sich Einzelregelungen noch einmal anzuschauen. Ich möchte - wir reden heute ja auch über einen Antrag zu diesem Thema -, dass die Gedanken des Parlaments hierzu nicht nur in Form von Anträgen auf dem Tisch liegen. Wir wollen vielmehr ausdrücklich an die am Pakt beteiligten Verhandlungspartner appellieren, diesen Antrag ernst zu nehmen und ihn in die Debatten über den Ausbildungspakt aufzunehmen. ({13}) Wir haben im Koalitionsvertrag auch festgelegt, dass in das Thema des Ausbildungspaktes Fragen der Ausbildungsfähigkeit und Möglichkeiten der tariflichen Vereinbarung einbezogen werden. Das halte ich für eine ganz wichtige Aussage. ({14}) Für uns Sozialdemokraten - ich gehe fast davon aus, dass auch Sie diese Position teilen; aber ich kann nicht für die andere Fraktion sprechen ({15}) ist es völlig unverständlich - das will ich deutlich sagen -, dass einige Bereiche der Arbeitgeberseite und der Arbeitgeberverbände sich konsequent weigern, auf tariflicher Ebene über die Steigerung der Zahl der Ausbildungsplätze zu verhandeln. ({16}) Dies ist für mich nicht verständlich. Im Bereich der IG BCE und der IG BAU gibt es Beispiele dafür, dass Unternehmensführer selbst sagen: Das ist für uns eine gute Lösung. - Wir appellieren deutlich daran, Gespräche über eine tarifliche Vereinbarung zu führen; denn dies wäre eine massive Unterstützung dessen, was im Pakt vereinbart worden ist. Eines ist doch klar: Vor Ort und auf Bundesebene haben sich beispielsweise die Industrie- und Handelskammern ({17}) - auch die Handwerkskammern ({18}) mit großem Engagement - das will ich anerkennen - in den Pakt eingebracht. Aber dass eine tarifliche Vereinbarung die Akzeptanz des Paktes wesentlich unterstützen und die Verbände nicht allein lassen würde, liegt doch auf der Hand und wäre ein wesentlich besserer Weg. ({19}) Zurück zum Pakt selbst. Ich habe gesagt, dass wir die Frage der Ausbildungsfähigkeit mit einbeziehen wollen. Mir ist auf der einen Seite wichtig, dass das Thema der Ausbildungsfähigkeit nicht als Alibi benutzt wird, damit Unternehmen sagen können: Wir können nicht einstellen. - Auf der anderen Seite können wir natürlich auch nicht den Kopf in den Sand stecken. ({20}) Ich glaube, es gibt eine realistische Betrachtungsweise in diesem Bereich. Deshalb ist es auch so wichtig, dass Bund, Länder und Wirtschaft in dieser Frage zusammenarbeiten. In diesem Zusammenhang sei mir eine Anmerkung zu einem anderen Themenbereich erlaubt: Es ist fraglich, ob es wirklich sinnvoll ist, dass Zusammenspiel von Bund, Ländern und Wirtschaft zu erschweren. ({21}) Ich will im Zusammenhang mit dem Thema der Ausbildungsfähigkeit etwas zu den Einstiegsqualifizierungen sagen. Die Einstiegsqualifizierungen, ein neues Instrument, zeigen offensichtlich Wirkung. Bei der Auswertung des Paktes ist deutlich geworden ist, dass 57 Prozent aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Einstiegsqualifikationen anschließend in eine berufliche Ausbildung vermittelt werden konnten. Das ist eine gute Zahl. ({22}) Sie übertrifft Zahlen, die uns von anderen Qualifizierungsmaßnahmen bekannt geworden sind. Meiner Meinung nach ist ein betrieblicher Ansatz besser als ein rein schulischer. ({23}) Deshalb ist es wichtig, dass wir uns in Bezug auf die Weiterentwicklung dieses Instruments die Frage stellen: Wie kann seine Akzeptanz noch verbessert werden? Ich will aber ebenfalls darauf hinweisen, dass die EQJs nicht nur den Anteil der Wirtschaft am Pakt darstellen; vielmehr wird die Finanzierung der EQJs durch den Staat geleistet. Das heißt, hier gibt es ein Zusammenspiel. Wir müssen uns gemeinsam die Frage stellen, auf welche Weise dies am besten weiterentwickelt werden kann. ({24}) Ich bin davon überzeugt - das ist heute auch von anderen Rednern gesagt worden -, dass wir eine Weiterentwicklung, etwas mehr Dynamik brauchen. Wir müssen uns Detail- und Einzelfragen anschauen. Aber das Ziel, jungen Menschen Zukunftschancen zu eröffnen, lohnt jede Anstrengung in diesem Bereich allemal. Vielen Dank. ({25})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Cornelia Hirsch, Fraktion Die Linke. ({0})

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin Schavan, die Fraktion Die Linke stimmt Ihnen in einem Punkt ausdrücklich zu: Ja, wir brauchen neue Dynamik für Ausbildung. ({0}) Aber weder das, was bisher vorgetragen wurde, am allerwenigsten das, was von der Fraktion der FDP geäußert wurde, ({1}) noch der Inhalt des vorliegenden Antrags lassen solch eine neue Dynamik für Ausbildung erwarten. Zuerst einige Punkte zum Antrag. Erstens - ganz grundsätzlich - liegen dem Antrag offensichtlich wieder die gleichen unrealistischen Zahlen und Einschätzungen zur aktuellen Ausbildungssituation zugrunde, über die wir an dieser Stelle schon einmal diskutiert haben. Ein Beispiel, weil eben schon danach gefragt wurde: Die Ausbildungslücke wird im Antrag mit 11 500 Plätzen beziffert. Unsere Fraktion hatte Ende Januar eine Sachverständigenanhörung und es bestand unter allen eingeladenen Sachverständigen - darunter war auch ein Abteilungsleiter aus dem Bundesinstitut für Berufsbildung, der die Zahlen wirklich kennen müsste - Konsens darüber, dass die tatsächliche Ausbildungslücke bei rund 100 000 Plätzen liegt. ({2}) Die übrigen knapp 90 000 Jugendlichen verschwinden bei Ihnen in Angeboten der zweiten oder dritten Wahl. ({3}) Dazu, Frau Kressl, gehören eben auch die Einstiegsqualifizierungen. Eine solche Einstiegsqualifizierung ist aber kein Ausbildungsplatz; es ist ein billiges Praktikum. ({4}) Mehr als ein Drittel der Jugendlichen steht danach wieder auf der Straße. Diese Jugendlichen brauchen einen Ausbildungsplatz. Sie tauchen aber in der Statistik nicht auf. Das ist schlicht falsch. ({5}) Deshalb fordern wir Sie auf: Legen Sie endlich eine realistische Ausbildungsbilanz vor! ({6}) Der zweite Punkt. Wir können nach wie vor - auch wenn es mittlerweile schon um eine Weiterentwicklung geht - Ihre Begeisterung über den Ausbildungspakt nicht teilen. Die Wirkungslosigkeit müsste auch für Sie offensichtlich sein. In Ihrem eigenen Antrag steht - ich zitiere -: Die Bundesregierung hat den Ausbildungspakt mit den Spitzenverbänden der Wirtschaft geschlossen, um das Ausbildungsverhalten der Betriebe positiv zu beeinflussen. Das klingt gut. Dem steht aber die Presseerklärung des Bundesinstituts für Berufsbildung zur Ausbildungsbilanz 2005 gegenüber. Dort steht - wieder Zitat -: Die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze sinkt auf den tiefsten Stand seit der Wiedervereinigung. ({7}) Wo sehen Sie hier eine positive Auswirkung auf das Ausbildungsverhalten der Betriebe? Für uns ist klar: Der Ausbildungspakt ist kein Erfolg. Die Gewerkschaften haben unsere volle Unterstützung, bei einer solchen Lügengeschichte nicht einzusteigen. ({8}) Dritter Punkt: Durchlässigkeit der Bildungswege. Dieses an sich vollkommen richtige und längst überfällige Vorhaben wird zwar nicht durch diesen Antrag, aber durch die geplante und mehrfach diskutierte Föderalismusreform konterkariert. Wenn die Möglichkeiten einer gesamtstaatlichen Bildungsplanung weiter eingeschränkt werden, dann ist die geforderte und auch angekündigte Durchlässigkeit zur Hochschule nur eine Worthülse. Was nützt es, wenn einem der Zugang zukünftig nicht mehr aufgrund eines fehlenden formalen Abschlusses, sondern aufgrund eines Kapazitätsmangels verweigert wird? Für denjenigen, der versucht, an die Hochschule zu kommen, ist das Ergebnis das gleiche. Deshalb lautet unser Appell an die Vernunft aller Beteiligten, sich gegen die vorliegenden Vorschläge aus der Koalitionsvereinbarung zur Föderalismusreform im Bildungsbereich zu wenden. ({9}) Vierter Punkt: das Jobstarter-Programm. Sie sprechen im Antrag von „Bündelung und Fortentwicklung“ der bisherigen Programme. Ganz nebenbei - das wird eben nicht gesagt - werden die Bundesmittel deutlich gekürzt. Auch dieses Programm ist damit eine reine Luftnummer. Eine nachhaltige Förderpolitik sieht anders aus. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, um Dynamik in die Ausbildung zu bringen, sind andere Schritte notwendig. Diese vermissen wir in Ihrem Antrag. Ich möchte einige Punkte erwähnen, die aus unserer Sicht an oberster Stelle stehen müssen. Erster Punkt: Einführung einer gesetzlichen Umlagefinanzierung. ({11}) Frau Kressl, Sie haben wieder darauf aufmerksam gemacht, dass Sie auf Freiwilligkeit, dass Sie auf Appelle an die Tarifpartner setzen. Bei unserer Sachverständigenanhörung, von der ich bereits sprach, herrschte auch Konsens darüber, dass, wenn auf Branchenebene tarifliche Vereinbarungen getroffen werden sollen, im ersten Schritt eine gesetzliche Grundlage vorhanden sein muss. Wir können nicht verstehen, dass in Ihrem Antrag eine solche Möglichkeit überhaupt nicht mehr in Betracht gezogen wird. ({12}) Zweiter Punkt: eine bessere und gezielte Förderung. Es ist mittlerweile fast zynisch, dass Sie immer wieder schreiben, an dem Ziel festzuhalten, dass kein junger Mensch länger als drei Monate arbeitslos sein darf. Sie kennen die Zahlen doch genauso gut wie ich. Eine halbe Million Jugendlicher steht ohne Arbeit auf der Straße. Aus unserer Sicht ist das Jobstarter-Programm keine Lösung. Nicht die Vernetzung von regionalen Partnern ist die entscheidende Aufgabe, vielmehr müssen erst einmal Förderangebote selbst finanziert und erhalten werden. Dritter Punkt: Geschlechtergerechtigkeit. Im vorliegenden Berufsbildungsbericht wird mehrmals auf die bestehende geschlechtsspezifische Diskriminierung eingegangen. Im Antrag tauchen diese Fragen überhaupt nicht mehr auf. Frau Ministerin Schavan, auch von Ihnen habe ich dazu nichts gehört. Dynamik für Ausbildung muss aber auch mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Ausbildung bedeuten. ({13}) Vierter und letzter Punkt: Europäisierung der Berufsbildung. Auch dazu steht nur sehr wenig im Antrag. Frau Ministerin, Sie sind darauf eingegangen. Das finden wir richtig; denn es ist sinnvoll, diese Debatte nicht an uns vorbeilaufen zu lassen. Dieser Prozess ist gestaltbar und sollte daher diskutiert und gestaltet werden. Ein großes Problem ist - ich beziehe mich dabei auf unsere Erfahrungen im Hochschulbereich -, dass in diesem Zusammenhang verstärkt die Modularisierung und die vor allem von der FDP befürwortete Stufenausbildung ins Gespräch gebracht werden. Wenn Stufenausbildung faktisch weniger Ausbildung bedeutet, dann ist das definitiv der falsche Weg. ({14}) Dynamik für Ausbildung muss für uns Dynamik im Interesse der Jugendlichen und Dynamik für die immer größer werdende Zahl benachteiligter Jugendlicher sein. In diesem Sinne freuen wir uns auf die Ausschussberatungen. ({15})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Priska Hinz, Bündnis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Kressl hat zu Beginn ihrer Rede gesagt, dass wir über die Zukunftschancen der Jugend in unserem Land sprechen. Gerade deshalb waren wir auf Ihren ersten Antrag zur beruflichen Bildung sehr gespannt. Er ist nämlich der Eckpfeiler dessen, was in den nächsten Jahren zur Schaffung von Ausbildungsplätzen für Jugendliche passieren soll. Normalerweise sagt man: Was lange währt, wird endlich gut. In diesem Fall sind Sie diesem Sprichwort nicht gerecht geworden. Der Antrag ist genauso enttäuschend wie das Treffen des Lenkungsausschusses zum Ausbildungspakt, das Ende Januar stattgefunden hat. Schauen wir uns den Antrag einmal an. Sie begrüßen darin, dass die Bundesregierung den Pakt weiterführt. Dabei sprechen Sie noch nicht einmal davon, dass er weiterentwickelt werden soll. ({0}) Nein, er soll mit allen Mängeln, über die hier schon diskutiert wurde, weitergeführt werden. Sie begrüßen das Jobstarter-Programm. Das ist im Moment das einzig neue Programm und wurde unter Rot-Grün entwickelt. ({1}) Von den Schwarzen ist bislang gar keine Initiative in diese Richtung ausgegangen. ({2}) Sie begrüßen auch - man höre und staune - die Ankündigung der Bundesregierung, eine Initiative in Angriff zu nehmen; das ist die Wortwahl in Ihrem Antrag. Sie heißt dann auch noch „Initiative zur strukturellen Fortentwicklung der beruflichen Bildung an den Nahtstellen der Bildung und zwischen Bildung und Beschäftigung unter Einbeziehung aller für die berufliche Bildung Verantwortlichen“. Jetzt kann sich jeder vorstellen, wo wie viele Ausbildungsstellen in diesem Land geschaffen werden! So sieht Ihre Berufsbildungspolitik aus. ({3}) Beschämend war auch die Rede der Bundesbildungsministerin, und zwar nicht nur, weil sie hier keine neue Initiative vorgestellt hat, ({4}) sondern auch, weil sie nicht einmal wusste, über wie viele unvermittelte Jugendliche wir hier eigentlich sprechen. ({5}) Es ist beschämend, dass Sie gesagt haben, dass Sie erst im Jahr 2007 mit neuen Programmen beginnen wollen. Das ist ein Jahr zu spät. Im Sommer werden wieder Ausbildungsplätze gebraucht. Sie müssten jetzt mit Initiativen beginnen, damit wir im Sommer mehr Ausbildungsplätze haben. ({6}) Viele Gründe für die Probleme, die Sie jetzt erst ermitteln wollen, zum Beispiel warum Betriebe nicht ausbilden, liegen doch bereits auf dem Tisch. Da Sie bislang keine Initiativen in Angriff genommen haben, verwundert es auch gar nicht, dass die Vereinbarung zum Pakt im Vergleich zum Vorabdruck verändert wurde. Im Vorabdruck vom 30. Januar war noch die Rede davon, dass als letztes das Kapitel „Weiterentwicklung und Zukunft des Paktes“ eingefügt werden soll. In der endgültigen Veröffentlichung ist dies verschwunden. Es gibt keine Weiterentwicklung des Paktes. Das heißt, Sie haben keine Idee, Frau Ministerin, welche Initiativen in diesem Jahr gestartet werden sollen, damit den Jugendlichen ihre Zukunftschancen nicht mehr genommen werden und ihre Lebenszeit nicht weiter verschwendet wird. Das ist ein Armutszeugnis. ({7}) Dabei könnte die Bundesregierung viel machen. Sie könnte europarechtskompatible gesetzliche Grundlagen schaffen, die vorsehen, dass Ausbildungsbetriebe bei der Vergabe öffentlicher Aufträge bevorzugt werden können. Sie könnten Programme weiterentwickeln, die von Migranten geführte Betriebe unterstützen, zum Beispiel indem sie die Ausbildereignung bekommen und Ausbildungsplätze anbieten können. Das würde gerade für Migrantenkinder die Schwelle senken, Ausbildungsstellen zu bekommen. Priska Hinz ({8}) ({9}) Dann könnte man auch die Herkunftssprache als besondere Kompetenz einbringen. Sie könnten auf die Bundesagentur für Arbeit Einfluss nehmen zugunsten einer besseren Berufsorientierung und Berufsberatung und zum Beispiel bewirken, dass kein Verschiebebahnhof mehr zwischen Arbeitsgemeinschaften, Jugendhilfe und Kommunen bei der Berufsberatung stattfindet. Sie könnten darauf Einfluss nehmen, dass Elemente des modernisierten Berufsbildungsgesetzes, zum Beispiel die gestufte Ausbildung und die Anerkennung der Abschlüsse vollschulischer Ausbildungsgänge, endlich besser umgesetzt werden. ({10}) Auch könnten Sie den Ausbildungspakt gemeinsam mit den Ländern weiterentwickeln, um die Schulabbrecherquote zu senken. Der Präsident des DIHK beabsichtigt, außerhalb des Paktes ein eigenes Programm zur Förderung der Schüler, zur Verbesserung ihrer Ausbildungsreife auf den Weg zu bringen. Diese Initiative hat er vor dem Treffen des Lenkungsausschusses angekündigt. Da frage ich mich doch: Warum haben Sie diese Idee nicht aufgegriffen, Frau Schavan, und gemeinsam mit den Ländern und den anderen Partnern des Ausbildungspaktes entsprechende Vereinbarungen getroffen? Warum versagen Sie hier auf der ganzen Linie? ({11}) Man kann zusätzliche Initiativen ergreifen - Initiativen von Betrieben für Betriebe, die ausbilden - und die Ausbildungsverbünde und die überbetrieblichen Ausbildungsstätten stärken. ({12}) Meine Damen und Herren, interessant ist, was nicht in Ihrem Antrag steht, wohl aber in Ihrem Koalitionsvertrag. Ich nenne als Stichworte die branchenbezogene Umlagefinanzierung und die zweite Chance, welche von der Ministerin immer so betont wird. Diejenigen, die keinen Schulabschluss haben, sollen eine zweite Chance bekommen und entweder ihren Schulabschluss nachholen oder eine Ausbildung machen können. ({13}) - Das steht aber nicht in dem Teil Ihres Antrags, in dem Sie die Bundesregierung auffordern, aktiv zu werden. ({14}) Obwohl die Bundesregierung in diesem Bereich etwas tun könnte, fordern Sie das von Ihrer eigenen Ministerin nicht ein. Das ist ein Armutszeugnis. ({15}) Meine Damen und Herren, Appelle, wie sie in Ihrem Antrag zu finden sind, reichen nicht mehr aus. Nun ist entschlossenes Handeln gefragt. Wir und auch die Jugendlichen erwarten deutliche Verbesserungen, und zwar bereits zu Beginn des kommenden Ausbildungsjahres. Wir werden genau überprüfen, welche Initiativen Sie einleiten und wie viele Ausbildungsplätze zusätzlich zur Verfügung gestellt werden. Dann werden wir über neue Instrumente wie eine branchenspezifische Umlagefinanzierung und die dafür notwendigen rechtlichen Grundlagen nachdenken. Danke schön. ({16})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Uwe Schummer, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Frau Kollegin Hinz, jemanden, der sich schlafend stellt, kann man natürlich nicht aufwecken, und demjenigen, der den Inhalt eines Antrags nur selektiv wahrnimmt, kann man kein umfassendes Verständnis davon vermitteln. Daher rate ich Ihnen: Lesen Sie genauer! Dann können wir fundierter diskutieren. ({0}) Der Berufsbildungsbericht 2005 macht eines klar: Wer mehr Ausbildungsplätze will, der muss viele Hebel in Bewegung setzen. Die Probleme auf dem Ausbildungsmarkt haben die verschiedensten Ursachen. So gibt es unterschiedliche Akteure, die zusammengeführt werden müssen. Wir müssen also die beteiligten Akteure im Rahmen eines Ausbildungspaktes zusammenführen, die verschiedenen Instrumente abwägen und sie dann auch umsetzen. Aber man darf nicht, wie es teilweise von den Rednern der Linkspartei getan wird, auf nur ein Instrument setzen und alle anderen weitgehend ausblenden. ({1}) Auch aufgrund des Ausbildungspaktes wurden in den letzten beiden Jahren 123 300 neue Ausbildungsplätze geschaffen. ({2}) 83 000 Betriebe bilden nun erstmals aus. Die Vereinbarung, die im Rahmen des Ausbildungspaktes getroffen wurde, ist also eingehalten worden. Wer damit nicht zufrieden ist, muss sagen, dass wir andere Vereinbarungen brauchen. ({3}) Das wäre dann die Konsequenz. ({4}) Aber das, was wir durch den Ausbildungspakt leisten wollten, haben wir erreicht. ({5}) Es ist richtig: Legt man die Zahlen vom Dezember letzten Jahres zugrunde, stieg die Ausbildungsplatzlücke im Jahresvergleich von 9 500 auf 11 500 Stellen. Daran wird deutlich, dass der Ausbildungspakt eine neue Dynamik braucht. Allerdings muss man, wenn man diese Feststellung trifft, berücksichtigen, vor welchem Hintergrund diese Entwicklung stattgefunden hat: In den Jahren 2004 und 2005 wurden aufgrund der wirtschaftlichen Situation in Deutschland 776 420 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze abgebaut. 77 200 Betriebe gingen in Insolvenz. Außerdem gab es im letzten Jahr bei den Schulabgängern ein Plus von 9 000. - Vor diesem Hintergrund zeigt sich die wahre Leistung des Ausbildungspaktes. ({6}) Dies wird aber nicht ausreichen. Der Pakt muss ergänzt werden. Deshalb haben wir in der letzten Wahlperiode einstimmig die Berufsbildungsreform verabschiedet. ({7}) - Die FDP hat sich der Stimme enthalten. Sie hat nicht mit Nein gestimmt. Das heißt für uns: einstimmig. Es ist eine alte Erkenntnis des früheren Mainzer Arbeiterbischofs von Ketteler, dass jeder Zuständereform eine Gesinnungsreform vorauseilen muss. ({8}) Von daher ist es richtig, dass der Ausbildungspakt durch eine Strukturkommission ergänzt wird. Auf der einen Seite muss das Denken appellativ verändert werden, auf der anderen Seite müssen aber auch die Strukturen in der Berufsbildung verändert werden. Der Ausbildungspakt leistet Ersteres, die Strukturkommission hat Letzteres zu leisten. Gut ist, dass sowohl die Länder als auch die Gewerkschaften beteiligt sind. Zur Gesinnungsreform gehört der Appell an die Wirtschaft: Erwartet keine olympiareifen Bewerber! Nehmt die Menschen, die auf dem Ausbildungsmarkt sind! Schaut auf ihr Entwicklungspotenzial und darauf, wie ihr sie in den Betrieben entsprechend fördern könnt! Die Wirtschaft sollte in dem Maße, wie sie in Maschinen investiert, auch in Menschen investieren. ({9}) Wenn bei einer IHK-Befragung 71 Prozent der Unternehmer antworten, sie hätten Ausbildungsplätze nicht besetzt, weil keine geeigneten Bewerber vorhanden seien, dann ist dies keine gute Antwort. Aber auch an die Jugendlichen muss appelliert werden: Wartet nicht, bis sich der Wunschberuf oder der Wunschbetrieb findet! Kümmert euch rechtzeitig und flexibel um einen Ausbildungsplatz! Ein mäßiger betrieblicher Ausbildungsplatz ist besser als jede Ersatzmaßnahme. ({10}) Bei den türkischstämmigen Deutschen bleibt jeder zweite ohne eine berufliche Ausbildung. Von denen, die in Ausbildung sind, verteilen sich 44 Prozent auf zehn Berufe - es gibt aber 360 Berufsbilder. Laut Berufsbildungsbericht brechen 25 Prozent der Jugendlichen ihre Ausbildung ab.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Keskin von der Fraktion Die Linke?

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn es eine gute ist, ja. ({0})

Dr. Hakki Keskin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003785, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, wie wir gerade gehört haben, sind es Zehntausende Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Eigentlich wollte man mit dem Ausbildungspakt allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz verschaffen. Das ist nicht geschehen. Nun frage ich Sie: Ist es gerecht, dass manche Betriebe Jugendliche ausbilden, wovon alle Betriebe profitieren, und manche dies nicht tun? Wäre es nicht erforderlich, mit einem Gesetz alle Betriebe zu verpflichten, ihren Beitrag zur Ausbildung zu leisten?

