Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie alle sehr
herzlich.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b so-
wie den Zusatzpunkt 8 auf:
15 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes vor Fluglärm in der Umgebung von Flugplätzen
- Drucksache 16/508 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Horst Friedrich ({1}), Birgit
Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Das Fluglärmgesetz unverzüglich und sachgerecht modernisieren
- Drucksache 16/263 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Peter Hettlich, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Schutz der Anwohner vor Fluglärm wirksam verbessern
- Drucksache 16/551 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Bundesregierung Bundesminister Gabriel.
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Bundesregierung bringt heute
ihre Gesetzesnovelle zur Verbesserung des Schutzes vor
Fluglärm ein. Die Bürgerinnen und Bürger und die Wirtschaft haben ein gemeinsames großes Interesse daran,
dass wir diese Novelle zügig beraten und für Rechtssicherheit sorgen.
Wenn ich die Anträge und die Positionierungen zu
diesem Vorhaben richtig verstanden habe, dann sind wir
uns fraktionsübergreifend einig, dass der Gesetzgeber
handeln muss. Diese Meinung kommt jedenfalls auch in
den Anträgen der Oppositionsfraktionen FDP und Grüne
sehr dezidiert zum Ausdruck.
({0})
Denn Millionen Menschen, die in der Nähe von Flughäfen leben, werden durch Fluglärm nicht nur gestört, sondern auch einem erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Wir wissen alle, dass wissenschaftliche Studien
seit langer Zeit Lärm als eine der großen Ursachen für
Herz-Kreislauf-Erkrankungen belegen.
Wir wissen gleichzeitig, dass wir hier gleichsam zwei
Seelen in einer Brust haben. Es gibt diejenigen, die, sofern sie sich das leisten können, zu jeder Zeit mit Flugzeugen möglichst weit wegfliegen wollen, diejenigen,
die vom Lärm betroffen sind und die Flughafennutzung
zum Zwecke der Lärmminderung einschränken wollen.
Diese beiden Seelen spiegeln sich natürlich auch in dem
Gesetzentwurf wider. Wir alle - jedenfalls die, die sich
länger als ich mit diesem Thema befasst haben - wissen,
Redetext
dass in den letzten sechs Jahren immer wieder der Versuch unternommen wurde, beides zu einem ausgewogenen und vertretbaren Kompromiss zu führen.
Lassen Sie mich deshalb eine Bemerkung vorab machen. Ich habe bei der Vorbereitung des Gesetzentwurfes
bemerkt, dass wir - wie alle das gelegentlich tun - immer noch quasi reflexartig das wiederholen, was wir in
der Vergangenheit, als wir entweder in der Regierung
oder in der Opposition waren, zu bestimmten Themen
gesagt haben. Ich schlage vor, dass wir, weil es sich hier
um eine sehr schwierige Suche gehandelt hat - sonst
hätte es nicht sechs Jahre gedauert, bis man zu einem
Gesetzentwurf gekommen ist -, versuchen, in den Ausschussberatungen sehr dezidiert darauf einzugehen, welche denkbaren Kritikpunkte es gibt und was zu den vorliegenden Kompromissen geführt hat. Es ist ja ein
Gesetzentwurf, der eins zu eins den Kompromiss der alten Bundesregierung wiedergibt. Ich kann gut verstehen,
dass sich diejenigen, die damals in der Opposition waren
- zum Teil sind sie es ja auch heute noch -, an das erinnern, was sie zu jener Zeit gesagt haben. Das würde uns
nicht anders gehen. Aber vielleicht können wir es schaffen, noch einmal genau zu überprüfen, ob das, was gegen den Gesetzentwurf eingewandt wird - einerseits von
den Vertreterinnen und Vertretern derjenigen Bürgerinitiativen, die die Belastung noch weiter verringern wollen, andererseits von den Vertretern der Fluggesellschaften oder Flughäfen -, ob also diese Maximalpositionen
wirklich durchgesetzt werden sollten oder ob wir nicht
mit diesem Gesetzentwurf einen Stand erreicht haben,
der gewährleistet, dass wir das inzwischen frei entwickelte Richterrecht als Parlament wieder einfangen und
eine wirklich verlässliche gesetzliche Grundlage schaffen.
Wir sollten ehrlich zugeben, dass unser Gesetzentwurf, der den Versuch unternimmt, beide Seiten zu respektieren, noch nicht all das beinhaltet, was die Rechtsprechung in Deutschland abdeckt. Es gibt Hinweise
darauf, dass auch Rechtsprechung stattfindet, die weit
über das hinausgeht, was selbst der Kompromissentwurf
von Rot-Grün aus der letzten Legislaturperiode enthält.
Auf der anderen Seite gibt es Flughafenbetreiber, die
insbesondere ihre Neubauten, aber auch ihre Erweiterungsbauten bereits heute schon gemäß den Richtlinien
dieses Gesetzentwurfs errichtet haben.
Derzeit läuft ein Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht um den Flughafen Berlin-Brandenburg International. Ich will in diesem Zusammenhang auf einen
Punkt hinweisen, der für diejenigen, die dieses Projekt
wollen, wichtig ist: Die Seite, die diesen Flughafen
bauen will, bezieht sich vor Gericht auf diesen Gesetzentwurf mit seinen Lärmgrenzwerten und nimmt sie als
Argument für die Bewilligung der Planungen. Diesen
Punkt muss man wissen, wenn man den Gesetzentwurf
wesentlich verändern will.
Die Bayern liegen, was den Bereich Lärmschutz angeht, wieder einmal weit vorne. Der Flughafen München ist heute einer der wirtschaftlichsten Flughäfen, die
wir in Deutschland haben. Dort gibt es aber überhaupt
keine Probleme, die im Gesetz vorgeschriebenen Grenzwerte einzuhalten.
({1})
Man sollte aber auch offen ansprechen, dass es bei einem Flughafen Schwierigkeiten gibt, nämlich beim
Flughafen Frankfurt/Main. Dort entstanden die Probleme, weil über einen langen Zeitraum zu wenig unternommen worden ist. Man hat sich darauf verlassen, dass
die gesetzlichen Regelungen entweder nicht kommen
oder nicht so scharf ausfallen werden. Deshalb ist der Investitionsbedarf in Hessen höher als an jedem anderen
Standort. Übrigens hat Leipzig überhaupt keine Probleme mit der Einhaltung dieser Grenzwerte.
({2})
- Darüber freuen sich die Leipziger.
Wir haben also an einem Flughafen Probleme, über
die wir offen reden müssen. Aber wir sollten nicht so
tun, als ginge es einfach von der Hand, alle Probleme
durch eine wesentliche Änderung des Gesetzentwurfes
zu lösen. Meine Bitte wäre also, sehr intensiv in die Beratungen einzusteigen. Ich will dem Ausschuss dafür
gerne zur Verfügung stehen. Das gilt natürlich auch für
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines Hauses.
Wir wollen diesen Gesetzentwurf nicht durchpeitschen,
sondern wir wollen dafür sorgen, dass wir sachgerecht
über die Probleme reden, die sich bei der Suche nach
Kompromissen natürlich immer ergeben. Dass es diese
Probleme gibt, sollte weder die eine noch die andere
Seite verschweigen.
Das geltende Gesetz stammt aus dem Jahre 1971. Wir
alle können uns vorstellen, dass es längst nicht mehr up
to date ist. Damals gab es in Deutschland 2 500 Starts
und Landungen pro Tag; heute sind es 6 000. 1971 wurden 32 Millionen Passagiere befördert. 2005 waren es
165 Millionen. Das 35 Jahre alte Gesetz entspricht nicht
mehr den Erkenntnissen der Lärmwirkungsforschung.
Die Lärmschutzzonen reichen kaum über die Flughafengelände hinaus. Das noch geltende Fluglärmgesetz erlaubt sogar, ein Krankenhaus oder einen Kindergarten
unmittelbar am Zaun der großen deutschen Flughäfen zu
errichten. Das wird niemand von Ihnen für sinnvoll halten.
Aus diesem Grund müssen wir das inzwischen durch
Richterrecht in der beschriebenen Art und Weise sehr
unterschiedlich geregelte Problem beim Lärmschutz neu
lösen. Einige Stimmen sagen, dass dies bitte schön nicht
in einem neuen Fluglärmgesetz geregelt werden sollte,
sondern im Luftverkehrsgesetz. Ich will niemandem
unterstellen, dass er damit gezielt versucht, in eine Bundesratsdebatte einzusteigen. Man muss aber Folgendes
wissen: Wenn wir Entbürokratisierung wollen, dann
macht es nicht viel Sinn, ein Gesetz zweimal zu beraten,
nämlich das Fluglärmgesetz für den Bereich des Bestandes und das Luftverkehrsgesetz bei wesentlichen Ausund Erweiterungsbauten. Denn es sind die gleichen Regelungen. Der Verweis im vorliegenden Gesetzentwurf
auf § 8 des Luftverkehrsgesetzes ist nach meiner Auffassung wirklich eine exzellente Möglichkeit zur Minimierung unnötiger Bürokratie. Auf anderen Wegen würden
wir dies nicht erreichen. Mehr Rechtssicherheit gibt es
durch eine andere Vorgehensweise nicht. Das ist alles
durch die Verfassungsrechtler geprüft worden. Daher
glaube ich, dass wir hier eine sinnvolle Lösung gefunden
haben.
({3})
Ich will auf die Einzelheiten des Gesetzentwurfs nicht
intensiver eingehen; das werden wir in den Ausschussberatungen tun.
Im Gesetz sind erweiterte Schutzzonen vorgesehen.
Im Antrag der FDP-Fraktion, aber auch im Antrag der
Grünen wird darauf hingewiesen, dass man bei Hauptund Nebenflugbetriebsrichtungen gleiche Regelungen in
Bezug auf den Lärmschutz haben sollte. Unser Vorschlag, erweiterte Schutzzonen einzurichten, stellt einen
guten Kompromiss dar. Man muss nur wissen, dass diese
erweiterten Schutzzonen ganze Gemeindeteile betreffen.
Ich war lange genug in der Kommunalpolitik tätig, um
zu wissen, was ein absolutes Bauverbot in einer Gemeinde für den Bürgermeister bedeutet. Auch da sind
uns als Parteien die kommunalpolitischen Probleme unserer Bürgermeister und Landräte nicht fremd. Es geht
vielmehr darum, mit entsprechenden technischen Maßnahmen zu versuchen - in diesem Fall zugegebenermaßen gestreckt über zehn Jahre -, weiterhin vorhandene
Baumöglichkeiten zu nutzen.
Auf die Kosten will ich allerdings noch eingehen. Im
Vorfeld sind gigantische Kosten veranschlagt worden:
am Anfang um die 5 Milliarden Euro. Dann gab es in
Zusammenarbeit mit allen Beteiligten eine Untersuchung darüber, welche Kosten in den kommenden zehn
Jahren ausgelöst werden. Ich glaube, dass wir diesen
Kostenschätzungen deshalb trauen können, weil alle
Beteiligten an dieser Untersuchung teilgenommen haben. Bei Verkehrsflugplätzen entstehen Kosten von
600 Millionen bis 740 Millionen Euro, bei Militärflugplätzen Kosten von 75 Millionen bis 95 Millionen Euro.
Umgelegt auf den Zeitraum von zehn Jahren bedeutet
dies eine Verteuerung um 1 Euro pro Ticket. Bei einer
Verteuerung um 1 Euro pro Ticket kann ich, ehrlich gesagt, keine Gefährdung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit erkennen, jedenfalls dann nicht, wenn
Freunde von mir für einen Flug nach Barcelona weniger
bezahlen als für ein S-Bahn-Ticket in Berlin.
({4})
Das sollte man also realistisch sehen.
Ich gebe zu: Es gibt ein Problem; das ist der Flughafen Frankfurt. Dort gibt es einen sehr großen Nachholbedarf. Deshalb sind die Kosten dort relativ hoch. Ich bin
gern bereit, auch darüber noch zu reden. Aber an sich haben wir einen guten Kompromiss gefunden.
Eine abschließende Bemerkung zum Thema „Ungleichbehandlung des militärischen Flugverkehrs und
des zivilen Flugverkehrs“. Wir haben uns in unserem
Kompromiss dazu entschieden, den Vorschlag, beide
Verkehre gleich zu behandeln, nicht zu übernehmen. Es
gibt ja insbesondere aus der FDP-Fraktion Forderungen
nach einer Gleichbehandlung. Sie wissen so gut wie ich,
dass der Grund dafür, dass wir für eine differenzierte Behandlung waren, der ist, dass die Tagesrandbelastung bei
Militärflughäfen bzw. Militärflugzeugen am Morgen,
am Abend, in der Nacht und vor allen Dingen am Wochenende, also gerade dann, wenn sich Menschen in ihrer Erholungsphase befinden, weit geringer ist als bei
zivilen Flughäfen. Wir sind der Überzeugung, dass für
die zivile Luftfahrt schärfere Grenzwerte gelten müssen,
als es bei Militärflugplätzen nötig ist. Das ist der Grund
dafür, dass wir uns im Kompromisswege für eine Differenzierung der Werte entschieden haben.
Ich glaube, nach sechs Jahren Debatte - es ist ein
schwieriges Feld; mit Sicherheit sind nicht alle Probleme
gelöst - haben wir einen vertretbaren Kompromiss geschlossen, bei dem wir eine wirklich überalterte Rechtssituation sowohl zugunsten der Luftverkehrswirtschaft
- sie hat jetzt Planungssicherheit - als auch zugunsten
der Anwohnerinnen und Anwohner haben erneuern können. Ich freue mich auf die Ausschussberatungen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Michael Kauch, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Geschichte der Novellierung des Fluglärmgesetzes ist lang
und leidig. Bereits die Vorgängerregierung hat in ihrer
Koalitionsvereinbarung von 1998 den Menschen in den
Einflugschneisen versprochen, es werde sich jetzt etwas
ändern. Eingehalten wurden diese Versprechungen bis
zum Schluss jedoch nicht.
Jetzt legt die neue Regierung endlich einen Gesetzentwurf vor. Das begrüßen wir ausdrücklich.
Viel zu lange haben nicht nur die Anwohner darauf
gewartet, dass der Lärmschutz an die aktuellen Erkenntnisse der Lärmwirkungsforschung angeglichen wird.
Viel zu lange haben auch die Flughafenbetreiber darauf
gewartet, dass es endlich Rechtssicherheit, Planungssicherheit und vor allen Dingen Wettbewerbsgleichheit
unter den Flughäfen gibt. Denn die Vielzahl der unterschiedlichen Urteile hat dazu geführt, dass die Wettbewerbssituation der einzelnen Flughafenstandorte nicht
mehr fair geregelt ist.
({0})
Tatsächlich wird heute an den meisten Flughäfen entweder freiwillig oder durch Auflagen der Betriebsgenehmigung mehr für den Schallschutz getan, als es das Gesetz von ihnen verlangt. Wenn es nach der heutigen
Rechtslage, nach dem heutigen Fluglärmgesetz, ginge,
dann wäre beispielsweise an meinem Heimatflughafen
in Dortmund die Schutzzone 1 an der Startbahn und die
Schutzzone 2 am Terminal zu Ende. Das ist der Stand
des Fluglärmgesetzes von 1971. Deshalb haben wir erheblichen Handlungsbedarf.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch den Sorgen begegnen, die Bürger im Blick darauf haben, was denn
passiert, wenn wir jetzt ein Gesetz verabschieden, es
aber eine Betriebsgenehmigung gibt, die einen stärkeren
Lärmschutz vorsieht. Ich denke, alle - auch die Schutzgemeinschaften gegen Fluglärm - sollten dazu beitragen, dass in der Diskussion Sachlichkeit einkehrt. Wenn
wir hier ein Gesetz verändern, das Mindeststandards
setzt, dann hebt das natürlich nicht die bestehenden
Betriebsgenehmigungen auf.
Wir begrüßen, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Wir begrüßen aber ausdrücklich nicht, dass sie diesen Gesetzentwurf vorgelegt hat;
denn sie macht damit nichts anderes, als die Fehler der
Vorgängerregierung eins zu eins zu übernehmen.
({1})
Herr Gabriel, Sie sind mit Ihrem Entwurf eines Fluglärmgesetzes weiter gekommen als der Kollege Trittin,
der heute ebenfalls unter uns weilt. Inhaltlich ist es aber
kein Fortschritt gegenüber der Einigung vom Mai, die
das Kabinett nie erreicht hat. Dieses Fluglärmgesetz ist
weit davon entfernt, einen angemessenen Interessenausgleich zwischen den betroffenen Anwohnern, den Nutzern und den Flughafenbetreibern zu leisten. Vor allem
müssen wir feststellen: Auch Sie begehen mit Ihrem Gesetzentwurf den trittinschen Fehler, beim Lärmschutz
Bürger erster, zweiter und dritter Klasse zu schaffen.
({2})
Anwohner von Militärflughäfen sollen lediglich bei
Grenzwerten geschützt werden, bei denen nach einhelliger Einschätzung der Lärmwirkungsforschung eine Gesundheitsgefährdung besteht. Sie argumentieren, das sei
durch die besondere Situation in den Tagesrandlagen begründet. Natürlich ist das Lärmbild an einem Militärflughafen ein anderes als an einem Verkehrsflughafen.
Die Grenzwerte, über die wir reden, sind aber bereits
Mittelwerte. Das heißt: Wenn man in den Tagesrandlagen eine niedrigere Belastung als an den Verkehrsflughäfen hat, dann ist sie während des Tages umso größer. Es
gibt in diesem Land auch Menschen, die nachts im Spätdienst oder frühmorgens arbeiten und während des Tages
ihre Ruhephasen brauchen. Deshalb müssen alle Anwohner, wenn es um Mittelwerte über den Tag geht,
gleich behandelt werden.
({3})
An den neuen und auszubauenden Flughäfen wollen
Sie Schallschutzmaßnahmen schon deutlich früher bezahlen lassen als an Bestandsflughäfen. Es ist ein durchaus diskussionswürdiges Argument, zu sagen: Wenn jemand einen neuen Flughafen baut, dann muss es einen
Interessenausgleich zwischen ihm und den Anwohnern
geben. Die Frage aber ist: Was ist das Schutzziel des
Fluglärmgesetzes? Das Fluglärmgesetz hat das Ziel, Gesundheitsschutz sicherzustellen; das Luftverkehrsrecht
hat das Ziel, den Interessenausgleich herzustellen. Deshalb sind wir der Meinung, dass die Frage der Ausbauflughäfen angemessen im Luftverkehrsrecht zu klären
ist, weil es andere Schutzziele als das Fluglärmgesetz
hat.
({4})
Das, was ich gerade aufgeworfen habe - Anwohner
erster, zweiter und dritter Klasse -, umschreibt die zentralen Kritikpunkte unsererseits an diesem Gesetzentwurf. Da es um den Gesundheitsschutz der Menschen
geht, müssen die Grenzwerte für alle gelten. Deshalb
werden wir, die FDP-Fraktion, uns dafür einsetzen, dass
im Ausschuss eine Anhörung mit Fachleuten aus der
Lärmwirkungsforschung stattfindet, um insbesondere
die Argumente bezüglich der Militärflughäfen auszuräumen.
Es stellt sich folgende Frage: Besteht nicht das wirkliche Argument der Bundesregierung dafür, die Anwohner
an Militärflughäfen schlechter zu stellen - Herr Gabriel,
es ist vielleicht nicht Ihr Argument, sondern das Ihrer
Kabinettskollegen -, darin, dass die Militärflughäfen die
einzigen Flughäfen sind, wo der Bund die Maßnahmen
selber bezahlen muss, während ansonsten mit dem Fluglärmgesetz ein Gesetz geschaffen wird, für dessen Umsetzung andere zahlen müssen, nämlich die Kommunen,
die Länder oder die privaten Eigentümer der Verkehrsflughäfen? Wenn es den Bund selber Geld kostet, ist er
nicht bereit, diese Kosten zu tragen. Das dürfte der tiefere Sinn dessen sein, was hier im Hinblick auf die Militärflughäfen beschlossen wird.
({5})
Wir, die FDP-Fraktion, wollen anspruchsvolle Grenzwerte, die dem aktuellen Stand der Lärmwirkungsforschung entsprechen. Wir wollen, was die Schallschutzmaßnahmen angeht, eine Gleichbehandlung des zivilen
und des militärischen Fluglärms. Wir wollen die Einführung strenger Nachtschutzzonen. Dabei sollten wir in
den Ausschussberatungen noch einmal darüber nachdenken, ob es möglicherweise sinnvoll ist, im Gesetz die
Frage der Einzelschallereignisse gegenüber dem Dauerschallpegel stärker zu gewichten; denn gerade die Aufwachreaktionen in der Nacht, die gesundheitsgefährdend
sind, kommen nicht so sehr durch den Dauerschallpegel,
sondern durch laute Einzelereignisse zustande. Da sollten wir uns das Gesetz noch einmal genauer anschauen.
({6})
Die Grünen haben die so genannte 100/100-Regelung
in ihrem Antrag wieder aufgewärmt, obwohl Herr Trittin
sie bereits aus dem Gesetzentwurf gestrichen hatte. Wir
bitten die Bundesregierung daher, bei ihrem Kurs zu
bleiben; denn es muss darum gehen, realistische und
nicht hypothetische Belastungsszenarien in das Gesetz
aufzunehmen.
({7})
Es ist wichtig, zu fragen: Wie wollen wir die Siedlungssteuerung betreiben, um nicht die Zahl derjenigen
zu erhöhen, die durch Lärm belastet werden? Deshalb
wäre es sinnvoll, die Bauverbote im Fluglärmgesetz zu
verschärfen. Die Bundesregierung macht in ihrem Gesetzentwurf das Gegenteil: Die Bauverbote werden gelockert. Auch darüber müssen wir im Ausschuss noch einmal dringend reden; denn es kann nicht sein, dass, um
den von Ihnen angesprochenen Bürgermeistern Gutes zu
tun, Bauvorhaben genehmigt und Häuser errichtet werden, in denen später Menschen wohnen, die erneut
Schallschutzmaßnahmen einfordern, die finanziert werden müssen.
Eines ist an diesem Vorgang bemerkenswert: Der Minister hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, dem die CDU/
CSU auch zugestimmt hat. Noch vor der Entscheidung
im Kabinett hat die Kollegin Reiche jedoch eine so
grundsätzliche Kritik an diesem Gesetzentwurf in einer
Pressemitteilung verbreitet, dass man sich fragen muss,
ob dieser Gesetzentwurf überhaupt in der Koalition abgestimmt wurde. Darüber hinaus muss man die Kollegin
Reiche fragen, ob sie sich jemals mit diesem Thema beschäftigt hat; denn über ihre Argumente zur Kostenschätzung wurde in den letzten Monaten ausführlich diskutiert und die Probleme sind einvernehmlich zwischen
den Betreibern und den Fluglärmgegnern geklärt worden.
An dieser Stelle möchte ich dazu aufrufen, die sachlichen Fragen des Gesetzentwurfs zu klären. Die liberale
Opposition wird sich für einen angemessenen Interessenausgleich einsetzen.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ulrich Petzold,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kauch,
selbstverständlich können wir manchem Argument folgen. Sie haben die Militärflughäfen angesprochen. Dazu
möchte ich Ihnen etwas sagen. Wenn Sie die DLR-Studie und das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster
richtig lesen, dann kommen Sie nicht umhin, der Regelung zuzustimmen, die wir gefunden haben.
Lärm ist eine Geißel der modernen Zivilisation.
({0})
In einer Zeit, in der Hektik und Stress immer mehr den
Lebensrhythmus sehr vieler Menschen bestimmen, steigt
das Bedürfnis nach Erholung und Ruhe. Waren Ruhe
und Stille in den vergangenen Jahrhunderten noch etwas
Selbstverständliches, wurde das Recht auf akustische
Ungestörtheit in den letzten Jahren immer mehr zum
Luxusgut.
Ein wesentlicher Störfaktor für die meisten Bürger ist
der Verkehrslärm, vor allem die Geräusche, die durch
den zunehmenden Luftverkehr entstehen. Die Zahl der
davon betroffenen Menschen steigt ständig und die Menschen fragen die Politik zu Recht nach Antworten für ihr
Problem.
Es wird immer wieder angeführt, dass das gültige
Fluglärmschutzgesetz aus dem Jahr 1971 stammt, die
letzte Aktualisierung 1984 vorgenommen wurde und
sich seitdem nichts getan hat. Das ist, wie Herr Bundesminister Gabriel bereits ausgeführt hat, nur die halbe
Wahrheit. Eine ganze Reihe von Gesetzen, Verordnungen und europäischen Richtlinien haben in Randbereichen immer wieder auf das Problem des Fluglärms Bezug genommen und sich positiv auf die Lärmminderung
ausgewirkt. Man darf ebenso nicht vernachlässigen, dass
Verkehrsflughäfen und Fluggesellschaften sehr viele
technische Vorleistungen zur Lärmminderung erbracht
haben. So wurden von ihnen bis zum Jahr 2002 rund
550 Millionen Euro für passive Lärmschutzmaßnahmen
der Anwohner aufgewandt, 420 Millionen Euro wurden
davon allein auf freiwilliger Basis ausgegeben.
Das heute eingesetzte fliegende Material verursacht
im Vergleich zu dem in der Zeit, in der das noch gültige
Lärmschutzgesetz verabschiedet wurde, einen um
30 Dezibel verminderten Lärm. Auch lärmmindernde
An- und Abflugverfahren mit neuen Technologien und
optimierten Flugroutenplanungen haben sich sehr positiv
ausgewirkt. Nicht umsonst werden die Lärmwerte pro
Flugbewegung, die 1971 für Wohngebiete eingefordert
wurden, heute schon auf dem Flugplatzgelände erreicht.
Doch muss man natürlich auch feststellen: All die lobenswerten lärmmindernden Maßnahmen wurden durch
den dramatisch gewachsenen Flugverkehr deutlich kompensiert.
Deshalb gab es bereits 1997 eine Anhörung im Deutschen Bundestag, in der ein dringender Handlungsbedarf
festgestellt wurde. Dieser mündete im Februar 1998 in
einen Bundestagsbeschluss mit dem Auftrag an die Bundesregierung, eine Novellierung des Fluglärmgesetzes
zum Schutz der Bevölkerung vorzunehmen. Im Mai
2005 legte der vorherige - seit 1998 im Amt befindliche - Bundesumweltminister den Entwurf eines Fluglärmschutzgesetzes vor, der jedoch der Diskontinuität
anheim fiel. Umso höher ist es zu bewerten, dass Bundesminister Gabriel nach der Vereinbarung im Koalitionsvertrag das Problem Fluglärm so kurzfristig und
zielstrebig in Angriff genommen hat. Wir werden seine
Bemühungen, durch die Novellierung Rechtsfrieden und
Rechtssicherheit für die Betroffenen herzustellen, unterstützen.
({1})
Es muss unser Ziel sein, den Gesetzgebungsvorgang in
einem überschaubaren Zeitraum abzuschließen.
({2})
Mit wachsender Sorge sehe ich jedoch ein Problem,
über das gesprochen werden muss. Die Rechtsabteilung
Ihres Hauses, Herr Minister Gabriel, hat die Gesetzgebungskompetenz für den vorliegenden Gesetzentwurf
mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 und Art. 73 Nr. 6 des Grundgesetzes begründet. Dagegen steht die Auffassung der
Bundesländer. Sowohl das Fluglärmgesetz aus dem Jahr
1971 als auch dessen zwischenzeitliche Änderungen
wurden mit Zustimmung des Bundesrates verabschiedet.
Mit der Novelle sollen die den Ländern im Rahmen der
Bundesauftragsverwaltung übertragenen Vollzugsaufgaben mit den entsprechenden Kostenfolgen erheblich ausgeweitet bzw. neu begründet werden. Damit würde das
Gesetz unmittelbar in die Verwaltungskompetenz der
Länder im Sinne von Art. 84 Abs. 1 des Grundgesetzes
eingreifen und es bedarf daher nach Auffassung der Länder zwingend der Zustimmung des Bundesrates.
Herr Bundesminister, ich habe die Befürchtung, dass
sich die Rechtsabteilung Ihres Hauses in der Frage der
Zustimmungsbedürftigkeit durch die Länder etwas
vergaloppiert hat. Ich unterstelle nicht einmal, dass Ihre
Juristen Unrecht haben, das nicht. Aber wir haben in der
vorherigen Legislaturperiode auch schon versucht, das
Hochwasserschutzgesetz - daran können Sie sich sehr
gut erinnern, Herr Trittin - zustimmungsfrei durch den
Bundesrat zu bekommen.
({3})
Das Ende vom Lied war, dass der Bundesrat mit einer
Zweidrittelmehrheit seine Kompetenz für das Hochwasserschutzgesetz erklärte. Dadurch war es mit der geplanten Zustimmungsfreiheit vorbei. Sie wissen das ganz genau.
({4})
Da halfen dann auch keine Appelle an die Parteidisziplin
Ihrer rheinland-pfälzischen Umweltministerin Conrad.
Es hatte sich eine Phalanx von Ländern gebildet, die ein
Jahr Verhandlungen zur Folge hatte, uns also ein Jahr
Stillstand gekostet hat.
({5})
Dies hätte bei rechtzeitigen, vertrauensvollen Gesprächen sicherlich vermieden werden können. Genau das
fordern wir ein.
({6})
Wir brauchen diese vertrauensvollen Gespräche auch
in unserer Fraktion. Ich denke an die nicht gerade prickelnde Unterrichtung durch einen Ihrer Abteilungsleiter
am Dienstag. Ich denke, der Umgang Ihres Hauses - das
haben Sie bewiesen - kann ein ganz anderer sein. Ich
hoffe auf eine sehr gute Zusammenarbeit in den nächsten
Wochen.
Ich gehe mit Sicherheit davon aus, dass sich die Positionen nicht so wesentlich unterscheiden und durchaus in
Übereinstimmung gebracht werden können. Deswegen
muss es uns in den nächsten Wochen darum gehen, folgende Fragen frühzeitig auszuräumen: Inwieweit dürfen
in Fluglärmzonen überhaupt noch Wohngebäude oder
lärmsensible Einrichtungen errichtet werden? Muss es
nicht eine Haftung für Bauherren und -planer geben, die
den Lärmschutz vernachlässigt haben? Ist es möglich,
weitere positive Anreize für einen verstärkten Einsatz
Lärm mindernder Flugzeuge zu setzen? Sind ohne weitere Änderungen im Luftverkehrsgesetz tatsächlich alle
Interpretationsspielräume und alle Anlässe für Rechtsstreitigkeiten beseitigt? Welche Erkenntnisse der Lärmwirkungsforschung sind so gesichert, dass sie bei gesetzlichen Regelungen berücksichtigt werden können?
Zu einigen dieser Fragen wird sich in ein paar Wochen die Judikative in Leipzig im Rahmen des Mammutprozesses um den Großflughafen Schönefeld äußern.
Welchen Zielpunkt sie dabei setzt, sollte uns nicht egal
sein: Es geht zum Beispiel darum, ob die Forderung des
Leipziger Regierungspräsidiums erfüllt wird, im Rahmen der Planfeststellung für den Leipziger Flughafen
auch den Aspekt des Wiedereinschlafens in Nachtschutzzonen zu berücksichtigen, und um die Frage, welche Wirkung die Ergebnisse der DLR-Studie im Rahmen
zukünftiger juristischer Verfahren entfalten werden. Wir
sollten uns durchaus überlegen, wie wir in den nächsten
Wochen mit den Betroffenen umgehen und in welcher
Form wir gemeinsam mit ihnen beraten.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Lutz Heilmann, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Was lange währt, wird leider nicht immer gut. Seit Jahrzehnten wird über die Novellierung des Fluglärmgesetzes gesprochen. Rot-Grün hat sieben Jahre lang angekündigt, einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen. Jetzt
dürfen wir im Bundestag über diesen Gesetzentwurf debattieren. Eine lange Lagerung führt zwar meist zu einem guten Wein, nicht aber zu einem guten Gesetzentwurf.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein reiner „Schallschutzfenster-Fördergesetzentwurf“. Kein einziger Flughafen wird dadurch leiser und kein Anwohner wird wirklich vom Fluglärm entlastet. Dieser Gesetzentwurf ist
ein reiner Erstattungsgesetzentwurf, in dem die Zahlungen der Flughäfen an die Anwohner geregelt werden.
({0})
Wenn wir über Fluglärm reden, dürfen wir aber nicht
nur über Schallschutzfenster oder technischen Fortschritt
sprechen. In der Tat würde zwar das einzelne Flugzeug
- wenn auch zu langsam, so aber doch kontinuierlich leiser. Gleichzeitig würde sich jedoch die Anzahl der
Flüge verdoppeln, in Deutschland in etwa alle 20 Jahre.
Die Folge wäre, dass der Fluglärm insgesamt deutlich
zunehmen würde.
Noch dramatischer sind die Klimafolgen des Flugverkehrs: Er ist auf dem besten Weg, zum Klimakiller
Nummer eins zu werden. So überstiegen die Klimafolgen des Luftverkehrs bereits im Jahre 2000 die der weltweiten PKW-Flotte.
Der Anteil des Flugverkehrs am globalen Treibhauseffekt beträgt bereits 9 Prozent; die Tendenz ist steigend.
Aufgrund massiver Subventionen sind im Luftverkehr
sehr hohe Wachstumsraten zu verzeichnen. Gleichzeitig
allerdings schädigt er die Umwelt am meisten. Daher
fordern wir den Abbau aller Subventionen für den Flugverkehr.
({1})
Denn der Abbau der Subventionen würde selbst nach der
niedrigsten Berechnung jedes Jahr mehr Geld einbringen
als das Fluglärmgesetz in den nächsten zehn Jahren an
Kosten verursacht.
Noch immer gibt es keine Kerosinsteuer, noch immer
zahlt der internationale Luftverkehr keine Mehrwertsteuer und noch immer werden die Billigflieger von
Flughäfen massiv subventioniert. All dies ist nicht länger hinnehmbar. Denn im Gegensatz dazu sind in den
Ticketpreisen der wesentlich umweltfreundlicheren
Bahn Mineralölsteuer-, Stromsteuer- und Mehrwertsteuerzahlungen enthalten.
({2})
Allein diese Bestandteile kosten die Kunden oft mehr als
ein Flugticket. Wir hoffen, dass die EU ihre Planungen
hinsichtlich der Einbeziehung des Luftverkehrs in den
Emissionshandel nun umsetzt und dass die Bundesregierung dieses Vorhaben aktiv unterstützt.
Werte Kolleginnen und Kollegen, das Fluglärmgesetz
bringt einige Verbesserungen für die betroffenen Menschen. Es ist aber bei weitem nicht ausreichend. Für
wirklichen Lärmschutz müssten echte Grenzwerte eingeführt werden, die nicht überschritten werden dürften.
({3})
Diese würden die Flughafenbetreiber zwingen, aktive
Maßnahmen zur Senkung des Fluglärms durchzuführen,
zum Beispiel Beschränkungen für laute Flugzeuge und
Nachtflugverbote. Leider schafft der vorliegende Gesetzentwurf keine rechtliche Grundlage für Nachtflugverbote. Die gewählten Grenzwerte für die Tagschutzzonen sind nicht ausreichend. Ein wirksamer
Gesundheitsschutz der Anwohner ist somit nicht gewährleistet.
An einigen Flughäfen - der Minister sprach es an wurden in letzter Zeit Grenzwerte für den Schallschutz
festgelegt, die strenger sind als die, die im jetzt vorgelegten Gesetzentwurf enthalten sind. In der Praxis sind
niedrigere Grenzwerte also machbar. Die vorgesehenen
Grenzwerte führen, wie der Minister richtig sagte, zu
Mehrkosten von umgerechnet maximal 1 Euro. Ich bin
mir sicher, unsere und auch Ihre Wähler zahlen gerne
auch 2 Euro pro Flugticket mehr. Ja, mehr kostet ein anspruchsvoller Gesundheitsschutz im Flugbereich nicht.
({4})
Die vorgesehene Einführung einer Nachtschutzzone
sehe ich zwar als eine deutliche Verbesserung an, die
hierfür vorgeschlagenen Grenzwerte sind aber noch zu
hoch. Statt des Wertes von 50 dB, der überdies erst
ab 2011 gelten soll, muss schnellstmöglich ein Grenzwert von 45 dB angesetzt werden. Nur so kann garantiert werden, dass Anwohnern Schlafstörungen erspart bleiben. Eine Übergangsregelung bis 2011
widerspricht doch dem gesunden Menschenverstand.
Übergangsfristen von bis zu 13 Jahren für den Anspruch
auf Schallschutz verhöhnen die Betroffenen, die teilweise seit Jahrzehnten auf eine Minderung der Lärmbelästigung warten. Ich empfehle allen Schöpfern dieser
Regelung, in die Nähe eines Flughafens zu ziehen.
({5})
Dort können Sie einen Praxistest durchführen; ich wünsche Ihnen ein gutes Durchhaltevermögen.
Die Festsetzung der Tagschutzzone 2 hat fast keine
rechtlichen Konsequenzen. Wir fordern deswegen, dass
wie in der Tagschutzzone 1 Erstattungssysteme eingeführt werden. Die Bauverbote in Schutzzonen werden
durch viele Ausnahmeregelungen ausgehebelt. Statt die
Bebauung einzuschränken, werden die Baumöglichkeiten mit diesem Gesetz sogar ausgeweitet. Damit entfällt
ein wesentlicher Vorteil des Fluglärmgesetzes für die
Flughafenbetreiber, die zu Recht darauf hinweisen, dass
viele der heute von Lärm Betroffenen in die Nähe eines
bestehenden Flughafens gezogen sind.
Die so genannte 100/100-Regelung zur Messung des
Fluglärms ist im Gegensatz zum Referentenentwurf des
BMU von 2004 entfallen. Die stattdessen vorgeschlagene Sigma-Regelung wird bei der Lärmmessung zu bis
zu 4 dB niedrigeren Nominalwerten führen. Die
Folge ist, dass die Schutzzonen um bis zu 30 Prozent
kleiner ausfallen. Da sich die FDP-Fraktion in ihrem Antrag explizit gegen die Anwendung der 100/100-Regelung ausspricht, können wir diesem nicht zustimmen.
Zum Antrag der Grünen. Auf Dauer werden Sie Ihren
Spagat zwischen Regierung und Opposition nicht durchhalten. Die niedrigeren Lärmgrenzwerte für Militärflughäfen sind sachlich nicht zu begründen. Die Differenz
von 3 dB hört sich zwar wenig an, entspricht aber einer Verdoppelung des Verkehrs. Anwohner von Militärflughäfen haben außerdem nur einen Anspruch auf
Schallschutzfenster, Anwohner von Zivilflughäfen hingegen haben zusätzlich einen Anspruch auf Belüftungsanlagen.
Herr Minister, da Sie auf die Kommunalpolitiker hinweisen, würde ich gern erwähnen, dass viele Kommunen
vom Tourismus leben, auch in meiner Gegend, um Lübeck, wo regelmäßig Tiefflüge auf der Tagesordnung
stehen. Ich bitte, in der Debatte über das Gesetz darauf
noch einmal zu sprechen zu kommen.
Die Bevorzugung von Militärflughäfen soll einzig
den Bundeskriegsminister
({6})
wohl gesonnen stimmen, dem der Schutz der heimischen
Bevölkerung anscheinend wenig am Herzen liegt und
der das Geld eher für kriegerische Einsätze der Bundeswehr benötigt.
Werte Kolleginnen und Kollegen, über diese und andere Regelungen des Gesetzentwurfs werden wir im
Ausschuss sicher ausführlich beraten. Ich verspreche Ihnen, dass wir uns dabei massiv für den Schutz der Lärmbetroffenen einsetzen werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried
Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Um es vorweg zu sagen: Wir Grünen begrüßen
es außerordentlich, dass der jetzige Bundesumweltminister Gabriel den unter Rot-Grün erarbeiteten Gesetzentwurf, den Jürgen Trittin durch das Kabinett und in
den Bundesrat gebracht hat, hier einbringt. Das freut
uns; das bekennen wir ganz offen.
({0})
Wir waren davon überrascht.
Wir werden uns nicht aus der Verantwortung stehlen,
wie es andere machen. Damit will ich zum „Spagat“
kommen: Kollege Heilmann, der schlimmste Spagat,
den es gibt, ist der, den die PDS im Osten macht nach
dem Motto „Wir im Osten haben das gleiche Recht auf
Fluglärm wie der Westen“. Ihre Bürgermeister im Osten
kämpfen, aber um Fluglärm und um Flughäfen, während
Sie hier im Bundestag so tun, als seien Sie die vorderste
Front der Lärmschutzinitiativen. Das ist nicht glaubwürdig.
({1})
Wir begrüßen diesen Gesetzentwurf. Ein solches Gesetz wird einen Fortschritt gegenüber dem rechtlichen
Zustand der vergangenen 35 Jahre bedeuten; das kann
man doch nicht übersehen. Das alte Gesetz ist in jeder
Hinsicht unzulänglich. Um es bildlich zu sagen: Es wäre
so, als wenn es im Automobilbereich noch heute die Abgasnormen und Grenzwerte der 60er-Jahre gäbe. So ist
in etwa die derzeitige Situation im Bereich Fluglärm. Es
kann uns Parlamentarier doch nur ärgern, wenn in
Deutschland in unserer parlamentarischen Demokratie
nicht mehr das Parlament Recht setzt, sondern die Richter das tun. Insofern ist es wichtig, dass wir bei der Erarbeitung eines solchen Gesetzes endlich in die Gänge
kommen.
({2})
Ein Wort zur früheren Opposition aus CDU/CSU und
FDP und zu ihren Ländervertretern: Sie hätten in den
letzten Jahren immer wieder die Möglichkeit gehabt,
dieses Projekt nach vorne zu bringen. Es war zuletzt der
Bundesrat, der ein solches Gesetz pauschal abgelehnt
hat, obwohl es eigentlich gar nicht zustimmungspflichtig
ist. Das Problem ist, dass zwar von vielen wohlfeil gesagt wird, für die Anwohner müsse beim Lärmschutz etwas getan werden, dass aber aufgrund der Interessen vor
Ort gegen ein Lärmschutzgesetz gekämpft wird.
Bevor ich auf die Details dieses Gesetzes zu sprechen
komme, möchte ich noch Folgendes feststellen: Es ist
eine Illusion - das haben wir immer gesagt -, zu glauben, mit einem Gesetz den Fluglärm insgesamt bekämpfen zu können. Dieses Gesetz konzentriert sich vor allem
auf die Bereiche Entschädigung und Lärmschutzzonen. Das ist auch gut so. Darüber hinaus gibt es
europäische Richtlinien wie zum Beispiel die zu lärmbedingten Betriebsbeschränkungen. Im Rahmen ihrer Umsetzung in deutsches Recht kann man viel besser aktive
Lärmschutzmaßnahmen oder Nachtflugverbote durchsetzen. In diesem Zusammenhang kann viel besser eine
gesetzliche Verankerung von aktivem Lärmschutz vorgenommen werden als in dem Fluglärmgesetz.