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es gibt beispielsweise im Bauhauptbereich bereits seit mehr als 30 Jahren eine tarifliche Umlagefinanzierung der Ausbildungskosten. Wir müssen aber feststellen, dass die Zahl der Ausbildungsplätze in diesem Bereich von etwa 100 000 in 1998 auf jetzt 39 000 massiv eingebrochen ist. Eine zentralistische Abgabe wäre also ebenso wie eine tariflich vereinbarte Abgabe keine Lösung. Wir müssen ein Bündel an Maßnahmen entwickeln. Die Antwort, die Frau Schavan bzw. die große Koalition gibt, ist: Wir brauchen eine neue Dynamik des Ausbildungspaktes, und zwar durch verschiedene Instrumente, die Strukturkommission genauso wie den Ausbildungspakt. ({0}) Zwei Drittel der Jugendlichen, die ihre Ausbildung nach einem oder eineinhalb Jahren abgebrochen haben, sagen, dass es der falsche Beruf oder der falsche Betrieb war. Dies zeigt, dass wir bereits in der Schule die Berufsorientierung und die Berufsberatung verbessern müssen. 42 Prozent der Betriebe sind nicht ausbildungsberechtigt: weil sie nicht die Breite eines Berufsbildes vermitteln, weil sie zu klein oder zu spezialisiert sind. Von den ausbildungsberechtigten Unternehmen bilden 40 Prozent aus. Diese Zahl zu erhöhen, ist die gemeinsame Aufgabe der Strukturkommission. ({1}) Hierfür gibt es zwei Ansätze: qualifizierte Ausbildungsverbünde und Stufenausbildungen. Beide Instrumente wurden durch die Berufsbildungsreform aufgewertet. Mit dem Jobstarter-Programm wird die Förderung von Verbundsystemen weiter forciert. Durch Ausbildungsverbünde hat sich die Zahl der ausbildungsfähigen Betriebe um 3 Prozent erhöht. 1,2 Millionen Schulabgänger bis 29 Jahre sind - das müssen wir zur Kenntnis nehmen - ohne berufliche Qualifizierung. Immer mehr Berufsbilder werden immer stärker theoretisch ausgerichtet. Ich möchte aus einem Schreiben des Verbandes für Gartenbau in NRW vorlesen, wie der Beruf Gärtner dargestellt wird - ich zitiere -: Gärtner ist einer der schwierigsten Ausbildungsberufe. Bewerber müssen über qualifizierte Kenntnisse in den Bereichen Mathematik, Physik, Chemie, Biologie und auch Latein verfügen. Sie sollten also - das füge ich an - möglichst jede Pflanze mit ihrem lateinischen Namen kennen. Wenn wir Berufsbilder aus guten Gründen immer weiter aufwerten und theoretisch ausrichten, dann müssen wir aber auch überlegen, wie wir die praktisch Begabten durch Zwischenzertifizierungen ins Boot hineinholen, ({2}) wie wir für sie Bildungsstufen organisieren, die dauerhaft zu einer Bildungstreppe werden. ({3}) Ich glaube, dass die vorliegenden Anträge, mit einer Ausnahme, dazu geeignet sind, dass wir im Deutschen Bundestag in der Tradition der Berufsbildung auch überparteilich einen gemeinsamen Weg finden können. Bitte betrachten Sie unseren Antrag als ein Gesprächsangebot. Wir brauchen keine Rituale, sondern neues Denken, Gesinnungs- und Zuständereform. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist, wenn man sich an die zurückliegenden Debatten zur beruflichen Bildung und zur Ausbildungsplatzversorgung erinnert, in denen es immer eine Phalanx des Protestes gab, schon ein Erlebnis der besonderen Art, miterleben zu können, dass diese Phalanx nun aufgebrochen ist. ({0}) Es gibt jetzt ein Zentrum von Vernunft, und zwar nicht nur bei CDU/CSU und SPD, sondern auch bei den Grünen; die schließe ich ausdrücklich mit ein. ({1}) Liebe Frau Hinz, Sie haben eben an dem, was Frau Schavan zu dem Antrag gesagt hat, vieles kritisiert. Aber ganz nüchtern: Wenn SPD und Grüne weiter regiert hätten, dann wäre in ihren Positionen vieles von dem enthalten, was nun zwischen SPD und CDU/CSU vereinbart worden ist. ({2}) Vieles von dem, was Sie in Ihrem Antrag eingebracht haben, ist deckungsgleich mit dem, was zwischen SPD und CDU/CSU vereinbart worden ist. Aber ist das so schlimm? Ist es nicht eher gut, dass wir eine Kontinuität im Grundverständnis haben, eine Kontinuität darin, dass wir wissen, dass die Fixierung auf eine Schlüsselmaßnahme im komplexen Bereich der Berufsbildung nicht ausreicht? Wenn die CDU/CSU früher gesagt hat, alle Probleme seien bei einem höheren Wirtschaftswachstum gelöst, haben wir immer die Position vertreten, dass das nicht so einfach ist. Während andere an eine Ausbildungsplatzumlage gedacht haben, waren wir diejenigen, die gesagt haben, dass das alleine auch nicht ausreicht. Es ist also gut, dass es ein neues Zentrum gibt. Dieses neue Zentrum hat sich dokumentiert, als wir das Berufsbildungsgesetz verabschiedet haben, bei dem es zwischen SPD, CDU/CSU und Grünen eine breite Übereinstimmung gab. Darauf können wir aufbauen. Trotzdem darf nichts unter den Tisch fallen. Wir von den Sozialdemokraten müssen klar machen und vielleicht auch nachfragen, welches die vereinbarten Leitplanken bei unserem Berufsbildungsverständnis waren. Denn das Leitbild einer Berufsausbildung bleibt immer noch das Berufsbild. ({3}) Das ist nicht durch Modularisierung oder durch das Bausteinprinzip aufzulösen. Damals haben wir verabredet, dass die Stufung von Ausbildung zur Strukturierung, nicht zur Dequalifizierung führen muss. ({4}) Die Stufung von Ausbildung soll nicht die Hintertür sein, um zu erreichen, dass die dreijährige Ausbildung die Ausnahme und zweijährige Ausbildung die Regel wird, an die man dann vielleicht ein Jahr anschließen kann. Alles das ist von uns damals im Berufsbildungsgesetz, das wir gemeinsam verabschiedet haben, klargestellt worden. Wir gehen davon aus, dass das auch jetzt gilt und dass wir auf dieser Basis zumindest während dieser Legislaturperiode arbeiten können. Es ist auch wichtig, was Ministerin Schavan angesprochen hat, dass wir erkennen, dass wir Bildung über den gesamten Lebensweg brauchen. Diese beginnt bei der vorschulischen Bildung, geht über die Bildung in der Schule und in der Berufsvorbereitung bis zur Bildung beim Einstieg in den Beruf und bei der beruflichen Weiterbildung. Wenn wir an der Stelle in Modulen, in Bausteinen denken, dann kann das mit dem Berufsprinzip zusammenpassen, aber nur dann. ({5}) Das war noch einmal die Klarstellung unseres Verständnisses, das in der letzten Legislaturperiode mit breitester Mehrheit gesetzlich verankert wurde. Wir haben allerdings nicht nur eine Kontinuität beim Verständnis, sondern leider auch eine bei den Problemen und dementsprechend beim komplexen Zugang zu diesen Problemen. Auch dazu muss man ehrlich Stellung nehmen. Der Pakt ist eine gute Sache, aber er reicht nicht aus und muss weiterentwickelt werden. Da ich gerade auf die Kontinuität der Probleme zu sprechen gekommen bin, möchte ich ein bestimmtes Problem noch einmal herausarbeiten. Ich will Frau Hirsch und den Vertretern der Linkspartei ausdrücklich Recht geben, ({6}) dass die Lücke bei der Versorgung mit Ausbildungsplätzen mehr als die genannten circa 11 500 beträgt. Es handelt sich natürlich bei dieser Zahl nicht um die der fehlenden vollwertigen beruflichen Ausbildungsverhältnisse, sondern bei dieser Zahl sind die Personen mitberücksichtigt worden, die sich in der Berufsvorbereitung, in EQJ-Praktika und in vielen anderen Maßnahmen bis hin zu Maßnahmen zur Unterstützung von Beschäftigung befinden. Die Lücke bei der Zahl von Ausbildungsverhältnissen beträgt 100 000. An dieser Stelle dürfen wir also nichts schönreden, sondern müssen die Dinge beim Namen nennen. ({7}) Ich darf zur Linkspartei allerdings auch sagen: Wir bitten sie herzlich, die breit gefächerten Unterstützungsmaßnahmen, die entwickelt werden - damals von der SPD-Grünen-Regierung, jetzt auch von der neuen Regierung -, nicht zu disqualifizieren. Es geht um 100 Millionen Euro für Jobstarter. Das sind keine Luftblasen, Frau Kollegin. ({8}) Wenn Sie das hier im Bundestag nicht überzeugt, dann gehen Sie dahin, wo Sie als Linkspartei, als PDS, Regierungsverantwortung tragen, ({9}) nämlich nach Mecklenburg-Vorpommern und nach Berlin. Dort werden Sie keine diffamierenden Äußerungen in Bezug auf die 100 Millionen Euro für das Jobstarterprogramm hören. ({10}) Ihre Kräfte in der Regierungsverantwortung werden sich dort genauso konstruktiv und engagiert einbringen wie wir hier. Lassen Sie uns mit dieser Scharadenspielerei hier aufhören. Wir wissen doch, wie wir uns an den verschiedensten Stellen wechselseitig positiv auf Dinge beziehen können. ({11}) Das führt zu den wirklichen Problemen. Es bleibt ein wirkliches Problem, dass es zu wenige Betriebe gibt, die ausbilden, und dass die Zahl der ausbildungsbereiten Betriebe leider sinkt. Ich will das knapp so beleuchten: Erster Hinweis. Wir haben 2 Millionen ausbildungsfähige Betriebe, von denen 50 Prozent nicht ausbilden. 400 000 von denen, die nicht ausbilden, haben unter zehn Beschäftigte, 100 000 von denen haben über zehn Beschäftigte. Das muss man sich einmal vorstellen: 100 000 Betriebe in Deutschland, die über zehn Beschäftigte haben und ausbildungsfähig sind, bilden nicht aus. Frau Schavan, ich darf Ihnen sagen, wie unser Blickwinkel ist: Wir von der SPD wünschen uns ausdrücklich, dass Sie beim Pakt für Ausbildung den Fokus auch auf diese Betriebe richten, weil es schon sehr starker Argumente der Betriebe mit zehn und mehr Beschäftigten dafür bedarf, dass sie sich der Ausbildung verweigern. Das geht wirklich nicht. ({12}) Man könnte viel bewegen, wenn man an dieser Stelle eine gezielte Initiative durchführen würde. Unter Einschluss des Jobstarterprogramms, der Industrie- und Handelskammern, der Gewerkschaften und der Betriebsräte könnte man hier mehr bewegen, als wenn man sich auf die 400 000 Betriebe konzentriert, die leider nur ganz wenige Beschäftigte haben. ({13}) Zweiter Hinweis. Die nicht so gut auf eine Ausbildung Vorbereiteten bleiben ein kontinuierliches Problem. Damit meinen wir nicht ausschließlich Jugendliche mit Migrationshintergrund, aber sie sind mit gemeint. Hier muss eine stärkere Verknüpfung erfolgen, indem man sich um die entsprechenden Betriebe kümmert. Sie haben konstruktiv angekündigt, dass Sie bis 2010 10 000 zusätzliche Betriebe aus dem wachsenden Bereich der von Migrantinnen bzw. Migranten geführten Betriebe gewinnen wollen. Das unterstützen wir voll und ganz und ausdrücklich. Wir finden, dass das eine gute parteiübergreifend gestützte Initiative sein kann. ({14}) Das ist das eine und das andere gehört natürlich dazu: Diese Jugendlichen müssen natürlich auch eine Einstiegsqualifizierung und Berufsvorbereitung erhalten. Sie müssen an die betriebliche Wirklichkeit herangeführt werden. Wir haben Sie im Ausschuss so verstanden, dass Sie das nicht betriebsfern durchführen, sondern in den Betrieb hineinbringen wollen. Das unterstützen wir ausdrücklich. Das kann ein wegweisender zusätzlicher Punkt sein. ({15}) Ich will ausdrücklich auch ein sich neu stellendes Problem ansprechen: 2004 und 2005 mussten wir leider feststellen, dass junge Frauen die Verliererinnen bei den zusätzlichen Ausbildungsanstrengungen sind. ({16}) Es gab ja 30 000 bis 40 000 zusätzliche Plätze. Diese werden zu über 75 Prozent von jungen Männern eingenommen, was sich auch schon darin ausdrückt, dass sich weniger junge Frauen als Männer im dualen Ausbildungssystem befinden, obwohl es von der Bevölkerungsrelation her gerade andersherum ist. Das können wir nicht hinnehmen. ({17}) Das ist eine Diskriminierung in Bezug auf weitere Berufschancen, die gerade vor dem Hintergrund, dass die duale Berufsausbildung als sehr wichtig angesehen wird, aufgearbeitet werden muss. Wir erleben gerade, dass der ganze tertiäre Betriebs- und Arbeitsbereich eine zunehmende Zahl an Arbeitsplätzen bietet, aber die Zahl der Ausbildungsplätze nicht in gleichem Maße zunimmt. Schon an dieser Stelle zeigt sich, dass die Gleichung, mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze bedeuten zugleich mehr Ausbildungsplätze, so nicht stimmt. Ansonsten müssten wir im tertiären Bereich einen dramatischen Zuwachs an Ausbildungsplätzen haben. Den haben wir aber nicht. ({18}) Was Ministerin Schavan im Bereich Logistik, Tourismus, Luftfahrt, Nachrichtenübermittlung, Unternehmensdienstleistungen und Sozialberufe angedeutet hat, nämlich sich mehr um die Ausbildungsordnungen und die Entwicklung von Ausbildungsberufen zu kümmern, wird für eine wachsende Zahl von Ausbildungsplätzen wichtig sein. Dies bietet auch speziell jungen Frauen zusätzliche Chancen im tertiären Bereich und kann vielleicht dann das ausgleichen, was an anderer Stelle fehlt. Frau Hinz, Sie sprachen an, dass der Bericht nicht viel Neues bietet. So viel Neues konnte auch bei den guten Vorgaben, die wir mit Ministerin Bulmahn geschaffen haben, nicht über Nacht hinzukommen. Das werden Sie uns doch sicherlich zugestehen wollen. Um einen Punkt haben wir - dies ist jetzt von der Ministerin ausdrücklich als Perspektive herausgestellt worden - immer gerungen, nämlich das Programm der zweiten Chance. Das Thema zweite Chance sollte auch der Linkspartei wichtig sein. Sich auf die über 1 Million jungen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne Berufsausbildung oder ohne schulischen Abschluss zu konzentrieren, ist jede Anstrengung wert.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Rossmann, bitte kommen Sie zum Schluss.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dies ist es auch wert, dass wir in der großen Koalition mit Ihnen und anderen zusammen mit unserer Ministerin hier zusätzlich Akzente setzen. Das sehen wir gewährleistet. Deshalb freuen wir uns darauf, dass wir eine gute Berufsbildungspolitik mit all unseren Anstrengungen weiterführen können. Danke fürs Zuhören. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Alexander Dobrindt von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als wir uns in diesem Haus vor zwei Monaten zum letzten Mal über berufliche Bildung unterhalten haben, lag als Vorlage für die Debatte ein rückwärts gewandter Antrag der PDS mit der Forderung nach einer Ausbildungsplatzabgabe vor. ({0}) Wir alle können froh sein, dass wir heute eine positive Debatte führen und uns ein zukunftsorientierter Antrag der CDU/CSU und der SPD vorliegt. Das ist eine gute Perspektive für die jungen Menschen, die einen positiven Blick in die Zukunft werfen wollen. ({1}) - Aber darum geht es. Das ist das Entscheidende. Junge Menschen brauchen in Freiheit und Selbstbestimmung Perspektiven. Natürlich besteht ein wesentlicher Teil darin, einen Beruf zu erlernen und eine Aufgabe zu haben. Dafür müssen wir in der Politik die Rahmenbedingungen schaffen. Selbstverständlich werden wir in dieser Debatte auch die Unternehmen, die mitverantwortlich sind und ihre gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrnehmen wollen, daran erinnern. Aber all dies geschieht - das ist der Hauptpunkt - auf Basis einer freiwilligen Verpflichtung und nicht, wie es gerne immer wieder gefordert wird, auf Basis einer Zwangsabgabe. Für uns ist eine freiwillige Verpflichtung in Form des Ausbildungspaktes das Richtige. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Dobrindt, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hirsch?

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Hirsch, bitte schön.

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, können Sie mir noch einmal konkret erläutern, worin aus Ihrer Sicht die Rückwärtsgewandtheit in der Forderung nach einer Ausbildungsplatzumlage besteht? ({0})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin, wissen Sie, in unserer Debattenkultur haben wir uns in diesem Haus Gott sei Dank seit langer Zeit Gedanken darüber gemacht, wie wir junge Menschen in Arbeit bringen können, wie wir Ausbildungsplätze schaffen und wie wir damit umgehen können, dass die Situation vor Ort für viele Menschen in ihrem ganz persönlichen Bereich unglaublich schwierig ist. Wir haben uns lange Zeit überlegt, was hier der richtige Weg ist. Gemeinsam mit allen Fraktionen hier im Deutschen Bundestag, mit der deutschen Wirtschaft, mit den Unternehmen und den Verbänden haben wir eine Möglichkeit gefunden, junge Menschen in Arbeit zu bringen. Was wir aber bei dieser freiwilligen Aufgabe, die wir gemeinsam schultern wollen, nicht brauchen, ist, dass jemand die Unternehmen mit staatlichen Vorgaben zwangsverpflichten will, etwas zu tun, was sie freiwillig wesentlich leichter machen können. ({0}) Unsere Ansicht von der Welt und von der Situation in diesem Lande ist, dass Freiheit und Selbstbestimmung wichtiger sind als Zwangsvorgaben und all das, was Sie sich so ausdenken. ({1}) In der deutschen Wirtschaft haben in einem erheblichen Maße die Kleinbetriebe und der Mittelstand diese Aufgabe wahrgenommen. Sie haben diese Kraftanstrengung freiwillig auf sich genommen und von September bis Januar die Lehrstellenlücke um 25 700 Ausbildungsplätze verringern können. Das ist eine riesige Zahl. Diese enorme Aufgabe wurde vor allem von den kleinen und mittelständischen Betrieben geschultert. Denn 50 Prozent der Ausbildungsplätze entstehen in Unternehmen, die unter 50 Mitarbeiter haben. Ich glaube, dass das eine besonders gute Nachricht ist. ({2}) In der Nachvermittlungsphase konnte 93 Prozent der Jugendlichen - auch diese Zahl sollte in diesem Zusammenhang genannt werden - ein Ausbildungsangebot gemacht werden. Ich halte das für eine großartige Leistung und glaube, dass wir uns an dieser Stelle bei den Unternehmen, die sich für diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe engagieren, nachdrücklich bedanken sollten. ({3}) Ich will einen Punkt hervorheben, der in unseren Debatten nicht sehr häufig diskutiert wird, nämlich die Ausbildungssituation behinderter und schwerbehinderter Frauen und Männer. Auch in dieser Hinsicht wirkt sich der Ausbildungspakt enorm positiv aus. 97,4 Prozent der behinderten Jugendlichen haben dadurch einen Ausbildungsplatz erhalten. In diesem Bereich konnte eine enorme Verbesserung erreicht werden. Dieser Erfolg kann sich sehen lassen. ({4}) Selbstverständlich befürworten wir weitere Anstrengungen. Die Ausbildungssituation kann noch verbessert werden. Dabei müssen aber die Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Dazu gehören erstens ein modernes Berufsbildungsgesetz und zweitens eine Mittelstandsoffensive, die Signale für den Aufschwung setzt. Die erste Rahmenbedingung, das Berufsbildungsgesetz, haben wir im vergangenen Jahr gemeinsam geschaffen. Das Gesetz beginnt, seine Wirkung zu entfalten. Wir haben die Verbundausbildung geschaffen. Angesichts der hohen Spezialisierung können immer weniger Betriebe in der Ausbildung ein komplettes Berufsbild abdecken. Durch den Zusammenschluss mehrerer Betriebe können Ausbildungseinrichtungen geschaffen werden, die die Bildungsinhalte arbeitsteilig vermitteln können. Wir haben des Weiteren die Stufenausbildung beschlossen. Sie braucht zwar Zeit - das steht außer Frage -, aber sie ermöglicht gerade den theorieschwächeren Jugendlichen eine attraktive Ausbildung und bietet ihnen einen Arbeitsplatz, damit sie sich nicht beim Arbeitsamt wiederfinden, wie es vielleicht bei der vollzeitschulischen Ausbildung der Fall wäre. Die Stufenausbildung bietet ihnen die riesige Chance auf einen richtigen Arbeitsplatz. ({5}) Ich glaube, wir haben mit dem Berufsbildungsgesetz etwas sehr Wichtiges geleistet. Wir haben nämlich in den Entschließungsantrag zu dem Gesetzentwurf zum ersten Mal betriebliche Bündnisse für Ausbildung aufgenommen. Wir fordern auch, dass diese Chance genutzt wird, damit in Zukunft flexiblere Regelungen hinsichtAlexander Dobrindt lich der Arbeitszeit und der Vergütung möglich sind. Ich glaube, dass das durchaus vor Ort in den Betrieben geregelt werden kann. Auch darin liegt eine Chance für mehr Ausbildung. Lieber Kollege Meinhardt, ich habe Ihnen sehr genau zugehört, als Sie von der Initiative „Aus 2 mach 3!“ gesprochen haben. Ich glaube, dass dies nicht von uns geregelt werden muss. Aber die Arbeitnehmer vor Ort wären durchaus in der Lage dazu. Sie können dabei mit unserer Hilfe rechnen. Ich bin der Überzeugung, dass Solidarität unter den Auszubildenden in der heutigen Zeit durchaus eingefordert werden kann. ({6}) - Gegen Solidarität unter Auszubildenden ist zunächst einmal nichts zu sagen, Herr Kollege Tauss. ({7}) Wenn drei statt zwei Auszubildende eine Chance in einem Unternehmen bekommen, dann ist das eine gute Nachricht. ({8}) Wenn wir die Möglichkeit schaffen, dass diese Chance vor Ort geboten wird, dann gibt es keinen Anlass, das zu kritisieren. ({9}) Als weitere wichtige Weichenstellung sind die erforderlichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Das müssen wir mittelfristig auf den Weg bringen. Im Koalitionsvertrag ist eine ganze Reihe von entsprechenden Punkten zu diesem Thema enthalten. Vorgesehen sind beispielsweise bessere Finanzierungsmöglichkeiten, Abbau von Bürokratie und Förderung von Forschung und Technologie. Diesen Maßnahmenmix müssen wir gemeinsam auf den Weg bringen. Damit verbessern wir die Chancen für mehr Ausbildungsmöglichkeiten. Der Ausbildungspakt greift. Wir wollen gemeinsam dazu beitragen, ihn weiter zu optimieren. Danke schön. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/5285 und 16/543 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 17 sowie den Zusatzpunkt 9 auf: 17 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Elternbeitragsfreie Kinderbetreuung ausbauen - Drucksache 16/453 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin Deligöz, Volker Beck ({1}), Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Leben und Arbeiten mit Kindern möglich machen - Drucksache 16/552 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Dr. Barbara Höll von der Fraktion Die Linke. ({3})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nun hat es auch die Regierung begriffen. Nachdem Frau von der Leyen in Genshagen mit ihrem Vorschlag zur steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten gescheitert ist, musste sie Farbe bekennen. Sie hat den Finger durchaus auf die Wunde gelegt. Wir brauchen eine beitragsfreie Kinderbetreuung. Aber wir brauchen zuerst ein Angebot, das es ermöglicht, dass alle Eltern, die es wollen, ihre Kinder betreuen lassen können. Dem ist bisher nicht so. ({0}) Schauen wir uns die Realität an. Erstens. Nur 85 von 1 000 Kindern unter drei Jahren haben in der Bundesrepublik die Möglichkeit, eine Betreuung in Anspruch zu nehmen. Im Westen sind es 27 von 1 000, während es in den neuen Bundesländern immerhin 370 sind. Dies ist fatal für die Berufstätigkeit insbesondere von Frauen; das ist allen klar. Aber ich finde, das Problem wird verkürzt dargestellt, wenn darüber nur noch unter diesem Aspekt diskutiert wird; denn es geht auch um die Rechte von Kindern: frühkindliche Bildung, Spracherwerb und die erzieherische Vermittlung sozialer Kompetenzen. Das alles fiel in den Diskussionen in den letzten Wochen völlig unter den Tisch. ({1}) Zweitens. Das verbriefte Recht auf einen Kindergartenplatz hat durchaus zu einer Verbesserung des Angebotes geführt. Neun von zehn Kindern im Alter von drei bis sechseinhalb Jahren besuchen einen Kindergarten oder eine ähnliche Einrichtung. Das ist erst einmal gut. Da wir das im Bund beschlossen haben, aber nicht gleichzeitig dafür gesorgt haben, dass die Kommunen eine stetige Finanzierung zur Erledigung dieser Aufgabe erhalten, sieht es aber nur auf dem Papier relativ gut aus; denn von vier Plätzen in den alten Bundesländern ist gerade einer ein Vollzeitplatz. Das muss man sich einmal vorstellen! Ein Teilzeitplatz verwehrt Frauen oft sogar die Aufnahme einer Teilzeitbeschäftigung. In den neuen Bundesländern beträgt der Versorgungsgrad bei den Vollzeitplätzen 90 Prozent. Auch das ist gut. Aber Länder und Kommunen versuchen, aufgrund der angespannten Finanzsituation, das Recht und das noch vorhandene Angebot massiv einzuschränken. Personelle und räumliche Standards werden aufgeweicht bzw. außer Kraft gesetzt. Wir kennen ja die Beispiele aus Thüringen, wo 1-Euro-Jobber in der Kinderbetreuung eingesetzt werden. Außerdem erleben wir, dass Kommunen versuchen, nicht beitragszahlende Eltern von den Angeboten massiv auszugrenzen, nach dem Motto: Sie sind arbeitslos bzw. arbeiten nur in Teilzeit; dann brauchen Sie Ihr Kind doch nicht sechs, sieben oder acht Stunden im Kindergarten unterzubringen; dann reichen vielleicht vier Stunden. Das ist in der Tendenz eine Ausgrenzung. Ich sage Ihnen: Wir haben in Leipzig schon Kämpfe bestehen müssen! Es ist uns zwar gelungen, Betreuungsplätze zu erhalten, aber es ist ein ständiger Kampf. Bei der Hortversorgung ist die Situation völlig katastrophal. Nur für 5 Prozent aller Grundschüler und nur noch für 1 Prozent der 11- bis 14-Jährigen besteht überhaupt eine Betreuungsmöglichkeit am Nachmittag. Hier kann von einem bedarfsgerechten Angebot nach § 24 SGB VIII nicht mehr die Rede sein. Diese traurige Realität, dieses völlig unzureichende Angebot insbesondere in den alten Bundesländern, in denen wir wirklich ein Aufbauprogramm West für diesen Bereich bräuchten, führt dazu, dass wir uns dieser Aufgabe stellen müssen. ({2}) Dazu müssen wir verschiedene Schritte unternehmen. Wir müssen ein flächendeckendes, bedarfsgerechtes, qualitativ hochwertiges Angebot zur Verfügung stellen. Das schließt auch die Qualifizierung der Menschen, die dort arbeiten, ein. Wir müssen die Beitragsfreiheit für die Eltern sicherstellen, wenn sie ihre Kinder in diese Einrichtungen geben. Diese Aufgabe können wir nicht den Kommunen überlassen, die aufgrund der Steuer- und Finanzpolitik der rot-grünen Regierung in den letzten Jahren massive Einnahmeverluste hatten. Die Anteile an der Einkommensteuer sind gesunken. Wir müssen uns dazu bekennen, dass das eine Bundesaufgabe ist. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, ein Konzept vorzulegen, wie diese Finanzierung sichergestellt werden kann. Ich lade Sie dazu ein und ich hoffe, dass dazu Vorschläge aus Ihren Reihen kommen. Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Möllring von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Eva Möllring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Fraktion Die Linke fordert von der Bundesregierung, schnellstmöglich ein vielschichtiges Problemfeld zu ordnen. Die Bundesregierung soll den Ländern und Kommunen vorgeben, wie sie kostenlose, umfassende und flächendeckende Kinderbetreuung organisieren sollen. Man sieht auf den ersten Blick, dass es sich um einen Antrag der Opposition handelt, die weniger daran interessiert ist, ein wirklich ernstes Problem ernsthaft zu lösen, als vielmehr daran, in einem ziemlich durchsichtigen Manöver die Familienministerin herauszufordern. ({0}) Sie soll jetzt schnellstmöglich eine Aufgabe lösen, die in den letzten 20 Jahren nicht bewältigt werden konnte. Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fordert, den Kommunen zeitnah für Kinder unter drei Jahren eine Ganztagsbetreuung vorzuschreiben, obwohl wir vor Ort, wie alle wissen, gerade erst versuchen, überhaupt Plätze einzurichten. Das ist eine Aufgabe, die für unsere Kollegen auf kommunaler Ebene schon eine echte Herausforderung ist. Ich glaube, die Familien haben nicht viel davon, wenn wir ihnen Luftschlösser bauen. Eltern lassen sich nämlich kein X für ein U vormachen und merken das. ({1}) Ich selbst bin noch nicht lange Abgeordnete im Bundestag. Vorher hatte ich manches Mal das Gefühl, dass die Familie als Spielball schöner Sprüche benutzt wurde. ({2}) Das waren praktisch zwei Welten: echte Familie und Familie im politischen Sinn. Deshalb bin ich froh, dass diese Bundesregierung kein hohles Gesetz in die Welt bringt. ({3}) Die Ministerin hat vielmehr Ziele gesetzt und sie hat uns eine Perspektive aufgezeigt. Wir werden ganz realistisch nacheinander die vielen Schritte gehen, die notwendig sind, um diese Ziele zu erreichen. ({4}) Die CDU/CSU-Fraktion will eine bessere Infrastruktur für Familien. Wir werden deshalb den Ausbau der Kinderbetreuung vorantreiben. Das haben wir schon im Koalitionsvertrag festgelegt. ({5}) Aber wir müssen auch ehrlich sein. Von heute auf morgen rund um die Uhr staatliche Betreuung zum Nulltarif vorzuhalten, ist finanziell einfach eine Illusion, egal was man sonst davon halten mag. Es geht nicht, dass wir die Länder und Kommunen mit einer Hauruckmethode überfallen. ({6}) Denn das ist nicht unser Handlungsfeld, sondern ihre ureigenste Entscheidungskompetenz. Das steht in Art. 104 a des Grundgesetzes. ({7}) Weil wir aber die Familien nach vorn bringen wollen, weil wir unsere Kinder stärken wollen und weil uns beides wirklich wichtig ist, haben wir gleich zu Beginn der Wahlperiode einen anderen Weg gewählt. ({8}) - Frau Kollegin, ich wäre dankbar, wenn ich meine Rede heute so zu Ende bringen könnte. ({9}) Wir haben einen anderen Weg gewählt. Wir machen unsere Hausaufgaben. Die Koalition hat in den wenigen Monaten drei Maßnahmen ergriffen. Erstens: Wir erstatten den Kommunen das versprochene Geld für das Arbeitslosengeld II. Das ist immerhin ein Betrag von circa 2,5 Milliarden Euro, also mehr als das, was Eltern in Deutschland für Kitas bezahlen müssen. ({10}) Nun können Sie natürlich sagen, das sei eine Selbstverständlichkeit. Aber, liebe Kollegen von den Grünen, Sie haben diese Zahlung in der alten Koalition noch im Oktober verweigert, obwohl Sie sie selber ausdrücklich für die Schaffung von Kinderbetreuung vorgesehen hatten. Zweitens: Die Familienministerin hat gefordert, dass Kitagebühren gesenkt, am besten ganz abgeschafft werden. Dazu hat die Bundesregierung einen wichtigen Beitrag geleistet. Sie bringt ein Gesetz ein, das es jeder Familie ermöglicht, zwei Drittel der Betreuungskosten von der Steuer abzusetzen. Wenn man im Monat 200 Euro für einen solchen Platz zahlt, dann kann man 130 Euro von der Steuer absetzen. Das ist ja wohl eine klare Senkung der Kosten. ({11}) Wir wissen aber, dass die Öffnungszeiten von Kitas für die Ausübung einer Berufstätigkeit oft nicht ausreichen - das hat auch die Kollegin von den Grünen festgestellt -; deshalb sind Eltern zusätzlich auf flexible Betreuungsangebote angewiesen. Das kostet Geld, und zwar in der Regel mehr, als die staatliche Kita verlangt. Deshalb ist es gut, dass man jetzt nicht mehr nur 1 500 Euro von der Steuer absetzen kann, sondern 4 000 Euro. Dadurch werden viele Eltern in der Lage sein, sich eine Betreuung zu leisten, die zu ihrer Arbeitszeit passt. Letzter Punkt hierzu. Sie haben zu Recht festgestellt, dass wir zu wenige Krippenplätze haben. Durch den Geburtenrückgang haben viele Gemeinden Luft, um Betreuung für Kinder unter 3 Jahren anzubieten; aber das ist durch den Personalschlüssel einfach sehr teuer. Man kann hier natürlich mit der Autorität des Hohen Hauses verkünden: Die Kommunen sollen das trotzdem wuppen und der Gesetzgeber soll für einen Anspruch der Eltern sorgen. Wichtiger ist es meiner Meinung nach, dass wir diesen Eltern jetzt ganz praktisch unter die Arme greifen und ihnen sagen, dass sie einen großen Teil der entstehenden Kosten von der Steuer absetzen können. Das ebnet nämlich den Weg, um solche Angebote einzurichten. Ich komme zu einem weiteren wichtigen Punkt. Diese Bundesregierung und diese Familienministerin haben wie niemand vorher eine Diskussion in Gang gesetzt, die überall Früchte trägt. Wir haben es wirklich geschafft, dass die Vorschläge für bessere, umfassendere und günstigere Kinderbetreuung landauf, landab wie Pilze aus dem Boden schießen. ({12}) Ministerpräsidenten versuchen, sich damit für Wahlen zu qualifizieren und Bürgermeister entdecken Wettbewerbsvorteile für ihre Gemeinden. Die ersten Nachbargemeinden werden schon nervös. So kommen wir im Wettbewerb - jeder mit seinen eigenen Mitteln - voran und wir orientieren uns dabei am echten Bedarf. Diesen Weg müssen wir konstruktiv begleiten. Das kostenlose dritte Jahr, das alle Kinder bildet - Sie haben es angesprochen, Frau Kollegin - und auf die Schule vorbereitet, steht jetzt wirklich im Raum. Ich bin überzeugt: Wir werden es demnächst in ganz Deutschland verwirklicht haben. ({13}) Dann haben wir wirklich einen wichtigen Schritt gemacht. Ich möchte am Schluss noch zwei Dinge sagen. Meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, Sie wissen ja wohl, dass Sie mit Ihrem Antrag nicht die Armut bekämpfen, auch wenn das darin steht. Es gibt § 90 SGB VIII. Danach werden Eltern nur dann zu Kitagebühren herangezogen, wenn ihnen das aufgrund ihres Einkommens zumutbar ist, sodass ein erheblicher Prozentsatz der Eltern diese Kosten nicht tragen muss. Sie setzen sich mit Ihrem Antrag nur für diejenigen Eltern ein, die ordentlich verdienen und die die gestaffelten Gebühren bezahlen können. ({14}) - Ich bekomme sogar von der Opposition Zustimmung. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass der CDUMinisterpräsident des Saarlandes, Müller, schon seit 2000 das dritte Kindergartenjahr kostenlos anbietet. ({15}) - Warten Sie ab! - Wenige Jahre vorher wurden in Niedersachsen von der rot-grünen Landesregierung die Vorschulen abgeschafft. Das war ein herber Schlag für viele Kommunen, zumal diese kostenlose Vorbildung in den Schulen hervorragend angenommen wurde. ({16}) Von den Baukosten will ich gar nicht sprechen. ({17}) - Ich erkläre es Ihnen gleich. Fragen Sie den Kollegen doch einfach! - Ich weiß nicht, ob Herr Trittin - ich glaube, er ist nicht hier - damals im Landtag oder im Bundestag war. Ich weiß aber, dass immerhin zwei Ihrer Fraktionskollegen an dieser Entscheidung beteiligt waren. Das hat wehgetan. Deswegen sollten Sie sich jetzt nicht hier in diesem Hause als Helden der Kinderbetreuung aufführen. ({18}) Ich möchte noch mit einem Satz auf etwas eingehen, was mir am Herzen liegt. Wir sollten in dieser ganzen Diskussion nicht vergessen, dass auch Eltern verantwortungsvoll Kinderbetreuung betreiben. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Dr. Möllring, ich beglückwünsche Sie im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Ina Lenke von der FDP-Fraktion.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Möllring, auch als Niedersächsin gratuliere ich Ihnen sehr herzlich. Das war eine super Rede. Wir werden noch weiter fighten. Dazu will ich Ihnen sagen: Aus der Opposition heraus wird die FDP allen guten Anträgen, die von der Koalition kommen, zustimmen, aber erst einmal werden wir sie prüfen. ({0}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kinderbetreuung und Bildung sind der Schlüssel zu einer frauen- und kinderfreundlichen Gesellschaft. Dazu gehört selbstverständlich mehr Bildung für Kinder vor der Schulzeit. Die FDP will gleiche Bildungschancen für Kinder von Anfang an. Wir wollen aber auch - das will ich ganz deutlich sagen - verlässliche Rahmenbedingungen für Frauen, damit die endlich - endlich! - die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hinbekommen können. Auf der Tribüne sind einige Herren von der Bundeswehr. Ich habe gehört, dass es nicht ganz einfach ist, als Soldatin bei der Bundeswehr Kinder betreuen zu lassen. Von daher bitte ich auch Sie um Unterstützung. Vielleicht können Sie einmal mit dem Verteidigungsminister reden, um zu erreichen, dass das besser wird. ({1}) Es kommt zu immer mehr Ehen zwischen Soldaten und Soldatinnen und da wird es mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei der Bundeswehr recht schwierig. ({2}) - Das macht Frau Homburger sowieso; da brauche ich sie gar nicht besonders anzusprechen. Aber den Verteidigungsminister müssen wir in dieser Angelegenheit ansprechen. - Das war nur eine Bemerkung am Rande. Der Antrag der Fraktion Die Linke hat die Gießkannenmethode zum Inhalt und zielt ab - das bedauere ich außerordentlich, ist bei Ihnen aber wohl normal - auf ein ausschließlich staatliches Kinderbetreuungsangebot ({3}) - doch, das steht darin -, verbunden mit der Forderung, die Steuern massiv zu erhöhen, und das lehnt die FDP ab. Der Antrag der Grünen enthält erstaunlicherweise Forderungen, liebe Frau Deligöz, die Sie während der sieben Jahre, die Sie in der Regierung waren, hätten durchsetzen können. Stattdessen erheben Sie erst jetzt in der Opposition diese Forderungen. ({4}) Ihre Forderung nach einem Finanzierungskonzept, Herr Beck - ich spreche Sie an; Sie sind ja Geschäftsführer -, zeigt, dass Sie in Ihrer Regierungszeit keines hatten. ({5}) Ich denke da nur an die 1,5 Milliarden Euro, von denen Sie und die damalige Familienministerin geredet haben. Also: Beide Anträge, sowohl der von der Fraktion der Linken als auch der von der Fraktion der Grünen, beinhalten weder ein ausgereiftes Konzept noch neue Ideen. ({6}) Nun zum Konzept der großen Koalition. Das ist, finde ich, ein steuerpolitisches Chaos. Steuerberater und Steuerberaterinnen werden Gewinner dieses Durcheinanders sein. ({7}) Mal sollen Kinderbetreuungskosten als Werbungskosten gelten, dann wieder als Sonderausgaben und in Sonderfällen sollen sie über den § 35 a Einkommensteuergesetz berücksichtigt werden. ({8}) Es kommt noch etwas hinzu, was viele nicht wissen. In einer bestimmten Familienkonstellation dürfen Kinderbetreuungskosten nur für Kinder zwischen drei und sechs Jahren abgezogen werden, in einer anderen Familienkonstellation für Kinder bis zum 14. Lebensjahr und von Geburt an. Dieses Konzept, liebe Kollegen von der Regierung, ist ein Meisterstück an Bürokratie - und das in einer Zeit, in der wir alle von Deregulierung und Entbürokratisierung reden! Liebe CDU-Kollegen, was ist eigentlich von Ihrem Bierdeckel, auf dem Ihr Kollege Merz eine Steuererklärung ausfüllt, übrig geblieben? Schon all diesen Kram bei der Kinderbetreuung bringen Sie nicht auf einem Bierdeckel unter. ({9}) Also: Wir erwarten von der Bundesregierung ein klares, einfaches und für die Bürger wirklich verständliches Familienkonzept. ({10}) Die FDP hat ihr Modell heute noch nicht vorgelegt. Es ist in Planung. Wir haben aber schon grundsätzlich entschieden: Unser familienpolitisches Konzept wird erstens Familien nachhaltig steuerlich entlasten, zweitens alle Lebensgemeinschaften mit Kindern - es gibt ja eine Vielfalt solcher Lebensgemeinschaften - im Steuerrecht gleich behandeln, drittens die Kinderbetreuungskosten nur an einer einzigen Stelle im Einkommensteuerrecht andocken, und zwar bei den Sonderausgaben, und viertens hauswirtschaftliche Dienstleistungen im privaten Haushalt steuerlich anerkennen. Liebe Kollegen und Kolleginnen, pädagogische Bildungsstandards in Kindertagesstätten müssen weiterentwickelt werden. Auch die Aus- und Weiterbildung des Personals muss gestärkt werden. Die Bildung - nicht die Betreuung - im Kindergarten muss genau wie in der Schule gebührenfrei sein. ({11}) Da besteht zwischen Ihnen und uns ein inhaltlicher Unterschied. Wir Liberale fordern gleichzeitig mehr Wettbewerb auf dem Kinderbetreuungsmarkt; das gibt es nämlich noch nicht. Ich erinnere daran, dass wir die Forderung nach Bildungsgutscheinen für jedes Kind hier schon gestellt haben; das bedeutet Subjektfinanzierung statt Objektfinanzierung. Wir wollen im Sinne der Vereinbarkeit von Familie und Beruf mehr Flexibilität bei den Öffnungszeiten. Deshalb erwarten wir, Herr Dr. Kues, von der Bundesregierung kein Flickwerk, sondern ein umfassendes Konzept frühkindlicher Bildung, Erziehung und Betreuung. Als Fazit sage ich als Oppositionspolitikerin: Die ersten Beschlüsse der großen Koalition sind der kleinste gemeinsame Nenner. Sie reichen nicht aus, weder den Bürgern noch der Opposition. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Caren Marks von der SPD-Fraktion.

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In der Reihe populistischer Anträge hat die Fraktion Die Linke die Familienpolitik entdeckt. Herzlich willkommen, kann ich nur sagen! ({0}) Sie, meine Damen und Herren von der Linken, zeigen mit Ihrem Antrag einmal mehr, dass Sie außer Forderungen nichts zu bieten haben. ({1}) Keine Antwort bezüglich der Umsetzung, keine Antwort bezüglich der Finanzierbarkeit. So sitzt es sich bequem auf den Sesseln der Opposition, dem Lieblingsplatz Ihrer so genannten Frontmänner; denn da, wo sie einmal Verantwortung hatten, haben diese sich in die Büsche geschlagen. ({2}) Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Linken, die Familienpolitik der letzten beiden Wahlperioden zur Kenntnis genommen und verstanden hätten, wüssten Sie, dass der Ausbau der quantitativen und qualitativen Kinderbetreuung bei der rot-grünen Regierung ganz oben auf der Agenda stand und in der großen Koalition fortgesetzt wird. ({3}) Mit unserer Familienministerin Renate Schmidt haben wir entscheidende Impulse für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gegeben und insbesondere die Bedeutung des Ausbaus der frühkindlichen Betreuung und Bildung thematisiert. Wir haben die Familienpolitik zum Gesellschaftsthema gemacht und zum Beispiel mit der „Allianz für die Familie“ viele wichtige Bündnispartner in die Verantwortung genommen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Marks, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Höll? ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin Marks, da Sie eben frontal gegen die Linksfraktion geschossen haben, indem Sie gesagt haben, wir hätten die ganze schöne Familienpolitik nicht zur Kenntnis genommen: Haben Sie zufällig einmal nachgelesen, dass die PDS-Fraktion damals, zum Beispiel im Jahr 1999, im Jahr 2000, im Jahr 2001, verschiedene Anträge hier eingereicht hat, in denen wir den Ausbau der Kinderbetreuung in Krippe, Kindergarten, Hort gefordert haben, wozu wir auch Finanzierungsansätze vorgelegt haben, ebenso einen umfassenden Antrag zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, und Sie nichts anderes getan haben, als das abzulehnen? Wir haben zum Beispiel, als das Gesetz zum Kindergeld hier verabschiedet worden ist, einen Änderungsantrag zur vollständigen steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten vorgelegt. Ich weiß noch, wie Kolleginnen zu mir kamen und sagten, sie müssten mit Nein stimmen, aber sie wüssten, dass unser Antrag eigentlich richtig sei. Das war unsere Familienpolitik, zu der Sie nie den Mut hatten. ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Werte Frau Kollegin, auch Ihre jetzigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass Ihr Hauptaugenmerk auf Forderungen liegt. Antworten, wie diese Dinge umzusetzen sind, haben Sie bisher nicht gefunden. RotGrün hat das in den letzten sieben Jahren getan und wir werden das in der großen Koalition fortsetzen. Das ist der Unterschied zwischen Fordern und erfolgreicher Bilanz. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das seit 2005 gültige Tagesbetreuungsausbaugesetz wird bis 2010 230 000 zusätzliche Plätze für unter Dreijährige schaffen. In diesem Zusammenhang will ich nicht unerwähnt lassen, dass die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe die Kommunen jährlich um 2,5 Milliarden Euro entlastet, wovon 1,5 Milliarden Euro jährlich für den Ausbau der Kinderbetreuung vorgesehen sind.Obwohl wir als Bund nicht zuständig sind, helfen wir da, wo wir können, und sorgen für finanziellen Ausgleich; denn ohne diesen lassen sich keine noch so gut gemeinten Forderungen umsetzen. Das sind kreative Ideen, die den Kommunen finanzielle Möglichkeiten schaffen. Wo sind - ich kann diese Frage nur wiederholen - Ihre Vorschläge? Ich kann, meine Damen und Herren von der Linken, Ihrem Antrag diesbezüglich keine Vorschläge entnehmen. Die angestrebte Beitragsfreiheit für Kindertagesstätten, eine SPD-Initiative, ist ein weiterer wichtiger familien- und bildungspolitischer Schritt. Es ist eine konsequente Verbindung von Bildung und Betreuung. Nur: Im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren von der Linken, gehen wir mit diesem Thema verantwortlich um. Wir wissen um die jeweiligen Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Kommunen. Auch Sie sollten Kenntnis darüber besitzen, dass Einrichtung und Unterhaltung von Betreuungsangeboten für Kinder im Zuständigkeitsbereich der Kommunen liegen. Es gibt keine direkte Finanzbeziehung zwischen Bund und Kommunen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und der Linken, entgegen Ihren Befürchtungen und Behauptungen wirken wir, wie auch in der letzten Legislaturperiode, der Finanznot der Kommunen entgegen. ({2}) So entstehen Freiräume für so wichtige und notwendige Aufgaben im Bereich Bildung und Betreuung. Dass die SPD es ernst meint mit der Beitragsfreiheit für Kindertagesstätten, hat der sozialdemokratische Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, eindrucksvoll gezeigt. ({3}) Seit Januar 2006 gilt die Beitragsfreiheit in RheinlandPfalz für das letzte Kindergartenjahr. Das Entscheidende ist: Das Land übernimmt die entsprechenden Elternbeiträge in Höhe von circa 25 Millionen Euro. Das CDUregierte Nordrhein-Westfalen schlägt gerade leider einen anderen Weg ein. Das Land hat vor, sich aus der Finanzierung zurückzuziehen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in der letzten Legislaturperiode haben wir gemeinsam das Tagesbetreuungsausbaugesetz auf den Weg gebracht. Der aktuelle Antrag greift genau die Punkte auf, die rotgrüne Familienpolitik erfolgreich ausgemacht hat. Ich sage nicht ohne Stolz: Sie werden von uns in der großen Koalition konsequent weiterverfolgt. Sie müssten es eigentlich besser wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Forderung, einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsbetreuungsplatz für Kinder unter drei Jahren zeitnah zu verankern, würde die Kommunen in ihrer Leistungsfähigkeit überfordern. Kommen die Kommunen ihrer Verpflichtung allerdings bis 2010 nicht nach, werden wir - so sieht es der Koalitionsvertrag vor - den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab dem zweiten Lebensjahr ausweiten. ({5}) Ihre Forderung nach einer Qualitätsoffensive für Betreuung ist durch das TAG bereits umgesetzt. Wir wissen, es geht immer um Bildung, Betreuung und Erziehung. Ich komme zum Schluss. Die SPD will, dass Deutschland ein kinder- und familienfreundliches Land wird. Dabei muss jedes Kind, unabhängig von der sozialen Herkunft, gleiche Chancen erhalten. ({6}) Im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren von der Linken, reden wir nicht nur. Denn wir haben eine erfolgreiche Bilanz aufzuweisen. Populistische und überholte Anträge Ihrerseits helfen den Familien in Deutschland jedenfalls nicht weiter. Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr verehrte Frau Kollegin Möllring, ich wollte Sie während Ihrer ersten Rede nicht unterbrechen, zu der ich Ihnen gratuliere. Im Nachgang möchte ich aber klarstellen, dass in unserem Antrag die in der heutigen Situation einzig mögliche Lösung behandelt wird, die sozial gerecht ist. Kinderbetreuung ist ein knappes Gut. Wenn man knappe Güter verteilt, sieht der Verteilende zu - in diesem Fall die Kommune -, dass sich aus der Verteilung nicht noch zusätzliche Kosten ergeben. Sie haben richtig gesagt, dass für die Eltern, die keine Elternbeiträge bezahlen können, die Kommunen diese übernehmen. Deshalb wird sich natürlich jede Kommune gerade dann, wenn sie hoch verschuldet ist - im Regierungsbezirk Chemnitz gibt es nur zwei kleine Kommunen, die schuldenfrei sind; alle anderen Kommunen sind selbst in dem Musterland Sachsen, das sich in einer relativ guten Situation befindet, verschuldet -, fragen: Gebe ich den Kindergartenplatz oder den Krippenplatz als Vollzeitplatz dem Kind eines Beitragszahlers, beispielsweise eines gut situierten Ehepaars, oder dem Kind einer arbeitslosen ALG-II-Empfängerin? Letzteres würde dazu führen, dass die Kommune noch den Elternbeitrag zu zahlen hat. Die heutige Regelung, dass die Elternbeiträge zu zahlen sind, ist sozial ungerecht. Wir sollten dazu kommen, diese Spanne - sie macht derzeit etwa 2 Milliarden Euro aus - anders zu finanzieren. Wir haben die Regierung aufgefordert, sich dazu etwas zu überlegen. Ich sage nebenbei: Wir diskutieren derzeit auch über den Umzug des BND von Pullach nach Berlin. ({0}) Er kostet etwa 1,5 Milliarden bis 2 Milliarden Euro. Das ist die Größenordnung, über die wir hier sprechen. Wenn wir es jetzt so regeln, dass die Elternbeiträge übernommen werden, dann kommen wir auch dazu, dass ein knappes Gut sozial gerecht verteilt wird. ({1}) Ich sage auch: Soziale Gerechtigkeit besteht darin, dass die Gutverdienenden im Rahmen des Steuersystems an der Finanzierung unseres Gemeinwesens entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beteiligt sind. ({2}) Dazu brauchen wir eine Reform der Einkommensbesteuerung, der Erbschaftsteuer und der Vermögensteuer. Dann haben wir soziale Gerechtigkeit in einem Paket. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Möllring zur Erwiderung, bitte schön.

Dr. Eva Möllring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, Sie haben meine Rede eben dazu genutzt, sich über § 90 SGB VIII zu informieren. Die Überraschung stand Ihnen eben geradezu im Gesicht geschrieben. ({0}) Ich mache Sie darauf aufmerksam - Sie sollten diesen Paragraphen gut durchlesen -, dass das eine Sollvorschrift ist, die nur einen ganz schmalen Ermessensspielraum zulässt. Bei uns profitieren etwa 20 Prozent der Eltern davon. Sie können sich gerne darum bemühen, in den Kommunen mehr Verantwortung zu tragen und dafür zu sorgen, dass diese Vorschrift vor Ort vernünftig angewandt wird und wirklich alle betroffenen Eltern Gebührenfreiheit genießen. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Britta Haßelmann.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident, vielen Dank, dass Sie mir zu einer Kurzintervention das Wort erteilen. - Sehr geehrte Frau Kollegin Dr. Höll, zu Ihrer Rede hier im Parlament und zu Ihrem Antrag betreffend die elternbeitragsfreie Kinderbetreuung möchte ich Folgendes anmerken: Mit welcher Energie Sie diese Forderung hier angesichts dessen vortragen, dass Sie als PDS in Berlin gleichzeitig mitverantworten, dass die Gebühren in unglaublichem Maße gestiegen sind, ({0}) finde ich wirklich beeindruckend. Alle Achtung für diejenigen, die hier sitzen! ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nun haben Sie wieder das Recht, darauf zu antworten, Frau Kollegin Höll. Ich bitte aber darum, genauso kurz, wie es bei der Kurzintervention der Fall war, zu antworten. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Kollegin, wir können jetzt gerne über das Berliner System detailliert diskutieren. Die Berliner haben sich in der jetzigen Situation einer Haushaltsnotlage, in der sie keine Gebührenfreiheit für Eltern einführen können, dazu entschlossen, ein sozial gerechtes System zu verwirklichen. ({0}) Das System ist ausgeprägt gestaffelt: Es gibt natürlich die Gruppe, bei der die Kommune die Gebühren übernimmt, sprich: Für sie gilt Gebührenfreiheit. Dann gibt es die Gruppe mit niedrigem Einkommen; über die reden wir hier. Für diese Gruppe haben sich die Beiträge aufgrund der Berliner Regelung verringert. Das sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen. ({1}) Sie haben sich nur für diejenigen mit einem wirklich hohen Einkommen erhöht. Es gibt also eine ausgeprägte Staffelung. Wir können uns gern zusammensetzen und dann erkläre ich Ihnen, wie selbst in der schwierigen Situation einer Haushaltsnotlage soziale Gerechtigkeit im Konkreten möglich ist. Im Übrigen hat Berlin im Bildungsbereich beschlossen, ab 2007 das Vorschuljahr kostenfrei für die Eltern zu realisieren. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Ekin Deligöz vom Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte direkt zur Sache kommen. An sich ist die Diskussion um die vollständige Beitragsfreiheit in der Kinderbetreuung richtig. Aber sie kommt definitiv viel zu früh. Denn unsere vordringliche Aufgabe ist es im Augenblick nicht, zu klären, wie wir mit den Elternbeiträgen umgehen. Viel dringlicher ist derzeit die Aufgabe, erst einmal eine flächendeckende, qualitativ hochwertige Kinderbetreuung im ganzen Land zu schaffen. Das muss bei all den Debatten, die wir hier führen, Vorrang haben. ({0}) In der Vorgängerregierung haben wir mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz wichtige Schritte dazu eingeleitet. Das war notwendiger denn je. Frau Möllring, wenn das nicht richtig wäre, warum haben Sie das denn jetzt als einen Kernpunkt im Koalitionsvertrag festgeschrieben? ({1}) Auch wenn Sie dem TAG damals nicht zugestimmt haben und sich gerade einmal dazu durchgerungen haben, sich der Stimme zu enthalten, haben Sie uns im Grunde in der Sache zugestimmt. Ihr Handeln jetzt beweist, dass wir damals richtig gehandelt haben. ({2}) Vor allem haben wir eines damit geschafft: Wir haben diese Debatte in das Bewusstsein der Gesellschaft hineingetragen und damit in diesem Land mehr verändert, als man es jemals mit Gesetzen hätte tun können. ({3}) Dennoch möchte ich sagen: Es reicht nicht. Deshalb haben wir auch unseren Antrag vorgelegt. Wir sind beim Ausbau hochwertiger Betreuungsangebote noch am Anfang. Wir können nicht so tun, als ob diese Frage bereits gelöst wäre und wir zum nächsten Kapitel übergehen könnten. Vielmehr ist es im Gegenteil so, dass das Thema der guten Betreuungsansätze nicht abgeschlossen ist. Wir brauchen mehr Entschlossenheit und mehr Handlungswissen, weil wir mehr flächendeckende Angebote in diesem Land bekommen müssen. ({4}) Wir brauchen ebenfalls mehr Mittel dafür. Das ist die Kernfrage. Da die Mittel begrenzt sind, müssen wir Prioritäten setzen. Diese Priorität kann nur lauten: Schaffung von neuen Kinderbetreuungsplätzen für unter Dreijährige, Schaffung von Ganztagsbetreuungsmöglichkeiten in den Kindergärten und Erweiterung von Ganztagsangeboten in den Schulen. Das muss Priorität genießen und nicht die Abschaffung der Elternbeiträge. ({5}) Frau Höll, Sie machen sich das alles ein bisschen zu leicht. Mit Ihrem Antrag verhält es sich so: Sie wollen alles, und zwar sofort. Wie das finanziert wird, ist egal. Sie jonglieren mit Milliarden und sagen uns gar nicht, woher Sie die Milliarden nehmen. Sie setzen keine Prioritäten und sagen: Es ist alles gleich gut; daher muss alles sofort her. Sie verkennen dabei die Realitäten. In Berlin beträgt der niedrigste Elternbeitrag 70 Euro; das ist zu hoch. ({6}) Der höchste Beitrag sind 500 Euro; auch das ist zu hoch. ({7}) Lassen Sie uns nicht über die Elternbeiträge hier in Berlin oder in Mecklenburg-Vorpommern reden, wo sie mindestens genauso hoch oder noch höher sind und wo die Menschen noch weniger als in Berlin verdienen! Lassen Sie uns doch über die Qualität der Kinderbetreuung reden! Darum muss es doch gehen. ({8}) - Bitte, stellen Sie eine Frage. Das ist wunderbar. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Höll, bitte schön.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident, ich danke dafür, dass Sie mir das Wort erteilen. - Frau Kollegin, wenn Sie hier reden, dann verwenden Sie bitte die richtigen Zahlen. In Berlin beträgt der Elternbeitrag für die Gruppen mit niedrigem Einkommen 23 Euro pro Monat. In Berlin macht der Anteil der Elternbeiträge an den Gesamtkosten nur 10 Prozent aus, während es im Bundesdurchschnitt 20 Prozent sind. In Berlin werden durch die Elternbeiträge nur 70 Millionen Euro eingenommen, während ungefähr 750 Millionen Euro für die Kinderbetreuung ausgegeben werden. Das ist die Realität. Ich bitte darum, dass wir, wenn wir hier Zahlen verwenden, die Zahlen nehmen, die im Haushalt nachzulesen sind. ({0}) - Würden Sie das zur Kenntnis nehmen?

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Höll, wenn ich Ihnen antworten darf. Ich bedanke mich herzlich für diese Frage; etwas Besseres hätte mir nicht passieren können. ({0}) - Ja, von Ihnen vielleicht. Herr Westerwelle, nur zu! Sie sprechen von 23 Euro. Darauf entgegne ich: Die Realität ist ja, dass die Eltern nicht nur die Beiträge für die Kinderbetreuung bezahlen; vielmehr zahlen sie in der Regel auch für das Mittagessen. Dann sind wir bei einem Beitrag von 70 Euro. Das ist das, was die Eltern de facto bezahlen. Es geht hier ja um die Realität und nicht um das, was wir als politische Maßgabe in irgendwelchen Schriftstücken haben. Ihre Argumentation würde Sinn machen, wenn Sie sagten: Die Eltern sollen nicht die Ganztagskinderbetreuung nutzen, sondern nur für einen halben Tag und ihre Kinder um 12.30 Uhr abholen. Dann wären es nur 23 Euro; das mag sein. ({1}) Aber ist das eine politische Maßgabe? ({2}) - Ich bin noch nicht fertig, Frau Höll. Ich bin noch nicht fertig, Herr Präsident.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, Frage wie Antwort sollen kurz und präzise sein. In Anbetracht der Tatsache, dass wir jetzt Freitagmittag haben, bitte ich Sie, sich daran zu halten.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. Es folgt jetzt auch eine präzise Antwort. Sie reden davon, dass Sie die Zahl der Kinderbetreuungsplätze in Berlin gesteigert hätten. Was aber deutlich gesunken ist, ist die Qualität. Das sagen Ihnen alle Erzieherinnen und Erzieher, alle Eltern; das sagen Ihnen alle, die in diesem Bereich tätig sind. Die Qualität des Angebotes in Berlin musste bluten; sie hat sich erheblich verschlechtert. Das geht zulasten der Kinder, ({0}) also derjenigen, um die es eigentlich gehen sollte. Da können Sie sich nicht herausreden; darauf müssen Sie Antworten geben. Sie machen eine Politik auf dem Rücken der Kinder in diesem Land; ({1}) Sie machen eine Politik gegen soziale Gerechtigkeit und gegen Chancengerechtigkeit. Das haben Sie zu verantworten. ({2}) Was wollen wir Grünen? Wir möchten Zielstrebigkeit und mehr Entschlossenheit. Wir möchten den Rechtsanspruch auf unter Dreijährige ausweiten. Dafür ist der Bund zuständig. Das können wir leisten. Ich weiß nicht, wovor Sie Angst haben. Auch viele Kommunen fordern den Rechtsanspruch. Ebenso wurde in der Fachanhörung im Bundestagsausschuss zum Tagesbetreuungsausbaugesetz mehr Entschlossenheit in Form des Rechtsanspruchs gefordert. Wir möchten die Erzieherinnenausbildung aufwerten, damit diesem Berufsbild eine bessere Anerkennung zugute kommt. Das fordert auch der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht. ({3}) Wir möchten mehr Qualität in den Einrichtungen. Bund, Länder und Kommunen haben jetzt die Chance, die Forderungen der Grünen umzusetzen. Liebe Regierung, Sie sollten nicht reden und Vorschläge in Interviews machen, sondern handeln. Das ist Ihre Aufgabe. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich wollte nur darauf hinweisen, dass neben Zwischenfragen auch Zwischenbemerkungen zulässig sind. Das heißt, es muss nicht unbedingt eine Frage gestellt werden. Schauen Sie in § 27 Abs. 2 der Geschäftsordnung, da können Sie das genau nachlesen. Jetzt hat der Kollege Jürgen Kucharczyk von der SPD-Fraktion das Wort.