({3})
Die europäische Umgebungslärmrichtlinie verlangt, dass
auch an Flughäfen in Ballungsräumen Lärmschutz- und
Lärmminderungspläne erarbeitet werden, dass also beim
Schallschutz aktiv eingegriffen wird. Auch das steht
noch an.
Nun zum Gesetz selber. Jahrelang haben wir um dieses Gesetz gerungen und gekämpft, wir wissen, wer daran mitgewirkt hat und wo wir nachgeben mussten. Deswegen ist uns bewusst, dass dieses Gesetz Schwächen
hat und dass es Stellen gibt, an denen nachgebessert werden muss. Weil wir nun in der Opposition sind, werden
wir selbstverständlich nicht aufhören, zu denken. Das
wäre ja auch absurd.
Was sind unsere Kritikpunkte? Zunächst zu den
Grenzwerten. Es ist richtig und gut, dass das Gesetz bei
Neu- und Ausbau ambitionierte und am Stand der Wissenschaft orientierte Grenzwerte vorsieht. Falsch aber ist
es, bei den bestehenden Flughäfen niedrigere Grenzwerte und damit mehr Lärm zuzulassen - und das auf
Dauer. Wir wollen, dass die neuen besseren Grenzwerte
aus der Lärmwirkungsforschung sukzessive auf die alten
Flughäfen angewendet werden. Auch dort brauchen wir
ambitioniertere Grenzwerte.
({4})
Wir wollen, dass die Grenzwerte regelmäßig überprüft werden. Das muss dann aber auch zu der Konsequenz führen, dass sie korrigiert werden, wenn die Wirkungsforschung sagt, sie seien nicht mehr richtig, heute
wisse man mehr darüber, was Krankheiten verursacht.
Zum Themenbereich Hauptflugrichtung und Nebenflugrichtung. Kollege Kauch, wir haben in unserem Antrag nicht die alte 100/100-Regel aufgegriffen, sondern
haben nur festgestellt, dass es nicht sein kann, dass man
ein Verfahren wählt, das diejenigen, die sich in der Nebenflugrichtung befinden, rechnerisch so benachteiligt,
dass sie fast keinen Schutz bekommen. An diesem Verfahren üben wir Kritik. Das wollen wir korrigieren.
({5})
Uns stört auch, dass die zeitliche Streckung für Entschädigungszahlungen viel zu lang ist. Menschen, die
schon seit 20 oder 30 Jahren auf Maßnahmen warten,
können nicht noch weitere zehn Jahre warten, bis sie
endlich Geld für Schallschutzmaßnahmen bekommen.
Schließlich ist es - da bin ich mit Ihnen, Herr Kauch,
einer Meinung - nicht angemessen, dass Bürgerinnen
und Bürger, die von militärischem Fluglärm betroffen
sind, schlechtere Entschädigungsregeln haben. Da haben
Sie vollkommen Recht. Der Verteidigungsminister
möchte natürlich nichts aus seinem Etat hergeben. Das
muss das Parlament zurückweisen und sagen: Wir wollen Gleichheit zwischen beiden Lärmbelastungen.
({6})
Ein weiterer Punkt. Das Gesetz rechnet nach einer
Methode, die in Europa nicht mehr gängig ist. Die Umgebungslärmrichtlinie definiert die neuen Lärmindizes
„Lden“ und „Lnight“. Diese sollten wir heutzutage nicht
mehr unterbieten; denn das ist der moderne messtechnische Standard. Wir wissen, dass wir an der alten Methode festgehalten haben, weil man mit dieser Methode
etwas verstecken kann. Ich meine, das Parlament, das
immer sagt, dass es das europäische Recht eins zu eins
umsetzen will, sollte das auch bei den Messmethoden
tun. Es muss eins zu eins und nicht eins zu minus eins
umgesetzt werden.
({7})
Unser letzter Kritikpunkt betrifft die Bauverbote.
Auch die Flughafenbetreiber sagen, in den letzten Jahren
sei immer näher an die Flughäfen herangebaut worden.
Das treibe die Kosten hoch. Man muss den Mut haben,
Bauverbote auszusprechen. Das ist durch das Gesetz zunächst einmal möglich. Zusätzlich enthält es aber zahlreiche Ausnahmen, durch die das Bauverbot so unterlaufen wird, dass es damit praktisch kaputtgeschossen ist.
Auch hier muss nachgebessert werden.
({8})
Ich komme zum Schluss. Wir brauchen ein neues
Fluglärmgesetz mit besseren und anwohnerbezogenen
Grenzwerten. Wir sagen es ganz offen: Bei einer solchen
Regelung müssen wir eine Balance zwischen dem Flugverkehr, der Flugwirtschaft und den Anwohnern finden.
Sie darf eben nicht dauerhaft zulasten der Anwohner gehen. Man darf nicht immer zuallererst nur an die Interessen der Flughäfen und nicht an die der Anwohner denken.
Ein Letztes. Minister Gabriel, Sie haben gesagt, insgesamt koste das Ganze nicht viel. Das ist vollkommen
richtig. Die Belastungen für die Flugwirtschaft und die
Fliegenden durch dieses Gesetz sind absolut zumutbar.
Das ist der Preis, den die Leute für die Belastung anderer
zahlen müssen.
Dass ausgerechnet der Flughafen Frankfurt besondere
Probleme haben soll, kann ich nicht nachvollziehen. Das
ist nämlich der Flughafen mit den größten Profitraten
und dem stärksten Wachstum in den letzten Jahren. Der
Chef von Fraport kann vor Kraft fast nicht laufen. Dies
ist in dieser Woche beim Verkehrsforum Deutschland
wieder zu beobachten gewesen. Man hat mit dem geworben, was man ist und kann. Angesichts der großen Zahl
an Flügen in Frankfurt ist der Einzelflug gar nicht so
stark belastet. Nicht einmal hier gibt es also einen berechtigten ökonomischen Einwand.
Ich meine, wir sollten den Mut aufbringen, ein ambitioniertes Gesetz zu verabschieden.
Vielen Dank.
({9})
Ich erteile dem Kollege Marko Mühlstein, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Am Beginn meiner Rede möchte ich den
Kollegen Petzold von dieser Stelle aus doch einmal kritisieren.
({0})
Es gab sehr wohl nicht nur im Bundesumweltministerium, sondern natürlich auch in den zuständigen Häusern
Bundesinnenministerium und Bundesjustizministerium
eine juristische Prüfung.
Wir sprechen heute hier über ein in den vergangenen
Jahren gewachsenes Umweltproblem in der Bundesrepublik, die Lärmemissionen. Insbesondere der Fluglärm
hat sich durch den stetigen Anstieg des Flugverkehrs zu
einem ernsthaften Problem entwickelt. So fühlen sich
laut Umweltbundesamt 12 Prozent der Gesamtbevölkerung durch Fluglärm wesentlich belästigt. In einigen
Bundesländern sind es sogar 41 bzw. 44 Prozent der Einwohner.
Aus der Belastung durch Fluglärmemissionen ist für
viele Menschen ein ernstzunehmendes Umweltrisiko
geworden. Umso mehr freue ich mich, dass wir heute in
der ersten Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes vor Fluglärm in der Umgebung
von Flugplätzen das mittlerweile 35 Jahre alte Gesetz
zum Schutz gegen Fluglärm den aktuellen Erfordernissen anpassen können. Aus meiner Sicht ist es sehr zu begrüßen, dass durch die Neufassung des Gesetzes zum
Schutz gegen Fluglärm wesentlich mehr Bürgerinnen
und Bürger in der Umgebung der Flughäfen Ansprüche
auf Schallschutz erhalten werden. Außerdem wird für
eine weitblickende Siedlungsplanung in lärmbelasteten
Bereichen um Flughäfen gesorgt, um zukünftigen Lärmkonflikten besser vorzubeugen.
Werte Kolleginnen und Kollegen, in der Novelle sind
die Grenzwerte für die Lärmschutzzonen deutlich herabgesetzt worden. Zugleich wird mit der Neuregelung
auf eine stärkere Harmonisierung mit den Lärmschutzstandards beim Neu- und Ausbau von Straßen- und
Schienenwegen abgezielt. Hierfür gibt es mit der
16. Bundes-Immissionsschutzverordnung ja bereits seit
1990 eine analoge Lärmschutzregelung.
Schauen wir zurück auf das Gesetz zum Schutz gegen
Fluglärm von 1971, das derzeit noch gilt. Danach besteht
ein Anspruch auf baulichen Schallschutz für Wohnungen
erst, wenn der Fluglärm 75 Dezibel überschreitet. Bei
derart hohen Belastungen müssen die Menschen nicht
nur massive Störungen und Beeinträchtigungen ihrer Lebensqualität hinnehmen, in unterschiedlichen wissenschaftlichen Studien wird auch aufgezeigt, dass derartiger Lärm vor allem zu Herz-Kreislauf-Störungen führt.
Die vom Bundeskabinett am 1. Februar dieses Jahres
verabschiedete Novelle des Fluglärmgesetzes sieht daher
vor, den Grenzwert für die Tagschutzzone 1 bei Verkehrsflugplätzen auf 65 Dezibel zu senken. Wird ein
Verkehrsflughafen wesentlich ausgebaut, soll der Anspruch auf baulichen Schallschutz für Wohnungen im
Flughafenumland bei einem fluglärmbedingten Mittelungspegel von 60 Dezibel einsetzen.
Diese notwendigen Verschärfungen der Lärmgrenzwerte für die Tagschutzzonen um 10 bis 15 Dezibel
orientieren sich maßgeblich an den Empfehlungen des
Sachverständigenrates für Umweltfragen. Diese Pflichten sollen künftig für alle Verkehrsflugplätze gelten und
darüber hinaus für die größten Verkehrslandeplätze. Neben den zivilen Verkehrsflugplätzen erfasst der Gesetzentwurf auch die militärischen Flugplätze. Erstmals werden für Flughäfen mit relevantem Nachtflugbetrieb auch
nachts Schutzzonen festgelegt. Ziel dieser Neuregelung
ist es, die von Nachtfluglärm betroffenen Menschen vor
gesundheitsrelevanten Schlafstörungen zu schützen.
Das novellierte Fluglärmgesetz wird in den nächsten
zehn Jahren Investitionen in den Lärmschutz auslösen.
Bundesminister Gabriel sprach vorhin von den zu erwartenden Kosten und erwähnte, dass ein Flugticket dadurch in Zukunft um circa 1 Euro teurer werden wird.
Diese Kostenbelastungen können angesichts von Kerosinzuschlägen und Sicherheitsgebühren in beträchtlicher
Höhe aus meiner Sicht nicht als Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen Verkehrsträgern oder gegenüber Flughäfen im Ausland bewertet werden.
({1})
Zukünftig werden nicht mehr Gerichtsurteile landauf
und landab entscheiden, wie die Flughäfen ausgebaut
werden können. Mit den verbindlich geregelten Eckdaten dieser Gesetzesnovelle gewährleisten wir als Gesetzgeber nach 35 langen Jahren eine verlässliche Planungsund Rechtssicherheit, wovon der Standort Deutschland
als Flugverkehrsstandort in Mitteleuropa, aber auch die
als Anwohner betroffenen Bürgerinnen und Bürger deutlich profitieren werden.
Der allseits bekannte Spruch „Viel Lärm um nichts“
kann maximal für die Anträge der Fraktion der FDP und
des Bündnisses 90/Die Grünen gelten,
({2})
nicht aber für die vorliegende Novellierung des Fluglärmgesetzes. Schließlich haben wir mit dem Gesetzentwurf einen angemessenen Interessenausgleich erzielt,
bei dem das Ziel der Ausgewogenheit mit hoher fachlicher Präzision erreicht wurde.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Norbert
Königshofen, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind uns einig: Das Fluglärmgesetz aus dem
Jahre 1971 muss novelliert werden. Wachstum des Flugverkehrs und gestiegene Sensibilität der Menschen - all
das spricht dafür: Es besteht dringend Handlungsbedarf.
Die Rechtsprechung der deutschen Gerichte ist weit über
die Regelungen des Gesetzes hinweggegangen. Wir
brauchen also eine grundlegende Modernisierung der
Fluglärmgesetzgebung. Unser Ziel ist, einen fairen
Ausgleich zwischen Ökologie und Ökonomie zu schaffen.
({0})
Der Luftverkehr ist für uns alle wichtig. Deswegen
- das müssen wir bei aller Koalitionsfreundschaft
sagen - ist es natürlich ein Jammer, dass wir sieben
Jahre lang nur Versprechungen gehört haben
({1})
und es erst jetzt zu einer Novellierung dieses Gesetzes
gekommen ist. Nun wissen wir: Die SPD hat es mit den
Grünen nicht immer leicht gehabt. Da hat häufig der
Schwanz mit dem Hund gewackelt.
({2})
Aber wir müssen jetzt zu einem Ergebnis kommen.
Wir nehmen in Kauf, dass dieser Entwurf aus rot-grüner Regierungszeit heute eingebracht wird. Wenn ich
sage, dass wir das in Kauf nehmen, dann heißt das nicht,
dass wir diesen Entwurf für das Nonplusultra halten.
Nein, wir sind der Auffassung, dass dieser Entwurf an
vielen Stellen unausgewogen ist, bei dem es also
Verhandlungs- und Diskussionsbedarf gibt, nach unserer
Meinung auch Veränderungsbedarf.
({3})
Wir haben in den letzten Jahren immer wieder die
Vorstellungen insbesondere der Grünen in einigen Punkten kritisiert. Daran hat sich auch nichts geändert, seit
wir in die Regierung gekommen sind. Im Gegenteil: Wir
haben dadurch vermehrt die Möglichkeit, unser Gedankengut mit einzubringen.
Das Gesetz muss also zeitgemäße Lärmschutzstandards vorsehen. Es muss Rechts- und Planungssicherheit
für die Flughäfen garantieren; es muss aber auch die
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Luftverkehrswirtschaft sichern.
({4})
Wir haben stolz zur Kenntnis genommen, dass wir
wieder Exportweltmeister sind. Man muss in diesem Zusammenhang berücksichtigen, dass rund 40 Prozent der
deutschen Ausfuhren per Luftfracht abgewickelt werden. Der Status als führende Exportnation setzt insofern
ein funktionierendes Luftverkehrswesen voraus.
({5})
Darüber hinaus hängen allein 750 000 Arbeitsplätze
direkt und indirekt vom Luftverkehr ab. Der Luftverkehr
ist also eine Jobmaschine. Auch das müssen wir bei der
Neufassung des Gesetzes berücksichtigen.
In dem Gesetzentwurf werden Entschädigungsrecht
und Fachplanungsrecht vermischt. Darüber müssen wir
reden. Einigen der heutigen Beiträge war zu entnehmen,
dass auch von anderer Seite Diskussionsbedarf besteht.
Des Weiteren müssen die bestehenden Ausnahmeregelungen bei Bauverboten eingeschränkt werden. Es ist
doch unsinnig, den Menschen zu ermöglichen, immer
näher an die Flughäfen heranzubauen, und dann von den
Flughafenbetreibern zu fordern, Lärmschutzmaßnahmen zu finanzieren. Ein solches Vorhaben kann nicht
ernsthaft verfolgt werden. In diesem Punkt muss nachgearbeitet werden.
({6})
Mein Kollege Petzold hat auf einige weitere Punkte
hingewiesen, die ich nicht wiederholen will. Wir stehen
am Anfang der parlamentarischen Beratungen. Die Diskussion wird zeigen, ob eine Anhörung erforderlich ist.
Die Union geht mit der Absicht in die Verhandlungen
hinein, einen fraktionsübergreifenden Kompromiss zu
erzielen. Wir wollen im Luftverkehr nicht nur mit dem
Koalitionspartner allein, sondern - wie es unserer Tradition entspricht - mit allen gemeinsam etwas auf den Weg
bringen. Wir hoffen auf gute Gespräche und ein gutes
Ergebnis für die lärmgeplagten Menschen und für die
Wirtschaft, die sich im weltweiten Wettbewerb behaupten muss. Sie muss sich auch in unserem Interesse behaupten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Christian
Carstensen, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Luftverkehr ist einer der herausragenden Wachstumsmärkte in unserem Land. Das ist bereits festgestellt
worden. Allein im vergangenen Jahr wurden über
165 Millionen Passagiere befördert. Das entspricht einem Plus von über 6 Prozent gegenüber 2004.
Etwa 270 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sind direkt in der Luftverkehrswirtschaft tätig. Dazu
kommen durch indirekte Effekte noch eine weitere halbe
Million zusätzliche Arbeitsplätze.
Das ist gut für die beschäftigten Menschen und die
betroffenen Regionen und es ist gut für unser Land insgesamt,
({0})
zumal ein Ende des Wachstums und damit auch des Aufbaus zusätzlicher Beschäftigung in diesem Bereich in
naher Zukunft nicht zu erwarten ist. Im Gegenteil: Für
die nächsten 15 Jahre wird sogar von einer weiteren Verdoppelung der Luftverkehrsleistungen und einer entsprechend positiven Beschäftigungsentwicklung ausgegangen.
Verkehrspolitisch werden wir auch im Rahmen dieser
Gesetzgebung darauf achten, den Wachstumsbereich
Luftverkehr zu unterstützen. Allerdings hat auch dieser
Trend eine Kehrseite. Mehr Flugverkehr schafft nicht
nur mehr Arbeitsplätze und zusätzliche Mobilität, sondern bringt leider immer zusätzliche Lärmbelastungen
für die betroffenen Anwohnerinnen und Anwohner mit
sich. Das ist schon mehrfach angesprochen worden und
ich kenne das auch aus meinem eigenen Wahlkreis Hamburg-Nord/Alstertal sehr genau.
({1})
Wenn sich inzwischen mehr als jeder dritte Bürger in
Deutschland von Fluglärm gestört fühlt, dann macht dies
den bestehenden Handlungsbedarf überdeutlich. Eine
Neufassung des Gesetzes ist insofern dringend erforderlich. Sie muss zeitgemäße Lärmschutzstandards eindeutig festlegen und so den Schutz der Bevölkerung vor
gesundheitsbeeinträchtigendem Lärm verbessern, Konflikte bei der Siedlungsplanung im Flughafenumfeld
vermeiden, Rechts- und Planungssicherheit für die Flughafenbetreiber schaffen und gleichzeitig die Wettbewerbssituation erhalten.
({2})
Darin sind sich grundsätzlich alle Beteiligten einig, von
den Flughafenbetreibern bis hin zu den Vertretern von
Umwelt- und Anwohnerverbänden und offensichtlich
auch alle Fraktionen hier im Haus. Ich finde, das ist eine
gute Grundlage für die weitere parlamentarische Arbeit,
die mit der heutigen ersten Lesung eingeleitet wird.
Dabei sollte es uns um die Sache gehen. Unnötige,
fast schon albern-reflexhafte Sticheleien wie von der
FDP gegen die rot-grüne Vorgängerregierung sind aus
meiner Sicht wenig hilfreich.
({3})
Man kann zwar meinen, dass man in der Opposition so
etwas in Anträge schreiben oder hier im Plenum so sagen müsse. Ich bin mir aber ziemlich sicher, das bringt
Ihnen in der Bevölkerung keine Sympathien und verstellt eher den Blick auf das Wesentliche, die Diskussion
über die unterschiedlichen Argumente. Natürlich gibt es
noch Diskussionsbedarf im Detail.
Zum Schluss möchte ich noch dem Kabinett und insbesondere unserem Bundesumweltminister für die heutige Vorlage des Gesetzentwurfes herzlich danken. Es
war richtig, hinsichtlich der Gesetzesvorlage keine weitere Zeit verstreichen zu lassen, nur um etwa angesichts
einer neuen Regierungszusammensetzung in langwierigen regierungsinternen Abstimmungen einen geänderten
Gesetzesvorschlag zu entwickeln, der dann wieder von
allen Seiten kritisch hinterfragt und beleuchtet worden
wäre. Der vorliegende Gesetzestext ist nun lange genug
auf Arbeitsebene beraten und abgestimmt worden. Er
bietet uns eine gute Grundlage für die weiteren Beratungen.
Das Ziel guter Politik muss es in diesem Fall sein, den
beschriebenen Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen der Anwohnerinnen und Anwohner, die einer
ständigen Lärmbelastung ausgesetzt sind, und den ebenfalls berechtigten Interessen der Wachstumsbranche
Luftverkehr zu erreichen. Im weiteren parlamentarischen Verfahren werden wir Sozialdemokraten versuchen, diesen Ausgleich - hoffentlich in Übereinstimmung mit unserem Koalitionspartner und den
Oppositionsfraktionen - herzustellen.
Vielen Dank.
({4})
Herr Kollege Carstensen, das war Ihre erste Rede in
diesem Haus. Ich gratuliere Ihnen dazu sehr herzlich und
wünsche Ihnen weiterhin alles Gute.
({0})
Nun hat als letzter Redner in dieser Debatte das Wort
der Kollege Josef Göppel, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Meine Damen und Herren! Ich möchte zuerst meinem
Landesgruppenvorsitzenden zum Geburtstag gratulieren.
Alles Gute!
({0})
Mir ist aufgefallen, dass unser Umweltminister in der
großen Koalition voll angekommen ist, und zwar wegen
seines empfindsamen Eingehens auf die Hinweise zum
Änderungsbedarf, den einige bei dem vorliegenden Gesetzentwurf noch sehen.
Ich bin der Meinung, dass der Gesetzentwurf, der
vom Bundeskabinett verabschiedet wurde, ein großer
Schritt nach vorn ist. Das Gesetz sorgt für eine Synthese
aus florierender Luftverkehrswirtschaft und mehr Schutz
für die Menschen in einem dicht besiedelten Land. Das
brauchen wir dringend.
Mich hat übrigens die Rede meines Kollegen
Königshofen sehr beeindruckt. Ich denke, wir Umweltpolitiker können von den Verkehrspolitikern noch viel an
Selbstbewusstsein lernen. Das brauchen wir hier auch;
denn viele Menschen sind von den Auswirkungen, die
Flugplätze mit sich bringen, betroffen.
Wir können einige positive Entwicklungen durch
den Gesetzentwurf vermelden. Erstmals gibt es Nachtschutzzonen und einen Anspruch auf Entschädigung
auch im Außenbereich. Zudem werden die zulässigen
Grenzwerte gesenkt. Im Detail sehe ich - genauso wie
Sie, Herr Kollege Kauch - Diskussionsbedarf bei der
Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen
Flugplätzen. Hierüber sollten wir im Ausschuss noch
einmal beraten; denn der Lärm für die Menschen lässt
sich nicht teilen.
Der zweite große Bereich betrifft die Rechtssicherheit
für die Luftverkehrswirtschaft und die Betreiber. Sie
wird durch die Festlegung von Grenzwerten auf formalgesetzlicher Grundlage gefördert. Das ist ein wichtiger
Schritt angesichts der bisherigen großen Unterschiede in
der Rechtsprechung. In Bezug auf die Flugplatzbetreiber
möchte ich jetzt schon die Anregung geben, dass wir
prüfen müssen, ob wir bei kleinen Flugplätzen schon
25 000 Flugbewegungen als Maßstab nehmen. Auch da
sehen wir Änderungsbedarf.
Der dritte Bereich ist mir als Kommunalpolitiker, der
32 Jahre selber in einem Stadtrat saß, besonders wichtig.
({1})
- Was, das glauben Sie nicht? - Es geht um die Balance
zwischen kommunaler Planungshoheit und der notwendigen Siedlungslenkung. Diese Balance muss im
Einzelfall gefunden werden. Die abgestuften Baubeschränkungen und die Ausnahmen davon gehören zu den
Punkten, die wir in diesem Gesetz im Detail ernsthaft
überprüfen müssen.
Das, was wir auf jeden Fall ändern wollen, Herr
Minister Gabriel, und ändern müssen, sind die 20 verschiedenen Kriterien für die Definition der Lärmschutzzonen. Es kann weder ein Bürger noch ein
Kommunalpolitiker genau feststellen und selber nachvollziehen, was gemeint ist. Die Klarheit fehlt an dieser
Stelle.
Insgesamt ist das Gesetz ein Schritt nach vorn. Ich
denke, dass wir die Abwägungen, die zwischen dem
Schutz der Bevölkerung, der Luftverkehrswirtschaft und
der Kommunalpolitik zu treffen sind, in den Ausschussberatungen richtig justieren.
({2})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-
nungspunkt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/508, 16/263 und 16/551 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 16/508 und
16/263 sollen zusätzlich an den Ausschuss für Wirt-
schaft und Technologie überwiesen werden. Sind Sie da-
mit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2005
- Drucksache 15/5285 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Schummer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Willi Brase,
Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Neue Dynamik für Ausbildung
- Drucksache 16/543 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Frau Bundesministerin Dr. Annette Schavan für die Bundesregierung
das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir beraten den Berufsbildungsbericht 2005, der über die Entwicklungen auf
dem Ausbildungsstellenmarkt 2004 Auskunft gibt. Wir
werden - das füge ich gleich hinzu - schon in wenigen
Wochen den Bericht über die Entwicklungen des
Jahres 2005 vorliegen haben, über den bereits erste Meldungen veröffentlicht wurden.
2004 ist das erste Jahr der Umsetzung des Paktes für
Ausbildung gewesen. Es gab Zuwachsraten im Vergleich zum Jahr 2000. Mit Blick auf die Ausbildungsverträge insgesamt betrug die Zuwachsrate 2,8 Prozent. Die
Zuwachsrate von Verträgen im Bereich der betrieblichen
Ausbildung betrug insgesamt 4,5 Prozent. Zugleich gab
es einen Rückgang der öffentlich finanzierten Ausbildungsplätze um rund 10 Prozent. Wenn wir den nächsten
Berufsbildungsbericht vorliegen haben, dann werden wir
feststellen, dass dies eine erfreuliche erste Etappe gewesen ist, die aber noch nicht verspricht, dass sich daraus
eine generell positive Entwicklung auf dem Ausbildungsmarkt ergeben wird. Das wird sich erst in den
nächsten Jahren zeigen.
Wir werden in diesen Jahren mit einer zunehmenden
Zahl von Schulabsolventen zu tun haben; sprich: mehr
Jugendliche suchen eine Lehrstelle. Deshalb ist unbestritten, dass die Zahl der Unternehmen in Deutschland,
die ausbilden, größer werden muss.
({0})
Unbestritten ist, dass wir uns um die Nahtstelle zwischen Schule und Beschäftigung zur Stabilisierung der
Ausbildungsreife kümmern müssen. Unbestritten ist
auch, dass wir die Modernisierung der Ausbildungsberufe - damit verbunden ist ein besonderes Augenmerk
auf Einstiegsqualifikationen, auf eine Modernisierung,
die eine Berufsbildungsbiografie nach dem Bausteinprinzip ermöglicht - zügig voranbringen müssen.
({1})
Entsprechend sind die Aussagen im Koalitionsvertrag. Wer diesen Vertrag liest, spürt: Berufsbildungspolitik, die Modernisierung, die Weiterentwicklung der
Strukturen der beruflichen Bildung werden in dieser Legislaturperiode vorangebracht. Um es in einem Satz zu
sagen: Wir können mit der bisherigen Bilanz nicht zufrieden sein; es reicht nicht im Hinblick auf die Jugendlichen, die eine qualifizierte Ausbildung brauchen.
({2})
Ich mache klare Aussagen: Erstens. Kein Jugendlicher bis zum Alter von 25 Jahren soll länger als drei Monate ohne Ausbildung und Arbeit bleiben.
Zweitens. Wir setzen den Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs fort. Wir werden uns
aber gleichzeitig um die Weiterentwicklung, um die Veränderung und auch um die Modernisierung der Strukturen der beruflichen Bildung kümmern. Kurz gesagt: Die
duale Ausbildung wird sich auch in den nächsten Jahren nicht per Naturgesetz stabil weiterentwickeln. Es
braucht neue Impulse, neue Dynamik, damit die duale
Ausbildung das Herzstück der beruflichen Bildung
bleibt. Wir dürfen keine weitere Verstaatlichung der beruflichen Bildung - übrigens mit erheblichen Kosten für
die 16 Länder - zulassen.
({3})
Wir müssen den hohen Stellenwert der beruflichen
Bildung für die Integration der Jugendlichen mit Migrationshintergrund sehen. Wer sich Zahlen aus
Deutschland anschaut, stellt fest: Bei Jugendlichen im
Alter von 15 Jahren ist vieles an Integration noch nicht
gelungen. Der Anteil derjenigen in der Bevölkerung mit
einem Sekundarstufen-II-Abschluss liegt - quer durch
alle Altersgruppen - bei 83 Prozent. Im OECD-Durchschnitt liegt dieser Anteil bei 64 Prozent. Das heißt,
Deutschland hat im internationalen Vergleich einen außerordentlich hohen Anteil an hoch qualifizierten Abschlüssen. Dies ist der beruflichen Bildung zu verdanken. Sie ist ein äußerst geeignetes Instrument zur
Integration. Sie ist ein äußerst geeignetes Instrument, um
Jugendlichen, die in ihrer bisherigen Bildungsbiografie
noch nicht erfolgreich waren, Erfolge zu ermöglichen,
zum Beispiel zu einem qualifizierten Schulabschluss zu
kommen. Deshalb sollten wir auch das Instrument der
beruflichen Bildung für eine bessere Integration, für eine
bessere Qualifizierung der Jugendlichen mit Migrationshintergrund nutzen.
({4})
Worauf werden sich unsere Maßnahmen konkret beziehen? Im Ausschuss haben wir es in dieser Woche kurz
angesprochen: Es geht um eine strukturelle Weiterentwicklung. Es geht um die Stärkung der dualen Ausbildung. Es geht darum, dass wir nicht zulassen dürfen,
dass immer mehr Jugendliche im Bereich der beruflichen Bildung 13, 14 oder 15 Schuljahre erleben. „Erleben“ ist eigentlich das falsche Wort; denn sie sind völlig
entmutigt. Sie sind nicht mehr motiviert, weil sie den
Eindruck haben, in Warteschleifen zu sein, die nicht zu
einer wirklichen beruflichen Qualifikation führen.
Deshalb werden wir seitens der Bundesregierung jetzt
in einem nächsten Schritt prüfen: Wo wird das, was das
Berufsbildungsgesetz an Möglichkeiten bietet, genutzt
und welche Impulse müssen wir setzen, damit es eine
bessere Verzahnung zwischen beruflicher Vollzeitschule
und dualer Ausbildung gibt? Alle Partner der beruflichen
Bildung müssen sich darauf einigen, zügig eine vernünftige berufliche Bildung zu ermöglichen. Es kann nicht
sein, dass Jugendliche, die ein zweijähriges kaufmännisches Berufskolleg absolviert haben, dann, wenn sie eine
Lehrstelle bekommen, wieder von vorn beginnen müssen. Wir brauchen einen verantwortungsbewussten Umgang mit der Lebenszeit.
({5})
Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Keskin?
Bitte schön.
Könnten Sie uns vielleicht sagen, wie viele Jugendliche trotz dieses Ausbildungspakts keinen Ausbildungsplatz bekommen haben?
Sie meinen die aktuellen Zahlen 2005. Die reiche ich
Ihnen gern nach. Sie wissen, dass es bis zum Ende des
Jahres Nachvermittlungen gegeben hat. Die Zahlen von
Ende Dezember werden gerade ausgewertet. Beim Vergleich zwischen 2004 und 2005 können Sie feststellen,
dass die Zahl der nicht vermittelten Jugendlichen zugenommen hat. Ich kann es Ihnen auch in einem Satz sagen: Unabhängig davon, wie exakt die Zahl ist - ich
habe sie nicht im Kopf -: Es sind zu viele.
({0})
- Herr Rossmann ruft mir gerade zu, dass es 11 000 sind.
Es sind 11 000 zu viel.
({1})
Erster Punkt der strukturellen Veränderung: bessere
strukturelle Verzahnung.
Zweiter Punkt: weitere Modernisierung der Ausbildungsberufe.
Drittens. Im Kontext der Modernisierung von Ausbildungsberufen: mehr gestufte Ausbildung. Für gestufte
Ausbildungen gelten zwei Kriterien; auch darüber sollten wir im politischen Raum Konsens erreichen. Erstes
Kriterium: Die gestufte Ausbildung muss auch Teil einer
weiter gehenden Ausbildung werden können. Sie darf
nicht Sackgasse sein.
({2})
Zweites Kriterium: Bevor wir eine gestufte Ausbildung
zulassen, müssen wir im Interesse der Jugendlichen sicherstellen, dass es danach eine Berufstätigkeit geben
kann. Wenn diese beiden Kriterien erfüllt sind, dann
- davon bin ich überzeugt - werden wir deutlich mehr
gestufte Ausbildungen zulassen können, auch als eine
Weise der Einstiegsqualifikation. Wenn diese beiden
Kriterien nicht erfüllt sind - auch das sage ich ganz klar -,
ist gestufte Ausbildung Schwindel, weil sie nicht zu einer Berufstätigkeit der Jugendlichen führt.
Ein weiterer Punkt: europäische Öffnung, nationaler
Qualitätsrahmen, Leistungspunkte in der beruflichen
Bildung. Dieser Prozess, der bereits läuft, wird uns Gelegenheit geben, auch im internationalen Vergleich die
Stärken der beruflichen Bildung festzustellen und von da
ausgehend die Modernisierung der beruflichen Bildung
voranzubringen.
Zwei Drittel aller Jugendlichen durchlaufen einen
Weg in der beruflichen Bildung. Deshalb entscheidet
sich hier viel über die Zukunftschancen der jungen Generation. Auch deshalb ist dieses Thema ein Schwerpunkt der Bildungs- und Innovationspolitik der Bundesregierung.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Patrick Meinhardt,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Schavan, dieser Berufsbildungsbericht ist das beste Dokument für das, was in Deutschland
falsch läuft: Bürokratie pur, Vorschriften ohne Ende, Regelungswut bis ins letzte Detail. Damit müssen wir in
der Bundesrepublik Deutschland endlich Schluss machen.
({0})
Ich darf einmal ein schillerndes Beispiel aus dem Berufsbildungsbericht vorlesen:
Die Ermächtigungsnorm zum Erlass von Ausbildungsordnungen in § 4 in Verbindung mit § 5 BBiG
fußt im Kern auf der bisherigen Ermächtigungsnorm in § 25 des Berufsbildungsgesetzes von 1969.
Wir haben es alle verstanden.
({1})
Wir haben in diesem Land in allererster Linie ein
mentales Problem: Solange wir in Normen, Vorschriften
und Erlassen denken bzw. - noch viel schlimmer - in der
Bildungspolitik auch so handeln, werden wir die Zukunftsperspektiven in diesem Land nicht nachhaltig verbessern. Deswegen die klare Schlussfolgerung für uns:
Entrümpeln wir endlich die Bildungsbürokratie!
({2})
Die neue Bundesregierung ergänzt jetzt den rot-grünen Bericht durch einen schwarz-roten Koalitionsantrag.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSUFraktion, wir von der FDP haben volles Verständnis.
Wenn Sie nämlich nur diesen Berufsbildungsbericht vertreten müssten, hätten Sie nun wohl arge Argumentationsnöte. Wir sehen Ihnen schon jetzt an, dass Sie sich
innerlich verbiegen müssen, weil Sie nicht sagen können, was Sie eigentlich sagen wollen.
Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland von
1999 bis 2005 1,35 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren. Wir haben im Augenblick
1,4 Millionen junge Erwachsene im Alter von 20 bis
29 Jahren ohne Ausbildung.
({3})
Fast jeder vierte Auszubildende bricht seine Ausbildung
vorzeitig ab und bei der beruflichen Weiterbildung sind
wir weit abgeschlagen Schlusslicht. Über eine halbe
Million Schüler werden nicht ihren Talenten entsprechend optimal gefördert.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von RotGrün, Sie haben in unserem Land sieben wertvolle Jahre
verspielt.
({4})
Sie haben der Generation sieben Jahre Zukunft verbaut.
Ihre Wirtschafts- und Bildungspolitik war für Deutschland eine Katastrophe.
({5})
Jetzt ist es Aufgabe dieser schwarz-roten Koalition,
keine kleinen Trippelschritte zu machen,
({6})
sondern wirklich eine große Koalition zu werden.
Unser Hauptproblem ist, dass wir zu wenige Lehrstellen haben. Zugleich sehen wir, dass die Wirtschaft,
insbesondere der Mittelstand, ihre soziale Verantwortung wahrnimmt und selbst dann ausbildet, wenn der
Gewinn des Unternehmens es eigentlich nicht zulässt.
Allen Unternehmerinnen und Unternehmern, die bereit
sind, junge Menschen in ihrem Betrieb auszubilden,
hierfür - hoffentlich in Ihrer aller Namen - ein herzliches Dankeschön.
({7})
- Die Gewerkschaften hinken ja wohl mehr hinterher,
was die Ausbildung angeht.
Die Frage ist: Woran liegt es, dass es zu wenige Lehrstellen gibt? Heinrich von Pierer, der Regierungsberater,
analysiert die fünf Ausbildungshemmnisse sehr treffend:
mangelnde Vorbildung der Schulabgänger, zu hohe Ausbildungskosten, die tariflichen Übernahmeverpflichtungen, die oft zu lange Ausbildungsdauer, viel zu starre
Berufsbilder. Gerade weil Heinrich von Pierer wie der
Rufer in der Wüste dieser großen Koalition wirkt, ein
klares Signal von der FDP: Recht hat er!
({8})
- Sagen Sie das Ihrem eigenen Regierungsberater.
Jetzt das Programm: Deutschland muss flexibler werden. Wissen Sie was? Deutschland ist schon viel flexibler, als Sie alle denken. Schauen wir nach Bayern:
Hier feiert das Azubi-Sharing mit massiver Unterstützung der bayerischen Liberalen Erfolge.
({9})
Mehrere Kleinbetriebe, die jeder für sich nicht die nötigen Kapazitäten haben, teilen sich einen Auszubildenden.
Schauen wir nach Nordrhein-Westfalen: Kaum ist
dort Schwarz-Gelb im Amt, schon gibt es ein Werkstattjahr, das eben nicht die duale Ausbildung aushebelt, sondern sie ergänzt und in der Verbindung von
Schule, Praktikum und Beruf Zusatz- und Einstiegsqualifikationen ermöglicht.
Schauen wir nach Baden-Württemberg: Regionale
Pakte für Ausbildung sind dort erfolgreich. Der Nationale Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs, den
wir unterstützen, läuft nur so gut, wie er in der Region
aktiv umgesetzt wird. Deswegen haben wir in BadenWürttemberg eine erheblich höhere Zunahme der Bewerberzahlen für eine Lehrstelle.
({10})
Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg zeigen es
halt: Schwarz-Gelb kann es besser.
({11})
Schauen wir in die neuen Bundesländer: Sie machen
uns vor, wie wir durch ein kleines Stück mehr an Flexibilität ein Mehr an Ausbildungsplätzen hinbekommen. Der Tarifvertrag zwischen dem Verband der Metall- und Elektroindustrie in Sachsen, Sachsen-Anhalt
und Thüringen und der Christlichen Gewerkschaft Metall zeigt, wie es anders geht. Im Kern beinhaltet der Tarifvertrag eine niedrigere Grundvergütung. Diese lässt
sich durch Zulagen erhöhen, die für gute Leistung in der
Berufsschule gezahlt werden. Einen Bonus gibt es noch
obendrauf für einen erfolgreichen Abschluss der Ausbildung. Diese Belohnung guter schulischer Leistungen hat
sich bisher äußerst positiv auf die Lernergebnisse der
Auszubildenden ausgewirkt. Denn der Anreiz, die Höhe
des Gehaltes selbst beeinflussen zu können, motiviert
und belohnt den Fleiß der Auszubildenden. Das ist ein
vorbildlicher Weg.
({12})
Die Idee fußt auf dem Vorschlag, dass sich drei Auszubildende zwei Lehrstellen teilen sollen. Diese Idee
wurde jetzt von dem DIHK und seinem Präsidenten
Braun in die Diskussion wieder eingeführt,
({13})
sie wurde aber schon viel früher geboren, Herr Tauss,
nämlich im Herbst 1995. Auch damals gab es eine große
Koalition, allerdings eine Koalition zweier Ministerpräsidenten: Der eine war Kurt Biedenkopf und der andere
war Gerhard Schröder. Beide haben damals zumindest
erkannt, dass wir mehr Flexibilität im Ausbildungsmarkt
brauchen, auch wenn es der eine von beiden später dann
vergessen hat.
({14})
Deswegen unser liberaler Tipp an die große Koalition: Statt noch ein weiteres Sonderprogramm, ein weiteres JUMP, JUMP plus oder Start-Up sollten wir den
Weg der sächsischen Wirtschaft und der Christlichen
Gewerkschaft energisch unterstützen und ihn zum politischen Programm machen: „Aus zwei mach drei!“
({15})
Wenn wir mehr Freiheit wagen wollen, dann müssen
wir in Deutschland flexibler werden. Nur so werden wir
zu einer Gesellschaft der wirklichen Chancen werden.
„Aus zwei mach drei!“ ist ein schlechtes Motto für die
Mehrwertsteuererhöhung, aber das beste Motto für mehr
Ausbildung in Deutschland.
Vielen Dank.
({16})
Nun hat die Kollegin Nicolette Kressl, SPD-Fraktion,
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Kollege
Meinhardt, Ihr Beitrag war ein Beispiel dafür, dass laut
nicht unbedingt inhaltsvoll bedeutet.
({0})
- Nein, nicht automatisch, Herr Kollege. - Wenn Sie
Ihre Energie ein bisschen mehr darauf verwendet hätten,
einmal ernsthaft
({1})
in den Berufsbildungsbericht hineinzuschauen, dann hätten Sie gemerkt, dass gerade im Bereich der Ausbildungsvergütung schon heute eine extrem differenzierte
Struktur beispielsweise zwischen Branchen und zwischen Ost und West vorhanden ist. Das liegt unter anderem daran, dass im Berufsbildungsgesetz Möglichkeiten
zur Flexibilisierung auch im Bereich der Vergütung bereits verankert sind.
({2})
Sie sollten sich also diese populistischen Überschriften
sparen und sich ernsthaft mit der Thematik befassen.
({3})
Gemäß der Tagesordnung reden wir heute über den
Berufsbildungsbericht und über einen Antrag zum Ausbildungspakt. Damit verbunden reden wir aber auch über
Zukunftschancen junger Menschen. Von diesen Chancen
hängt es ab, wie stark sie sich mit dieser Gesellschaft
und mit diesem politischen System identifizieren. Denn
es wird sie für ihr ganzes Leben prägen, ob wir ihnen
Zukunftschancen geben oder verweigern.
({4})
Wir reden auch über die Zukunftsfähigkeit der Wirtschaft; denn es ist völlig klar, dass es sich niemand leisten kann, die Potenziale, die in den Köpfen junger Menschen stecken, zu verschwenden. In diesem Punkt stehen
wir, aber auch die Unternehmen ganz stark in der Pflicht.