Jürgen Kucharczyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003794, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich, dass die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen durch ihre Anträge die passenden Überschriften zur aktuellen Familienpolitik der Bundesregierung liefern. „Leben und Arbeiten mit Kindern möglich machen“ und „Elternbeitragsfreie Kinderbetreuung ausbauen“ sind genau unsere Themen. Wir müssen den Frauen und Männern mit Kindern das Leben erleichtern. Das wollen wir in der Koalition in den nächsten vier Jahren erarbeiten und sind schon mittendrin. Grundsätzlich gilt: Unser Ziel ist es, nicht nur eine kleine Maßnahme auf den Weg zu bringen. Vielmehr ist ein Bündel von komplexen Aufgaben erforderlich, welche inhaltlich und finanziell aufeinander abgestimmt sein müssen. Dabei ist es von Vorteil, dass die neue Bundesregierung auch in diesem Bereich an die Arbeit der Vorgängerregierung anknüpfen kann. Ich nenne nur einige Stichpunkte: 4 Milliarden Euro für den Aus- und Aufbau von Ganztagsschulen, ({0}) das Tagesbetreuungsausbaugesetz - der Grundstein für eine gute und bedarfsgerechte Kinderbetreuung für die unter Dreijährigen -, ({1}) das Projekt „Allianz für die Familie“, welches eine Balance von Familie und Arbeitswelt zum Ziel hat, und die Unterstützung der Kommunen vor Ort durch die bundesweite Initiative „Lokale Bündnisse für Familie“. ({2}) So weit in Ansätzen das bereits Angepackte und auf den Weg Gebrachte. Sie alle haben den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung gelesen. Er bildet eine gute Grundlage für die Arbeit der nächsten vier Jahre, insbesondere in dem Bereich Kinder-, Jugend- und Familienpolitik. Damit bessere Zeiten für den Nachwuchs anbrechen, werden wir ab 2007 das Elterngeld einführen. Dann können junge Familien mithilfe des Elterngeldes in Höhe von 67 Prozent des letzten Nettoeinkommens ihren Lebensstandard auch dann halten, wenn sie wegen der kleinen Kinder ihre Berufstätigkeit unterbrechen müssen. Wir ergänzen jetzt das Elterngeld um ein Leistungselement für Eltern mit geringem Einkommen, sodass alle Erziehenden eine Mindestleistung erhalten. Keine Frage: In Deutschland gibt es einen großen Nachholbedarf bei den Angeboten für unter Dreijährige. Daher werden wir mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz bis 2010 rund 230 000 zusätzliche Betreuungsplätze für Jungen und Mädchen in dieser Altersstruktur zur Verfügung stellen. ({3}) Für diese Aufgabe werden Länder und Kommunen vom Bund jährlich um 1,5 Milliarden Euro entlastet. Wir als SPD halten an unserem Ziel fest, dass alle Kinder das Recht auf einen Kindergartenplatz ab dem zweiten Lebensjahr haben. Dass sich auch bei der Finanzierung der Kindergärten etwas ändern muss, ist uns allen dabei klar. Gemeinsam mit den Ländern werden wir daher nach Lösungen suchen. Die in einigen Ländern vorgesehene bzw. umgesetzte Gebührenbefreiung der Eltern für das letzte Kindergartenjahr kann uns Vorbild für die bundesweite Realisierung sein. ({4}) Nur nebenbei: Auch die gefundene Regelung zur steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten ist ein Schritt zur stärkeren finanziellen Beteiligung des Staates. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und der Linken, was teilen uns eigentlich Ihre Anträge im Kern mit? Ich sage Ihnen, Ihre Botschaft ist, dass Einigkeit zwischen uns herrscht, ({5}) und zwar Einigkeit in dem Punkt, dass die Förderung von Familien eine der wichtigsten Investitionen in die Zukunft unseres Landes darstellt. Nur die Antwort auf die Frage nach den konkreten Umsetzungen bleiben Sie schuldig. Wir dagegen in der Koalition sind dabei, die einzelnen Aspekte - wie eben genannt - konkret anzupassen und umzusetzen. Wir sehen die öffentliche Kinderbetreuung schon längst als gesamtgesellschaftliche Aufgabe an. Daher reden wir nicht nur darüber, wir handeln auch. Wir wollen die Kommunen mit dieser Aufgabe nicht allein lassen. Deshalb werden wir uns mit den Ländern und Kommunen darüber verständigen, wie wir gemeinsam Kindergartenplätze ohne eine finanzielle Beteiligung durch die Eltern erreichen können. Wir gehen im Gesetz verantwortungsvoll mit diesem Thema um. Wer kostenfreie Kindergärten und Kitas haben möchte, der muss sie auch finanzieren. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich würde mich freuen, wenn Sie in den zuständigen Fachgremien zukunftsorientiert an diesen Themen mitarbeiten. Der Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen ist zwar etwas essenzieller, bietet aber nichts Neues. Vielmehr teilen die Kolleginnen und Kollegen unsere Auffassung, dass die Senkung der Elternbeiträge wichtig ist. Dazu zitiere ich aus Ihrem Antrag: „… sie darf aber den Aufbau von bedarfsdeckenden, hochwertigen Betreuungsplätzen nicht gefährden.“ Genau diesen Aufbau verfolgen wir - wie eben geschildert - in der Koalition konsequent weiter. Unsere Wertschätzung frühkindlicher Bildung findet in unseren Forderungen nach verbesserter Qualität der Betreuung durch qualifizierte Ausbildung der Fachkräfte und bessere Ausstattung der Einrichtungen ihren Ausdruck. Sicher ist, dass Bund und Länder diesen Prozess nur gemeinsam gestalten können. Ich möchte an dieser Stelle das Bekenntnis der SPD-Bundestagsfraktion für starke und finanzkräftige Kommunen erneuern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Anträge lehnen wir ab. Im Nationalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005-2010“ aus der vergangenen Legislaturperiode haben wir die wichtigsten Etappen und Meilensteine hin zu einem der familienfreundlichsten Länder aufgezeigt. Der NAP, der Ihnen allen ja bekannt ist, hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Er ist im Koalitionsvertrag berücksichtigt. Lassen Sie uns diesen Nationalen Aktionsplan gemeinsam realisieren! Lassen Sie uns die Ärmel hochkrempeln; denn es lohnt sich. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kucharczyk, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag im Namen des ganzen Hauses. ({0}) Weil es Ihre erste Rede war, haben Sie einen großzügigen Zuschlag auf Ihre Redezeit bekommen. ({1}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/453 und 16/552 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 16/453 soll federführend im Ausschuss für Familien, Senioren, Frauen und Jugend beraten werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 sowie Zusatzpunkt 10 auf: 18 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({2}), Irmingard Schewe-Gerigk, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft vollenden - Drucksache 16/497 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Michael Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gleiche Rechte, gleiche Pflichten - Benachteiligungen von Lebenspartnerschaften abbauen - Drucksache 16/565 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({4}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Volker Beck vom Bündnis 90/ Die Grünen das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Spanien tut es, Kanada und Belgien tun es auch, die Niederlande tun es schon länger - sie ermöglichen schwulen und lesbischen Paaren den Zugang zur Ehe. In Südafrika hat das Verfassungsgericht die Öffnung der Ehe angeordnet. England hat 2005 die eingetragene Partnerschaft eingeführt. Tschechien will es tun. In der Schweiz haben in einer Volksabstimmung 58 Prozent das Partnerschaftsgesetz bestätigt. Gleichstellung liegt im Trend der westlichen Welt. Denn es geht um fundamentale Werte der Demokratie, um Respekt für unterschiedliche Lebensweisen und die Gleichheit vor dem Gesetz. In Deutschland haben wir mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz im Jahr 2001 gut angefangen. Damals lagen wir in der internationalen Entwicklung relativ weit vorne. Im Jahr 2004 hat die rot-grüne Koalition nachgelegt: bei der Hinterbliebenenversorgung, der Stiefkindadoption usw. Jetzt geht es um den verbliebenen Rest. Alle Parteien bis auf die Union haben im letzten Wahlkampf erklärt, für die Gleichstellung von eingetragener Lebenspartnerschaft und Ehe zu sein. Dieser Schritt wird also von einer breiten Mehrheit hier im Haus unterstützt. Daher fordere ich die Abgeordneten aller Parteien auf, hier am selben Strang zu ziehen und dafür zu sorgen, dass diese hier im Hohen Hause vorhandene Mehrheit auch in unseren Gesetzesbeschlüssen zum Ausdruck kommt. ({0}) Gleiche Rechte und gleiche Pflichten - nur das ist ein faires Prinzip. Wir verlangen von den Lebenspartnern, wie Ehegatten die im Familienrecht bestehenden Unterhaltsverpflichtungen in vollem Umfang zu übernehmen. Das halten wir ihnen vor, wenn sie Sozialhilfe, Volker Beck ({1}) Arbeitslosengeld II oder andere Sozialleistungen beantragen. Das ist auch völlig korrekt. Aber gegenwärtig tun wir im Steuerrecht so, als wüssten wir von der Übernahme all dieser Verpflichtungen nichts. Das ist nicht korrekt, sondern grob unfair. ({2}) Ein Beispiel: die Erbschaftsteuer. Partnerinnen und Partner, die in einer Lebensgemeinschaft füreinander sorgen, ihren kranken Lebenspartner pflegen, für ihn Unterhalt zahlen und seine soziale Unterstützung finanzieren, werden zwar, wenn ihr Partner verstirbt, im Sinne des Erbrechts wie ein Ehegatte als Erbe berücksichtigt, aber dann kommt der Staat daher und steuert alles weg: Beim Freibetrag und beim Steuersatz werden sie behandelt, als seien sie Fremde. Das, meine Damen und Herren, ist Enteignung von Staats wegen. ({3}) Das ist unsozial und unchristlich. Deshalb appelliere ich an Sie von der Union: Öffnen Sie Ihr Herz und gehen Sie fair mit den schwulen und lesbischen Paaren um, die sich in einer solchen Lebenssituation befinden. Durch die Gesetzgebung von Rot-Grün in diesem Bereich haben wir einen enormen gesellschaftlichen Fortschritt eingeleitet: Die Akzeptanz schwuler und lesbischer Lebensgemeinschaften ist enorm gewachsen. In ganz bürgerlichen und ländlichen Gebieten werden Lebenspartnerschaftszeremonien gefeiert. Auch die Familien, die Kollegen und die Nachbarn nehmen daran teil. Niemand stört sich oder regt sich auf. Ich bin stolz auf unser Land, dass es diese tolerante Entwicklung genommen hat, ({4}) die, als wir Grüne diese Debatte im Jahr 1989 angestoßen haben, von vielen nicht für möglich gehalten wurde. Auch beim Adoptionsrecht haben wir einiges erreicht. In der letzten Wahlperiode sind wir den ersten Schritt zur Stiefkindadoption gegangen. Wir waren uns sicher, dass die Aufregung, die von vielen befürchtet wurde, ausbleiben und dieses Vorhaben gesellschaftlich akzeptiert würde. So ist es auch gekommen. Vor einigen Tagen hat sogar der Bundespräsident deutlich gemacht, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften und Familien mittlerweile eine Selbstverständlichkeit sind. Am 18. Januar dieses Jahres hat er gesagt: Kinder auf das Leben vorzubereiten, partnerschaftliche Lebensentwürfe zu verwirklichen, das kann in ganz unterschiedlichen Strukturen gelingen: in der Ehe, in nicht ehelichen und auch gleichgeschlechtlichen Familien, in Patchwork- oder Einelternfamilien. Das zeigt, wo wir inzwischen mit diesem Thema angekommen sind: mitten in der Gesellschaft. Deshalb können wir jetzt beim Adoptionsrecht den nächsten Schritt wagen und die volle Gleichstellung von Lebenspartnerschaften und Ehepaaren in Angriff nehmen. Denn bei solchen Diskussionen ist es immer wichtig, die Mehrheit der Gesellschaft diskursiv mitzunehmen und die eigenen Überzeugungen ins Land zu tragen. Das ist uns bei diesem Thema eindeutig gelungen. ({5}) Meine Damen und Herren, ich nenne Ihnen einen weiteren Indikator dafür, dass der Fortschritt nicht aufzuhalten ist: Als Rot-Grün dieses Gesetz im Jahre 2000 auf den Weg brachte, waren wir noch relativ allein; die anderen Fraktionen haben uns aus unterschiedlichen Gründen nicht unterstützt. Der Kollege Westerwelle hat in seiner Rede seinerzeit vorgetragen, unser Gesetzentwurf sei verfassungswidrig, weil durch ihn der besondere Schutz von Ehe und Familie beschädigt werde. ({6}) Aber wie man an dem Antrag, den die FDP-Fraktion heute vorgelegt hat, sehen kann, hat hier ein Meinungswandel stattgefunden. Ich halte es in diesem Zusammenhang mit Lukas 15, Vers 7: „Im Himmel ist mehr Freude über einen reuigen Sünder als über 99 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.“ ({7}) Deshalb ist es gut, dass wir heute eine breite Mehrheit dafür haben. Es wäre schön, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wenn Sie in den beiden Ländern, in denen Sie mitregieren, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, die Standesämter endlich für schwule und lesbische Paare öffneten, wenigstens landesrechtlich, bis wir das mit dem Lebenspartnerschaftsgesetzergänzungsgesetz bundesrechtlich regeln.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Beck, kommen Sie bitte zum Schluss!

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dort sind Sie in der Verantwortung und dort können Sie landespolitisch zeigen, was der Antrag, den Sie heute hier im Bundestag gestellt haben, für Sie bedeutet. Lassen Sie uns bei diesem Thema zusammenarbeiten und für eine entsprechende Mehrheit hier im Hause sorgen. Ich glaube, dann können wir den Bundesrat auch davon überzeugen, noch einmal nachzudenken über das, was er 2000/2002 nicht gewollt hat, und ob er sich den gesellschaftlichen Realitäten nicht stellen will.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bedanke mich für Ihre Geduld. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Granold von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Beck, ich kann Ihre Wahrnehmung nicht teilen. Über den Himmel möchte ich mich jetzt nicht äußern, aber ich glaube, die Wahrnehmung in Deutschland ist eine andere. Aber lassen Sie mich der Zeit wegen gleich zum Thema kommen: Wir befassen uns heute erneut mit den eingetragenen Lebenspartnerschaften. Gerade vor einem Jahr haben wir es zuletzt getan. Damals hat die Verabschiedung des Gesetzes ohne die Stimmen der CDU/ CSU stattgefunden. Wir waren vehement dagegen, insbesondere dass die Stiefkindadoption als Kernstück in das Gesetz aufgenommen werden sollte. Wir haben uns auch im Jahre 2001, als das eigentliche Gesetz geschaffen wurde, dagegen gewandt, und nicht umsonst wurde das Bundesverfassungsgericht damit befasst. 2002 hat es entschieden - der Inhalt ist hinlänglich bekannt -: Die Rechte und die Pflichten der eingetragenen Lebenspartnerschaft können vom Gesetzgeber gleich denen der Ehe festgelegt werden. Wir als Union akzeptieren diese Entscheidung. Die Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts im Jahre 2004 ist nun seit dem 1. Januar 2005 in Kraft. Damit wurden weitere rechtliche Ausgestaltungen vorgenommen, die wir auch nicht akzeptiert haben: Im Wesentlichen wurden Unterhaltspflichten begründet - Herr Beck hat es ausgeführt -, also die Gleichstellung mit der Ehe. Das eheliche Güterrecht, der Versorgungsausgleich, das Verlöbnis wurden eingeführt und vieles andere mehr. Wir haben dagegen gestimmt, zum einen weil die Regelungen aus dem Familienrecht eins zu eins in das Lebenspartnerschaftsrecht übernommen wurden - obwohl im Familienrecht bekanntermaßen erheblicher Reformstau besteht - und weil, viel gravierender, die Stiefkindadoption eingeführt wurde; sie war und ist für die Union völlig inakzeptabel. ({0}) Aber darauf möchte ich gleich zurückkommen. Zunächst möchte ich mich mit den Lebenspartnerschaften selbst befassen. Ich muss sagen, wir leben in einer Zeit, in der sich die Lebensentwürfe geändert haben, in der viele neuartige Verbindungen eingegangen werden. Weil in diesem Zusammenhang der Bundespräsident zitiert wurde, will ich klarstellen: Der Bundespräsident hat lediglich beschrieben, in welch unterschiedlichen Lebensentwürfen Menschen in Deutschland, auch mit Kindern, leben. ({1}) Seine Situationsbeschreibung bietet keine Legitimation für ein Recht auf Adoption. ({2}) Ich denke, wir alle begrüßen es, wenn sich Menschen dazu entschließen, füreinander einzustehen und einander Unterhalt zu gewähren. Wir unterstützen das - zumal damit eine Entlastung der Gemeinschaft einhergeht, zum Beispiel wenn keine Sozialleistungen gewährt werden müssen. ({3}) Nachdem nun Rechte und Pflichten der Lebenspartnerschaften begründet worden sind, müssen wir ein Stück weit Anpassungen vornehmen; insofern geben wir Ihnen Recht, Kollegen von der FDP und von Bündnis 90/Die Grünen. Diese Anpassungen betreffen das Steuerrecht, das Erbschaftsteuerrecht und auch das Beamtenrecht. Es gibt auch entsprechende Entscheidungen der Gerichte, durch die wir zu solchen Anpassungen aufgerufen sind. Wir müssen uns bei den Beratungen in den Ausschüssen eingehend damit befassen, in welchem Umfang hier Anpassungen vorgenommen werden müssen. ({4}) Wenn wir die Gleichstellung vorantreiben, müssen wir aber auch Privilegien angehen. Ich denke zum Beispiel an das BAföG, bei dem es eine Bevorzugung der Lebenspartnerschaften gibt. Auch hier müssen dann Korrekturen vorgenommen werden. Sie haben die unterschiedliche Zuständigkeit für die Begründung der Lebenspartnerschaften angesprochen: die Standesämter bzw. die Notariate. Das war eine Länderentscheidung. Es gibt aufgrund des Vorhandenseins der Strukturen und Daten gute Gründe dafür, das Standesamt zu favorisieren. Gute Gründe sprechen aber auch für die Wahl des Notars. Diese haben die Bayern angeführt. Die Bayern sehen die Lebenspartnerschaft als ein Aliud zur Ehe, ({5}) demzufolge müsse es erlaubt und möglich sein, zu differenzieren, ohne zugleich vorgeworfen zu bekommen, man stigmatisiere und diskriminiere. Wir sollten über die Frage der Zuständigkeit in Ruhe sprechen. Wir sind gesprächs- und kompromissbereit was die Frage des Steuerrechts angeht - das habe ich schon gesagt -, aber nicht, was den Bereich der Adoption betrifft. Hier ist eine Grenze zu ziehen. Diese Grenze wird von der Union auch nicht überschritten. Wir haben uns damals massiv gegen die Stiefkindadoption ausgesprochen. Bayern hat in dieser Frage das Bundesverfassungsgericht angerufen, das, wie Sie wissen, noch nicht darüber befunden hat. Bevor unser höchstes deutsches Gericht nicht entschieden hat, sollten wir in diesem Haus kein Gesetz mit noch weitergehenden Regelungen, nämlich der vollen Adoption, verabschieden. Das ist nicht lauter. Wir sollten die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwarten. ({6}) Darüber hinaus gibt es, wie Sie wissen, auf europäischer Ebene ein Übereinkommen, das besagt, dass Adoptionen nur verheirateten Paaren erlaubt sind. Wenn Sie das Übereinkommen nicht akzeptieren, weil sich die Situation geändert habe, dann sollten wir den Weg im europäischen Kontext gehen und dort, wo man zuständig ist, darüber diskutieren, ob das geändert werden muss. Aber dies über ein nationales Gesetzgebungsorgan einzuführen, wie Sie das gerne möchten, ist der falsche Weg. Wir sollten Europa als eine Rechts- und Werteeinheit sehen und sollten hier zu einer Entscheidung kommen. Das Lebenspartnerschaftsgesetz muss bei Ihnen einen sehr hohen Stellenwert haben. Wir haben uns 2001 damit befasst, haben 2004 darüber debattiert und beschäftigen uns heute wieder damit, obwohl wir in diesem Land drängende Probleme haben; ich denke nur an die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. ({7}) Stattdessen müssen wir uns wieder damit befassen. Man hätte erst einmal Ruhe einkehren lassen müssen. Es gibt - das war in der letzten Beratung unstrittig weder in Deutschland noch in Europa noch weltweit Erhebungen darüber, wie sich das Leben in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft auf die Kinder auswirkt. Wir sollten erst einmal solche Erhebungen durchführen und die Ergebnisse abwarten, bevor wir solch weit reichende Schritte wie die Einführung der vollen Adoption gehen. ({8}) Das Bundesverfassungsgericht hat die eingetragene Lebenspartnerschaft als zulässig neben dem Institut der Ehe anerkannt. Es hat zugelassen, dass Lebenspartner untereinander Rechtsbeziehungen aufnehmen können. Das gilt aber nicht in Bezug auf Dritte. Dritte sind Kinder. Kinder haben keine Lobby. Kinder müssen die Entscheidungen, die von Erwachsenen für sie getroffen werden, akzeptieren, und das ein Leben lang. ({9}) Eine Adoption reicht über die Volljährigkeit hinaus. Kinder, auch adoptierte Kinder, werden zum Beispiel mit Unterhaltslasten gegenüber den Eltern konfrontiert. Die Rechte der Kinder und das Kindeswohl müssen an oberster Stelle stehen. ({10}) Wir waren uns in diesem Hause einig, als wir 1998 die Kindschaftsrechtsreform durchgeführt haben, dass das Kindeswohl für uns an oberster Stelle steht. ({11}) Das sehen wir bei der Volladoption nicht als gewährleistet an. Jedes Kind hat ein Recht auf Vater und Mutter, ein Recht darauf, in einer gesicherten Rechtsbeziehung leben zu können und vom Staat geschützt zu werden. Ich verweise auf Art. 6 des Grundgesetzes. Die Union steht nicht alleine da. Wenn wir mit Vertretern von Verbänden und Kirchen, mit Fachleuten und Psychologen sprechen, dann können wir stets hören: Den Kindern muss die Möglichkeit gegeben werden - insofern muss der Staat handeln -, sich frei zu entfalten und ihrem Wohl entsprechend zu leben. Es ist eine Errungenschaft der 70er-Jahre, dass beim Adoptionsrecht die Interessen der Erwachsenen zurückgestellt und das Kindeswohl in den Vordergrund gestellt wurden. Mit der Einführung der Volladoption würden wir das Rad wieder ein Stück zurückdrehen. ({12}) Deshalb wird es mit der Union keine Adoption im Rahmen einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft geben. ({13}) Kinder, die heute schon in einer solchen Partnerschaft leben, sind ausreichend materiell und sozial abgesichert, sodass wir auch die Stiefkindadoption nicht benötigen. Aber warten wir die Entscheidung unseres obersten Gerichtes ab! Herr Kollege Beck, ich muss Ihnen sagen: Die frühere Vizepräsidentin dieses Parlaments, Frau Vollmer, hat sich hier in der letzten Debatte klar und eindeutig geäußert. Auch sie ist der Auffassung, dass die Stiefkindadoption den Interessen des Kindes nicht gerecht wird. Ich darf auch die Kollegin von Renesse zitieren, die sich in gleicher Weise geäußert und gesagt hat: Das Interesse der Lebenspartner, ihre Bindung durch ein Kind zu festiUte Granold gen und ein Stück weit mehr zu legitimieren, darf nicht im Vordergrund stehen. ({14}) Das Interesse und das Wohl des Kindes müssen im Vordergrund stehen. ({15}) In diesem Sinne bitte ich Sie, dass wir die Beratungen in den Fachausschüssen aufnehmen. Änderungen im Steuerrecht und Anpassungen in gutem Maße sind in Ordnung, eine Volladoption wird es mit der Union aber nicht geben. Vielen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin LeutheusserSchnarrenberger von der FDP-Fraktion.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte über die, die Verantwortung in unserer Gesellschaft übernehmen wollen, verantwortungsbewusst zu führen, heißt, dass nicht unterschiedliche Formen des Zusammenlebens gegeneinander ausgespielt werden. ({0}) Vielmehr muss jeder, der an seinem Platz und nach seiner Lebensvorstellung und Lebensweise bereit ist, Verantwortung für sich und andere in unserer Gesellschaft zu übernehmen, gefördert werden. Das brauchen wir mehr als derzeit. Wir müssen dazu ermuntern und hier die Debatten führen, damit sich niemand ausgegrenzt fühlt, dessen Lebensvorstellung vielleicht nicht einer möglichen Mehrheit in diesem Hause entspricht. ({1}) Ich denke, deshalb sollten wir diese Debatte auch heute hier führen. Es ist der richtige Zeitpunkt. In den letzten Jahren haben wir eine erhebliche Veränderung des gesellschaftlichen Klimas und damit einhergehend die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften erlebt. Ich kann mich noch an die Debatten hier im Deutschen Bundestag erinnern - es war damals noch in Bonn -, als es um die Abschaffung des § 175 Strafgesetzbuch gegangen ist. Die Fortschritte, die sich in der Folge in weiten Teilen der Bevölkerung entwickelt haben, waren doch nur möglich, weil die Politik den Mut hatte, hier voranzugehen und zu überzeugen. Sie hat dabei aber nicht gegen die Familie, die Ehe und die Alleinerziehenden argumentiert, sondern sie ist dafür eingetreten, dass für alle, die ihren Weg wählen, auch die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen werden, und zwar so, ({2}) dass Rechte und Pflichten in einem richtigen Verhältnis zueinander stehen. Da das im Zusammenhang mit der eingetragenen Partnerschaft bis heute noch nicht der Fall ist, haben wir als FDP diesen Antrag hier in den Bundestag eingebracht. Herr Beck, hier teilen wir Ihre Auffassung: Im Unterhaltsrecht, im Beamtenrecht und gerade auch im Steuerrecht - Stichwort: Freibeträge bei der Erbschaftsteuer - herrscht in weiten Teilen der Bevölkerung das Gefühl, dass hier diskriminiert wird. ({3}) Herr Beck, deshalb bitte ich Sie: Verdrehen Sie nicht die Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Debatte über gleichgeschlechtliche und eingetragene Partnerschaften. Wir als FDP haben immer dazu gestanden, dass wir den Zustand, den wir hier vor 20 Jahren hatten, als nicht richtig für eine offene plurale Gesellschaft angesehen haben. Wir haben immer dafür gekämpft. Bei manchen Wegen haben wir Zweifel gehabt, ob sie in der Form vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben würden. Wir wollten immer die Wege beschreiten, bei denen sicher war, dass das Bundesverfassungsgericht sie mitgehen würde. Das ist jetzt gelungen und erreicht worden. Ich denke, deshalb wäre es gut, wenn diejenigen, die sich jetzt für eine Weiterentwicklung einsetzen, nicht gegeneinander argumentieren, sondern zusehen würden, dass diese Überzeugung denjenigen gegenüber, die an dieser Weiterentwicklung noch Zweifel haben, gestärkt dargestellt wird und dass Bedenken ausgeräumt werden können. ({4}) Wir wissen, dass gerade das Thema Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Partnerschaften - Frau Granold, Sie haben es ja zu einem Schwerpunkt Ihrer Ausführungen hier gemacht - für manche oder auch für etliche in unserer Gesellschaft ein Problem darstellt. Ich denke, deshalb ist eines ganz entscheidend: Uns geht es bei dieser Forderung eines vollen Adoptionsrechts nicht darum, die Ehe mit Kindern, die Familie, zu schwächen, sondern darum, am Kindeswohl orientiert die Möglichkeit zu schaffen, dass es zu einer Adoption anstelle eines Lebens in einem Heim kommen kann, wenn zwei Partner oder Partnerinnen das wollen und wenn es für das Kindeswohl das Beste ist. ({5}) Dies zu ermöglichen, ist ein richtiger Weg. Wir wissen, dass das auch noch diskutiert werden muss. Wir wissen, dass es nicht nur in nordeuropäischen, sondern auch in einigen anderen europäischen Staaten Erfahrungen mit einem Adoptionsrecht für Lebenspartnerschaf1238 ten gibt. Wir wissen, dass unterschiedliche Untersuchungen existieren, in denen zum Teil Bedenken formuliert werden. Umso wichtiger ist es, dass wir als Politiker unsere Aufgabe, zu gestalten, in dieser Gesellschaft wahrnehmen und auch dieses Thema sehr sachlich und argumentativ-offensiv angehen, anstatt nur auf das zu reagieren, was in anderen europäischen Staaten passiert und was wir letztendlich für richtig halten. Deshalb haben wir diesen Punkt in unseren Antrag, der Ihnen heute zur Beratung vorliegt, aufgenommen. Wir hoffen sehr, dass auch Teile der Koalition, obwohl in Ihrer Koalitionsvereinbarung zu diesem Thema kein Wort steht, einsehen, dass eine Weiterentwicklung und eine weitere Gesetzgebung in diesem Haus sehr wohl notwendig sind. Wir hoffen, Sie davon in den Ausschüssen überzeugen zu können. Recht herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Christine Lambrecht von der SPD-Fraktion.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kaum ein Thema wie dieses zeigt, wie entwicklungsfähig politische Entscheidungsfindungen in manchen Bereichen sein können. Wir haben uns in mehreren Legislaturperioden mit dem Thema Lebenspartnerschaften beschäftigt und in ganz unterschiedlichen Konstellationen gekämpft. Ich habe mit Überraschung zur Kenntnis genommen, dass sich die FDP hierfür eingesetzt und gekämpft hat. Ich muss sagen: Mit Verlaub, all das, was heute in dem Antrag der Grünen und auch in dem Antrag der FDP gefordert wird, könnte bis auf die Volladoption schon längst Realität sein, könnte schon seit 2001 für all die Betroffenen, deren Lebensumstände Sie eben, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, angesprochen haben, einen Fortschritt in ihrer persönlichen Lebenssituation bedeuten. Man sollte ganz kurz einen Blick zurückwerfen, warum das Ganze bis jetzt noch keine Realität ist. Das liegt nicht daran, dass es nicht in unserem Koalitionsvertrag steht. Nein, der Grund ist, dass es in den letzten Jahren zahlreiche Widerstände gab. Ich erinnere daran, dass im Jahre 2001 ein umfassender Gesetzentwurf vorlag, der bis auf die Adoption genau das enthielt, was hier jetzt gefordert wird. Was ist passiert? Hier im Deutschen Bundestag hat Rot-Grün dieses Gesetz mit seiner Mehrheit beschlossen. Die Stimmen dagegen kamen aus der CDU/CSU; Frau Granold hat es dargestellt. Es gab aber auch Gegenstimmen - das war sehr kämpferisch - aus der FDP. ({0}) Sie haben mit der Begründung gegen das Gesetz gestimmt, Verfassungsspezialisten - selbst ernannte - hätten erklärt, dieses Gesetz sei mit dem in der Verfassung garantierten Grundrecht auf den besonderen Schutz der Ehe nicht zu vereinbaren. Es folgte dann ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Die selbst ernannten Verfassungsexperten mussten dann zur Kenntnis nehmen, dass dieses Gesetz sehr wohl mit dem besonderen Schutz von Ehe und Familie in Zusammenhang zu bringen ist. Es kam zu einer Wandlung. Die FDP hat dann erklärt, dass sie dieses Gesetz akzeptiert. Im Jahre 2005 war sie auch bereit, die Änderungen mitzutragen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Lambrecht, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Westerwelle.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Frau Kollegin, ich möchte die Frage stellen, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass die juristischen Zweifel, die über den Weg - nicht über das Ziel - bestanden haben, von führenden und sehr qualifizierten Juristen der sozialdemokratischen Fraktion jahrelang vertreten wurden, bis das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorlag? Ich erinnere mich beispielsweise an eine der klügsten Juristinnen dieses Hauses, nämlich Frau von Renesse, die als eine kompetente Familienrechtlerin in sehr ähnlicher Weise argumentiert hat und mit der wir juristisch sehr kontrovers über den Weg gesprochen haben. Unter den Juristen gilt der Satz „Roma locuta, causa finita“. Nachdem das Verfassungsgericht entschieden hat, ist dieser Streit beendet. Aber es muss doch zulässig sein, dass man über juristische Wege unterschiedliche Ansichten vertritt, zumal so kompetente Beistände wie Frau von Renesse in unserer Gesellschaft waren.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Westerwelle, Frau von Renesse mag unter Umständen über den Weg diskutiert haben. Sie hat aber 2001 im Deutschen Bundestag eine klare Entscheidung für das Gesetz getroffen. Das können Sie nachlesen. Frau von Renesse hat dem Gesetzentwurf selbstverständlich zugestimmt und insofern dann auch den Weg akzeptiert. Dass unter Juristen diskutiert wird, bis man zu einer Lösung kommt, ist begriffsnotwendig. So sind die Juristen nun einmal. Auch ich zähle mich dazu. Aber in diesem Fall haben - auch bei Frau von Renesse - die besseren Argumente gesiegt. Sie haben allerdings nicht nur den juristischen Weg abgelehnt. Sie haben nicht nur das Verfahren abgelehnt, sondern das ganze Gesetz, ({0}) das im Bundesrat auch von den Ländern, in denen die FDP an der Regierung beteiligt ist, abgelehnt wurde. Daran ist die Umsetzung des Gesetzentwurfs gescheitert.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Lambrecht, Herr Geis und Herr Beck haben sich zu einer Zwischenfrage gemeldet. Sind Sie bereit, beide zu beantworten?

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

So kommt man zu mehr Redezeit.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Dann bitte ich aber darum, es bei diesen Fragen bewenden zu lassen. - Herr Geis, bitte schön.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, dass sich der damalige Innenminister Schily ({0}) 2001 fraktionsintern wie auch extern expressis verbis - also ausdrücklich - gegen dieses Gesetz ausgesprochen hat?

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mir ist aus diesem Bereich vieles bekannt, weil ich dem Bundestag seit der 14. Legislaturperiode angehöre und dieses Gesetzesvorhaben über die Jahre hinweg begleitet habe. Wie Herr Westerwelle und viele andere schon ausgeführt haben, bestehen unter Juristen manchmal Zweifel. Man muss diskutieren, bevor man den richtigen Weg findet. Aber auch ich kann mich daran erinnern, dass der Gesetzentwurf vom damaligen Innenminister Schily bei der Beschlussfassung mitgetragen wurde. Wie gesagt gab es Diskussionen im Vorfeld. Aber es gab eine klare Beschlussfassung für diesen Gesetzentwurf.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kollege Beck, bitte schön.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Lambrecht, teilen Sie meine Einschätzung, dass dem Kollegen Westerwelle womöglich sein Gedächtnis ein Schnippchen geschlagen hat, wenn er Frau von Renesses Position so wiedergibt, wie er es getan hat? Denn ich erinnere mich daran, dass Frau von Renesse im Bundestag und auch gemeinsam mit mir vor dem Bundesverfassungsgericht immer die Auffassung vertreten hat, dass die eingetragene Partnerschaft gleichgestellt werden kann, ({0}) weil sie einen anderen Adressatenkreis als das familienrechtliche Institut der Ehe hat und deshalb die Ehe durch eine Gleichstellung in keiner Weise beeinträchtigt werden kann. ({1}) Teilen Sie auch meine Einschätzung, dass es sehr zu begrüßen ist, dass das Bundesverfassungsgericht genau diesen Tenor in seinem Urteil ausdrücklich bestätigt und deshalb dem Gesetzgeber die Freiheit zur vollständigen Gleichstellung gegeben hat?