Wir werden die Unternehmen an ihre Verantwortung im
Ausbildungsbereich erinnern, wenn sie später über Fachkräftemangel jammern sollten.
({5})
Wir reden natürlich auch über die Zukunftsfähigkeit
- Frau Ministerin Schavan hat es angesprochen - des
dualen Systems an sich. Ob wir es schaffen, uns hinsichtlich Quantität und Qualität nach vorne zu bewegen,
wird die Zukunft des dualen Systems entscheidend beeinflussen. Entscheidend ist, dass wir es schaffen, für
eine Bewegung nach vorne zu sorgen, und dass sich
nicht immer weniger Unternehmen an diesem System
beteiligen und damit zu seiner Aushöhlung beitragen.
({6})
Ich habe gerade schon gesagt, dass wir uns sowohl die
Qualität als auch die Quantität in diesem Bereich anschauen müssen. Lassen Sie mich zuerst etwas zur Frage
der Quantität sagen. Die unbefriedigende Situation auf
dem Ausbildungsstellenmarkt vor ein paar Jahren hat
unter der rot-grünen Regierung zu einer intensiven Debatte über die Zukunft von jungen Leuten geführt. Sie
alle wissen, dass wir uns dann entschlossen haben, den
Weg zu einer gesetzlichen Umlagefinanzierung frei zu
machen.
({7})
Das war zugegebenermaßen eine umstrittene Diskussion. Aber diese Diskussion hat dann zu dem geführt,
was heute „Ausbildungspakt“ genannt wird. Es darf
nicht vergessen werden, wie er zustande gekommen ist.
({8})
Im ersten Jahr des Ausbildungspaktes hatten wir ein
zwar noch nicht ausreichendes, aber erfreuliches Ergebnis. Wir konnten nämlich feststellen, dass sich bei den
betrieblichen Ausbildungsplätzen ein Zuwachs um
4,8 Prozent einstellte. Die Zahl der außerbetrieblichen
Ausbildungsplätze ist zwar zurückgegangen. Aber insgesamt gab es bei den abgeschlossenen Ausbildungsverträgen einen Zuwachs um 2,8 Prozent. Das war die Umkehr des Trends des Abbaus von Ausbildungsplätzen.
({9})
Wir sehen jetzt, dass sich dieser positive Trend abschwächt. Ich kann an all diejenigen, die am Ausbildungspakt beteiligt waren und sind, nur appellieren: Alle
sollten bitte dafür sorgen, dass nicht diejenigen Recht
bekommen, die befürchtet haben - oder dies interpretieren könnten -, dass nur ein ständiger massiver Druck mit
Zwangsmaßnahmen dazu führt, dass etwas passiert.
Bitte strafen Sie dies Lügen!
({10})
Sorgen Sie dafür, dass die Freiwilligkeit nicht nur ein
Jahr, sondern auch mehrere Jahre danach akzeptiert
wird! Es wird eine entscheidende Frage sein, wie wir in
Zukunft bei Vereinbarungen, was diesen Bereich angeht,
miteinander umgehen können.
({11})
Vonseiten der Koalitionsfraktionen begrüßen wir ausdrücklich die Entscheidung, die Dauer des Paktes zu verlängern. Aber wir begrüßen auch die Entscheidung, den
Pakt weiterzuentwickeln.
({12})
Man muss wissen: Dieser Pakt ist in sehr kurzer Zeit entwickelt und entworfen worden. Da macht es natürlich
Sinn, sich Einzelregelungen noch einmal anzuschauen.
Ich möchte - wir reden heute ja auch über einen Antrag
zu diesem Thema -, dass die Gedanken des Parlaments
hierzu nicht nur in Form von Anträgen auf dem Tisch
liegen. Wir wollen vielmehr ausdrücklich an die am Pakt
beteiligten Verhandlungspartner appellieren, diesen Antrag ernst zu nehmen und ihn in die Debatten über den
Ausbildungspakt aufzunehmen.
({13})
Wir haben im Koalitionsvertrag auch festgelegt, dass
in das Thema des Ausbildungspaktes Fragen der Ausbildungsfähigkeit und Möglichkeiten der tariflichen Vereinbarung einbezogen werden. Das halte ich für eine
ganz wichtige Aussage.
({14})
Für uns Sozialdemokraten - ich gehe fast davon aus,
dass auch Sie diese Position teilen; aber ich kann nicht
für die andere Fraktion sprechen ({15})
ist es völlig unverständlich - das will ich deutlich sagen -, dass einige Bereiche der Arbeitgeberseite und der
Arbeitgeberverbände sich konsequent weigern, auf tariflicher Ebene über die Steigerung der Zahl der Ausbildungsplätze zu verhandeln.
({16})
Dies ist für mich nicht verständlich. Im Bereich der
IG BCE und der IG BAU gibt es Beispiele dafür, dass
Unternehmensführer selbst sagen: Das ist für uns eine
gute Lösung. - Wir appellieren deutlich daran, Gespräche über eine tarifliche Vereinbarung zu führen; denn
dies wäre eine massive Unterstützung dessen, was im
Pakt vereinbart worden ist.
Eines ist doch klar: Vor Ort und auf Bundesebene haben sich beispielsweise die Industrie- und Handelskammern
({17})
- auch die Handwerkskammern ({18})
mit großem Engagement - das will ich anerkennen - in
den Pakt eingebracht. Aber dass eine tarifliche Vereinbarung die Akzeptanz des Paktes wesentlich unterstützen
und die Verbände nicht allein lassen würde, liegt doch
auf der Hand und wäre ein wesentlich besserer Weg.
({19})
Zurück zum Pakt selbst. Ich habe gesagt, dass wir die
Frage der Ausbildungsfähigkeit mit einbeziehen wollen. Mir ist auf der einen Seite wichtig, dass das Thema
der Ausbildungsfähigkeit nicht als Alibi benutzt wird,
damit Unternehmen sagen können: Wir können nicht
einstellen. - Auf der anderen Seite können wir natürlich
auch nicht den Kopf in den Sand stecken.
({20})
Ich glaube, es gibt eine realistische Betrachtungsweise in diesem Bereich. Deshalb ist es auch so wichtig,
dass Bund, Länder und Wirtschaft in dieser Frage zusammenarbeiten. In diesem Zusammenhang sei mir eine
Anmerkung zu einem anderen Themenbereich erlaubt:
Es ist fraglich, ob es wirklich sinnvoll ist, dass Zusammenspiel von Bund, Ländern und Wirtschaft zu erschweren.
({21})
Ich will im Zusammenhang mit dem Thema der Ausbildungsfähigkeit etwas zu den Einstiegsqualifizierungen sagen. Die Einstiegsqualifizierungen, ein neues Instrument, zeigen offensichtlich Wirkung. Bei der
Auswertung des Paktes ist deutlich geworden ist, dass
57 Prozent aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer an
Einstiegsqualifikationen anschließend in eine berufliche
Ausbildung vermittelt werden konnten. Das ist eine gute
Zahl.
({22})
Sie übertrifft Zahlen, die uns von anderen Qualifizierungsmaßnahmen bekannt geworden sind.
Meiner Meinung nach ist ein betrieblicher Ansatz
besser als ein rein schulischer.
({23})
Deshalb ist es wichtig, dass wir uns in Bezug auf die
Weiterentwicklung dieses Instruments die Frage stellen:
Wie kann seine Akzeptanz noch verbessert werden? Ich
will aber ebenfalls darauf hinweisen, dass die EQJs nicht
nur den Anteil der Wirtschaft am Pakt darstellen; vielmehr wird die Finanzierung der EQJs durch den Staat
geleistet. Das heißt, hier gibt es ein Zusammenspiel. Wir
müssen uns gemeinsam die Frage stellen, auf welche
Weise dies am besten weiterentwickelt werden kann.
({24})
Ich bin davon überzeugt - das ist heute auch von anderen Rednern gesagt worden -, dass wir eine Weiterentwicklung, etwas mehr Dynamik brauchen. Wir müssen
uns Detail- und Einzelfragen anschauen. Aber das Ziel,
jungen Menschen Zukunftschancen zu eröffnen, lohnt
jede Anstrengung in diesem Bereich allemal.
Vielen Dank.
({25})
Das Wort hat nun die Kollegin Cornelia Hirsch, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Ministerin Schavan, die Fraktion Die
Linke stimmt Ihnen in einem Punkt ausdrücklich zu: Ja,
wir brauchen neue Dynamik für Ausbildung.
({0})
Aber weder das, was bisher vorgetragen wurde, am allerwenigsten das, was von der Fraktion der FDP geäußert
wurde,
({1})
noch der Inhalt des vorliegenden Antrags lassen solch
eine neue Dynamik für Ausbildung erwarten.
Zuerst einige Punkte zum Antrag. Erstens - ganz
grundsätzlich - liegen dem Antrag offensichtlich wieder
die gleichen unrealistischen Zahlen und Einschätzungen
zur aktuellen Ausbildungssituation zugrunde, über die
wir an dieser Stelle schon einmal diskutiert haben. Ein
Beispiel, weil eben schon danach gefragt wurde: Die
Ausbildungslücke wird im Antrag mit 11 500 Plätzen
beziffert. Unsere Fraktion hatte Ende Januar eine Sachverständigenanhörung und es bestand unter allen eingeladenen Sachverständigen - darunter war auch ein Abteilungsleiter aus dem Bundesinstitut für Berufsbildung,
der die Zahlen wirklich kennen müsste - Konsens darüber, dass die tatsächliche Ausbildungslücke bei rund
100 000 Plätzen liegt.
({2})
Die übrigen knapp 90 000 Jugendlichen verschwinden
bei Ihnen in Angeboten der zweiten oder dritten Wahl.
({3})
Dazu, Frau Kressl, gehören eben auch die Einstiegsqualifizierungen. Eine solche Einstiegsqualifizierung ist
aber kein Ausbildungsplatz; es ist ein billiges Praktikum.
({4})
Mehr als ein Drittel der Jugendlichen steht danach wieder auf der Straße. Diese Jugendlichen brauchen einen
Ausbildungsplatz. Sie tauchen aber in der Statistik nicht
auf. Das ist schlicht falsch.
({5})
Deshalb fordern wir Sie auf: Legen Sie endlich eine realistische Ausbildungsbilanz vor!
({6})
Der zweite Punkt. Wir können nach wie vor - auch
wenn es mittlerweile schon um eine Weiterentwicklung
geht - Ihre Begeisterung über den Ausbildungspakt
nicht teilen. Die Wirkungslosigkeit müsste auch für Sie
offensichtlich sein. In Ihrem eigenen Antrag steht - ich
zitiere -:
Die Bundesregierung hat den Ausbildungspakt mit
den Spitzenverbänden der Wirtschaft geschlossen,
um das Ausbildungsverhalten der Betriebe positiv
zu beeinflussen.
Das klingt gut. Dem steht aber die Presseerklärung des
Bundesinstituts für Berufsbildung zur Ausbildungsbilanz 2005 gegenüber. Dort steht - wieder Zitat -:
Die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze sinkt
auf den tiefsten Stand seit der Wiedervereinigung.
({7})
Wo sehen Sie hier eine positive Auswirkung auf das
Ausbildungsverhalten der Betriebe? Für uns ist klar: Der
Ausbildungspakt ist kein Erfolg. Die Gewerkschaften
haben unsere volle Unterstützung, bei einer solchen Lügengeschichte nicht einzusteigen.
({8})
Dritter Punkt: Durchlässigkeit der Bildungswege.
Dieses an sich vollkommen richtige und längst überfällige Vorhaben wird zwar nicht durch diesen Antrag, aber
durch die geplante und mehrfach diskutierte Föderalismusreform konterkariert. Wenn die Möglichkeiten einer
gesamtstaatlichen Bildungsplanung weiter eingeschränkt
werden, dann ist die geforderte und auch angekündigte
Durchlässigkeit zur Hochschule nur eine Worthülse. Was
nützt es, wenn einem der Zugang zukünftig nicht mehr
aufgrund eines fehlenden formalen Abschlusses, sondern aufgrund eines Kapazitätsmangels verweigert wird?
Für denjenigen, der versucht, an die Hochschule zu kommen, ist das Ergebnis das gleiche. Deshalb lautet unser
Appell an die Vernunft aller Beteiligten, sich gegen die
vorliegenden Vorschläge aus der Koalitionsvereinbarung
zur Föderalismusreform im Bildungsbereich zu wenden.
({9})
Vierter Punkt: das Jobstarter-Programm. Sie sprechen im Antrag von „Bündelung und Fortentwicklung“
der bisherigen Programme. Ganz nebenbei - das wird
eben nicht gesagt - werden die Bundesmittel deutlich
gekürzt. Auch dieses Programm ist damit eine reine
Luftnummer. Eine nachhaltige Förderpolitik sieht anders
aus.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um Dynamik in die
Ausbildung zu bringen, sind andere Schritte notwendig.
Diese vermissen wir in Ihrem Antrag. Ich möchte einige
Punkte erwähnen, die aus unserer Sicht an oberster
Stelle stehen müssen.
Erster Punkt: Einführung einer gesetzlichen Umlagefinanzierung.
({11})
Frau Kressl, Sie haben wieder darauf aufmerksam gemacht, dass Sie auf Freiwilligkeit, dass Sie auf Appelle
an die Tarifpartner setzen. Bei unserer Sachverständigenanhörung, von der ich bereits sprach, herrschte auch
Konsens darüber, dass, wenn auf Branchenebene tarifliche Vereinbarungen getroffen werden sollen, im ersten
Schritt eine gesetzliche Grundlage vorhanden sein muss.
Wir können nicht verstehen, dass in Ihrem Antrag eine
solche Möglichkeit überhaupt nicht mehr in Betracht gezogen wird.
({12})
Zweiter Punkt: eine bessere und gezielte Förderung.
Es ist mittlerweile fast zynisch, dass Sie immer wieder
schreiben, an dem Ziel festzuhalten, dass kein junger
Mensch länger als drei Monate arbeitslos sein darf. Sie
kennen die Zahlen doch genauso gut wie ich. Eine halbe
Million Jugendlicher steht ohne Arbeit auf der Straße.
Aus unserer Sicht ist das Jobstarter-Programm keine
Lösung. Nicht die Vernetzung von regionalen Partnern
ist die entscheidende Aufgabe, vielmehr müssen erst einmal Förderangebote selbst finanziert und erhalten werden.
Dritter Punkt: Geschlechtergerechtigkeit. Im vorliegenden Berufsbildungsbericht wird mehrmals auf die bestehende geschlechtsspezifische Diskriminierung eingegangen. Im Antrag tauchen diese Fragen überhaupt nicht
mehr auf. Frau Ministerin Schavan, auch von Ihnen habe
ich dazu nichts gehört. Dynamik für Ausbildung muss
aber auch mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Ausbildung bedeuten.
({13})
Vierter und letzter Punkt: Europäisierung der Berufsbildung. Auch dazu steht nur sehr wenig im Antrag.
Frau Ministerin, Sie sind darauf eingegangen. Das finden wir richtig; denn es ist sinnvoll, diese Debatte nicht
an uns vorbeilaufen zu lassen. Dieser Prozess ist gestaltbar und sollte daher diskutiert und gestaltet werden. Ein
großes Problem ist - ich beziehe mich dabei auf unsere
Erfahrungen im Hochschulbereich -, dass in diesem Zusammenhang verstärkt die Modularisierung und die vor
allem von der FDP befürwortete Stufenausbildung ins
Gespräch gebracht werden. Wenn Stufenausbildung faktisch weniger Ausbildung bedeutet, dann ist das definitiv
der falsche Weg.
({14})
Dynamik für Ausbildung muss für uns Dynamik im
Interesse der Jugendlichen und Dynamik für die immer
größer werdende Zahl benachteiligter Jugendlicher sein.
In diesem Sinne freuen wir uns auf die Ausschussberatungen.
({15})
Das Wort hat nun die Kollegin Priska Hinz, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Kollegin Kressl hat zu Beginn ihrer Rede gesagt, dass
wir über die Zukunftschancen der Jugend in unserem
Land sprechen. Gerade deshalb waren wir auf Ihren ersten Antrag zur beruflichen Bildung sehr gespannt. Er ist
nämlich der Eckpfeiler dessen, was in den nächsten Jahren zur Schaffung von Ausbildungsplätzen für Jugendliche passieren soll. Normalerweise sagt man: Was lange
währt, wird endlich gut. In diesem Fall sind Sie diesem
Sprichwort nicht gerecht geworden. Der Antrag ist genauso enttäuschend wie das Treffen des Lenkungsausschusses zum Ausbildungspakt, das Ende Januar stattgefunden hat.
Schauen wir uns den Antrag einmal an. Sie begrüßen
darin, dass die Bundesregierung den Pakt weiterführt.
Dabei sprechen Sie noch nicht einmal davon, dass er
weiterentwickelt werden soll.
({0})
Nein, er soll mit allen Mängeln, über die hier schon diskutiert wurde, weitergeführt werden.
Sie begrüßen das Jobstarter-Programm. Das ist im
Moment das einzig neue Programm und wurde unter
Rot-Grün entwickelt.
({1})
Von den Schwarzen ist bislang gar keine Initiative in
diese Richtung ausgegangen.
({2})
Sie begrüßen auch - man höre und staune - die Ankündigung der Bundesregierung, eine Initiative in Angriff zu nehmen; das ist die Wortwahl in Ihrem Antrag.
Sie heißt dann auch noch „Initiative zur strukturellen
Fortentwicklung der beruflichen Bildung an den Nahtstellen der Bildung und zwischen Bildung und Beschäftigung unter Einbeziehung aller für die berufliche Bildung Verantwortlichen“. Jetzt kann sich jeder vorstellen,
wo wie viele Ausbildungsstellen in diesem Land geschaffen werden! So sieht Ihre Berufsbildungspolitik
aus.
({3})
Beschämend war auch die Rede der Bundesbildungsministerin, und zwar nicht nur, weil sie hier keine neue
Initiative vorgestellt hat,
({4})
sondern auch, weil sie nicht einmal wusste, über wie
viele unvermittelte Jugendliche wir hier eigentlich sprechen.
({5})
Es ist beschämend, dass Sie gesagt haben, dass Sie erst
im Jahr 2007 mit neuen Programmen beginnen wollen.
Das ist ein Jahr zu spät. Im Sommer werden wieder Ausbildungsplätze gebraucht. Sie müssten jetzt mit Initiativen beginnen, damit wir im Sommer mehr Ausbildungsplätze haben.
({6})
Viele Gründe für die Probleme, die Sie jetzt erst ermitteln wollen, zum Beispiel warum Betriebe nicht ausbilden, liegen doch bereits auf dem Tisch. Da Sie bislang
keine Initiativen in Angriff genommen haben, verwundert es auch gar nicht, dass die Vereinbarung zum Pakt
im Vergleich zum Vorabdruck verändert wurde. Im Vorabdruck vom 30. Januar war noch die Rede davon, dass
als letztes das Kapitel „Weiterentwicklung und Zukunft
des Paktes“ eingefügt werden soll. In der endgültigen
Veröffentlichung ist dies verschwunden. Es gibt keine
Weiterentwicklung des Paktes. Das heißt, Sie haben
keine Idee, Frau Ministerin, welche Initiativen in diesem
Jahr gestartet werden sollen, damit den Jugendlichen
ihre Zukunftschancen nicht mehr genommen werden
und ihre Lebenszeit nicht weiter verschwendet wird. Das
ist ein Armutszeugnis.
({7})
Dabei könnte die Bundesregierung viel machen. Sie
könnte europarechtskompatible gesetzliche Grundlagen
schaffen, die vorsehen, dass Ausbildungsbetriebe bei der
Vergabe öffentlicher Aufträge bevorzugt werden können. Sie könnten Programme weiterentwickeln, die von
Migranten geführte Betriebe unterstützen, zum Beispiel
indem sie die Ausbildereignung bekommen und Ausbildungsplätze anbieten können. Das würde gerade für Migrantenkinder die Schwelle senken, Ausbildungsstellen
zu bekommen.
Priska Hinz ({8})
({9})
Dann könnte man auch die Herkunftssprache als besondere Kompetenz einbringen.
Sie könnten auf die Bundesagentur für Arbeit Einfluss nehmen zugunsten einer besseren Berufsorientierung und Berufsberatung und zum Beispiel bewirken,
dass kein Verschiebebahnhof mehr zwischen Arbeitsgemeinschaften, Jugendhilfe und Kommunen bei der Berufsberatung stattfindet. Sie könnten darauf Einfluss
nehmen, dass Elemente des modernisierten Berufsbildungsgesetzes, zum Beispiel die gestufte Ausbildung
und die Anerkennung der Abschlüsse vollschulischer
Ausbildungsgänge, endlich besser umgesetzt werden.
({10})
Auch könnten Sie den Ausbildungspakt gemeinsam mit
den Ländern weiterentwickeln, um die Schulabbrecherquote zu senken.
Der Präsident des DIHK beabsichtigt, außerhalb des
Paktes ein eigenes Programm zur Förderung der Schüler,
zur Verbesserung ihrer Ausbildungsreife auf den Weg zu
bringen. Diese Initiative hat er vor dem Treffen des Lenkungsausschusses angekündigt. Da frage ich mich doch:
Warum haben Sie diese Idee nicht aufgegriffen, Frau
Schavan, und gemeinsam mit den Ländern und den anderen Partnern des Ausbildungspaktes entsprechende
Vereinbarungen getroffen? Warum versagen Sie hier auf
der ganzen Linie?
({11})
Man kann zusätzliche Initiativen ergreifen - Initiativen
von Betrieben für Betriebe, die ausbilden - und die Ausbildungsverbünde und die überbetrieblichen Ausbildungsstätten stärken.
({12})
Meine Damen und Herren, interessant ist, was nicht
in Ihrem Antrag steht, wohl aber in Ihrem Koalitionsvertrag. Ich nenne als Stichworte die branchenbezogene
Umlagefinanzierung und die zweite Chance, welche
von der Ministerin immer so betont wird. Diejenigen, die
keinen Schulabschluss haben, sollen eine zweite Chance
bekommen und entweder ihren Schulabschluss nachholen oder eine Ausbildung machen können.
({13})
- Das steht aber nicht in dem Teil Ihres Antrags, in dem
Sie die Bundesregierung auffordern, aktiv zu werden.
({14})
Obwohl die Bundesregierung in diesem Bereich etwas
tun könnte, fordern Sie das von Ihrer eigenen Ministerin
nicht ein. Das ist ein Armutszeugnis.
({15})
Meine Damen und Herren, Appelle, wie sie in Ihrem
Antrag zu finden sind, reichen nicht mehr aus. Nun ist
entschlossenes Handeln gefragt. Wir und auch die Jugendlichen erwarten deutliche Verbesserungen, und
zwar bereits zu Beginn des kommenden Ausbildungsjahres. Wir werden genau überprüfen, welche Initiativen
Sie einleiten und wie viele Ausbildungsplätze zusätzlich
zur Verfügung gestellt werden. Dann werden wir über
neue Instrumente wie eine branchenspezifische Umlagefinanzierung und die dafür notwendigen rechtlichen
Grundlagen nachdenken.
Danke schön.
({16})
Das Wort hat nun der Kollege Uwe Schummer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Frau
Kollegin Hinz, jemanden, der sich schlafend stellt, kann
man natürlich nicht aufwecken, und demjenigen, der den
Inhalt eines Antrags nur selektiv wahrnimmt, kann man
kein umfassendes Verständnis davon vermitteln. Daher
rate ich Ihnen: Lesen Sie genauer! Dann können wir fundierter diskutieren.
({0})
Der Berufsbildungsbericht 2005 macht eines klar:
Wer mehr Ausbildungsplätze will, der muss viele Hebel
in Bewegung setzen. Die Probleme auf dem Ausbildungsmarkt haben die verschiedensten Ursachen. So
gibt es unterschiedliche Akteure, die zusammengeführt
werden müssen. Wir müssen also die beteiligten Akteure
im Rahmen eines Ausbildungspaktes zusammenführen,
die verschiedenen Instrumente abwägen und sie dann
auch umsetzen. Aber man darf nicht, wie es teilweise
von den Rednern der Linkspartei getan wird, auf nur ein
Instrument setzen und alle anderen weitgehend ausblenden.
({1})
Auch aufgrund des Ausbildungspaktes wurden in den
letzten beiden Jahren 123 300 neue Ausbildungsplätze
geschaffen.
({2})
83 000 Betriebe bilden nun erstmals aus. Die Vereinbarung, die im Rahmen des Ausbildungspaktes getroffen
wurde, ist also eingehalten worden. Wer damit nicht
zufrieden ist, muss sagen, dass wir andere Vereinbarungen brauchen.
({3})
Das wäre dann die Konsequenz.
({4})
Aber das, was wir durch den Ausbildungspakt leisten
wollten, haben wir erreicht.
({5})
Es ist richtig: Legt man die Zahlen vom Dezember
letzten Jahres zugrunde, stieg die Ausbildungsplatzlücke im Jahresvergleich von 9 500 auf 11 500 Stellen.
Daran wird deutlich, dass der Ausbildungspakt eine neue
Dynamik braucht. Allerdings muss man, wenn man
diese Feststellung trifft, berücksichtigen, vor welchem
Hintergrund diese Entwicklung stattgefunden hat: In den
Jahren 2004 und 2005 wurden aufgrund der wirtschaftlichen Situation in Deutschland 776 420 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze abgebaut. 77 200 Betriebe
gingen in Insolvenz. Außerdem gab es im letzten Jahr
bei den Schulabgängern ein Plus von 9 000. - Vor diesem Hintergrund zeigt sich die wahre Leistung des Ausbildungspaktes.
({6})
Dies wird aber nicht ausreichen. Der Pakt muss ergänzt
werden. Deshalb haben wir in der letzten Wahlperiode
einstimmig die Berufsbildungsreform verabschiedet.
({7})
- Die FDP hat sich der Stimme enthalten. Sie hat nicht
mit Nein gestimmt. Das heißt für uns: einstimmig.
Es ist eine alte Erkenntnis des früheren Mainzer Arbeiterbischofs von Ketteler, dass jeder Zuständereform
eine Gesinnungsreform vorauseilen muss.
({8})
Von daher ist es richtig, dass der Ausbildungspakt durch
eine Strukturkommission ergänzt wird. Auf der einen
Seite muss das Denken appellativ verändert werden, auf
der anderen Seite müssen aber auch die Strukturen in der
Berufsbildung verändert werden. Der Ausbildungspakt
leistet Ersteres, die Strukturkommission hat Letzteres zu
leisten. Gut ist, dass sowohl die Länder als auch die Gewerkschaften beteiligt sind.
Zur Gesinnungsreform gehört der Appell an die Wirtschaft: Erwartet keine olympiareifen Bewerber! Nehmt
die Menschen, die auf dem Ausbildungsmarkt sind!
Schaut auf ihr Entwicklungspotenzial und darauf, wie
ihr sie in den Betrieben entsprechend fördern könnt! Die Wirtschaft sollte in dem Maße, wie sie in Maschinen
investiert, auch in Menschen investieren.
({9})
Wenn bei einer IHK-Befragung 71 Prozent der Unternehmer antworten, sie hätten Ausbildungsplätze nicht
besetzt, weil keine geeigneten Bewerber vorhanden
seien, dann ist dies keine gute Antwort. Aber auch an die
Jugendlichen muss appelliert werden: Wartet nicht, bis
sich der Wunschberuf oder der Wunschbetrieb findet!
Kümmert euch rechtzeitig und flexibel um einen Ausbildungsplatz! Ein mäßiger betrieblicher Ausbildungsplatz
ist besser als jede Ersatzmaßnahme.
({10})
Bei den türkischstämmigen Deutschen bleibt jeder
zweite ohne eine berufliche Ausbildung. Von denen, die
in Ausbildung sind, verteilen sich 44 Prozent auf zehn
Berufe - es gibt aber 360 Berufsbilder. Laut Berufsbildungsbericht brechen 25 Prozent der Jugendlichen ihre
Ausbildung ab.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Keskin von der Fraktion Die Linke?
Wenn es eine gute ist, ja.
({0})
Herr Kollege, wie wir gerade gehört haben, sind es
Zehntausende Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz
gefunden haben. Eigentlich wollte man mit dem Ausbildungspakt allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz
verschaffen. Das ist nicht geschehen. Nun frage ich Sie:
Ist es gerecht, dass manche Betriebe Jugendliche ausbilden, wovon alle Betriebe profitieren, und manche dies
nicht tun? Wäre es nicht erforderlich, mit einem Gesetz
alle Betriebe zu verpflichten, ihren Beitrag zur Ausbildung zu leisten?
Es gibt beispielsweise im Bauhauptbereich bereits
seit mehr als 30 Jahren eine tarifliche Umlagefinanzierung der Ausbildungskosten. Wir müssen aber feststellen, dass die Zahl der Ausbildungsplätze in diesem Bereich von etwa 100 000 in 1998 auf jetzt 39 000 massiv
eingebrochen ist. Eine zentralistische Abgabe wäre also
ebenso wie eine tariflich vereinbarte Abgabe keine Lösung. Wir müssen ein Bündel an Maßnahmen entwickeln. Die Antwort, die Frau Schavan bzw. die große
Koalition gibt, ist: Wir brauchen eine neue Dynamik des
Ausbildungspaktes, und zwar durch verschiedene Instrumente, die Strukturkommission genauso wie den Ausbildungspakt.
({0})
Zwei Drittel der Jugendlichen, die ihre Ausbildung
nach einem oder eineinhalb Jahren abgebrochen haben,
sagen, dass es der falsche Beruf oder der falsche Betrieb
war. Dies zeigt, dass wir bereits in der Schule die Berufsorientierung und die Berufsberatung verbessern
müssen.
42 Prozent der Betriebe sind nicht ausbildungsberechtigt: weil sie nicht die Breite eines Berufsbildes vermitteln, weil sie zu klein oder zu spezialisiert sind. Von den
ausbildungsberechtigten Unternehmen bilden 40 Prozent
aus. Diese Zahl zu erhöhen, ist die gemeinsame Aufgabe
der Strukturkommission.
({1})
Hierfür gibt es zwei Ansätze: qualifizierte Ausbildungsverbünde und Stufenausbildungen. Beide Instrumente wurden durch die Berufsbildungsreform aufgewertet. Mit dem Jobstarter-Programm wird die
Förderung von Verbundsystemen weiter forciert. Durch
Ausbildungsverbünde hat sich die Zahl der ausbildungsfähigen Betriebe um 3 Prozent erhöht.
1,2 Millionen Schulabgänger bis 29 Jahre sind - das
müssen wir zur Kenntnis nehmen - ohne berufliche Qualifizierung. Immer mehr Berufsbilder werden immer
stärker theoretisch ausgerichtet. Ich möchte aus einem
Schreiben des Verbandes für Gartenbau in NRW vorlesen, wie der Beruf Gärtner dargestellt wird - ich zitiere -:
Gärtner ist einer der schwierigsten Ausbildungsberufe.
Bewerber müssen über
qualifizierte Kenntnisse in den Bereichen Mathematik, Physik, Chemie, Biologie und auch Latein
verfügen.
Sie sollten also - das füge ich an - möglichst jede
Pflanze mit ihrem lateinischen Namen kennen. Wenn wir
Berufsbilder aus guten Gründen immer weiter aufwerten
und theoretisch ausrichten, dann müssen wir aber auch
überlegen, wie wir die praktisch Begabten durch Zwischenzertifizierungen ins Boot hineinholen,
({2})
wie wir für sie Bildungsstufen organisieren, die dauerhaft zu einer Bildungstreppe werden.
({3})
Ich glaube, dass die vorliegenden Anträge, mit einer
Ausnahme, dazu geeignet sind, dass wir im Deutschen
Bundestag in der Tradition der Berufsbildung auch überparteilich einen gemeinsamen Weg finden können. Bitte
betrachten Sie unseren Antrag als ein Gesprächsangebot.
Wir brauchen keine Rituale, sondern neues Denken, Gesinnungs- und Zuständereform.
({4})
Nun hat das Wort der Kollege Ernst Dieter Rossmann,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist, wenn man sich an die zurückliegenden Debatten
zur beruflichen Bildung und zur Ausbildungsplatzversorgung erinnert, in denen es immer eine Phalanx des
Protestes gab, schon ein Erlebnis der besonderen Art,
miterleben zu können, dass diese Phalanx nun aufgebrochen ist.
({0})
Es gibt jetzt ein Zentrum von Vernunft, und zwar nicht
nur bei CDU/CSU und SPD, sondern auch bei den Grünen; die schließe ich ausdrücklich mit ein.
({1})
Liebe Frau Hinz, Sie haben eben an dem, was Frau
Schavan zu dem Antrag gesagt hat, vieles kritisiert. Aber
ganz nüchtern: Wenn SPD und Grüne weiter regiert hätten, dann wäre in ihren Positionen vieles von dem enthalten, was nun zwischen SPD und CDU/CSU vereinbart worden ist.
({2})
Vieles von dem, was Sie in Ihrem Antrag eingebracht
haben, ist deckungsgleich mit dem, was zwischen SPD
und CDU/CSU vereinbart worden ist.
Aber ist das so schlimm? Ist es nicht eher gut, dass
wir eine Kontinuität im Grundverständnis haben, eine
Kontinuität darin, dass wir wissen, dass die Fixierung
auf eine Schlüsselmaßnahme im komplexen Bereich der
Berufsbildung nicht ausreicht? Wenn die CDU/CSU früher gesagt hat, alle Probleme seien bei einem höheren
Wirtschaftswachstum gelöst, haben wir immer die Position vertreten, dass das nicht so einfach ist. Während andere an eine Ausbildungsplatzumlage gedacht haben,
waren wir diejenigen, die gesagt haben, dass das alleine
auch nicht ausreicht. Es ist also gut, dass es ein neues
Zentrum gibt. Dieses neue Zentrum hat sich dokumentiert, als wir das Berufsbildungsgesetz verabschiedet
haben, bei dem es zwischen SPD, CDU/CSU und Grünen eine breite Übereinstimmung gab. Darauf können
wir aufbauen.
Trotzdem darf nichts unter den Tisch fallen. Wir von
den Sozialdemokraten müssen klar machen und vielleicht auch nachfragen, welches die vereinbarten Leitplanken bei unserem Berufsbildungsverständnis waren.
Denn das Leitbild einer Berufsausbildung bleibt immer
noch das Berufsbild.
({3})
Das ist nicht durch Modularisierung oder durch das Bausteinprinzip aufzulösen. Damals haben wir verabredet,
dass die Stufung von Ausbildung zur Strukturierung,
nicht zur Dequalifizierung führen muss.
({4})
Die Stufung von Ausbildung soll nicht die Hintertür
sein, um zu erreichen, dass die dreijährige Ausbildung
die Ausnahme und zweijährige Ausbildung die Regel
wird, an die man dann vielleicht ein Jahr anschließen
kann. Alles das ist von uns damals im Berufsbildungsgesetz, das wir gemeinsam verabschiedet haben, klargestellt worden. Wir gehen davon aus, dass das auch jetzt
gilt und dass wir auf dieser Basis zumindest während
dieser Legislaturperiode arbeiten können.
Es ist auch wichtig, was Ministerin Schavan angesprochen hat, dass wir erkennen, dass wir Bildung über
den gesamten Lebensweg brauchen. Diese beginnt bei
der vorschulischen Bildung, geht über die Bildung in der
Schule und in der Berufsvorbereitung bis zur Bildung
beim Einstieg in den Beruf und bei der beruflichen Weiterbildung. Wenn wir an der Stelle in Modulen, in Bausteinen denken, dann kann das mit dem Berufsprinzip
zusammenpassen, aber nur dann.
({5})
Das war noch einmal die Klarstellung unseres Verständnisses, das in der letzten Legislaturperiode mit breitester Mehrheit gesetzlich verankert wurde. Wir haben
allerdings nicht nur eine Kontinuität beim Verständnis,
sondern leider auch eine bei den Problemen und dementsprechend beim komplexen Zugang zu diesen Problemen. Auch dazu muss man ehrlich Stellung nehmen. Der
Pakt ist eine gute Sache, aber er reicht nicht aus und
muss weiterentwickelt werden.
Da ich gerade auf die Kontinuität der Probleme zu
sprechen gekommen bin, möchte ich ein bestimmtes
Problem noch einmal herausarbeiten. Ich will Frau
Hirsch und den Vertretern der Linkspartei ausdrücklich
Recht geben,
({6})
dass die Lücke bei der Versorgung mit Ausbildungsplätzen mehr als die genannten circa 11 500 beträgt. Es
handelt sich natürlich bei dieser Zahl nicht um die der
fehlenden vollwertigen beruflichen Ausbildungsverhältnisse, sondern bei dieser Zahl sind die Personen mitberücksichtigt worden, die sich in der Berufsvorbereitung,
in EQJ-Praktika und in vielen anderen Maßnahmen bis
hin zu Maßnahmen zur Unterstützung von Beschäftigung befinden. Die Lücke bei der Zahl von Ausbildungsverhältnissen beträgt 100 000. An dieser Stelle
dürfen wir also nichts schönreden, sondern müssen die
Dinge beim Namen nennen.
({7})
Ich darf zur Linkspartei allerdings auch sagen: Wir
bitten sie herzlich, die breit gefächerten Unterstützungsmaßnahmen, die entwickelt werden - damals von der
SPD-Grünen-Regierung, jetzt auch von der neuen Regierung -, nicht zu disqualifizieren. Es geht um 100 Millionen Euro für Jobstarter. Das sind keine Luftblasen,
Frau Kollegin.
({8})
Wenn Sie das hier im Bundestag nicht überzeugt, dann
gehen Sie dahin, wo Sie als Linkspartei, als PDS, Regierungsverantwortung tragen,
({9})
nämlich nach Mecklenburg-Vorpommern und nach Berlin. Dort werden Sie keine diffamierenden Äußerungen
in Bezug auf die 100 Millionen Euro für das Jobstarterprogramm hören.
({10})
Ihre Kräfte in der Regierungsverantwortung werden sich
dort genauso konstruktiv und engagiert einbringen wie
wir hier.
Lassen Sie uns mit dieser Scharadenspielerei hier aufhören. Wir wissen doch, wie wir uns an den verschiedensten Stellen wechselseitig positiv auf Dinge beziehen
können.
({11})
Das führt zu den wirklichen Problemen. Es bleibt ein
wirkliches Problem, dass es zu wenige Betriebe gibt, die
ausbilden, und dass die Zahl der ausbildungsbereiten
Betriebe leider sinkt. Ich will das knapp so beleuchten:
Erster Hinweis. Wir haben 2 Millionen ausbildungsfähige Betriebe, von denen 50 Prozent nicht ausbilden.
400 000 von denen, die nicht ausbilden, haben unter
zehn Beschäftigte, 100 000 von denen haben über zehn
Beschäftigte. Das muss man sich einmal vorstellen:
100 000 Betriebe in Deutschland, die über zehn Beschäftigte haben und ausbildungsfähig sind, bilden nicht
aus.
Frau Schavan, ich darf Ihnen sagen, wie unser Blickwinkel ist: Wir von der SPD wünschen uns ausdrücklich,
dass Sie beim Pakt für Ausbildung den Fokus auch auf
diese Betriebe richten, weil es schon sehr starker Argumente der Betriebe mit zehn und mehr Beschäftigten dafür bedarf, dass sie sich der Ausbildung verweigern. Das
geht wirklich nicht.
({12})
Man könnte viel bewegen, wenn man an dieser Stelle
eine gezielte Initiative durchführen würde. Unter Einschluss des Jobstarterprogramms, der Industrie- und
Handelskammern, der Gewerkschaften und der Betriebsräte könnte man hier mehr bewegen, als wenn man sich
auf die 400 000 Betriebe konzentriert, die leider nur
ganz wenige Beschäftigte haben.
({13})
Zweiter Hinweis. Die nicht so gut auf eine Ausbildung Vorbereiteten bleiben ein kontinuierliches Problem. Damit meinen wir nicht ausschließlich Jugendliche mit Migrationshintergrund, aber sie sind mit
gemeint. Hier muss eine stärkere Verknüpfung erfolgen,
indem man sich um die entsprechenden Betriebe kümmert. Sie haben konstruktiv angekündigt, dass Sie bis
2010 10 000 zusätzliche Betriebe aus dem wachsenden
Bereich der von Migrantinnen bzw. Migranten geführten
Betriebe gewinnen wollen. Das unterstützen wir voll und
ganz und ausdrücklich. Wir finden, dass das eine gute
parteiübergreifend gestützte Initiative sein kann.
({14})
Das ist das eine und das andere gehört natürlich dazu:
Diese Jugendlichen müssen natürlich auch eine Einstiegsqualifizierung und Berufsvorbereitung erhalten.
Sie müssen an die betriebliche Wirklichkeit herangeführt
werden. Wir haben Sie im Ausschuss so verstanden, dass
Sie das nicht betriebsfern durchführen, sondern in den
Betrieb hineinbringen wollen. Das unterstützen wir ausdrücklich. Das kann ein wegweisender zusätzlicher
Punkt sein.
({15})
Ich will ausdrücklich auch ein sich neu stellendes
Problem ansprechen: 2004 und 2005 mussten wir leider
feststellen, dass junge Frauen die Verliererinnen bei
den zusätzlichen Ausbildungsanstrengungen sind.
({16})
Es gab ja 30 000 bis 40 000 zusätzliche Plätze. Diese
werden zu über 75 Prozent von jungen Männern eingenommen, was sich auch schon darin ausdrückt, dass sich
weniger junge Frauen als Männer im dualen Ausbildungssystem befinden, obwohl es von der Bevölkerungsrelation her gerade andersherum ist. Das können
wir nicht hinnehmen.
({17})
Das ist eine Diskriminierung in Bezug auf weitere
Berufschancen, die gerade vor dem Hintergrund, dass
die duale Berufsausbildung als sehr wichtig angesehen
wird, aufgearbeitet werden muss. Wir erleben gerade,
dass der ganze tertiäre Betriebs- und Arbeitsbereich eine
zunehmende Zahl an Arbeitsplätzen bietet, aber die Zahl
der Ausbildungsplätze nicht in gleichem Maße zunimmt.
Schon an dieser Stelle zeigt sich, dass die Gleichung,
mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze bedeuten zugleich mehr Ausbildungsplätze, so nicht stimmt. Ansonsten müssten wir im tertiären Bereich einen dramatischen Zuwachs an Ausbildungsplätzen haben. Den
haben wir aber nicht.
({18})
Was Ministerin Schavan im Bereich Logistik, Tourismus, Luftfahrt, Nachrichtenübermittlung, Unternehmensdienstleistungen und Sozialberufe angedeutet hat, nämlich sich mehr um die Ausbildungsordnungen und die
Entwicklung von Ausbildungsberufen zu kümmern,
wird für eine wachsende Zahl von Ausbildungsplätzen
wichtig sein. Dies bietet auch speziell jungen Frauen zusätzliche Chancen im tertiären Bereich und kann vielleicht dann das ausgleichen, was an anderer Stelle fehlt.