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Beck, ich teile Ihre Einschätzung nicht nur, sondern ich darf sie noch etwas ergänzen. Wer die Kollegin Renesse gekannt hat, weiß, dass die Umsetzung des Gesetzes ihr eine Herzensangelegenheit war. Dieses war ihr in den letzten Jahren ihrer politischen Tätigkeit sehr wichtig. Daran hat sie viele Jahre gearbeitet. Insofern war es der falsche Ansatz, Frau von Renesse zu erwähnen. Aber wie gesagt: Im Vorfeld sind Diskussionen wichtig. Aber dann ist von uns - von Rot-Grün - die richtige Entscheidung getroffen worden. ({0}) Ich möchte noch kurz auf den weiteren Weg zurückkommen. Ich freue mich - ich habe das Signal verstanden -, dass aufseiten der CDU/CSU die Bereitschaft vorhanden ist, zum Thema Adoption noch ein Urteil abzuwarten. So viel Zeit haben wir sicherlich noch. Ich freue mich auch, dass zumindest die Bereitschaft vorhanden ist, auch andere - insbesondere steuerrechtliche Regelungen anzugehen, die wir schon lange beabsichtigt haben. Ich freue mich deshalb auf die Beratungen. Frau Kollegin Granold, ich möchte noch einmal auf das Thema Adoption zu sprechen kommen. Ich glaube, es ist falsch, den Eindruck zu erwecken, dass die Stiefkindadoption durch gleichgeschlechtliche Lebenspartner anders ausgestaltet wäre als Adoption im Allgemeinen. Bei jeder Adoption in Deutschland - das sollten gerade Sie als Familienrechtlerin wissen -, egal durch wen, steht immer das Kindeswohl an erster Stelle. Daran werden wir hoffentlich auch niemals etwas ändern. Denn das Kindeswohl ist maßgeblich. Wenn ein Kind Schwierigkeiten damit hat, dass es vom gleichgeschlechtlichen Lebenspartner oder von der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerin adoptiert werden soll, dann wird es in Deutschland nicht zu einer Adoption - auch nicht zu einer Stiefkindadoption - kommen, weil das nicht die Lebenspartner allein entscheiden, sondern auch die zuständigen Behörden wie Jugendamt, Jugendgericht und Familiengericht mit eingeschaltet sind. Es ist auch gut und richtig, dass nicht die Interessen der Lebenspartner an erster Stelle kommen, sondern dass das Wohl des Kindes im Vordergrund steht. Aber wenn die Partner die Adoption wollen, wenn sie dem Wohl des Kindes entspricht und der leibliche Vater oder die leibliche Mutter ihr zustimmt - diese Voraussetzung muss zusätzlich erfüllt sein -, dann kann ich mir keinen anderen Grund mehr vorstellen, die Adoption zu verweigern, als ideologische Gründe. Die Adoption wird, wenn es denn dazu kommen sollte, so geregelt sein, dass immer das Wohl des Kindes im Vordergrund steht. Nichts anderes dürfen und werden wir zulassen. ({1}) Ich bin froh, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, dass ein ganz prominenter Politiker aus Ihren Reihen, Bundespräsident Köhler - Herr Beck hat schon auf ihn verwiesen -, schon einen Schritt weiter ist. Er akzeptiert es nicht nur, sondern schätzt es durchaus. Frau Granold, Herr Köhler hat in seiner Rede vor der Evangelischen Akademie Tutzing keineswegs nur den Sachstand beschrieben. Er hat vielmehr Folgendes gesagt - ich habe mir die Rede ausgedruckt, weil ich sie nicht nur im Hinblick auf das jetzt zur Diskussion stehende Thema interessant fand -: Kinder auf das Leben vorzubereiten, partnerschaftliche Lebensentwürfe zu verwirklichen, das kann in ganz unterschiedlichen Strukturen gelingen: in der Ehe, in nicht ehelichen und auch gleichgeschlechtlichen Familien, in Patchwork- oder Einelternfamilien. Wenn er von „gelingen“ spricht, dann ist das mehr als nur eine neutrale Beschreibung des Sachverhalts, denn Herr Köhler schätzt in seiner Rede die Erfolgsaussichten und die Konsequenzen der einzelnen Lebensentwürfe ein. Vielleicht sollten Sie sich einen Ruck geben und sich in Richtung Ihres doch recht fortschrittlichen Bundespräsidenten bewegen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ich finde, Ihr Appell ist gut und richtig, bei der Diskussion über dieses sensible Thema den Wahlkampf ein Stück weit außen vor zu lassen und eine Fehlerdiskussion zu ermöglichen. Gerade weil dieses Thema so sensibel ist, ist es gut, wenn hier im Haus in vielen Punkten Einigkeit besteht. ({0}) Heute liegen uns zwei Anträge vor, die auf eine notwendige Nachbesserung des Lebenspartnerschaftsrechts zielen. Den eingetragenen Lebenspartnerschaften, in denen die Partner die gleichen Pflichten haben wie in einer Ehe, sollen mehr Rechte zugestanden werden. Das betrifft das Steuerrecht, das Besoldungs- und das Beamtenversorgungsrecht, die bundeseinheitliche Behördenzuständigkeit - in einigen Bundesländern kann man eine Lebenspartnerschaft noch immer nicht beim Standesamt eintragen lassen; das ist zwar nur eine Formalie, aber eine wichtige - und das Adoptionsrecht. Wir halten es für richtig, wenn sich aus gleichen Pflichten auch gleiche Rechte ergeben. ({1}) Deshalb unterstützen wir die Richtung der beiden Anträge grundsätzlich und werden entsprechende Vorschläge in die Ausschussberatungen einbringen. Für mich stellt sich allerdings die Frage: Wenn der eingetragenen Lebenspartnerschaft letztendlich die gleichen Rechte zugestanden werden sollen wie der Ehe, warum verkürzt man dann nicht das Ganze und öffnet die Ehe für gleichgeschlechtliche Partnerschaften? Es könnte dann auch schwule oder lesbische Ehen geben. ({2}) Mit dem Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft ist tatsächlich etwas gelungen, was über die unmittelbare Verbesserung der Situation der Betroffenen hinausgeht. Insbesondere bei binationalen Paaren ist die Akzeptanz für die Lebensweise von schwulen und lesbischen Partnerschaften erhöht worden. In diesem Sinne hat sich die Regelung als richtig erwiesen. Aber sie ist unzureichend, wenn wir nun stehen bleiben, selbst wenn es uns im nächsten Schritt gelingen sollte, Nachbesserungen vorzunehmen. Ich möchte kurz aus dem Antrag der FDP zitieren: Alle Lebensgemeinschaften, in denen die Partner füreinander Verantwortung übernehmen, sind wertvoll und müssen vom Staat unterstützt werden. Das ist richtig. Aber es ist auch richtig, dass nicht alle Lebensweisen so organisiert sind, dass die Menschen in einer Ehe oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben. Vielmehr gibt es darüber hinaus noch andere Lebensweisen. Es gibt Alleinerziehende, Konstellationen, in denen Geschwister zusammenleben - vielleicht noch mit Kindern -, Patchworkfamilien, zum Teil verheiratet, zum Teil unverheiratet. Heutzutage ist alles recht bunt. Daraus ergibt sich, warum die PDS den Gesetzentwurf zuerst abgelehnt hat. Denn wir haben hier letztendlich eine Ausweitung der Privilegierung, nämlich von einer bestimmten Form der Ehe auf eine andere Form. Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass unsere Zielstellung die Entprivilegierung sein muss, um so die Förderung von Familien zu erreichen. Familie ist da, wo Nähe ist, wo Verantwortung füreinander und Verantwortung für Kinder übernommen wird. ({3}) Wir dürfen nicht aus dem Blick verlieren, dass es in dieser Beziehung noch viele Ungerechtigkeiten gibt, die nicht dadurch zu beseitigen sind, dass wir uns nur auf die Ehe und die eingetragene Lebenspartnerschaft fokussieren. Wir müssen weiter gehen. Wir können das, was wir jetzt anstreben, durchaus auch mit anderen Maßnahmen begleiten, zum Beispiel mit dem Kampf für die weitere Individualisierung des Steuerrechts. Wir sagen: Es geht den Staat nichts an, in welcher Form Menschen miteinander leben. Sie sollen ihre Steuern entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bezahlen. Wenn besondere Leistungen erbracht und beispielsweise Kinder erzogen werden, dann hilft der Staat. Dann ist es letztendlich auch egal, in welcher Lebensform die Kinder aufwachsen. Die Hauptsache ist, sie werden gut und verantwortungsvoll betreut und erzogen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Kahrs von der SPD-Fraktion.

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als wir dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben, habe ich es für mich noch einmal rekapituliert. Für mich sind das Lebenspartnerschaftsgesetz und auch das Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz wichtig. Ich glaube, dass diese Gesetze nicht für alle in diesem Hause die gleiche Wichtigkeit haben. Das hat auch etwas mit der Betroffenheit zu tun. Ich glaube, dass das Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz eine Weiterführung und eine Vollendung des Lebenspartnerschaftsgesetzes ist. Ich bin froh, dass die Einigkeit in diesem Hause, was dieses Thema angeht, deutlich zunimmt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die Rede des Bundespräsidenten haben uns geholfen, dieses Thema zu diskutieren und eine Akzeptanz in der Gesellschaft zu gewinnen. Diese Diskussion ist wesentlich. Es ist nicht nur wesentlich, im Deutschen Bundestag Gesetze zu beschließen, sondern sie müssen in der Bevölkerung auch ankommen, verstanden und gelebt werden. Herr Kollege Beck, der das Thema hier vertritt, kommt aus Köln. Ich selber komme aus Hamburg-Mitte. Ich behaupte, da ist das kein Problem. Dort gibt es eine andere Lebenswelt und ein Verständnis. Es gibt aber auch Regionen in unserer Republik, wo dieses Thema nicht so präsent ist und nicht so diskutiert wird. Ich glaube, dass die Diskussion hier im Parlament hilft und dass die Verfassungsgerichtsurteile geholfen haben. Die Diskussion heute hat gezeigt, dass sich die Mehrheit hier im Parlament dem Thema nähert. Ganz besonders dankbar bin ich der Kollegin Granold für das, was sie gesagt hat. Sie hat gesagt: Wir begrüßen es, dass Menschen füreinander einstehen. - Das ist zu einem großen Teil das, was wir gesetzlich geregelt haben. Sie hat auch erklärt, dass Sie zu Anpassungen im Steuerund Beamtenrecht und in anderen Bereichen bereit sind. Wenn das in den Ausschüssen diskutiert wird, dann ist das nicht für alle in der Gesellschaft selbstverständlich. Deswegen ist der Diskussionsprozess in den Ausschüssen, den wir in der Gesellschaft weiterführen müssen, etwas, was im Ergebnis dazu führen kann, dass das Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz in die Realität umgesetzt wird. Ich möchte, dass das stattfindet. Auf diesem Weg müssen wir alle gemeinsam gehen. Es bringt nichts, wenn wir uns gegenseitig vorhalten, dass wir irgendwann einmal etwas gesagt haben, weil wir die Dinge damals anders als heute gesehen haben. Es ist doch das Ziel der Übung, dass man sich bewegt. Im Koalitionsvertrag steht kein Wort zu diesem Thema. Das ist richtig. Das liegt daran, dass es zwischen den beiden Koalitionspartnern unterschiedliche Ansichten zu diesem Thema gibt. Wir haben aber nicht gesagt, dass wir etwas nicht machen, sondern wir haben die Möglichkeit offen gelassen - das ist manchmal so in Koalitionen -, dass wir uns jeweils gegenseitig überzeugen. In diesem Prozess sind wir. ({0}) - Herr Kollege Westerwelle, diesen Prozess haben Sie hinter sich. Das ist ganz positiv. Jetzt müssen Sie anderen auch die Möglichkeit geben. ({1}) Darüber würde ich auch nicht lachen. ({2}) Schließlich hat es bei Ihnen lange genug gedauert. Ich finde es wichtig, dass die gesellschaftliche Diskussion hier im Parlament ankommt. Bei der FDP ist sie angekommen. Das haben wir festgestellt. Jetzt muss man den Koalitionspartnern erlauben, dieses Thema inhaltlich zu diskutieren. Diese Frage ist nicht nur von rechtspolitischer, sondern auch von gesellschaftlicher Relevanz. Sie wird in Hamburg-Mitte, wo ich wohne, vielleicht anders gesehen als in anderen Gegenden dieser Republik. Meine Bitte ist einfach, dass wir die Möglichkeit, die der Koalitionsvertrag uns gibt - nämlich uns gegenseitig zu überzeugen -, nutzen und dass wir aufeinander zugehen, um bei diesem Thema voranzukommen. Mir persönlich wäre das sehr wichtig. Ich glaube, dass es für die Gesellschaft gut wäre. Ich glaube, dass es ein Gewinn für unser Land wäre. Deswegen sollten wir das anpacken. Glückauf! ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 16/497 und 16/565 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 sowie den Zusatzpunkt 11 auf: 19 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({0}), Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Sonderprogramm „Kommunale Brückenbauwerke“ auflegen - Drucksache 16/261 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Bestandssanierung der Verkehrsinfrastruktur ausweiten und effektive Sanierungsstrategie vorlegen - Drucksache 16/553 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2}) Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Horst Friedrich von der FDP-Fraktion. ({3})

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über einen Antrag, der für einige zwar unbedeutend erscheint, der aus meiner Sicht aber ein wirklich großes Problem anspricht, nämlich die kommunale Finanzausstattung und die daraus abgeleiteten Pflichten. Wir sollten darüber im Hinblick auf Ereignisse wie die in Bad Reichenhall in einer Art und Weise diskutieren, die ohne Druck und Polemik auskommt und die die Problematik der Situation deutlich macht. Was ist der Hintergrund? Im Zuge der Bahnreform 1994 - sie ist mir sehr bekannt - wurden im Rahmen des Eisenbahnkreuzungsgesetzes Brücken, die Straßen über Schienenwege führen, in die kommunale Baulast gegeben. Das war ordnungspolitisch und sachlich richtig und das bleibt auch so. Das Problem ist: Durch Entscheidungen des Bundesgesetzgebers ist die Finanzbasis der Kommunen zwischenzeitlich drastisch erodiert. In dieser Situation müssen wir konzedieren: Kommunen erkennen, dass in Brücken in ihrer Baulast investiert werden muss, dass man sie unter Umständen komplett erneuern muss. Viele Kommunen sagen aber: Wir haben dazu nicht mehr die nötigen finanziellen Mittel; wir müssen uns weiter verschulden. Das scheitert teilweise daran, dass nachgeordnete Behörden diesen Haushalten keine Genehmigung mehr erteilen. Südlich von Bayreuth, in der Nähe meines Wohnsitzes, gibt es eine Tausendseelenkommune. Diese Kommune müsste einen höheren Grundsteuerbetrag verlangen als die benachbarte Stadt Bayreuth, die über 70 000 Einwohner hat. So können doch nicht die Lösungen der Probleme der Kommunen aussehen. ({0}) Was ist die Alternative? Der Bürgermeister erkennt natürlich, dass er seiner Verkehrssicherungspflicht nachkommen muss. Seine einzige Chance ist, eine solche Brücke zu sperren. In der heutigen Zeit kann so doch nicht die Antwort einer Gesellschaft aussehen, die für sich reklamiert, Mobilität zu ermöglichen. Die bereits erwähnte Tausendseelenkommune südlich von Bayreuth hat drei Brücken in der Baulast. Würden diese Brücken gesperrt, könnten zwei Ortsteile dieser Kommune kaum noch erreicht werden; denn um dorthin zu kommen, muss man über diese Brücken fahren. Wenn die Kommunen im Regen stehen gelassen werden, dann sind wir unserer Verantwortung nicht gerecht geworden. Auch wenn die Gewerbesteuereinnahmen der Kommunen mittlerweile wieder etwas kräftiger sprudeln, so ändert das - das kann man den Äußerungen von Herrn Ude, des Präsidenten des Deutschen Städtetages, entnehmen - an der Gesamtsituation der kommunalen Haushalte nichts Wesentliches. Nach wie vor sind die kommunalen Haushalte durch Hartz IV und durch andere Regelungen nicht in der Lage, dieses Problem zu lösen, zumindest nicht vorausschauend. Was haben wir deshalb vorgeschlagen, liebe Kolleginnen und Kollegen? Wir haben uns vorher bei der Bundesregierung sachkundig gemacht. Die Deutsche Bahn ist seit 1999 - das ist mittlerweile dokumentiert; ich habe eine noch längere Zeitreihe; danach ist das seit 1994 so - in aller Regel nicht in der Lage gewesen - mit einer Ausnahme -, das ihr vom Bundesgesetzgeber, von uns, zugestandene Geld für Investitionen auch tatsächlich auszugeben. Seit 1999 bis zum Jahresende 2005 sind das rund 1,5 Milliarden Euro gewesen. Der Vorschlag der FDP ist nun, dieses Geld, das die Bahn nicht ausgeben kann, in einem Sonderprogramm den Kommunen zur Verfügung zu stellen, damit sie es für Brückenbauwerke verwenden, die originär mit der Schiene zu tun haben, die nämlich andere Verkehrswege, auch kleinere Verbindungswege, die ebenfalls in kommunaler Baulast sind, über die Schiene führen. ({1}) Dazu kann man nun sagen: Das geht nicht, weil es nicht möglich ist, Kommunen von Bundesseite direkt zu finanzieren. - Ich meine, wenn der politische Wille vorhanden ist, dann kann man das lösen. Natürlich haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Koalition, jederzeit die Möglichkeit, das in einem Reflex abzulehnen. Dann ist der Antrag weg. Aber das Problem ist nicht weg. Das Problem kommunaler Eisenbahnbrücken ist auch nur ein Teil des Problems. Wir alle wissen: Im StraßenHorst Friedrich ({2}) baubericht steht einiges über den Zustand technischer Bauwerke. Mittlerweile sind 15 Prozent der technischen Bauwerke, überwiegend Brücken, in einem Zustand, der es zumindest in absehbarer Zeit notwendig macht, massiv Geld auszugeben. Auch dafür ist das Geld nicht vorhanden. Wenn es uns gelingt, in den Ausschussberatungen einen gemeinsamen Weg zu finden, um das Problem zu lösen, dann wäre ich auch bereit zu sagen: Das war nur eine Anregung. Wenn daraus etwas anderes wird, ist es auch in Ordnung. - Wichtig ist für mich die Lösung des Problems und nicht die parteipolitische Situation. In diesem Sinne freue ich mich auf die Ausführungen im Ausschuss. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Renate Blank von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Doch, Herr Kollege. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Horst Friedrich, die Verantwortung für die Brückenbauwerke ist schon seit langem klar geregelt. Wir haben von 1995 bis 1998 intensiv und mit Einbeziehung der Länder darüber diskutiert, wo die Verantwortung liegt. Auch die Sonderregelung für die neuen Bundesländer ist ausgelaufen. Deshalb gibt es klare Regelungen. Deshalb - Kollege Friedrich, nehmen Sie mir bitte nicht übel, wenn ich das sage - halte ich Ihren Antrag mit dem Ziel, ein Sonderprogramm „Kommunale Brückenbauwerke“ aufzulegen, für einen Schaufensterantrag im Blick auf die in der nächsten Zeit stattfindenden Kommunal- oder Landtagswahlen. ({0}) Wir lassen uns in der Fürsorge für die Kommunen von niemandem übertreffen. ({1}) - Selbstverständlich. ({2}) Herr Kollege Friedrich, wenn ich mich richtig erinnere, dann - hören Sie jetzt zu! - wurde von der FDP und uns in der damaligen Koalition am 25. Juni 1997 im Ausschuss für Verkehr ein Änderungsantrag der SPDFraktion zum Gesetzentwurf des Bundesrates im Zuge der Beratungen zum Eisenbahnkreuzungsgesetz abgelehnt - Sie haben ihn mit abgelehnt -, ({3}) nach dem neben dem Eisenbahnunternehmer der Bund die Hälfte der Sanierungskosten bei Brückenbauwerken tragen sollte. Die SPD hat damals den Änderungsantrag gestellt. Wir haben ihn seinerzeit gemeinsam abgelehnt. Sie haben damals mehr an die Haushaltslage des Bundes gedacht. Die Aussage „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ trifft auch voll auf die FDP zu. In der Opposition schaut man ein bisschen weniger aufs Geld und auf die Haushaltslage. Die ist aber leider sehr angespannt. ({4}) Mehr Geld steht nicht zur Verfügung ({5}) - das ist richtig; ich komme darauf zurück -, weshalb Sie in Ihrem Antrag fordern, dass die Mittel, die die DB nicht ausgegeben hat und die nicht abgerufen wurden, für das Sonderprogramm verwendet werden. Das klingt zunächst recht gut und auch einleuchtend. Ich bin sofort mit Ihnen einig, dass es eigentlich die Aufgabe der Deutschen Bahn AG ist, Mittel, die für Neuund Ausbaustrecken zur Verfügung gestellt werden, auch zu verbauen. In Ihrem Antrag schreiben Sie, dass sich die seit 1999 nicht abgerufenen Mittel auf rund 1,4 bis 1,5 Milliarden Euro belaufen. Ich sage, dass seit 1995 sogar rund 6 Milliarden Euro nicht verbaut wurden. Das Geld ist teils an den Finanzminister zurückgegangen, in Baukostenzuschüsse umgewandelt oder zum geringsten Teil auf andere Verkehrsträger umgeschichtet worden. Allein mit den seit 1999 nicht abgerufenen Mitteln hätte man locker die ICE-Trasse Nürnberg-Erfurt beginnen und zügig bauen, aber auch Ertüchtigungsmaßnahmen bei vielen anderen Strecken durchführen können. Es ist aber auch unsere Aufgabe, darauf zu achten, dass die Mittel für den Ausbau der Schieneninfrastruktur tatsächlich verbaut werden können. Eine Kontrolle im Laufe des Jahres halte ich daher für dringend notwendig und zwingend. ({6}) Liebe Kollegen von der FDP, Sie versuchen, als Retter der Kommunen aufzutreten. ({7}) Auf der einen Seite fordern Sie ein Sonderprogramm für die Kommunen, auf der anderen Seite wollen Sie, wenn ich richtig informiert bin, die Gewerbesteuer, die den Kommunen zugute kommt, abschaffen. Das passt irgendwo nicht zusammen. ({8}) Die Kommunen brauchen keine Sonderprogramme, sondern eine ordentliche Finanzausstattung. Dann können sie in Eigenverantwortung entscheiden, für welchen Zweck sie ihr Geld ausgeben wollen bzw. ausgeben müssen. Ich wundere mich natürlich schon, wenn ich höre, dass Sie so ein großes Herz für die Kommunen haben. In Rheinland-Pfalz ist ja Landtagswahlkampf. Dort sind Sie in der Regierung. Im Wahlprogramm der FDP von Rheinland-Pfalz sehe ich aber lediglich eine Forderung von 500 Millionen Euro für die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Blank, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Niebel.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, sehr geehrte Frau Kollegin. - Erinnern Sie sich gerade angesichts der Landtagswahlen, in deren Vorfeld viele Kolleginnen und Kollegen mit Sonntagsreden durch die Gegend ziehen, daran, dass die FDP-Bundestagsfraktion am Ende der letzten Legislaturperiode hier in diesem Hause einen Gesetzentwurf zur Festschreibung des so genannten Konnexitätsprinzips im Grundgesetz - also des Grundsatzes „Wer bestellt, bezahlt“ - eingebracht hat und dass bei der namentlichen Abstimmung außer der FDP-Bundestagsfraktion keine andere Fraktion in diesem Hause diesem Antrag gefolgt ist?

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, da Sie das erwähnen, muss ich Ihnen sagen, dass ich Ihren Antrag für überflüssig halte. ({0}) Sie fordern also in Rheinland-Pfalz nur 500 Millionen Euro mehr. Dort aber hätten Sie doch Ihr großes Herz für die Kommunen zeigen und ein Brückenbauprogramm in Ihr Wahlprogramm mit aufnehmen können. ({1}) Außerdem kritisiert die FDP doch immer den Haushalt - was ihr gutes Recht ist -, aber die nicht verbauten Mittel wollen Sie für die Straße einsetzen. Was wollen Sie nun eigentlich? ({2}) Es steht nicht unendlich viel Geld zur Verfügung. Sie müssen die Mittel richtig einsetzen. ({3}) Nun zum Antrag der Grünen. Sie sprechen von Schlaglöchern auf den Straßen. Aber Sie bestanden doch immer darauf, dass die Mittel für die Straße drastisch gekürzt werden. Deshalb wundere ich mich jetzt, dass Sie in Ihrem Antrag zum Beispiel Brückenschäden beklagen. Ein Grund dafür ist natürlich, dass für die Beseitigung der Schäden auf Straßen, in Tunnels und an Brücken zum Beispiel die nicht verbauten Mittel nicht eingesetzt worden sind. Wer hätte gedacht, dass die Grünen einmal umdenken und plötzlich die Auto-Mobilität der Menschen nicht mehr verteufeln? Ich freue mich, dass ich das noch erleben darf. Ihre bisherige Haltung hat sich damit als falsch erwiesen. In den Ländern stellen Sie ständig Anträge, dass der Straßenbau zurückgefahren werden müsse, nach dem Motto „Bildung statt Beton“; aber hier fordern Sie plötzlich mehr Geld. Das ist eine Doppelstrategie, die jedoch leicht durchschaubar ist. Ich kann nur sagen: Ein Schelm, wer deshalb Schlechtes über die Anträge von FDP und Grünen denkt und wem das Wort „Wahlkampfgetöse“ in den Sinn kommt. ({4}) Wenn man ein Sonderprogramm haben will, dann muss man wissen, dass dieses Geld von anderen Ausgaben, zum Beispiel von Ausgaben für Straßenbaumaßnahmen, abgezweigt werden muss. Denn die im Bundeshaushalt zur Verfügung stehenden Mittel für Schienenwegeinvestitionen können aus haushaltsrechtlichen Gründen nicht zur Unterstützung der Kommunen eingesetzt werden. Da nicht mehr Geld zur Verfügung steht, müssten die Kommunen damit rechnen, dass nach der Auflegung eines solchen Sonderprogramms manche Ortsumgehung nicht mehr gebaut werden könnte. Das Geld ist ja nicht beliebig vermehrbar. Ein weiterer Punkt. In allen Wahlkreisen der Kolleginnen und Kollegen im Hause gibt es garantiert eine oder mehrere Brücken, die sanierungsbedürftig sind. Allein in meinem Wahlkreis gibt es mindestens fünf Brücken, die saniert werden müssen. Die Kommune müsste für die Sanierung Geld ausgeben. Herr Kollege Friedrich, es ehrt Sie, dass Sie sich um die sanierungsbedürftige Brücke in Ihrem Wahlkreis kümmern. Auf der anderen Seite ist die Zuständigkeit, was die Finanzen betrifft, eindeutig geklärt. Es ist klar, dass marode Brücken keine Lappalie sind. Gefahren müssen beseitigt werden. Darüber sind wir uns sicher einig. Die Frage ist nur, zu wessen Lasten. Diese Frage wurde durch die entsprechende Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt am 9. September 1998 geklärt. Leider werden diese Fakten immer wieder vergessen. Tatsache ist, dass die Gewährleistung der Stand- und Verkehrssicherheit von Straßenbrücken im Zuge von Gemeindestraßen über Schienenwege allein den Kommunen und nicht dem Bund oder der Bahn obliegt. Eine Kostendrittelung zwischen Gemeinde als Baulastträger der Straße, Bahn und Bund findet nur bei Maßnahmen an Bahnübergängen - an höhengleichen Kreuzungen statt, keinesfalls jedoch bei der Unterhaltung oder Erneuerung von Straßenbrücken. Es ist klar, dass Sanierungsbedarf besteht. Wir können uns gerne darüber unterhalten, wie man dieses Problem lösen kann. Aber ich möchte doch der spürbaren Überdramatisierung des FDP-Antrages etwas die Spitze nehmen ({5}) und einer Panikmache - Kollege Friedrich sprach in den Medien von „tickenden Zeitbomben“ - entgegenwirken. ({6}) - In den Medien. - Unsere Brücken sind die am besten geprüften Bauwerke in Deutschland. Sie werden alle sechs Jahre aufwendig unter die Lupe genommen. Jeweils nach drei Jahren folgt eine Zwischenprüfung, bei der alle Funktionsteile kontrolliert werden. Alle Brücken im Zuge von öffentlichen Straßen werden also in regelmäßigen Abständen geprüft. Die entsprechenden Zuständigkeiten sind geklärt. ({7}) Meine Damen und Herren, wir müssen zwei Dinge unterscheiden.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nein, Frau Kollegin, es wird schwierig werden, sie zu unterscheiden, weil Ihre Redezeit das nicht mehr zulässt. ({0})

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, dann lassen Sie mich zum Abschluss einen letzten Punkt ansprechen. Die Grünen haben den Netzzustandsbericht angesprochen. Es ist falsch, wenn sie den Verkehrsminister dafür prügeln, dass dieser Bericht bis jetzt noch nicht erschienen ist. Sie müssen vielmehr auf den Bahnchef Mehdorn einwirken, dass er diesen Netzzustandsbericht endlich abliefert. Wir alle sind schon gespannt darauf. Bevor der Bahnchef Briefe schreibt, wäre es besser, er würde sich um den Netzzustandsbericht kümmern. Wenn er vorliegt, können wir im Ausschuss darüber diskutieren und danach handeln. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Heidrun Bluhm, Fraktion Die Linke. ({0})