Frau Hinz, Sie sprachen an, dass der Bericht nicht viel
Neues bietet. So viel Neues konnte auch bei den guten
Vorgaben, die wir mit Ministerin Bulmahn geschaffen
haben, nicht über Nacht hinzukommen. Das werden Sie
uns doch sicherlich zugestehen wollen.
Um einen Punkt haben wir - dies ist jetzt von der Ministerin ausdrücklich als Perspektive herausgestellt worden - immer gerungen, nämlich das Programm der
zweiten Chance. Das Thema zweite Chance sollte auch
der Linkspartei wichtig sein. Sich auf die über 1 Million
jungen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne Berufsausbildung oder ohne schulischen Abschluss zu konzentrieren, ist jede Anstrengung wert.
Herr Kollege Rossmann, bitte kommen Sie zum
Schluss.
Dies ist es auch wert, dass wir in der großen Koalition
mit Ihnen und anderen zusammen mit unserer Ministerin
hier zusätzlich Akzente setzen. Das sehen wir gewährleistet. Deshalb freuen wir uns darauf, dass wir eine gute
Berufsbildungspolitik mit all unseren Anstrengungen
weiterführen können.
Danke fürs Zuhören.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Alexander Dobrindt
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
wir uns in diesem Haus vor zwei Monaten zum letzten
Mal über berufliche Bildung unterhalten haben, lag als
Vorlage für die Debatte ein rückwärts gewandter Antrag
der PDS mit der Forderung nach einer Ausbildungsplatzabgabe vor.
({0})
Wir alle können froh sein, dass wir heute eine positive
Debatte führen und uns ein zukunftsorientierter Antrag
der CDU/CSU und der SPD vorliegt. Das ist eine gute
Perspektive für die jungen Menschen, die einen positiven Blick in die Zukunft werfen wollen.
({1})
- Aber darum geht es. Das ist das Entscheidende. Junge
Menschen brauchen in Freiheit und Selbstbestimmung
Perspektiven. Natürlich besteht ein wesentlicher Teil darin, einen Beruf zu erlernen und eine Aufgabe zu haben.
Dafür müssen wir in der Politik die Rahmenbedingungen
schaffen. Selbstverständlich werden wir in dieser Debatte auch die Unternehmen, die mitverantwortlich sind
und ihre gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrnehmen
wollen, daran erinnern. Aber all dies geschieht - das ist
der Hauptpunkt - auf Basis einer freiwilligen Verpflichtung und nicht, wie es gerne immer wieder gefordert
wird, auf Basis einer Zwangsabgabe. Für uns ist eine
freiwillige Verpflichtung in Form des Ausbildungspaktes das Richtige.
({2})
Herr Kollege Dobrindt, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hirsch?
Selbstverständlich.
Frau Hirsch, bitte schön.
Herr Kollege, können Sie mir noch einmal konkret erläutern, worin aus Ihrer Sicht die Rückwärtsgewandtheit
in der Forderung nach einer Ausbildungsplatzumlage besteht?
({0})
Liebe Kollegin, wissen Sie, in unserer Debattenkultur
haben wir uns in diesem Haus Gott sei Dank seit langer
Zeit Gedanken darüber gemacht, wie wir junge Menschen in Arbeit bringen können, wie wir Ausbildungsplätze schaffen und wie wir damit umgehen können,
dass die Situation vor Ort für viele Menschen in ihrem
ganz persönlichen Bereich unglaublich schwierig ist.
Wir haben uns lange Zeit überlegt, was hier der richtige
Weg ist. Gemeinsam mit allen Fraktionen hier im Deutschen Bundestag, mit der deutschen Wirtschaft, mit den
Unternehmen und den Verbänden haben wir eine Möglichkeit gefunden, junge Menschen in Arbeit zu bringen.
Was wir aber bei dieser freiwilligen Aufgabe, die wir
gemeinsam schultern wollen, nicht brauchen, ist, dass jemand die Unternehmen mit staatlichen Vorgaben zwangsverpflichten will, etwas zu tun, was sie freiwillig wesentlich leichter machen können.
({0})
Unsere Ansicht von der Welt und von der Situation in
diesem Lande ist, dass Freiheit und Selbstbestimmung
wichtiger sind als Zwangsvorgaben und all das, was Sie
sich so ausdenken.
({1})
In der deutschen Wirtschaft haben in einem erheblichen Maße die Kleinbetriebe und der Mittelstand diese
Aufgabe wahrgenommen. Sie haben diese Kraftanstrengung freiwillig auf sich genommen und von September
bis Januar die Lehrstellenlücke um 25 700 Ausbildungsplätze verringern können. Das ist eine riesige Zahl.
Diese enorme Aufgabe wurde vor allem von den kleinen
und mittelständischen Betrieben geschultert. Denn 50 Prozent der Ausbildungsplätze entstehen in Unternehmen,
die unter 50 Mitarbeiter haben. Ich glaube, dass das eine
besonders gute Nachricht ist.
({2})
In der Nachvermittlungsphase konnte 93 Prozent
der Jugendlichen - auch diese Zahl sollte in diesem Zusammenhang genannt werden - ein Ausbildungsangebot
gemacht werden. Ich halte das für eine großartige Leistung und glaube, dass wir uns an dieser Stelle bei den
Unternehmen, die sich für diese gesamtgesellschaftliche
Aufgabe engagieren, nachdrücklich bedanken sollten.
({3})
Ich will einen Punkt hervorheben, der in unseren Debatten nicht sehr häufig diskutiert wird, nämlich die
Ausbildungssituation behinderter und schwerbehinderter Frauen und Männer. Auch in dieser Hinsicht
wirkt sich der Ausbildungspakt enorm positiv aus.
97,4 Prozent der behinderten Jugendlichen haben dadurch einen Ausbildungsplatz erhalten. In diesem Bereich konnte eine enorme Verbesserung erreicht werden.
Dieser Erfolg kann sich sehen lassen.
({4})
Selbstverständlich befürworten wir weitere Anstrengungen. Die Ausbildungssituation kann noch verbessert
werden. Dabei müssen aber die Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Dazu gehören erstens ein modernes
Berufsbildungsgesetz und zweitens eine Mittelstandsoffensive, die Signale für den Aufschwung setzt.
Die erste Rahmenbedingung, das Berufsbildungsgesetz, haben wir im vergangenen Jahr gemeinsam geschaffen. Das Gesetz beginnt, seine Wirkung zu entfalten. Wir haben die Verbundausbildung geschaffen.
Angesichts der hohen Spezialisierung können immer
weniger Betriebe in der Ausbildung ein komplettes
Berufsbild abdecken. Durch den Zusammenschluss
mehrerer Betriebe können Ausbildungseinrichtungen geschaffen werden, die die Bildungsinhalte arbeitsteilig
vermitteln können.
Wir haben des Weiteren die Stufenausbildung beschlossen. Sie braucht zwar Zeit - das steht außer Frage -,
aber sie ermöglicht gerade den theorieschwächeren Jugendlichen eine attraktive Ausbildung und bietet ihnen
einen Arbeitsplatz, damit sie sich nicht beim Arbeitsamt
wiederfinden, wie es vielleicht bei der vollzeitschulischen Ausbildung der Fall wäre. Die Stufenausbildung
bietet ihnen die riesige Chance auf einen richtigen Arbeitsplatz.
({5})
Ich glaube, wir haben mit dem Berufsbildungsgesetz
etwas sehr Wichtiges geleistet. Wir haben nämlich in den
Entschließungsantrag zu dem Gesetzentwurf zum ersten
Mal betriebliche Bündnisse für Ausbildung aufgenommen. Wir fordern auch, dass diese Chance genutzt
wird, damit in Zukunft flexiblere Regelungen hinsichtAlexander Dobrindt
lich der Arbeitszeit und der Vergütung möglich sind. Ich
glaube, dass das durchaus vor Ort in den Betrieben geregelt werden kann. Auch darin liegt eine Chance für mehr
Ausbildung.
Lieber Kollege Meinhardt, ich habe Ihnen sehr genau
zugehört, als Sie von der Initiative „Aus 2 mach 3!“ gesprochen haben. Ich glaube, dass dies nicht von uns geregelt werden muss. Aber die Arbeitnehmer vor Ort wären durchaus in der Lage dazu. Sie können dabei mit
unserer Hilfe rechnen.
Ich bin der Überzeugung, dass Solidarität unter den
Auszubildenden in der heutigen Zeit durchaus eingefordert werden kann.
({6})
- Gegen Solidarität unter Auszubildenden ist zunächst
einmal nichts zu sagen, Herr Kollege Tauss.
({7})
Wenn drei statt zwei Auszubildende eine Chance in
einem Unternehmen bekommen, dann ist das eine gute
Nachricht.
({8})
Wenn wir die Möglichkeit schaffen, dass diese Chance
vor Ort geboten wird, dann gibt es keinen Anlass, das zu
kritisieren.
({9})
Als weitere wichtige Weichenstellung sind die erforderlichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu
schaffen. Das müssen wir mittelfristig auf den Weg bringen. Im Koalitionsvertrag ist eine ganze Reihe von
entsprechenden Punkten zu diesem Thema enthalten.
Vorgesehen sind beispielsweise bessere Finanzierungsmöglichkeiten, Abbau von Bürokratie und Förderung
von Forschung und Technologie. Diesen Maßnahmenmix müssen wir gemeinsam auf den Weg bringen. Damit
verbessern wir die Chancen für mehr Ausbildungsmöglichkeiten.
Der Ausbildungspakt greift. Wir wollen gemeinsam
dazu beitragen, ihn weiter zu optimieren.
Danke schön.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/5285 und 16/543 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 17 sowie den
Zusatzpunkt 9 auf:
17 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Werner
Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Elternbeitragsfreie Kinderbetreuung ausbauen
- Drucksache 16/453 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Volker Beck ({1}), Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Leben und Arbeiten mit Kindern möglich machen
- Drucksache 16/552 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Dr. Barbara Höll von der
Fraktion Die Linke.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nun hat es auch die Regierung begriffen. Nachdem Frau
von der Leyen in Genshagen mit ihrem Vorschlag zur
steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten gescheitert ist, musste sie Farbe bekennen. Sie
hat den Finger durchaus auf die Wunde gelegt. Wir brauchen eine beitragsfreie Kinderbetreuung. Aber wir brauchen zuerst ein Angebot, das es ermöglicht, dass alle Eltern, die es wollen, ihre Kinder betreuen lassen können.
Dem ist bisher nicht so.
({0})
Schauen wir uns die Realität an. Erstens. Nur 85 von
1 000 Kindern unter drei Jahren haben in der Bundesrepublik die Möglichkeit, eine Betreuung in Anspruch
zu nehmen. Im Westen sind es 27 von 1 000, während es
in den neuen Bundesländern immerhin 370 sind. Dies ist
fatal für die Berufstätigkeit insbesondere von Frauen;
das ist allen klar. Aber ich finde, das Problem wird verkürzt dargestellt, wenn darüber nur noch unter diesem
Aspekt diskutiert wird; denn es geht auch um die Rechte
von Kindern: frühkindliche Bildung, Spracherwerb und
die erzieherische Vermittlung sozialer Kompetenzen.
Das alles fiel in den Diskussionen in den letzten Wochen
völlig unter den Tisch.
({1})
Zweitens. Das verbriefte Recht auf einen Kindergartenplatz hat durchaus zu einer Verbesserung des Angebotes geführt. Neun von zehn Kindern im Alter von
drei bis sechseinhalb Jahren besuchen einen Kindergarten oder eine ähnliche Einrichtung. Das ist erst einmal
gut. Da wir das im Bund beschlossen haben, aber nicht
gleichzeitig dafür gesorgt haben, dass die Kommunen
eine stetige Finanzierung zur Erledigung dieser Aufgabe
erhalten, sieht es aber nur auf dem Papier relativ gut aus;
denn von vier Plätzen in den alten Bundesländern ist gerade einer ein Vollzeitplatz. Das muss man sich einmal
vorstellen! Ein Teilzeitplatz verwehrt Frauen oft sogar
die Aufnahme einer Teilzeitbeschäftigung.
In den neuen Bundesländern beträgt der Versorgungsgrad bei den Vollzeitplätzen 90 Prozent. Auch das ist
gut. Aber Länder und Kommunen versuchen, aufgrund
der angespannten Finanzsituation, das Recht und das
noch vorhandene Angebot massiv einzuschränken. Personelle und räumliche Standards werden aufgeweicht
bzw. außer Kraft gesetzt. Wir kennen ja die Beispiele aus
Thüringen, wo 1-Euro-Jobber in der Kinderbetreuung
eingesetzt werden. Außerdem erleben wir, dass Kommunen versuchen, nicht beitragszahlende Eltern von den Angeboten massiv auszugrenzen, nach dem Motto: Sie sind
arbeitslos bzw. arbeiten nur in Teilzeit; dann brauchen Sie
Ihr Kind doch nicht sechs, sieben oder acht Stunden im
Kindergarten unterzubringen; dann reichen vielleicht vier
Stunden. Das ist in der Tendenz eine Ausgrenzung. Ich
sage Ihnen: Wir haben in Leipzig schon Kämpfe bestehen
müssen! Es ist uns zwar gelungen, Betreuungsplätze zu
erhalten, aber es ist ein ständiger Kampf.
Bei der Hortversorgung ist die Situation völlig katastrophal. Nur für 5 Prozent aller Grundschüler und nur
noch für 1 Prozent der 11- bis 14-Jährigen besteht überhaupt eine Betreuungsmöglichkeit am Nachmittag. Hier
kann von einem bedarfsgerechten Angebot nach § 24
SGB VIII nicht mehr die Rede sein. Diese traurige Realität, dieses völlig unzureichende Angebot insbesondere
in den alten Bundesländern, in denen wir wirklich ein
Aufbauprogramm West für diesen Bereich bräuchten,
führt dazu, dass wir uns dieser Aufgabe stellen müssen.
({2})
Dazu müssen wir verschiedene Schritte unternehmen.
Wir müssen ein flächendeckendes, bedarfsgerechtes,
qualitativ hochwertiges Angebot zur Verfügung stellen.
Das schließt auch die Qualifizierung der Menschen, die
dort arbeiten, ein. Wir müssen die Beitragsfreiheit für
die Eltern sicherstellen, wenn sie ihre Kinder in diese
Einrichtungen geben. Diese Aufgabe können wir nicht
den Kommunen überlassen, die aufgrund der Steuer- und
Finanzpolitik der rot-grünen Regierung in den letzten
Jahren massive Einnahmeverluste hatten. Die Anteile an
der Einkommensteuer sind gesunken. Wir müssen uns
dazu bekennen, dass das eine Bundesaufgabe ist. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, ein Konzept
vorzulegen, wie diese Finanzierung sichergestellt werden kann. Ich lade Sie dazu ein und ich hoffe, dass dazu
Vorschläge aus Ihren Reihen kommen.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Möllring von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die Fraktion Die Linke fordert von der
Bundesregierung, schnellstmöglich ein vielschichtiges
Problemfeld zu ordnen. Die Bundesregierung soll den
Ländern und Kommunen vorgeben, wie sie kostenlose,
umfassende und flächendeckende Kinderbetreuung organisieren sollen. Man sieht auf den ersten Blick, dass es
sich um einen Antrag der Opposition handelt, die weniger daran interessiert ist, ein wirklich ernstes Problem
ernsthaft zu lösen, als vielmehr daran, in einem ziemlich
durchsichtigen Manöver die Familienministerin herauszufordern.
({0})
Sie soll jetzt schnellstmöglich eine Aufgabe lösen, die in
den letzten 20 Jahren nicht bewältigt werden konnte.
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fordert,
den Kommunen zeitnah für Kinder unter drei Jahren eine
Ganztagsbetreuung vorzuschreiben, obwohl wir vor Ort,
wie alle wissen, gerade erst versuchen, überhaupt Plätze
einzurichten. Das ist eine Aufgabe, die für unsere Kollegen auf kommunaler Ebene schon eine echte Herausforderung ist.
Ich glaube, die Familien haben nicht viel davon, wenn
wir ihnen Luftschlösser bauen. Eltern lassen sich nämlich kein X für ein U vormachen und merken das.
({1})
Ich selbst bin noch nicht lange Abgeordnete im Bundestag. Vorher hatte ich manches Mal das Gefühl, dass die
Familie als Spielball schöner Sprüche benutzt wurde.
({2})
Das waren praktisch zwei Welten: echte Familie und Familie im politischen Sinn. Deshalb bin ich froh, dass
diese Bundesregierung kein hohles Gesetz in die Welt
bringt.
({3})
Die Ministerin hat vielmehr Ziele gesetzt und sie hat uns
eine Perspektive aufgezeigt. Wir werden ganz realistisch
nacheinander die vielen Schritte gehen, die notwendig
sind, um diese Ziele zu erreichen.
({4})
Die CDU/CSU-Fraktion will eine bessere Infrastruktur für Familien. Wir werden deshalb den Ausbau der
Kinderbetreuung vorantreiben. Das haben wir schon
im Koalitionsvertrag festgelegt.
({5})
Aber wir müssen auch ehrlich sein. Von heute auf morgen rund um die Uhr staatliche Betreuung zum Nulltarif
vorzuhalten, ist finanziell einfach eine Illusion, egal was
man sonst davon halten mag. Es geht nicht, dass wir die
Länder und Kommunen mit einer Hauruckmethode
überfallen.
({6})
Denn das ist nicht unser Handlungsfeld, sondern ihre ureigenste Entscheidungskompetenz. Das steht in
Art. 104 a des Grundgesetzes.
({7})
Weil wir aber die Familien nach vorn bringen wollen,
weil wir unsere Kinder stärken wollen und weil uns beides wirklich wichtig ist, haben wir gleich zu Beginn der
Wahlperiode einen anderen Weg gewählt.
({8})
- Frau Kollegin, ich wäre dankbar, wenn ich meine Rede
heute so zu Ende bringen könnte.
({9})
Wir haben einen anderen Weg gewählt. Wir machen unsere Hausaufgaben. Die Koalition hat in den wenigen
Monaten drei Maßnahmen ergriffen. Erstens: Wir erstatten den Kommunen das versprochene Geld für das
Arbeitslosengeld II. Das ist immerhin ein Betrag von
circa 2,5 Milliarden Euro, also mehr als das, was Eltern
in Deutschland für Kitas bezahlen müssen.
({10})
Nun können Sie natürlich sagen, das sei eine Selbstverständlichkeit. Aber, liebe Kollegen von den Grünen, Sie
haben diese Zahlung in der alten Koalition noch im Oktober verweigert, obwohl Sie sie selber ausdrücklich für
die Schaffung von Kinderbetreuung vorgesehen hatten.
Zweitens: Die Familienministerin hat gefordert, dass
Kitagebühren gesenkt, am besten ganz abgeschafft werden. Dazu hat die Bundesregierung einen wichtigen Beitrag geleistet. Sie bringt ein Gesetz ein, das es jeder Familie ermöglicht, zwei Drittel der Betreuungskosten
von der Steuer abzusetzen. Wenn man im Monat
200 Euro für einen solchen Platz zahlt, dann kann man
130 Euro von der Steuer absetzen. Das ist ja wohl eine
klare Senkung der Kosten.
({11})
Wir wissen aber, dass die Öffnungszeiten von Kitas
für die Ausübung einer Berufstätigkeit oft nicht ausreichen - das hat auch die Kollegin von den Grünen festgestellt -; deshalb sind Eltern zusätzlich auf flexible Betreuungsangebote angewiesen. Das kostet Geld, und
zwar in der Regel mehr, als die staatliche Kita verlangt.
Deshalb ist es gut, dass man jetzt nicht mehr nur
1 500 Euro von der Steuer absetzen kann, sondern
4 000 Euro. Dadurch werden viele Eltern in der Lage
sein, sich eine Betreuung zu leisten, die zu ihrer Arbeitszeit passt.
Letzter Punkt hierzu. Sie haben zu Recht festgestellt,
dass wir zu wenige Krippenplätze haben. Durch den
Geburtenrückgang haben viele Gemeinden Luft, um Betreuung für Kinder unter 3 Jahren anzubieten; aber das
ist durch den Personalschlüssel einfach sehr teuer.
Man kann hier natürlich mit der Autorität des Hohen
Hauses verkünden: Die Kommunen sollen das trotzdem
wuppen und der Gesetzgeber soll für einen Anspruch der
Eltern sorgen. Wichtiger ist es meiner Meinung nach,
dass wir diesen Eltern jetzt ganz praktisch unter die
Arme greifen und ihnen sagen, dass sie einen großen
Teil der entstehenden Kosten von der Steuer absetzen
können. Das ebnet nämlich den Weg, um solche Angebote einzurichten.
Ich komme zu einem weiteren wichtigen Punkt. Diese
Bundesregierung und diese Familienministerin haben
wie niemand vorher eine Diskussion in Gang gesetzt, die
überall Früchte trägt. Wir haben es wirklich geschafft,
dass die Vorschläge für bessere, umfassendere und günstigere Kinderbetreuung landauf, landab wie Pilze aus
dem Boden schießen.
({12})
Ministerpräsidenten versuchen, sich damit für Wahlen
zu qualifizieren und Bürgermeister entdecken Wettbewerbsvorteile für ihre Gemeinden. Die ersten Nachbargemeinden werden schon nervös. So kommen wir im
Wettbewerb - jeder mit seinen eigenen Mitteln - voran
und wir orientieren uns dabei am echten Bedarf. Diesen
Weg müssen wir konstruktiv begleiten.
Das kostenlose dritte Jahr, das alle Kinder bildet
- Sie haben es angesprochen, Frau Kollegin - und auf
die Schule vorbereitet, steht jetzt wirklich im Raum. Ich
bin überzeugt: Wir werden es demnächst in ganz
Deutschland verwirklicht haben.
({13})
Dann haben wir wirklich einen wichtigen Schritt gemacht.
Ich möchte am Schluss noch zwei Dinge sagen.
Meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke,
Sie wissen ja wohl, dass Sie mit Ihrem Antrag nicht die
Armut bekämpfen, auch wenn das darin steht. Es gibt
§ 90 SGB VIII. Danach werden Eltern nur dann zu Kitagebühren herangezogen, wenn ihnen das aufgrund ihres
Einkommens zumutbar ist, sodass ein erheblicher Prozentsatz der Eltern diese Kosten nicht tragen muss. Sie
setzen sich mit Ihrem Antrag nur für diejenigen Eltern
ein, die ordentlich verdienen und die die gestaffelten Gebühren bezahlen können.
({14})
- Ich bekomme sogar von der Opposition Zustimmung.
Ich möchte noch darauf hinweisen, dass der CDUMinisterpräsident des Saarlandes, Müller, schon seit
2000 das dritte Kindergartenjahr kostenlos anbietet.
({15})
- Warten Sie ab! - Wenige Jahre vorher wurden in Niedersachsen von der rot-grünen Landesregierung die Vorschulen abgeschafft. Das war ein herber Schlag für viele
Kommunen, zumal diese kostenlose Vorbildung in den
Schulen hervorragend angenommen wurde.
({16})
Von den Baukosten will ich gar nicht sprechen.
({17})
- Ich erkläre es Ihnen gleich. Fragen Sie den Kollegen
doch einfach! - Ich weiß nicht, ob Herr Trittin - ich
glaube, er ist nicht hier - damals im Landtag oder im
Bundestag war. Ich weiß aber, dass immerhin zwei Ihrer
Fraktionskollegen an dieser Entscheidung beteiligt waren. Das hat wehgetan. Deswegen sollten Sie sich jetzt
nicht hier in diesem Hause als Helden der Kinderbetreuung aufführen.
({18})
Ich möchte noch mit einem Satz auf etwas eingehen,
was mir am Herzen liegt. Wir sollten in dieser ganzen
Diskussion nicht vergessen, dass auch Eltern verantwortungsvoll Kinderbetreuung betreiben.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({19})
Frau Kollegin Dr. Möllring, ich beglückwünsche Sie
im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ina Lenke von der
FDP-Fraktion.
Liebe Frau Möllring, auch als Niedersächsin gratuliere ich Ihnen sehr herzlich. Das war eine super Rede.
Wir werden noch weiter fighten. Dazu will ich Ihnen sagen: Aus der Opposition heraus wird die FDP allen guten Anträgen, die von der Koalition kommen, zustimmen, aber erst einmal werden wir sie prüfen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kinderbetreuung und Bildung sind der Schlüssel zu einer
frauen- und kinderfreundlichen Gesellschaft. Dazu gehört selbstverständlich mehr Bildung für Kinder vor der
Schulzeit. Die FDP will gleiche Bildungschancen für
Kinder von Anfang an.
Wir wollen aber auch - das will ich ganz deutlich sagen - verlässliche Rahmenbedingungen für Frauen,
damit die endlich - endlich! - die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hinbekommen können. Auf der Tribüne
sind einige Herren von der Bundeswehr. Ich habe gehört, dass es nicht ganz einfach ist, als Soldatin bei der
Bundeswehr Kinder betreuen zu lassen. Von daher bitte
ich auch Sie um Unterstützung. Vielleicht können Sie
einmal mit dem Verteidigungsminister reden, um zu erreichen, dass das besser wird.
({1})
Es kommt zu immer mehr Ehen zwischen Soldaten und
Soldatinnen und da wird es mit der Vereinbarkeit von
Familie und Beruf bei der Bundeswehr recht schwierig.
({2})
- Das macht Frau Homburger sowieso; da brauche ich
sie gar nicht besonders anzusprechen. Aber den Verteidigungsminister müssen wir in dieser Angelegenheit ansprechen. - Das war nur eine Bemerkung am Rande.
Der Antrag der Fraktion Die Linke hat die Gießkannenmethode zum Inhalt und zielt ab - das bedauere ich
außerordentlich, ist bei Ihnen aber wohl normal - auf ein
ausschließlich staatliches Kinderbetreuungsangebot
({3})
- doch, das steht darin -, verbunden mit der Forderung,
die Steuern massiv zu erhöhen, und das lehnt die FDP
ab.
Der Antrag der Grünen enthält erstaunlicherweise
Forderungen, liebe Frau Deligöz, die Sie während der
sieben Jahre, die Sie in der Regierung waren, hätten
durchsetzen können. Stattdessen erheben Sie erst jetzt in
der Opposition diese Forderungen.
({4})
Ihre Forderung nach einem Finanzierungskonzept,
Herr Beck - ich spreche Sie an; Sie sind ja Geschäftsführer -, zeigt, dass Sie in Ihrer Regierungszeit keines hatten.
({5})
Ich denke da nur an die 1,5 Milliarden Euro, von denen
Sie und die damalige Familienministerin geredet haben.
Also: Beide Anträge, sowohl der von der Fraktion der
Linken als auch der von der Fraktion der Grünen, beinhalten weder ein ausgereiftes Konzept noch neue Ideen.
({6})
Nun zum Konzept der großen Koalition. Das ist,
finde ich, ein steuerpolitisches Chaos. Steuerberater und
Steuerberaterinnen werden Gewinner dieses Durcheinanders sein.
({7})
Mal sollen Kinderbetreuungskosten als Werbungskosten
gelten, dann wieder als Sonderausgaben und in Sonderfällen sollen sie über den § 35 a Einkommensteuergesetz
berücksichtigt werden.
({8})
Es kommt noch etwas hinzu, was viele nicht wissen.
In einer bestimmten Familienkonstellation dürfen Kinderbetreuungskosten nur für Kinder zwischen drei und
sechs Jahren abgezogen werden, in einer anderen Familienkonstellation für Kinder bis zum 14. Lebensjahr und
von Geburt an. Dieses Konzept, liebe Kollegen von der
Regierung, ist ein Meisterstück an Bürokratie - und das
in einer Zeit, in der wir alle von Deregulierung und Entbürokratisierung reden! Liebe CDU-Kollegen, was ist
eigentlich von Ihrem Bierdeckel, auf dem Ihr Kollege
Merz eine Steuererklärung ausfüllt, übrig geblieben?
Schon all diesen Kram bei der Kinderbetreuung bringen
Sie nicht auf einem Bierdeckel unter.
({9})
Also: Wir erwarten von der Bundesregierung ein klares, einfaches und für die Bürger wirklich verständliches
Familienkonzept.
({10})
Die FDP hat ihr Modell heute noch nicht vorgelegt.
Es ist in Planung. Wir haben aber schon grundsätzlich
entschieden: Unser familienpolitisches Konzept wird
erstens Familien nachhaltig steuerlich entlasten, zweitens alle Lebensgemeinschaften mit Kindern - es gibt ja
eine Vielfalt solcher Lebensgemeinschaften - im Steuerrecht gleich behandeln, drittens die Kinderbetreuungskosten nur an einer einzigen Stelle im Einkommensteuerrecht andocken, und zwar bei den Sonderausgaben,
und viertens hauswirtschaftliche Dienstleistungen im
privaten Haushalt steuerlich anerkennen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, pädagogische Bildungsstandards in Kindertagesstätten müssen weiterentwickelt werden. Auch die Aus- und Weiterbildung
des Personals muss gestärkt werden. Die Bildung - nicht
die Betreuung - im Kindergarten muss genau wie in der
Schule gebührenfrei sein.
({11})
Da besteht zwischen Ihnen und uns ein inhaltlicher Unterschied.
Wir Liberale fordern gleichzeitig mehr Wettbewerb
auf dem Kinderbetreuungsmarkt; das gibt es nämlich
noch nicht. Ich erinnere daran, dass wir die Forderung
nach Bildungsgutscheinen für jedes Kind hier schon gestellt haben; das bedeutet Subjektfinanzierung statt Objektfinanzierung. Wir wollen im Sinne der Vereinbarkeit
von Familie und Beruf mehr Flexibilität bei den Öffnungszeiten. Deshalb erwarten wir, Herr Dr. Kues, von
der Bundesregierung kein Flickwerk, sondern ein umfassendes Konzept frühkindlicher Bildung, Erziehung und
Betreuung.
Als Fazit sage ich als Oppositionspolitikerin: Die ersten Beschlüsse der großen Koalition sind der kleinste gemeinsame Nenner. Sie reichen nicht aus, weder den Bürgern noch der Opposition.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Caren Marks von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! In der Reihe populistischer Anträge hat die Fraktion Die Linke die Familienpolitik entdeckt. Herzlich willkommen, kann ich nur
sagen!
({0})
Sie, meine Damen und Herren von der Linken, zeigen
mit Ihrem Antrag einmal mehr, dass Sie außer Forderungen nichts zu bieten haben.
({1})
Keine Antwort bezüglich der Umsetzung, keine Antwort
bezüglich der Finanzierbarkeit. So sitzt es sich bequem
auf den Sesseln der Opposition, dem Lieblingsplatz Ihrer
so genannten Frontmänner; denn da, wo sie einmal Verantwortung hatten, haben diese sich in die Büsche geschlagen.
({2})
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Linken,
die Familienpolitik der letzten beiden Wahlperioden zur
Kenntnis genommen und verstanden hätten, wüssten Sie,
dass der Ausbau der quantitativen und qualitativen Kinderbetreuung bei der rot-grünen Regierung ganz oben
auf der Agenda stand und in der großen Koalition fortgesetzt wird.
({3})
Mit unserer Familienministerin Renate Schmidt haben
wir entscheidende Impulse für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gegeben und insbesondere die Bedeutung des Ausbaus der frühkindlichen Betreuung und Bildung thematisiert. Wir haben die Familienpolitik zum
Gesellschaftsthema gemacht und zum Beispiel mit der
„Allianz für die Familie“ viele wichtige Bündnispartner
in die Verantwortung genommen.
Frau Kollegin Marks, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Höll?
({0})
Ja.
Bitte schön, Frau Höll.
Frau Kollegin Marks, da Sie eben frontal gegen die
Linksfraktion geschossen haben, indem Sie gesagt haben, wir hätten die ganze schöne Familienpolitik nicht
zur Kenntnis genommen: Haben Sie zufällig einmal
nachgelesen, dass die PDS-Fraktion damals, zum Beispiel im Jahr 1999, im Jahr 2000, im Jahr 2001, verschiedene Anträge hier eingereicht hat, in denen wir den
Ausbau der Kinderbetreuung in Krippe, Kindergarten,
Hort gefordert haben, wozu wir auch Finanzierungsansätze vorgelegt haben, ebenso einen umfassenden Antrag
zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, und Sie nichts
anderes getan haben, als das abzulehnen? Wir haben
zum Beispiel, als das Gesetz zum Kindergeld hier verabschiedet worden ist, einen Änderungsantrag zur vollständigen steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten vorgelegt. Ich weiß noch, wie Kolleginnen zu mir
kamen und sagten, sie müssten mit Nein stimmen, aber
sie wüssten, dass unser Antrag eigentlich richtig sei. Das
war unsere Familienpolitik, zu der Sie nie den Mut hatten.
({0})
Werte Frau Kollegin, auch Ihre jetzigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass Ihr Hauptaugenmerk
auf Forderungen liegt. Antworten, wie diese Dinge umzusetzen sind, haben Sie bisher nicht gefunden. RotGrün hat das in den letzten sieben Jahren getan und wir
werden das in der großen Koalition fortsetzen. Das ist
der Unterschied zwischen Fordern und erfolgreicher Bilanz.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das seit 2005 gültige Tagesbetreuungsausbaugesetz wird bis 2010
230 000 zusätzliche Plätze für unter Dreijährige schaffen. In diesem Zusammenhang will ich nicht unerwähnt
lassen, dass die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe die Kommunen jährlich um 2,5 Milliarden Euro entlastet, wovon 1,5 Milliarden Euro jährlich für den Ausbau der Kinderbetreuung vorgesehen
sind.Obwohl wir als Bund nicht zuständig sind, helfen
wir da, wo wir können, und sorgen für finanziellen Ausgleich; denn ohne diesen lassen sich keine noch so gut
gemeinten Forderungen umsetzen.
Das sind kreative Ideen, die den Kommunen finanzielle Möglichkeiten schaffen. Wo sind - ich kann diese
Frage nur wiederholen - Ihre Vorschläge? Ich kann,
meine Damen und Herren von der Linken, Ihrem Antrag
diesbezüglich keine Vorschläge entnehmen.
Die angestrebte Beitragsfreiheit für Kindertagesstätten, eine SPD-Initiative, ist ein weiterer wichtiger
familien- und bildungspolitischer Schritt. Es ist eine
konsequente Verbindung von Bildung und Betreuung.
Nur: Im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren
von der Linken, gehen wir mit diesem Thema verantwortlich um. Wir wissen um die jeweiligen Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Kommunen. Auch Sie
sollten Kenntnis darüber besitzen, dass Einrichtung und
Unterhaltung von Betreuungsangeboten für Kinder im
Zuständigkeitsbereich der Kommunen liegen. Es gibt
keine direkte Finanzbeziehung zwischen Bund und
Kommunen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und
der Linken, entgegen Ihren Befürchtungen und Behauptungen wirken wir, wie auch in der letzten Legislaturperiode, der Finanznot der Kommunen entgegen.
({2})
So entstehen Freiräume für so wichtige und notwendige
Aufgaben im Bereich Bildung und Betreuung.
Dass die SPD es ernst meint mit der Beitragsfreiheit
für Kindertagesstätten, hat der sozialdemokratische Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, eindrucksvoll gezeigt.
({3})
Seit Januar 2006 gilt die Beitragsfreiheit in RheinlandPfalz für das letzte Kindergartenjahr. Das Entscheidende
ist: Das Land übernimmt die entsprechenden Elternbeiträge in Höhe von circa 25 Millionen Euro. Das CDUregierte Nordrhein-Westfalen schlägt gerade leider einen
anderen Weg ein. Das Land hat vor, sich aus der Finanzierung zurückzuziehen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in
der letzten Legislaturperiode haben wir gemeinsam das
Tagesbetreuungsausbaugesetz auf den Weg gebracht.
Der aktuelle Antrag greift genau die Punkte auf, die rotgrüne Familienpolitik erfolgreich ausgemacht hat. Ich
sage nicht ohne Stolz: Sie werden von uns in der großen
Koalition konsequent weiterverfolgt. Sie müssten es eigentlich besser wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Die Forderung, einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsbetreuungsplatz für Kinder unter drei Jahren zeitnah zu verankern, würde die Kommunen in ihrer Leistungsfähigkeit überfordern. Kommen die Kommunen
ihrer Verpflichtung allerdings bis 2010 nicht nach, werden wir - so sieht es der Koalitionsvertrag vor - den
Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab
dem zweiten Lebensjahr ausweiten.
({5})
Ihre Forderung nach einer Qualitätsoffensive für Betreuung ist durch das TAG bereits umgesetzt. Wir wissen, es
geht immer um Bildung, Betreuung und Erziehung.
Ich komme zum Schluss. Die SPD will, dass Deutschland ein kinder- und familienfreundliches Land wird.
Dabei muss jedes Kind, unabhängig von der sozialen
Herkunft, gleiche Chancen erhalten.
({6})
Im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren von
der Linken, reden wir nicht nur. Denn wir haben eine erfolgreiche Bilanz aufzuweisen. Populistische und überholte Anträge Ihrerseits helfen den Familien in Deutschland jedenfalls nicht weiter.
Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit.
({7})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin
Dr. Barbara Höll das Wort.
Sehr verehrte Frau Kollegin Möllring, ich wollte Sie
während Ihrer ersten Rede nicht unterbrechen, zu der ich
Ihnen gratuliere. Im Nachgang möchte ich aber klarstellen, dass in unserem Antrag die in der heutigen Situation
einzig mögliche Lösung behandelt wird, die sozial gerecht ist.
Kinderbetreuung ist ein knappes Gut. Wenn man
knappe Güter verteilt, sieht der Verteilende zu - in diesem Fall die Kommune -, dass sich aus der Verteilung
nicht noch zusätzliche Kosten ergeben. Sie haben richtig
gesagt, dass für die Eltern, die keine Elternbeiträge bezahlen können, die Kommunen diese übernehmen. Deshalb wird sich natürlich jede Kommune gerade dann,
wenn sie hoch verschuldet ist - im Regierungsbezirk
Chemnitz gibt es nur zwei kleine Kommunen, die schuldenfrei sind; alle anderen Kommunen sind selbst in dem
Musterland Sachsen, das sich in einer relativ guten Situation befindet, verschuldet -, fragen: Gebe ich den Kindergartenplatz oder den Krippenplatz als Vollzeitplatz
dem Kind eines Beitragszahlers, beispielsweise eines gut
situierten Ehepaars, oder dem Kind einer arbeitslosen
ALG-II-Empfängerin? Letzteres würde dazu führen,
dass die Kommune noch den Elternbeitrag zu zahlen hat.
Die heutige Regelung, dass die Elternbeiträge zu zahlen
sind, ist sozial ungerecht.
Wir sollten dazu kommen, diese Spanne - sie macht
derzeit etwa 2 Milliarden Euro aus - anders zu finanzieren. Wir haben die Regierung aufgefordert, sich dazu etwas zu überlegen. Ich sage nebenbei: Wir diskutieren
derzeit auch über den Umzug des BND von Pullach nach
Berlin.
({0})
Er kostet etwa 1,5 Milliarden bis 2 Milliarden Euro. Das
ist die Größenordnung, über die wir hier sprechen.
Wenn wir es jetzt so regeln, dass die Elternbeiträge
übernommen werden, dann kommen wir auch dazu, dass
ein knappes Gut sozial gerecht verteilt wird.
({1})
Ich sage auch: Soziale Gerechtigkeit besteht darin, dass
die Gutverdienenden im Rahmen des Steuersystems an
der Finanzierung unseres Gemeinwesens entsprechend
ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beteiligt sind.
({2})
Dazu brauchen wir eine Reform der Einkommensbesteuerung, der Erbschaftsteuer und der Vermögensteuer. Dann
haben wir soziale Gerechtigkeit in einem Paket.
({3})
Frau Kollegin Möllring zur Erwiderung, bitte schön.
Frau Kollegin, Sie haben meine Rede eben dazu genutzt, sich über § 90 SGB VIII zu informieren. Die
Überraschung stand Ihnen eben geradezu im Gesicht geschrieben.
({0})
Ich mache Sie darauf aufmerksam - Sie sollten diesen
Paragraphen gut durchlesen -, dass das eine Sollvorschrift ist, die nur einen ganz schmalen Ermessensspielraum zulässt. Bei uns profitieren etwa 20 Prozent der Eltern davon.
Sie können sich gerne darum bemühen, in den Kommunen mehr Verantwortung zu tragen und dafür zu sorgen, dass diese Vorschrift vor Ort vernünftig angewandt
wird und wirklich alle betroffenen Eltern Gebührenfreiheit genießen.
({1})
Zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich das
Wort der Kollegin Britta Haßelmann.
Sehr geehrter Herr Präsident, vielen Dank, dass Sie
mir zu einer Kurzintervention das Wort erteilen. - Sehr
geehrte Frau Kollegin Dr. Höll, zu Ihrer Rede hier im
Parlament und zu Ihrem Antrag betreffend die elternbeitragsfreie Kinderbetreuung möchte ich Folgendes anmerken: Mit welcher Energie Sie diese Forderung hier
angesichts dessen vortragen, dass Sie als PDS in Berlin
gleichzeitig mitverantworten, dass die Gebühren in unglaublichem Maße gestiegen sind,
({0})
finde ich wirklich beeindruckend. Alle Achtung für diejenigen, die hier sitzen!
({1})
Nun haben Sie wieder das Recht, darauf zu antworten, Frau Kollegin Höll. Ich bitte aber darum, genauso
kurz, wie es bei der Kurzintervention der Fall war, zu
antworten.
({0})
Sehr geehrte Frau Kollegin, wir können jetzt gerne
über das Berliner System detailliert diskutieren. Die
Berliner haben sich in der jetzigen Situation einer Haushaltsnotlage, in der sie keine Gebührenfreiheit für Eltern
einführen können, dazu entschlossen, ein sozial gerechtes System zu verwirklichen.
({0})
Das System ist ausgeprägt gestaffelt: Es gibt natürlich
die Gruppe, bei der die Kommune die Gebühren übernimmt, sprich: Für sie gilt Gebührenfreiheit. Dann gibt
es die Gruppe mit niedrigem Einkommen; über die reden
wir hier. Für diese Gruppe haben sich die Beiträge aufgrund der Berliner Regelung verringert. Das sollten Sie
einmal zur Kenntnis nehmen.
({1})
Sie haben sich nur für diejenigen mit einem wirklich hohen Einkommen erhöht. Es gibt also eine ausgeprägte
Staffelung. Wir können uns gern zusammensetzen und
dann erkläre ich Ihnen, wie selbst in der schwierigen Situation einer Haushaltsnotlage soziale Gerechtigkeit im
Konkreten möglich ist.
Im Übrigen hat Berlin im Bildungsbereich beschlossen, ab 2007 das Vorschuljahr kostenfrei für die Eltern
zu realisieren.