Heidrun Bluhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003740, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Brückenbauer Friedrich, es war immer eine Hauptforderung meiner Fraktion, die Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland rechtlich und finanziell in die Lage zu versetzen, ihre Aufgaben in der kommunalen Daseinsvorsorge im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung wahrnehmen zu können. ({0}) Je dringlicher wir diese Forderung stellen, desto schlechter stellt sich aber die Finanzausstattung der Städte und Gemeinden dar. Allein um diese Situation darzustellen, würde ich mindestens 60 Minuten brauchen. Sie haben Glück; ich habe nur vier Minuten Redezeit. Es ist offensichtlich, dass die schlechte finanzielle Lage der Kommunen längst kein regionales Problem mehr, sondern ein gesamtdeutsches Problem ist. Mehr als die Hälfte aller Landkreise in der Bundesrepublik hat mittlerweile unausgeglichene Haushalte. Als einziger Ausweg blieb vielen Städten und Gemeinden nur, ihre Investitionen drastisch zurückzuführen. Jüngste Angaben der KfW besagen, dass 1999 durch die Kommunen Investitionen in Höhe von 19 Milliarden Euro, 2004 aber nur noch in Höhe von 15 Milliarden Euro ausgelöst worden sind. Das ist in fünf Jahren ein Fünftel weniger. Diese traurigen Zahlen zeigen: Eine verantwortungsvolle kommunale Selbstverwaltung ist zusehends nicht mehr möglich. Die Folgen für die Bürgerinnen und Bürger werden offensichtlich. Ein Beispiel: Die Gemeinde Dornburg im Landkreis Köthen in Sachsen-Anhalt hat 2004 auf Grundlage des Eisenbahnkreuzungsgesetzes für Maßnahmen der Instandsetzung und Modernisierung einer auf ihrem Territorium gelegenen Bahnanlage knapp 250 000 Euro erhalten. Der Investitionshaushalt jedoch umfasst nur ganze 80 000 Euro. Damit war die Gemeinde zahlungsunfähig. Ein weiteres Beispiel: die Hauptstadt Schwerin des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Allein für eine Eisenbahnunterführung muss die Gemeinde, entsprechend dem Drittel der Gesamtsumme, 1,2 Millionen Euro zahlen. Schwerin hat allerdings insgesamt sechs Bahnbaustellen mit finanzieller Beteiligung zu bedienen und einen Investitionshaushalt von insgesamt nur 6 Millionen Euro, und das auch nur über Kreditgenehmigungen; denn schon lange zahlen die Kommunen nicht mehr aus Vermögen, sondern aus Darlehen. ({1}) Nun legt die FDP-Fraktion mit ihrem Antrag die lang ersehnte Lösung des Problems auf den Tisch. Wie segensreich! Meine Damen und Herren von der FDP, es ist schon bemerkenswert, dass gerade Sie angesichts dessen, dass Sie sich ansonsten immer auf weniger Staat und mehr Bürgerverantwortung berufen, noch ein staatliches Sanierungsprogramm auflegen möchten. ({2}) Wie viele Einzelprobleme wollen wir hier, fern von den Gemeinden, denn noch erfinden? Stilgerecht für Ihre Politik wäre zeitgleich mit der Privatisierung der Deutschen Bahn die Privatisierung der Eisenbahnbrücken. Damit hätten die Kommunen wirklich ein Problem weniger. ({3}) Wenn plötzlich der FDP-Generalsekretär Dirk Niebel in der „Bild“-Zeitung mit den Worten zitiert wird, ein Sonderbauprogramm für kommunale Brückenbauwerke könne Tausende von Arbeitsplätzen schaffen, ({4}) dann kann ich dazu nur sagen: Die FDP ist herzlich dazu eingeladen, unser „Zukunftsinvestitionsprogramm Kommunen“ zu unterstützen. ({5}) Ebenso ist die FDP eingeladen, unser Steuerkonzept zu unterstützen, ({6}) das den öffentlichen Haushalten mehr als 60 Milliarden Euro Steuereinnahmen bringen würde. ({7}) Das brächte noch mehr Arbeitsplätze. Ich kann nur hoffen, dass hier nicht auf Kosten der Kommunen Anträge für die Tribüne gestellt werden. ({8}) Warum machen wir es so kompliziert? Viel einfacher wäre eine Änderung des Eisenbahnkreuzungsgesetzes, das nach dem Verursacherprinzip auch die Kostenbeteiligung regelt, ({9}) und zwar nach dem Sprichwort: „Wer die Musik bestellt, bezahlt.“ Sie könnten die Milliarden nicht abgerufener Bundesmittel direkt an die Bahn weitergeben und diese finanziert dann allein. Die Kommunen würden sich freuen. ({10}) Nicht nur Eisenbahnkreuzungen, sondern auch Eisenbahnübergänge und Lichtsignalanlagen unterliegen dem Finanzierungszwang. Die in § 13 des Eisenbahnkreuzungsgesetzes festgelegte Drittelung der Kosten bei Bahnanlagen überfordert die meisten Kommunen schon jetzt, wie ich bereits vorhin dargestellt habe. Diese Anlagen würden nach dem vorliegenden Antrag nicht einmal in die Förderung fallen. ({11}) Im Übrigen beweist Ihr Antrag eine ungenaue Analyse und eine geringe Vor-Ort-Kenntnis und ist damit nur ein oberflächliches Papier. ({12}) Ihr auffällig neues, quantitativ geprägtes Engagement im Hinblick auf die Lage der Kommunen in Deutschland führt so jedenfalls nicht zu neuer Qualität. Ihrem Antrag fehlt jegliche Zahlenbasis. Wir können nur vermuten, dass Sie sich in Ihrem Antrag auf Eisenbahnbrücken beziehen. Aber vielleicht wollen Sie ja auch Fußgänger-, Fahrrad- oder gar Froschbrücken fördern. ({13}) Mit diesem Antrag jedenfalls fördern Sie weiter die Bevormundung der Kommunen und nicht die kommunale Selbstverwaltung. Die Bürgermeister wissen selbst sehr genau, wo ihre Investitionsdefizite liegen. Lassen wir sie doch bitte selbst bestimmen, wann sie eine Brücke, eine Schule oder ein Krankenhaus sanieren wollen und müssen. Dazu bedarf es eines kommunalen Investitionsprogramms und keines weiteren Brückensanierungsprogramms. ({14}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion, dennoch werden wir nach ausführlicher Bearbeitung Ihres Antrages in den Ausschüssen diesem wahrscheinlich doch zustimmen, ({15}) jedoch nur aus einem Grund: Jeder Euro, der zusätzlich in den Gemeinden ankommt, ist in der derzeitigen Lage der Kommunen gut angelegtes Geld. Danke schön. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Bluhm, ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag und wünsche für die weitere Arbeit alles Gute. ({0}) Das Wort hat nun die Kollegin Rita SchwarzelührSutter für die SPD-Fraktion. ({1})

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Dacheinsturz in Bad Reichenhall war tragisch und ein furchtbares Unglück. Die Serie der Dacheinstürze scheint nicht abzureißen. Wir sollten nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, sondern über Konsequenzen nachdenken. Ein Antrag wie der der FDP nutzt allerdings wenig; vielmehr handelt es sich bei ihm um bloßen populistischen Aktionismus. ({0}) Was wir brauchen, sind durchdachte, nachhaltige Konzepte, keine Schnellschüsse. ({1}) Im Zusammenhang mit der Neuordnung des Eisenbahnwesens, sprich: Bahnreform, wurde auch das Eisenbahnkreuzungsgesetz neu gefasst. Die Frage, wer welche Kosten zu tragen hat, ist abhängig von der Art der Eisenbahnkreuzung. Sie wissen: ({2}) Bei so genannten höhengleichen Kreuzungen, Herr Kollege, gibt es eine Kostendrittelung zwischen der Gemeinde als Baulastträger der Straße, der Bahn und dem Bund. Die Kostendrittelung gibt es nicht für die Unterhaltung und Erneuerung von Straßenbrücken; für die Erhaltung von Kreuzungsbauwerken sind die Kosten von dem Baulastträger zu tragen, dessen Verkehrsweg über das Bauwerk geführt wird. Sie wissen: Es ist zu unterscheiden zwischen einer Eisenbahnüberführung, also Schiene über Straße - hier trägt der Baulastträger Schiene allein die Kosten -, und einer Straßenüberführung, also Straße über Schiene; hier trägt die Kosten allein der Straßenbaulastträger. ({3}) In den alten Bundesländern sind mit der Änderung des Eisenbahnkreuzungsgesetzes seit 1994 alle Überführungen von kommunalen Straßen über Eisenbahnanlagen endgültig auf die zuständigen Gemeinden und Städte übergegangen. Herr Friedrich, Sie wussten, dass der ordnungsgemäße Zustand damals von der Bahn hergestellt werden musste und dass die Bahn dafür einzustehen hatte. ({4}) In den neuen Ländern lag die Pflicht zur Erhaltung der Straßenüberführungen schon immer bei den Straßenbaulastträgern. Im Übrigen ist keine Kommune bekannt, die das Übergabeprotokoll nicht unterzeichnet hätte. ({5}) Die Kommunen sind somit für die Erhaltung, Pflege und Sanierung von kommunalen Straßenüberführungen allein zuständig, nicht die Bahn, nicht der Bund. Alle Brücken werden in regelmäßigen zeitlichen Abständen überprüft. Die Prüfung und Durchführung der Sanierung bei Brücken, die zu Kommunalstraßen gehören, obliegt den Kommunen. ({6}) Berichte über diese Prüfungen liegen dem Bund nicht vor. Aber dafür gibt es Spekulationen, Herr Friedrich. Die „gefühlte“ Anzahl der einsturzgefährdeten Brücken liegt bei Ihnen zwischen 1 000 und 2 000. Es gibt Kollegen - auch Frau Blank hat es schon festgestellt -, die von tickenden Zeitbomben sprechen. ({7}) Sie fordern zugleich Finanzhilfen für Kommunen, die die Sanierung nicht aus eigener Kraft bezahlen können. Natürlich wissen wir alle, dass die Haushaltslage der Kommunen angespannt ist. ({8}) Dies allein kann aber nicht Motivation dafür sein, dass der Bund für die Kommunen einspringt. ({9}) Im Übrigen unterstützt der Bund schon heute die Kommunen beim Bau und Ausbau von Kreuzungsmaßnahmen über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Unbeschrankte Bahnübergänge konnten zum Beispiel sicherer gemacht werden. Von den insgesamt 1,6 Milliarden Euro GVFG-Mitteln aus dem Jahr 2004 sind 20 Prozent ins Bundesprogramm und 80 Prozent in Länderprogramme geflossen. Kreuzungsmaßnahmen nach dem Eisenbahnkreuzungsgesetz sind förderungsfähig nach GVFG, soweit Gemeinden und Kreise als Baulastträger der kreuzenden Straße Kostenanteile zu tragen haben. Aus diesen Finanzhilfen des Bundes können die Länder bis zu 75 Prozent der zuwendungsfähigen Kosten dieser Kreuzungsmaßnahmen fördern. Sie wissen ebenfalls: Der Bund kann nach Art. 104 a Abs. 4 des Grundgesetzes den Ländern Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen der ... Gemeinden ... gewähren, die zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts oder zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft ... oder zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums erforderlich sind. Von dieser Möglichkeit hat der Bund 1998 Gebrauch gemacht und den ostdeutschen Kommunen über 250 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Diese Regelung bezweckte eine finanzielle Gleichbehandlung mit den westdeutschen Kommunen. Das Programm lief bis 2003. Das war wirklich ein Sonderprogramm und ich denke, es ist unstrittig. Nach Art. 104 a Abs. 1 des Grundgesetzes haben Bund und Länder - und damit auch die Kommunen - die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergebenden Ausgaben zu tragen. Heute sind die Haushaltsvolumina aller öffentlichen Hände knapp und begrenzt. Die Finanzierung der Aufgaben fällt schwer. Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir nicht auf der einen Seite in der Föderalismuskommission die Aufgaben der staatlichen Ebenen ordnen und auf der anderen Seite die Finanzierung, wenn es gerade mal nicht anders geht, dem Bund aufbürden können. ({10}) Mit der Zuteilung von Aufgaben ist die Finanzverantwortung untrennbar verbunden. Mit der gleichen Logik könnten die Kommunen monieren, dass die Kindergärten sanierungsbedürftig seien, und schon würde die FDP ein Sonderprogramm „Kindergartensanierung“ auflegen. Stünde die Schließung von Schwimmhallen an, würde die FDP ein „Schwimmhallensanierungsprogramm“ auflegen. Diese Liste könnte man wahrscheinlich unendlich fortsetzen: Schulen, Krankenhäuser, Sportstätten usw. Ich möchte überhaupt nicht die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Sanierungsarbeiten infrage stellen. Ich verwahre mich lediglich gegen die Verschiebung von Finanzverantwortung. ({11}) - Darauf komme ich, Herr Friedrich. - Es bringt nichts, ein Sonderprogramm nach dem anderen zu starten; vielmehr müssen die Kommunen auch zukünftig eine solide finanzielle Basis haben. ({12}) Mit der Fortentwicklung der Unternehmensbesteuerung und der Gewerbesteuer werden wir sie zukünftig auf diese solide Basis stellen. ({13}) Die finanzielle Handlungsfähigkeit muss langfristig gewährleistet sein. ({14}) In Ihrem Antrag schlagen Sie vor, dass die nicht abgerufenen Mittel der DB AG in dieses Sonderprogramm fließen sollen. Vielleicht hätten Sie besser Ihre Haushaltsexperten befragt, diese hätten Ihnen nämlich erklärt, dass im Bundeshaushalt für Schienenwegeinvestitionen vorgesehene Mittel zweckgebunden sind und deshalb nicht zur Unterstützung der Kommunen eingesetzt werden können. Im Übrigen werden die Mittel weitgehend im Rahmen haushaltsrechtlich zulässiger Umschichtungen für Investitionsmaßnahmen anderer Verkehrsträger eingesetzt. Die Erhaltung der Sicherheit, Funktionsfähigkeit und Dauerhaftigkeit hat für alle Baulastträger oberste Priorität. Wesentliche Voraussetzungen hierfür sind die regelmäßige Prüfung der Bauwerke, die zeitnahe Beseitigung der bei den Prüfungen festgestellten Schäden und Schwachstellen und die Zurverfügungstellung ausreichender Erhaltungsmittel. Im Bundesverkehrswegeplan der rot-grünen Regierung aus 2003 ist deshalb der Anteil an Erhaltungsmitteln für alle Verkehrsträger deutlich erhöht worden. Der Anteil der Sanierungsmittel über alle Verkehrsträger ist mit 56 Prozent deutlich gestiegen. Für den Zeitraum bis 2015 sind allein für Investitionen zur Erhaltung des Bestandsnetzes der Bundesfernstraßen 37,7 Milliarden Euro veranschlagt, wobei der Anteil zur Erhaltung der Bauwerke rund 15 bis 35 Prozent beträgt. Die Regierungskoalition hat sich außerdem darauf geeinigt, die Mittel für die Verkehrsinvestitionen um zusätzlich 4,3 Milliarden Euro zu erhöhen. Dazu sind in 2006 insgesamt circa 9,1 Milliarden Euro vorgesehen. In den Folgejahren werden die Investitionen bei rund 9 Milliarden Euro verstetigt. ({15}) Damit liegt das Volumen jährlich rund 1 Milliarde Euro über dem geltenden Finanzplan, Herr Friedrich. Die zusätzlichen Mittel kommen allen drei Verkehrsträgern - Schiene, Straße und Wasserstraße - zugute. Der Schwerpunkt liegt auch hier auf den Erhaltungsmaßnahmen im Bestand. Die Ansätze für die Erhaltung werden wieder gestärkt. ({16}) Die Umschichtung zulasten der Erhaltung kann bis 2009 abgebaut werden. Die Grünen brauchen sich also keine Sorgen zu machen. Wir werden auch in der großen Koalition den nachhaltigen Ansatz des Bundesverkehrswegeplans fortsetzen. ({17}) Deutschland verfügt über eines der besten Straßennetze in Europa. Die Erhaltung der Straßen und Brücken hat Vorrang; denn die Erhaltung der Mobilität ist eine wesentliche Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum und Beschäftigung sowie ein wichtiger Beitrag zur Lebensqualität der Bürger. Danke. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, ich gratuliere auch Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede, ({0}) die beinahe mit einer Punktlandung bezüglich der Einhaltung der Redezeit zu Ende gegangen wäre. ({1}) Wenn Ihnen das bei all Ihren folgenden Reden ähnlich gut gelingen wird, werden Sie eines der beliebtesten Mitglieder im Deutschen Bundestag. ({2}) Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält der Kollege Dr. Anton Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Jeder, der ein Haus baut, weiß, dass er es auch erhalten muss. Nur die öffentliche Hand in Deutschland weiß so etwas anscheinend nicht. Seit Jahrzehnten wird die Infrastruktur ausgebaut. Aber was hält mit dem Infrastrukturnetz nicht mit? Die Haushalte für die Sanierung. In der Vergangenheit haben wir einiges erreicht. Es gab Anstrengungen bei der Modernisierung der Schiene. Der Modernisierungsgrad der Schiene ist von 64 Prozent auf 68 Prozent gestiegen. Trotzdem gibt es im Infrastrukturbereich insgesamt einen erheblichen Sanierungsbedarf. ({0}) Beispielsweise sind 12 Prozent aller Brücken des Bundes in kritischem Zustand. Der Zustand der Brücken der Kommunen ist noch schlechter. Der Beitrag der FDP ist deshalb ein wichtiger Hinweis; ({1}) aber er reicht bei weitem nicht aus. ({2}) Denn auch die übrige Verkehrsinfrastruktur wurde über Jahrzehnte vernachlässigt. Über den Zustand des Schienennetzes reden wir besser erst gar nicht. Das Aufschieben von nötigen Instandhaltungsmaßnahmen ist, wenn man es genau nimmt, nichts weiter als in die Zukunft verlagerte Staatsverschuldung und deshalb unter dem Aspekt der Generationengerechtigkeit mehr als kritisch zu sehen. ({3}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der großen Koalition, ich kann ja verstehen, dass die vielen direkt gewählten Abgeordneten dieser Koalition lieber im Wahlkreis rote Bändchen für neue Projekte durchschneiden, als dass sie sich dafür einsetzen, dass Geld für die Sanierung der bestehenden Projekte bereitgestellt wird. ({4}) Ich kann Sie voll und ganz verstehen. Sehr geschätzte Kollegin Blank, Sie haben angemerkt, dass die Grünen auf einmal eine neue Position zum Thema Straße hätten. Ich glaube, Ihnen sind die Anträge vieler grüner Landtagsfraktionen - ich erwähne nur die grüne Landtagsfraktion in Bayern; auch Sie kommen von dort - nicht bekannt, in denen gefordert wird, dass im Haushalt die Gelder für die Sanierung der Straßen erhöht werden. Wir haben jedoch immer beantragt, die Gelder für unnötige Neubaumaßnahmen, die dann auch erhalten werden müssen, zu kürzen. Schauen Sie sich einmal die Drucksachen des Bayerischen Landtags an. Das kann erhellend sein. ({5}) Wir haben in diesem Zusammenhang fünf Forderungen gestellt: Erstens. Die zusätzlichen 4,3 Milliarden Euro müssen komplett für die Sanierung eingestellt werden. Zweitens. Die Umwidmung von Mitteln für die Sanierung zu Neubaumitteln - das machen die Länder gern - ist zu unterbinden. Drittens. Der Bericht über den Zustand des Schienennetzes ist endlich vorzulegen. ({6}) Dies wird oft nur auf Herrn Mehdorn abgeschoben. Man mag ja Recht haben, wenn man sagt, dass Herr Mehdorn nicht unbedingt den besten Job macht. Aber die Verwaltung könnte auf dieses zu 100 Prozent im Bundesbesitz befindliche Unternehmen etwas Druck ausüben. Das könnte nicht schaden. ({7}) Viertens ist vielleicht noch anzumerken, dass es nicht hilft, wenn wir uns hier im Hohen Haus darauf einigen, möglichst viele Haushaltsmittel für bestimmte Posten zur Verfügung zu stellen. Dieses Geld muss vernünftig ausgegeben werden. Deshalb lautet unsere fünfte Forderung, darauf zu achten, dass die DB AG das Geld effektiv und effizient einsetzt. ({8}) Ich freue mich schon auf die Beratungen über den Haushalt. Ich bin gespannt auf die Argumente der Kolleginnen und Kollegen der großen Koalition. Ich danke. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herzlichen Glückwunsch, Herr Kollege Hofreiter, zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, ({0}) aus deren Anlass die eigene Fraktion nahezu vollzählig angetreten ist, was festgehalten zu werden verdient. ({1}) Alles Gute für die weitere Arbeit. Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/261 und 16/553 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit Präsident Dr. Norbert Lammert sind Sie bestimmt einverstanden. - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Beitrag der deutschen Politik zur Deeskalation des Konfliktes um den Karikaturenstreit Ich weise darauf hin, dass die Debattenbeiträge nach unserer Geschäftsordnung nicht ungefähr fünf Minuten, sondern nicht länger als fünf Minuten lang sein dürfen. ({2}) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Fritz Kuhn für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil wir finden, dass auch der Deutsche Bundestag seinen Beitrag leisten muss, damit wir angesichts des Karikaturenstreits nicht in einen Kampf der Kulturen geraten, sondern eine Deeskalation der schwierigen Situation erreichen. ({0}) Ganz herzlich begrüße ich auch die Vertreter islamischer Verbände in Deutschland, die dieser Debatte zuhören. Es ist richtig, auch auf diese Art und Weise ein Zeichen zu setzen. ({1}) Der erste wichtige Punkt ist für uns ein klares Bekenntnis zur Meinungsfreiheit, für die wir einstehen. Die Meinungsfreiheit ist nicht irgendetwas, sondern sie ist zentral und konstituierend für die Demokratie. ({2}) Nur durch Meinungsfreiheit ist Demokratie, also das Verleihen von Herrschaft auf Zeit, überhaupt denkbar. Deswegen sagen wir ganz klar: An der Meinungsfreiheit, wie sie in den europäischen Demokratien und in Demokratien überhaupt existiert, können und wollen wir nicht rütteln. Niemand darf an ihr rütteln. ({3}) Mein zweiter Punkt. Freiheit impliziert immer auch Verantwortung. Angesicht der Karikaturen, die in dänischen Zeitungen veröffentlicht wurden, und angesichts dessen, was von diesen Zeichnungen abgesehen geschehen ist - dazu gehört auch, dass in Dänemark lange gewartet worden ist, bis man vernünftig reagiert hat -, stellt sich natürlich die Frage, ob hier verantwortlich gehandelt wurde. Ich sage ganz klar: Wer den Propheten Mohammed in einer Zeichnung mit einem Terroristen gleichsetzt, der beleidigt vor allem und in erster Linie die vielen Muslime, die auch in Europa gewaltfrei leben und die Anwendung von Gewalt ablehnen. Deswegen sind diese Zeichnungen zum Teil rassistisch und auch gefährlich. Das ist Missbrauch von Verantwortung. ({4}) Dennoch - das ist mein dritter Punkt - gilt die Meinungsfreiheit. Diese Spannung auszuhalten, ist meines Erachtens in dieser Debatte das eigentliche Problem. Wir müssen dafür werben, diese Spannung auszuhalten. Natürlich kann man gegen einen solchen Unsinn, wie er in Dänemark geschehen ist, protestieren. Aber dieser Protest berechtigt nicht zur Anwendung von Gewalt: weder wenn sie von Einzelnen noch - das erst recht nicht wenn sie von korrupten und undemokratischen Regimen ausgeht, die, um ihre innere Stabilität aufrechtzuerhalten, versuchen, diese Karikaturen für ihre Interessen zu instrumentalisieren. ({5}) Für uns, das Bündnis 90/Die Grünen, ist eines wichtig: Wenn wir als Deutscher Bundestag und als deutsche Öffentlichkeit einen Beitrag zur Deeskalation leisten wollen, dann ist dies die Stunde des Dialogs und der Verständigung, nicht aber die Stunde derer, die den Muslimen jetzt einmal zeigen wollen, wo der Hammer hängt. Diese Haltung, die in der öffentlichen Diskussion in Deutschland zum Teil eine Rolle gespielt hat, lehnen wir ab; denn so kann kein Dialog stattfinden. Deswegen geht es jetzt auch nicht darum, ob Botschaften geschlossen werden. Man kann nicht, wie es Herr Schockenhoff von der CDU getan hat, am Vormittag in einem Interview in der „Welt“ sagen, dass Botschaften geschlossen werden sollten, und am Nachmittag darauf hinweisen, dass man einen Dialog führen will; ({6}) denn auch für einen solchen Dialog sind diplomatische Beziehungen und Botschaften von Bedeutung. ({7}) Dies ist also nicht die Stunde des Winkens mit Fahrkarten, wie in Baden-Württemberg geschehen. Es geht nicht darum, einen „Islamtest“ durchzuführen, sondern es geht um einen echten Dialog. Das bedeutet für beide Seiten vor allem, die Perspektive des Gegenübers einzunehmen und sich zu fragen: Was denken die anderen über mich und was denke ich über die anderen? Einen Dialog auszurufen, ist wohlfeil. Aber man muss auch bereit sein, eine andere Perspektive einzunehmen, und zum Beispiel müssen die Angehörigen der islamischen Religionsgemeinschaften verstehen: Die klare Trennung von Kirche und Staat, die in unserer Kultur besteht, hat uns als ein evolutionärer, historischer Prozess der Aufklärung Frieden und Freiheit gebracht. Wir müssen, damit wir diesen Dialog ernsthaft führen können, aber auch verstehen, was Muslime beleidigen kann. ({8}) Deswegen muss Schluss sein mit Eskalationen. Ich will das ganz einfach sagen: Wer Öl ins Feuer gießt, kann sich nicht über das Feuer beschweren. Das gilt für alle, egal auf welcher Seite jemand steht. ({9}) Letzter Punkt: eine Bemerkung zu Dänemark. Ich finde, was manche Konzerne gemacht haben - sich zu distanzieren, sie kämen nicht aus Dänemark, sondern aus der Schweiz -, verdient unsere Verachtung. ({10}) Wir haben den Boykott gegenüber Dänemark zu kritisieren. Von der Bundesregierung will ich dabei klipp und klar wissen, welche Bemühungen unternommen worden sind, zu einer geschlossenen Haltung der EU zu kommen. Jetzt wegzutauchen und lediglich einzelne Kommissare Stellung nehmen zu lassen, wird nicht genügen. Allerletzter Punkt, Herr Präsident. Wenn alle in Deutschland im Karikaturenstreit zusammenstehen - die Religionsgemeinschaften, aber auch die Nichtgläubigen; die Deutschen, aber auch die Nichtdeutschen -, dann werden wir eine positive Integration in Deutschland schaffen. Dazu ist wichtig, dass sich so etwas wie ein europäischer Islam entwickeln kann. Zum Beispiel gab es auf dem Balkan sehr positive Stimmen von islamischen Gläubigen, die deeskalierend gewirkt haben. Das hat übrigens den Hintergrund, dass die Trennung von Kirche und Staat dort etablierter, normaler ist. Eine Schlüsselrolle kommt dabei der Türkei zu, nicht in dem Sinne, wie man heute von Herrn Ramsauer von der CSU lesen konnte, dass die Türkei jetzt zeigen solle, ob sie für einen Beitritt zur EU bereit sei. Beim EU-Beitritt geht es vielmehr um die Frage, ob es einen europäischen Islam geben kann, der in den Konflikten, die möglicherweise vor uns liegen, eine zentrale, vermittelnde Rolle einnehmen kann.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege!

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin froh, dass die türkische Regierung dies angegangen ist und dass wir da ein Stück weiter gekommen sind. Damit komme ich zum Schluss. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nein.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich hoffe, dass diese Diskussion einen Beitrag zur Deeskalation leistet. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Kuhn, Sie schätzen meine Aufgeschlossenheit gegenüber der Opposition zutreffend ein, aber meine Gestaltungsmöglichkeiten müssen sich immer im Rahmen der Geschäftsordnung bewegen. Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Freiherr zu Guttenberg für die CDU/CSU-Fraktion.