({2})
Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Ekin Deligöz
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte direkt zur Sache kommen. An sich ist die Diskussion um die vollständige Beitragsfreiheit in der Kinderbetreuung richtig. Aber sie kommt definitiv viel zu
früh. Denn unsere vordringliche Aufgabe ist es im Augenblick nicht, zu klären, wie wir mit den Elternbeiträgen umgehen. Viel dringlicher ist derzeit die Aufgabe,
erst einmal eine flächendeckende, qualitativ hochwertige Kinderbetreuung im ganzen Land zu schaffen. Das
muss bei all den Debatten, die wir hier führen, Vorrang
haben.
({0})
In der Vorgängerregierung haben wir mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz wichtige Schritte dazu eingeleitet. Das war notwendiger denn je.
Frau Möllring, wenn das nicht richtig wäre, warum
haben Sie das denn jetzt als einen Kernpunkt im Koalitionsvertrag festgeschrieben?
({1})
Auch wenn Sie dem TAG damals nicht zugestimmt haben und sich gerade einmal dazu durchgerungen haben,
sich der Stimme zu enthalten, haben Sie uns im Grunde
in der Sache zugestimmt. Ihr Handeln jetzt beweist, dass
wir damals richtig gehandelt haben.
({2})
Vor allem haben wir eines damit geschafft: Wir haben
diese Debatte in das Bewusstsein der Gesellschaft hineingetragen und damit in diesem Land mehr verändert,
als man es jemals mit Gesetzen hätte tun können.
({3})
Dennoch möchte ich sagen: Es reicht nicht. Deshalb
haben wir auch unseren Antrag vorgelegt. Wir sind beim
Ausbau hochwertiger Betreuungsangebote noch am Anfang. Wir können nicht so tun, als ob diese Frage bereits
gelöst wäre und wir zum nächsten Kapitel übergehen
könnten. Vielmehr ist es im Gegenteil so, dass das
Thema der guten Betreuungsansätze nicht abgeschlossen
ist. Wir brauchen mehr Entschlossenheit und mehr
Handlungswissen, weil wir mehr flächendeckende Angebote in diesem Land bekommen müssen.
({4})
Wir brauchen ebenfalls mehr Mittel dafür. Das ist die
Kernfrage. Da die Mittel begrenzt sind, müssen wir
Prioritäten setzen. Diese Priorität kann nur lauten:
Schaffung von neuen Kinderbetreuungsplätzen für unter
Dreijährige, Schaffung von Ganztagsbetreuungsmöglichkeiten in den Kindergärten und Erweiterung von
Ganztagsangeboten in den Schulen. Das muss Priorität
genießen und nicht die Abschaffung der Elternbeiträge.
({5})
Frau Höll, Sie machen sich das alles ein bisschen zu
leicht. Mit Ihrem Antrag verhält es sich so: Sie wollen
alles, und zwar sofort. Wie das finanziert wird, ist egal.
Sie jonglieren mit Milliarden und sagen uns gar nicht,
woher Sie die Milliarden nehmen. Sie setzen keine Prioritäten und sagen: Es ist alles gleich gut; daher muss
alles sofort her. Sie verkennen dabei die Realitäten. In
Berlin beträgt der niedrigste Elternbeitrag 70 Euro; das
ist zu hoch.
({6})
Der höchste Beitrag sind 500 Euro; auch das ist zu hoch.
({7})
Lassen Sie uns nicht über die Elternbeiträge hier in
Berlin oder in Mecklenburg-Vorpommern reden, wo sie
mindestens genauso hoch oder noch höher sind und wo
die Menschen noch weniger als in Berlin verdienen!
Lassen Sie uns doch über die Qualität der Kinderbetreuung reden! Darum muss es doch gehen.
({8})
- Bitte, stellen Sie eine Frage. Das ist wunderbar.
({9})
Frau Kollegin Höll, bitte schön.
Herr Präsident, ich danke dafür, dass Sie mir das Wort
erteilen. - Frau Kollegin, wenn Sie hier reden, dann verwenden Sie bitte die richtigen Zahlen. In Berlin beträgt
der Elternbeitrag für die Gruppen mit niedrigem Einkommen 23 Euro pro Monat. In Berlin macht der Anteil
der Elternbeiträge an den Gesamtkosten nur 10 Prozent
aus, während es im Bundesdurchschnitt 20 Prozent sind.
In Berlin werden durch die Elternbeiträge nur
70 Millionen Euro eingenommen, während ungefähr
750 Millionen Euro für die Kinderbetreuung ausgegeben
werden. Das ist die Realität. Ich bitte darum, dass wir,
wenn wir hier Zahlen verwenden, die Zahlen nehmen,
die im Haushalt nachzulesen sind.
({0})
- Würden Sie das zur Kenntnis nehmen?
Frau Höll, wenn ich Ihnen antworten darf. Ich bedanke mich herzlich für diese Frage; etwas Besseres
hätte mir nicht passieren können.
({0})
- Ja, von Ihnen vielleicht. Herr Westerwelle, nur zu!
Sie sprechen von 23 Euro. Darauf entgegne ich: Die
Realität ist ja, dass die Eltern nicht nur die Beiträge für
die Kinderbetreuung bezahlen; vielmehr zahlen sie in
der Regel auch für das Mittagessen. Dann sind wir bei
einem Beitrag von 70 Euro. Das ist das, was die Eltern
de facto bezahlen. Es geht hier ja um die Realität und
nicht um das, was wir als politische Maßgabe in irgendwelchen Schriftstücken haben. Ihre Argumentation
würde Sinn machen, wenn Sie sagten: Die Eltern sollen
nicht die Ganztagskinderbetreuung nutzen, sondern nur
für einen halben Tag und ihre Kinder um 12.30 Uhr abholen. Dann wären es nur 23 Euro; das mag sein.
({1})
Aber ist das eine politische Maßgabe?
({2})
- Ich bin noch nicht fertig, Frau Höll. Ich bin noch nicht
fertig, Herr Präsident.
Frau Kollegin, Frage wie Antwort sollen kurz und
präzise sein. In Anbetracht der Tatsache, dass wir jetzt
Freitagmittag haben, bitte ich Sie, sich daran zu halten.
Vielen Dank. Es folgt jetzt auch eine präzise Antwort. Sie reden davon, dass Sie die Zahl der Kinderbetreuungsplätze in Berlin gesteigert hätten. Was aber deutlich
gesunken ist, ist die Qualität. Das sagen Ihnen alle Erzieherinnen und Erzieher, alle Eltern; das sagen Ihnen
alle, die in diesem Bereich tätig sind. Die Qualität des
Angebotes in Berlin musste bluten; sie hat sich erheblich
verschlechtert. Das geht zulasten der Kinder,
({0})
also derjenigen, um die es eigentlich gehen sollte. Da
können Sie sich nicht herausreden; darauf müssen Sie
Antworten geben. Sie machen eine Politik auf dem Rücken der Kinder in diesem Land;
({1})
Sie machen eine Politik gegen soziale Gerechtigkeit und
gegen Chancengerechtigkeit. Das haben Sie zu verantworten.
({2})
Was wollen wir Grünen? Wir möchten Zielstrebigkeit
und mehr Entschlossenheit. Wir möchten den Rechtsanspruch auf unter Dreijährige ausweiten. Dafür ist der
Bund zuständig. Das können wir leisten. Ich weiß nicht,
wovor Sie Angst haben. Auch viele Kommunen fordern
den Rechtsanspruch. Ebenso wurde in der Fachanhörung
im Bundestagsausschuss zum Tagesbetreuungsausbaugesetz mehr Entschlossenheit in Form des Rechtsanspruchs gefordert. Wir möchten die Erzieherinnenausbildung aufwerten, damit diesem Berufsbild eine bessere
Anerkennung zugute kommt. Das fordert auch der
Zwölfte Kinder- und Jugendbericht.
({3})
Wir möchten mehr Qualität in den Einrichtungen. Bund,
Länder und Kommunen haben jetzt die Chance, die Forderungen der Grünen umzusetzen.
Liebe Regierung, Sie sollten nicht reden und Vorschläge in Interviews machen, sondern handeln. Das ist
Ihre Aufgabe.
({4})
Ich wollte nur darauf hinweisen, dass neben Zwischenfragen auch Zwischenbemerkungen zulässig sind.
Das heißt, es muss nicht unbedingt eine Frage gestellt
werden. Schauen Sie in § 27 Abs. 2 der Geschäftsordnung, da können Sie das genau nachlesen.
Jetzt hat der Kollege Jürgen Kucharczyk von der
SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es freut mich, dass die Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen durch ihre Anträge die passenden Überschriften zur aktuellen Familienpolitik der
Bundesregierung liefern. „Leben und Arbeiten mit Kindern möglich machen“ und „Elternbeitragsfreie Kinderbetreuung ausbauen“ sind genau unsere Themen.
Wir müssen den Frauen und Männern mit Kindern
das Leben erleichtern. Das wollen wir in der Koalition in
den nächsten vier Jahren erarbeiten und sind schon mittendrin. Grundsätzlich gilt: Unser Ziel ist es, nicht nur
eine kleine Maßnahme auf den Weg zu bringen. Vielmehr ist ein Bündel von komplexen Aufgaben erforderlich, welche inhaltlich und finanziell aufeinander abgestimmt sein müssen.
Dabei ist es von Vorteil, dass die neue Bundesregierung auch in diesem Bereich an die Arbeit der Vorgängerregierung anknüpfen kann. Ich nenne nur einige
Stichpunkte: 4 Milliarden Euro für den Aus- und Aufbau
von Ganztagsschulen,
({0})
das Tagesbetreuungsausbaugesetz - der Grundstein für
eine gute und bedarfsgerechte Kinderbetreuung für die
unter Dreijährigen -,
({1})
das Projekt „Allianz für die Familie“, welches eine Balance von Familie und Arbeitswelt zum Ziel hat, und die
Unterstützung der Kommunen vor Ort durch die bundesweite Initiative „Lokale Bündnisse für Familie“.
({2})
So weit in Ansätzen das bereits Angepackte und auf den
Weg Gebrachte.
Sie alle haben den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung gelesen. Er bildet eine gute Grundlage für
die Arbeit der nächsten vier Jahre, insbesondere in dem
Bereich Kinder-, Jugend- und Familienpolitik. Damit
bessere Zeiten für den Nachwuchs anbrechen, werden
wir ab 2007 das Elterngeld einführen. Dann können
junge Familien mithilfe des Elterngeldes in Höhe von
67 Prozent des letzten Nettoeinkommens ihren Lebensstandard auch dann halten, wenn sie wegen der kleinen
Kinder ihre Berufstätigkeit unterbrechen müssen. Wir
ergänzen jetzt das Elterngeld um ein Leistungselement
für Eltern mit geringem Einkommen, sodass alle Erziehenden eine Mindestleistung erhalten.
Keine Frage: In Deutschland gibt es einen großen
Nachholbedarf bei den Angeboten für unter Dreijährige.
Daher werden wir mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz bis 2010 rund 230 000 zusätzliche Betreuungsplätze
für Jungen und Mädchen in dieser Altersstruktur zur
Verfügung stellen.
({3})
Für diese Aufgabe werden Länder und Kommunen vom
Bund jährlich um 1,5 Milliarden Euro entlastet.
Wir als SPD halten an unserem Ziel fest, dass alle
Kinder das Recht auf einen Kindergartenplatz ab dem
zweiten Lebensjahr haben. Dass sich auch bei der Finanzierung der Kindergärten etwas ändern muss, ist uns allen dabei klar. Gemeinsam mit den Ländern werden wir
daher nach Lösungen suchen. Die in einigen Ländern
vorgesehene bzw. umgesetzte Gebührenbefreiung der
Eltern für das letzte Kindergartenjahr kann uns Vorbild
für die bundesweite Realisierung sein.
({4})
Nur nebenbei: Auch die gefundene Regelung zur
steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten ist ein Schritt zur stärkeren finanziellen Beteiligung des Staates.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und
der Linken, was teilen uns eigentlich Ihre Anträge im
Kern mit? Ich sage Ihnen, Ihre Botschaft ist, dass Einigkeit zwischen uns herrscht,
({5})
und zwar Einigkeit in dem Punkt, dass die Förderung
von Familien eine der wichtigsten Investitionen in die
Zukunft unseres Landes darstellt. Nur die Antwort auf
die Frage nach den konkreten Umsetzungen bleiben Sie
schuldig. Wir dagegen in der Koalition sind dabei, die
einzelnen Aspekte - wie eben genannt - konkret anzupassen und umzusetzen. Wir sehen die öffentliche Kinderbetreuung schon längst als gesamtgesellschaftliche
Aufgabe an. Daher reden wir nicht nur darüber, wir handeln auch.
Wir wollen die Kommunen mit dieser Aufgabe nicht
allein lassen. Deshalb werden wir uns mit den Ländern
und Kommunen darüber verständigen, wie wir gemeinsam Kindergartenplätze ohne eine finanzielle Beteiligung durch die Eltern erreichen können. Wir gehen im
Gesetz verantwortungsvoll mit diesem Thema um. Wer
kostenfreie Kindergärten und Kitas haben möchte, der
muss sie auch finanzieren.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich
würde mich freuen, wenn Sie in den zuständigen Fachgremien zukunftsorientiert an diesen Themen mitarbeiten. Der Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen ist zwar etwas essenzieller, bietet aber nichts Neues. Vielmehr
teilen die Kolleginnen und Kollegen unsere Auffassung,
dass die Senkung der Elternbeiträge wichtig ist. Dazu
zitiere ich aus Ihrem Antrag: „… sie darf aber den Aufbau von bedarfsdeckenden, hochwertigen Betreuungsplätzen nicht gefährden.“ Genau diesen Aufbau verfolgen wir - wie eben geschildert - in der Koalition
konsequent weiter.
Unsere Wertschätzung frühkindlicher Bildung findet
in unseren Forderungen nach verbesserter Qualität der
Betreuung durch qualifizierte Ausbildung der Fachkräfte und bessere Ausstattung der Einrichtungen ihren
Ausdruck. Sicher ist, dass Bund und Länder diesen Prozess nur gemeinsam gestalten können. Ich möchte an
dieser Stelle das Bekenntnis der SPD-Bundestagsfraktion für starke und finanzkräftige Kommunen erneuern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Anträge lehnen
wir ab. Im Nationalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005-2010“ aus der vergangenen
Legislaturperiode haben wir die wichtigsten Etappen
und Meilensteine hin zu einem der familienfreundlichsten Länder aufgezeigt. Der NAP, der Ihnen allen ja bekannt ist, hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Er
ist im Koalitionsvertrag berücksichtigt. Lassen Sie uns
diesen Nationalen Aktionsplan gemeinsam realisieren!
Lassen Sie uns die Ärmel hochkrempeln; denn es lohnt
sich.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Herr Kollege Kucharczyk, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag im Namen des
ganzen Hauses.
({0})
Weil es Ihre erste Rede war, haben Sie einen großzügigen Zuschlag auf Ihre Redezeit bekommen.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/453 und 16/552 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 16/453 soll federführend im
Ausschuss für Familien, Senioren, Frauen und Jugend
beraten werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 sowie Zusatzpunkt 10 auf:
18 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({2}), Irmingard Schewe-Gerigk, Grietje
Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft vollenden
- Drucksache 16/497 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van
Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Michael Kauch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Gleiche Rechte, gleiche Pflichten - Benachteiligungen von Lebenspartnerschaften abbauen
- Drucksache 16/565 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Volker Beck vom Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Spanien
tut es, Kanada und Belgien tun es auch, die Niederlande
tun es schon länger - sie ermöglichen schwulen und lesbischen Paaren den Zugang zur Ehe. In Südafrika hat das
Verfassungsgericht die Öffnung der Ehe angeordnet. England hat 2005 die eingetragene Partnerschaft eingeführt.
Tschechien will es tun. In der Schweiz haben in einer
Volksabstimmung 58 Prozent das Partnerschaftsgesetz
bestätigt.
Gleichstellung liegt im Trend der westlichen Welt.
Denn es geht um fundamentale Werte der Demokratie,
um Respekt für unterschiedliche Lebensweisen und die
Gleichheit vor dem Gesetz.
In Deutschland haben wir mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz im Jahr 2001 gut angefangen. Damals lagen wir in der internationalen Entwicklung relativ weit
vorne. Im Jahr 2004 hat die rot-grüne Koalition nachgelegt: bei der Hinterbliebenenversorgung, der Stiefkindadoption usw. Jetzt geht es um den verbliebenen Rest.
Alle Parteien bis auf die Union haben im letzten Wahlkampf erklärt, für die Gleichstellung von eingetragener
Lebenspartnerschaft und Ehe zu sein. Dieser Schritt wird
also von einer breiten Mehrheit hier im Haus unterstützt.
Daher fordere ich die Abgeordneten aller Parteien auf,
hier am selben Strang zu ziehen und dafür zu sorgen,
dass diese hier im Hohen Hause vorhandene Mehrheit
auch in unseren Gesetzesbeschlüssen zum Ausdruck
kommt.
({0})
Gleiche Rechte und gleiche Pflichten - nur das ist ein
faires Prinzip. Wir verlangen von den Lebenspartnern,
wie Ehegatten die im Familienrecht bestehenden Unterhaltsverpflichtungen in vollem Umfang zu übernehmen. Das halten wir ihnen vor, wenn sie Sozialhilfe,
Volker Beck ({1})
Arbeitslosengeld II oder andere Sozialleistungen beantragen. Das ist auch völlig korrekt. Aber gegenwärtig tun
wir im Steuerrecht so, als wüssten wir von der Übernahme all dieser Verpflichtungen nichts. Das ist nicht
korrekt, sondern grob unfair.
({2})
Ein Beispiel: die Erbschaftsteuer. Partnerinnen und
Partner, die in einer Lebensgemeinschaft füreinander
sorgen, ihren kranken Lebenspartner pflegen, für ihn
Unterhalt zahlen und seine soziale Unterstützung finanzieren, werden zwar, wenn ihr Partner verstirbt, im Sinne
des Erbrechts wie ein Ehegatte als Erbe berücksichtigt,
aber dann kommt der Staat daher und steuert alles weg:
Beim Freibetrag und beim Steuersatz werden sie behandelt, als seien sie Fremde. Das, meine Damen und Herren, ist Enteignung von Staats wegen.
({3})
Das ist unsozial und unchristlich. Deshalb appelliere ich
an Sie von der Union: Öffnen Sie Ihr Herz und gehen Sie
fair mit den schwulen und lesbischen Paaren um, die
sich in einer solchen Lebenssituation befinden.
Durch die Gesetzgebung von Rot-Grün in diesem Bereich haben wir einen enormen gesellschaftlichen Fortschritt eingeleitet: Die Akzeptanz schwuler und lesbischer Lebensgemeinschaften ist enorm gewachsen. In
ganz bürgerlichen und ländlichen Gebieten werden Lebenspartnerschaftszeremonien gefeiert. Auch die Familien, die Kollegen und die Nachbarn nehmen daran teil.
Niemand stört sich oder regt sich auf. Ich bin stolz auf
unser Land, dass es diese tolerante Entwicklung genommen hat,
({4})
die, als wir Grüne diese Debatte im Jahr 1989 angestoßen haben, von vielen nicht für möglich gehalten wurde.
Auch beim Adoptionsrecht haben wir einiges erreicht.
In der letzten Wahlperiode sind wir den ersten Schritt zur
Stiefkindadoption gegangen. Wir waren uns sicher, dass
die Aufregung, die von vielen befürchtet wurde, ausbleiben und dieses Vorhaben gesellschaftlich akzeptiert
würde. So ist es auch gekommen. Vor einigen Tagen hat
sogar der Bundespräsident deutlich gemacht, dass
gleichgeschlechtliche Partnerschaften und Familien mittlerweile eine Selbstverständlichkeit sind. Am 18. Januar
dieses Jahres hat er gesagt:
Kinder auf das Leben vorzubereiten, partnerschaftliche Lebensentwürfe zu verwirklichen, das kann in
ganz unterschiedlichen Strukturen gelingen: in der
Ehe, in nicht ehelichen und auch gleichgeschlechtlichen Familien, in Patchwork- oder Einelternfamilien.
Das zeigt, wo wir inzwischen mit diesem Thema angekommen sind: mitten in der Gesellschaft. Deshalb
können wir jetzt beim Adoptionsrecht den nächsten
Schritt wagen und die volle Gleichstellung von Lebenspartnerschaften und Ehepaaren in Angriff nehmen. Denn
bei solchen Diskussionen ist es immer wichtig, die
Mehrheit der Gesellschaft diskursiv mitzunehmen und
die eigenen Überzeugungen ins Land zu tragen. Das ist
uns bei diesem Thema eindeutig gelungen.
({5})
Meine Damen und Herren, ich nenne Ihnen einen
weiteren Indikator dafür, dass der Fortschritt nicht aufzuhalten ist: Als Rot-Grün dieses Gesetz im Jahre 2000
auf den Weg brachte, waren wir noch relativ allein; die
anderen Fraktionen haben uns aus unterschiedlichen
Gründen nicht unterstützt. Der Kollege Westerwelle hat
in seiner Rede seinerzeit vorgetragen, unser Gesetzentwurf sei verfassungswidrig, weil durch ihn der besondere Schutz von Ehe und Familie beschädigt werde.
({6})
Aber wie man an dem Antrag, den die FDP-Fraktion
heute vorgelegt hat, sehen kann, hat hier ein Meinungswandel stattgefunden. Ich halte es in diesem Zusammenhang mit Lukas 15, Vers 7: „Im Himmel ist mehr Freude
über einen reuigen Sünder als über 99 Gerechte, die der
Buße nicht bedürfen.“
({7})
Deshalb ist es gut, dass wir heute eine breite Mehrheit
dafür haben. Es wäre schön, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen von der FDP, wenn Sie in den beiden Ländern, in denen Sie mitregieren, Baden-Württemberg und
Rheinland-Pfalz, die Standesämter endlich für schwule
und lesbische Paare öffneten, wenigstens landesrechtlich, bis wir das mit dem Lebenspartnerschaftsgesetzergänzungsgesetz bundesrechtlich regeln.
Herr Kollege Beck, kommen Sie bitte zum Schluss!
Dort sind Sie in der Verantwortung und dort können
Sie landespolitisch zeigen, was der Antrag, den Sie heute
hier im Bundestag gestellt haben, für Sie bedeutet. Lassen Sie uns bei diesem Thema zusammenarbeiten und
für eine entsprechende Mehrheit hier im Hause sorgen.
Ich glaube, dann können wir den Bundesrat auch davon
überzeugen, noch einmal nachzudenken über das, was er
2000/2002 nicht gewollt hat, und ob er sich den gesellschaftlichen Realitäten nicht stellen will.
Ich bedanke mich für Ihre Geduld.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Granold von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Herr Beck, ich kann Ihre Wahrnehmung nicht teilen.
Über den Himmel möchte ich mich jetzt nicht äußern,
aber ich glaube, die Wahrnehmung in Deutschland ist
eine andere.
Aber lassen Sie mich der Zeit wegen gleich zum
Thema kommen: Wir befassen uns heute erneut mit den
eingetragenen Lebenspartnerschaften. Gerade vor einem Jahr haben wir es zuletzt getan. Damals hat die Verabschiedung des Gesetzes ohne die Stimmen der CDU/
CSU stattgefunden. Wir waren vehement dagegen, insbesondere dass die Stiefkindadoption als Kernstück in
das Gesetz aufgenommen werden sollte. Wir haben uns
auch im Jahre 2001, als das eigentliche Gesetz geschaffen wurde, dagegen gewandt, und nicht umsonst wurde
das Bundesverfassungsgericht damit befasst. 2002 hat
es entschieden - der Inhalt ist hinlänglich bekannt -: Die
Rechte und die Pflichten der eingetragenen Lebenspartnerschaft können vom Gesetzgeber gleich denen der Ehe
festgelegt werden. Wir als Union akzeptieren diese Entscheidung.
Die Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts im
Jahre 2004 ist nun seit dem 1. Januar 2005 in Kraft. Damit wurden weitere rechtliche Ausgestaltungen vorgenommen, die wir auch nicht akzeptiert haben: Im Wesentlichen wurden Unterhaltspflichten begründet - Herr
Beck hat es ausgeführt -, also die Gleichstellung mit der
Ehe. Das eheliche Güterrecht, der Versorgungsausgleich,
das Verlöbnis wurden eingeführt und vieles andere mehr.
Wir haben dagegen gestimmt, zum einen weil die Regelungen aus dem Familienrecht eins zu eins in das Lebenspartnerschaftsrecht übernommen wurden - obwohl
im Familienrecht bekanntermaßen erheblicher Reformstau besteht - und weil, viel gravierender, die Stiefkindadoption eingeführt wurde; sie war und ist für die
Union völlig inakzeptabel.
({0})
Aber darauf möchte ich gleich zurückkommen.
Zunächst möchte ich mich mit den Lebenspartnerschaften selbst befassen. Ich muss sagen, wir leben in
einer Zeit, in der sich die Lebensentwürfe geändert haben, in der viele neuartige Verbindungen eingegangen
werden. Weil in diesem Zusammenhang der Bundespräsident zitiert wurde, will ich klarstellen: Der Bundespräsident hat lediglich beschrieben, in welch unterschiedlichen Lebensentwürfen Menschen in Deutschland, auch
mit Kindern, leben.
({1})
Seine Situationsbeschreibung bietet keine Legitimation
für ein Recht auf Adoption.
({2})
Ich denke, wir alle begrüßen es, wenn sich Menschen
dazu entschließen, füreinander einzustehen und einander
Unterhalt zu gewähren. Wir unterstützen das - zumal damit eine Entlastung der Gemeinschaft einhergeht, zum
Beispiel wenn keine Sozialleistungen gewährt werden
müssen.
({3})
Nachdem nun Rechte und Pflichten der Lebenspartnerschaften begründet worden sind, müssen wir ein
Stück weit Anpassungen vornehmen; insofern geben
wir Ihnen Recht, Kollegen von der FDP und von
Bündnis 90/Die Grünen. Diese Anpassungen betreffen
das Steuerrecht, das Erbschaftsteuerrecht und auch das
Beamtenrecht. Es gibt auch entsprechende Entscheidungen der Gerichte, durch die wir zu solchen Anpassungen
aufgerufen sind. Wir müssen uns bei den Beratungen in
den Ausschüssen eingehend damit befassen, in welchem
Umfang hier Anpassungen vorgenommen werden müssen.
({4})
Wenn wir die Gleichstellung vorantreiben, müssen
wir aber auch Privilegien angehen. Ich denke zum Beispiel an das BAföG, bei dem es eine Bevorzugung der
Lebenspartnerschaften gibt. Auch hier müssen dann
Korrekturen vorgenommen werden.
Sie haben die unterschiedliche Zuständigkeit für die
Begründung der Lebenspartnerschaften angesprochen:
die Standesämter bzw. die Notariate. Das war eine Länderentscheidung. Es gibt aufgrund des Vorhandenseins
der Strukturen und Daten gute Gründe dafür, das Standesamt zu favorisieren. Gute Gründe sprechen aber auch
für die Wahl des Notars. Diese haben die Bayern angeführt. Die Bayern sehen die Lebenspartnerschaft als ein
Aliud zur Ehe,
({5})
demzufolge müsse es erlaubt und möglich sein, zu differenzieren, ohne zugleich vorgeworfen zu bekommen,
man stigmatisiere und diskriminiere. Wir sollten über die
Frage der Zuständigkeit in Ruhe sprechen.
Wir sind gesprächs- und kompromissbereit was die
Frage des Steuerrechts angeht - das habe ich schon gesagt -, aber nicht, was den Bereich der Adoption betrifft.
Hier ist eine Grenze zu ziehen. Diese Grenze wird von
der Union auch nicht überschritten. Wir haben uns damals massiv gegen die Stiefkindadoption ausgesprochen.
Bayern hat in dieser Frage das Bundesverfassungsgericht angerufen, das, wie Sie wissen, noch nicht darüber
befunden hat. Bevor unser höchstes deutsches Gericht
nicht entschieden hat, sollten wir in diesem Haus kein
Gesetz mit noch weitergehenden Regelungen, nämlich
der vollen Adoption, verabschieden. Das ist nicht lauter.
Wir sollten die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwarten.
({6})
Darüber hinaus gibt es, wie Sie wissen, auf europäischer Ebene ein Übereinkommen, das besagt, dass
Adoptionen nur verheirateten Paaren erlaubt sind. Wenn
Sie das Übereinkommen nicht akzeptieren, weil sich die
Situation geändert habe, dann sollten wir den Weg im
europäischen Kontext gehen und dort, wo man zuständig
ist, darüber diskutieren, ob das geändert werden muss.
Aber dies über ein nationales Gesetzgebungsorgan einzuführen, wie Sie das gerne möchten, ist der falsche
Weg. Wir sollten Europa als eine Rechts- und Werteeinheit sehen und sollten hier zu einer Entscheidung kommen.
Das Lebenspartnerschaftsgesetz muss bei Ihnen einen
sehr hohen Stellenwert haben. Wir haben uns 2001 damit
befasst, haben 2004 darüber debattiert und beschäftigen
uns heute wieder damit, obwohl wir in diesem Land
drängende Probleme haben; ich denke nur an die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
({7})
Stattdessen müssen wir uns wieder damit befassen. Man
hätte erst einmal Ruhe einkehren lassen müssen.
Es gibt - das war in der letzten Beratung unstrittig weder in Deutschland noch in Europa noch weltweit Erhebungen darüber, wie sich das Leben in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft auf die Kinder auswirkt.
Wir sollten erst einmal solche Erhebungen durchführen
und die Ergebnisse abwarten, bevor wir solch weit reichende Schritte wie die Einführung der vollen Adoption
gehen.
({8})
Das Bundesverfassungsgericht hat die eingetragene
Lebenspartnerschaft als zulässig neben dem Institut der
Ehe anerkannt. Es hat zugelassen, dass Lebenspartner
untereinander Rechtsbeziehungen aufnehmen können.
Das gilt aber nicht in Bezug auf Dritte. Dritte sind Kinder. Kinder haben keine Lobby. Kinder müssen die Entscheidungen, die von Erwachsenen für sie getroffen werden, akzeptieren, und das ein Leben lang.
({9})
Eine Adoption reicht über die Volljährigkeit hinaus. Kinder, auch adoptierte Kinder, werden zum Beispiel mit
Unterhaltslasten gegenüber den Eltern konfrontiert. Die
Rechte der Kinder und das Kindeswohl müssen an
oberster Stelle stehen.
({10})
Wir waren uns in diesem Hause einig, als wir 1998 die
Kindschaftsrechtsreform durchgeführt haben, dass das
Kindeswohl für uns an oberster Stelle steht.
({11})
Das sehen wir bei der Volladoption nicht als gewährleistet an.
Jedes Kind hat ein Recht auf Vater und Mutter, ein
Recht darauf, in einer gesicherten Rechtsbeziehung leben zu können und vom Staat geschützt zu werden. Ich
verweise auf Art. 6 des Grundgesetzes. Die Union steht
nicht alleine da. Wenn wir mit Vertretern von Verbänden
und Kirchen, mit Fachleuten und Psychologen sprechen,
dann können wir stets hören: Den Kindern muss die
Möglichkeit gegeben werden - insofern muss der Staat
handeln -, sich frei zu entfalten und ihrem Wohl entsprechend zu leben.
Es ist eine Errungenschaft der 70er-Jahre, dass beim
Adoptionsrecht die Interessen der Erwachsenen zurückgestellt und das Kindeswohl in den Vordergrund gestellt
wurden. Mit der Einführung der Volladoption würden
wir das Rad wieder ein Stück zurückdrehen.
({12})
Deshalb wird es mit der Union keine Adoption im Rahmen einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft geben.
({13})
Kinder, die heute schon in einer solchen Partnerschaft leben, sind ausreichend materiell und sozial abgesichert,
sodass wir auch die Stiefkindadoption nicht benötigen.
Aber warten wir die Entscheidung unseres obersten Gerichtes ab!
Herr Kollege Beck, ich muss Ihnen sagen: Die frühere
Vizepräsidentin dieses Parlaments, Frau Vollmer, hat
sich hier in der letzten Debatte klar und eindeutig geäußert. Auch sie ist der Auffassung, dass die Stiefkindadoption den Interessen des Kindes nicht gerecht wird.
Ich darf auch die Kollegin von Renesse zitieren, die sich
in gleicher Weise geäußert und gesagt hat: Das Interesse
der Lebenspartner, ihre Bindung durch ein Kind zu festiUte Granold
gen und ein Stück weit mehr zu legitimieren, darf nicht
im Vordergrund stehen.
({14})
Das Interesse und das Wohl des Kindes müssen im Vordergrund stehen.
({15})
In diesem Sinne bitte ich Sie, dass wir die Beratungen
in den Fachausschüssen aufnehmen. Änderungen im
Steuerrecht und Anpassungen in gutem Maße sind in
Ordnung, eine Volladoption wird es mit der Union aber
nicht geben.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt die Kollegin LeutheusserSchnarrenberger von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte über die, die Verantwortung in unserer
Gesellschaft übernehmen wollen, verantwortungsbewusst zu führen, heißt, dass nicht unterschiedliche Formen des Zusammenlebens gegeneinander ausgespielt
werden.
({0})
Vielmehr muss jeder, der an seinem Platz und nach seiner Lebensvorstellung und Lebensweise bereit ist, Verantwortung für sich und andere in unserer Gesellschaft
zu übernehmen, gefördert werden. Das brauchen wir
mehr als derzeit. Wir müssen dazu ermuntern und hier
die Debatten führen, damit sich niemand ausgegrenzt
fühlt, dessen Lebensvorstellung vielleicht nicht einer
möglichen Mehrheit in diesem Hause entspricht.
({1})
Ich denke, deshalb sollten wir diese Debatte auch
heute hier führen. Es ist der richtige Zeitpunkt. In den
letzten Jahren haben wir eine erhebliche Veränderung
des gesellschaftlichen Klimas und damit einhergehend
die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften erlebt. Ich kann mich noch an die Debatten hier im
Deutschen Bundestag erinnern - es war damals noch in
Bonn -, als es um die Abschaffung des § 175 Strafgesetzbuch gegangen ist. Die Fortschritte, die sich in der
Folge in weiten Teilen der Bevölkerung entwickelt haben, waren doch nur möglich, weil die Politik den Mut
hatte, hier voranzugehen und zu überzeugen. Sie hat dabei aber nicht gegen die Familie, die Ehe und die Alleinerziehenden argumentiert, sondern sie ist dafür eingetreten, dass für alle, die ihren Weg wählen, auch die
richtigen Rahmenbedingungen geschaffen werden, und
zwar so,
({2})
dass Rechte und Pflichten in einem richtigen Verhältnis
zueinander stehen.
Da das im Zusammenhang mit der eingetragenen
Partnerschaft bis heute noch nicht der Fall ist, haben wir
als FDP diesen Antrag hier in den Bundestag eingebracht. Herr Beck, hier teilen wir Ihre Auffassung: Im
Unterhaltsrecht, im Beamtenrecht und gerade auch im
Steuerrecht - Stichwort: Freibeträge bei der Erbschaftsteuer - herrscht in weiten Teilen der Bevölkerung das
Gefühl, dass hier diskriminiert wird.
({3})
Herr Beck, deshalb bitte ich Sie: Verdrehen Sie nicht die
Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Debatte über gleichgeschlechtliche und eingetragene Partnerschaften. Wir als FDP haben immer dazu gestanden,
dass wir den Zustand, den wir hier vor 20 Jahren hatten,
als nicht richtig für eine offene plurale Gesellschaft angesehen haben. Wir haben immer dafür gekämpft.
Bei manchen Wegen haben wir Zweifel gehabt, ob sie
in der Form vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben würden. Wir wollten immer die Wege beschreiten, bei denen sicher war, dass das Bundesverfassungsgericht sie mitgehen würde. Das ist jetzt gelungen
und erreicht worden. Ich denke, deshalb wäre es gut,
wenn diejenigen, die sich jetzt für eine Weiterentwicklung einsetzen, nicht gegeneinander argumentieren, sondern zusehen würden, dass diese Überzeugung denjenigen gegenüber, die an dieser Weiterentwicklung noch
Zweifel haben, gestärkt dargestellt wird und dass Bedenken ausgeräumt werden können.
({4})
Wir wissen, dass gerade das Thema Adoptionsrecht
gleichgeschlechtlicher Partnerschaften - Frau Granold,
Sie haben es ja zu einem Schwerpunkt Ihrer Ausführungen hier gemacht - für manche oder auch für etliche in
unserer Gesellschaft ein Problem darstellt. Ich denke,
deshalb ist eines ganz entscheidend: Uns geht es bei dieser Forderung eines vollen Adoptionsrechts nicht darum,
die Ehe mit Kindern, die Familie, zu schwächen, sondern darum, am Kindeswohl orientiert die Möglichkeit
zu schaffen, dass es zu einer Adoption anstelle eines Lebens in einem Heim kommen kann, wenn zwei Partner
oder Partnerinnen das wollen und wenn es für das Kindeswohl das Beste ist.
({5})
Dies zu ermöglichen, ist ein richtiger Weg. Wir wissen, dass das auch noch diskutiert werden muss. Wir
wissen, dass es nicht nur in nordeuropäischen, sondern
auch in einigen anderen europäischen Staaten Erfahrungen mit einem Adoptionsrecht für Lebenspartnerschaf1238
ten gibt. Wir wissen, dass unterschiedliche Untersuchungen existieren, in denen zum Teil Bedenken formuliert
werden. Umso wichtiger ist es, dass wir als Politiker unsere Aufgabe, zu gestalten, in dieser Gesellschaft wahrnehmen und auch dieses Thema sehr sachlich und argumentativ-offensiv angehen, anstatt nur auf das zu
reagieren, was in anderen europäischen Staaten passiert
und was wir letztendlich für richtig halten.
Deshalb haben wir diesen Punkt in unseren Antrag,
der Ihnen heute zur Beratung vorliegt, aufgenommen.
Wir hoffen sehr, dass auch Teile der Koalition, obwohl in
Ihrer Koalitionsvereinbarung zu diesem Thema kein
Wort steht, einsehen, dass eine Weiterentwicklung und
eine weitere Gesetzgebung in diesem Haus sehr wohl
notwendig sind. Wir hoffen, Sie davon in den Ausschüssen überzeugen zu können.
Recht herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Christine Lambrecht von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kaum ein
Thema wie dieses zeigt, wie entwicklungsfähig politische Entscheidungsfindungen in manchen Bereichen
sein können. Wir haben uns in mehreren Legislaturperioden mit dem Thema Lebenspartnerschaften beschäftigt
und in ganz unterschiedlichen Konstellationen gekämpft. Ich habe mit Überraschung zur Kenntnis genommen, dass sich die FDP hierfür eingesetzt und gekämpft hat. Ich muss sagen: Mit Verlaub, all das, was
heute in dem Antrag der Grünen und auch in dem Antrag
der FDP gefordert wird, könnte bis auf die Volladoption
schon längst Realität sein, könnte schon seit 2001 für all
die Betroffenen, deren Lebensumstände Sie eben, Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, angesprochen haben, einen Fortschritt in ihrer persönlichen Lebenssituation bedeuten.
Man sollte ganz kurz einen Blick zurückwerfen, warum das Ganze bis jetzt noch keine Realität ist. Das liegt
nicht daran, dass es nicht in unserem Koalitionsvertrag
steht. Nein, der Grund ist, dass es in den letzten Jahren
zahlreiche Widerstände gab. Ich erinnere daran, dass im
Jahre 2001 ein umfassender Gesetzentwurf vorlag, der
bis auf die Adoption genau das enthielt, was hier jetzt
gefordert wird.
Was ist passiert? Hier im Deutschen Bundestag hat
Rot-Grün dieses Gesetz mit seiner Mehrheit beschlossen. Die Stimmen dagegen kamen aus der CDU/CSU;
Frau Granold hat es dargestellt. Es gab aber auch Gegenstimmen - das war sehr kämpferisch - aus der FDP.
({0})
Sie haben mit der Begründung gegen das Gesetz gestimmt, Verfassungsspezialisten - selbst ernannte - hätten erklärt, dieses Gesetz sei mit dem in der Verfassung
garantierten Grundrecht auf den besonderen Schutz der
Ehe nicht zu vereinbaren. Es folgte dann ein Urteil des
Bundesverfassungsgerichts. Die selbst ernannten Verfassungsexperten mussten dann zur Kenntnis nehmen, dass
dieses Gesetz sehr wohl mit dem besonderen Schutz von
Ehe und Familie in Zusammenhang zu bringen ist. Es
kam zu einer Wandlung. Die FDP hat dann erklärt, dass
sie dieses Gesetz akzeptiert. Im Jahre 2005 war sie auch
bereit, die Änderungen mitzutragen.
Frau Kollegin Lambrecht, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?
Gerne.
Bitte schön, Herr Westerwelle.
Vielen Dank. - Frau Kollegin, ich möchte die Frage
stellen, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass
die juristischen Zweifel, die über den Weg - nicht über
das Ziel - bestanden haben, von führenden und sehr qualifizierten Juristen der sozialdemokratischen Fraktion
jahrelang vertreten wurden, bis das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorlag? Ich erinnere mich beispielsweise an eine der klügsten Juristinnen dieses Hauses,
nämlich Frau von Renesse, die als eine kompetente Familienrechtlerin in sehr ähnlicher Weise argumentiert hat
und mit der wir juristisch sehr kontrovers über den Weg
gesprochen haben.
Unter den Juristen gilt der Satz „Roma locuta, causa
finita“. Nachdem das Verfassungsgericht entschieden
hat, ist dieser Streit beendet. Aber es muss doch zulässig
sein, dass man über juristische Wege unterschiedliche
Ansichten vertritt, zumal so kompetente Beistände wie
Frau von Renesse in unserer Gesellschaft waren.
Herr Westerwelle, Frau von Renesse mag unter Umständen über den Weg diskutiert haben. Sie hat aber
2001 im Deutschen Bundestag eine klare Entscheidung
für das Gesetz getroffen. Das können Sie nachlesen.
Frau von Renesse hat dem Gesetzentwurf selbstverständlich zugestimmt und insofern dann auch den Weg
akzeptiert. Dass unter Juristen diskutiert wird, bis man
zu einer Lösung kommt, ist begriffsnotwendig. So sind
die Juristen nun einmal. Auch ich zähle mich dazu. Aber
in diesem Fall haben - auch bei Frau von Renesse - die
besseren Argumente gesiegt.
Sie haben allerdings nicht nur den juristischen Weg
abgelehnt. Sie haben nicht nur das Verfahren abgelehnt,
sondern das ganze Gesetz,
({0})
das im Bundesrat auch von den Ländern, in denen die
FDP an der Regierung beteiligt ist, abgelehnt wurde. Daran ist die Umsetzung des Gesetzentwurfs gescheitert.
Frau Kollegin Lambrecht, Herr Geis und Herr Beck
haben sich zu einer Zwischenfrage gemeldet. Sind Sie
bereit, beide zu beantworten?
So kommt man zu mehr Redezeit.
Dann bitte ich aber darum, es bei diesen Fragen bewenden zu lassen. - Herr Geis, bitte schön.
Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, dass sich der damalige Innenminister Schily
({0})
2001 fraktionsintern wie auch extern expressis verbis
- also ausdrücklich - gegen dieses Gesetz ausgesprochen hat?
Mir ist aus diesem Bereich vieles bekannt, weil ich
dem Bundestag seit der 14. Legislaturperiode angehöre
und dieses Gesetzesvorhaben über die Jahre hinweg begleitet habe. Wie Herr Westerwelle und viele andere
schon ausgeführt haben, bestehen unter Juristen manchmal Zweifel. Man muss diskutieren, bevor man den richtigen Weg findet.
Aber auch ich kann mich daran erinnern, dass der Gesetzentwurf vom damaligen Innenminister Schily bei der
Beschlussfassung mitgetragen wurde. Wie gesagt gab es
Diskussionen im Vorfeld. Aber es gab eine klare Beschlussfassung für diesen Gesetzentwurf.
Kollege Beck, bitte schön.
Frau Kollegin Lambrecht, teilen Sie meine Einschätzung, dass dem Kollegen Westerwelle womöglich sein
Gedächtnis ein Schnippchen geschlagen hat, wenn er
Frau von Renesses Position so wiedergibt, wie er es getan hat? Denn ich erinnere mich daran, dass Frau von
Renesse im Bundestag und auch gemeinsam mit mir vor
dem Bundesverfassungsgericht immer die Auffassung
vertreten hat, dass die eingetragene Partnerschaft gleichgestellt werden kann,
({0})
weil sie einen anderen Adressatenkreis als das familienrechtliche Institut der Ehe hat und deshalb die Ehe durch
eine Gleichstellung in keiner Weise beeinträchtigt werden kann.
({1})
Teilen Sie auch meine Einschätzung, dass es sehr zu begrüßen ist, dass das Bundesverfassungsgericht genau
diesen Tenor in seinem Urteil ausdrücklich bestätigt und
deshalb dem Gesetzgeber die Freiheit zur vollständigen
Gleichstellung gegeben hat?
Herr Kollege Beck, ich teile Ihre Einschätzung nicht
nur, sondern ich darf sie noch etwas ergänzen. Wer die
Kollegin Renesse gekannt hat, weiß, dass die Umsetzung
des Gesetzes ihr eine Herzensangelegenheit war. Dieses
war ihr in den letzten Jahren ihrer politischen Tätigkeit
sehr wichtig. Daran hat sie viele Jahre gearbeitet. Insofern war es der falsche Ansatz, Frau von Renesse zu erwähnen.
Aber wie gesagt: Im Vorfeld sind Diskussionen wichtig. Aber dann ist von uns - von Rot-Grün - die richtige
Entscheidung getroffen worden.
({0})
Ich möchte noch kurz auf den weiteren Weg zurückkommen. Ich freue mich - ich habe das Signal verstanden -, dass aufseiten der CDU/CSU die Bereitschaft vorhanden ist, zum Thema Adoption noch ein Urteil
abzuwarten. So viel Zeit haben wir sicherlich noch. Ich
freue mich auch, dass zumindest die Bereitschaft vorhanden ist, auch andere - insbesondere steuerrechtliche Regelungen anzugehen, die wir schon lange beabsichtigt
haben. Ich freue mich deshalb auf die Beratungen.
Frau Kollegin Granold, ich möchte noch einmal auf
das Thema Adoption zu sprechen kommen. Ich glaube,
es ist falsch, den Eindruck zu erwecken, dass die Stiefkindadoption durch gleichgeschlechtliche Lebenspartner
anders ausgestaltet wäre als Adoption im Allgemeinen.
Bei jeder Adoption in Deutschland - das sollten gerade
Sie als Familienrechtlerin wissen -, egal durch wen,
steht immer das Kindeswohl an erster Stelle. Daran werden wir hoffentlich auch niemals etwas ändern. Denn
das Kindeswohl ist maßgeblich.
Wenn ein Kind Schwierigkeiten damit hat, dass es
vom gleichgeschlechtlichen Lebenspartner oder von der
gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerin adoptiert werden soll, dann wird es in Deutschland nicht zu einer
Adoption - auch nicht zu einer Stiefkindadoption - kommen, weil das nicht die Lebenspartner allein entscheiden, sondern auch die zuständigen Behörden wie Jugendamt, Jugendgericht und Familiengericht mit
eingeschaltet sind. Es ist auch gut und richtig, dass nicht
die Interessen der Lebenspartner an erster Stelle kommen, sondern dass das Wohl des Kindes im Vordergrund steht.
Aber wenn die Partner die Adoption wollen, wenn sie
dem Wohl des Kindes entspricht und der leibliche Vater
oder die leibliche Mutter ihr zustimmt - diese Voraussetzung muss zusätzlich erfüllt sein -, dann kann ich mir
keinen anderen Grund mehr vorstellen, die Adoption zu
verweigern, als ideologische Gründe. Die Adoption
wird, wenn es denn dazu kommen sollte, so geregelt
sein, dass immer das Wohl des Kindes im Vordergrund
steht. Nichts anderes dürfen und werden wir zulassen.
({1})
Ich bin froh, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, dass ein ganz prominenter Politiker aus Ihren Reihen, Bundespräsident Köhler - Herr Beck hat
schon auf ihn verwiesen -, schon einen Schritt weiter ist.
Er akzeptiert es nicht nur, sondern schätzt es durchaus.
Frau Granold, Herr Köhler hat in seiner Rede vor der
Evangelischen Akademie Tutzing keineswegs nur den
Sachstand beschrieben. Er hat vielmehr Folgendes gesagt - ich habe mir die Rede ausgedruckt, weil ich sie
nicht nur im Hinblick auf das jetzt zur Diskussion stehende Thema interessant fand -:
Kinder auf das Leben vorzubereiten, partnerschaftliche Lebensentwürfe zu verwirklichen, das kann in
ganz unterschiedlichen Strukturen gelingen: in der
Ehe, in nicht ehelichen und auch gleichgeschlechtlichen Familien, in Patchwork- oder Einelternfamilien.
Wenn er von „gelingen“ spricht, dann ist das mehr als
nur eine neutrale Beschreibung des Sachverhalts, denn
Herr Köhler schätzt in seiner Rede die Erfolgsaussichten
und die Konsequenzen der einzelnen Lebensentwürfe
ein. Vielleicht sollten Sie sich einen Ruck geben und
sich in Richtung Ihres doch recht fortschrittlichen Bundespräsidenten bewegen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ich
finde, Ihr Appell ist gut und richtig, bei der Diskussion
über dieses sensible Thema den Wahlkampf ein Stück
weit außen vor zu lassen und eine Fehlerdiskussion zu
ermöglichen. Gerade weil dieses Thema so sensibel ist,
ist es gut, wenn hier im Haus in vielen Punkten Einigkeit
besteht.
({0})
Heute liegen uns zwei Anträge vor, die auf eine notwendige Nachbesserung des Lebenspartnerschaftsrechts
zielen. Den eingetragenen Lebenspartnerschaften, in denen die Partner die gleichen Pflichten haben wie in einer
Ehe, sollen mehr Rechte zugestanden werden. Das betrifft das Steuerrecht, das Besoldungs- und das Beamtenversorgungsrecht, die bundeseinheitliche Behördenzuständigkeit - in einigen Bundesländern kann man eine
Lebenspartnerschaft noch immer nicht beim Standesamt
eintragen lassen; das ist zwar nur eine Formalie, aber
eine wichtige - und das Adoptionsrecht. Wir halten es
für richtig, wenn sich aus gleichen Pflichten auch gleiche Rechte ergeben.
({1})
Deshalb unterstützen wir die Richtung der beiden Anträge grundsätzlich und werden entsprechende Vorschläge in die Ausschussberatungen einbringen.
Für mich stellt sich allerdings die Frage: Wenn der
eingetragenen Lebenspartnerschaft letztendlich die gleichen Rechte zugestanden werden sollen wie der Ehe,
warum verkürzt man dann nicht das Ganze und öffnet
die Ehe für gleichgeschlechtliche Partnerschaften? Es
könnte dann auch schwule oder lesbische Ehen geben.
({2})
Mit dem Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft ist tatsächlich etwas gelungen, was über die
unmittelbare Verbesserung der Situation der Betroffenen
hinausgeht. Insbesondere bei binationalen Paaren ist die
Akzeptanz für die Lebensweise von schwulen und lesbischen Partnerschaften erhöht worden. In diesem Sinne
hat sich die Regelung als richtig erwiesen. Aber sie ist
unzureichend, wenn wir nun stehen bleiben, selbst wenn
es uns im nächsten Schritt gelingen sollte, Nachbesserungen vorzunehmen.
Ich möchte kurz aus dem Antrag der FDP zitieren:
Alle Lebensgemeinschaften, in denen die Partner
füreinander Verantwortung übernehmen, sind wertvoll und müssen vom Staat unterstützt werden.
Das ist richtig. Aber es ist auch richtig, dass nicht alle
Lebensweisen so organisiert sind, dass die Menschen in
einer Ehe oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben. Vielmehr gibt es darüber hinaus noch
andere Lebensweisen. Es gibt Alleinerziehende, Konstellationen, in denen Geschwister zusammenleben
- vielleicht noch mit Kindern -, Patchworkfamilien,
zum Teil verheiratet, zum Teil unverheiratet. Heutzutage
ist alles recht bunt. Daraus ergibt sich, warum die PDS
den Gesetzentwurf zuerst abgelehnt hat. Denn wir haben
hier letztendlich eine Ausweitung der Privilegierung,
nämlich von einer bestimmten Form der Ehe auf eine andere Form. Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren,
dass unsere Zielstellung die Entprivilegierung sein muss,
um so die Förderung von Familien zu erreichen. Familie
ist da, wo Nähe ist, wo Verantwortung füreinander und
Verantwortung für Kinder übernommen wird.
({3})
Wir dürfen nicht aus dem Blick verlieren, dass es in
dieser Beziehung noch viele Ungerechtigkeiten gibt, die
nicht dadurch zu beseitigen sind, dass wir uns nur auf die
Ehe und die eingetragene Lebenspartnerschaft fokussieren. Wir müssen weiter gehen. Wir können das, was wir
jetzt anstreben, durchaus auch mit anderen Maßnahmen
begleiten, zum Beispiel mit dem Kampf für die weitere
Individualisierung des Steuerrechts. Wir sagen: Es
geht den Staat nichts an, in welcher Form Menschen miteinander leben. Sie sollen ihre Steuern entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bezahlen. Wenn
besondere Leistungen erbracht und beispielsweise Kinder erzogen werden, dann hilft der Staat. Dann ist es
letztendlich auch egal, in welcher Lebensform die Kinder aufwachsen. Die Hauptsache ist, sie werden gut und
verantwortungsvoll betreut und erzogen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Kahrs von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als wir
dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben, habe
ich es für mich noch einmal rekapituliert. Für mich sind
das Lebenspartnerschaftsgesetz und auch das Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz wichtig. Ich glaube,
dass diese Gesetze nicht für alle in diesem Hause die
gleiche Wichtigkeit haben. Das hat auch etwas mit der
Betroffenheit zu tun. Ich glaube, dass das Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz eine Weiterführung und eine
Vollendung des Lebenspartnerschaftsgesetzes ist. Ich bin
froh, dass die Einigkeit in diesem Hause, was dieses
Thema angeht, deutlich zunimmt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die Rede des Bundespräsidenten haben uns geholfen, dieses Thema zu diskutieren
und eine Akzeptanz in der Gesellschaft zu gewinnen.
Diese Diskussion ist wesentlich. Es ist nicht nur wesentlich, im Deutschen Bundestag Gesetze zu beschließen,
sondern sie müssen in der Bevölkerung auch ankommen,
verstanden und gelebt werden.
Herr Kollege Beck, der das Thema hier vertritt,
kommt aus Köln. Ich selber komme aus Hamburg-Mitte.
Ich behaupte, da ist das kein Problem. Dort gibt es eine
andere Lebenswelt und ein Verständnis. Es gibt aber
auch Regionen in unserer Republik, wo dieses Thema
nicht so präsent ist und nicht so diskutiert wird. Ich
glaube, dass die Diskussion hier im Parlament hilft und
dass die Verfassungsgerichtsurteile geholfen haben. Die
Diskussion heute hat gezeigt, dass sich die Mehrheit hier
im Parlament dem Thema nähert.
Ganz besonders dankbar bin ich der Kollegin Granold
für das, was sie gesagt hat. Sie hat gesagt: Wir begrüßen
es, dass Menschen füreinander einstehen. - Das ist zu einem großen Teil das, was wir gesetzlich geregelt haben.
Sie hat auch erklärt, dass Sie zu Anpassungen im Steuerund Beamtenrecht und in anderen Bereichen bereit sind.
Wenn das in den Ausschüssen diskutiert wird, dann ist
das nicht für alle in der Gesellschaft selbstverständlich.
Deswegen ist der Diskussionsprozess in den Ausschüssen, den wir in der Gesellschaft weiterführen müssen, etwas, was im Ergebnis dazu führen kann, dass das
Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz in die Realität
umgesetzt wird. Ich möchte, dass das stattfindet.
Auf diesem Weg müssen wir alle gemeinsam gehen.
Es bringt nichts, wenn wir uns gegenseitig vorhalten,
dass wir irgendwann einmal etwas gesagt haben, weil
wir die Dinge damals anders als heute gesehen haben. Es
ist doch das Ziel der Übung, dass man sich bewegt. Im
Koalitionsvertrag steht kein Wort zu diesem Thema.
Das ist richtig. Das liegt daran, dass es zwischen den
beiden Koalitionspartnern unterschiedliche Ansichten zu
diesem Thema gibt. Wir haben aber nicht gesagt, dass
wir etwas nicht machen, sondern wir haben die Möglichkeit offen gelassen - das ist manchmal so in Koalitionen -,
dass wir uns jeweils gegenseitig überzeugen. In diesem
Prozess sind wir.
({0})
- Herr Kollege Westerwelle, diesen Prozess haben Sie
hinter sich. Das ist ganz positiv. Jetzt müssen Sie anderen auch die Möglichkeit geben.
({1})
Darüber würde ich auch nicht lachen.
({2})
Schließlich hat es bei Ihnen lange genug gedauert.
Ich finde es wichtig, dass die gesellschaftliche Diskussion hier im Parlament ankommt. Bei der FDP ist sie
angekommen. Das haben wir festgestellt. Jetzt muss man
den Koalitionspartnern erlauben, dieses Thema inhaltlich zu diskutieren. Diese Frage ist nicht nur von rechtspolitischer, sondern auch von gesellschaftlicher Relevanz. Sie wird in Hamburg-Mitte, wo ich wohne,
vielleicht anders gesehen als in anderen Gegenden dieser
Republik.
Meine Bitte ist einfach, dass wir die Möglichkeit, die
der Koalitionsvertrag uns gibt - nämlich uns gegenseitig
zu überzeugen -, nutzen und dass wir aufeinander zugehen, um bei diesem Thema voranzukommen. Mir persönlich wäre das sehr wichtig. Ich glaube, dass es für die
Gesellschaft gut wäre. Ich glaube, dass es ein Gewinn
für unser Land wäre. Deswegen sollten wir das anpacken.
Glückauf!
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksache 16/497 und 16/565 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 sowie den
Zusatzpunkt 11 auf:
19 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({0}), Jan Mücke, Patrick Döring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sonderprogramm „Kommunale Brückenbauwerke“ auflegen
- Drucksache 16/261 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Bestandssanierung der Verkehrsinfrastruktur
ausweiten und effektive Sanierungsstrategie
vorlegen
- Drucksache 16/553 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Horst Friedrich von der
FDP-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren heute über einen Antrag, der für einige zwar
unbedeutend erscheint, der aus meiner Sicht aber ein
wirklich großes Problem anspricht, nämlich die kommunale Finanzausstattung und die daraus abgeleiteten
Pflichten. Wir sollten darüber im Hinblick auf Ereignisse
wie die in Bad Reichenhall in einer Art und Weise diskutieren, die ohne Druck und Polemik auskommt und die
die Problematik der Situation deutlich macht.
Was ist der Hintergrund? Im Zuge der Bahnreform
1994 - sie ist mir sehr bekannt - wurden im Rahmen des
Eisenbahnkreuzungsgesetzes Brücken, die Straßen über
Schienenwege führen, in die kommunale Baulast gegeben. Das war ordnungspolitisch und sachlich richtig und
das bleibt auch so.
Das Problem ist: Durch Entscheidungen des Bundesgesetzgebers ist die Finanzbasis der Kommunen zwischenzeitlich drastisch erodiert. In dieser Situation müssen wir konzedieren: Kommunen erkennen, dass in
Brücken in ihrer Baulast investiert werden muss, dass
man sie unter Umständen komplett erneuern muss. Viele
Kommunen sagen aber: Wir haben dazu nicht mehr die
nötigen finanziellen Mittel; wir müssen uns weiter verschulden. Das scheitert teilweise daran, dass nachgeordnete Behörden diesen Haushalten keine Genehmigung
mehr erteilen. Südlich von Bayreuth, in der Nähe meines
Wohnsitzes, gibt es eine Tausendseelenkommune. Diese
Kommune müsste einen höheren Grundsteuerbetrag verlangen als die benachbarte Stadt Bayreuth, die über
70 000 Einwohner hat. So können doch nicht die Lösungen der Probleme der Kommunen aussehen.
({0})
Was ist die Alternative? Der Bürgermeister erkennt
natürlich, dass er seiner Verkehrssicherungspflicht
nachkommen muss. Seine einzige Chance ist, eine solche Brücke zu sperren. In der heutigen Zeit kann so doch
nicht die Antwort einer Gesellschaft aussehen, die für
sich reklamiert, Mobilität zu ermöglichen. Die bereits erwähnte Tausendseelenkommune südlich von Bayreuth
hat drei Brücken in der Baulast. Würden diese Brücken
gesperrt, könnten zwei Ortsteile dieser Kommune kaum
noch erreicht werden; denn um dorthin zu kommen,
muss man über diese Brücken fahren. Wenn die Kommunen im Regen stehen gelassen werden, dann sind wir
unserer Verantwortung nicht gerecht geworden.
Auch wenn die Gewerbesteuereinnahmen der Kommunen mittlerweile wieder etwas kräftiger sprudeln, so
ändert das - das kann man den Äußerungen von Herrn
Ude, des Präsidenten des Deutschen Städtetages, entnehmen - an der Gesamtsituation der kommunalen Haushalte nichts Wesentliches. Nach wie vor sind die kommunalen Haushalte durch Hartz IV und durch andere
Regelungen nicht in der Lage, dieses Problem zu lösen,
zumindest nicht vorausschauend.
Was haben wir deshalb vorgeschlagen, liebe Kolleginnen und Kollegen? Wir haben uns vorher bei der
Bundesregierung sachkundig gemacht. Die Deutsche
Bahn ist seit 1999 - das ist mittlerweile dokumentiert;
ich habe eine noch längere Zeitreihe; danach ist das seit
1994 so - in aller Regel nicht in der Lage gewesen - mit
einer Ausnahme -, das ihr vom Bundesgesetzgeber, von
uns, zugestandene Geld für Investitionen auch tatsächlich auszugeben. Seit 1999 bis zum Jahresende 2005
sind das rund 1,5 Milliarden Euro gewesen.
Der Vorschlag der FDP ist nun, dieses Geld, das die
Bahn nicht ausgeben kann, in einem Sonderprogramm
den Kommunen zur Verfügung zu stellen, damit sie es
für Brückenbauwerke verwenden, die originär mit der
Schiene zu tun haben, die nämlich andere Verkehrswege,
auch kleinere Verbindungswege, die ebenfalls in kommunaler Baulast sind, über die Schiene führen.
({1})
Dazu kann man nun sagen: Das geht nicht, weil es
nicht möglich ist, Kommunen von Bundesseite direkt zu
finanzieren. - Ich meine, wenn der politische Wille vorhanden ist, dann kann man das lösen. Natürlich haben
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen
Koalition, jederzeit die Möglichkeit, das in einem Reflex
abzulehnen. Dann ist der Antrag weg. Aber das Problem
ist nicht weg.
Das Problem kommunaler Eisenbahnbrücken ist auch
nur ein Teil des Problems. Wir alle wissen: Im StraßenHorst Friedrich ({2})
baubericht steht einiges über den Zustand technischer
Bauwerke. Mittlerweile sind 15 Prozent der technischen
Bauwerke, überwiegend Brücken, in einem Zustand, der
es zumindest in absehbarer Zeit notwendig macht, massiv Geld auszugeben. Auch dafür ist das Geld nicht vorhanden.
Wenn es uns gelingt, in den Ausschussberatungen einen gemeinsamen Weg zu finden, um das Problem zu lösen, dann wäre ich auch bereit zu sagen: Das war nur
eine Anregung. Wenn daraus etwas anderes wird, ist es
auch in Ordnung. - Wichtig ist für mich die Lösung des
Problems und nicht die parteipolitische Situation. In diesem Sinne freue ich mich auf die Ausführungen im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Renate Blank von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Doch, Herr Kollege. - Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Lieber Kollege Horst Friedrich, die Verantwortung für die Brückenbauwerke ist schon seit langem
klar geregelt. Wir haben von 1995 bis 1998 intensiv und
mit Einbeziehung der Länder darüber diskutiert, wo die
Verantwortung liegt. Auch die Sonderregelung für die
neuen Bundesländer ist ausgelaufen. Deshalb gibt es
klare Regelungen. Deshalb - Kollege Friedrich, nehmen
Sie mir bitte nicht übel, wenn ich das sage - halte ich Ihren Antrag mit dem Ziel, ein Sonderprogramm „Kommunale Brückenbauwerke“ aufzulegen, für einen Schaufensterantrag im Blick auf die in der nächsten Zeit
stattfindenden Kommunal- oder Landtagswahlen.
({0})
Wir lassen uns in der Fürsorge für die Kommunen von
niemandem übertreffen.
({1})
- Selbstverständlich.
({2})
Herr Kollege Friedrich, wenn ich mich richtig erinnere, dann - hören Sie jetzt zu! - wurde von der FDP
und uns in der damaligen Koalition am 25. Juni 1997 im
Ausschuss für Verkehr ein Änderungsantrag der SPDFraktion zum Gesetzentwurf des Bundesrates im Zuge
der Beratungen zum Eisenbahnkreuzungsgesetz abgelehnt - Sie haben ihn mit abgelehnt -,
({3})
nach dem neben dem Eisenbahnunternehmer der Bund
die Hälfte der Sanierungskosten bei Brückenbauwerken
tragen sollte. Die SPD hat damals den Änderungsantrag
gestellt. Wir haben ihn seinerzeit gemeinsam abgelehnt.
Sie haben damals mehr an die Haushaltslage des Bundes gedacht. Die Aussage „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ trifft auch voll auf die FDP zu. In der Opposition schaut man ein bisschen weniger aufs Geld und
auf die Haushaltslage. Die ist aber leider sehr angespannt.
({4})
Mehr Geld steht nicht zur Verfügung
({5})
- das ist richtig; ich komme darauf zurück -, weshalb
Sie in Ihrem Antrag fordern, dass die Mittel, die die DB
nicht ausgegeben hat und die nicht abgerufen wurden,
für das Sonderprogramm verwendet werden.
Das klingt zunächst recht gut und auch einleuchtend.
Ich bin sofort mit Ihnen einig, dass es eigentlich die Aufgabe der Deutschen Bahn AG ist, Mittel, die für Neuund Ausbaustrecken zur Verfügung gestellt werden,
auch zu verbauen. In Ihrem Antrag schreiben Sie, dass
sich die seit 1999 nicht abgerufenen Mittel auf rund
1,4 bis 1,5 Milliarden Euro belaufen. Ich sage, dass seit
1995 sogar rund 6 Milliarden Euro nicht verbaut wurden. Das Geld ist teils an den Finanzminister zurückgegangen, in Baukostenzuschüsse umgewandelt oder zum
geringsten Teil auf andere Verkehrsträger umgeschichtet
worden. Allein mit den seit 1999 nicht abgerufenen Mitteln hätte man locker die ICE-Trasse Nürnberg-Erfurt
beginnen und zügig bauen, aber auch Ertüchtigungsmaßnahmen bei vielen anderen Strecken durchführen können. Es ist aber auch unsere Aufgabe, darauf zu achten,
dass die Mittel für den Ausbau der Schieneninfrastruktur tatsächlich verbaut werden können. Eine Kontrolle im Laufe des Jahres halte ich daher für dringend
notwendig und zwingend.
({6})
Liebe Kollegen von der FDP, Sie versuchen, als Retter der Kommunen aufzutreten.
({7})
Auf der einen Seite fordern Sie ein Sonderprogramm für
die Kommunen, auf der anderen Seite wollen Sie, wenn
ich richtig informiert bin, die Gewerbesteuer, die den
Kommunen zugute kommt, abschaffen. Das passt irgendwo nicht zusammen.
({8})
Die Kommunen brauchen keine Sonderprogramme, sondern eine ordentliche Finanzausstattung. Dann können
sie in Eigenverantwortung entscheiden, für welchen
Zweck sie ihr Geld ausgeben wollen bzw. ausgeben
müssen.
Ich wundere mich natürlich schon, wenn ich höre,
dass Sie so ein großes Herz für die Kommunen haben. In
Rheinland-Pfalz ist ja Landtagswahlkampf. Dort sind
Sie in der Regierung. Im Wahlprogramm der FDP von
Rheinland-Pfalz sehe ich aber lediglich eine Forderung
von 500 Millionen Euro für die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur.
Frau Kollegin Blank, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Ja, bitte.
Bitte schön, Herr Niebel.
Vielen Dank, sehr geehrte Frau Kollegin. - Erinnern
Sie sich gerade angesichts der Landtagswahlen, in deren
Vorfeld viele Kolleginnen und Kollegen mit Sonntagsreden durch die Gegend ziehen, daran, dass die FDP-Bundestagsfraktion am Ende der letzten Legislaturperiode
hier in diesem Hause einen Gesetzentwurf zur Festschreibung des so genannten Konnexitätsprinzips im
Grundgesetz - also des Grundsatzes „Wer bestellt, bezahlt“ - eingebracht hat und dass bei der namentlichen
Abstimmung außer der FDP-Bundestagsfraktion keine
andere Fraktion in diesem Hause diesem Antrag gefolgt
ist?
Herr Kollege, da Sie das erwähnen, muss ich Ihnen
sagen, dass ich Ihren Antrag für überflüssig halte.
({0})
Sie fordern also in Rheinland-Pfalz nur 500 Millionen Euro mehr. Dort aber hätten Sie doch Ihr großes
Herz für die Kommunen zeigen und ein Brückenbauprogramm in Ihr Wahlprogramm mit aufnehmen können.
({1})
Außerdem kritisiert die FDP doch immer den Haushalt - was ihr gutes Recht ist -, aber die nicht verbauten
Mittel wollen Sie für die Straße einsetzen. Was wollen
Sie nun eigentlich?
({2})
Es steht nicht unendlich viel Geld zur Verfügung. Sie
müssen die Mittel richtig einsetzen.
({3})
Nun zum Antrag der Grünen. Sie sprechen von
Schlaglöchern auf den Straßen. Aber Sie bestanden
doch immer darauf, dass die Mittel für die Straße drastisch gekürzt werden. Deshalb wundere ich mich jetzt,
dass Sie in Ihrem Antrag zum Beispiel Brückenschäden
beklagen. Ein Grund dafür ist natürlich, dass für die Beseitigung der Schäden auf Straßen, in Tunnels und an
Brücken zum Beispiel die nicht verbauten Mittel nicht
eingesetzt worden sind. Wer hätte gedacht, dass die Grünen einmal umdenken und plötzlich die Auto-Mobilität
der Menschen nicht mehr verteufeln? Ich freue mich,
dass ich das noch erleben darf. Ihre bisherige Haltung
hat sich damit als falsch erwiesen. In den Ländern stellen
Sie ständig Anträge, dass der Straßenbau zurückgefahren
werden müsse, nach dem Motto „Bildung statt Beton“;
aber hier fordern Sie plötzlich mehr Geld. Das ist eine
Doppelstrategie, die jedoch leicht durchschaubar ist. Ich
kann nur sagen: Ein Schelm, wer deshalb Schlechtes
über die Anträge von FDP und Grünen denkt und wem
das Wort „Wahlkampfgetöse“ in den Sinn kommt.
({4})
Wenn man ein Sonderprogramm haben will, dann muss
man wissen, dass dieses Geld von anderen Ausgaben,
zum Beispiel von Ausgaben für Straßenbaumaßnahmen,
abgezweigt werden muss. Denn die im Bundeshaushalt
zur Verfügung stehenden Mittel für Schienenwegeinvestitionen können aus haushaltsrechtlichen Gründen nicht
zur Unterstützung der Kommunen eingesetzt werden. Da
nicht mehr Geld zur Verfügung steht, müssten die Kommunen damit rechnen, dass nach der Auflegung eines
solchen Sonderprogramms manche Ortsumgehung nicht
mehr gebaut werden könnte. Das Geld ist ja nicht beliebig vermehrbar.
Ein weiterer Punkt. In allen Wahlkreisen der Kolleginnen und Kollegen im Hause gibt es garantiert eine
oder mehrere Brücken, die sanierungsbedürftig sind.
Allein in meinem Wahlkreis gibt es mindestens fünf
Brücken, die saniert werden müssen. Die Kommune
müsste für die Sanierung Geld ausgeben. Herr Kollege
Friedrich, es ehrt Sie, dass Sie sich um die sanierungsbedürftige Brücke in Ihrem Wahlkreis kümmern. Auf der
anderen Seite ist die Zuständigkeit, was die Finanzen betrifft, eindeutig geklärt.
Es ist klar, dass marode Brücken keine Lappalie sind.
Gefahren müssen beseitigt werden. Darüber sind wir uns
sicher einig. Die Frage ist nur, zu wessen Lasten. Diese
Frage wurde durch die entsprechende Veröffentlichung
im Bundesgesetzblatt am 9. September 1998 geklärt.
Leider werden diese Fakten immer wieder vergessen.
Tatsache ist, dass die Gewährleistung der Stand- und
Verkehrssicherheit von Straßenbrücken im Zuge von Gemeindestraßen über Schienenwege allein den Kommunen und nicht dem Bund oder der Bahn obliegt. Eine
Kostendrittelung zwischen Gemeinde als Baulastträger
der Straße, Bahn und Bund findet nur bei Maßnahmen
an Bahnübergängen - an höhengleichen Kreuzungen statt, keinesfalls jedoch bei der Unterhaltung oder Erneuerung von Straßenbrücken.
Es ist klar, dass Sanierungsbedarf besteht. Wir können
uns gerne darüber unterhalten, wie man dieses Problem
lösen kann. Aber ich möchte doch der spürbaren Überdramatisierung des FDP-Antrages etwas die Spitze nehmen
({5})
und einer Panikmache - Kollege Friedrich sprach in den
Medien von „tickenden Zeitbomben“ - entgegenwirken.
({6})
- In den Medien. - Unsere Brücken sind die am besten
geprüften Bauwerke in Deutschland. Sie werden alle
sechs Jahre aufwendig unter die Lupe genommen. Jeweils nach drei Jahren folgt eine Zwischenprüfung, bei
der alle Funktionsteile kontrolliert werden. Alle Brücken
im Zuge von öffentlichen Straßen werden also in regelmäßigen Abständen geprüft. Die entsprechenden Zuständigkeiten sind geklärt.
({7})
Meine Damen und Herren, wir müssen zwei Dinge
unterscheiden.
Nein, Frau Kollegin, es wird schwierig werden, sie zu
unterscheiden, weil Ihre Redezeit das nicht mehr zulässt.
({0})
Herr Präsident, dann lassen Sie mich zum Abschluss
einen letzten Punkt ansprechen. Die Grünen haben den
Netzzustandsbericht angesprochen. Es ist falsch, wenn
sie den Verkehrsminister dafür prügeln, dass dieser Bericht bis jetzt noch nicht erschienen ist. Sie müssen vielmehr auf den Bahnchef Mehdorn einwirken, dass er diesen Netzzustandsbericht endlich abliefert. Wir alle sind
schon gespannt darauf. Bevor der Bahnchef Briefe
schreibt, wäre es besser, er würde sich um den Netzzustandsbericht kümmern. Wenn er vorliegt, können wir
im Ausschuss darüber diskutieren und danach handeln.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich erteile das Wort der Kollegin Heidrun Bluhm,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Sehr geehrter Herr Brückenbauer Friedrich, es war immer eine Hauptforderung meiner Fraktion, die Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland rechtlich und finanziell in die Lage zu versetzen, ihre Aufgaben in der
kommunalen Daseinsvorsorge im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung wahrnehmen zu können.
({0})
Je dringlicher wir diese Forderung stellen, desto schlechter stellt sich aber die Finanzausstattung der Städte und
Gemeinden dar. Allein um diese Situation darzustellen,
würde ich mindestens 60 Minuten brauchen. Sie haben
Glück; ich habe nur vier Minuten Redezeit.
Es ist offensichtlich, dass die schlechte finanzielle
Lage der Kommunen längst kein regionales Problem
mehr, sondern ein gesamtdeutsches Problem ist. Mehr
als die Hälfte aller Landkreise in der Bundesrepublik hat
mittlerweile unausgeglichene Haushalte. Als einziger
Ausweg blieb vielen Städten und Gemeinden nur, ihre
Investitionen drastisch zurückzuführen. Jüngste Angaben der KfW besagen, dass 1999 durch die Kommunen
Investitionen in Höhe von 19 Milliarden Euro, 2004 aber
nur noch in Höhe von 15 Milliarden Euro ausgelöst worden sind. Das ist in fünf Jahren ein Fünftel weniger.
Diese traurigen Zahlen zeigen: Eine verantwortungsvolle kommunale Selbstverwaltung ist zusehends nicht
mehr möglich. Die Folgen für die Bürgerinnen und Bürger werden offensichtlich. Ein Beispiel: Die Gemeinde
Dornburg im Landkreis Köthen in Sachsen-Anhalt hat
2004 auf Grundlage des Eisenbahnkreuzungsgesetzes
für Maßnahmen der Instandsetzung und Modernisierung
einer auf ihrem Territorium gelegenen Bahnanlage
knapp 250 000 Euro erhalten. Der Investitionshaushalt
jedoch umfasst nur ganze 80 000 Euro. Damit war die
Gemeinde zahlungsunfähig.
Ein weiteres Beispiel: die Hauptstadt Schwerin des
Landes Mecklenburg-Vorpommern. Allein für eine Eisenbahnunterführung muss die Gemeinde, entsprechend
dem Drittel der Gesamtsumme, 1,2 Millionen Euro zahlen. Schwerin hat allerdings insgesamt sechs Bahnbaustellen mit finanzieller Beteiligung zu bedienen und einen Investitionshaushalt von insgesamt nur 6 Millionen
Euro, und das auch nur über Kreditgenehmigungen;
denn schon lange zahlen die Kommunen nicht mehr aus
Vermögen, sondern aus Darlehen.
({1})
Nun legt die FDP-Fraktion mit ihrem Antrag die lang
ersehnte Lösung des Problems auf den Tisch. Wie segensreich! Meine Damen und Herren von der FDP, es ist
schon bemerkenswert, dass gerade Sie angesichts dessen, dass Sie sich ansonsten immer auf weniger Staat
und mehr Bürgerverantwortung berufen, noch ein staatliches Sanierungsprogramm auflegen möchten.
({2})
Wie viele Einzelprobleme wollen wir hier, fern von den
Gemeinden, denn noch erfinden? Stilgerecht für Ihre Politik wäre zeitgleich mit der Privatisierung der Deutschen Bahn die Privatisierung der Eisenbahnbrücken.
Damit hätten die Kommunen wirklich ein Problem weniger.
({3})
Wenn plötzlich der FDP-Generalsekretär Dirk Niebel
in der „Bild“-Zeitung mit den Worten zitiert wird, ein
Sonderbauprogramm für kommunale Brückenbauwerke
könne Tausende von Arbeitsplätzen schaffen,
({4})
dann kann ich dazu nur sagen: Die FDP ist herzlich dazu
eingeladen, unser „Zukunftsinvestitionsprogramm Kommunen“ zu unterstützen.
({5})
Ebenso ist die FDP eingeladen, unser Steuerkonzept zu
unterstützen,
({6})
das den öffentlichen Haushalten mehr als 60 Milliarden
Euro Steuereinnahmen bringen würde.
({7})
Das brächte noch mehr Arbeitsplätze. Ich kann nur hoffen, dass hier nicht auf Kosten der Kommunen Anträge
für die Tribüne gestellt werden.
({8})
Warum machen wir es so kompliziert? Viel einfacher
wäre eine Änderung des Eisenbahnkreuzungsgesetzes,
das nach dem Verursacherprinzip auch die Kostenbeteiligung regelt,
({9})
und zwar nach dem Sprichwort: „Wer die Musik bestellt,
bezahlt.“ Sie könnten die Milliarden nicht abgerufener
Bundesmittel direkt an die Bahn weitergeben und diese
finanziert dann allein. Die Kommunen würden sich
freuen.
({10})
Nicht nur Eisenbahnkreuzungen, sondern auch Eisenbahnübergänge und Lichtsignalanlagen unterliegen dem
Finanzierungszwang. Die in § 13 des Eisenbahnkreuzungsgesetzes festgelegte Drittelung der Kosten bei
Bahnanlagen überfordert die meisten Kommunen schon
jetzt, wie ich bereits vorhin dargestellt habe. Diese Anlagen würden nach dem vorliegenden Antrag nicht einmal
in die Förderung fallen.
({11})
Im Übrigen beweist Ihr Antrag eine ungenaue Analyse und eine geringe Vor-Ort-Kenntnis und ist damit nur
ein oberflächliches Papier.
({12})
Ihr auffällig neues, quantitativ geprägtes Engagement im
Hinblick auf die Lage der Kommunen in Deutschland
führt so jedenfalls nicht zu neuer Qualität. Ihrem Antrag
fehlt jegliche Zahlenbasis. Wir können nur vermuten,
dass Sie sich in Ihrem Antrag auf Eisenbahnbrücken beziehen. Aber vielleicht wollen Sie ja auch Fußgänger-,
Fahrrad- oder gar Froschbrücken fördern.
({13})
Mit diesem Antrag jedenfalls fördern Sie weiter die
Bevormundung der Kommunen und nicht die kommunale Selbstverwaltung. Die Bürgermeister wissen selbst
sehr genau, wo ihre Investitionsdefizite liegen. Lassen
wir sie doch bitte selbst bestimmen, wann sie eine Brücke, eine Schule oder ein Krankenhaus sanieren wollen
und müssen. Dazu bedarf es eines kommunalen Investitionsprogramms und keines weiteren Brückensanierungsprogramms.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion,
dennoch werden wir nach ausführlicher Bearbeitung Ihres Antrages in den Ausschüssen diesem wahrscheinlich
doch zustimmen,
({15})
jedoch nur aus einem Grund: Jeder Euro, der zusätzlich
in den Gemeinden ankommt, ist in der derzeitigen Lage
der Kommunen gut angelegtes Geld.
Danke schön.
({16})
Frau Kollegin Bluhm, ich gratuliere Ihnen herzlich zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag und wünsche
für die weitere Arbeit alles Gute.
({0})
Das Wort hat nun die Kollegin Rita SchwarzelührSutter für die SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Der Dacheinsturz in Bad Reichenhall
war tragisch und ein furchtbares Unglück. Die Serie der
Dacheinstürze scheint nicht abzureißen. Wir sollten
nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, sondern über
Konsequenzen nachdenken. Ein Antrag wie der der FDP
nutzt allerdings wenig; vielmehr handelt es sich bei ihm
um bloßen populistischen Aktionismus.
({0})
Was wir brauchen, sind durchdachte, nachhaltige Konzepte, keine Schnellschüsse.
({1})
Im Zusammenhang mit der Neuordnung des Eisenbahnwesens, sprich: Bahnreform, wurde auch das Eisenbahnkreuzungsgesetz neu gefasst. Die Frage, wer welche
Kosten zu tragen hat, ist abhängig von der Art der Eisenbahnkreuzung. Sie wissen:
({2})
Bei so genannten höhengleichen Kreuzungen, Herr Kollege, gibt es eine Kostendrittelung zwischen der Gemeinde als Baulastträger der Straße, der Bahn und dem
Bund. Die Kostendrittelung gibt es nicht für die Unterhaltung und Erneuerung von Straßenbrücken; für die Erhaltung von Kreuzungsbauwerken sind die Kosten von
dem Baulastträger zu tragen, dessen Verkehrsweg über
das Bauwerk geführt wird. Sie wissen: Es ist zu unterscheiden zwischen einer Eisenbahnüberführung, also
Schiene über Straße - hier trägt der Baulastträger
Schiene allein die Kosten -, und einer Straßenüberführung, also Straße über Schiene; hier trägt die Kosten allein der Straßenbaulastträger.
({3})
In den alten Bundesländern sind mit der Änderung
des Eisenbahnkreuzungsgesetzes seit 1994 alle Überführungen von kommunalen Straßen über Eisenbahnanlagen endgültig auf die zuständigen Gemeinden
und Städte übergegangen.
Herr Friedrich, Sie wussten, dass der ordnungsgemäße Zustand damals von der Bahn hergestellt werden
musste und dass die Bahn dafür einzustehen hatte.
({4})
In den neuen Ländern lag die Pflicht zur Erhaltung der
Straßenüberführungen schon immer bei den Straßenbaulastträgern. Im Übrigen ist keine Kommune bekannt, die
das Übergabeprotokoll nicht unterzeichnet hätte.
({5})
Die Kommunen sind somit für die Erhaltung, Pflege
und Sanierung von kommunalen Straßenüberführungen
allein zuständig, nicht die Bahn, nicht der Bund. Alle
Brücken werden in regelmäßigen zeitlichen Abständen
überprüft. Die Prüfung und Durchführung der Sanierung
bei Brücken, die zu Kommunalstraßen gehören, obliegt
den Kommunen.
({6})
Berichte über diese Prüfungen liegen dem Bund nicht
vor. Aber dafür gibt es Spekulationen, Herr Friedrich.
Die „gefühlte“ Anzahl der einsturzgefährdeten Brücken
liegt bei Ihnen zwischen 1 000 und 2 000. Es gibt Kollegen - auch Frau Blank hat es schon festgestellt -, die
von tickenden Zeitbomben sprechen.
({7})
Sie fordern zugleich Finanzhilfen für Kommunen, die
die Sanierung nicht aus eigener Kraft bezahlen können.
Natürlich wissen wir alle, dass die Haushaltslage der
Kommunen angespannt ist.
({8})
Dies allein kann aber nicht Motivation dafür sein, dass
der Bund für die Kommunen einspringt.