Karl Theodor Guttenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003543, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe großen Respekt vor der religiösen Dimension der Debatte, die wir heute führen, aber umso weniger vor der gezielten politischen Instrumentalisierung ihrer Inhalte, egal in welchen Regionen der Welt. ({0}) Das hohe und zu verteidigende Grundrecht der Pressefreiheit ringt gelegentlich mit dem Verstand, vielleicht auch mit der Intelligenz derer, die sich auf sie berufen; das ist richtig. Auch bedeutet die Rücksichtnahme auf die Empfindungen anderer noch nicht zwangsläufig eine Einschränkung der Pressefreiheit. Zwei Dinge stehen allerdings unverrückbar fest: Gewalttätige Reaktionen - auf Karikaturen wohlgemerkt - und der Aufruf zu solchen sind auf das Schärfste zu verurteilen und für uns in jeglicher Hinsicht inakzeptabel. ({1}) Ein Zweites - das klang mir bei dem ersten Redebeitrag ein bisschen zu wenig durch -: Toleranz und Respekt vor religiösen Gefühlen, Symbolen und Einrichtungen sind keine Einbahnstraße. ({2}) Weshalb sollte dieser Anspruch nicht auch in der islamischen Welt vollständige Geltungskraft entfalten? ({3}) Nun wird von europäischen Regierungen, insbesondere von Dänemark, mit aller Vehemenz gefordert, sich für die Äußerungen ihrer freien Presse zu entschuldigen, ja sogar, die jeweiligen Verantwortlichen zu bestrafen. Das ist der für mich nicht hinnehmbare Versuch Einzelner - ich betone: Einzelner -, uns zur Aufgabe wesentlicher Grundsätze unseres Wertesystems zu zwingen. Wir müssen aufpassen, dass wir uns darauf nicht einlassen. ({4}) Je nachgiebiger wir uns gegenüber diesem Verlangen zeigen, desto mehr laufen wir Gefahr, den gewachsenen Kernbereich unserer Freiheit zu beschädigen. ({5}) Auch dürfen wir Dänemark angesichts der Forderungen Einzelner und angesichts der Boykottaufrufe, die wir zurzeit aus dem Iran hören, nicht nur halbherzig zur Seite stehen. Dänemark muss sich unserer Solidarität und unserer Unterstützung in dieser Sache sicher sein können. ({6}) Die nicht islamische Welt - dazu zählen wir - darf sich aus ihrem eigenen Selbstverständnis heraus weder moralisch noch tatsächlich in eine Art Kollektivhaft für das Verhalten einzelner Zeitungen nehmen lassen. Es scheint für einige hier die große Stunde Huntingtons zu sein. Das ist sie - darin stimme ich Ihnen zu, Herr Kuhn selbstverständlich nicht. Wir stehen nicht vor einem Kampf der Kulturen. ({7}) Denn das würde bedeuten, dass sich die so genannte islamische Kultur und die so genannte westliche Kultur unvereinbar gegenüberstünden. Angesichts der derzeitigen Gegebenheiten würde das letztlich heißen, islamistische Gewaltreaktionen, Regime, die diese Debatte bewusst ausnutzen, in die Nähe eines übergeordneten Kulturbegriffs zu rücken. Das dient weder unserer Kultur noch der eigentlichen islamischen Kultur. Das muss einmal festgestellt werden. ({8}) Was bedeutet das letztlich für unsere politischen Grundsätze? Ja zur Dialogbereitschaft, da stimme ich Ihnen zu, Kollege Kuhn. Wir müssen uns auch bewusst sein, dass keine Konfliktlinie, keine apodiktische Trennlinie zwischen westlicher und islamischer Welt verläuft. Die eigentliche, die bestimmende Konfliktlinie verläuft zwischen denjenigen, die Terrorismus, Hass und Intoleranz das Wort reden, und denjenigen - egal welcher Religion -, die sich für Menschenrechte, für Rechtsstaatlichkeit und für Meinungsvielfalt einsetzen. ({9}) Auf Letzteres können wir uns mit einigem Stolz berufen. Meine Damen und Herren, der bei weitem härteste Gegner von Fundamentalismus sind die beherrschten Demokraten, im Zweifel also wir selbst, solche, die ungerührt ihre Rechts- und Zivilisationsgrundsätze zu leben wissen, auch vorzuleben wissen. Was ist der Anspruch, der für uns daraus rührt? Selbstverständlich Dialog, aber nicht mit dem alleinigen Maßstab wiederholter Rechtfertigung für das, was uns ausmacht, sondern vielleicht auch einmal mit dem Maßstab von Selbstbewusstsein. Vielen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Analysieren wir, was geschehen ist. Eine dänische Zeitung hat Karikaturen aus einem Wettbewerb heraus veröffentlicht. ({0}) Manche sind gelungen, manche weniger, manche sind gründlich misslungen. Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass sich Muslime davon bedrängt und tief verletzt fühlen. Ob das allen Beteiligten von Anfang an so klar war, lasse ich dahingestellt sein. Wir haben das zu respektieren. Wir dürfen aber sagen, dass Verletzlichkeit nicht dazu veranlassen darf, Mittel in Bewegung zu setzen, die wir weltweit im Zusammenleben von Staaten und Menschen nicht sehen wollen. Es gibt keine Verletzlichkeit, die dazu führen darf, Maßstäbe zu verletzen. Dies ist in der Nachfolge krass geschehen. ({1}) Das sage ich, da muslimische Gäste auf der Tribüne sind, auch deshalb, weil das auch andere Religionsgemeinschaften betrifft. Ich kenne laute Aufschreie und große Proteste katholischer und evangelischer Christen in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik nach Veröffentlichungen. Erinnern wir uns an 1962, an den Artikel „Brennt in der Hölle wirklich ein Feuer?“ im „Stern“ von Bucerius. Es gab einen scharfen öffentlichen Protest der Christen. Auch wir, die wir ein christliches Bekenntnis abgelegt haben, mussten hinnehmen, dass wir gelegentlich die Schärfe der Pressefreiheit akzeptieren müssen und dass sich der Protest in Bahnen bewegen muss, die aufgeklärten Gesellschaften angemessen sind. Das müssen auch die muslimischen Glaubensgemeinschaften lernen. Sie müssen gelegentlich die Schärfe der Pressefreiheit ertragen. Sie können uns wissen lassen, dass wir hätten sehen müssen, dass sie sich verletzt fühlen, aber sie müssen sich jetzt auch selbst herausgefordert fühlen, und politische Führungen in vielen Ländern müssen die Menschen darauf hinweisen, dass nicht eine Religion Deutungshoheit über alles hat. Das ist der Kern der Debatte, die jetzt stattfindet. ({2}) Ein gutes Beispiel für das friedliche Zusammenleben haben gestern zwei Chefredakteure von Zeitungen gegeben. Es waren Kai Diekmann von der „Bild“-Zeitung und sein Kollege von der „Hürriyet“, Ertugrul Özkök. Beide haben natürlich auch gesehen, dass es längst nicht mehr allein um die Karikaturen in einer dänischen Zeitung geht. Es geht im Kern um die Frage, ob Menschen die Geltendmachung der Verletzung ihrer Würde als Mittel eines Protestes anwenden dürfen, der jedes Maß überschritten hat. Für mich geht es im Kern auch darum, ob das Ganze dazu führen kann, dass wir in unseren Gesellschaften eine Diskussion beginnen, die zu einer Art Selbstzensur führt. Dazu bin ich als freier Demokrat nicht bereit. ({3}) John Stuart Mill hat in seinem berühmten Essay über die Freiheit geschrieben, dass es bei der Freiheit nicht nur um den Kampf gegen Willkür und auch nicht nur um den Kampf gegen in einer Gesellschaft vorherrschende Meinungen und Gefühle geht, die Andersdenkenden mit anderen Mitteln als der Überzeugung aufgezwungen werden sollen. Betroffenheit zur Kenntnis zu nehmen und sich zu einer Überprüfung herausgefordert zu fühlen, ob eine richtige Abwägung vorgenommen worden ist - das ist immer richtig. Jede Religion hat ihre eigene Würde, keine hat ein Deutungsmonopol. Das hat Heribert Prantl in dieser Woche in einem Kommentar so treffend beschrieben, dass es niemand von uns besser ausdrücken könnte. Er schreibt: Wenn eine Religion allumfassend ist, wenn sie die Trennung zwischen Recht und Moral nicht vollzieht, wenn sie alles, was ihre Sitten verletzt, als Schmähung verfolgt sehen will, dann macht sie ihre religiöse Ordnung zur weltlichen. Ein säkularisierter, demokratischer Staat kann das nicht akzeptieren … Pressefreiheit wäre dann kein Grundrecht mehr, sondern ein Gnadenrecht. ({4}) Das ist der Kern, über den hier gesprochen werden muss und den wir im Dialog der Kulturen in aller Freiheit auch unseren muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Deutschland - er gilt aber natürlich auch für andere - mitteilen können. Sie können ihn akzeptieren. Wir sind nicht zum Schweigen über unseren eigenen Standort verpflichtet, nur weil andere sagen, sie fühlten sich dadurch verletzt. Zu einem offenen Dialog gehört die Wahrheit bei der Mitteilung des jeweiligen Standortes. Ich will mit dem Hinweis schließen, dass der Chefredakteur einer jordanischen Zeitung, der in einem Artikel „Muslime, seid vernünftig“ geschrieben und gefragt hat, was für größere Vorurteile gegen den Islam sorge, diese Karikaturen oder die Bilder von Entführern, die ihre Opfer vor laufender Kamera abstechen würden, bzw. ein Selbstmordattentäter, der sich auf einer Hochzeitsfeier in Amman in die Luft sprenge, in dieser aufgewühlten Welt nicht als ein Mann der Besinnung und des Maßes zur Kenntnis genommen, sondern entlassen und verhaftet worden ist. Wir sagen den Muslimen in aller Welt: Sie selbst sorgen für das Ansehen ihrer Religionsgemeinschaft. Wir haben ein massives Interesse, mit ihnen in einem friedlichen Dialog zu leben, was wir in Deutschland und im Übrigen auch unsere dänischen Nachbarn zeigen. Aber sie selbst haben die Verantwortung für diese Grenzüberschreitungen, die für uns unerträglich sind und die unterbleiben sollten. Herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Niels Annen für die SPD-Fraktion. ({0})

Niels Annen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bilder der letzten Tagen aus dem Nahen Osten bewegen die Menschen überall auf der Welt. In der Tat fühlen sich viele Menschen in ihren religiösen Überzeugungen tief getroffen. Ich will offen sagen, dass ich nicht den Eindruck habe, dass eine Debatte mit Fünf-Minuten-Beiträgen der angemessene Rahmen ist, um dieses komplexe Thema miteinander zu diskutieren. ({0}) Ich will deswegen für die SPD-Fraktion sagen, dass wir uns dafür einsetzen werden, in angemessener Zeit eine vernünftige Auseinandersetzung über dieses Thema in diesem Hause zu führen und den Dialog fortzusetzen. Wir werden dafür einen Antrag vorbereiten. ({1}) Massenhafte Demonstrationen, brennende dänische Fahnen und in Flammen aufgehende europäische Botschaften scheinen für einige Menschen in diesem Land der Beleg dafür zu sein, dass der Graben zwischen der islamisch und der christlich geprägten Welt unüberwindbar ist. Viele Menschen stehen in der Tat ratlos vor der sich manchmal grotesk zuspitzenden Auseinandersetzung. Natürlich ist es dann leicht und auch verführerisch, nach einfachen Erklärungen zu suchen. Aber wir wissen: Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema kann uns dies nicht ersparen. Es ist unsere Aufgabe - davon bin ich überzeugt -, auch hier im Deutschen Bundestag zur Deeskalation beizutragen. Wir müssen die Lage beruhigen und nach den Ursachen der Geschehnisse fragen. Wir müssen demokratische Grundwerte und demokratisches Handeln entschieden verteidigen und darüber hinaus den Dialog wagen, anstatt - da stimme ich Ihnen zu, Kollege Guttenberg - den Kampf der Kulturen herbeizureden. ({2}) Wenn Fundamentalisten die aufgeheizte Situation für ihre politischen Ziele missbrauchen, dann dürfen wir ihrem Kalkül nicht aufsitzen. Deswegen finde ich Forderungen nach einem Boykott oder dem Abbruch von diplomatischen Beziehungen an dieser Stelle kontraproduktiv; das will ich offen sagen. ({3}) Unsere Aufgabe ist es vielmehr, wieder Rationalität in die Auseinandersetzung zu bringen, nicht, die Stimmung aufzuheizen. Es lohnt die Mühe, sich die derzeitige Situation genauer anzusehen. Es gibt einen Unterschied zwischen ehrlicher, religiös empfundener Empörung und gezielt geschürter Gewalt. Die gewaltsamen, erschreckenden Auseinandersetzungen der letzten Tage sind zum Teil gut organisiert und inszeniert. Wir dürfen jedoch nicht den Fehler machen, die gewalttätigen Demonstrationen mit der islamischen Welt gleichzusetzen. ({4}) Die übergroße Mehrheit der Muslime lehnt diese Exzesse entschieden ab. Es ist doch interessant, dass es säkulare Regierungen sind, die diese Provokationen offensichtlich gezielt steuern, um ihre durchschaubaren politischen Ziele zu erreichen. Wir müssen die politisch Verantwortlichen deutlich benennen. Das werden wir auch tun. Wir müssen unsere Grundwerte entschieden verteidigen. Ich sage es ganz offen: Für mich ist die Vorstellung, dass sich ein demokratisch legitimierter Regierungschef für den Abdruck in einer Zeitung öffentlich entschuldigen soll, grotesk. ({5}) Die Meinungs- und die Pressefreiheit sind und bleiben Dreh- und Angelpunkt unseres demokratischen Grundverständnisses. Für diese Freiheiten ist jahrhundertelang gekämpft worden. Es hat auch viele Opfer gegeben. Dass diese Freiheiten immer wieder neu erkämpft werden müssen, zeigt der aktuelle Konflikt. Deswegen ist Hochmut vonseiten des Westens in dieser Auseinandersetzung vollkommen fehl am Platze. Wir haben vielmehr geduldig zu erklären, dass es in der Tat - darauf ist schon hingewiesen worden - auch bei uns das Recht gibt, Geschmacklosigkeiten zu publizieren. Auch in Deutschland ist schon an der einen oder anderen Stelle von diesem Recht Gebrauch gemacht worden. Wir müssen aber auch deutlich machen, dass es demokratische Mittel und Wege gibt, sich zur Wehr zu setzen, wenn man sich in seinen religiösen Gefühlen verletzt fühlt. Der Verletzung der in unserer Verfassung aufgeführten Grundrechte werden durch einen klaren rechtlichen Rahmen Grenzen gesetzt. Verständnis und Verständigung sind nur im Dialog möglich. Das richte ich an all diejenigen, die jetzt Huntington zitieren. Überall auf der Welt gilt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie gilt nicht nur für den Westen oder für die islamische Welt; sie gilt universell. ({6}) Deswegen geht es hier um eine grundlegende Frage. Wir sollten in diesem Zusammenhang nicht von Leitkultur oder Ähnlichem reden. Das Thema ist zu ernst, um es parteipolitisch zu instrumentalisieren. ({7}) Nur durch Austausch und ein echtes Auseinandersetzen mit dem anderen können sich gegenseitiges Verständnis, Respekt und - damit möchte ich schließen - vielleicht auch ein wenig mehr Gelassenheit im Dialog entwickeln. Herzlichen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, Herr Kollege Annen! Alle guten Wünsche für die weitere Arbeit! ({0}) Das Wort hat nun der Kollege Dr. Norman Paech für die Fraktion Die Linke.

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erinnern Sie sich noch der brennenden Vorstädte von Paris, Lyon und Marseille? Nun brennen Botschaften und Konsulate in Beirut und Damaskus. Ein Ende ist nicht abzusehen. Sicherlich wird der Ausbruch von Empörung, Hass und Gewalt zum Teil auch benutzt und instrumentalisiert. Aber der Hass muss schon vorhanden sein, ehe er zu einem Instrument der Gewalt gemacht werden kann. ({0}) Wie aber konnte durch ein paar Karikaturen das Fass zum Überlaufen gebracht werden? Das hat nur entfernt mit Toleranz und Pressefreiheit zu tun, Herr Kuhn - es hat niemand hier vorgeschlagen, sie anzutasten -; das ist meines Erachtens die falsche Erklärung, mit der in Europa auf die Vorfälle reagiert wird. Das Ganze hat vielmehr mit Provokation, Demütigung und Arroganz zu tun. ({1}) Nicht nur der Westen fühlt sich - durch die Terrorakte in seinen Grundfesten angegriffen, auch die gesamte islamische Welt fühlt sich bedroht, und zwar durch die Kriege gegen Afghanistan und den Irak, die täglich wiederholte Drohung gegen den Iran und die offene Forderung nach Regimewechseln in den so genannten Schurkenstaaten. Zur Demütigung trägt auch die Globalisierung bei. Sie verstärkt auch in den islamischen Ländern die Kluft zwischen Arm und Reich. Die Programme der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds erfährt die breite Bevölkerung nicht als Wohltat oder Heilsbotschaft. ({2}) Sie fördern die Verarmung, zerreißen die Gesellschaften und tragen zur Zerstörung der Identität dieser Gesellschaften bei. Was wir als Demokratisierung, Good Governance und zivilisatorische Mission begreifen, ({3}) kommt auf der anderen Seite immer mehr als eine neue Kolonialisierung an, zumal wenn sie von Militär und Krieg begleitet wird. Das ist doch nicht unbegreiflich. ({4}) Guantanamo und Abu Ghureib sind nicht nur schlichte Orte der Haft und Folter, sondern auch Metaphern der kulturellen Demütigung, der Verhöhnung und des Angriffs auf die kulturelle Identität der Muslime. ({5}) Was haben wir zu tun? Der Dialog ist gut, wenn er denn gelingt. Doch glaube ich, dass der „Muslimtest“ nicht gerade der richtige Anfang ist. Zuerst müssen wir deeskalieren und abrüsten. Zu unserer friedenspolitischen Kultur gehört doch, dass wir Eskalation nicht mit Eskalation beantworten. ({6}) Der Terror ist nicht mit Krieg zu besiegen. Das sollte uns das Scheitern von Bushs Antiterrorkrieg gelehrt haben. Noch können wir innehalten. Ein Überfall auf den Iran, wie er derzeit in der Logik der beiderseitigen Eskalation liegt, hätte einen verheerenden Flächenbrand im ganzen Nahen und Mittleren Osten zur Folge, und nicht nur das: Eventuell würden wir auch Berlin nicht wiedererkennen. Wir fordern deswegen von der Bundesregierung - sie ist nicht anwesend -: Leiten Sie den Weg zum UNOSicherheitsrat um zu einer internationale Friedens- und Sicherheitskonferenz über den Nahen Osten! ({7}) Die Aufgabe einer solchen Sicherheitskonferenz wäre, die Lösung der ungelösten Probleme der Region umfassend anzugehen. Das heißt zunächst eine unantastbare Garantie der Existenz Israels in eindeutig definierten Grenzen - an dieser Stelle vermisse ich Ihren Beifall -, aber auch eine unantastbare Garantie eines lebensfähigen, souveränen Staates Palästina in zukunftsfähigen Grenzen, Abzug aller Besatzungstruppen aus dem Irak und statt der dauernden Drohung mit militärischen Sanktionen gegen den Iran Gewaltverzicht und eine Nichtangriffsgarantie der USA und schließlich eine atomwaffenfreie Zone im ganzen Nahen Osten. ({8}) Ich bin mir sicher: Eine solche Friedenskonferenz würde natürlich nicht alle Probleme dauerhaft lösen. Aber sie würde deeskalieren, der islamischen Welt die gebührende Achtung erweisen und für Gleichberechtigung sorgen. Zum Schluss: Erst wenn in dieser Region Frieden und Sicherheit vor westlichen Interventionen herrschen, werden solche Karikaturen wie die jetzigen zwar noch immer Kritik auslösen, aber keine brennenden Botschaften mehr hinterlassen. Ich danke Ihnen. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Joachim Hörster ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion.

Joachim Hörster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000932, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich teile die Auffassung des Kollegen Annen, der eben zu Recht festgestellt hat, dass man das heutige Thema nicht im Rahmen einer Aktuellen Stunde behandeln kann. ({0}) Herr Kuhn, als Sie die Debatte eröffnet und uns nahe gelegt haben, darüber nachzudenken, welchen Beitrag die deutsche Politik zur Deeskalation des Konfliktes leisten soll, habe ich mich gefragt, welchen Beitrag Sie selbst dazu geleistet haben. Die Allgemeinplätze, die Sie uns vorgetragen haben, helfen jedenfalls nicht weiter. ({1}) Was uns hilft, ist vielmehr eine ganz rationale und ruhige Bewertung der stattgefundenen Vorgänge. Zumindest in unserem Land sehe ich nicht, dass es anlässlich der Karikaturen einen Konflikt zwischen Muslimen und Nichtmuslimen gibt. ({2}) Die bei uns lebenden Muslime haben sich in einer Weise verhalten, wie es in unserer Gesellschaft üblich ist. Genauso wie ich als Christ ertragen muss, dass hässliche und geschmacklose Karikaturen über meine Religion erscheinen, haben sie es ertragen. Die Karikaturen gefallen ihnen nicht und sie fühlen sich beleidigt. Aber sie suchen die friedliche Diskussion. Der Sachverhalt ist nicht innenpolitisch, sondern außenpolitisch zu bewerten. Es fällt auf, wie sich einzelne Regierungen in dieser Sache verhalten. Erschienen sind die Karikaturen schon Ende September vergangenen Jahres. Aber die entsprechenden Aktionen haben erst in den letzten Wochen stattgefunden. Mir kann niemand weismachen, dass in Syrien eine Demonstration ohne Akzeptanz oder Duldung der Regierung stattfindet. ({3}) Ich kann aber erkennen, dass die Demonstrationen im Libanon nicht erwünscht waren. Das dortige Sicherheitssystem war mit dem, was entstanden ist, einfach überfordert. Man muss schon Fingerspitzengefühl besitzen, um die Lage zum Beispiel im Jemen zu beurteilen. Dort haben ausschließlich Frauen demonstriert. Wer einmal den Jemen besucht hat, der weiß, dass dort das offene Tragen von Waffen zur Darstellung der Männlichkeit gehört. Offenbar sollte auf der einen Seite dem Protest Raum gegeben werden, auf der anderen Seite wurde durch die Auswahl der Protestierenden Wert darauf gelegt, dass die Situation nicht eskaliert. So sind in jedem Land die Reaktionen unterschiedlich. Im Iran werden die Karikaturen instrumentalisiert, weil man sich im Konflikt wegen der Kernenergie befindet. In Syrien werden die Karikaturen instrumentalisiert, weil Syrien im Moment sogar in der arabischen Welt weitestgehend isoliert ist und man wieder Anschluss gewinnen will. Wenn man die Verhältnisse in den Ländern betrachtet, in denen vorrangig demonstriert worden ist und wo Radikale die Chance genutzt haben, gezielt bestimmte Menschengruppen in Rage zu bringen und sie aufzustacheln, Botschaften und Konsulate zu überfallen, dann sieht man, dass dahinter Methode steckt. Das hat überhaupt nichts mit einem Kampf der Kulturen zu tun. Es hat vielmehr damit zu tun, dass sich Systeme, die sich von ihrer Bevölkerung entfernt haben und die ihrer Bevölkerung die Partizipation an der politischen Entscheidung vorenthalten, hinter diesem vorgeschobenen Kulturkampf verstecken. Ich habe mit großer Aufmerksamkeit die Reaktionen von Politikern und bedeutenden Meinungsführern aus diesen Ländern verfolgt. Es stimmt mich schon sehr nachdenklich, dass, nachdem die Angriffe auf die Botschaft im Libanon erfolgt sind, der Innenminister zurückgetreten ist, weil er das nicht gewollt hat. Es stimmt mich sehr nachdenklich, dass andererseits der stellvertretende ägyptische Außenminister sagte: Die Karikaturen reihen sich in die antiislamischen Kampagnen ein, die seit dem 11. September 2001 den Westen beherrschen. ({4}) Der ägyptische Staatspräsident sagte, er warne vor der Verbreitung der Karikaturen, die Wirkung auf die Muslime sei kaum zu kontrollieren. Die Sprache offenbart, was der eigentliche Grund der Auseinandersetzung ist. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns ganz ruhig und gelassen mit der notwendigen Souveränität von Demokraten, die Pressefreiheit brauchen wie die Luft zum Leben, diesen Sachverhalt beurteilen und lassen Sie uns nach Ländern differenzieren. Ich bin überzeugt davon, dass dann der notwendige Dialog fortgesetzt und es nicht zu der Auseinandersetzung kommen wird, die so manche gerne hätten. Ich bedanke mich. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, dem Aufruf zur Gelassenheit können wir uns alle anschließen. Ich möchte für meine Fraktion anfügen: Wir hätten uns diese Gelassenheit im Zusammenhang mit manch anderen Debatten, beispielsweise bei der über den Straftatbestand der Religionsbeleidigung - § 166 StGB -, gelegentlich auch gewünscht. ({0}) Es kann kein Zweifel daran bestehen: Die Pressefreiheit umfasst auch die Freiheit, Geschmacklosigkeiten und Meinungen zu verbreiten, die andere nicht teilen. Es ist mit aller Macht zurückzuweisen, von einem frei gewählten Regierungschef eines Landes zu verlangen, sich für die Wahrnehmung dieses Rechtes zu entschuldigen. ({1}) In diesem Zusammenhang ist sehr genau darauf zu achten, wo es sich tatsächlich um die Verletzung von Menschen eines bestimmten Glaubens handelt und wo die Empörung über diese Verletzung für ganz andere Zwecke ausgenutzt wird. ({2}) Lieber Herr Kollege Paech, ich bin ganz und gar dagegen, den armen, arbeitslosen, perspektivlosen Bewohner einer französischen Vorstadt mit dem Randalierer in Beirut gleichzusetzen, der das christliche Viertel angegriffen hat. ({3}) Warum? Weil die Ursachen ganz andere sind. Übrigens, in Palästina hat nicht die Hamas, sondern haben die Wahlverlierer die Situation genutzt und randaliert. In Syrien - in einem Land mit einer anerkannten Menschenrechtsagenda - konnte eine Botschaft niedergebrannt werden. Es wird eine Debatte über die Vorherrschaft im Libanon geführt. Die libanesische Zivilgesellschaft ist aufgestanden, um dafür einzutreten, dass man zu einer anderen Kultur zurückkehrt. Im Libanon lebten immer Christen, Muslime, Jesiden und andere miteinander. Die Syrer haben diese Situation genutzt, um ihren Machterhalt dort zu zementieren. Es ist eine Beleidigung des Islam, eine Gleichsetzung mit den verletzten Gefühlen der Muslime in diesem Lande vorzunehmen. ({4}) An dieser Stelle kann es kein Vertun geben. Andererseits: Wenn wir einen Dialog mit den muslimischen Gesellschaften führen wollen, dann dürfen wir nicht als Erstes fordern, lieber Herr Schockenhoff - Herr Westerwelle, von Ihnen habe ich Ähnliches gehört -, diesen Dialog beispielsweise dadurch zu erschweren, dass wir Botschaften schließen und Finanzmittel kürzen. Zu Recht hat die Bundesregierung seit geraumer Zeit genau diesen Dialog in nicht weniger als 20 Botschaften - in Afghanistan und anderswo - mit erheblichen Finanzmitteln fortgesetzt. Es gilt, ihn zu stärken, gerade in einer solchen Situation. Nicht richtig ist, populistisch zu sagen: Wir machen das nicht. ({5}) Es gibt einen Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik. Wir müssen die Freiheit der Meinungsäußerung in unserem Lande ohne Abstriche verteidigen. Genauso sind wir für das Klima hier in Deutschland und in Europa verantwortlich. Es ist kein Beitrag zur Deeskalation, Menschen, die acht Jahre und länger hier leben, die nicht straffällig geworden sind und über die beim Verfassungsschutz nichts vorliegt, nur weil sie Muslime sind, bei der Einbürgerung einem besonderen Test zu unterziehen. ({6}) Das ist falsch, weil es den Eindruck hervorruft, diese Menschen gehörten nicht zu diesem Europa. Wir müssen klarstellen, dass Muslime in diesem Europa zu Hause sind, dass sie Bestandteil dieses Europas sind. Nur wenn wir es schaffen, diese Menschen in die europäischen Gesellschaften tatsächlich zu integrieren, haben wir eine Chance, zu verhindern, dass verbrecherische Regimes wie im Iran, wie in Syrien in der Lage sind, religiöse Gefühle von Menschen für ihre außerordentlich niederen Interessen zu instrumentalisieren. ({7}) Integration ist auch und gerade eine Frage der Sicherheit in Europa. Ich danke Ihnen. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Dr. Lale Akgün für die SPD-Fraktion.

Dr. Lale Akgün (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003492, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind Zeugen merkwürdiger Ereignisse. Die dänische Fahnenträgerin Holm erhält jetzt bei den Olympischen Spielen Personenschutz. In Indonesien wird ein Badmintonturnier abgesagt, weil dänische Spieler nicht geschützt werden können. Aus Stoffstücken, die eigentlich für palästinensische Fahnen gedacht waren, werden eilig dänische Fahnen zusammengenäht, damit sie anschließend verbrannt werden können. Als vor vier Monaten die Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung „Jyllands-Posten“ erschienen, wer hätte da gedacht, dass sie solch groteske Folgen haben würden? Sicherlich kaum jemand. Aber schon laufen einige durchs Land, die den Kampf der Kulturen erkennen wollen. Für mich als muslimische Demokratin gibt es keinen Gegensatz zwischen Demokratie und Islam. Demokratie, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit sind Werte, die in der Grundrechtecharta der Vereinten Nationen stehen und für alle verbindlich sind. ({0}) Demokraten, aber auch Nichtdemokraten gibt es in allen Religionen. Was wir im Moment in Teilen der muslimischen Welt erleben, ist der Versuch der Nichtdemokraten, ihre Macht zu demonstrieren. ({1}) Die Ausschreitungen in arabischen Ländern kommen nicht aus dem Nichts. Die Fundamentalisten haben die Gunst der Stunde erkannt und versuchen, die Situation für sich zu nutzen, sei es, um innenpolitisch zu punkten, sei es, um soziale Konflikte religiös zu verbrämen oder von sozialen Konflikten abzulenken. ({2}) Glauben Sie mir: Auch in islamischen Ländern sind nicht wenige Menschen über das entsetzt, was im Moment passiert. Wir sollten nicht pauschal davon ausgehen, dass alle Menschen in der muslimischen Welt undemokratisch eingestellt sind, dass sie gegen Presse-, Meinungs- oder Versammlungsfreiheit sind. Gerade die junge Generation will Freiheit und die Wertedemokratie. Die jungen Menschen wollen, dass sich bei ihnen etwas verändert. Ich sage noch einmal: Die Werte der Aufklärung sind universelle Werte. Dort, wo sie nicht zum Zuge kommen, herrscht ein Demokratiedefizit, an dessen Ausgleich wir mitarbeiten müssen, wenn wir es mit dem Dialog auf gleicher Augenhöhe ernst meinen. ({3}) Lassen Sie mich ein Beispiel anführen. Wir in Deutschland haben unsere Instrumente, um gegen unerwünschte Veröffentlichungen zu protestieren. Wir können diskutieren. Wir können den Presserat einschalten. Wir können uns auf § 166 Strafgesetzbuch berufen, der sich mit der Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen beschäftigt. Andere Länder haben diese Instrumente nicht. Wir müssen die marginalisierten Kräfte gerade in den arabischen Ländern unterstützen, damit dies auch bei ihnen möglich wird. Während wir hier debattieren, findet in Kuala Lumpur in Malaysia eine Konferenz der hochrangigen islamischen Gelehrten der Welt unter dem Motto „Wer spricht für den Islam? Wer spricht für den Westen?“ statt. Die Signale von dort sind ermutigend. Der malaysische Außenminister Syed Hamid Albar hat das Notwendige gesagt, indem er dazu aufrief, die Extremisten auf beiden Seiten in die Schranken zu weisen. ({4}) Er sagt: Wir müssen verstehen und vermitteln, dass es im Kern unserer Religionen um die Förderung des Friedens und nicht der Gewalt geht. Noch ein Wort zum Inland. Ich bin sehr froh über die gemeinsame Erklärung der großen islamischen Verbände in Deutschland, die sich klar gegen jede Gewalt stellen und zum friedlichen demokratischen Dialog aufrufen. ({5}) Angesichts der Tatsache, dass über 15 Millionen Muslime in der EU und über 30 Millionen Muslime in Europa leben, geht es nicht mehr darum, ob wir miteinander leben können, sondern darum, wie wir dieses Zusammenleben gestalten werden. ({6}) Dialog und das Herausstellen der gemeinsamen Werte ist jetzt unsere Aufgabe. Worte und Bilder haben hohe symbolische Bedeutung. Dies haben wir in den vergangenen Wochen zur Genüge erlebt. Es ist jetzt an der Zeit, unsere Worte für Versöhnung einzusetzen. Ich will der Bundespräsident aller Deutschen … sein und der Ansprechpartner für alle Menschen, die ohne einen deutschen Pass bei uns leben und arbeiten. Mit diesen Worten schaffte es der verstorbene Bundespräsident Johannes Rau, die Herzen der Zugewanderten in Deutschland zu gewinnen. Damit war er der Bundespräsident aller Menschen in Deutschland, auch der Muslime. Wir brauchen mehr Menschen im Geiste von Johannes Rau. ({7}) Wir brauchen mehr Menschen in der Politik, aber auch in den Medien, die zur Deeskalation beitragen. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Reinhard Grindel für die CDU/CSU-Fraktion.