({9})
Im Übrigen unterstützt der Bund schon heute die
Kommunen beim Bau und Ausbau von Kreuzungsmaßnahmen über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Unbeschrankte Bahnübergänge konnten zum Beispiel sicherer gemacht werden. Von den insgesamt
1,6 Milliarden Euro GVFG-Mitteln aus dem Jahr 2004
sind 20 Prozent ins Bundesprogramm und 80 Prozent in
Länderprogramme geflossen. Kreuzungsmaßnahmen
nach dem Eisenbahnkreuzungsgesetz sind förderungsfähig nach GVFG, soweit Gemeinden und Kreise als Baulastträger der kreuzenden Straße Kostenanteile zu tragen
haben. Aus diesen Finanzhilfen des Bundes können die
Länder bis zu 75 Prozent der zuwendungsfähigen Kosten dieser Kreuzungsmaßnahmen fördern.
Sie wissen ebenfalls: Der Bund kann nach Art. 104 a
Abs. 4 des Grundgesetzes
den Ländern Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen der ... Gemeinden ... gewähren,
die zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts oder zum Ausgleich
unterschiedlicher Wirtschaftskraft ... oder zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums erforderlich sind.
Von dieser Möglichkeit hat der Bund 1998 Gebrauch gemacht und den ostdeutschen Kommunen über
250 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Diese Regelung bezweckte eine finanzielle Gleichbehandlung mit
den westdeutschen Kommunen. Das Programm lief bis
2003. Das war wirklich ein Sonderprogramm und ich
denke, es ist unstrittig.
Nach Art. 104 a Abs. 1 des Grundgesetzes haben
Bund und Länder - und damit auch die Kommunen - die
sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergebenden
Ausgaben zu tragen. Heute sind die Haushaltsvolumina
aller öffentlichen Hände knapp und begrenzt. Die Finanzierung der Aufgaben fällt schwer. Trotzdem bin ich
der Meinung, dass wir nicht auf der einen Seite in der
Föderalismuskommission die Aufgaben der staatlichen
Ebenen ordnen und auf der anderen Seite die Finanzierung, wenn es gerade mal nicht anders geht, dem Bund
aufbürden können.
({10})
Mit der Zuteilung von Aufgaben ist die Finanzverantwortung untrennbar verbunden. Mit der gleichen Logik
könnten die Kommunen monieren, dass die Kindergärten sanierungsbedürftig seien, und schon würde die FDP
ein Sonderprogramm „Kindergartensanierung“ auflegen.
Stünde die Schließung von Schwimmhallen an, würde
die FDP ein „Schwimmhallensanierungsprogramm“ auflegen. Diese Liste könnte man wahrscheinlich unendlich
fortsetzen: Schulen, Krankenhäuser, Sportstätten usw.
Ich möchte überhaupt nicht die Notwendigkeit und
Dringlichkeit der Sanierungsarbeiten infrage stellen. Ich
verwahre mich lediglich gegen die Verschiebung von Finanzverantwortung.
({11})
- Darauf komme ich, Herr Friedrich. - Es bringt nichts,
ein Sonderprogramm nach dem anderen zu starten;
vielmehr müssen die Kommunen auch zukünftig eine solide finanzielle Basis haben.
({12})
Mit der Fortentwicklung der Unternehmensbesteuerung und der Gewerbesteuer werden wir sie zukünftig
auf diese solide Basis stellen.
({13})
Die finanzielle Handlungsfähigkeit muss langfristig gewährleistet sein.
({14})
In Ihrem Antrag schlagen Sie vor, dass die nicht abgerufenen Mittel der DB AG in dieses Sonderprogramm
fließen sollen. Vielleicht hätten Sie besser Ihre Haushaltsexperten befragt, diese hätten Ihnen nämlich erklärt,
dass im Bundeshaushalt für Schienenwegeinvestitionen
vorgesehene Mittel zweckgebunden sind und deshalb
nicht zur Unterstützung der Kommunen eingesetzt werden können. Im Übrigen werden die Mittel weitgehend
im Rahmen haushaltsrechtlich zulässiger Umschichtungen für Investitionsmaßnahmen anderer Verkehrsträger
eingesetzt.
Die Erhaltung der Sicherheit, Funktionsfähigkeit und
Dauerhaftigkeit hat für alle Baulastträger oberste Priorität. Wesentliche Voraussetzungen hierfür sind die regelmäßige Prüfung der Bauwerke, die zeitnahe Beseitigung der bei den Prüfungen festgestellten Schäden und
Schwachstellen und die Zurverfügungstellung ausreichender Erhaltungsmittel.
Im Bundesverkehrswegeplan der rot-grünen Regierung aus 2003 ist deshalb der Anteil an Erhaltungsmitteln für alle Verkehrsträger deutlich erhöht worden. Der
Anteil der Sanierungsmittel über alle Verkehrsträger ist
mit 56 Prozent deutlich gestiegen. Für den Zeitraum bis
2015 sind allein für Investitionen zur Erhaltung des Bestandsnetzes der Bundesfernstraßen 37,7 Milliarden
Euro veranschlagt, wobei der Anteil zur Erhaltung der
Bauwerke rund 15 bis 35 Prozent beträgt.
Die Regierungskoalition hat sich außerdem darauf geeinigt, die Mittel für die Verkehrsinvestitionen um zusätzlich 4,3 Milliarden Euro zu erhöhen. Dazu sind in
2006 insgesamt circa 9,1 Milliarden Euro vorgesehen. In
den Folgejahren werden die Investitionen bei rund
9 Milliarden Euro verstetigt.
({15})
Damit liegt das Volumen jährlich rund 1 Milliarde Euro
über dem geltenden Finanzplan, Herr Friedrich.
Die zusätzlichen Mittel kommen allen drei Verkehrsträgern - Schiene, Straße und Wasserstraße - zugute.
Der Schwerpunkt liegt auch hier auf den Erhaltungsmaßnahmen im Bestand. Die Ansätze für die Erhaltung werden wieder gestärkt.
({16})
Die Umschichtung zulasten der Erhaltung kann bis 2009
abgebaut werden. Die Grünen brauchen sich also keine
Sorgen zu machen. Wir werden auch in der großen Koalition den nachhaltigen Ansatz des Bundesverkehrswegeplans fortsetzen.
({17})
Deutschland verfügt über eines der besten Straßennetze in Europa. Die Erhaltung der Straßen und Brücken
hat Vorrang; denn die Erhaltung der Mobilität ist eine
wesentliche Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum und Beschäftigung sowie ein wichtiger Beitrag zur
Lebensqualität der Bürger.
Danke.
({18})
Frau Kollegin, ich gratuliere auch Ihnen herzlich zu
Ihrer ersten Rede,
({0})
die beinahe mit einer Punktlandung bezüglich der Einhaltung der Redezeit zu Ende gegangen wäre.
({1})
Wenn Ihnen das bei all Ihren folgenden Reden ähnlich
gut gelingen wird, werden Sie eines der beliebtesten
Mitglieder im Deutschen Bundestag.
({2})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält der
Kollege Dr. Anton Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen,
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Jeder, der ein Haus baut, weiß, dass
er es auch erhalten muss. Nur die öffentliche Hand in
Deutschland weiß so etwas anscheinend nicht. Seit Jahrzehnten wird die Infrastruktur ausgebaut. Aber was hält
mit dem Infrastrukturnetz nicht mit? Die Haushalte für
die Sanierung.
In der Vergangenheit haben wir einiges erreicht. Es
gab Anstrengungen bei der Modernisierung der Schiene.
Der Modernisierungsgrad der Schiene ist von 64 Prozent
auf 68 Prozent gestiegen. Trotzdem gibt es im Infrastrukturbereich insgesamt einen erheblichen Sanierungsbedarf.
({0})
Beispielsweise sind 12 Prozent aller Brücken des Bundes in kritischem Zustand. Der Zustand der Brücken der
Kommunen ist noch schlechter. Der Beitrag der FDP ist
deshalb ein wichtiger Hinweis;
({1})
aber er reicht bei weitem nicht aus.
({2})
Denn auch die übrige Verkehrsinfrastruktur wurde
über Jahrzehnte vernachlässigt. Über den Zustand des
Schienennetzes reden wir besser erst gar nicht. Das
Aufschieben von nötigen Instandhaltungsmaßnahmen
ist, wenn man es genau nimmt, nichts weiter als in die
Zukunft verlagerte Staatsverschuldung und deshalb unter dem Aspekt der Generationengerechtigkeit mehr als
kritisch zu sehen.
({3})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der großen
Koalition, ich kann ja verstehen, dass die vielen direkt
gewählten Abgeordneten dieser Koalition lieber im
Wahlkreis rote Bändchen für neue Projekte durchschneiden, als dass sie sich dafür einsetzen, dass Geld für die
Sanierung der bestehenden Projekte bereitgestellt wird.
({4})
Ich kann Sie voll und ganz verstehen.
Sehr geschätzte Kollegin Blank, Sie haben angemerkt, dass die Grünen auf einmal eine neue Position
zum Thema Straße hätten. Ich glaube, Ihnen sind die Anträge vieler grüner Landtagsfraktionen - ich erwähne nur
die grüne Landtagsfraktion in Bayern; auch Sie kommen
von dort - nicht bekannt, in denen gefordert wird, dass
im Haushalt die Gelder für die Sanierung der Straßen
erhöht werden. Wir haben jedoch immer beantragt, die
Gelder für unnötige Neubaumaßnahmen, die dann auch
erhalten werden müssen, zu kürzen. Schauen Sie sich
einmal die Drucksachen des Bayerischen Landtags an.
Das kann erhellend sein.
({5})
Wir haben in diesem Zusammenhang fünf Forderungen gestellt:
Erstens. Die zusätzlichen 4,3 Milliarden Euro müssen
komplett für die Sanierung eingestellt werden.
Zweitens. Die Umwidmung von Mitteln für die Sanierung zu Neubaumitteln - das machen die Länder gern - ist
zu unterbinden.
Drittens. Der Bericht über den Zustand des Schienennetzes ist endlich vorzulegen.
({6})
Dies wird oft nur auf Herrn Mehdorn abgeschoben. Man
mag ja Recht haben, wenn man sagt, dass Herr Mehdorn
nicht unbedingt den besten Job macht. Aber die Verwaltung könnte auf dieses zu 100 Prozent im Bundesbesitz
befindliche Unternehmen etwas Druck ausüben. Das
könnte nicht schaden.
({7})
Viertens ist vielleicht noch anzumerken, dass es nicht
hilft, wenn wir uns hier im Hohen Haus darauf einigen,
möglichst viele Haushaltsmittel für bestimmte Posten
zur Verfügung zu stellen. Dieses Geld muss vernünftig
ausgegeben werden.
Deshalb lautet unsere fünfte Forderung, darauf zu
achten, dass die DB AG das Geld effektiv und effizient
einsetzt.
({8})
Ich freue mich schon auf die Beratungen über den
Haushalt. Ich bin gespannt auf die Argumente der Kolleginnen und Kollegen der großen Koalition.
Ich danke.
({9})
Herzlichen Glückwunsch, Herr Kollege Hofreiter, zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag,
({0})
aus deren Anlass die eigene Fraktion nahezu vollzählig
angetreten ist, was festgehalten zu werden verdient.
({1})
Alles Gute für die weitere Arbeit.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/261 und 16/553 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit
Präsident Dr. Norbert Lammert
sind Sie bestimmt einverstanden. - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Beitrag der deutschen Politik zur Deeskalation
des Konfliktes um den Karikaturenstreit
Ich weise darauf hin, dass die Debattenbeiträge nach
unserer Geschäftsordnung nicht ungefähr fünf Minuten,
sondern nicht länger als fünf Minuten lang sein dürfen.
({2})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Fritz Kuhn für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil wir finden,
dass auch der Deutsche Bundestag seinen Beitrag leisten
muss, damit wir angesichts des Karikaturenstreits nicht
in einen Kampf der Kulturen geraten, sondern eine Deeskalation der schwierigen Situation erreichen.
({0})
Ganz herzlich begrüße ich auch die Vertreter islamischer Verbände in Deutschland, die dieser Debatte zuhören. Es ist richtig, auch auf diese Art und Weise ein Zeichen zu setzen.
({1})
Der erste wichtige Punkt ist für uns ein klares Bekenntnis zur Meinungsfreiheit, für die wir einstehen. Die
Meinungsfreiheit ist nicht irgendetwas, sondern sie ist
zentral und konstituierend für die Demokratie.
({2})
Nur durch Meinungsfreiheit ist Demokratie, also das
Verleihen von Herrschaft auf Zeit, überhaupt denkbar.
Deswegen sagen wir ganz klar: An der Meinungsfreiheit, wie sie in den europäischen Demokratien und in
Demokratien überhaupt existiert, können und wollen wir
nicht rütteln. Niemand darf an ihr rütteln.
({3})
Mein zweiter Punkt. Freiheit impliziert immer auch
Verantwortung. Angesicht der Karikaturen, die in dänischen Zeitungen veröffentlicht wurden, und angesichts
dessen, was von diesen Zeichnungen abgesehen geschehen ist - dazu gehört auch, dass in Dänemark lange gewartet worden ist, bis man vernünftig reagiert hat -,
stellt sich natürlich die Frage, ob hier verantwortlich gehandelt wurde. Ich sage ganz klar: Wer den Propheten
Mohammed in einer Zeichnung mit einem Terroristen
gleichsetzt, der beleidigt vor allem und in erster Linie
die vielen Muslime, die auch in Europa gewaltfrei leben
und die Anwendung von Gewalt ablehnen. Deswegen
sind diese Zeichnungen zum Teil rassistisch und auch
gefährlich. Das ist Missbrauch von Verantwortung.
({4})
Dennoch - das ist mein dritter Punkt - gilt die Meinungsfreiheit. Diese Spannung auszuhalten, ist meines
Erachtens in dieser Debatte das eigentliche Problem. Wir
müssen dafür werben, diese Spannung auszuhalten. Natürlich kann man gegen einen solchen Unsinn, wie er in
Dänemark geschehen ist, protestieren. Aber dieser Protest berechtigt nicht zur Anwendung von Gewalt: weder
wenn sie von Einzelnen noch - das erst recht nicht wenn sie von korrupten und undemokratischen Regimen
ausgeht, die, um ihre innere Stabilität aufrechtzuerhalten, versuchen, diese Karikaturen für ihre Interessen zu
instrumentalisieren.
({5})
Für uns, das Bündnis 90/Die Grünen, ist eines wichtig: Wenn wir als Deutscher Bundestag und als deutsche
Öffentlichkeit einen Beitrag zur Deeskalation leisten
wollen, dann ist dies die Stunde des Dialogs und der Verständigung, nicht aber die Stunde derer, die den Muslimen jetzt einmal zeigen wollen, wo der Hammer hängt.
Diese Haltung, die in der öffentlichen Diskussion in
Deutschland zum Teil eine Rolle gespielt hat, lehnen wir
ab; denn so kann kein Dialog stattfinden. Deswegen geht
es jetzt auch nicht darum, ob Botschaften geschlossen
werden. Man kann nicht, wie es Herr Schockenhoff von
der CDU getan hat, am Vormittag in einem Interview in
der „Welt“ sagen, dass Botschaften geschlossen werden
sollten, und am Nachmittag darauf hinweisen, dass man
einen Dialog führen will;
({6})
denn auch für einen solchen Dialog sind diplomatische
Beziehungen und Botschaften von Bedeutung.
({7})
Dies ist also nicht die Stunde des Winkens mit Fahrkarten, wie in Baden-Württemberg geschehen. Es geht
nicht darum, einen „Islamtest“ durchzuführen, sondern
es geht um einen echten Dialog. Das bedeutet für beide
Seiten vor allem, die Perspektive des Gegenübers einzunehmen und sich zu fragen: Was denken die anderen
über mich und was denke ich über die anderen? Einen
Dialog auszurufen, ist wohlfeil. Aber man muss auch bereit sein, eine andere Perspektive einzunehmen, und zum
Beispiel müssen die Angehörigen der islamischen Religionsgemeinschaften verstehen: Die klare Trennung von
Kirche und Staat, die in unserer Kultur besteht, hat uns
als ein evolutionärer, historischer Prozess der Aufklärung Frieden und Freiheit gebracht. Wir müssen, damit
wir diesen Dialog ernsthaft führen können, aber auch
verstehen, was Muslime beleidigen kann.
({8})
Deswegen muss Schluss sein mit Eskalationen. Ich will
das ganz einfach sagen: Wer Öl ins Feuer gießt, kann
sich nicht über das Feuer beschweren. Das gilt für alle,
egal auf welcher Seite jemand steht.
({9})
Letzter Punkt: eine Bemerkung zu Dänemark. Ich
finde, was manche Konzerne gemacht haben - sich zu
distanzieren, sie kämen nicht aus Dänemark, sondern aus
der Schweiz -, verdient unsere Verachtung.
({10})
Wir haben den Boykott gegenüber Dänemark zu kritisieren. Von der Bundesregierung will ich dabei klipp und
klar wissen, welche Bemühungen unternommen worden
sind, zu einer geschlossenen Haltung der EU zu kommen. Jetzt wegzutauchen und lediglich einzelne Kommissare Stellung nehmen zu lassen, wird nicht genügen.
Allerletzter Punkt, Herr Präsident. Wenn alle in
Deutschland im Karikaturenstreit zusammenstehen - die
Religionsgemeinschaften, aber auch die Nichtgläubigen;
die Deutschen, aber auch die Nichtdeutschen -, dann
werden wir eine positive Integration in Deutschland
schaffen. Dazu ist wichtig, dass sich so etwas wie ein
europäischer Islam entwickeln kann. Zum Beispiel gab
es auf dem Balkan sehr positive Stimmen von islamischen Gläubigen, die deeskalierend gewirkt haben. Das
hat übrigens den Hintergrund, dass die Trennung von
Kirche und Staat dort etablierter, normaler ist. Eine
Schlüsselrolle kommt dabei der Türkei zu, nicht in dem
Sinne, wie man heute von Herrn Ramsauer von der CSU
lesen konnte, dass die Türkei jetzt zeigen solle, ob sie für
einen Beitritt zur EU bereit sei. Beim EU-Beitritt geht es
vielmehr um die Frage, ob es einen europäischen Islam
geben kann, der in den Konflikten, die möglicherweise
vor uns liegen, eine zentrale, vermittelnde Rolle einnehmen kann.
Herr Kollege!
Ich bin froh, dass die türkische Regierung dies angegangen ist und dass wir da ein Stück weiter gekommen
sind.
Damit komme ich zum Schluss.
({0})
Nein.
Ich hoffe, dass diese Diskussion einen Beitrag zur Deeskalation leistet.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Herr Kollege Kuhn, Sie schätzen meine Aufgeschlossenheit gegenüber der Opposition zutreffend ein, aber
meine Gestaltungsmöglichkeiten müssen sich immer im
Rahmen der Geschäftsordnung bewegen.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Freiherr zu
Guttenberg für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe großen Respekt vor der religiösen Dimension der Debatte, die wir heute führen, aber umso
weniger vor der gezielten politischen Instrumentalisierung ihrer Inhalte, egal in welchen Regionen der Welt.
({0})
Das hohe und zu verteidigende Grundrecht der Pressefreiheit ringt gelegentlich mit dem Verstand, vielleicht
auch mit der Intelligenz derer, die sich auf sie berufen;
das ist richtig. Auch bedeutet die Rücksichtnahme auf
die Empfindungen anderer noch nicht zwangsläufig eine
Einschränkung der Pressefreiheit. Zwei Dinge stehen allerdings unverrückbar fest: Gewalttätige Reaktionen
- auf Karikaturen wohlgemerkt - und der Aufruf zu solchen sind auf das Schärfste zu verurteilen und für uns in
jeglicher Hinsicht inakzeptabel.
({1})
Ein Zweites - das klang mir bei dem ersten Redebeitrag ein bisschen zu wenig durch -: Toleranz und Respekt
vor religiösen Gefühlen, Symbolen und Einrichtungen
sind keine Einbahnstraße.
({2})
Weshalb sollte dieser Anspruch nicht auch in der islamischen Welt vollständige Geltungskraft entfalten?
({3})
Nun wird von europäischen Regierungen, insbesondere von Dänemark, mit aller Vehemenz gefordert, sich
für die Äußerungen ihrer freien Presse zu entschuldigen,
ja sogar, die jeweiligen Verantwortlichen zu bestrafen.
Das ist der für mich nicht hinnehmbare Versuch Einzelner - ich betone: Einzelner -, uns zur Aufgabe wesentlicher Grundsätze unseres Wertesystems zu zwingen. Wir
müssen aufpassen, dass wir uns darauf nicht einlassen.
({4})
Je nachgiebiger wir uns gegenüber diesem Verlangen
zeigen, desto mehr laufen wir Gefahr, den gewachsenen
Kernbereich unserer Freiheit zu beschädigen.
({5})
Auch dürfen wir Dänemark angesichts der Forderungen Einzelner und angesichts der Boykottaufrufe, die
wir zurzeit aus dem Iran hören, nicht nur halbherzig zur
Seite stehen. Dänemark muss sich unserer Solidarität
und unserer Unterstützung in dieser Sache sicher sein
können.
({6})
Die nicht islamische Welt - dazu zählen wir - darf
sich aus ihrem eigenen Selbstverständnis heraus weder
moralisch noch tatsächlich in eine Art Kollektivhaft für
das Verhalten einzelner Zeitungen nehmen lassen. Es
scheint für einige hier die große Stunde Huntingtons zu
sein. Das ist sie - darin stimme ich Ihnen zu, Herr Kuhn selbstverständlich nicht. Wir stehen nicht vor einem
Kampf der Kulturen.
({7})
Denn das würde bedeuten, dass sich die so genannte islamische Kultur und die so genannte westliche Kultur unvereinbar gegenüberstünden. Angesichts der derzeitigen
Gegebenheiten würde das letztlich heißen, islamistische
Gewaltreaktionen, Regime, die diese Debatte bewusst
ausnutzen, in die Nähe eines übergeordneten Kulturbegriffs zu rücken. Das dient weder unserer Kultur noch
der eigentlichen islamischen Kultur. Das muss einmal
festgestellt werden.
({8})
Was bedeutet das letztlich für unsere politischen
Grundsätze? Ja zur Dialogbereitschaft, da stimme ich Ihnen zu, Kollege Kuhn. Wir müssen uns auch bewusst
sein, dass keine Konfliktlinie, keine apodiktische Trennlinie zwischen westlicher und islamischer Welt verläuft.
Die eigentliche, die bestimmende Konfliktlinie verläuft
zwischen denjenigen, die Terrorismus, Hass und Intoleranz das Wort reden, und denjenigen - egal welcher Religion -, die sich für Menschenrechte, für Rechtsstaatlichkeit und für Meinungsvielfalt einsetzen.
({9})
Auf Letzteres können wir uns mit einigem Stolz berufen.
Meine Damen und Herren, der bei weitem härteste
Gegner von Fundamentalismus sind die beherrschten
Demokraten, im Zweifel also wir selbst, solche, die ungerührt ihre Rechts- und Zivilisationsgrundsätze zu leben wissen, auch vorzuleben wissen. Was ist der Anspruch, der für uns daraus rührt? Selbstverständlich
Dialog, aber nicht mit dem alleinigen Maßstab wiederholter Rechtfertigung für das, was uns ausmacht, sondern vielleicht auch einmal mit dem Maßstab von Selbstbewusstsein.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Analysieren wir, was geschehen ist. Eine dänische Zeitung hat
Karikaturen aus einem Wettbewerb heraus veröffentlicht.
({0})
Manche sind gelungen, manche weniger, manche sind
gründlich misslungen. Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass sich Muslime davon bedrängt und tief verletzt
fühlen. Ob das allen Beteiligten von Anfang an so klar
war, lasse ich dahingestellt sein. Wir haben das zu
respektieren. Wir dürfen aber sagen, dass Verletzlichkeit
nicht dazu veranlassen darf, Mittel in Bewegung zu setzen, die wir weltweit im Zusammenleben von Staaten
und Menschen nicht sehen wollen. Es gibt keine Verletzlichkeit, die dazu führen darf, Maßstäbe zu verletzen.
Dies ist in der Nachfolge krass geschehen.
({1})
Das sage ich, da muslimische Gäste auf der Tribüne
sind, auch deshalb, weil das auch andere Religionsgemeinschaften betrifft. Ich kenne laute Aufschreie und
große Proteste katholischer und evangelischer Christen
in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik nach
Veröffentlichungen. Erinnern wir uns an 1962, an den
Artikel „Brennt in der Hölle wirklich ein Feuer?“ im
„Stern“ von Bucerius. Es gab einen scharfen öffentlichen
Protest der Christen.
Auch wir, die wir ein christliches Bekenntnis abgelegt
haben, mussten hinnehmen, dass wir gelegentlich die
Schärfe der Pressefreiheit akzeptieren müssen und dass
sich der Protest in Bahnen bewegen muss, die aufgeklärten Gesellschaften angemessen sind. Das müssen auch
die muslimischen Glaubensgemeinschaften lernen. Sie
müssen gelegentlich die Schärfe der Pressefreiheit ertragen. Sie können uns wissen lassen, dass wir hätten sehen
müssen, dass sie sich verletzt fühlen, aber sie müssen
sich jetzt auch selbst herausgefordert fühlen, und politische Führungen in vielen Ländern müssen die Menschen
darauf hinweisen, dass nicht eine Religion Deutungshoheit über alles hat. Das ist der Kern der Debatte, die jetzt
stattfindet.
({2})
Ein gutes Beispiel für das friedliche Zusammenleben
haben gestern zwei Chefredakteure von Zeitungen gegeben. Es waren Kai Diekmann von der „Bild“-Zeitung
und sein Kollege von der „Hürriyet“, Ertugrul Özkök.
Beide haben natürlich auch gesehen, dass es längst nicht
mehr allein um die Karikaturen in einer dänischen Zeitung geht. Es geht im Kern um die Frage, ob Menschen
die Geltendmachung der Verletzung ihrer Würde als
Mittel eines Protestes anwenden dürfen, der jedes Maß
überschritten hat. Für mich geht es im Kern auch darum,
ob das Ganze dazu führen kann, dass wir in unseren Gesellschaften eine Diskussion beginnen, die zu einer Art
Selbstzensur führt. Dazu bin ich als freier Demokrat
nicht bereit.
({3})
John Stuart Mill hat in seinem berühmten Essay über
die Freiheit geschrieben, dass es bei der Freiheit nicht
nur um den Kampf gegen Willkür und auch nicht nur um
den Kampf gegen in einer Gesellschaft vorherrschende
Meinungen und Gefühle geht, die Andersdenkenden mit
anderen Mitteln als der Überzeugung aufgezwungen
werden sollen. Betroffenheit zur Kenntnis zu nehmen
und sich zu einer Überprüfung herausgefordert zu fühlen, ob eine richtige Abwägung vorgenommen worden
ist - das ist immer richtig.
Jede Religion hat ihre eigene Würde, keine hat ein
Deutungsmonopol. Das hat Heribert Prantl in dieser Woche in einem Kommentar so treffend beschrieben, dass
es niemand von uns besser ausdrücken könnte. Er
schreibt:
Wenn eine Religion allumfassend ist, wenn sie die
Trennung zwischen Recht und Moral nicht vollzieht,
wenn sie alles, was ihre Sitten verletzt, als Schmähung verfolgt sehen will, dann macht sie ihre religiöse
Ordnung zur weltlichen. Ein säkularisierter, demokratischer Staat kann das nicht akzeptieren …
Pressefreiheit wäre dann kein Grundrecht mehr, sondern
ein Gnadenrecht.
({4})
Das ist der Kern, über den hier gesprochen werden muss
und den wir im Dialog der Kulturen in aller Freiheit
auch unseren muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Deutschland - er gilt aber natürlich auch für andere - mitteilen können. Sie können ihn akzeptieren. Wir
sind nicht zum Schweigen über unseren eigenen Standort verpflichtet, nur weil andere sagen, sie fühlten sich
dadurch verletzt. Zu einem offenen Dialog gehört die
Wahrheit bei der Mitteilung des jeweiligen Standortes.
Ich will mit dem Hinweis schließen, dass der Chefredakteur einer jordanischen Zeitung, der in einem Artikel
„Muslime, seid vernünftig“ geschrieben und gefragt hat,
was für größere Vorurteile gegen den Islam sorge, diese
Karikaturen oder die Bilder von Entführern, die ihre Opfer vor laufender Kamera abstechen würden, bzw. ein
Selbstmordattentäter, der sich auf einer Hochzeitsfeier in
Amman in die Luft sprenge, in dieser aufgewühlten Welt
nicht als ein Mann der Besinnung und des Maßes zur
Kenntnis genommen, sondern entlassen und verhaftet
worden ist.
Wir sagen den Muslimen in aller Welt: Sie selbst sorgen für das Ansehen ihrer Religionsgemeinschaft. Wir
haben ein massives Interesse, mit ihnen in einem friedlichen Dialog zu leben, was wir in Deutschland und im
Übrigen auch unsere dänischen Nachbarn zeigen. Aber
sie selbst haben die Verantwortung für diese Grenzüberschreitungen, die für uns unerträglich sind und die unterbleiben sollten.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Niels Annen für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Bilder der letzten Tagen aus dem Nahen Osten bewegen die Menschen überall auf der Welt. In der
Tat fühlen sich viele Menschen in ihren religiösen Überzeugungen tief getroffen. Ich will offen sagen, dass ich
nicht den Eindruck habe, dass eine Debatte mit Fünf-Minuten-Beiträgen der angemessene Rahmen ist, um dieses
komplexe Thema miteinander zu diskutieren.
({0})
Ich will deswegen für die SPD-Fraktion sagen, dass wir
uns dafür einsetzen werden, in angemessener Zeit eine
vernünftige Auseinandersetzung über dieses Thema in
diesem Hause zu führen und den Dialog fortzusetzen.
Wir werden dafür einen Antrag vorbereiten.
({1})
Massenhafte Demonstrationen, brennende dänische
Fahnen und in Flammen aufgehende europäische Botschaften scheinen für einige Menschen in diesem Land
der Beleg dafür zu sein, dass der Graben zwischen der
islamisch und der christlich geprägten Welt unüberwindbar ist. Viele Menschen stehen in der Tat ratlos vor der
sich manchmal grotesk zuspitzenden Auseinandersetzung. Natürlich ist es dann leicht und auch verführerisch,
nach einfachen Erklärungen zu suchen. Aber wir wissen:
Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema
kann uns dies nicht ersparen.
Es ist unsere Aufgabe - davon bin ich überzeugt -,
auch hier im Deutschen Bundestag zur Deeskalation beizutragen. Wir müssen die Lage beruhigen und nach den
Ursachen der Geschehnisse fragen. Wir müssen demokratische Grundwerte und demokratisches Handeln entschieden verteidigen und darüber hinaus den Dialog wagen, anstatt - da stimme ich Ihnen zu, Kollege
Guttenberg - den Kampf der Kulturen herbeizureden.
({2})
Wenn Fundamentalisten die aufgeheizte Situation für
ihre politischen Ziele missbrauchen, dann dürfen wir ihrem Kalkül nicht aufsitzen. Deswegen finde ich Forderungen nach einem Boykott oder dem Abbruch von
diplomatischen Beziehungen an dieser Stelle kontraproduktiv; das will ich offen sagen.
({3})
Unsere Aufgabe ist es vielmehr, wieder Rationalität in
die Auseinandersetzung zu bringen, nicht, die Stimmung
aufzuheizen. Es lohnt die Mühe, sich die derzeitige Situation genauer anzusehen. Es gibt einen Unterschied zwischen ehrlicher, religiös empfundener Empörung und
gezielt geschürter Gewalt. Die gewaltsamen, erschreckenden Auseinandersetzungen der letzten Tage sind
zum Teil gut organisiert und inszeniert. Wir dürfen jedoch nicht den Fehler machen, die gewalttätigen
Demonstrationen mit der islamischen Welt gleichzusetzen.
({4})
Die übergroße Mehrheit der Muslime lehnt diese Exzesse entschieden ab. Es ist doch interessant, dass es säkulare Regierungen sind, die diese Provokationen offensichtlich gezielt steuern, um ihre durchschaubaren
politischen Ziele zu erreichen. Wir müssen die politisch
Verantwortlichen deutlich benennen. Das werden wir
auch tun.
Wir müssen unsere Grundwerte entschieden verteidigen. Ich sage es ganz offen: Für mich ist die Vorstellung,
dass sich ein demokratisch legitimierter Regierungschef
für den Abdruck in einer Zeitung öffentlich entschuldigen soll, grotesk.
({5})
Die Meinungs- und die Pressefreiheit sind und bleiben
Dreh- und Angelpunkt unseres demokratischen Grundverständnisses. Für diese Freiheiten ist jahrhundertelang
gekämpft worden. Es hat auch viele Opfer gegeben.
Dass diese Freiheiten immer wieder neu erkämpft werden müssen, zeigt der aktuelle Konflikt. Deswegen ist
Hochmut vonseiten des Westens in dieser Auseinandersetzung vollkommen fehl am Platze.
Wir haben vielmehr geduldig zu erklären, dass es in
der Tat - darauf ist schon hingewiesen worden - auch
bei uns das Recht gibt, Geschmacklosigkeiten zu publizieren. Auch in Deutschland ist schon an der einen oder
anderen Stelle von diesem Recht Gebrauch gemacht
worden.
Wir müssen aber auch deutlich machen, dass es demokratische Mittel und Wege gibt, sich zur Wehr zu setzen, wenn man sich in seinen religiösen Gefühlen verletzt fühlt. Der Verletzung der in unserer Verfassung
aufgeführten Grundrechte werden durch einen klaren
rechtlichen Rahmen Grenzen gesetzt.
Verständnis und Verständigung sind nur im Dialog
möglich. Das richte ich an all diejenigen, die jetzt
Huntington zitieren. Überall auf der Welt gilt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie gilt nicht nur
für den Westen oder für die islamische Welt; sie gilt universell.
({6})
Deswegen geht es hier um eine grundlegende Frage.
Wir sollten in diesem Zusammenhang nicht von Leitkultur oder Ähnlichem reden. Das Thema ist zu ernst, um es
parteipolitisch zu instrumentalisieren.
({7})
Nur durch Austausch und ein echtes Auseinandersetzen
mit dem anderen können sich gegenseitiges Verständnis,
Respekt und - damit möchte ich schließen - vielleicht
auch ein wenig mehr Gelassenheit im Dialog entwickeln.
Herzlichen Dank.
({8})
Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag, Herr Kollege Annen! Alle guten
Wünsche für die weitere Arbeit!
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Norman Paech für
die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erinnern Sie sich noch der brennenden Vorstädte
von Paris, Lyon und Marseille? Nun brennen Botschaften und Konsulate in Beirut und Damaskus. Ein Ende ist
nicht abzusehen.
Sicherlich wird der Ausbruch von Empörung, Hass
und Gewalt zum Teil auch benutzt und instrumentalisiert. Aber der Hass muss schon vorhanden sein, ehe er
zu einem Instrument der Gewalt gemacht werden kann.
({0})
Wie aber konnte durch ein paar Karikaturen das Fass
zum Überlaufen gebracht werden? Das hat nur entfernt
mit Toleranz und Pressefreiheit zu tun, Herr Kuhn - es
hat niemand hier vorgeschlagen, sie anzutasten -; das ist
meines Erachtens die falsche Erklärung, mit der in Europa auf die Vorfälle reagiert wird. Das Ganze hat vielmehr mit Provokation, Demütigung und Arroganz zu
tun.
({1})
Nicht nur der Westen fühlt sich - durch die Terrorakte in seinen Grundfesten angegriffen, auch die gesamte islamische Welt fühlt sich bedroht, und zwar durch die
Kriege gegen Afghanistan und den Irak, die täglich wiederholte Drohung gegen den Iran und die offene Forderung nach Regimewechseln in den so genannten Schurkenstaaten.
Zur Demütigung trägt auch die Globalisierung bei.
Sie verstärkt auch in den islamischen Ländern die Kluft
zwischen Arm und Reich. Die Programme der Weltbank
und des Internationalen Währungsfonds erfährt die
breite Bevölkerung nicht als Wohltat oder Heilsbotschaft.
({2})
Sie fördern die Verarmung, zerreißen die Gesellschaften
und tragen zur Zerstörung der Identität dieser Gesellschaften bei.
Was wir als Demokratisierung, Good Governance und
zivilisatorische Mission begreifen,
({3})
kommt auf der anderen Seite immer mehr als eine neue
Kolonialisierung an, zumal wenn sie von Militär und
Krieg begleitet wird. Das ist doch nicht unbegreiflich.
({4})
Guantanamo und Abu Ghureib sind nicht nur
schlichte Orte der Haft und Folter, sondern auch Metaphern der kulturellen Demütigung, der Verhöhnung und
des Angriffs auf die kulturelle Identität der Muslime.
({5})
Was haben wir zu tun? Der Dialog ist gut, wenn er
denn gelingt. Doch glaube ich, dass der „Muslimtest“
nicht gerade der richtige Anfang ist. Zuerst müssen wir
deeskalieren und abrüsten. Zu unserer friedenspolitischen Kultur gehört doch, dass wir Eskalation nicht mit
Eskalation beantworten.
({6})
Der Terror ist nicht mit Krieg zu besiegen. Das sollte uns
das Scheitern von Bushs Antiterrorkrieg gelehrt haben.
Noch können wir innehalten. Ein Überfall auf den Iran,
wie er derzeit in der Logik der beiderseitigen Eskalation
liegt, hätte einen verheerenden Flächenbrand im ganzen
Nahen und Mittleren Osten zur Folge, und nicht nur das:
Eventuell würden wir auch Berlin nicht wiedererkennen.
Wir fordern deswegen von der Bundesregierung - sie
ist nicht anwesend -: Leiten Sie den Weg zum UNOSicherheitsrat um zu einer internationale Friedens- und
Sicherheitskonferenz über den Nahen Osten!
({7})
Die Aufgabe einer solchen Sicherheitskonferenz wäre,
die Lösung der ungelösten Probleme der Region umfassend anzugehen. Das heißt zunächst eine unantastbare
Garantie der Existenz Israels in eindeutig definierten
Grenzen - an dieser Stelle vermisse ich Ihren Beifall -,
aber auch eine unantastbare Garantie eines lebensfähigen, souveränen Staates Palästina in zukunftsfähigen
Grenzen, Abzug aller Besatzungstruppen aus dem Irak
und statt der dauernden Drohung mit militärischen Sanktionen gegen den Iran Gewaltverzicht und eine Nichtangriffsgarantie der USA und schließlich eine atomwaffenfreie Zone im ganzen Nahen Osten.
({8})
Ich bin mir sicher: Eine solche Friedenskonferenz
würde natürlich nicht alle Probleme dauerhaft lösen.
Aber sie würde deeskalieren, der islamischen Welt die
gebührende Achtung erweisen und für Gleichberechtigung sorgen.
Zum Schluss: Erst wenn in dieser Region Frieden und
Sicherheit vor westlichen Interventionen herrschen, werden solche Karikaturen wie die jetzigen zwar noch immer Kritik auslösen, aber keine brennenden Botschaften
mehr hinterlassen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Joachim Hörster ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich teile
die Auffassung des Kollegen Annen, der eben zu Recht
festgestellt hat, dass man das heutige Thema nicht im
Rahmen einer Aktuellen Stunde behandeln kann.
({0})
Herr Kuhn, als Sie die Debatte eröffnet und uns nahe
gelegt haben, darüber nachzudenken, welchen Beitrag
die deutsche Politik zur Deeskalation des Konfliktes
leisten soll, habe ich mich gefragt, welchen Beitrag Sie
selbst dazu geleistet haben. Die Allgemeinplätze, die Sie
uns vorgetragen haben, helfen jedenfalls nicht weiter.
({1})
Was uns hilft, ist vielmehr eine ganz rationale und ruhige
Bewertung der stattgefundenen Vorgänge.
Zumindest in unserem Land sehe ich nicht, dass es
anlässlich der Karikaturen einen Konflikt zwischen
Muslimen und Nichtmuslimen gibt.
({2})
Die bei uns lebenden Muslime haben sich in einer Weise
verhalten, wie es in unserer Gesellschaft üblich ist. Genauso wie ich als Christ ertragen muss, dass hässliche
und geschmacklose Karikaturen über meine Religion erscheinen, haben sie es ertragen. Die Karikaturen gefallen
ihnen nicht und sie fühlen sich beleidigt. Aber sie suchen
die friedliche Diskussion.
Der Sachverhalt ist nicht innenpolitisch, sondern außenpolitisch zu bewerten. Es fällt auf, wie sich einzelne
Regierungen in dieser Sache verhalten. Erschienen sind
die Karikaturen schon Ende September vergangenen
Jahres. Aber die entsprechenden Aktionen haben erst in
den letzten Wochen stattgefunden. Mir kann niemand
weismachen, dass in Syrien eine Demonstration ohne
Akzeptanz oder Duldung der Regierung stattfindet.
({3})
Ich kann aber erkennen, dass die Demonstrationen im
Libanon nicht erwünscht waren. Das dortige Sicherheitssystem war mit dem, was entstanden ist, einfach überfordert.
Man muss schon Fingerspitzengefühl besitzen, um
die Lage zum Beispiel im Jemen zu beurteilen. Dort haben ausschließlich Frauen demonstriert. Wer einmal den
Jemen besucht hat, der weiß, dass dort das offene Tragen
von Waffen zur Darstellung der Männlichkeit gehört.
Offenbar sollte auf der einen Seite dem Protest Raum gegeben werden, auf der anderen Seite wurde durch die
Auswahl der Protestierenden Wert darauf gelegt, dass
die Situation nicht eskaliert.
So sind in jedem Land die Reaktionen unterschiedlich. Im Iran werden die Karikaturen instrumentalisiert,
weil man sich im Konflikt wegen der Kernenergie befindet. In Syrien werden die Karikaturen instrumentalisiert,
weil Syrien im Moment sogar in der arabischen Welt
weitestgehend isoliert ist und man wieder Anschluss gewinnen will.
Wenn man die Verhältnisse in den Ländern betrachtet,
in denen vorrangig demonstriert worden ist und wo Radikale die Chance genutzt haben, gezielt bestimmte
Menschengruppen in Rage zu bringen und sie aufzustacheln, Botschaften und Konsulate zu überfallen, dann
sieht man, dass dahinter Methode steckt. Das hat überhaupt nichts mit einem Kampf der Kulturen zu tun. Es
hat vielmehr damit zu tun, dass sich Systeme, die sich
von ihrer Bevölkerung entfernt haben und die ihrer Bevölkerung die Partizipation an der politischen Entscheidung vorenthalten, hinter diesem vorgeschobenen Kulturkampf verstecken.
Ich habe mit großer Aufmerksamkeit die Reaktionen
von Politikern und bedeutenden Meinungsführern aus
diesen Ländern verfolgt. Es stimmt mich schon sehr
nachdenklich, dass, nachdem die Angriffe auf die Botschaft im Libanon erfolgt sind, der Innenminister zurückgetreten ist, weil er das nicht gewollt hat. Es stimmt
mich sehr nachdenklich, dass andererseits der stellvertretende ägyptische Außenminister sagte: Die Karikaturen reihen sich in die antiislamischen Kampagnen ein,
die seit dem 11. September 2001 den Westen beherrschen.
({4})
Der ägyptische Staatspräsident sagte, er warne vor der
Verbreitung der Karikaturen, die Wirkung auf die Muslime sei kaum zu kontrollieren. Die Sprache offenbart,
was der eigentliche Grund der Auseinandersetzung ist.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen
Sie uns ganz ruhig und gelassen mit der notwendigen
Souveränität von Demokraten, die Pressefreiheit brauchen wie die Luft zum Leben, diesen Sachverhalt beurteilen und lassen Sie uns nach Ländern differenzieren.
Ich bin überzeugt davon, dass dann der notwendige Dialog fortgesetzt und es nicht zu der Auseinandersetzung
kommen wird, die so manche gerne hätten.
Ich bedanke mich.
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Jürgen Trittin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube,
dem Aufruf zur Gelassenheit können wir uns alle anschließen. Ich möchte für meine Fraktion anfügen: Wir
hätten uns diese Gelassenheit im Zusammenhang mit
manch anderen Debatten, beispielsweise bei der über den
Straftatbestand der Religionsbeleidigung - § 166 StGB -,
gelegentlich auch gewünscht.
({0})
Es kann kein Zweifel daran bestehen: Die Pressefreiheit umfasst auch die Freiheit, Geschmacklosigkeiten
und Meinungen zu verbreiten, die andere nicht teilen. Es
ist mit aller Macht zurückzuweisen, von einem frei gewählten Regierungschef eines Landes zu verlangen, sich
für die Wahrnehmung dieses Rechtes zu entschuldigen.
({1})
In diesem Zusammenhang ist sehr genau darauf zu
achten, wo es sich tatsächlich um die Verletzung von
Menschen eines bestimmten Glaubens handelt und wo
die Empörung über diese Verletzung für ganz andere
Zwecke ausgenutzt wird.
({2})
Lieber Herr Kollege Paech, ich bin ganz und gar dagegen, den armen, arbeitslosen, perspektivlosen Bewohner einer französischen Vorstadt mit dem Randalierer in
Beirut gleichzusetzen, der das christliche Viertel angegriffen hat.
({3})
Warum? Weil die Ursachen ganz andere sind. Übrigens, in Palästina hat nicht die Hamas, sondern haben die
Wahlverlierer die Situation genutzt und randaliert. In
Syrien - in einem Land mit einer anerkannten Menschenrechtsagenda - konnte eine Botschaft niedergebrannt
werden. Es wird eine Debatte über die Vorherrschaft im
Libanon geführt. Die libanesische Zivilgesellschaft ist
aufgestanden, um dafür einzutreten, dass man zu einer
anderen Kultur zurückkehrt. Im Libanon lebten immer
Christen, Muslime, Jesiden und andere miteinander. Die
Syrer haben diese Situation genutzt, um ihren Machterhalt dort zu zementieren. Es ist eine Beleidigung des
Islam, eine Gleichsetzung mit den verletzten Gefühlen
der Muslime in diesem Lande vorzunehmen.
({4})
An dieser Stelle kann es kein Vertun geben.
Andererseits: Wenn wir einen Dialog mit den muslimischen Gesellschaften führen wollen, dann dürfen wir
nicht als Erstes fordern, lieber Herr Schockenhoff - Herr
Westerwelle, von Ihnen habe ich Ähnliches gehört -,
diesen Dialog beispielsweise dadurch zu erschweren,
dass wir Botschaften schließen und Finanzmittel kürzen.
Zu Recht hat die Bundesregierung seit geraumer Zeit genau diesen Dialog in nicht weniger als 20 Botschaften
- in Afghanistan und anderswo - mit erheblichen Finanzmitteln fortgesetzt. Es gilt, ihn zu stärken, gerade in
einer solchen Situation. Nicht richtig ist, populistisch zu
sagen: Wir machen das nicht.
({5})
Es gibt einen Zusammenhang zwischen Innen- und
Außenpolitik. Wir müssen die Freiheit der Meinungsäußerung in unserem Lande ohne Abstriche verteidigen.
Genauso sind wir für das Klima hier in Deutschland und
in Europa verantwortlich. Es ist kein Beitrag zur Deeskalation, Menschen, die acht Jahre und länger hier leben, die nicht straffällig geworden sind und über die
beim Verfassungsschutz nichts vorliegt, nur weil sie
Muslime sind, bei der Einbürgerung einem besonderen
Test zu unterziehen.
({6})
Das ist falsch, weil es den Eindruck hervorruft, diese
Menschen gehörten nicht zu diesem Europa.
Wir müssen klarstellen, dass Muslime in diesem
Europa zu Hause sind, dass sie Bestandteil dieses Europas sind. Nur wenn wir es schaffen, diese Menschen in
die europäischen Gesellschaften tatsächlich zu integrieren, haben wir eine Chance, zu verhindern, dass verbrecherische Regimes wie im Iran, wie in Syrien in der
Lage sind, religiöse Gefühle von Menschen für ihre außerordentlich niederen Interessen zu instrumentalisieren.
({7})
Integration ist auch und gerade eine Frage der Sicherheit
in Europa.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort erhält nun die Kollegin Dr. Lale Akgün für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind Zeugen merkwürdiger Ereignisse. Die dänische Fahnenträgerin Holm erhält jetzt bei den Olympischen Spielen Personenschutz. In Indonesien wird ein
Badmintonturnier abgesagt, weil dänische Spieler nicht
geschützt werden können. Aus Stoffstücken, die eigentlich für palästinensische Fahnen gedacht waren, werden
eilig dänische Fahnen zusammengenäht, damit sie anschließend verbrannt werden können. Als vor vier Monaten die Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung „Jyllands-Posten“ erschienen, wer hätte da gedacht,
dass sie solch groteske Folgen haben würden? Sicherlich
kaum jemand.
Aber schon laufen einige durchs Land, die den Kampf
der Kulturen erkennen wollen. Für mich als muslimische
Demokratin gibt es keinen Gegensatz zwischen Demokratie und Islam. Demokratie, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit sind Werte, die in der Grundrechtecharta der Vereinten Nationen stehen und für alle verbindlich sind.
({0})
Demokraten, aber auch Nichtdemokraten gibt es in allen Religionen. Was wir im Moment in Teilen der muslimischen Welt erleben, ist der Versuch der Nichtdemokraten, ihre Macht zu demonstrieren.
({1})
Die Ausschreitungen in arabischen Ländern kommen
nicht aus dem Nichts. Die Fundamentalisten haben die
Gunst der Stunde erkannt und versuchen, die Situation
für sich zu nutzen, sei es, um innenpolitisch zu punkten,
sei es, um soziale Konflikte religiös zu verbrämen oder
von sozialen Konflikten abzulenken.
({2})
Glauben Sie mir: Auch in islamischen Ländern sind
nicht wenige Menschen über das entsetzt, was im Moment passiert. Wir sollten nicht pauschal davon ausgehen, dass alle Menschen in der muslimischen Welt undemokratisch eingestellt sind, dass sie gegen Presse-,
Meinungs- oder Versammlungsfreiheit sind. Gerade die
junge Generation will Freiheit und die Wertedemokratie.
Die jungen Menschen wollen, dass sich bei ihnen etwas
verändert.
Ich sage noch einmal: Die Werte der Aufklärung sind
universelle Werte. Dort, wo sie nicht zum Zuge kommen, herrscht ein Demokratiedefizit, an dessen Ausgleich wir mitarbeiten müssen, wenn wir es mit dem Dialog auf gleicher Augenhöhe ernst meinen.
({3})
Lassen Sie mich ein Beispiel anführen. Wir in
Deutschland haben unsere Instrumente, um gegen unerwünschte Veröffentlichungen zu protestieren. Wir können diskutieren. Wir können den Presserat einschalten.
Wir können uns auf § 166 Strafgesetzbuch berufen, der
sich mit der Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen
beschäftigt. Andere Länder haben diese Instrumente
nicht. Wir müssen die marginalisierten Kräfte gerade in
den arabischen Ländern unterstützen, damit dies auch
bei ihnen möglich wird.
Während wir hier debattieren, findet in Kuala Lumpur
in Malaysia eine Konferenz der hochrangigen islamischen Gelehrten der Welt unter dem Motto „Wer spricht
für den Islam? Wer spricht für den Westen?“ statt. Die
Signale von dort sind ermutigend. Der malaysische Außenminister Syed Hamid Albar hat das Notwendige gesagt, indem er dazu aufrief, die Extremisten auf beiden
Seiten in die Schranken zu weisen.
({4})
Er sagt: Wir müssen verstehen und vermitteln, dass es im
Kern unserer Religionen um die Förderung des Friedens
und nicht der Gewalt geht.
Noch ein Wort zum Inland. Ich bin sehr froh über die
gemeinsame Erklärung der großen islamischen Verbände
in Deutschland, die sich klar gegen jede Gewalt stellen
und zum friedlichen demokratischen Dialog aufrufen.
({5})
Angesichts der Tatsache, dass über 15 Millionen Muslime in der EU und über 30 Millionen Muslime in
Europa leben, geht es nicht mehr darum, ob wir miteinander leben können, sondern darum, wie wir dieses Zusammenleben gestalten werden.
({6})
Dialog und das Herausstellen der gemeinsamen Werte ist
jetzt unsere Aufgabe. Worte und Bilder haben hohe symbolische Bedeutung. Dies haben wir in den vergangenen
Wochen zur Genüge erlebt. Es ist jetzt an der Zeit, unsere Worte für Versöhnung einzusetzen.
Ich will
der Bundespräsident aller Deutschen … sein und
der Ansprechpartner für alle Menschen, die ohne
einen deutschen Pass bei uns leben und arbeiten.
Mit diesen Worten schaffte es der verstorbene Bundespräsident Johannes Rau, die Herzen der Zugewanderten in Deutschland zu gewinnen. Damit war er der Bundespräsident aller Menschen in Deutschland, auch der
Muslime. Wir brauchen mehr Menschen im Geiste von
Johannes Rau.
({7})
Wir brauchen mehr Menschen in der Politik, aber auch
in den Medien, die zur Deeskalation beitragen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Reinhard Grindel für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Debatte muss zusammenführen. Deswegen will ich
am Anfang gerne betonen: Mein Eindruck ist, dass viele
Christen in unserem Land sehr wohl Verständnis dafür
aufbringen, wenn sich Muslime durch die MohammedKarikaturen verletzt fühlen. Sie eint ein Gedanke: Es
muss Lebensbereiche geben, die uns heilig sind und die
möglichst frei sein sollten von geschmacklosem Spott
oder Schmähkritik.
({0})
Deshalb sage ich gerade als jemand, der vor seiner
Arbeit im Deutschen Bundestag als Journalist tätig war:
Es gilt, die Presse- und Kunstfreiheit zu achten; es gilt
aber auch, die Selbstverantwortung für journalistisches
und künstlerisches Handeln und die Folgen journalistischen Tuns zu bedenken. Beides gehört zusammen.
({1})
In diesem Zusammenhang will ich ausdrücklich die
gemeinsame Aktion von „Bild“-Zeitung und „Hürriyet“
hervorheben. Das ist für mich ein Beispiel für verantwortlichen Journalismus, weil das Gemeinsame und
nicht das Trennende von Deutschen und Türken betont
wird.
({2})
Es ist jetzt sicher die richtige Botschaft, darauf hinzuweisen, dass im Alltag der Menschen viele Freundschaften gewachsen sind, die zu einem friedlichen Zusammenleben in unserem Land beitragen. In unruhigen
Zeiten brauchen wir Aktionen wie die von „Bild“ und
„Hürriyet“, die beruhigend wirken. Ich finde, wir sollten
das loben.
({3})
Aber wahr ist ebenso: Die Pressefreiheit schützt auch
die gezielte Provokation. Der Islam kennt ein religiöses
Verbot von Bildern des Propheten. Das Grundgesetz
kennt dieses Bilderverbot nicht. Auf diesen Unterschied
kommt es an: Unsere Verfassung ist der Maßstab für alle
Menschen, die in unserem Land leben. Daran haben sich
alle bei uns zu orientieren.
({4})
Bei aller Besonnenheit müssen wir den Kern des Problems klar ansprechen. Der Dialog der Kulturen muss
eine allgemein verbindliche Grundlage haben. Die Pressefreiheit und die Kunstfreiheit sind für eine Demokratie
schlechthin konstituierend. Diese Grundrechte müssen
wir gemeinsam wehrhaft verteidigen, wenn sie von Fundamentalisten und radikalen Islamisten infrage gestellt
werden.
({5})
Es kann schon gar nicht Aufgabe der Politik sein, sich
für journalistische oder künstlerische Arbeiten zu entschuldigen. Das wäre ein Staatsverständnis, das mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht in
Einklang zu bringen ist. Das hat auch etwas mit der Kultur - um nicht zu sagen: Leitkultur - zu tun, die das Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen prägen
muss. Das hat etwas damit zu tun, dass man in unserem
Land die Freiheit der Presse achtet und eine Zensur nicht
stattfindet.
({6})
Ich begrüße es - wie auch Sie, Frau Kollegin Akgün -,
dass 16 türkische Organisationen in Deutschland die Gewalt wegen der Mohammed-Karikaturen verurteilt haben. Aber mit Verlaub: Etwas anderes wäre wohl auch
problematisch gewesen.
Wir brauchen mehr Verständigung auf gemeinsame
Grundlagen. Die Muslime in Deutschland haben ein
Recht darauf, dass wir klarer sagen, welche Integrationsleistungen wir von ihnen erwarten. Die deutsche Sprache
und die Achtung von Verfassungsprinzipien gehören auf
jeden Fall dazu. Integration bedeutet eben nicht Multikulti. Toleranz setzt einen klaren Standpunkt voraus. Toleranz kann es nicht gegenüber Intoleranten geben. Darauf müssen wir uns gemeinsam verständigen.
({7})
Wahr ist auch: Viele Fernsehbilder, die wir in den vergangenen Tagen gesehen haben, entsprechen auf makabre Weise mancher Karikatur. Diese Bilder machen
vielen Menschen in unserem Land Angst. Wir müssen
deshalb dafür sorgen, dass Konflikte nicht verschärft
werden, die die Integration behindern könnten und sie
nicht fördern.
Das fängt für mich im Kleinen an, hier in Berlin. Wie
viele von uns haben sich zum Schulhofstreit in BerlinWedding vorschnell und aufgeregt geäußert, bevor sie
die Vertreter von Schülern, Eltern und Lehrern zum Beispiel in der Sendung von Sabine Christiansen einmal
selbst erlebt haben und einsehen mussten, dass die
Deutschpflicht eben kein Zwang, sondern eine freiwillige, auf die Situation der Schule bezogene gemeinsame
Vereinbarung ist.
Wir sollten uns Debatten ersparen, in denen man sich
bewusst missverstehen will, wo doch mehr Verständnis
füreinander angebracht wäre.
({8})
Herr Trittin, Sie hätten sich Ihre Angriffe zum Thema
Muslimtest sparen können.
({9})
Sie sprechen von Sicherheit, zu der durch Integration ein
Beitrag geleistet werden müsse. Diese Sicherheit ist aber
auch bei Einbürgerungsverfahren zu fordern. Um nichts
anderes geht es.
({10})
Wir alle können dazu einen Beitrag leisten, dass es
keinen Kampf der Kulturen gibt.
({11})
Es ist richtig und wichtig - lassen Sie mich diesen Zusatz machen -, dass wir uns vor dem notwendigen Dialog unserer Werte vergewissern und in diesem Dialog für
diese Werte einstehen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Für die Bundesregierung erhält nun der Staatsminister
Günter Gloser das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Kontroverse um die Karikaturen ist in der
Tat besorgniserregend. Das Gewaltpotenzial, das in einigen Hauptstädten islamischer Staaten bei öffentlichen
Protesten freigesetzt wird, ist für uns erschreckend. Ich
bin froh darüber, dass dies in weiten Teilen der Debatte
deutlich geworden ist. Wir sollten uns dennoch hüten, einen Zusammenstoß der Zivilisationen oder einen Kampf
der Kulturen herbeizureden. Ich glaube, das wäre genau
die falsche Antwort auf die jetzige Situation.
({0})
Günter Gloser, Staatsminister im Auswärtigen Amt
Ich bin auch froh darüber, dass in den Beiträgen der
Versuch unternommen worden ist, nicht zu pauschalieren, sondern zu differenzieren. Herr Kollege Hörster, Sie
haben zum Beispiel die unterschiedlichen Situationen in
einigen Ländern erwähnt.
Vordergründig scheint es um eine bloße Güterabwägung zu gehen: Schutz der Religionsfreiheit gegen die
Freiheit der Presse. Die Pressefreiheit hat bei uns Verfassungsrang und steht nicht zur Disposition. Auch die
Religionen sind durch unsere Rechtsordnung vor Verächtlichmachung geschützt. Ich weise auf die entsprechenden Paragraphen im Strafgesetzbuch hin.
Wir haben Verständnis dafür, dass Muslime in aller
Welt die kontroversen Karikaturen als Verunglimpfung
ihrer religiösen Überzeugung empfinden. Gleichwohl
müssen wir deutlich machen, dass in unseren Gesellschaften Regierungen eben nicht in elementare Grundrechte eingreifen können. Zwar gelten auch Meinungsund Pressefreiheit nicht unbegrenzt. Diese Grenzen aufzuzeigen obliegt jedoch aus guten Gründen ausschließlich der Justiz und nicht den Regierungsverantwortlichen.
Die Presse- und Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut,
mit dem sorgfältig umgegangen werden muss. Ich sage
aber auch - darüber haben wir ebenfalls anlässlich von
Vorkommnissen, die es in unserem eigenen Land gab,
diskutiert -: Zum Umgang mit der Pressefreiheit gehört
auch Verantwortungsbewusstsein. Wer von diesem
Grundrecht Gebrauch macht, muss sich fragen, ob er andere Kulturen und Religionen herabsetzt oder lächerlich
macht. Wer von der Pressefreiheit Gebrauch macht,
muss sich fragen, ob er andere Menschen provoziert
oder verletzt. Ich denke, die Vorgänge der letzten Tage
zeigen, dass es auch bei uns einen großen Lernbedarf
gibt.
Protest und Demonstrationen gegen solche Veröffentlichungen sind legitim. Wer von seinem Recht auf freie
Meinungsäußerung Gebrauch macht, der muss sich auch
kritisieren lassen. Völlig inakzeptabel sind aber die Gewaltausbrüche, die wir in den letzten Tagen erlebt haben.
Für die Erstürmung der Botschaften und deren Brandstiftung sowie für Gewaltaufrufe gegen europäische Bürgerinnen und Bürger kann es keine Rechtfertigung geben.
({1})
Ich darf sicherlich auch in Ihrem Namen sagen: Da es
gewünscht wird, dass Deutschland diesen Dialog fortsetzt und dass wir vor Ort vertreten sind, gilt in diesen
Tagen unser Mitgefühl den Kolleginnen und Kollegen,
die in den Botschaften und/oder Vertretungen von Institutionen - ob aus Deutschland oder aus anderen Ländern
der Europäischen Union - vor Ort ihren Dienst tun, der
mit einem gewissen Risiko behaftet ist.
({2})
Wir haben in den letzten Tagen den Regierungen in
den betroffenen Ländern unseren Standpunkt deutlich
gemacht. Es ist Sache dieser Regierungen, die Sicherheit
der europäischen Botschaften zu garantieren. Da kann es
keine Ausflüchte geben. Denn die Frage ist gerechtfertigt, wie die Reaktion wäre, wenn der umgekehrte Fall
eingetreten wäre. Die EU-Mitgliedstaaten koordinieren
ihre Haltung und unterstützen die österreichische Ratspräsidentschaft bei dem Bemühen um Deeskalation.
Wir haben dankbar registriert - das darf ich unterstreichen -, dass besonnene Stimmen in der islamischen
Welt - einige sind schon genannt worden - die Gewaltexzesse klar verurteilt haben. Wir fordern - ich glaube,
zu Recht - die Regierungen, aber auch andere einflussreiche Persönlichkeiten in der islamischen Welt weiter
nachdrücklich dazu auf, die Gewaltakte zu verurteilen.
Die Beruhigung der Menschen liegt im Eigeninteresse
der islamischen Welt. Der legitime Protest wird in einigen Staaten zurzeit in doch sehr durchsichtiger Weise
- Sie haben das bereits in Ihren Beiträgen ausgeführt für andere Zwecke instrumentalisiert. Meine Anerkennung gilt den islamischen Verbänden in Deutschland, die
ohne Zögern zu einer Versachlichung der Debatte beigetragen haben. Ich möchte dies hervorheben und meinen
ausdrücklichen Dank dafür aussprechen.
({3})
Es ist sehr viel von Dialog die Rede. In der islamischen Welt herrscht sehr wohl das Bewusstsein, dass
umfassende Reformen vorangetrieben werden müssen.
Reformen sind die Voraussetzung dafür, das Potenzial
der nachwachsenden Generationen zu wecken und ihre
Lebenschancen zu verbessern. Die Menschen streben
nach mehr politischer Mitgestaltungsmöglichkeit. Man
könnte auch sagen: Sie streben nach Dialog, Rechtsstaatlichkeit, Bildungschancen, kurz: nach guter Regierungsführung.
Die Auseinandersetzung um die Mohammed-Karikaturen hat lediglich einer breiteren Öffentlichkeit bei uns
bewusst gemacht, wovor Experten seit längerem warnen: eine Vertiefung der kulturellen Kluft zwischen der
westlichen und der islamischen Welt.
Die Bundesregierung hat bereits nach dem
11. September 2001 versucht, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Ich muss unterstreichen: Die damalige
Bundesregierung hat auf den Dialog der Kulturen gesetzt. Im Auswärtigen Amt ist der Politikschwerpunkt
„Dialog mit der islamischen Welt“ eingerichtet worden.
Konferenzen sind organisiert worden. Kulturaustausche
und Besuchsprogramme haben stattgefunden. Konkrete
Projekte der Zusammenarbeit sollen die Menschen in
beiden Kulturkreisen einander näher bringen und gegenseitiges Verständnis wecken. Auf diesem Weg muss fortgeschritten werden.
({4})
Ich darf als ein positives Beispiel an die Arabientage,
an die ersten „Tage der Arabischen Welt“ im Deutschen
Bundestag erinnern, die im Dezember 2004 stattgefunden haben. Wie viele arabische Kolleginnen und KolleGünter Gloser, Staatsminister im Auswärtigen Amt
gen, die hier zu Gast waren, haben gesagt - Kollege
Hörster wird sich daran erinnern -, dass solche Debatten
bisher in der arabischen Welt nicht stattgefunden haben!
Aber in den Räumlichkeiten des Deutschen Bundestages
konnte man auch unter arabischen Abgeordneten friedlich diskutieren. Ich glaube, das war ein wichtiges und
richtiges Zeichen.
({5})
Ich füge hinzu: Von größter Bedeutung ist die gezielte
Öffentlichkeitsarbeit. Ich erinnere an das seit 2002 bestehende arabische Fernsehprogramm der Deutschen
Welle oder an die vielen Fortbildungsprogramme für
Journalisten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre zu einfach,
die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Karikaturenstreit als Beleg dafür zu werten, dass der Dialog der Kulturen gescheitert ist. Im Gegenteil: Die Vorgänge unterstreichen die Notwendigkeit bzw. die Dringlichkeit
dieses Dialogs. Es gibt keine Alternative zum Dialog der
Kulturen.
Wenn uns die Ereignisse der letzten Tage und Wochen
eines gelehrt haben, so die Erkenntnis, dass es sich um
eine Sisyphusarbeit handelt. Der wichtigste Beitrag, den
die deutsche Politik in der gegenwärtigen Situation leisten kann, ist das Bemühen, diesen Dialog beharrlich fortzusetzen und zu intensivieren. Der Dialog mit der islamischen Welt ist auch ein partnerschaftliches Angebot,
notwendige Reformprozesse zu unterstützen. Wir tun
dies nicht zuletzt aus dem ureigensten Interesse Europas
an einer starken und vitalen Nachbarregion auf der südlichen und östlichen Seite des Mittelmeers. Die Europäische Union und die Mittelmeeranrainer haben vor zehn
Jahren mit dem Barcelonaprozess den Rahmen für einen
umfassenden Dialog in praktisch allen Bereichen, in Politik, Wirtschaft und Kultur, geschaffen. Ich glaube, auch
auf diesem Weg muss fortgeschritten werden.
({6})
Als ein wichtiges Beispiel darf ich die erste Institution
dieser Partnerschaft erwähnen: Die Anna-Lindh-Stiftung, die im Herbst letzten Jahres in Alexandria ihre Arbeit aufgenommen hat, hat das erklärte Ziel, das gegenseitige Verständnis und die Toleranz zu fördern.
Es kommt uns nicht darauf an, den islamischen Staaten unsere Vorstellungen von Staat und Gesellschaft
überzustülpen. Aber eine erfolgreiche Transformation
wird nur gelingen, wenn der Reformprozess bei den
Menschen der betroffenen Staaten Akzeptanz findet.
Was wir tun können, ist, unser Modell, das uns Frieden
und Wohlstand sichert, den Menschen in dieser Region
im Wettbewerb der Ideen anzubieten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun die Kollegin Kristina Köhler für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der heutigen Debatte wurde deutlich, dass wir uns alle
darin einig sind, dass die Pressefreiheit zu den Grundlagen der Demokratie gehört. Trotzdem kann ich als gläubige Christin nachfühlen, dass sich Muslime durch diese
Mohammed-Karikaturen verletzt und beleidigt fühlen.
Wir, die CDU/CSU, haben in diesem Plenum mit unserem Kulturbegriff oft gefordert, dass wir, in Deutschland
einen größeren gemeinsamen Nenner brauchen, einen
Nenner, der über die Verfassung und das Strafgesetzbuch
hinausgeht. Dieser größere gemeinsame Nenner umfasst
nach unserer Ansicht eben auch die Rücksichtnahme auf
die religiösen Gefühle.
({0})
Es gibt auch eine Verantwortung jenseits des Strafrechts und jenseits der Verfassung.
({1})
Diese Verantwortung zu erkennen, obliegt jedem selbst.
Nennen wir das, was dazu benötigt wird, Taktgefühl. Insofern empfinde ich die Mohammed-Karikaturen als
vollkommen taktlos.
({2})
Wir sind uns alle ebenfalls darin einig, dass die Gewalt, auch die verbale Gewalt, in den muslimischen Ländern mit nichts zu entschuldigen ist. Wir wollen heute
über unseren Beitrag zur Deeskalation sprechen. Dieser
muss sein, bei uns in Deutschland ein friedliches und
fruchtbares Miteinander der Menschen unterschiedlicher
Kulturen vorzuleben. Dies wird uns jedoch ohne einen
allgemein akzeptierten Modus Vivendi nicht gelingen.
Dafür wurde auch heute immer wieder der Begriff des
Dialogs bemüht. Wir brauchen diesen Dialog. Aber zu
der Art und Weise, wie wir hier in Deutschland diesen
Dialog bisher geführt haben, heißt es in einer Studie der
Friedrich-Ebert-Stiftung - leider völlig zu Recht -:
Lernfortschritte im Blick auf mehr Verstehen und
Verständigung sind kaum erkennbar. Selbstkritik
fällt aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seien wir selbstkritisch! Brauchen wir wirklich einen weiteren Dialog, der
nur im Sinne eines permanenten Gedankenaustauschs
funktioniert? Haben wir das nicht bereits jahrzehntelang
gemacht? Müssen wir uns weiter auf Podiumsdiskussionen anlächeln, obwohl wir uns doch oft nicht verstehen?
Das wollen wir nicht. Wenn wir also eine neue Ebene im
Umgang miteinander erreichen wollen - dazu gibt es
keine vernünftige Alternative -, dann müssen wir die
Kristina Köhler ({3})
Probleme unserer bisherigen Dialogkultur offensiv und
klar benennen.
Das heißt zuallererst, dass wir von gegenseitigen Instrumentalisierungen und Pauschalisierungen Abstand
nehmen müssen.
({4})
Weder sind die Muslime in Deutschland ständig diskriminierte Opfer noch sind sie alle schlafende Terroristen.
({5})
Sie sind Teil unserer Gesellschaft und haben als solche
das Recht und auch die Pflicht, sich so behandeln zu lassen wie jede andere gesellschaftliche Gruppe auch: mit
Respekt vor ihren Überzeugungen, aber auch mit klarer
Kritik an fundamentalistischen Positionen.
({6})
Wenn wir uns darauf einigen können, dann können wir
auch die Rahmenbedingungen eines solchen kritischen
Dialogs klar benennen. Ich möchte hier zwei Rahmenbedingungen nennen, die ich für wichtig halte. Die eine
Rahmenbedingung richte ich an die Adresse der Vertreter der islamischen Verbände, die zweite Rahmenbedingung richte ich an die christliche Mehrheit in Deutschland.
Für die Vertreter der islamischen Verbände in
Deutschland muss eines klar sein: In unserem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat steht das Grundgesetz
über der Scharia. Wenn ich auf der Internetseite eines bekannten deutschen muslimischen Verbandes lese, dass
sich Muslime in einem nicht muslimischen Staat nur so
lange an dessen Rechtsnormen zu halten hätten, solange
diese sich nicht im Widerspruch zum Islam bzw. zur
Scharia befänden, muss ich klar sagen: Ein solches
Staatsverständnis kann in der Bundesrepublik Deutschland nicht die Basis eines Dialogs sein.
({7})
Wenn wir das akzeptieren würden, gäben wir uns selbst
auf und damit unsere Prinzipien von Säkularität und
Freiheit.
Der christlich geprägten Mehrheit in Deutschland
sage ich: Die momentane Auseinandersetzung sollte uns
bewusst machen, dass die bei uns geltenden Freiheiten
eben keine Selbstverständlichkeit sind. Diese Freiheiten
brauchen das Fundament eines christlichen Menschenbildes. Wenn wir uns unserer eigenen Werte und Normen
und damit unserer Kultur nicht wieder stärker bewusst
werden, dann sind auch wir kein ernst zu nehmender
Partner im Dialog der Kulturen.
({8})
Wir brauchen einen Neuanfang im Dialog der Kulturen. Dieser Dialog muss mehr sein als nur der Austausch
von Gedanken. Wir brauchen einen Dialog, in dem wir
uns wieder unserer kulturellen Fundamente bewusst sind
und in dem Muslime ihre Fundamente ohne Fundamentalismus verteidigen.
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Nächster Redner ist der Kollege Sebastian Edathy,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der
demokratische Rechtsstaat - das ist hier zu Recht festgehalten worden - ist ohne das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und auf Pressefreiheit nicht denkbar. Ich
füge hinzu: Er ist auch nicht denkbar ohne Glaubensfreiheit.
Die im Grundgesetz verankerten Bürgerrechte bilden
die zentrale Voraussetzung der Freiheit und die Grundlage für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Überzeugungen in
Deutschland. Für das Gelingen dieses Zusammenlebens
ist allerdings mehr nötig als ein bloßer gesetzlicher Rahmen. Für das Gelingen dieses Zusammenlebens bedarf
es der gemeinsamen Überzeugung, einander nicht bewusst zu kränken, einander nicht zu diffamieren und den
Glauben eines Menschen nicht zu verunglimpfen.
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Echte Demokratie lebt eben auch davon, dass man aus
Gründen der menschlichen Achtung und des menschlichen Anstands nicht alles tut, was man formal tun darf.
Deswegen ist hier begründet und zu Recht festgehalten
worden: Die Veröffentlichung der so genannten Mohammed-Karikaturen war ohne Zweifel zulässig. Aber sie
war zugleich respektlos, weil sie den islamischen Glauben verunglimpfte.
Die Pressefreiheit schützt selbstverständlich und ohne
jeden Zweifel auch eine nahezu pubertäre Provokationslust; ein verantwortlicher Umgang mit der Pressefreiheit
sieht jedoch anders aus, als es die dänische Zeitung an
den Tag gelegt hat. Umgekehrt gilt, dass in Reaktion auf
diese Veröffentlichung auch Proteste und Demonstrationen zulässig sind. Diese müssen sich aber zwingend im
Rahmen der geltenden Rechtsordnung bewegen. Dazu
gehört, dass Gewalt, gleich welcher Art, nicht nur nicht
zu rechtfertigen, sondern auch nicht zu entschuldigen ist.
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Im Kern geht es bei dem Thema, mit dem wir uns
heute befassen, um die Frage, wie wir statt eines Klimas
der Konfrontation und der Ausgrenzung ein Klima der
Verständigung und der gegenseitigen Achtung schaffen
können. Frau Köhler, vielleicht können wir uns darauf
verständigen, in künftigen Debatten ein Stück weit im
Hinterkopf zu behalten, dass es besser wäre, nicht stets
von „uns“ und „denen“ zu sprechen, sondern von „wir“,
jedenfalls dann, wenn wir über Deutschland reden.
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Ich finde es begrüßens- und bemerkenswert, dass gestern in der in Deutschland erscheinenden türkischen Zeitung „Hürriyet“ und in der „Bild“-Zeitung ein gemeinsamer Kommentar veröffentlicht wurde, in dem es unter
anderem heißt:
Wir rufen alle auf, Respekt vor den Gefühlen des
jeweils anderen zu zeigen, Beleidigungen, Demütigungen oder Niedertracht zu vermeiden und ein
wahrhaftiges Bündnis der Kulturen aufzubauen, das
auf gegenseitigem Respekt basiert.
Ich hoffe, das wird in den nächsten Tagen, Wochen und
Monaten auch den Alltag in der Zeitungslandschaft prägen.
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Genau in diese Richtung gehen auch die besonnenen Erklärungen islamischer Verbände in Deutschland.
Was sind eigentlich die Konsequenzen für die Debatte
im eigenen Land? Es wird - nach meinem Dafürhalten
auch in diesem Haus - gelegentlich recht leichtfertig
über vermeintliche oder tatsächliche Integrationsmängel
gesprochen. Ja, es gibt solche Mängel. So stellen wir fest
- um nur ein Beispiel zu nennen -, dass es in unserem
Land einen hohen Anteil junger Migranten mit abgebrochener Schulausbildung gibt. Das gilt aber nicht nur für
junge Migranten islamischen Glaubens, sondern auch
für viele junge Spätaussiedler. Was bedeutet das? Wir
sollten gemeinsam darauf achten, dass wir vorhandene,
oftmals sozial begründete Probleme nicht ethnisieren
oder kulturalisieren, da sich das schlichtweg nicht gehört.
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Um ein anderes Beispiel zu nennen: So wenig wir bei
Gewalttaten zwischen deutschen Ehepartnern den Grund
für diese Gewalt in ihrem christlichen Glauben sehen, so
wenig sollten wir zunächst einmal, wenn es um Gewaltdelikte in türkischen Familien geht, ihren Glauben, den
Islam, als Ursache für diese Gewaltdelikte betrachten.
Das hilft uns bei der Problemanalyse nicht weiter.
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Achten wir gemeinsam darauf, uns nicht von Vorurteilen leiten zu lassen, auch nicht bei Einbürgerungsverfahren. Achten wir gemeinsam darauf, beim Missbrauch
einer Religion nicht die Religion selbst ins Zwielicht zu
rücken. Herr Kollege Gerhardt, ich glaube nicht, dass
sich ein gemäßigter Moslem für den Missbrauch seiner
Religion durch Islamisten zu rechtfertigen hat.
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Gestern meldeten die Nachrichtenagenturen, nach einer aktuellen Umfrage hätten 55 Prozent der Befragten
erklärt, Vorbehalte gegenüber den in Deutschland lebenden Muslimen zu haben. Lassen Sie uns dem gemeinsam
entgegenwirken. Gerade die aktuelle Debatte in Deutschland unterstreicht mehr als deutlich, dass bei allen Defiziten die Integration von Bürgern muslimischen Glaubens im Großen und Ganzen eine Erfolgsgeschichte ist,
auf die wir stolz sein können und stolz sein sollten.
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Menschen, die den Islam zu politischen Zwecken missbrauchen, sind in Deutschland in der klaren Minderheit.
Lassen Sie mich mit einem Zitat von Johannes Rau
schließen, einem großen Menschenfreund, der vor wenigen Jahren zu dem Thema, das uns heute beschäftigt,
Folgendes völlig zutreffend ausgeführt hat:
Wir kämpfen in der ganzen Welt gemeinsam gegen
Terror. Aber wir kämpfen nicht gegen Glaubensgemeinschaften, nicht gegen Religionen und nicht gegen Kulturen. Das zu betonen ist sehr wichtig, weil
es immer wieder Menschen gibt, die uns einreden
wollen, Glaube könne die Grundlage für Hass bilden. In Wirklichkeit aber führt gelebter Glaube zur
Versöhnung, zur Verständigung und zum Miteinanderleben. Wer seinen Glauben lebt, braucht keinen
Fundamentalismus.
Johannes Rau hat Recht.
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Letzte Rednerin in der Aktuellen Stunde ist die Kollegin Monika Griefahn, SPD-Fraktion.
Vor zweieinhalb Jahren durfte ich bei der Wiedereröffnung des Goethe-Instituts in Kabul dabei sein. Obwohl die sehr große Zerstörung in Afghanistan das Leben der Menschen dort hauptsächlich bestimmte, war
das Interesse gigantisch. Eine bewegende Szene war, als
ein bayerischer Zitterspieler zusammen mit afghanischen Musikern auf traditionellen Instrumenten musizierte, und das, nachdem unter der sechsjährigen Herrschaft der Taliban überhaupt keine Musik gemacht
werden durfte.
Die Deutsche Welle sendet ein Programm in Dari und
Paschtu. Ich frage mich, ob die Ausbildung zur Pressefreiheit dadurch schon Früchte getragen hat. Wir haben
gesehen, dass es auch in Kabul Demonstrationen gab.
Diese verliefen aber im Unterschied zu anderen Orten
friedlich.
Der Dialog wird durch konkrete Projekte in der Entwicklungspolitik, in der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, in vielen kleinen Schritten intensiv begleitet. Wir haben aber die Situation, dass die Muslime in
Deutschland in den Medien oft über einen Kamm geschoren werden. Es wird das Gefühl vermittelt, Muslime
würden grundsätzlich Gewalt als Mittel akzeptieren;
denn wir sehen Muslime nur mit Gewehren in der Hand.
Das ist aber nicht so. Ich glaube, das muss man immer
wieder deutlich machen.
Es gibt auch in den islamischen Ländern genug Menschen, die ernsthaft an einem Dialog interessiert sind.
Gerade wurde bereits erwähnt, dass die unter 30-Jährigen durch das Internet und andere Kontakte ganz andere
Interessen entwickelt haben und sich nicht mehr den diktatorischen Regimen hingeben wollen.
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An sie müssen wir appellieren, mit ihnen müssen wir im
Gespräch bleiben. Wir müssen ihnen auf dem Weg zu einer demokratischen Kultur helfen; das wollen sie ja selber.
Einige Kolleginnen und Kollegen sind der Auffassung, dass die Vielfalt der Kulturen - ich habe gerade
den Begriff „multikulti“ gehört; ich finde, das ist eine zu
flapsige Beschreibung -,
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die wir immer wieder unterstützen, am Ende ist. Das
denke ich nicht. Es gibt keine Trennlinie zwischen Europa und den islamischen Staaten, die man auf der Landkarte einzeichnen kann. Vielmehr verläuft die Trennlinie
zwischen den Menschen, die für einen Dialog offen sind,
und denen, die ein Interesse an der Eskalation des Konflikts und der Beibehaltung der Diktatur haben.
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Uns Deutschen wird, verstärkt durch die Fernsehbilder, ein Gefühl vermittelt, das auch in meinen Gesprächen mit Nachbarn zum Ausdruck kommt. Sie sagen: Eigentlich bin ich ein offener Mensch. Aber langsam kann
ich es nicht mehr ertragen, ständig gewaltbereite Menschen als Muslime dargestellt zu sehen. - Das Problem
ist, dass wir eben nicht alle über einen Kamm scheren
dürfen. Dafür müssen wir uns besser kennen lernen. Es
muss ein runder Tisch eingerichtet werden, an dem Menschen verschiedener Kulturen und Religionen ihre Sichtweisen darstellen können. Jeder muss deutlich machen,
was ihm wichtig ist und was ihn an seinem Gegenüber
stört. Denn wenn wir uns aber nicht kennen und die Unterschiede zwischen unseren Kulturen nicht beschreiben
können, dann werden wir auch keinen erfolgreichen Dialog führen können.
Wie bereits mehrfach gesagt wurde, kann dieser Dialog nur auf dieser Grundlage stattfinden: Es muss anerkannt werden, dass die Menschenrechte für alle Menschen gelten und universal gültig sind. Religionsfreiheit,
Meinungsfreiheit und Pressefreiheit gelten für jeden
Menschen auf der Welt. Das müssen wir immer wieder
deutlich machen.
Wir müssen auch deutlich machen, dass wir Gewalt
als Mittel der Auseinandersetzung nie akzeptieren werden. Diese Erkenntnis haben wir uns in den letzten Jahren und Jahrhunderten mühsam erarbeitet. Dieser Prozess war auch für uns nicht selbstverständlich; denn in
unserer eigenen Geschichte haben wir mehrfach das Gegenteil erlebt. Deshalb sollten wir nicht so arrogant sein,
zu sagen: Die anderen wenden Gewalt an. Wir sind darüber hinweg. - Auch wir müssen uns diese Einsicht immer wieder neu erarbeiten.
Wir müssen unsere eigenen kulturellen Werte selbst
definieren und uns auch über sie klar werden. Um dies
leisten zu können, sind wir auf die dafür notwendigen
Instrumente angewiesen, zum Beispiel auf die Arbeit der
Landeszentralen für politische Bildung, die allerdings in
einigen Ländern geschlossen worden sind.
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Nur auf diesem Weg können wir unsere kulturellen
Werte unseren Schülerinnen und Schülern vermitteln.
Um etwas über unsere kulturellen Hintergründe erfahren
zu können, müssen wir eine Diskussion über das Staatsziel Kultur führen. Zudem brauchen wir in Zukunft eine
ausreichende finanzielle Ausstattung der Projekte im Bereich der Entwicklungspolitik, in der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Dafür sind wir auf gut ausgebildete Menschen angewiesen, die gegenwärtig in einem
der so genannten Orchideenfächer studieren. Diese Fächer, zum Beispiel der Studiengang Islamwissenschaften, werden aber leider immer mehr ab- statt aufgebaut.
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Ich halte das für einen Fehler. Ich glaube, wir brauchen
Menschen, die Dialoge führen und helfen können, Brücken zu bauen. Wir müssen die Programme in Zukunft
fortführen, damit wir unsere Entscheidungen nicht - abhängig von unserer Tagesform und den Bildern, die wir
in den Zeitungen gesehen haben - aus dem Bauch heraus
treffen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit ist die Aktuelle Stunde beendet, sicherlich aber nicht die Debatte
über das Thema, das ihr zugrunde lag.
Wir sind damit auch am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 15. Februar 2006, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen, unter Berücksichtigung sonstiger
Verpflichtungen, ein schönes Wochenende.