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Debatte muss zusammenführen. Deswegen will ich am Anfang gerne betonen: Mein Eindruck ist, dass viele Christen in unserem Land sehr wohl Verständnis dafür aufbringen, wenn sich Muslime durch die MohammedKarikaturen verletzt fühlen. Sie eint ein Gedanke: Es muss Lebensbereiche geben, die uns heilig sind und die möglichst frei sein sollten von geschmacklosem Spott oder Schmähkritik. ({0}) Deshalb sage ich gerade als jemand, der vor seiner Arbeit im Deutschen Bundestag als Journalist tätig war: Es gilt, die Presse- und Kunstfreiheit zu achten; es gilt aber auch, die Selbstverantwortung für journalistisches und künstlerisches Handeln und die Folgen journalistischen Tuns zu bedenken. Beides gehört zusammen. ({1}) In diesem Zusammenhang will ich ausdrücklich die gemeinsame Aktion von „Bild“-Zeitung und „Hürriyet“ hervorheben. Das ist für mich ein Beispiel für verantwortlichen Journalismus, weil das Gemeinsame und nicht das Trennende von Deutschen und Türken betont wird. ({2}) Es ist jetzt sicher die richtige Botschaft, darauf hinzuweisen, dass im Alltag der Menschen viele Freundschaften gewachsen sind, die zu einem friedlichen Zusammenleben in unserem Land beitragen. In unruhigen Zeiten brauchen wir Aktionen wie die von „Bild“ und „Hürriyet“, die beruhigend wirken. Ich finde, wir sollten das loben. ({3}) Aber wahr ist ebenso: Die Pressefreiheit schützt auch die gezielte Provokation. Der Islam kennt ein religiöses Verbot von Bildern des Propheten. Das Grundgesetz kennt dieses Bilderverbot nicht. Auf diesen Unterschied kommt es an: Unsere Verfassung ist der Maßstab für alle Menschen, die in unserem Land leben. Daran haben sich alle bei uns zu orientieren. ({4}) Bei aller Besonnenheit müssen wir den Kern des Problems klar ansprechen. Der Dialog der Kulturen muss eine allgemein verbindliche Grundlage haben. Die Pressefreiheit und die Kunstfreiheit sind für eine Demokratie schlechthin konstituierend. Diese Grundrechte müssen wir gemeinsam wehrhaft verteidigen, wenn sie von Fundamentalisten und radikalen Islamisten infrage gestellt werden. ({5}) Es kann schon gar nicht Aufgabe der Politik sein, sich für journalistische oder künstlerische Arbeiten zu entschuldigen. Das wäre ein Staatsverständnis, das mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht in Einklang zu bringen ist. Das hat auch etwas mit der Kultur - um nicht zu sagen: Leitkultur - zu tun, die das Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen prägen muss. Das hat etwas damit zu tun, dass man in unserem Land die Freiheit der Presse achtet und eine Zensur nicht stattfindet. ({6}) Ich begrüße es - wie auch Sie, Frau Kollegin Akgün -, dass 16 türkische Organisationen in Deutschland die Gewalt wegen der Mohammed-Karikaturen verurteilt haben. Aber mit Verlaub: Etwas anderes wäre wohl auch problematisch gewesen. Wir brauchen mehr Verständigung auf gemeinsame Grundlagen. Die Muslime in Deutschland haben ein Recht darauf, dass wir klarer sagen, welche Integrationsleistungen wir von ihnen erwarten. Die deutsche Sprache und die Achtung von Verfassungsprinzipien gehören auf jeden Fall dazu. Integration bedeutet eben nicht Multikulti. Toleranz setzt einen klaren Standpunkt voraus. Toleranz kann es nicht gegenüber Intoleranten geben. Darauf müssen wir uns gemeinsam verständigen. ({7}) Wahr ist auch: Viele Fernsehbilder, die wir in den vergangenen Tagen gesehen haben, entsprechen auf makabre Weise mancher Karikatur. Diese Bilder machen vielen Menschen in unserem Land Angst. Wir müssen deshalb dafür sorgen, dass Konflikte nicht verschärft werden, die die Integration behindern könnten und sie nicht fördern. Das fängt für mich im Kleinen an, hier in Berlin. Wie viele von uns haben sich zum Schulhofstreit in BerlinWedding vorschnell und aufgeregt geäußert, bevor sie die Vertreter von Schülern, Eltern und Lehrern zum Beispiel in der Sendung von Sabine Christiansen einmal selbst erlebt haben und einsehen mussten, dass die Deutschpflicht eben kein Zwang, sondern eine freiwillige, auf die Situation der Schule bezogene gemeinsame Vereinbarung ist. Wir sollten uns Debatten ersparen, in denen man sich bewusst missverstehen will, wo doch mehr Verständnis füreinander angebracht wäre. ({8}) Herr Trittin, Sie hätten sich Ihre Angriffe zum Thema Muslimtest sparen können. ({9}) Sie sprechen von Sicherheit, zu der durch Integration ein Beitrag geleistet werden müsse. Diese Sicherheit ist aber auch bei Einbürgerungsverfahren zu fordern. Um nichts anderes geht es. ({10}) Wir alle können dazu einen Beitrag leisten, dass es keinen Kampf der Kulturen gibt. ({11}) Es ist richtig und wichtig - lassen Sie mich diesen Zusatz machen -, dass wir uns vor dem notwendigen Dialog unserer Werte vergewissern und in diesem Dialog für diese Werte einstehen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Bundesregierung erhält nun der Staatsminister Günter Gloser das Wort.

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kontroverse um die Karikaturen ist in der Tat besorgniserregend. Das Gewaltpotenzial, das in einigen Hauptstädten islamischer Staaten bei öffentlichen Protesten freigesetzt wird, ist für uns erschreckend. Ich bin froh darüber, dass dies in weiten Teilen der Debatte deutlich geworden ist. Wir sollten uns dennoch hüten, einen Zusammenstoß der Zivilisationen oder einen Kampf der Kulturen herbeizureden. Ich glaube, das wäre genau die falsche Antwort auf die jetzige Situation. ({0}) Günter Gloser, Staatsminister im Auswärtigen Amt Ich bin auch froh darüber, dass in den Beiträgen der Versuch unternommen worden ist, nicht zu pauschalieren, sondern zu differenzieren. Herr Kollege Hörster, Sie haben zum Beispiel die unterschiedlichen Situationen in einigen Ländern erwähnt. Vordergründig scheint es um eine bloße Güterabwägung zu gehen: Schutz der Religionsfreiheit gegen die Freiheit der Presse. Die Pressefreiheit hat bei uns Verfassungsrang und steht nicht zur Disposition. Auch die Religionen sind durch unsere Rechtsordnung vor Verächtlichmachung geschützt. Ich weise auf die entsprechenden Paragraphen im Strafgesetzbuch hin. Wir haben Verständnis dafür, dass Muslime in aller Welt die kontroversen Karikaturen als Verunglimpfung ihrer religiösen Überzeugung empfinden. Gleichwohl müssen wir deutlich machen, dass in unseren Gesellschaften Regierungen eben nicht in elementare Grundrechte eingreifen können. Zwar gelten auch Meinungsund Pressefreiheit nicht unbegrenzt. Diese Grenzen aufzuzeigen obliegt jedoch aus guten Gründen ausschließlich der Justiz und nicht den Regierungsverantwortlichen. Die Presse- und Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, mit dem sorgfältig umgegangen werden muss. Ich sage aber auch - darüber haben wir ebenfalls anlässlich von Vorkommnissen, die es in unserem eigenen Land gab, diskutiert -: Zum Umgang mit der Pressefreiheit gehört auch Verantwortungsbewusstsein. Wer von diesem Grundrecht Gebrauch macht, muss sich fragen, ob er andere Kulturen und Religionen herabsetzt oder lächerlich macht. Wer von der Pressefreiheit Gebrauch macht, muss sich fragen, ob er andere Menschen provoziert oder verletzt. Ich denke, die Vorgänge der letzten Tage zeigen, dass es auch bei uns einen großen Lernbedarf gibt. Protest und Demonstrationen gegen solche Veröffentlichungen sind legitim. Wer von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch macht, der muss sich auch kritisieren lassen. Völlig inakzeptabel sind aber die Gewaltausbrüche, die wir in den letzten Tagen erlebt haben. Für die Erstürmung der Botschaften und deren Brandstiftung sowie für Gewaltaufrufe gegen europäische Bürgerinnen und Bürger kann es keine Rechtfertigung geben. ({1}) Ich darf sicherlich auch in Ihrem Namen sagen: Da es gewünscht wird, dass Deutschland diesen Dialog fortsetzt und dass wir vor Ort vertreten sind, gilt in diesen Tagen unser Mitgefühl den Kolleginnen und Kollegen, die in den Botschaften und/oder Vertretungen von Institutionen - ob aus Deutschland oder aus anderen Ländern der Europäischen Union - vor Ort ihren Dienst tun, der mit einem gewissen Risiko behaftet ist. ({2}) Wir haben in den letzten Tagen den Regierungen in den betroffenen Ländern unseren Standpunkt deutlich gemacht. Es ist Sache dieser Regierungen, die Sicherheit der europäischen Botschaften zu garantieren. Da kann es keine Ausflüchte geben. Denn die Frage ist gerechtfertigt, wie die Reaktion wäre, wenn der umgekehrte Fall eingetreten wäre. Die EU-Mitgliedstaaten koordinieren ihre Haltung und unterstützen die österreichische Ratspräsidentschaft bei dem Bemühen um Deeskalation. Wir haben dankbar registriert - das darf ich unterstreichen -, dass besonnene Stimmen in der islamischen Welt - einige sind schon genannt worden - die Gewaltexzesse klar verurteilt haben. Wir fordern - ich glaube, zu Recht - die Regierungen, aber auch andere einflussreiche Persönlichkeiten in der islamischen Welt weiter nachdrücklich dazu auf, die Gewaltakte zu verurteilen. Die Beruhigung der Menschen liegt im Eigeninteresse der islamischen Welt. Der legitime Protest wird in einigen Staaten zurzeit in doch sehr durchsichtiger Weise - Sie haben das bereits in Ihren Beiträgen ausgeführt für andere Zwecke instrumentalisiert. Meine Anerkennung gilt den islamischen Verbänden in Deutschland, die ohne Zögern zu einer Versachlichung der Debatte beigetragen haben. Ich möchte dies hervorheben und meinen ausdrücklichen Dank dafür aussprechen. ({3}) Es ist sehr viel von Dialog die Rede. In der islamischen Welt herrscht sehr wohl das Bewusstsein, dass umfassende Reformen vorangetrieben werden müssen. Reformen sind die Voraussetzung dafür, das Potenzial der nachwachsenden Generationen zu wecken und ihre Lebenschancen zu verbessern. Die Menschen streben nach mehr politischer Mitgestaltungsmöglichkeit. Man könnte auch sagen: Sie streben nach Dialog, Rechtsstaatlichkeit, Bildungschancen, kurz: nach guter Regierungsführung. Die Auseinandersetzung um die Mohammed-Karikaturen hat lediglich einer breiteren Öffentlichkeit bei uns bewusst gemacht, wovor Experten seit längerem warnen: eine Vertiefung der kulturellen Kluft zwischen der westlichen und der islamischen Welt. Die Bundesregierung hat bereits nach dem 11. September 2001 versucht, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Ich muss unterstreichen: Die damalige Bundesregierung hat auf den Dialog der Kulturen gesetzt. Im Auswärtigen Amt ist der Politikschwerpunkt „Dialog mit der islamischen Welt“ eingerichtet worden. Konferenzen sind organisiert worden. Kulturaustausche und Besuchsprogramme haben stattgefunden. Konkrete Projekte der Zusammenarbeit sollen die Menschen in beiden Kulturkreisen einander näher bringen und gegenseitiges Verständnis wecken. Auf diesem Weg muss fortgeschritten werden. ({4}) Ich darf als ein positives Beispiel an die Arabientage, an die ersten „Tage der Arabischen Welt“ im Deutschen Bundestag erinnern, die im Dezember 2004 stattgefunden haben. Wie viele arabische Kolleginnen und KolleGünter Gloser, Staatsminister im Auswärtigen Amt gen, die hier zu Gast waren, haben gesagt - Kollege Hörster wird sich daran erinnern -, dass solche Debatten bisher in der arabischen Welt nicht stattgefunden haben! Aber in den Räumlichkeiten des Deutschen Bundestages konnte man auch unter arabischen Abgeordneten friedlich diskutieren. Ich glaube, das war ein wichtiges und richtiges Zeichen. ({5}) Ich füge hinzu: Von größter Bedeutung ist die gezielte Öffentlichkeitsarbeit. Ich erinnere an das seit 2002 bestehende arabische Fernsehprogramm der Deutschen Welle oder an die vielen Fortbildungsprogramme für Journalisten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre zu einfach, die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Karikaturenstreit als Beleg dafür zu werten, dass der Dialog der Kulturen gescheitert ist. Im Gegenteil: Die Vorgänge unterstreichen die Notwendigkeit bzw. die Dringlichkeit dieses Dialogs. Es gibt keine Alternative zum Dialog der Kulturen. Wenn uns die Ereignisse der letzten Tage und Wochen eines gelehrt haben, so die Erkenntnis, dass es sich um eine Sisyphusarbeit handelt. Der wichtigste Beitrag, den die deutsche Politik in der gegenwärtigen Situation leisten kann, ist das Bemühen, diesen Dialog beharrlich fortzusetzen und zu intensivieren. Der Dialog mit der islamischen Welt ist auch ein partnerschaftliches Angebot, notwendige Reformprozesse zu unterstützen. Wir tun dies nicht zuletzt aus dem ureigensten Interesse Europas an einer starken und vitalen Nachbarregion auf der südlichen und östlichen Seite des Mittelmeers. Die Europäische Union und die Mittelmeeranrainer haben vor zehn Jahren mit dem Barcelonaprozess den Rahmen für einen umfassenden Dialog in praktisch allen Bereichen, in Politik, Wirtschaft und Kultur, geschaffen. Ich glaube, auch auf diesem Weg muss fortgeschritten werden. ({6}) Als ein wichtiges Beispiel darf ich die erste Institution dieser Partnerschaft erwähnen: Die Anna-Lindh-Stiftung, die im Herbst letzten Jahres in Alexandria ihre Arbeit aufgenommen hat, hat das erklärte Ziel, das gegenseitige Verständnis und die Toleranz zu fördern. Es kommt uns nicht darauf an, den islamischen Staaten unsere Vorstellungen von Staat und Gesellschaft überzustülpen. Aber eine erfolgreiche Transformation wird nur gelingen, wenn der Reformprozess bei den Menschen der betroffenen Staaten Akzeptanz findet. Was wir tun können, ist, unser Modell, das uns Frieden und Wohlstand sichert, den Menschen in dieser Region im Wettbewerb der Ideen anzubieten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Kristina Köhler für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Kristina Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003569, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der heutigen Debatte wurde deutlich, dass wir uns alle darin einig sind, dass die Pressefreiheit zu den Grundlagen der Demokratie gehört. Trotzdem kann ich als gläubige Christin nachfühlen, dass sich Muslime durch diese Mohammed-Karikaturen verletzt und beleidigt fühlen. Wir, die CDU/CSU, haben in diesem Plenum mit unserem Kulturbegriff oft gefordert, dass wir, in Deutschland einen größeren gemeinsamen Nenner brauchen, einen Nenner, der über die Verfassung und das Strafgesetzbuch hinausgeht. Dieser größere gemeinsame Nenner umfasst nach unserer Ansicht eben auch die Rücksichtnahme auf die religiösen Gefühle. ({0}) Es gibt auch eine Verantwortung jenseits des Strafrechts und jenseits der Verfassung. ({1}) Diese Verantwortung zu erkennen, obliegt jedem selbst. Nennen wir das, was dazu benötigt wird, Taktgefühl. Insofern empfinde ich die Mohammed-Karikaturen als vollkommen taktlos. ({2}) Wir sind uns alle ebenfalls darin einig, dass die Gewalt, auch die verbale Gewalt, in den muslimischen Ländern mit nichts zu entschuldigen ist. Wir wollen heute über unseren Beitrag zur Deeskalation sprechen. Dieser muss sein, bei uns in Deutschland ein friedliches und fruchtbares Miteinander der Menschen unterschiedlicher Kulturen vorzuleben. Dies wird uns jedoch ohne einen allgemein akzeptierten Modus Vivendi nicht gelingen. Dafür wurde auch heute immer wieder der Begriff des Dialogs bemüht. Wir brauchen diesen Dialog. Aber zu der Art und Weise, wie wir hier in Deutschland diesen Dialog bisher geführt haben, heißt es in einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung - leider völlig zu Recht -: Lernfortschritte im Blick auf mehr Verstehen und Verständigung sind kaum erkennbar. Selbstkritik fällt aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, seien wir selbstkritisch! Brauchen wir wirklich einen weiteren Dialog, der nur im Sinne eines permanenten Gedankenaustauschs funktioniert? Haben wir das nicht bereits jahrzehntelang gemacht? Müssen wir uns weiter auf Podiumsdiskussionen anlächeln, obwohl wir uns doch oft nicht verstehen? Das wollen wir nicht. Wenn wir also eine neue Ebene im Umgang miteinander erreichen wollen - dazu gibt es keine vernünftige Alternative -, dann müssen wir die Kristina Köhler ({3}) Probleme unserer bisherigen Dialogkultur offensiv und klar benennen. Das heißt zuallererst, dass wir von gegenseitigen Instrumentalisierungen und Pauschalisierungen Abstand nehmen müssen. ({4}) Weder sind die Muslime in Deutschland ständig diskriminierte Opfer noch sind sie alle schlafende Terroristen. ({5}) Sie sind Teil unserer Gesellschaft und haben als solche das Recht und auch die Pflicht, sich so behandeln zu lassen wie jede andere gesellschaftliche Gruppe auch: mit Respekt vor ihren Überzeugungen, aber auch mit klarer Kritik an fundamentalistischen Positionen. ({6}) Wenn wir uns darauf einigen können, dann können wir auch die Rahmenbedingungen eines solchen kritischen Dialogs klar benennen. Ich möchte hier zwei Rahmenbedingungen nennen, die ich für wichtig halte. Die eine Rahmenbedingung richte ich an die Adresse der Vertreter der islamischen Verbände, die zweite Rahmenbedingung richte ich an die christliche Mehrheit in Deutschland. Für die Vertreter der islamischen Verbände in Deutschland muss eines klar sein: In unserem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat steht das Grundgesetz über der Scharia. Wenn ich auf der Internetseite eines bekannten deutschen muslimischen Verbandes lese, dass sich Muslime in einem nicht muslimischen Staat nur so lange an dessen Rechtsnormen zu halten hätten, solange diese sich nicht im Widerspruch zum Islam bzw. zur Scharia befänden, muss ich klar sagen: Ein solches Staatsverständnis kann in der Bundesrepublik Deutschland nicht die Basis eines Dialogs sein. ({7}) Wenn wir das akzeptieren würden, gäben wir uns selbst auf und damit unsere Prinzipien von Säkularität und Freiheit. Der christlich geprägten Mehrheit in Deutschland sage ich: Die momentane Auseinandersetzung sollte uns bewusst machen, dass die bei uns geltenden Freiheiten eben keine Selbstverständlichkeit sind. Diese Freiheiten brauchen das Fundament eines christlichen Menschenbildes. Wenn wir uns unserer eigenen Werte und Normen und damit unserer Kultur nicht wieder stärker bewusst werden, dann sind auch wir kein ernst zu nehmender Partner im Dialog der Kulturen. ({8}) Wir brauchen einen Neuanfang im Dialog der Kulturen. Dieser Dialog muss mehr sein als nur der Austausch von Gedanken. Wir brauchen einen Dialog, in dem wir uns wieder unserer kulturellen Fundamente bewusst sind und in dem Muslime ihre Fundamente ohne Fundamentalismus verteidigen. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Sebastian Edathy, SPD-Fraktion.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der demokratische Rechtsstaat - das ist hier zu Recht festgehalten worden - ist ohne das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und auf Pressefreiheit nicht denkbar. Ich füge hinzu: Er ist auch nicht denkbar ohne Glaubensfreiheit. Die im Grundgesetz verankerten Bürgerrechte bilden die zentrale Voraussetzung der Freiheit und die Grundlage für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Überzeugungen in Deutschland. Für das Gelingen dieses Zusammenlebens ist allerdings mehr nötig als ein bloßer gesetzlicher Rahmen. Für das Gelingen dieses Zusammenlebens bedarf es der gemeinsamen Überzeugung, einander nicht bewusst zu kränken, einander nicht zu diffamieren und den Glauben eines Menschen nicht zu verunglimpfen. ({0}) Echte Demokratie lebt eben auch davon, dass man aus Gründen der menschlichen Achtung und des menschlichen Anstands nicht alles tut, was man formal tun darf. Deswegen ist hier begründet und zu Recht festgehalten worden: Die Veröffentlichung der so genannten Mohammed-Karikaturen war ohne Zweifel zulässig. Aber sie war zugleich respektlos, weil sie den islamischen Glauben verunglimpfte. Die Pressefreiheit schützt selbstverständlich und ohne jeden Zweifel auch eine nahezu pubertäre Provokationslust; ein verantwortlicher Umgang mit der Pressefreiheit sieht jedoch anders aus, als es die dänische Zeitung an den Tag gelegt hat. Umgekehrt gilt, dass in Reaktion auf diese Veröffentlichung auch Proteste und Demonstrationen zulässig sind. Diese müssen sich aber zwingend im Rahmen der geltenden Rechtsordnung bewegen. Dazu gehört, dass Gewalt, gleich welcher Art, nicht nur nicht zu rechtfertigen, sondern auch nicht zu entschuldigen ist. ({1}) Im Kern geht es bei dem Thema, mit dem wir uns heute befassen, um die Frage, wie wir statt eines Klimas der Konfrontation und der Ausgrenzung ein Klima der Verständigung und der gegenseitigen Achtung schaffen können. Frau Köhler, vielleicht können wir uns darauf verständigen, in künftigen Debatten ein Stück weit im Hinterkopf zu behalten, dass es besser wäre, nicht stets von „uns“ und „denen“ zu sprechen, sondern von „wir“, jedenfalls dann, wenn wir über Deutschland reden. ({2}) Ich finde es begrüßens- und bemerkenswert, dass gestern in der in Deutschland erscheinenden türkischen Zeitung „Hürriyet“ und in der „Bild“-Zeitung ein gemeinsamer Kommentar veröffentlicht wurde, in dem es unter anderem heißt: Wir rufen alle auf, Respekt vor den Gefühlen des jeweils anderen zu zeigen, Beleidigungen, Demütigungen oder Niedertracht zu vermeiden und ein wahrhaftiges Bündnis der Kulturen aufzubauen, das auf gegenseitigem Respekt basiert. Ich hoffe, das wird in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten auch den Alltag in der Zeitungslandschaft prägen. ({3}) Genau in diese Richtung gehen auch die besonnenen Erklärungen islamischer Verbände in Deutschland. Was sind eigentlich die Konsequenzen für die Debatte im eigenen Land? Es wird - nach meinem Dafürhalten auch in diesem Haus - gelegentlich recht leichtfertig über vermeintliche oder tatsächliche Integrationsmängel gesprochen. Ja, es gibt solche Mängel. So stellen wir fest - um nur ein Beispiel zu nennen -, dass es in unserem Land einen hohen Anteil junger Migranten mit abgebrochener Schulausbildung gibt. Das gilt aber nicht nur für junge Migranten islamischen Glaubens, sondern auch für viele junge Spätaussiedler. Was bedeutet das? Wir sollten gemeinsam darauf achten, dass wir vorhandene, oftmals sozial begründete Probleme nicht ethnisieren oder kulturalisieren, da sich das schlichtweg nicht gehört. ({4}) Um ein anderes Beispiel zu nennen: So wenig wir bei Gewalttaten zwischen deutschen Ehepartnern den Grund für diese Gewalt in ihrem christlichen Glauben sehen, so wenig sollten wir zunächst einmal, wenn es um Gewaltdelikte in türkischen Familien geht, ihren Glauben, den Islam, als Ursache für diese Gewaltdelikte betrachten. Das hilft uns bei der Problemanalyse nicht weiter. ({5}) Achten wir gemeinsam darauf, uns nicht von Vorurteilen leiten zu lassen, auch nicht bei Einbürgerungsverfahren. Achten wir gemeinsam darauf, beim Missbrauch einer Religion nicht die Religion selbst ins Zwielicht zu rücken. Herr Kollege Gerhardt, ich glaube nicht, dass sich ein gemäßigter Moslem für den Missbrauch seiner Religion durch Islamisten zu rechtfertigen hat. ({6}) Gestern meldeten die Nachrichtenagenturen, nach einer aktuellen Umfrage hätten 55 Prozent der Befragten erklärt, Vorbehalte gegenüber den in Deutschland lebenden Muslimen zu haben. Lassen Sie uns dem gemeinsam entgegenwirken. Gerade die aktuelle Debatte in Deutschland unterstreicht mehr als deutlich, dass bei allen Defiziten die Integration von Bürgern muslimischen Glaubens im Großen und Ganzen eine Erfolgsgeschichte ist, auf die wir stolz sein können und stolz sein sollten. ({7}) Menschen, die den Islam zu politischen Zwecken missbrauchen, sind in Deutschland in der klaren Minderheit. Lassen Sie mich mit einem Zitat von Johannes Rau schließen, einem großen Menschenfreund, der vor wenigen Jahren zu dem Thema, das uns heute beschäftigt, Folgendes völlig zutreffend ausgeführt hat: Wir kämpfen in der ganzen Welt gemeinsam gegen Terror. Aber wir kämpfen nicht gegen Glaubensgemeinschaften, nicht gegen Religionen und nicht gegen Kulturen. Das zu betonen ist sehr wichtig, weil es immer wieder Menschen gibt, die uns einreden wollen, Glaube könne die Grundlage für Hass bilden. In Wirklichkeit aber führt gelebter Glaube zur Versöhnung, zur Verständigung und zum Miteinanderleben. Wer seinen Glauben lebt, braucht keinen Fundamentalismus. Johannes Rau hat Recht. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzte Rednerin in der Aktuellen Stunde ist die Kollegin Monika Griefahn, SPD-Fraktion.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vor zweieinhalb Jahren durfte ich bei der Wiedereröffnung des Goethe-Instituts in Kabul dabei sein. Obwohl die sehr große Zerstörung in Afghanistan das Leben der Menschen dort hauptsächlich bestimmte, war das Interesse gigantisch. Eine bewegende Szene war, als ein bayerischer Zitterspieler zusammen mit afghanischen Musikern auf traditionellen Instrumenten musizierte, und das, nachdem unter der sechsjährigen Herrschaft der Taliban überhaupt keine Musik gemacht werden durfte. Die Deutsche Welle sendet ein Programm in Dari und Paschtu. Ich frage mich, ob die Ausbildung zur Pressefreiheit dadurch schon Früchte getragen hat. Wir haben gesehen, dass es auch in Kabul Demonstrationen gab. Diese verliefen aber im Unterschied zu anderen Orten friedlich. Der Dialog wird durch konkrete Projekte in der Entwicklungspolitik, in der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, in vielen kleinen Schritten intensiv begleitet. Wir haben aber die Situation, dass die Muslime in Deutschland in den Medien oft über einen Kamm geschoren werden. Es wird das Gefühl vermittelt, Muslime würden grundsätzlich Gewalt als Mittel akzeptieren; denn wir sehen Muslime nur mit Gewehren in der Hand. Das ist aber nicht so. Ich glaube, das muss man immer wieder deutlich machen. Es gibt auch in den islamischen Ländern genug Menschen, die ernsthaft an einem Dialog interessiert sind. Gerade wurde bereits erwähnt, dass die unter 30-Jährigen durch das Internet und andere Kontakte ganz andere Interessen entwickelt haben und sich nicht mehr den diktatorischen Regimen hingeben wollen. ({0}) An sie müssen wir appellieren, mit ihnen müssen wir im Gespräch bleiben. Wir müssen ihnen auf dem Weg zu einer demokratischen Kultur helfen; das wollen sie ja selber. Einige Kolleginnen und Kollegen sind der Auffassung, dass die Vielfalt der Kulturen - ich habe gerade den Begriff „multikulti“ gehört; ich finde, das ist eine zu flapsige Beschreibung -, ({1}) die wir immer wieder unterstützen, am Ende ist. Das denke ich nicht. Es gibt keine Trennlinie zwischen Europa und den islamischen Staaten, die man auf der Landkarte einzeichnen kann. Vielmehr verläuft die Trennlinie zwischen den Menschen, die für einen Dialog offen sind, und denen, die ein Interesse an der Eskalation des Konflikts und der Beibehaltung der Diktatur haben. ({2}) Uns Deutschen wird, verstärkt durch die Fernsehbilder, ein Gefühl vermittelt, das auch in meinen Gesprächen mit Nachbarn zum Ausdruck kommt. Sie sagen: Eigentlich bin ich ein offener Mensch. Aber langsam kann ich es nicht mehr ertragen, ständig gewaltbereite Menschen als Muslime dargestellt zu sehen. - Das Problem ist, dass wir eben nicht alle über einen Kamm scheren dürfen. Dafür müssen wir uns besser kennen lernen. Es muss ein runder Tisch eingerichtet werden, an dem Menschen verschiedener Kulturen und Religionen ihre Sichtweisen darstellen können. Jeder muss deutlich machen, was ihm wichtig ist und was ihn an seinem Gegenüber stört. Denn wenn wir uns aber nicht kennen und die Unterschiede zwischen unseren Kulturen nicht beschreiben können, dann werden wir auch keinen erfolgreichen Dialog führen können. Wie bereits mehrfach gesagt wurde, kann dieser Dialog nur auf dieser Grundlage stattfinden: Es muss anerkannt werden, dass die Menschenrechte für alle Menschen gelten und universal gültig sind. Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit gelten für jeden Menschen auf der Welt. Das müssen wir immer wieder deutlich machen. Wir müssen auch deutlich machen, dass wir Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung nie akzeptieren werden. Diese Erkenntnis haben wir uns in den letzten Jahren und Jahrhunderten mühsam erarbeitet. Dieser Prozess war auch für uns nicht selbstverständlich; denn in unserer eigenen Geschichte haben wir mehrfach das Gegenteil erlebt. Deshalb sollten wir nicht so arrogant sein, zu sagen: Die anderen wenden Gewalt an. Wir sind darüber hinweg. - Auch wir müssen uns diese Einsicht immer wieder neu erarbeiten. Wir müssen unsere eigenen kulturellen Werte selbst definieren und uns auch über sie klar werden. Um dies leisten zu können, sind wir auf die dafür notwendigen Instrumente angewiesen, zum Beispiel auf die Arbeit der Landeszentralen für politische Bildung, die allerdings in einigen Ländern geschlossen worden sind. ({3}) Nur auf diesem Weg können wir unsere kulturellen Werte unseren Schülerinnen und Schülern vermitteln. Um etwas über unsere kulturellen Hintergründe erfahren zu können, müssen wir eine Diskussion über das Staatsziel Kultur führen. Zudem brauchen wir in Zukunft eine ausreichende finanzielle Ausstattung der Projekte im Bereich der Entwicklungspolitik, in der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Dafür sind wir auf gut ausgebildete Menschen angewiesen, die gegenwärtig in einem der so genannten Orchideenfächer studieren. Diese Fächer, zum Beispiel der Studiengang Islamwissenschaften, werden aber leider immer mehr ab- statt aufgebaut. ({4}) Ich halte das für einen Fehler. Ich glaube, wir brauchen Menschen, die Dialoge führen und helfen können, Brücken zu bauen. Wir müssen die Programme in Zukunft fortführen, damit wir unsere Entscheidungen nicht - abhängig von unserer Tagesform und den Bildern, die wir in den Zeitungen gesehen haben - aus dem Bauch heraus treffen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit ist die Aktuelle Stunde beendet, sicherlich aber nicht die Debatte über das Thema, das ihr zugrunde lag. Wir sind damit auch am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 15. Februar 2006, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen, unter Berücksichtigung sonstiger Verpflichtungen, ein schönes Wochenende.